Literale Lebenswelten: Eine Fallstudie zu Sozialisationsprozessen in einer kurdischen Migrantenfamilie 9783110519266, 9783110517330

This book examines the linguistic socialization of Kurdish immigrant families in Austria. Kurdish immigrants arrive with

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German Pages 238 [240] Year 2018

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Table of contents :
Danksagung
Inhalt
Vorwort
1. Voraussetzungen
2. Das sprachliche Lebensumfeld in Herkunftsund Einwanderungsgesellschaft
3. Empirischer Teil
4. Die sprachlichen Ressourcen im Spannungsfeld des Bildungsangebots in Österreich
Literaturverzeichnis
Index
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Literale Lebenswelten: Eine Fallstudie zu Sozialisationsprozessen in einer kurdischen Migrantenfamilie
 9783110519266, 9783110517330

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Agnes Grond Literale Lebenswelten

DaZ-Forschung

Deutsch als Zweitsprache, Mehrsprachigkeit und Migration Herausgegeben von Bernt Ahrenholz Christine Dimroth Beate Lütke Martina Rost-Roth

Band 15



Agnes Grond

Literale Lebenswelten Eine Fallstudie zu Sozialisationsprozessen in einer kurdischen Migrantenfamilie

ISBN 978-3-11-051733-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-051926-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-051743-9 ISSN 2192-371X Library of Congress Control Number: 2018936546 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

| Meinen Eltern Adelheid und Kurt

Danksagung Bei der Arbeit an dieser Dissertation konnte ich immer auf die großzügige und vielgestaltige Hilfe vieler Menschen zählen. Mein Dank gilt besonders Paul Portmann-Tselikas, meinem Betreuer, der den Entstehungsprozess der Arbeit stets wohlwollend, geduldig, aufmunternd und kritisch unterstützend begleitet hat. Danke! Bedanken möchte ich mich auch bei Sakine Eruz (Istanbul Üniversitesi), die mir bei meinen Recherchen über die Türkei geholfen hat und immer für Fragen zur Verfügung stand, und Giovanni La Guardia (Università degli Studi di Napoli 'l' Orientale'), der mich in dem Beschluss, in diesem Bereich zu forschen, bestärkt hat. Auch Hildegard Weidacher-Gruber ist mir immer mit Anregungen und der Bereitschaft für Fachgespräche zur Verfügung gestanden. Ebenso danke ich Mehmet Bozyıl für die vielen Gespräche und Hinweise, die mein Bild vom Lernen im muslimischen Kulturraum geprägt haben, und für die Durchführung der Interviews in kurdischer Sprache. Florian Grond und Elisabeth Vollmann danke ich für die Unterstützung bei der Endredaktion. Vor allem danke ich meinen Eltern für ihre unermüdliche Hilfe und Unterstützung bei der Kinderbetreuung und im Alltag. Ohne sie hätte ich die Arbeit nicht schreiben können.

https://doi.org/10.1515/9783110519266-007

Inhalt Vorwort | 1 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.4.1 1.4.2

Voraussetzungen | 5 Die Zielgruppe | 5 Zentrale Fragestellung | 12 Schriftlichkeit und Gesellschaft | 17 Schriftlichkeit und Mehrsprachigkeit | 22 Das Modell der Registervariation | 22 Die Registerarchitektur kurdischer Immigranten | 24

2

2.1.2.1 2.1.2.2 2.1.2.3 2.2 2.2.1 2.2.1.1 2.2.1.2 2.2.1.3 2.2.2 2.2.2.1 2.2.2.2 2.2.2.3 2.3

Das sprachliche Lebensumfeld in Herkunfts- und Einwanderungsgesellschaft | 35 Türkei | 35 Die Politik der Sprachplanung und ihre Auswirkung auf das multilinguale Lebensumfeld | 35 Sprache(n) in der Türkei | 35 Osmanisch/Türkisch als Gegenstand von Korpusplanung | 39 Die Minderheitensprache Kurdisch als Gegenstand von Statusplanung | 45 Der institutionelle Zugang zu den schriftkulturellen Ressourcen | 60 Familie | 60 Schule | 66 Medrese | 68 Österreich | 72 Die Einwanderung in Österreich | 72 Sprachliche Rahmenbedingungen | 72 Arbeitsmigration und Fluchtwanderung | 74 Sprachenpolitik in Österreich | 79 Sprache und Migration: Ein multilinguales Biotop | 91 Lebensbedingungen | 91 Selbstorganisation | 94 Bildung und gesellschaftliche Partizipation | 99 Fazit | 106

3 3.1

Empirischer Teil | 109 Konzeption der empirischen Untersuchung | 109

2.1 2.1.1 2.1.1.1 2.1.1.2 2.1.1.3 2.1.2

x | Inhalt

3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.3.1 3.1.3.2 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3 3.3.1 3.3.1.1 3.3.1.2 3.3.1.3 3.3.2 3.3.2.1 3.3.2.2 3.3.3 3.3.3.1 3.3.3.2 3.3.3.3 3.3.4 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 4

Zur Gliederung des Untersuchungsfeldes | 109 Hypothesen, Variablen und Indikatoren | 114 Erhebungsinstrumente | 120 Interview | 120 Freie teilnehmende Beobachtung | 121 Durchführung der Untersuchung | 124 Das Sample | 124 Feldzugang | 128 Auswertung | 132 Gesellschaftliche Kontexte | 132 Bildungswege | 132 literacy mediators | 136 Religiöse Orientierung | 144 Die Sprachenlandschaft | 145 Die beteiligten Sprachen auf dem gesellschaftlichen Markt | 145 Standardvarietät und lokale Varietät | 150 Einstellungen zur Schriftkultur | 155 Lese- und Lernstrategien | 155 Soziokulturelle Merkmale eines erfolgreichen Schülers | 160 Schriftliche Materialien im Haushalt | 164 Sprachverwendung im „Feld des Sprachgebrauchs“ | 165 Diskussion | 171 Lernstrategien, Mehrsprachigkeit | 171 Gender | 173 Gesamtgesellschaftliche Literalität und Bildung | 176 Die mitgebrachten Sprachen in der Migration | 179

Die sprachlichen Ressourcen im Spannungsfeld des Bildungsangebots in Österreich | 189 4.1 Grundsätzliches | 189 4.2 Das sprachliche Förderangebot in Österreich | 191 4.2.1 Deutsch als Zweitsprache | 191 4.2.2 Muttersprachlicher Unterricht | 193 4.2.2.1 Türkisch | 193 4.2.2.2 Kurdisch | 194 4.2.3 Interkulturelles Lernen / Religionsunterricht | 195 4.3 Sprachförderung und Literalität | 198

Inhalt | xi

Literaturverzeichnis | 203 Index | 223

Vorwort Das Phänomen Migration bestimmt seit geraumer Zeit den öffentlichen Diskurs in Österreich und Europa. Die Einwanderungsfrage ist dabei eng mit dem Thema Sicherheit verknüpft. Einige Einwanderergruppen – und hier vor allem die muslimische – werden in der Diskussion sehr schnell mit antidemokratischem Gedankengut, religionsfundamentalistischer Ideologie und Integrationsfeindlichkeit in Verbindung gebracht. Schwache Schulleistungen von Kindern aus Migrantenfamilien und mangelnde Sprachkenntnisse sind weitere Posten auf dem Negativkonto der Einwanderer und bestätigen scheinbar deren Unwilligkeit, sich in die Aufnahmegesellschaft zu integrieren. Zwar ist es der kurdischen Gruppe, mit der sich diese Arbeit beschäftigt, gelungen, sich in dem multidimensionalen Konflikt im Nahen Osten als diejenige Partei zu positionieren, die den westlichen demokratischen Werten von allen Konfliktgruppen am nächsten steht und diese sogar heldenhaft gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ verteidigt. Im Einwanderungsland Österreich jedoch werden die Einwanderer aus der Türkei nach wie vor als rückständig, in patriarchalen Denkmustern verhaftet und somit als demokratiegefährdend wahrgenommen. All dies nährt die Angst vor einem wachsenden islamischen Einfluss in Europa sowie gar einem „islamischen Übergewicht“ (Brizić 2007, 18) bei einem allfälligen EU-Beitritt der Türkei. Die Konfliktlinien spiegeln sich in den Ergebnissen von Studien zur Immigration in Österreich. Die Immigrantengruppe aus der Türkei scheint auf den verschiedenen Ebenen der Integration (der wirtschaftlichen in Form von Eingliederung in den Arbeitsmarkt, der politisch-rechtlichen durch Naturalisierung sowie der kulturellen, was sich in erster Linie im Erwerb der Sprache des Einwanderungslandes manifestiert (vgl. Tibi 2002, S. 124) den anderen ethnischen Gruppen hinterherzuhinken. Gerade der Spracherwerb – wobei der Begriff ‚Sprache‘ in der Diskussion nicht ‚Sprache an sich‘ bedeutet, sondern gleichgesetzt ist mit ‚Deutsch‘, also der Sprache des Einwanderungslandes – hat in der gegenwärtigen Diskussion emblematische Funktion: Sprachkompetenz dient als Indikator für erfolgreiche Integration oder eben die Verweigerung derselben. Mangelnde Sprachkompetenz noch in der zweiten oder gar dritten Generation führt zu einer erhöhten Zahl an Sonderschulzuweisungen in der türkischkurdischen Gruppe, einer erhöhten Zahl an Schulabbrüchen sowie einer Tendenz zu innerethnischen Sozialkontakten. Die Möglichkeit, an der Aufnahmegesellschaft vollgültig zu partizipieren, ist durch diese sprachlichen Barrieren für die Betroffenen stark eingeschränkt.

https://doi.org/10.1515/9783110519266-013

2 | Vorwort

Für die gesellschaftliche Teilhabe reicht sprachliche Alltagskompetenz nicht aus, vielmehr ist ein sicherer Umgang mit dem schriftbasierten öffentlichen Register unumgänglich. Dies gilt nicht nur für die Zuwanderer, sondern in ganz gleicher Weise für die sogenannte bildungsferne österreichische Bevölkerung. Beobachtungen aus den Integrationskursen ebenso wie aus dem Schulalltag legen immer wieder nahe, dass weder der Sprachunterricht für Erwachsene, noch der schulische Regelunterricht diese schriftkulturellen (möglicherweise in Herkunfts- und Einwanderungskultur unterschiedlich erforderlichen) Kompetenzen in ausreichender Weise zum Unterrichtsgegenstand macht. Diese werden im unterrichtlichen Geschehen vielmehr vorausgesetzt. Gerade die schriftsprachlichen (literalen) Kompetenzen sind davon charakterisiert, dass sie nicht sprachenspezifisch sind, sondern vielmehr – einmal gelernt – in andere zu lernende Sprachen übertragen werden können. Die Herkunftssprachen würden so ein wichtiges Reservoire an Kompetenzen darstellen, aus dem Lehrende und Lernende schöpfen könnten. Der Zugang zu diesen Ressourcen ist jedoch oftmals verschüttet: durch den Fokus auf ein monolinguales nationalsprachliches Ideal beispielsweise, durch die Stigmatisierung der Erstsprachen im Herkunftsland oder auch im Einwanderungsland (hier sei nur darauf verwiesen, dass manche Schuldirektoren auf dem Pausenhof das Deutschsprechen verordnen). Auch ist in vielen Fällen der Zugang zu Bildung und damit zu literalen Kompetenzen bereits im Herkunftsland nicht vorhanden. Gerade in dieser Gruppe sind literale Kompetenzen nicht vorauszusetzen, sondern sie müssten im Unterricht thematisiert werden. Die Gruppe der Einwanderer aus der Türkei ist weiters durch eine sprachlich sehr heterogene Situation bereits im Herkunftsland gekennzeichnet, wobei die einzelnen beteiligten Sprachen seit der Gründung der Republik Türkei 1923 massiven Sprachplanungsmaßnahmen ausgesetzt waren. Minderheitensprachen wurden soweit als möglich unsichtbar gemacht, sprachliche Assimilation war erwünscht. Als Folge ist auch in der Einwanderungsgesellschaft wenig über die Vielzahl an Sprachen, Religionen und Kulturen bekannt, die sich hinter der Zuschreibung ‚türkisch‘ verbergen können. Diese mitgebrachten, meist verborgenen Ausgangslagen bestimmen in der Migration den Erfolg im Zweitspracherwerb und damit den Bildungserfolg. In dieser Arbeit wird der Sprachgebrauch einer kurdischen Familie, deren Mitglieder teils in der Türkei, teils in Österreich leben, untersucht. Ziel ist es, eine detaillierte Anamnese der Sprachverwendung zu erstellen, um so möglichen vorhandenen literalen Kompetenzen, die ja maßgeblich den Schulerfolg bestimmen, auf die Spur zu kommen.

Vorwort | 3

Im ersten Teil der Arbeit (Voraussetzungen) werden die Zusammenhänge zwischen Schriftlichkeit und Gesellschaft dargestellt. Besonders in mehrsprachigen Gesellschaften, die oftmals von postkolonialistischen Verhältnissen gekennzeichnet sind, kann das Verhältnis von Familiensprache(n) zu Staatssprache dem Verhältnis von Oralität zu Literalität entsprechen. In diesem Spannungsfeld werden die beteiligten Sprachen je nach sozialer Situation erworben und eingesetzt. Auch die in den einzelnen Sprachen erworbenen Kompetenzen entsprechen den Situationen, in denen die Sprachen eingesetzt werden. Das nächste Kapitel befasst sich mit dem sprachlichen Lebensumfeld in Herkunfts- und Einwanderungsgesellschaft. In der Türkei sind die Sprachen von der türkischen Sprachplanungspolitik betroffen, die auch den institutionellen Zugang zu den einzelnen Sprachen bestimmt. Insbesondere das Kurdische ist von staatlichen Institutionen ausgeschlossen und auf den familiären bzw. religiösen Bereich reduziert. Auch in Österreich ist die sprachliche Situation von Sprachenpolitik bestimmt: die Integrationsvereinbarung determiniert weite Bereiche des Lernens vor allem in der Anfangszeit des Zweitspracherwerbs. Bildungsbenachteiligung bereits im Herkunftsland setzt sich im Bildungssystem des Einwanderungslandes fort und zementiert die Unterschichtung durch Migranten (vgl. Kap. 2.2.2.3.) der österreichischen Gesellschaft. Der empirische Teil untersucht die literalen Ressourcen von 30 Personen in der Türkei und in Österreich. Die gesellschaftlichen Kontexte (3.3.1.) umfassen den Bereich der Bildungsbiografien, der literacy mediators (Personen, die durch literale Dienstleistungen das Gesamtsystem (die Familie oder Community) unterstützen), sowie den Bereich der religiösen Orientierung, da das Kurdische als Schriftsprache in der Türkei besonders in den Koranschulen gelehrt wurde. Die Sprachenlandschaft (3.3.2.) untersucht mit den Einstellungen zu den einzelnen Sprachen den Wert, den die Sprachen auf einem gesellschaftlichen Markt einnehmen, sowie das Spannungsverhältnis von Standardvarietät und lokaler Varietät. Die schriftkulturellen Praktiken in der Familie (3.3.3.) befassen sich mit Lernstrategien, die sich in den einzelnen Kulturräumen unterscheiden und eventuell zu Lernbarrieren werden können, mit den soziokulturellen Merkmalen eines erfolgreichen Lerners und mit dem Vorhandensein oder Fehlen von schriftlichen Materialien im Haushalt. Die individuelle Sprachkompetenz (3.3.4.) untersucht das Vorkommen der Einzelsprachen in den unterschiedlichen Domänen. Zum Abschluss werden die sprachlichen Ressourcen im Rahmen des Bildungsangebotes besprochen, welches die Familie in Österreich vorfindet. Dabei zeigt sich, dass Lernziele und Lernangebote sinnvoll und nach ökonomischen Prinzipien zueinander in Beziehung gesetzt werden und auf die jeweilige Le-

4 | Vorwort

benssituation abgestimmt werden. Bestimmend ist jeweils der Ausbau der literalen Kompetenzen in Bezug auf die konkreten Bedürfnisse der Einzelpersonen. Kennzeichnend ist vor allem eine große Vielfalt und Individualität im Umgang mit dem sprachlichen und kulturellen Erbe in der Migration von Menschen, die beide sprachlichen Welten aus eigener Erfahrung kennen, und keine davon missen wollen.

1 Voraussetzungen 1.1 Die Zielgruppe Die Beschäftigung mit der Zielgruppe dieser Studie (kurdische Familien, die aus der Türkei nach Österreich migriert sind) hat ihren Ursprung in Beobachtungen im Rahmen meiner Tätigkeiten als Sozial- und Lernbetreuerin sowie als Trainerin für Deutsch als Zweitsprache. Das Handlungsfeld der Sozial- und Lernbetreuer wird vom Pflegeelternverein Steiermark folgendermaßen umrissen: Die Tätigkeit als Sozial- und Lernbetreuer besteht in der stundenweisen Betreuung Minderjähriger mit dem Ziel der psychosozialen bzw. kognitiven Förderung. Die Minderjährigen leben in Familien, die durch ein subsidiäres Angebot der öffentlichen Jugendwohlfahrt unterstützt werden. Ursachen dafür können psychosoziale Mangelzustände im Familiensystem sein, krisenhafte Zuspitzung der Eltern-Kind-Interaktion oder ein spezieller häuslicher Förderbedarf aufgrund von Problemen im Bereich wesentlicher Grundfertigkeiten der schulischen Sozialisation sein. (Pflegeelternverein Steiermark)

Die häufige Inanspruchnahme dieser Form der Betreuung durch kurdische Familien (Pflegeelternverein Steiermark) ist kein Hinweis auf spezifische Bedürfnisse dieser Minderheit und muss nicht unbedingt auf die Häufung „psychosozialer Mangelzustände in ihren Familiensystemen“ hinweisen, sondern kann auf die gute Vernetzung und Informationsweiterleitungssysteme innerhalb der kurdischen Community zurückzuführen sein.1 Auf jeden Fall eröffneten sich mir in diesem Tätigkeitsbereich erste Einsichten in Handlungsstrategien der kurdischen Gruppe in der Migration, im Speziellen im Umgang mit dem österreichischen Bildungssystem, mit sie spätestens bei Schuleintritt ihrer Kinder in Kontakt kommen. Die kurdischen Eltern schienen bei schulischen Terminen (wie Sprechtagen, Schulfeiern usf.) unterrepräsentiert zu sein und die kurdischen Kinder schienen sich durch Misserfolge frustriert zurückzuziehen, um sich letztendlich dem Bildungsapparat zu verweigern. Die Ansprüche der Familien

|| 1 Saya Ahmad (2012) beschreibt in ihrer Studie zum Wiener Kurdischen Zentrum Melbendî Kurdî die Brennpunkte der Aktivitäten und umreißt einen Spannungsbogen von integrativen und segregativen Tendenzen, Einflüssen von Herkunftsland und Einwanderungsland sowie transnationalen Aktivitäten. Die kurdische Immigrantengruppe wird insgesamt als sehr gut vernetzt beschrieben, Betreuung und soziale Beratung, sowie Hinweise auf die Angebote des Einwanderungslandes sind in Kurdischen Vereinen ein zentraler Bestandteil der Aktivitäten.

6 | Die sprachlichen Ressourcen und das Bildungsangebot

an die Ausbildungen ihrer Kinder konnten nicht in einen mit diesen Ansprüchen korrelierenden Bildungserfolg und damit erhofften sozialen Aufstieg umgesetzt werden2. Aber auch die Lehrer äußerten sich frustriert und fühlten sich angesichts der Probleme, die in erster Linie im Bereich mangelnder Deutschkenntnisse verortet wurden, nicht ausreichend unterstützt. Mangelhafte Kommunikation zwischen Schule und Elternhäusern führte zu einem Gefühl gegenseitigen Nichtverstehens: die Lehrenden waren der Meinung, dass sich die Eltern zu wenig in die Lernprozesse der Kinder einbrachten, für Familien aus der Türkei war es wiederum ganz üblich, die Verantwortung für die (Aus-)bildung der Kinder gänzlich in die Hände der Institutionen zu legen (z. B. Wagner 1993; Maas/Mehlem 2003b). Ähnliches kann auch im Bereich der (sprachlichen) Erwachsenenbildung beobachtet werden. Auch hier scheint die Gruppe der Immigranten aus der Türkei größere Schwierigkeiten zu haben, Kursziele zu erreichen oder mit bestimmten Übungsformaten angemessen umzugehen als andere Gruppen, beispielsweise die bosnisch/kroatisch/serbische Gruppe (z.B. Fritz/Ritter 2006; Brizić 2007; Grond 2013). Die zahlenmäßig große Gruppe3 der Immigranten aus der Türkei gilt in Österreich aber nicht nur in sprachlicher Hinsicht als problematisch. In der Wahrnehmung der österreichischen Mehrheitsbevölkerung steht ‚türkisch‘ für ‚muslimisch‘4, was die türkische Gruppe als Ganze in die Ecke fundamentalistischer

|| 2 Diese drei wesentlichen Punkte (die Absenz der Erziehungsberechtigten im Schulalltag, die Frustration der Kinder und die Diskrepanz zwischen Bildungsaspiration und tatsächlichem Bildungserfolg) sind in der Literatur ausführlich diskutiert. So berichtet Wagner (1993) über die Angehörigen bildungsferner Schichten in Marokko, wie die Verantwortung über den Schulerfolg der Kinder als etwas in die eigene Lebens- und Lernerfahrung nicht Integrierbares völlig an die Institutionen abgegeben wird. Maas (2008) beschreibt den Rückzug aus dem Schulsystem als Folge nicht ausreichender schriftsprachlicher Sozialisation. Kontrastierend zur Unterrepräsentanz der Erziehungsberechtigten in den Schulen finden Sürig/Wilmes (2011, 25) durchgehend hohe Bildungsaspiration in der türkischen und jugoslawischen Migrantengruppe. 3 Am 01.01.2010 lebten nach der Statistik Austria etwa 183 000 Personen mit türkischem Migrationshintergrund in Österreich. Damit sind sie nach der Einwanderungsgruppe aus der EU und aus Serbien die drittgrößte Gruppe hinsichtlich der Ausländischen Wohnbevölkerung. (Statistik Austria 2010) 4 Diese von den Medien geprägte und transportierte Vorstellung schlägt sich auch in der Konzeption von Studien zu Migration und Integration nieder. So enthält die vom Bundesministerium für Inneres in Auftrag gegebene Studie ‚Integration in Österreich‘ (GfK Austria GmBH 2009) in prototypischer Weise einen eigenen Abschnitt über die türkische Bevölkerung, wäh-

Die Zielgruppe | 7

islamisch-terroristischer Aktivitäten rückt. Ebenso stark im öffentlichen Bewusstsein verankert und mit irrealen Ängsten belastet5 ist die Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei. Das für Integrationsagenden zuständige Innenministerium unterstellt muslimischen Einwanderern ‚Integrationsunwilligkeit‘6, die Bildungsinstitutionen (Sprachkurse für Erwachsene, Schulungsmaßnahmen des Arbeitsmarktservices oder der schulische Regelunterricht) konstatieren Schwierigkeiten im sprachlichen Bereich, der wiederum als Indikator für erfolgreiche Integration herangezogen wird (Grond 2012 und 2013; siehe auch Kap. 2.1.3). Ein Blick in die wissenschaftliche Literatur zu Migration Zweitspracherwerb im Allgemeinen und Lese- und Schreibkompetenzen im Besonderen zeigt, dass sich diese negative Wahrnehmung einer ganzen ethnischen Gruppe von den Beobachtungen einzelner Organisationen aus dem Bereich der Migration über die öffentliche Meinung bis in die wissenschaftlichen Studien hineinzieht. Eine Vielzahl von Studien7 mit ähnlichen Ergebnissen im österreichischen und internationalen Kontext stützt die Einschätzung von Katharina Brizić (2007, z.B. 35), dass das schlechte Abschneiden der türkischen Gruppe nicht Einzelergebnis ist, sondern dass es sich hier um empirisch erhärtete Fakten handelt, deren ausreichende Begründung und vollständige Interpretation jedoch noch aussteht. Die Ergebnisse aus dem Forschungsbereich Migration und Zweitspracherwerb finden in Studien zu bilingualer und biliteraler Erziehung ihre Fortsetzung. Das schlechte Abschneiden der Schüler aus der Türkei wird in vielen

|| rend alle anderen Einwanderergruppen gemeinsam behandelt werden. In diesem Abschnitt sind die zentralen Fragestellungen den Bereichen Islam, islamisches Recht, Religion und Staat gewidmet. Die in acht europäischen Staaten durchgeführte TIES-Studie hingegen kommt zu der Erkenntnis, dass „die alltagspraktischen Auswirkungen ethnischer und kultureller ‚Identität‘ weniger substantiell sind, als man angesichts ihrer Gewichtung in der Integrationsdebatte vermuten könnte … Ein symbolisches Bekenntnis zu einer Religionsgemeinschaft ist bei befragten Christen und Muslimen kein Indikator für einen religiös bestimmten Alltag.“ (Sürig/Wilmes 2011, 10). 5 Religiös-kulturelle Unterschiede, Frauenrechte, Immigration nach Europa, Terrorismus und Kriminalität sind die Themen, die in Europa die öffentliche Meinung hinsichtlich eines türkischen EU-Beitritts beherrschen. (z. B.: Le Figaro: L’entrée de la Turquie mal perçue. 15. Oktober 2007; Kurier: Türkei kommt EU-Beitritt näher, 22.10.2013; Die Welt: Sonne und Strand sind super – der Rest umstritten (20.12.2013)) 6 Die bereits erwähnte Studie des GfK belegt bei der türkisch-muslimischen Gruppe überdurchschnittliche Wertigkeit der Wahrung der eigenen Identität (S.25), und das relativ geringe Einverständnis ((zwischen 45 und 50%) mit den Werten der Aufnahmegesellschaft (S. 34 und 37). 7 Eine detaillierte Darstellung findet sich bei Brizić 2007, ab S. 51.

8 | Die sprachlichen Ressourcen und das Bildungsangebot

dieser Studien reproduziert, die Kernaussagen der Studien sind jedoch widersprüchlich. Sie lauten: – Zweisprachige Erziehung führt zu einem hohen funktionalen Bilingualismus. Insbesondere in kanadisch-französischen Immersionsprogrammen wurden die positiven Auswirkungen festgestellt. Im St. Lambert-Projekt (Lambert/Tucker 1972) wurde die Lesefähigkeit in der Erstsprache Englisch getestet. Am Ende des siebenten Schuljahres lag sie höher als in der monolingualen Kontrollgruppe. Kendall et al. (1987) stellten fest, dass eine Immersion in der Zweitsprache in den ersten beiden Unterrichtsjahren mit einem allmählichen Übergang zu bilingualem Unterricht zu einem hohen NiNiveau in der Zweitliteralität führt. Auch Cummins (1979, 1991) konstatiert nach sechsjähriger Schulzeit Literalität in beiden Sprachen ohne Verlust muttersprachlicher Kompetenzen. – Bilinguale Erziehungsprogramme führen zu einem Sprachverlust von Erstund Zweitsprache. Hier ist insbesondere die Studie von SkutnabbKangas/Toukomaa (1976) zu nennen. Bei Kindern, die der finnischen Minderheit in Schweden angehören, war nach sechs Jahren Schulbesuch die Erstsprache unterentwickelt, was sich vor allem am Umfang verfügbarer Begriffe zeigte. Unterricht in Submersionssituationen führt häufig zu Schulabbruch (Baker/De Kantner 1983) und/oder zu retardierten Lese- und Schreibfähigkeiten. Die negativen Ergebnisse von Lesetests von wiederum türkischen Schülern in der BRD dokumentieren das Scheitern von Programmen, in denen die Förderung von türkischen Minderheitenkindern in der Mehrheitssprache Deutsch erfolgt. In der 8. Klasse lag das Leseverständnis von türkischen Schülern im untersten Leistungsbereich (Lehmann et al. 1995). Weitere Studien stellten fest, dass Leseleistungen rückständig sind, wenn der Schriftspracherwerb nicht in der Erstsprache erfolgt (z.B. Verhoeven 2003). Positive Ergebnisse scheint bilinguale und biliterale Erziehung also meist dann zu erbringen, wenn die Sprachen von Majoritätskindern gelernt werden, bzw. sich das Lernen in Immersion vollzieht, wie es in den kanadischen Untersuchungen der Fall war. In Kanada sind die sprachlichen Minderheiten einander außerdem durch das Schulsystem stark angeglichen, während das Schulsystem im deutschsprachigen Bereich auf starke familiäre Beteiligung baut und soziale Unterscheide daher kaum ausgleichen kann. Die negativen Effekte von Bilingualismus scheinen vor allem bei Minderheiten aufzutreten, die eine Zweitsprache in einer unterrichtlichen Submersionssituation erwerben müssen.

Die Zielgruppe | 9

Charakteristisch für Kinder aus ethnischen Minderheiten scheint die Tatsache zu sein, dass die Entwicklung der Erstsprache mit reichem Input aus der familiären Umgebung und der Nachbarschaft beginnt, um dann mit dem Schuleintritt relativ jäh abzubrechen (Schmölzer-Eibinger 2008). Die Erstsprache scheint im Curriculum meist nicht auf, und wenn das doch der Fall sein sollte, an sehr marginaler Stelle (vgl. 4.2.). Eine Studie aus den Niederlanden (Verhoeven 1997), die die literalen Kompetenzen von Einwandererkindern testet, stellte fest, dass bei den türkischen Kinder im Vergleich zu marokkanischen Kindern sowie Kindern von den Antillen, die Erstsprache bei den Kinder aus der Türkei die dominante ist, im Gegensatz zu der marokkanischen Vergleichsgruppe, bei denen Erst- und Zweitsprache zwar nicht ausbalanciert waren, die Erstsprache aber nicht in einem derart deutlichen Ausmaß dominierte wie in der türkischen Gruppe. Die Ergebnisse machen deutlich, dass die Muster zweisprachiger Entwicklung für die verschiedenen ethnischen Gruppen sehr unterschiedlich sein können. Was die frühe Entwicklung von schriftsprachlichen Kompetenzen betrifft, konnte festgestellt werden, dass Kinder aus ethnischen Minderheiten im Vergleich zu holländischen Kindern zwar sowohl im Hinblick auf den Wortschatz als auch auf narrative Kompetenzen benachteiligt waren, im narrativen Bereich aber im Lauf der Zeit aufholen konnten (vgl. Verhoeven 1997, 226). Die türkischen Migranten in Europa weisen einen im Vergleich zu anderen Ethnien insgesamt geringen Bildungsstand auf (Cakır 1990; Brizić 2007; Seifert 2008; Boos-Nünning/Granato 2008; Boos-Nünning 2011; Sürig/Wilmes 2011), der mit dem geringen Bildungsstand marokkanischer Immigranten korreliert (Maas/Mehlem 2003a; Mehlem 2010). Auch die Erstsprachkompetenz der Eltern wird in der Literatur negativ bewertet, es ist sogar die Rede von „defizitärer Sprache“ türkischer Gastarbeiter (Öktem/Öktem 1985, 85, vgl. auch Dönmez 1998). Problematisch an Untersuchungen zur Türkischkompetenz von Kindern aus der Türkei und deren Eltern ist, dass in den Studien die Mehrheit der Autoren von rein türkischsprachigen Gruppen ausgeht wie beispielsweise Gürbüz (1993), Bayrak (1995), Sarı (1995), Abalı (1998), Dönmez (1998), Toprak (2000). Uçar (1996) macht in seiner Habilitation die Tatsache zum Thema, dass die Erstsprache türkischer Eltern oftmals gar nicht türkisch ist. Weitere Untersuchungen, die ihre Samples auf eventuell gesprochene Minderheitensprachen der Türkei überprüften, sind Thommé (1987), Preibusch (1992), Pokorny (1993), Extra/Yağmur (2004). Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis ist in den meisten Studien jedoch eine rein terminologische: eventuelle Minderheitensprachen im Sample werden genannt, in der Analyse jedoch bleibt die Gruppe (nunmehr

10 | Die sprachlichen Ressourcen und das Bildungsangebot

zum Beispiel Türkisch/Kurdisch statt Türkisch genannt) als analytische Einheit erhalten (z.B. Wurnig 2002; Peltzer-Karpf et al. 20068). Die Bildungsferne und der sprachliche Rückstand von Immigranten aus der Türkei können auch von der nachfolgenden Generation nicht aufgeholt werden. Gerade Kinder mit türkischem familiären Hintergrund sind im österreichischen Schulsystem in besonderer Weise benachteiligt: sie sind öfter als andere Gruppen von Sonderschuleinweisungen betroffen (Khan-Svik 1999) und weisen eine besonders hohe Zahl an Schulabbrechern auf (z.B.: Kızılhan 1994, HerzogPunzenberger 2003). Das Schulsystem scheint somit die gesamtgesellschaftliche Trennlinie zwischen den einzelnen Bevölkerungsteilen zu spiegeln. Auch hier liegen die Ergebnisse der türkischen Kinder in Sprach-, Lese- und Schreibkompetenz im gesamten deutschen Sprachraum (Brizić 2007 und Olechowski et al. 2002 für Österreich, Müller 1997 für die Schweiz, Stanat 2003 und Sürig/Wilmes 2011 für Deutschland und Österreich) unter denjenigen der anderen Gruppen – beispielsweise der bosnisch/kroatisch/serbischen (Peltzer-Karpf et al. 2006) – sowie der monolingualen österreichischen Kontrollgruppe. Es liegt daher nahe, sich der türkisch/kurdischen Immigrantengruppe zuzuwenden, deren sprachliche Lebenswelt sich von anderen Immigrantengruppen zu unterscheiden scheint, und deren Erforschung von zwei Phänomenen besonders gekennzeichnet zu sein scheint: – einem eklatanten Mangel an empirischen Daten, der die sprachliche Situation im Herkunftsland (z.B.: Boeschoten 1997; Nestmann 1989; Haig 2004; Öpengin 2012; Zeydanlıoğlu 2012; Öpengin/Haig 2014) betrifft und sich in der Migration fortzusetzen scheint (Garnitschnig 2013; Haig/Öpengin 2014), sowie – Mythenbildungen im Unterrichtsgeschehen und wissenschaftlichen Studien in diesem Bereich, der eben auf den Mangel an gesicherten Daten zurückzuführen ist. Für die Konzeption der vorliegenden Untersuchung, die eine Anamnese der sprachlichen Lebenswelt mit einem besonderen Fokus auf die schriftsprachli|| 8 Die psycholinguistische Studie „Bilingualer Spracherwerb in der Migration “ wurde unter der Leitung von Annemarie Peltzer-Karpf an der Universität Graz durchgeführt. Es handelt sich österreichweit um die erste Untersuchung, die den Erwerb von Erst- und Zweitsprache über einen längeren Zeitraum (vom Schuljahr 1999/2000 bis zum Schuljahr 2002/2003) verfolgte. Der auffällige Rückstand in muttersprachlicher und zweitsprachlicher Kompetenz der türkisch/kurdischen Gruppe gegenüber den Vergleichsgruppen führte zu einer von Katharina Brizić (2007) durchgeführten Nachfolgestudie, die den Ursachen für diesen sprachlichen Rückstand nachgehen sollte.

Die Zielgruppe | 11

chen Kompetenzen von kurdischen Immigranten aus der Türkei zum Ziel hat, waren folgende Überlegungen besonders ausschlaggebend: Zum einen werden die Ursachen für den Verlauf kindlicher Schulkarrieren vor allem in den Familien vermutet. Eine umfangreiche Literatur stützt diese Zusammenhänge (z. B. Gogolin 2008; Maas 2008a und b; Behrensen/Westphal 2009; Boss-Nünning 2011). Kinder aus bildungsnahen Familien bringen für eine erfolgreiche Schullaufbahn die erforderlichen (sprachlichen) Voraussetzungen mit, im Gegensatz zu Kindern aus bildungsfernen Familien. Das Bildungssystem in Deutschland und Österreich ist derart strukturiert, dass diese in den Familien gründenden Ungleichheiten von der Schule nicht ausgeglichen, sondern fortgeschrieben werden. Die Forschung jedoch konzentriert sich auf die Bildungsinstitutionen, ebenso werden Interventionen – beispielsweise im sprachlichen oder kognitiven Bereich – meist in diesen Institutionen implementiert. Die Gründe mögen in der relativ leichten Zugänglichkeit der Kindergärten und Schulen für die Forschung liegen und auch daran, dass dort leichter größere Stichproben erfasst werden können. Das immer wiederkehrende Ergebnis, dass Unterschiede zwischen den Kindern in großem Umfang auf die Elternhäuser zurückzuführen ist, zeigt, dass die Wirkmechanismen der familiären Umgebung, in denen gerade jüngere Kinder einen großen Teil ihrer Zeit verbringen, eine wesentliche Forschungsaufgabe darstellen (vgl. Leyendecker 2008, 93). Auch die tatsächliche Sprachverwendung in Familien mit anderen Familiensprachen als der Amtssprache liegt weitgehend im Dunkeln. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass das sprachliche Gefüge in der Herkunftsgesellschaft relativ stabil ist, während es sich bei der Mehrsprachigkeit in der Migrationssituation eher um ein labiles Übergangsgebilde handelt. Eine Langzeituntersuchung in Hamburger Grundschulen (Reich 2005) zu Schülern mit türkischem Migrationshintergrund dokumentiert die Entwicklung ihrer sprachlichen Verhältnisse. Während Türkisch bei vielen Schülern bei Schuleintritt die Erstsprache darstellt und altersgemäß entwickelt ist, gleichen sich bereits im dritten Schuljahr die Kenntnisse der Schüler in Deutsch und Türkisch aus. Es ist anzunehmen – allerdings liegen hierzu noch kaum aussagekräftige Untersuchungen vor – dass sich mit zunehmenden Deutschkenntnissen auch die Kommunikationsverhältnisse in den Familien ändern: dass innerhalb der Familien auch Deutsch gesprochen wird, insbesondere unter Geschwistern. Zum anderen wirft das schlechte Abschneiden der türkischen Gruppe in zahlreichen Studien die Frage nach gruppenspezifischen Integrations- und Bildungsverläufen auf. Das schlechte Abschneiden gerade der türkischen Bevölkerung im Vergleich zu anderen Zuwanderergruppen in den unterschiedlichen Teilbereichen sprachlicher Kompetenz – von muttersprachlicher Kompe-

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tenz (z.B. Gürbüz 1993) über Defizite in der Alltagskommunikation (Berber 1985) bis zur schriftsprachlichen Kompetenz (z.B. Lehmann et al. 1995) – ist Katharina Brizić in ihrer Dissertation (Brizić 2007) in eindrucksvoller Weise nachgegangen. Das von ihr konzipierte „Sprachkapitalmodell“ (Brizić 2007, 187) verdeutlicht, dass in eine angemessene Bewertung sprachlicher Kompetenzen nicht ausschließlich individuelle Faktoren einbezogen werden können, sondern dass vielmehr ein breites Spektrum an Bedingungen auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene (Makroebene), der gruppenspezifischen Ebene (Mesoebene) und schließlich der individuellen Ebene (Mikroebene) sowohl im Herkunftsland als auch im Einwanderungsland gemeinsam die Wirkfaktoren für die letztendlich in der Migration erreichbare Sprachkompetenz bilden. Auswirkungen auf die Sprachkompetenz in der Migration haben Faktoren wie Bildungsbeteiligung, Status der Sprache im Herkunftsland, wobei Sprecher von Sprachen, die Staatssprache, Bildungssprache oder allgemein Sprecher von Sprachen mit hohem Prestige dann auch in der Migration eine höhere Sprachkompetenz aufweisen. Auf der anderen Seite gibt es die Erfahrung von (sprachlicher) Stigmatisierung im Herkunftsland mit einem eventuellen Sprachwechsel als Folge, die sich noch nach Generationen in der Migration auf die Sprachkompetenz auswirken können: Der Zusammenhang, der hier vermutet wird, reicht somit von den Herkunftsländern und ihrer Sprachenpolitik und Sprachplanung bis hin zum Spracherwerb in der Migration … Die politisch-gesellschaftliche Ebene wirkt offenbar auch überregional und über mehrere Generationen hinweg, selbst wenn ein so einschneidendes Ereignis wie die Migration dazwischen liegt (Brizić 2007, 186).

Benachteiligte Gruppen in den Herkunftsländern bleiben in den Einwanderungsländern benachteiligt. Ein Einbeziehen der Situation der Herkunftsländer in die Konzeption von wissenschaftlichen Untersuchungen sowie auch in die Konzeption von sprachlichen Fördermaßnahmen ist in der Nachfolge der Studie von Katharina Brizić wohl unumgänglich.

1.2 Zentrale Fragestellung Die vorliegende Untersuchung hat zwei Ziele: zum einen soll sie eine detaillierte Analyse der Sprachverwendung einer kurdischen Familie in Österreich liefern –

Zentrale Fragestellung | 13

ein Forschungsbereich mit einem großem Bedarf an empirischen Daten9, zum anderen soll sie die Ressourcen der Sprecher in einem spezifischen Bereich sprachlicher Kompetenz ausloten, der für die Partizipation an einer modernen funktional differenzierten Gesellschaft immer zentraler wird: dem Bereich schriftbasierter Kommunikation. In der Frage nach dem Versagen des Schulsystems10 in den deutschsprachigen Ländern im Bereich der Integrationsförderung und des Bildungserfolg von Schülern mit Migrationshintergrund – und unter diesen insbesondere von Schülern mit türkischen Wurzeln – wurden in der Bildungsforschung verschiedene Spuren verfolgt. Ein Erklärungsversuch thematisiert die Differenz zwischen der Erstsprache und der in der Schule gesprochenen Sprache des Einwanderungslandes (vgl. Gogolin 2008, 46). Unterschiedlicher Bildungserfolg müsste somit in der lebensweltlichen Bilingualität begründet sein und die Bildungsschere müsste sich mit den Jahren, die die Kinder im Schulsystem verbringen – d.h. mit zunehmender Sprachkompetenz in der Zweitsprache – schließen. Das Gegenteil ist der Fall, wie die hohe Anzahl an Schulabbrüchen von Schülern mit Migrationshintergrund zeigt. Gegen diese Annahme spricht auch der gute Bildungserfolg von Sprechern so ‚exotischer‘ Sprachen wie Japanisch oder Vietnamesisch (Maas 2008a). Eine Annahme mit größerem Erklärungspotenzial als den typologischen Unterschieden der familialen Sprache als Ursache für die Leistungsdifferenz liegt im Bereich der literalen Praxis in der Herkunftsgesellschaft und dem unzureichenden Eingehen des Unterrichts im Einwanderungsland auf bestehende Divergenzen (vgl. Gogolin 2008, 49).

|| 9 Wie bereits zur Bestimmung der Anzahl der in Österreich lebenden Kurden auf Schätzungen zurückgegriffen werden muss (Schmidinger 2013); siehe auch Kap. 2.2.1.2), liegen zum tatsächlichen Sprachgebrauch noch viel weniger gesicherte Daten vor. Betont wird in der Literatur die lebensweltliche Mehrsprachigkeit der Kurden, an beteiligten Sprachen werden Kurmanji, Sorani, Zazaki, Türkisch, Arabisch und Deutsch genannt, in sehr kleinen Anteilen auch Gorani und Hawrami (vgl. z.B. Garnitschnig 2013, 73). 10 „Chancengleichheit ist faktisch eine Illusion“ formuliert Ingrid Gogolin (2008, 41) bezugnehmend auf die Reproduktion von ungleichen Bildungschancen und die in Schulleistungsvergleichsstudien wie Pisa immer wieder aufs Neue aufgezeigten Leistungsunterschiede von Schülern mit und ohne Migrationshintergrund. Besonders verdeutlicht wird das Unvermögen des Schulsystems, auf die Bedürfnisse dieser Schüler einzugehen durch die durchschnittlich höheren Kompetenzen von Jugendlichen der ersten Generation, die einen Teil ihrer Schullaufbahn in den Heimatländern absolviert haben, im Vergleich mit Jugendlichen der zweiten Generation, die ihren gesamten Bildungsweg in Deutschland durchlaufen sind (vgl. Gogolin 2008, 45; Maas 2008b, 487).

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Traditionelle Gesellschaften11 sind oftmals durch eine professionelle Schriftkultur ausgezeichnet. Experten sind zuständig für religiöse Überlieferung, Archive, Steuerlisten, die meist an einem bestimmten Ort zusammenliefen: in diesen Gesellschaften sind die sakralen Bauten die Orte der Schriftkultur. Moderne Gesellschaften hingegen sind durch eine demotisierte Schriftkultur ausgezeichnet: in der eine symbolvermittelte Praxis im Alltag, am Arbeitsplatz, in der privaten Buchführung, wo ohne Bankkonto keine Lohnzahlungen, aber auch Miete und Versicherung nicht mehr abgewickelt werden können, vom öffentlichen Verkehr (Verkehrsschilder) bis zum Freizeitverhalten (smsen, chatten, Computerspielen …) Schriftlichkeit ihren festen Platz hat (vgl. Maas 2008b, 404). Kennzeichnend für moderne Gesellschaften ist jedoch nicht nur der Gebrauch von Schrift im Alltag, sondern ein besonderer, schriftgeprägter Sprachgebrauch in den öffentlichen Bereichen mit bestimmten sprachlichen Formen, die Abstraktionsvermögen voraussetzen, beispielsweise im Bildungswesen. Für die Sprache im Bildungswesen wird der Terminus ‚Bildungssprache‘ verwendet (z.B.: Feilke 2012). Unter Bildungssprache wird ein annähernd formelles sprachliches Register verstanden, das aber nicht dem Bildungsbereich vorbehalten ist, sondern auch im formell-öffentlich orientierten Bereich Anwendung findet. In der Schule wird Sprache so zum Instrument des Lernens und Lehrens. Unter Bildungssprache versteht man die besonderen sprachlichen Formate und Prozeduren einer auf Texthandlungen wie Beschreiben, Vergleichen, Erklären, Analysieren, Erörtern etc. bezogenen Sprachkompetenz, wie man sie im schulischen und akademischen Bereich findet. (Feilke 2012, 5).

In „literal verfassten“ (Feilke 2007, 31) Gesellschaften ist die Beherrschung dieser Art von Sprachgebrauch zentral, da er die unabdingbare Voraussetzung für eine angemessene Partizipation an ihnen ist. Er unterscheidet sich in lexikalischer, morphosyntaktischer, syntaktischer und textlicher Hinsicht von den eher dialogisch ausgerichteten Registern der Alltagskommunikation. Das Register Bildungssprache ist im Bildungsbereich von besonderer Bedeutung, weil es in Lernaufgaben, Lernunterlagen und Prüfungen verwendet

|| 11 Die geografischen Randgebiete der Türkei, deren Lebensweise sich stark von den urbanen Zentren unterscheidet (Nestmann 1989) und in denen aufgrund ökonomischer wie politischer Bedingungen ein großer Migrationsdruck herrscht, weisen wesentliche Merkmale traditioneller Gesellschaften (Überwiegen landwirtschaftlicher Produktion, Eindeutigkeit moralischer Werte, Wissensvermittlung über Generationen, stark hierarchisch gegliederte Ordnungsgefüge) auf (Ammann 2004).

Zentrale Fragestellung | 15

wird, und auf der normativen Ebene von erfolgreichen Schülern erwartet wird (vgl. Gogolin/Lange 2011, 111). Bildungssprachliche Kompetenz wird in den meisten Fällen nicht spontan erworben wie die Kompetenz in der mündlich geprägten Alltagssprache, es bedarf vielmehr eine eigenständige und ausdrückliche, kontinuierliche und systematische Einweihung in die Besonderheiten der unterschiedlichen Register … und das kompetente Verfügen über die Fähigkeit zur Differenzierung zwischen bildungssprachlichem und alltäglichem Sprachgebrauch erfordert eingehende Übung über längere Zeit. (Gogolin 2008, 50).

In der unterrichtlichen Praxis aber scheint das Register Bildungssprache kaum als Bildungsgegenstand in Erscheinung zu treten. Diese als „sprachliche Basisqualifikation für das Lernen“ (Feilke 2012, 4) bezeichnete Form der Sprachverwendung wird von der Schule vorausgesetzt, aber nicht gelehrt. Versuche, stark formalisierte Sprache zu thematisieren und zu üben, enden meist in der „routinisierten Verwendung des sprachlichen Musters der (Nach-)frage.“ (Gogolin 2008, 53). Bildungssprache ist also eine Ressource, von der erwartet wird, dass man sie in den Unterricht mitbringt. Problematisch wird es, wenn entsprechende sprachliche Sozialisationsprozesse im Vorschulalter nicht stattfinden, etwa weil in den Familien der Zugang zu schriftgeprägtem Sprachgebrauch nicht gegeben ist. Von dieser Exklusion sind sowohl österreichische, als auch Familien mit Migrationshintergrund, wenn auch anscheinend die türkisch/kurdischen Familien in besonderem Maß, betroffen. Hier wird deutlich, dass es sich in dem Bereich um eine soziale Differenz handelt, nicht um eine kulturelle. (vgl. ausführlich hierzu: Brizić 2007, 37ff.) Die bisherigen Überlegungen dürften klar gemacht haben, dass ein differenzierter Blick auf die komplexen Vorgänge beim Prozess der sprachlichen Integration vonnöten ist. Die sprachliche Situation in der Migrationssituation kurdischer Einwanderer stellt sich etwa folgendermaßen dar: Die Einwanderung erfolgt in eine Gesellschaft, in der die sprachlichen Verhältnisse des Herkunftslandes im Hinblick auf praktizierte Kommunikationsstrategien nicht mehr gültig sind, wobei der Bereich der Schriftsprache und Schriftkultur eine besondere Herausforderung darstellt. Besonders in der zweiten Generation kommt es zu einem weitreichenden Umbau der sprachlichen Registerebenen, bei dem schließlich die neue nationale Hochsprache das formelle Register darstellt. Andererseits kommt es zu keinem schriftsprachlichem Ausbau im informellen Register mehr (vgl. Maas 2008a, 25). Gleichzeitig ergeben sich aber durch die vielsprachigen Ressourcen im informellen Register neue kommunikative Möglichkeiten (Code-Switching). Die Umorientierung erfolgt

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jedoch nicht nur als Umschichtung der Sprachen im Rahmen der Registerebenen. Literalität als Bündel schriftgebundener Praktiken, die je nach sozialem, geschichtlichem oder kulturellem Hintergrund unterschiedlich ausgeprägt sein können (vgl. Verhoeven 2003, 162) verlangt in der Einwanderungsgesellschaft eine Neuausrichtung der kommunikativen Praktiken, da Gesellschaften unterschiedliche Aspekte dieser Kommunikationsstrategien nutzen, und das Individuum von klein auf in ein bestimmtes Literalitätskonzept hineinsozialisiert wird (vgl. z. B. Schmölzer-Eibinger 2008, 39). Für ökonomischen Erfolg, etwa beim Führen eines Familienbetriebs können in den Herkunftsländern andere schriftsprachliche Praktiken zum Einsatz kommen als in den Einwanderungsländern. Die Arbeiten von Brizić (2007) und Maas (2008b) haben gezeigt, dass einerseits die Verhältnisse im Herkunftsland über Generationen hinweg wirksam bleiben, auch wenn ein so einschneidendes biographisches Ereignis wie eine Migration dazwischen liegt, andererseits im Einwanderungsland Lernprozesse hinsichtlich der anzueignenden Schriftkultur ablaufen, die aber institutionell nicht sichtbar und im Bildungsweg nicht nutzbar gemacht werden können. Die Prozesse der „Neukalibirierung“ (Maas 2008b, 5) der sprachlichen Sozialisation in einer türkisch-kurdischen Familie über drei Generationen hinweg sind Gegenstand dieser Arbeit. Die zentrale Fragestellung betrifft somit das schriftsprachliche Wissen der Familienmitglieder und das Verhältnis aller ihrem sprachlichen Orientierungssystem beteiligten Sprachen: – Wie interagieren die in der Registerstruktur von türkeikurdischen Immigranten verankerten Sprachen? – Welchen Einfluss nimmt das Ereignis Migration auf den Umbau der Registerstruktur insbesondere der zweiten Generation und wie werden schriftsprachliche Kompetenzen aufgebaut? – Und letztendlich: in welchem Verhältnis steht die sprachliche Lebenssituation der Immigranten zum sprachlichen Förderangebot in Österreich? Die angeführten Überlegungen waren leitend bei der Konzeption dieser Untersuchung: der Faktor Zeit (Integration als generationenübergreifender Prozess), der lebensweltliche Aspekt (soziale, politische, historische, kulturelle Einflussfaktoren auf die individuell vorgefundene Sprachkompetenz) und schriftkulturelle Praktiken (literale Kompetenz als unabdingbare Voraussetzung für gesellschaftliche Partizipation in den westlichen Einwanderungsländern).

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Schriftlichkeit und Gesellschaft Die europäischen Einwanderungsgesellschaften sind „literal verfasst“ (Feilke 2007, 30). Das bedeutet, dass diese Gesellschaften einen über Jahrhunderte währenden soziokulturellen Prozess durchlaufen sind, der Kommunikationspraktiken, das Nachdenken über Sprache, den Umgang mit und den Wissensgewinn aus Texten geprägt hat (z. B. Feilke 2007; Schmölzer-Eibinger 2008; Maas 2008a und b und 2010). Literal verfasst ist eine Gesellschaft, die ihre Wissensarchive in Form von schriftlich niedergelegten Texten organisiert. Das schriftliche Abspeichern erlaubt es, umfangreiche kulturelle Datenbanken anzulegen und darauf zuzugreifen. Historisch gesehen ist Schriftlichkeit ein relativ junges Phänomen (seit etwa 5000 v. Chr.), das ursprünglich in rituellen Kontexten Verwendung findet. Über heilige Texte wird kommuniziert, bis schließlich das gesellschaftliche Wissen über kanonische Texte niedergelegt, und auch diskutiert, kritisiert und erneuert wird. Ein weiterer bedeutsamer Entwicklungsschritt in der europäischen Geschichte des Lesens ist das individuelle Lesen der Texte, das seinen Ausgangspunkt in der Umstellung vom lauten Rezitieren der Texte zum leisen Lesen in der Regel des Benedikt von Nursia im 6. Jahrhundert nimmt, und an die Stelle von rituellem Rezitieren der heiligen Texte tritt. Damit ändert sich der Anspruch an Texte sowie deren sprachliche Struktur (vgl. Feilke 2007, 30). Ein nächster historischer Schritt ist die Demotisierung: der Übergang von einer auf elitäre Zirkel eingeschränkten Schriftverwendung zur Partizipation der Gesamtbevölkerung an den schriftkulturellen Ressourcen und somit zu einem allgemeinen Zugriff auf die Wissensbestände der Gesellschaft vgl. Maas 2008b, 400). Charakterisiert ist dieser Prozess durch den schriftsprachlichen Ausbau der Volkssprachen. Die Sprachverwendung im formellen Register wird so zur ausgebauten Form des familiären Registers, das seinerseits eine Ressource für den Erwerb der schriftsprachlichen Praktiken darstellt. In Gesellschaften mit nicht demotisierter Schriftverwendung hingegen wird die Familiensprache als (minderwertiger) Gegensatz zur geschriebenen Hochsprache stigmatisiert. Durch den Prozess der Demotisierung wird der „Gegensatz zwischen der ‚richtigen‘ Sprache, die von einer Elite geschrieben wird und der ‚Nicht-Sprache‘ der Mehrheit, die man nicht schreiben kann, aufgehoben.“ (Maas 2008b, 401). Feilke (2007, 31) umreißt den Prozess der Verankerung von Schrift in der europäischen Gesellschaft mit folgenden Begriffen: – der Entritualisierung bzw. Textualisierung von Schrift. Sie findet statt, wenn der Text aus seiner liturgischen Funktion herausgelöst und als Text individualisiert sprachlich bearbeitet wird. Das schließt eine Umstrukturierung der Sprache in Richtung höhere Kontextunabhängigkeit mit ein.

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der Demotisierung. Diese setzt ein, wenn eine Entwicklung von Expertenschriftlichkeit zu einer Volksschriftlichkeit stattfindet. Damit geht ein Druck auf das Individuum, sich entsprechende sprachliche Kompetenzen auch anzueignen, einher. der Aktivierung. Damit ist eine Erweiterung passiver schriftsprachlicher Kompetenzen hin zu aktiven Kompetenzen gemeint. Textproduktion ist nicht einfach eine Umkehrung der Textrezeption, „sondern in nahezu jeder Hinsicht schwerer und voraussetzungsreicher“ (Feilke 2007, 31).

Für die Anfänge der Literacy -Forschung in ihren soziokulturellen und historischen Zusammenhängen in den sechziger Jahren mit den Arbeiten von Goody/Watt (1962), Havelock (1982) (und derselben Denkschule angehörend Ong (2002)) stehen die „spezifischen Unterschiede zwischen literalem und oralem Bewusstsein“ sowie deren „gesellschaftlich-zivilisatorisches Erklärungspotential“ (Thonhauser 2006) im Vordergrund. Problematisch und viel kritisiert an diesem Ansatz ist der prototypische Charakter, der zumindest implizit der westlich-demokratischen Gesellschaft zugeschrieben wird (vgl. Thonhauser 2006). Brian Street (1995) kam nach Forschungen im Iran zu dem Schluss, dass Literalität und Oralität auf komplexe Weise miteinander verflochten seien, und eine teleologische Entwicklung in Richtung westliche Zivilisationen nicht stattgefunden habe. In der weiteren Diskussion wurde Literalität als Phänomen gesehen, welches Kommunikation entscheidend verändert und erweitert. Die Nutzung der Optionen, die schriftbasierter Sprachgebrauch bereitstellt, ist jeweils soziokulturell bestimmt und kann sehr unterschiedlich ausfallen, wobei der Erwerb von schriftsprachlicher Kompetenz „die geschriebene Sprache zu einem Modell für Sprache an sich werden lässt“ (Thonhauser 2006). Gerade die sprachlichen Verhältnisse in der islamischen Welt – deren Strategien, aus Texten Wissen zu gewinnen, Texte zu verfassen, zu verwalten und weiterzugeben – werden häufig mit den Verhältnissen des europäischen Mittelalters vergleichen. Sie sind bei genauerer Betrachtung jedoch hochmoderne Erscheinungen, die mit dem Verlauf der Entwicklung, die die Schriftkultur in Europa in der frühen Neuzeit nahm, wenig gemein haben. Die Demotisierung der schriftkulturellen Ressourcen war in Europa an einen Prozess der Entkoppelung von religiösen Kontexten sowie an einen produktiven Gebrauch der schriftkulturellen Ressourcen gebunden (s.o.). In der muslimischen Welt dominiert die gedächtnisbasierte Überlieferung des gesellschaftlichen Wissens, dem die Schriften der Denkschulen als Komplement beigefügt wurden (Lohlker 2004).

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Im älteren Islam ist... eine bimediale Kommunikationsstruktur aufzufinden, in der das orale Element – und die Memorierung von Texten – durchaus gleichgewichtig dem skripturalen gegenübersteht und noch nicht den Verschiebungen im Kommunikationssystem ausgesetzt war, die sich aus der Einführung des Buchdruckes ergaben. Aber auch die Einführung des Buchdruckes löschte nicht das orale Element, in unserem Falle die Rezitation des Korans, aus, die Einführung weiterer Medien wie der Audio- und Videokassetten ermöglichte vielmehr eine weitere Verbreitung des Schaffens einzelner Rezitatoren als jemals zuvor. (Lohlker 2004, Abschnitt 2 (Texte zum Koran))

Auch im gesellschaftlichen Bereich verlief die Modernisierung nach anderen Mustern und mit anderen Folgen (vgl. Maas/Mehlem 2003b, 523). So erfolgte die elektronische Aufrüstung in einem ungemein rasanten Tempo, das Internet und Mobiltelefonie bis in entlegenste Dörfer brachte. Schrift hat aber hier wenig bis keinen Raum: man kennt nicht die Adresse der Verwandten in der nächstgelegenen Stadt, sondern deren Telefonnummer. Tastentelefone weisen auch den Vorteil auf, dass sich die Kombination der Zahlen quasi fotografisch im Gedächtnis abspeichern lässt –Ziffernkenntnisse sind so überhaupt nicht nötig (vgl. Maas/Mehlem 2003b, 524). In derartigen Umständen wird die geschriebene Sprache nicht zum „Modell für Sprache an sich“ (Thonhauser 2006), vielmehr fehlen die gesellschaftlichen Voraussetzungen für den Aufbau einer „kategorialen Haltung zur Schrift“ (Maas 2008b, 399). Die Begriffsbezeichnung literal variiert mit dem soziokulturellen und historischen Kontext. Ursprünglich war der Begriff als Bezeichnung für eine des Lesens und Schreibens kundige Person in Verwendung, erfuhr aber mit neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten eine Ausweitung: Literal ist jemand, der mit einer schriftlich geprägten Sprache in den jeweiligen gesellschaftlichen Kontexten angemessen umgehen kann (vgl. Schmölzer-Eibinger 2008, 40). Umgekehrt gibt es in den geographischen Randgebieten der Türkei wenige Menschen die schreiben können, aber keinen Analphabetismus, da die Kommunikation auf mündlich kodierten Praktiken aufbaut.12 Nicht-schriftkundig zu sein, stellt die gesellschaftliche Norm dar, nicht die pathologische Ausnahmeerscheinung. In der Türkei sind über das Schulsystem schriftkulturelle Kenntnisse etabliert worden, was aber nicht bedeutet, dass jede Einzelperson dazu Zugang haben muss. Zwar tritt Schriftlichkeit in Form von Stromrechnungen, Beipackzetteln von Medikamenten oder zu beachtenden Verkehrsvorschriften in Erscheinung. Diese Anforderungen werden jedoch nicht vom Individuum sondern

|| 12 Vgl. die Analyse schriftkultureller Verhältnisse in Marokko von Maas/Mehlem 2003, die auch in Teilen der Türkei mit vergleichbaren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Gültigkeit haben.

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„für die sozialen Einheiten, in denen das Leben reproduziert wird: für das »Haus« (đarˀ, die [Groß-]familie)“ (Maas 2008b, 393). In den kurdischen Teilen der Türkei entspricht diese dem Begriff mal (Haus). In diesem Begriff überlappen sich die Teilbegriffe Haushalt und Familie als zentrale Organisationseinheiten der kurdischen Gesellschaft. In einem Haushalt leben grundsätzlich Familienmitglieder, es können aber auch Nichtfamilienmitglieder in einen Haushalt integriert sein, wie Dienstpersonal, Schutzbedürftige, arme Stammesangehörige, sogar Mitglieder anderer Ethnien oder Religionen können in das mal aufgenommen werden. Ein mal bildet eine wirtschaftliche, produktive und eine Konsumeinheit (vgl.Strohmeier/Yalçın-Heckmann 2000, 200). Das Zusammenleben mehrerer Kernfamilien in einem mal gilt als die ideale Lebensweise in der kurdischen Gesellschaft und ist eng mit der Vorstellung von patrilinearer Solidarität verbunden. Die Faktoren, die über Aufnahme in das mal oder die Teilung eines mal entscheiden, sind einerseits die wirtschaftliche Rentabilität des mal, andererseits auch dessen Produktionsweise, an der alle Mitglieder beteiligt sind. Werden männliche Arbeitskräfte benötigt, wird die Trennung meist hinausgezögert, bis die nächste Generation herangewachsen ist, und ihren Anteil an der anfallenden Arbeit übernehmen kann. Weibliche Arbeitskräfte können durch Heirat ins mal geholt werden (vgl. Strohmeier/Yalçın-Heckmann 2000, 202). Die sprachlichen Anforderungen in einer solchermaßen traditionell geprägten Gesellschaftsordnung basieren in erster Linie auf mündlichen Interaktionsformen: die überwiegende Produktionsweise in landwirtschaftlichen und handwerklichen Betrieben13 setzt auf mündliche Wissensweitergabe zwischen Meister und Schüler, die Organisation in zunftähnlichen Vereinigungen reglementiert Wettbewerb und Innovation. Die starre hierarchische Organisation weist jedem Individuum einen fixen Platz innerhalb des Systems zu, sie bestimmt, was man sein wird. Die Verhältnisse sind kaum zu überwinden, alles wird vererbt oder verliehen, eigenes Zutun (wie etwa das Durchlaufen eines Bildungsweges) wird kaum in Betracht gezogen (Street 1995). Die Großfamilie meistert gemeinsam die schriftsprachlichen kommunikativen Anforderungen, die das türkische Staatswesen an sie stellt, indem sie sicherstellt, dass ein Mitglied die entsprechenden Kompetenzen erwirbt. Für das Individuum sind diese Verhältnisse kaum zu überwinden. Das mal unterstützt

|| 13 Zur Illustration: Der Bezirk Kızıltepe an der syrischen Grenze weist bei einer Einwohnerzahl von 200.000 zwei Fabriken mit insgesamt 60 Arbeitsplätzen auf. Der Rest der Bevölkerung arbeitet in landwirtschlichen oder handwerklichen Familienbetrieben, die Analphabetismusrate beträgt fast 80%. (Stadtverwaltung Kızıltepe)

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nicht den staatlichen Zugriff in Form von Schulbesuch auf alle seine heranwachsenden Mitglieder, da zu befürchten ist, dass die so erworbene Bildung weitere Aspiration weckt und das Familienmitglied für die ihm zugewiesene Funktion als produktive Kraft innerhalb des mal verloren ist. Auf der anderen Seite hat es sich als sinnvoll erwiesen, ein Mitglied zu haben, das schriftkundig ist (vgl. Maas 2008b, 393; vgl. auch Street 1995, 38). Mit der Etablierung eines staatlich organisierten Schulsystems war in den Minderheitengebieten der Türkei nicht zwangsläufig eine gesamtgesellschaftliche Nutzung von Schriftlichkeit verbunden. Im Zentrum neuerer Arbeiten zu Literalität steht die Auffassung, dass sich schriftsprachlich basierte Fertigkeiten immer in einem soziokulturellen Kontext herausbilden, der mit der sozialen Identität des Individuums in enger Beziehung steht. Ansprüche an literal geprägte Handlungsmuster sind nicht festgeschrieben, sondern unterliegen einem steten Wandel14. So konnte Shirley B. Heath (1999), die in ihren Arbeiten „literacy events“ in verschiedenen sozialen Gemeinschaften in den Südstaaten der USA untersucht hat, unterschiedlichen Gebrauch von Schrift, eingebettet in Alltagsroutinen feststellen. Sie konnte zeigen, dass der Schriftgebrauch auch in der gesellschaftlichen Unterschicht ein alltägliches Ereignis ist. In den Arbeiten von Brian V. Street (z.B. 1995) wird deutlich, dass der traditionelle Koranunterricht mit seinen Grundpfeilern Gedächtnistraining und ästhetische Ordnungsprinzipien im Rahmen der gesellschaftlichen Anforderungen an schriftliche Kodierung funktional sein kann und den Voraussetzungen der Lernenden besser entspricht, als es ein moderner Unterricht könnte. Genauso wie die schriftkulturellen Praktiken gesellschaftlich eingebettet sind, sind es auch die unterrichtlichen Maßnahmen, die zu ihrem Erlernen führen (sollen). In der (österreichischen) Einwanderungsgesellschaft sind diese schriftkulturellen Praktiken allgegenwärtig, der Zugang zu ihnen findet in der vorschulischen kindlichen Entwicklung statt. Die Kinder erproben die schriftkulturellen Praktiken ihrer Umgebung und bauen protoliterale Wissenssysteme auf, indem die komplexen symbolisch strukturierten Praktiken in Interaktion mit der familiären Umgebung eingeübt werden. Für Angehörige der Bildungsschicht ist diese Erweiterung der sprachlichen Wissensbestände „selbstverständlich“ (Maas 2008b, 425) und steht somit nicht zur Disposition. Die Eltern wünschen sich nicht, dass ihr Kind lesen und schreiben lernt, sie können sich

|| 14 Dies illustriert beispielsweise das Gebiet des internationalen Rechts, das sich eben in Entwicklung befindet und hohe Ansprüche an „begriffliche Dignität, propositionale Explizitheit, Kohäsion der Textoberfläche“ (Feilke 2007, 34) stellt.

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im Gegenteil gar nicht vorstellen, dass das nicht der Fall sein könnte. Diese Habitualisierung der Schriftkultur“ (Maas 2008b, 425) wird im Sinne eines „kulturellen Kapitals“ (Brizić 2007, 187) in der Schule von den Kindern erwartet, weil es nicht (mehr) als besondere Kompetenz erscheint: Dieses ist nicht nur die Voraussetzung dafür, in der Schule die erweiterte Schriftpraxis zu lernen, sondern auch die Voraussetzung dafür, schriftkulturelle Fähigkeiten später optimal zu vermarkten: Wer mit schriftkulturellen Fertigkeiten nicht als selbstverständlichen Attributen seiner selbst umgeht,... disqualifiziert sich damit in der Konkurrenz um die Partizipation an der modernen Gesellschaft. (Maas 2008b, 427).

Bei einer anderes verlaufenden Sozialisation (eben wie sie bei vielen Familien mit Migrationshintergrund stattfindet) werden andere protoliterale Handlungsweisen verankert, die nicht wie in der Einwanderungsgesellschaft auf Segmentieren und Analyse der sprachlichen Elemente abzielen, sondern eher auf ein „Lernen im Bildmodus“: als Abspeichern des Graphischen ohne dessen analytische Bearbeitung“ (Maas 2008b, 403). Beim Erwerb der Schriftsprache handelt es sich in beiden kulturellen Großräumen – dem europäischen und dem islamischen – um eine Initiation in eine gesellschaftlich bestimmte Praxis. Der Lernende wird Mitglied einer sozialen Gruppe. Der Unterschied wird deutlich in der sozialen Praxis des (Vor)lesens. In der Einwanderungsgesellschaft ist das Vorlesen Kennzeichen eines Hineinwachsens in eine literale Gesellschaftsschicht. Bei diesem Prozess spielt das Kind eine aktive Rolle: es stellt Fragen, entscheidet über Wiederholen oder Fortfahren, ko-produziert die Inhalte mit dem vorlesenden Erwachsenen. Der islamische Kulturkreis ist ausgerichtet auf einen religiösen Text in autoritativer Funktion (siehe Kap. 2.1.2.3). In diesen Verhältnissen steht einem Kind das Stellen von Fragen an den heiligen Text nicht zu, es soll ihn aber als Initiationsritual ein Stück weit auswendig lernen und rezitieren (vgl. Maas 2010, 74).

1.3 Schriftlichkeit und Mehrsprachigkeit 1.3.1 Das Modell der Registervariation Die schriftsprachlichen Ressourcen der kurdischen Einwanderer entfalten sich in einem Raum, der von Mehrsprachigkeit in wechselnden Dominanzverhältnissen, dem Spannungsverhältnis zwischen Umgangssprache und Standardsprache sowie familiären, religiösen und schulischen Praktiken gekennzeichnet ist. Für die theoretische Modellierung dieser Verhältnisse bietet sich das Modell der Registerdifferenzierung an, dass die kognitive Entwicklung des Individuums an

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die soziale bindet: Sprache ist eine soziale Praxis, in die das Kind hineinsozialisiert wird. Der Sozialisationsprozess ist davon gekennzeichnet, dass sich immer weitere soziale Horizonte öffnen und die Sprachpraxis dezentriert wird (Maas 2008a und b; 2010). Das Konzept der Registervariation (Maas 2008a und b; 2010) geht davon aus, dass Sprache kein homogenes Gebilde darstellt, sondern dass in jeweils unterschiedlichen Interaktionssituationen unterschiedliche sprachliche Strukturen zum Einsatz kommen. So unterscheidet sich die Sprache in der Familie von den Sprachformen, die in rituellen Handlungen oder in offiziellen Situationen verwendet werden. In der Antike unterschied man in der Rhetorik die Domänen, auf die die sprachlichen Register abgebildet werden: Eine grobe Rasterung in drei Registerstufen ist seit der Antike üblich, die mit drei Domänen (situativen Typen) korreliert werden können: die formelle Öffentlichkeit: (staatliche) Institutionen, die informelle Öffentlichkeit: Straße, Geschäfte („Markt”) und der Intimbereich: Familie, Freunde. Die Variation der Sprachpraxis steht im Zusammenhang mit situativen Faktoren, die mit Domänen identifiziert werden können. Werden solche sprachliche Varietäten von einem Sprecher artikuliert, spricht man von Register. „Register sind sozial verortete sprachliche Formen“ (Maas 2008b, 42), sie haben eine relative soziale Festigkeit im Hinblick auf die Erwartung an die individuelle Sprachpraxis. Um die sprachlichen Domänen fassen zu können, führt Maas zwei Dimensionen ein: die Dimension der Öffentlichkeitsgrade (+/- intim) und die Dimension der Formalität (+/- formell). Register werden gefasst als „Paare von Domänen der Sprachpraxis und strukturellen Eigenschaften, die diese artikulieren.“ (Maas 2010, 38). Die Öffentlichkeitsgrade entsprechen der in der individuellen Sprachentwicklung erschlossenen sprachlichen Praxis: – Der intime Horizont ist gekennzeichnet durch die Kommunikation mit vertrauten Personen. Im intimen Register ist die Verständigung vorsprachlich gesichert, sprachliche Äußerung sind Reproduktionen von gemeinsam erfahrenen situativen Konstellationen. – die Erschließung eines sozialen Raumes, der über den engen familiären Raum hinausgeht (Gleichaltrige, peers) bedingt, dass der Sprecher sich mit seinen Kommunikationspartnern eines gemeinsamen Interpretationsrahmens versichern muss. – Im öffentlichen Register sind die sprachlichen Formen infrastrukturelle Voraussetzungen, um mit anderen zu verkehren. Im öffentlichen Register kann Verständigung nur funktionieren, wenn die Voraussetzungen sprachlich (nicht situativ) geschaffen werden.

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Die Dimension der Formalität beinhaltet die sprachliche Dezentrierung. In der höchsten Formalitätsstufe ist die sprachliche Praxis nicht mehr kommunikativ definiert, sprachliches Handeln wird praktiziert als unpersönliches Handlungsschema, das heißt, es muss allgemein verständlich und rekonstruierbar sein. die Belastung der sprachlichen Form mit der Aufgabe, die Bindung an die implizite Bedeutung durch die kommunikative Konstellation der Äußerung zu minimieren... Das öffentliche Register ist dadurch definiert, das hier die Verständigung nur funktioniert, weil die Voraussetzungen dazu (sprachlich) artikuliert werden – erst hier ist Sprache konstitutiv für die soziale Praxis und nicht nur deren Bestandteil... Das förmliche Register fokussiert die sprachliche Form gewissermaßen unabhängig von (funktionalen) kommunikativen Anforderungen. (Maas 2008b, 44).

Die Registervariation ist als Spiegelung kognitiver Stufen des Sprachlichen zu verstehen. In der Modellierung der Register werden die kognitiven Strukturen mit den sozialen verbunden. Formalität bedeutet also die Freisetzung von der Bindung symbolischen Handelns an die Situation. Dabei wird der Zwang zur Konsistenz in der sprachlichen Artikulation zum Gradmesser von Formalität (Literalität). Die Artikulationsformen sind an bestimmte Kontexte des Gebrauchs gebunden. Es gibt eine eindeutige Korrelation von sprachlichen Formen und Situationstypen, die mit ihrer Hilfe bewältigt werden. Solche Zuordnungen sind sozial vorgegeben und werden mit der Sprache gelernt. Das Lernen solcher Korrelationen bedeutet, dass sie in die Sprachbiographie eingeschrieben sind: das intime Register ist dadurch definiert, dass die Interagierenden eine gemeinsame Geschichte haben, die von den genutzten sprachlichen Formen konnotiert wird, das informelle öffentliche Register bezieht Personen mit ein, zu denen keine so enge Bindung besteht, mit denen aber konnotative Horizonte geteilt werden. Zwischen den Domänen und den sprachlichen Artikulationsformen besteht eine Korrelation, die aber nicht absolut sein muss. So können förmliche Elemente in intimen Diskussionen eine Funktion haben, oder saloppe Ausdrucksformen in institutionellen Kontexten (in Nachrichtensendungen) genutzt werden. Die Autonomie der Ausbaudimension geht aber noch weiter: Wo in der Sprachpraxis solche Strukturpotenziale erschlossen sind, können sie auch auf andere Varietäten (Sprachen) übertragen werden.

1.3.2 Die Registerarchitektur kurdischer Immigranten Die sprachliche Lebenswelt der kurdischen Migranten ist mehrsprachig. Diese Mehrsprachigkeit ist nun nicht Ergebnis der Migration, sondern wird aus einer

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multilingualen Gesellschaft mitgebracht und in der Migration um einige Facetten bereichert. Sprachliche Ausdrucksformen können miteinander konkurrieren: Die Konkurrenz sprachlicher Formen macht anders als bei situativ festgelegten Formen eine Entscheidung nötig. Im positiven Fall können sich neue Ausdrucksoptionen (Code-Switching) ergeben. Wo eine Wahl zwischen den sprachlichen Formen erzwungen wird, werden Machtverhältnisse sprachlich ausgetragen. Auf diese Weise wird eine sprachliche Form bzw. deren Sprecher minorisiert (vgl. Maas 2008b, 48). Die Auswanderung erfolgt aus einer offiziell laizistischen, aber stark vom Islam geprägten Gesellschaft. Offiziell gilt im institutionellen Raum die türkische Sprache, die in lateinischer Schrift geschrieben wird (siehe Kap. 2.1.1.2). Grundsätzlich besteht ein Spannungsverhältnis zwischen mündlich und schriftsprachlich geprägtem Sprachgebrauch. Der Erwerb des Hochtürkischen – und somit von schriftbasiertem Türkisch – ist für die vielen sprachlichen Minderheiten der Türkei, aber auch für die türkischsprachige Landbevölkerung in der Pflichtschulzeit kaum zu bewältigen (siehe Kap. 2.1.1.2). Einen nicht unerheblichen Raum nimmt für viele Immigranten das Koranarabische ein. Besonders im ländlichen Raum und in den peripheren Gebieten, in denen die Schulpflicht von der Verwaltung nicht durchgehend exekutierbar ist, erfolgt die Alphabetisierung häufig im Rahmen der Medresen in Koranarabisch. Die schriftsprachlichen Kompetenzen, die hier aufgebaut werden, dienen zur Lektüre und Rezitation des Koran, sind also in erster Linie reproduktiv. Die Verhältnisse der gesprochenen Sprache sind ebenso komplex wie die der geschriebenen: je nach regionaler/sozialer Herkunft wird eine Varietät des Türkischen und/oder eine weitere Sprache – im Herkunftsgebiet der untersuchten Migranten: Kurdisch – gesprochen. Wie viele Immigrantengruppen kommen also die Menschen aus der Türkei aus einer Gesellschaft, in der neben der offiziellen Amtssprache Türkisch Mehrsprachigkeit als übliche Praxis anzusehen ist. In der Regel kann man davon ausgehen, dass mindestens drei Sprachen benutzt werden, die auch in formaler Hinsicht nicht miteinander verwandt sein müssen (vgl. Maas 2003, 28). Für die europäischen Einwanderungsländer artikulieren sich die Register seit der Entwicklung der Nationalstaaten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts als ein Gefüge, in dem die Hochsprache ein Varietätenkontinuum überdacht. Das hat unter anderem Folgen für die Vorstellungen von Fremdspracherwerb und Mehrsprachigkeit. In einer Fremdsprache ist ein Individuum irgendwann idealerweise so kompetent, dass es sich in allen Registern adäquat bewegen kann, die Kompetenzen der Muttersprache also in der Fremdsprache mehr oder weniger gespiegelt werden. Maas/Mehlem sprechen hier treffend von „virtuoser Mehrsprachigkeit“ (Maas/Mehlem 2003a, 30). In vielen Herkunftsländern muss

26 | Die sprachlichen Ressourcen und das Bildungsangebot

sich Registervariation jedoch nicht zwingenderweise im Rahmen einer einzigen Sprache abspielen. Für die türkeikurdischen Einwanderer kann folgende Situation angenommen werden: Tab. 1: Registergefüge kurdischer Immigranten. Quelle: Maas 2008b, 52.15 Formelle Öffentlichkeit: (staatliche) Institutionen: Religion:

Informelle Öffentlichkeit: Straße, Geschäft

Intimbereich: Familie, Freunde

Hochtürkisch, Hochdeutsch Koranarabisch

Schriftsprache Schriftsprache (rezeptiv)

Lokale Varietät des Türkischen Lokale Varietät des Deutschen

Mündlich geprägt Mündlich geprägt

Lokale Varietät des Kurdischen

Mündlich geprägt

Die einzelnen Sprachen werden arbeitsteilig eingesetzt, haben also in den einzelnen Registern keine Äquivalenzen und stehen so untereinander nicht in Konkurrenz. Diese in der Registerarchitektur verankerte Mehrsprachigkeit ist ein verbreiteter Typ von Mehrsprachigkeit und in Regionen mit kolonialer Vergangenheit vorherrschend (vgl. Maas 2008b, 53). In den Familien und Dörfern der türkischen Minderheitengebiete ist es selbstverständlich, dass ein Individuum mehrere Sprachen spricht, und dass auch innerhalb der Familien mehrsprachig kommuniziert wird. Diese Mehrsprachigkeit beschränkt sich jedoch auf die informellen Register. Das öffentliche schriftsprachlich ausgerichtete Register stellt oftmals eine Barriere im Hinblick auf gesellschaftliche Partizipation dar. Diese Gegebenheiten bleiben auch in der Migration gültig. Die Menschen, die aus den beschriebenen sprachlichen Verhältnissen einwandern, haben selten Schwierigkeiten damit, sich in der neuen Sprache die erforderliche Alltagskompetenz anzueignen, bei der Aneignung der geforderten schriftsprachlichen Fertigkeiten sind die informellen Sprachkenntnisse jedoch keine Hilfe. Die durch das Individuum vorgenommene Konzeption eines derartigen sprachlichen Gefüges ist von Normen geprägt (vgl. Maas 2008b, 59ff). Insbesondere erheben sprachliche Praktiken, die mit der Schriftkultur in Verbindung stehen, einen Anspruch auf Legitimität, der wiederum auf Kosten der in der || 15 Die Tabelle bei Maas zeigt die marokkanischen Verhältnisse, die hier an die türkisch/ kurdische Situation angepasst wurde.

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mündlichen Kommunikation verankerten sprachlichen Praktiken geht.16 Die sprachlichen Räume, die in den Köpfen ihrer Sprecher bestehen und nach denen sie ihre sprachlichen Praktiken ausrichten, werden in der neueren soziologischen Diskussion als Schafte17 bezeichnet (Apadurai 1991). Die Sprachschaften, denen sich Sprecher zurechnen, müssen nicht mit empirisch feststellbaren realen Gegebenheiten übereinstimmen, können aber als „imaginierte Verhältnisse“ (Maas 2008b, 81) das sprachliche Handeln bestimmen. Eine in der Türkei aufgewachsene kurdische Person erlebt ihre Familiensprache (kurdisch) als partikulären Dialekt gegenüber der auf der Straße und von Spielkameraden praktizierten lokaltürkischen Varietät. Den entgegengesetzten Pol bilden das auf Schrift ausgerichtete Hochtürkische der Institutionen und Massenmedien und die Sprache der Religion. Mündlicher (die nicht geschriebene Familiensprache und die regionaltürkische Verkehrssprache) und schriftlicher (die schriftsprachlich ausgebaute Staatssprache) Sprachgebrauch definieren so den Raum, in dem sich die sprachliche Sozialisation abspielt (vgl. Maas 2008b, 60). Formal lassen sich die Verhältnisse folgendermaßen darstellen: Auf der horizontalen Achse finden sich die Verhältnisse im Herkunftsland, auf der vertikalen Achse die Verhältnisse in der Migration: Die individuell als integriert empfundenen Varietäten (eingekreist) gehören häufig nicht verwandten Sprachen an. Die Zusammengehörigkeit bestimmt nicht der Ähnlichkeitsgrad der Sprachen, sondern der Verwendungskontext (informell/formell) und die strukturellen Gegebenheiten (oral/literal). Die von Utz Maas für Berber sprechende Marokkaner dargestellten Verhältnisse, auf die hier Bezug genommen wird, unterscheiden sich von den kurdischen Verhältnissen insofern, als die Familiensprache Berber aufgrund der gemeinsamen Entwicklung mit dem marokkanischen Arabisch als Kontinuum zur arabischen Verkehrssprache und zum Hocharabischen erfahren werden

|| 16 Ein klassisches Beispiel stellt die Diglossie in der Arabischen Welt dar: dem klassischen Arabisch als der Sprache der Überlieferung des Koran und somit einzigen prestigeträchtigen Sprachform steht eine Fülle von Varietäten gegenüber, die von ihren Sprechern als gegenüber der Hochsprache verdorben bewertet wird. In geschriebener Form wird ausschließlich das Hocharabische akzeptiert, dessen Gebrauch im Rahmen der Religion allgegenwärtig ist, in anderen Kontexten aber auf bestimmte elitäre Gruppen beschränkt ist (z.B. Kermani 2000; Thonhauser 2006; Mehlem 2010). 17 Gebildet aus englisch: -scapes. Der von Apadurai zur Modellierung der globalen kulturellen, ethischen, wirtschaftlichen und sozialen Enträumlichung benutzte Terminus bezeichnet eine individuelle Praxis gegenüber vorgegebenen Verhältnissen, die die Aneignung der Wirklichkeit mit bestimmten Einstellungs- und Wahrnehmungstraditionen bewerkstelligen. (Apadurai 1991).

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kann. Insofern hat das kurdische Orientierungssystem zwei Zentren, die jeweils zwei nicht verwandte Sprachen integrieren:

Abb. 1: Sprachliche Zugehörigkeiten eines kurdischen Immigranten. Quelle: Maas 2008b, 60.

Diese sprachlichen Gegebenheiten des Herkunftslandes auf der sprachenpolitischen (Makro-), der unterrichtlichen (Meso-) sowie der sprachbiographischen (Mikro-)Ebene bilden die Grundlage für den Erwerb einer neuen Zweitsprache in der Einwanderungsgesellschaft (Brizić 2007). Die Einwanderung erfolgt in eine laizistisch ausgerichtete, vom Christentum geprägte Gesellschaft. Im institutionellen Raum (Schule, Verwaltung, Gerichte, Medien...) ist die deutsche (Hoch-) Sprache im Gebrauch, der im Alltag umgangssprachliche Varietäten entsprechen. Geschrieben wird in der lateinischen Schrift. Das Orientierungssystem sprachlicher Zugehörigkeiten wird den Kindern in der Migration von ihren Eltern weitergegeben. In der Alltagspraxis baut die nächste Generation ein anderes System auf, das sich vom ersten durch unterschiedliche Zugehörigkeiten auszeichnet:

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Abb. 2: Sprachliche Zugehörigkeiten in der Migration. Quelle: Maas 2008b, 61.

Auch dieses Orientierungssystem weist mehrere Zentren auf. Die Familiensprache Kurdisch steht in einem Kontinuum zur Umgangssprache Deutsch, nicht noch zu den Staatssprachen (Hochdeutsch, Hochtürkisch). Die Analysen der Sprachpraxis marokkanischer Kinder zeigen, wie sehr die zweite Generation bereits aus der sprachlichen Perspektive des Einwanderungslandes heraus handelt. Das sprachliche Zentrum verschiebt sich in Richtung deutscher Umgangssprache, die schriftsprachlichen Herausforderungen der Einwanderungsgesellschaft werden aus der Perspektive des Deutschen heraus angegangen (Mehlem 2010). Die Untersuchungen von Verhoeven (1997) zeigten jedoch eine unterschiedliche starke Bindung an die Herkunftssprache zwischen der marokkanischen und türkischen Gruppe auf. Insofern wird in dieser Untersuchung zu klären sein, wo in der kurdischen zweiten Generation die sprachlichen Zentren liegen. Im Umgang mit derartigen Konstellationen von Mehrsprachigkeit und eventuell auch Mehrschriftigkeit ist die individuelle Sprachpraxis durch unterschiedliche Strategien gekennzeichnet, die sprachbiographisch bestimmte typische Merkmale aufweisen und durch folgende Extreme gekennzeichnet sind: der „Reduktion der Differenzen, mit dem Extrem ihrer Nivellierung in einer Pidginisierung,“ im Gegensatz zur „Polarisierung der Differenzen im Versuch, die verschiedenen Varietäten als differente zu kontrollieren.“ (Maas/Mehlem 2003b, 20)

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Die Anwendung einer Strategie hängt dabei von den sprachbiographischen Gegebenheiten ab. In Lebenssituationen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass Kommunikation unter sozialem Stress stattfindet, werden die Differenzen der Sprachen reduziert. Vor allem Erwachsene, für die sich die Bedeutung von Sprache relativiert hat, tendieren zur Reduktion der Differenzen18 (vgl. Maas/Mehlem 2003b, 20). Der Spracherwerb der ersten Einwanderer war vom Beginn der Anwerbeabkommen bis zum Inkrafttreten der Integrationsvereinbarung – also einem Zeitraum von annähernd 40 Jahren – von vorwiegend ungesteuertem Spracherwerb gekennzeichnet. Die Forschung zu diesem Bereich beschränkt sich auf einige wenige Zielsprachen, darunter das Deutsche, und betrifft den ungesteuerten Erwerb der gesprochenen Sprache. Untersuchungen zu ungesteuertem Schriftspracherwerb gibt es kaum (vgl. Klein/Dimroth 2003, 127). Die Lernervarietäten sind von unterschiedlichen Faktoren wie Erwerbsalter, soziale Integration, Einstellungen gegenüber der zu lernenden Sprache, kommunikativen Bedürfnissen, Bildung uvm. bestimmt. Als zentraler Befund kann jedoch die Tatsache gelten, dass erwachsene Lerner nach einer gewissen Zeit eine konsistente, strukturell weitgehend geschlossene Basisvarietät „einer vergleichsweise gut strukturierten Sprachform, die viele Züge mit Pidgins teilt“ (Klein/Dimroth 2003, 152), und die offenbar vielen kommunikativen Erfordernissen Rechnung trägt, ausbilden. Kennzeichen der Basisvarietät sowie ihrer Frühstufen ist die Tatsache, dass diese relativ unabhängig von Ausgangs- und Zielsprache sind (vgl. Klein/Dimroth, 151). Einige Lerner bleiben auf dieser Entwicklungsstufe stehen, das heißt sie fossilieren, und erweitern ihr sprachliches Wissen nur mehr in Bezug auf den Wortschatz. Die zweite Strategie – eine möglichst perfekte Annäherung an die Zielsprache – findet sich allgemein bei Kindern, die in dieser Lebensphase auf die Aneignung der kulturellen Formen der Umgebung ausgerichtet sind. In der Vorpubertät wird die Strategie der Differenzierung unreflektiert praktiziert, während

|| 18 Langzeituntersuchungen haben immer wieder ergeben, dass erwachsene Lerner in der ersten Phase ihres Aufenthalts relativ hoch motiviert versuchen, sich die Sprache des Einwanderungslandes anzueignen, sie im weiteren Verlauf aber festgestellt haben, dass solche Kenntnisse einerseits pragmatisch und im Alltag gar nicht nötig waren andererseits auch gar nicht erwartet wurden. Als Lösungsstrategie wird eine Rudimentärgrammatik entwickelt, die einerseits den Lernaufwand minimiert, andererseits auf die realen Anforderungen durch einen muttersprachlichen Gesprächspartner ausgerichtet ist. Diese Fremdensprache, die Einheimische gegenüber Zugewanderten zur Erleichterung des Kommunikationsprozesses anwenden, wirkt ihrerseits wiederum regulierend auf die Sprache der Zugewanderten (Klein/Dimroth 2003).

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für die Zeit der Pubertät eine Krise typisch ist, die sich besonders durch die Suche nach neuen Formen der Selbstpräsentation auszeichnet. Jedes Kind erwirbt scheinbar mühelos und beiläufig eine Sprache, seine Muttersprache. Bei genauerem Hinsehen ist der Erwerbsprozess jedoch kompliziert und langwierig. Im Bereich des Satzbaus und der Grammatik gibt es viele Bereiche, die Acht- bis Zehnjährige noch nicht vollständig beherrschen. Die Beherrschung komplexerer Fähigkeiten, etwa der Produktion längerer Texte braucht eine besonders lange Zeit, unter Umständen wird über die ganze Lebensspanne hinweg immer wieder dazugelernt (vgl. Klein/Dimroth 2003, 128). Dennoch ist der Erstspracherwerb mit der Pubertät in groben Zügen abgeschlossen, der Mensch besitzt im allgemeinen zu diesem Lebenszeitpunkt ein Sprachvermögen, dass es ihm erlaubt, sich in seiner sprachlichen Umgebung unauffällig zu verhalten. Die meisten Menschen lernen noch weitere Sprachen, wobei das Ergebnis dabei viel uneinheitlicher ist, als das Ergebnis des Erstspracherwerbs. Im Allgemeinen ist das Ergebnis des präpubertären Spracherwerbs der Zielsprache näher, als der postpubertäre Spracherwerb. Hier scheint die biologische, soziale und kognitive Entwicklung eine Rolle zu spielen. Während die biologische Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen anscheinend nur außersprachliche Faktoren betrifft wie akustische Wahrnehmung und Muskelkontrolle, scheinen sich vor allem die kognitive und soziale Entwicklung auf den Unterschied zwischen kindlichem und erwachsenem Spracherwerb auszuwirken. Kinder sind gezwungen, sich perfekt an ihre soziale Umgebung anzupassen, um ihr Überleben zu sichern. Mit der Sprache werden auch Verhaltensmuster und Identität erworben. Erwachsene stehen in dieser Hinsicht nicht so unter Anpassungsdruck wie Kinder: sie haben bereits eine Identität, die eine allzu perfekte Anpassung an die neue Umgebung eher in Gefahr bringen würde. (vgl. Klein/Dimroth 2003, 139). Ein Kind erfährt im ungesteuerten Erst- und Zweitspracherwerb zwar keine Unterweisung in Flexionsmorphologie. Wenn es aber von seiner sprachlichen Umgebung in auffälliger Weise abweicht, wird dies sanktioniert. Will ein Kind in seine soziale Umgebung hineinwachsen, muss es genau die akzeptierten Formen erlernen. Es scheint daher die Motivation für den Spracherwerb von Kindern und Erwachsenen einer der ausschlaggebenden Faktoren für Unterschiede sein: bei Kindern ist der Antriebsfaktor eine optimale Integration in die jeweilige soziale Umgebung, bei Erwachsenen ist es eine möglichst einfache und zugleich effiziente Verständigung in oftmals begrenzten kommunikativen Situationen. Dafür ist – bei ausreichend entwickeltem Wortschatz – eine Basisvarietät durchaus ausreichend (vgl. Klein/Dimroth 2003, 155). In bestimmten Ausnahmesituationen findet sich die Strategie der Polarisierung von Differen-

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zen auch bei Erwachsenen und ist meist an akademische Bildung und optimale soziale Integration gekoppelt. Im Bereich der Schriftpraxis drückt sich die pubertäre Identitätssuche oft in gesuchten Stilisierungen der Handschrift aus. Gerade hier kann die Positionierung der einzelnen beteiligten Sprachen (und Schriften) große Bedeutung erhalten. Anscheinend gibt es hier auch geschlechtsspezifisch unterschiedliche Verläufe, die von der pragmatischen Orientierung auf das Erwachsenenleben hin determiniert sind (vgl. Maas/ Mehlem 2003b, 20). In diesen Bereich fällt auch das Phänomen des Crossing, dem spielerischen Umgang mit anderen Sprachformen, bei dem für die Sprecher anderer Migrantensprachen, aber auch für Sprecher des Deutschen bestimmte Sprachen im Migrationskontext an Prestige gewinnen werden können, z.B. das Türkische in Sport und Jugendkultur (Dirim/Auer 2004). In der Praxis balanciert jeder Lernende einen für sich passenden Kompromiss zwischen den beiden Strategien aus. Das kann in einer situationsabhängig variablen Weise erfolgen, kann aber auch zu relativ festen Strategien führen, die so eine Entlastung in Hinblick auf die kognitiven Anforderungen der Sprachpraxis darstellen können (vgl. Maas/Mehlem 2003b, 20). Dieselben Konstellationen gelten für ein weiteres Phänomen der modernen Migrationssituation, das vor allem in Zusammenhang mit der Einwanderung aus der Türkei oft angesprochen wird (z.B.: Ammann 2004, Maas 2005): der Transnationalität. Das traditionelle Modell von Migration beinhaltet einen Bruch mit den sprachlichen Bedingungen des Herkunftslandes, dessen Sprachen dann nur mehr in engem familiären Bereich gesprochen werden. In den offiziellen – und damit schriftsprachlich ausgebauten – Registern dominiert die Amtssprache des Einwanderungslandes, was dann als klassische Diasporasituation gilt (vgl. Maas 2005, 107). In der Türkei wachsen kurdische Kinder vor allem in urbanen Umfeldern in der Regel zweisprachig kurdisch/türkisch auf. In der Migrationssituation lernen kurdische Kinder in den durch Kettenmigration sprachlich meist recht homogenen Verbänden nur ihre dialektale Varietät des Kurdischen oder Türkischen. Die in der jeweiligen Community gerade nicht in Erscheinung tretenden Varietäten bleiben ihnen fremd, Bildungssprache ist die Sprache des Einwanderungslandes. In solchen Gegebenheiten können mitgebrachte dialektale Varietäten, die nun von der sprachlichen Dynamik des Herkunftslandes entkoppelt sind, fossilieren, bei hohem Bildungsstand kann es auch zur Pflege einer normativ hoch bewerteten Varietät kommen. (vgl. Maas 2005, 107). Angesichts neuer Kommunikationsmöglichkeiten (Telefon und Internet sind allgemein zugänglich, leistbar und ersetzen den schriftbasierten Briefverkehr) und erleichterter Verkehrs- und Transportwege wird die sprachli-

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che Situation in der Migration zunehmend komplexer. Im familiensprachlichen Bereich besteht nicht nur aufgrund erleichterter Kommunikationsmöglichkeiten große Durchlässigkeit, sondern auch durch Phänomene wie Kettenmigration, Familiennachzug und Heiraten mit Partnern aus dem Herkunftsland. Auf diese Weise stehen die Migrantengruppen mit den sprachlichen Entwicklungen im Herkunftsland in Beziehung, und Wechselwirkungen zwischen Herkunftsland und Einwanderungsland können beobachtet werden.19 Im intimen Bereich besteht reger Austausch mit dem Herkunftsland, der Austausch erstreckt sich nicht aber auf die türkische Schriftsprache, die von der deutschen Schriftsprache ersetzt wird. In der Migration kann sich ein schriftsprachlicher Zugang zu im Herkunftsland stigmatisierten Sprachen ergeben (siehe Kap. 2.1.1.3). Transnationalität gilt also in erster Linie im familiensprachlichen Bereich, und unterscheidet sich im schriftsprachlichen Bereich stark von der Situation im Herkunftsland. Übereinstimmung herrscht in der Literatur zu verschiedensten Teilbereichen sprachlichen Verhaltens20, dass es die gesellschaftlichen Faktoren sind, die sich auf die individuell vorgefundene Sprachkompetenz auswirken. Niemals ist es beispielsweise strukturelle Verarmung, die zur Aufgabe einer Sprache und zur Hinwendung einer anderen Sprache führen würde, die Reduktion an Struktur ist vielmehr eine Reaktion auf gesellschaftliche Machtverhältnisse wie Verbot/Diskriminierung einer Sprache, erhoffter sozialer Aufstieg (‚Marktwert‘ einer Sprache), Möglichkeit zum Gebrauch einer Sprache, Ausgrenzung aus bestimmten Gruppen durch die Verwendung einer bestimmten Varietät, politische Zuschreibungen aufgrund der Verwendung einer bestimmten Varietät (vgl. Garnitschnig 2013, 74). In diesem Sinn wird in den folgenden Kapiteln das sprachliche Lebensumfeld im Herkunftsland und im Einwanderungsland auf die Verfügbarkeit und den Zugang zu schriftkulturellen Ressourcen in allen von den Probanden gesprochenen Sprachen sowie das Verhältnis dieser Sprachen zueinander zu untersuchen sein.

|| 19 Auch im Hinblick auf die Sprache des Einwanderungslandes ergeben sich Rückwirkungen auf das Herkunftsland. Neuere Gesetzgebungen in den Einwanderungsländern wie der Nachweis von Sprachkenntnisse bereits vor der Ersteinreise (siehe Kap. 2.2.1.3) wirken sich auch auf die Herkunftsländer aus, wo auf diese Art eine rege Nachfrage nach Kursen erzeugt wird. 20 Zum Bereich sprachlicher Kompetenz in Erst- und Zweitsprache in der Migration: Brizić (2007); zum Bereich Sprachtod und language shift: Dirksmeyer (2005), Bradley (2011), Grenoble (2011), Grinevald/Bert (2011) Zum Bereich Mehrsprachigkeit und Mehrschriftigkeit: Hausberger (1989), Maas (2008a und b, 2010a und b) Maas/Mehlem (2003 a und b), Mehlem (2010).

2 Das sprachliche Lebensumfeld in Herkunftsund Einwanderungsgesellschaft 2.1 Türkei 2.1.1 Die Politik der Sprachplanung und ihre Auswirkung auf das multilinguale Lebensumfeld 2.1.1.1 Sprache(n) in der Türkei Der Zusammenhang zwischen der „literalen Verfasstheit“ (Feilke 2007, 30) der Gesellschaft und den auf diesen Zustand abzielenden Sozialisationsprozessen, die das Individuum durchlaufen muss, wurde im vorangegangenen Kapitel bereits angesprochen. Dieser Zusammenhang ist bei der Analyse schriftsprachlicher Kompetenzen unbedingt mitzudenken: Die (schriftkulturellen) Verhältnisse sind vorgegeben: Sie müssen von den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft (ob Migrant oder nicht) angeeignet werden. Ein Verständnis ist hier nur zu erreichen, wenn die beiden Momente des Prozesses, in dem diese Verhältnisse (re-)produziert werden, zugleich in den Blick genommen werden: als sozial vorgegebene Strukturen, die dem partizipierenden Subjekt zugemutet werden und als in dieser Form entfaltete Potentiale des Subjekts. (Maas 2008b, 389).

Die gesellschaftlich vorgegebenen Rahmenbedingungen im Hinblick auf die Schriftkultur können sich im Herkunftsland und im Einwanderungsland stark unterscheiden. Migration erfordert daher in vielen Fällen neben dem Spracherwerb an sich auch den Erwerb spezifischer sprachlicher Kommunikationspraktiken, die erst eine angemessene gesellschaftliche Partizipation ermöglichen. Aus diesem Grund sollen nun die sprachlichen Rahmenbedingungen des Herkunftslandes Türkei im Hinblick auf die Zugangsmöglichkeiten zu schriftkulturellen Ressourcen in den Blick genommen werden. Die Bevölkerung der Türkei ist nicht nur sprachlich äußerst heterogen, es bestehen vielmehr auch Unterschiede zwischen den Sprachen im Hinblick auf deren schriftkulturellen Ausbau sowie dem Zugang der Bevölkerung zu diesen schriftkulturellen Ressourcen. Der Prozess der Demotisierung verläuft in unterschiedlichen Kulturräumen nicht parallel, wie die schriftkulturellen Praktiken in der muslimischen Welt mit ihrer Prägung durch die Sprache des Koran zeigen (Maas 2010; Mehlem 2011). Der Zugang zu den schriftkulturellen Ressourcen in den Erstsprachen und in diesem Zusammenhang historische und gegenwärtige Prozesse der Sprachplanung und Sprachenpolitik in den Herkunftsländern sind

https://doi.org/10.1515/9783110519266-047

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für die sprachlichen Ressourcen der Menschen auch in der Migration bedeutsam (Brizić 2007). Gerade die sprachlichen Rahmenbedingungen in der Herkunftsgesellschaft Türkei sind davon gekennzeichnet, dass das staatlich vorgegebene Ideal eines monolingualen Staates mit türkischsprachiger Bevölkerung und die empirische Realität weit auseinanderklaffen (Nestmann 1989; Van Bruinessen 1989; Haig/Matras 2002; Haig 2004 u.v.m). Aufgrund des Dogmas vom türkischen Nationalstaat ist die Datenlage im Hinblick auf ethnische, sprachliche und kulturelle Minderheiten in der Türkei äußerst dünn und in vielen Fällen sind die Quellen zumindest zweifelhaften Ursprungs. Angesichts dieser Tatsachen müssen Untersuchungen oft auf persönliche Einschätzungen von Reisenden, Angehörigen der Minderheiten und Anthropologen zurückgreifen (Andrews 1989, Haig 2004, Brizić 2007). Die Darstellung der ethnischen und religiösen Gruppen in der Türkei ist am genauesten und detailliertesten bei Andrews (1989) zu finden. Die Daten stammen aus den 1970er bis frühen 1980er Jahren. Eine weitere wesentliche Datenquelle, die die ethnische Zusammensetzung in den türkischen Minderheitengebieten erschließen lässt sind die Köy Envanter Etüdleri (KEE, Studie zur ethnischen Zusammensetzung in Dörfern aus den späten sechziger Jahren (Auswertung: z.B.: Nestmann 1989)). Grundsätzlich bezogen die bis 1965 fünfjährlich durchgeführten Volkszählungen keine Angaben über die ethnische Differenzierung der Bevölkerung mit ein. Die KEE jedoch, die in den 1960er Jahren in der Gesamttürkei durch das İmar ve İskan (später Köy İşleri)-Bakanlɩğɩ [ursprünglich Besiedelungsministerium, später Ministerium für Dorfangelegenheiten] veranlasst wurden, waren weiter gefasst. Ausgangspunkt für die Erhebung war der Entwicklungsrückstand der ländlichen Gebiete, insbesondere der Osttürkei. Die Erhebung sollte die Grundlagen für einen Regionalentwicklungsplan bilden und freies Land für Umsiedlungen ermitteln (siehe Kap. 2.1.1.3). Die KEE wurden im vilayet21 Bingöl in der Osttürkei begonnen. Sprache und Religion wurden miterhoben und dorfweise angegeben (vgl. Nestmann 1989, 544). In dem Ausmaß, in welchem sich die ethnische und kulturelle Heterogenität des Bezirks abzeichnete, wurde auch die soziale Sprengkraft, die den Befunden innewohnte, deutlich. Der Zugang zu diesem Material wurde rasch eingeschränkt und später ganz gesperrt und in den veröffentlichten Vilayet-Monographien erschienen keine Angaben zu Sprache und Religion mehr. Die Daten aus den KEE bilden die Grundlage der von Laura

|| 21 Der Begriff vilayet bezeichnet die größte Verwaltungseinheit und war bis 1960 üblich. Der heutige Begriff ist il. Die Türkei besteht heute aus 81 il (vgl. Nestmann 1989, 544).

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Nestmann (1972, 1974 und 1989) erstellten Karten zur ethnischen Differenzierung der Osttürkei. Die auf der Basis der Publikationen von Andrews, Nestmann und Eruz erstellte Liste der in Anatolien gesprochenen Sprachen ist beeindruckend. Nur von einem im Vergleich zur Gegenwart geringen Bevölkerungsanteil wurde Türkisch gesprochen, die Position des Türkischen als bäuerlicher Minderheitensprache im Gegensatz zu seiner heutigen Stellung als Staats- und Mehrheitssprache hat sich also grundlegend gewandelt. Viele der im damaligen Anatolien gesprochenen Sprachen sind heute noch die Familiensprachen der zahlreichen Bevölkerungsminderheiten. Diese große Anzahl an Minderheitensprachen wurde deshalb in aller Vollständigkeit (nach den Aufstellungen von Andrews (1989) und Eruz (2008)) dargestellt, um das Ausmaß des sprachlichen Umbaus, der nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches stattfand, zu verdeutlichen. Erklärlich ist die Anzahl der Sprachen einerseits aus der großen Vielfalt autochthoner Sprachen auf dem Gebiet der Türkei, andererseits aus dem Status des Osmanischen Reiches als Einwanderungsland. Für Flüchtlingsgruppen aus der zaristischen Russland (wie die Tschetschenen) oder für die muslimische Bevölkerung des Balkan stellte das osmanische Reich22 ein Rückzugsziel dar. Gesprochen werden in der Türkei: – Turksprachen: Südwestturksprachen (Turkmenisch, Azeri, Gagausisch), Westturksprachen (Karapapachisch, Balkarisch, Karatschaiisch, Kumückisch, Usbeck-Tatarisch, Krim-Tatarisch), aralo-kaspische Turksprachen (Kirgisisch, Kasachisch, Noğay-Tatarisch), Ostturksprachen (Uigurisch, Usbekisch) – Indoeuropäische Sprachen: slawische Sprachen (Bulgarisch, Pomakisch, Bosnisch23), Griechisch, Albanisch, Romani, Kurdisch, Zazaki, Abdal, Ossetisch, Armenisch, Ladino – Kaukasische Sprachen: Dagestanische Sprachen (Awarisch, Andi, Dido, Lakisch, Dargwa, Lesgisch), Nordostkaukasische Sprachen (Tschetschenisch, Inguschisch), Nordwestkaukasische Sprachen (Tscherkessisch, Abchasisch, Ubychisch), Südkaukasische Sprachen (Georgisch, Lasisch) – Semitische Sprachen: Arabisch, Syrische Sprachen (Turoyo, Surit, (=Assyrisch))

|| 22 Im Fall der muslimischen Flüchtlinge aus Bosnien blieb die Türkei bis in die Gegenwart Rückzugsgebiet. 23 Hier handelt es sich um muslimische Flüchtlinge, daher ist die Bezeichnung Bosnisch anstelle von BKS gerechtfertigt

38 | Die sprachlichen Ressourcen und das Bildungsangebot

Die ethnische Diversität bildet eine der Sollbruchstellen im Hinblick auf den sozialen Zusammenhalt (siehe Kap. 2.1.1.3), aus diesem Grund wurde seit der Gründung der Republik Türkei 1923 der monolinguale Staat mit türkischer Bevölkerung zum nationalen Leitbild. Dieses Leitbild ist sehr stark in den öffentlichen Institutionen und der Bevölkerung der Westtürkei verankert, sodass in der Literatur vielfach von einem ‚Kulturschock‘ (vgl. z.B. Nestmann 1989, 545) die Rede ist, wenn Administratoren, Lehrende und Studierende in die Städte des Ostens versetzt werden. Die kulturellen Unterschiede betreffen nun selbstverständlich nicht ausschließlich den sprachlichen Bereich24, und bewirken Vorurteile, räumliche und soziale Segregation, Endogamie und feindselige Reaktionen gegenüber Angehörigen anderer Ethnien (Nestmann 1989). Die Unterscheidung der vielen Ethnien anhand differenzierter Kriterien ist aber kompliziert und verlangt sehr spezifische Kenntnisse aus den Bereichen der Ethnographie. Die Unterscheidung nach Sprachen ist wesentlich leichter vorzunehmen und zu kontrollieren (Haig 2004). Außerdem wurde mit der Entscheidung für eine laizistische Ausrichtung der Republik Türkei 1923 das Hauptdifferenzierungsmerkmal zwischen den sozialen Gruppen – die Religion – unbrauchbar und wurde durch die Sprache als Unterscheidungskriterium ersetzt (Nestmann 1989; Haig 2004). So wurde die türkische Sprachreform25 zum Kernstück des Nation-BuildingProzesses, den der Staatsgründer Mustafa Kemal – genannt Atatürk – ab 1923 ins Leben rief. Die Durchführung des Reformprogramms lag in den Händen der 1932 gegründeten Türk Dil Kurumu [Türkische Sprachgesellschaft]. Die türkische Sprachreform gilt als Musterbeispiel für Sprachplanung26 und betrifft das Türkische ebenso wie die Minderheitensprachen. Unter Sprachplanung wird ein Prozess verstanden, der gezielt auf die Entwicklung einer Sprache Einfluss nimmt. Ziel ist etwa die Erschließung neuer Anwendungsbereiche (Janich 2007). Unterschieden wird zwischen Korpusplanung (Struktur, Rechtschreibung, Ausspra-

|| 24 Der Fokus auf die Sprache als Kultur- und inoffiziell politische Grenze weist Parallelen zur österreichischen Integrationsdebatte (siehe Kap. 2.2.1.3) auf. 25 Der Begriff ist sowohl im Türkischen als auch in europäischen Sprachen umstritten. Die im Türkischen verwendeten Begriffe dil inkılâbı/devrimi ist im Deutschen mit Reform oder Revolution wiederzugeben. Da die Sprachreform sich in einen Prozess von mehr als einem halben Jahrhundert gewandelt hat, ist der Begriff Sprachreform dem Begriff Sprachrevolution vorzuziehen. Semantische Zusammenhänge zwischen inkılâb und devrim [Revolution] werden von Osmanisten mittlerweile bestritten und der Begriff ihtilâl [Reform] vorgeschlagen (vgl. Boeschoten 1991, 165ff.) 26 Brizić spricht von „größten sprachplanerischen Unternehmen des 20. Jahrhunderts“ (Brizić 2007, 109).

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che, Wortschatz, eventuell auch die Etablierung einer Schrift für nicht geschriebene Sprachen) und Statusplanung (betrifft die Rolle einer Sprache in der Gesellschaft, u.a. den Einsatz als Unterrichtssprache) Während die türkische Sprache in erster Linie Gegenstand von Korpusplanung war (s.u.), fielen die nichttürkischen Sprachen mit mehrheitlich muslimischen Sprechern27 dem Prozess der Statusplanung zum Opfer (Haig 2004). 2.1.1.2 Osmanisch/Türkisch als Gegenstand von Korpusplanung Die heutige Türkei ist der Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches. Innerhalb seines über sechshundertjährigen Bestehens bildete sich eine innerhalb der herrschenden Schicht gebräuchliche Sprache mit den Satzstrukturen des Türkischen, in lexikalischer Hinsicht jedoch eine Synthese aus Arabisch und Persisch, heraus. Geschrieben wurde diese als Osmanisch bezeichnete Sprache in arabischer Schrift mit hochornamentalem Stil. Die ersten in osmanischer Sprache geschriebenen Chroniken tauchen bereits in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts auf, ab etwa 1500 stand dem osmanisch Gebildeten eine Sprache – je nach Anlass mehr oder weniger arabisiert oder iranisiert – für die verschiedenen Verwendungsbereiche zur Verfügung. Das Türkische bildete denjenigen Bestandteil des Osmanischen mit geringem sozialem Prestige, dessen Anteil in der Sprache der Intellektuellen möglichst klein gehalten wurde (vgl. Steuerwald 1964, 26; vgl. auch Faroqhi 2000, 45) Die Landbevölkerung unterschied sich in Sprache und Lebensstil beträchtlich von der Elite. Außerdem wurde nur von einem vergleichsweise geringen Bestandteil der bäuerlichen Bevölkerung tatsächlich türkisch gesprochen. Die Stellung des Türkischen als bäuerliche, nicht schriftlich fixierte Minderheitensprache ist mit seiner heutigen Stellung als Staats- und Mehrheitssprache nicht zu vergleichen. (Six-Hohenbalken 2002). Erste reformerische Ansätze lassen sich in die Mitte des 19. Jahrhunderts datieren. Das Aufkommen des Zeitungswesens erforderte eine einfacher zu handhabende, einem höheren Leserkreis zugängliche Schriftsprache (Tamer 2000). Bereits diese frühen Reformvorschläge hatten die Durchsetzung des Osmanischen mit persischen und arabischem Wortgut im Blick und forderten dessen Ersatz durch türkische Ausdrücke. 1874 taucht in der Sarf-i Türkî [türkische Formenlehre] des Süleyman Paşa (1838–1892 ) der Vorschlag auf, die Sprachbezeichnung osmanisch mit der bis dato abwertend gebrauchten Bezeichnung

|| 27 Den nicht-muslimischen Minderheiten wurden im Vertrag von Lausanne 1923 das Recht auf freie Ausübung ihrer Sprache zugestanden (siehe Kap. 2.1.1.3)

40 | Die sprachlichen Ressourcen und das Bildungsangebot

türkisch zu ersetzen (vgl. Laut 2003, 71). In den nach der Jahrhundertwende gegründeten nationalistisch-jungtürkisch ausgerichteten Zeitschriften Türk Derneği und Genc Kalemler werden folgende Forderungen an eine Spracherneuerung formuliert, die später Kernbereiche der Türkischen Sprachreform darstellen sollten: Die Verdrängung der Izafet-Konstruktionen28, der Ersatz arabischer Pluralbildungen durch türkische sowie das Ersetzen nichttürkischer Wörter durch türkische Begriffe (vgl. Laut 2003, 71–72; vgl. Steuerwaldt 1963, 27). Die nach dem türkischen Befreiungskampf unter Atatürk einsetzenden Reformen hatten einen radikalen Bruch mit den strengen, religiös geprägten Normen und Traditionen zum Ziel. Atatürk wollte die Hinwendung zu Europa, aus dem rückständigen, unzivilisierten türkischen Bauernvolk mit osmanischer Elite sollte eine moderne, westlich ausgerichtete fortschrittliche Nation geformt werden. Die Landbevölkerung der Türkei verkörperte hier den negativen Gegenpol zum Ideal der neu zu gestaltenden türkischen Nation: feudale Strukturen hatten sie jahrhundertelang wirtschaftlich ausgebeutet und in der Lebensweise war die Landbevölkerung traditionell ausgerichtet. Daher musste sie von oben herab zu einem modernen Leben ‚bekehrt‘ werden. Die Fähigkeit zur demokratischen Partizipation an der gesellschaftlichen Gegenwart wurde den Bauern a priori abgesprochen. Die starke Polarisierung zwischen modern und traditionell ließ es auch nicht zu, dass die kulturelle Vergangenheit in die Gegenwartsgestaltung29 miteinbezogen wäre (vgl. Brizić 2007, 108). Als erste Maßnahme wurde das arabische Alphabet durch das lateinische ersetzt. Die Islah-i Hurfif Encümenî [Kommission für die Alphabet-Reform] wurde noch zu osmanischer Zeit (1912) gegründet (vgl. Laut 2003, 72), jedoch erst später erfolgte die Umsetzung der Alphabet-Reform in einem rasanten Tempo: am 1. November 1928 wurde das Gesetz über die Einführung des türkischen Alphabets verabschiedet, es war eine Übergangsfrist von einem Jahr vorgesehen (T.C. Resmî Gazete, 01.11.1928). Als Vergleich sei die Reform der deutschen Rechtschreibung in Deutschland, Österreich und der Schweiz herangezogen. Obwohl sie nicht annähernd einen derart umfassenden Eingriff darstellte, wie

|| 28 Hier handelt es sich um enklitische Partikel, die es ermöglichen, einem Nomen oder einer nominalen Konstruktion ein Attribut anzufügen. Die Izafet-Konstruktion ist typisch für iranische Sprachen und war über das Persische im Osmanischen produktiv (Vgl. Haig/Matras 2002, 5). 29 Auch die theoretische Fundierung der sprachenpolitischen Maßnahmen geht auf westliche Vorbilder zurück. Laut (2000) führt in seiner Habilitationsschrift darauf aus, in welcher Weise die linguistischen Theorien, die die Sprachreform in ihren verschiedenen Phasen hervorbrachte, auf europäische, nationalistisch geprägte Vorbilder zurückgehen.

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es der Austausch eines Schriftsystems durch ein anderes ist, wurde für sie eine Übergangszeit von 10 Jahren veranschlagt (vgl. Brizić 2007, 109). Im Dezember 1928 wurde weiters eine richtungsweisende Ausführungsverordnung für die Dil Encümenî [Sprachkommission] beschlossen. Wesentliche Zielsetzungen30 darin waren: – die Ausarbeitung einer türkischen Grammatik, die für die Schulbücher als Grundlage dienen sollte, – die Ausarbeitung eines türkischen Wörterbuchs, dass persische und arabische Wörter durch türkische Begriffe aus der Volkssprache, oder, sofern dies nicht möglich war, aus alten Büchern ersetzen sollte31, – die Ausarbeitung verbindlicher Rechtschreibregeln, wobei die Mundart von Istanbul als Basis dienen sollte. (vgl. Laut 2003, 75) In den Jahren 1931–1934 trat die Sprachreform in eine Phase, die sich in erster Linie auf das Lexikon konzentrierte. Es wurde die Büyük Türk Dil Anketi [Große türkische Sprachrundfrage] ins Leben gerufen, die in erster Linie propagandistische Zwecke erfüllte. Die Dil Seferberliği 32 [Sprachmobilmachung] stellte tatsächlich landesweit eine positive Grundstimmung zu Fragen der Spracherneuerung her. Alle Verwaltungsorgane des Landes wurden angehalten, möglichst viele Wörter aus dem Vokabular des Volkes zu sammeln. Dazu wurde in jedem Verwaltungsbezirk ein Sprachkomitee eingerichtet, dem Militärkommandanten, Bürgermeister und andere Verwaltungsbeamte vorsaßen, und denen die Lehrer an den öffentlichen Schulen unterstanden. Bis 1933 gingen so rund 125 000 Eingänge bei der Türkischen Sprachgesellschaft ein. Weiters wurden Listen über in historischen Werken nachweisbare, im zeitgenössischen Türkischen aber ungebräuchliche turksprachige Wörter zusammengestellt. Das Ergebnis der Türk Dil Anketi war insofern ein relativ chaotisches, als zwar eine große Menge turksprachlicher Worte gesammelt werden konnte, diese aber in den einzelnen Dialekten sehr unterschiedlich verwendet wurden. Außerdem waren viele dieser Begriffe niemals zuvor schriftlich fixiert worden, sodass Ungenauigkeiten, unterschiedliche Schreibungen, phonetisch ungeschultes Verschriften das Chaos vergrößerten (vgl. Brizić 2007, 110).

|| 30 Hier werden bereits die wichtigsten Quellen der Büyük Türk Dil Anketi festgelegt: die bisher geringgeschätzte, nicht verschriftlichte Volkssprache sowie historische Quellen. Als weitere Quelle für türkische Begriffe wurden die zentralasiatischen Turksprachen herangezogen. 31 1931 wurde die Dil Heyeti von der Nationalversammlung geschlossen, da erst der Buchstabe A des türkischen Wörterbuchs fertiggestellt war (vgl. Laut 2003, 77). 32 Der Begriff stammt aus der Rede Atatürks vom 3.11.1932 (Steuerwald 1963, 83).

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Der zweite Durchgang der Sprachumfrage 1933 setzte daher auf eine andere Methode und bat die zeitungslesende Bildungselite um den Ersatz von 10-20 osmanischen Wörtern, wobei die besten Vorschläge prämiert wurden. Die weitestgehend schriftunkundige Landbevölkerung war auf diese Weise gänzlich von der Reform ausgeschlossen, wie auch der Anteil an Formen und Wörtern aus anatolisch-turksprachlichen Dialekten einen sehr geringen Teil der Neueinführungen ausmachte – ganz im Gegenteil zu den ursprünglichen Absichten der Sprachreform. Außer der Einführung volkssprachlicher Lexeme lassen sich folgende Zugangsweisen feststellen: – Um arabisch-persisches Wortgut zu ersetzen, wurden durch Lehnübersetzungen, Kompositabildung, sowie Derivation neue Lexeme geschaffen. – Auf morphologischer Ebene wurden Präfixe eingeführt, die den Turksprachen eigentlich fremd waren, im osmanischen aber in Ansätzen vorhanden waren (vgl. Steuerwald 1963, 38.) – In der osmanischen Sprache bereits vorhandene Lexeme turksprachlichen Ursprungs wurden beibehalten, aber um eine neue abstrakte Bedeutung semantisch erweitert. – Aus indoeuropäischen Lexemen wurden Wörter gebildet (okul-Schule). Die Probleme, die sich bei der Umformung ergaben, sind im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass eine schriftlich nicht fixierte Sprache (das Türkische) nun als Verwaltungssprache in den Institutionen eines Staatsapparats fungieren sollte, und in Wissenschaft, Verwaltung, Kunst, Literatur nun die Rolle des Osmanischen übernehmen sollte. Dabei fehlten nicht nur die arabischpersischen Begriffe, die zur Wiedergabe abstrakten Gedankengutes verwendet wurden, es setzte auch eine Diskussion bezüglich der Leistungsfähigkeit der türkischen Sprache ein, wobei unter Leistungsfähigkeit einer Sprache ihr schriftsprachlicher Ausbau verstanden wurde (Steuerwald 1963). Die Sprachreform blieb ebenso wie das gesamte Modernisierungsprojekt Atatürks auch von fragwürdigen ideologischen Begleiterscheinungen nicht verschont. 1931 wurde die Türk Tarihi Tetkik Cemiyeti [Gesellschaft zur Erforschung der türkischen Geschichte] gegründet. Ariertheorien und die Postulierung einer uralten türkischen Besiedelung Anatoliens bestimmen die inhaltliche Ausrichtung der Gesellschaft. In diesem Kontext wurde auch die Güneş Dil Teorisi [Sonnensprachtheorie ] die von der Türk Dili Tetkik Cemiyeti33 [Gesell-

|| 33 Gegründet 1932 unter der Patronage von Mustafa Kemal Atatürk. Atatürk wünschte ausdrücklich keine rein wissenschaftliche Gesellschaft, vielmehr sollte eine populäre Institution

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schaft zur Erforschung der türkischen Sprache] propagiert wurde. Die Sonnensprachtheorie vertritt die Ansicht, dass das Türkische als Ursprache anzusetzen sei, wird durch eine Vielzahl von Analysen belegt und von 1936-38 an der Universität Ankara als Pflichtfach gelehrt (vgl. Laut 2003, 92) Mit Atatürks Tod 1938 verschwindet die Sonnensprachtheorie wieder von der Bildfläche und das gesamte Projekt Sprachreform tritt in eine ruhigere Phase, in der die Ergebnisse konsolidiert werden (vgl. Laut 2003, 96). Das Erschaffen und Ausformen einer türkischen Nationalsprache war integrales Element der politischen Agenda Atatürks und der Politiker in seiner Nachfolge. Die so entstandene Sprache ist Gegenstand des Nationalstolzes, Beweis für den Erfolg des Kemalismus und dessen Überlegenheit gegenüber dem vielsprachigen multiethnischen Osmanischen Reich. In der umfangreichen Literatur über Sprachplanung nehmen die Beispiele aus dem Türkischen breiten Raum ein, in der wissenschaftlichen Diskussion gilt das Unternehmen Sprachreform als erfolgreich (vgl. z.B. Bazin 1983, Lewis 2002). Die zeitgenössische türkische Sprache wurde so zu einem der hervorstechendsten Merkmale von ‚Türkentum‘ (vgl. Haig 2004, 146). Die Auswirkungen der Sprachreform auf die Bevölkerung waren tiefgreifend: das Lexikon variiert von Kontext zu Kontext, ja sogar von Person zu Person: politische Orientierungen spiegeln sich in der Wortwahl wider. Konservativer Sprachgebrauch ist nach wie vor von einer Durchsetzung mit persischen und arabischen Lehnwörtern gekennzeichnet, fortschrittlicher Sprachgebrauch orientiert sich an türkischen und turksprachlichen Begriffen (vgl. Brizić 2007, 112–113 ). Der gebildete Türke bekam in manchen Zeitungen Artikel vorgesetzt, die er nicht ohne Zuhilfenahme von Nachschlagewerken verstehen konnte: Kein Wunder, dass sich eine stärkere Abwanderung zu solchen Zeitungen anbahnte, die allgemein eher konservativ ausgerichtet waren. Der türkische Intellektuelle sollte Wörter verwenden, die nicht nur ihm selbst, sondern auch den einfachen Schichten, selbst dem Analphabeten, unbekannt waren. Konnte man sich mit Hilfe dieser eigenartigen Muttersprache schon kaum über Dinge des Alltags unterhalten, so war eine Auseinandersetzung über abstrakte Dinge schlechterdings unmöglich. (Steuerwald 1963, 20)

Zum Ende der 40er Jahre formiert sich die Muallimler Birliği [Lehrervereinigung] und fasst auf einem selbst veranstalteten Sprachkongress folgende Kritikpunkte zusammen (vgl. Laut 2003, 98):

|| entstehen, die die türkische Gesellschaft auf den Gebrauch des Neutürkischen einschwören sollte (vgl. Laut 2003, 78)

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– – – –

Die Instrumentalisierung der Sprache durch die Politik die staatliche Einflussnahme auf die Lehrbuchgestaltung auch in sprachlicher Hinsicht die Beeinträchtigung der Verständigung unter den Generationen Durchführung der Sprachreform durch obrigkeitshörige, linguistisch nicht gebildete Personen

Die Auswirkungen der Reformen auf die Landbevölkerung, aus der sich der Großteil der Zuwanderer nach Europa rekrutiert, sind wenig dokumentiert. Der Zugang zur Schrift fand für die Bevölkerung des osmanischen Reiches im Bereich der religiösen Institutionen statt. Die einzelnen Religionsgemeinschaften organisierten den Unterricht für ihre Mitglieder, für die muslimische Bevölkerung waren dies die Medresen (Uzun 1999). Mit der Schließung der geistlichen Schulen 1925 war die Bevölkerung nicht nur der Möglichkeit beraubt, Schrift im Rahmen ihrer Bedürfnisse und im Einklang mit den von der Religion vorgegeben Rhythmen des Gebets und der Koranrezitation zu erfahren. Für die Angehörigen der kurdischen Minderheit bedeutete das Ende der geistlichen Schulen auch das Ende des Zugangs zur literarischen Tradition ihrer Muttersprache sowie der Verwendung des Kurdischen als Unterrichtssprache und Sprache der Reflexion (siehe Kap. 2.1.1.3). Der radikal moderne, antireligiöse Kurs der Atatürkschen Ideologie bewirkte eine Abwehrhaltung gegenüber der neuen Schrift (an die arabische Schrift als Schrift des heiligen Buches bestand eine ungleich engere Bindung als an die lateinische Schrift) und der staatlichen Schule, deren inhaltliche Ausrichtung nicht ihren unmittelbaren Bildungsbedürfnissen entsprach (siehe Kap. 2.1.2.3), und die die Lebensform und Sprachen der Minderheiten nicht wertschätzte. Eine erste direkte Folge der Schriftumstellung und der Neuorganisation des Schulwesens war somit ein rasantes Ansteigen der Analphabetismusraten (Tanilli 1988). Betrug die Analphabetismusrate 1935 10,5 %, sank sie mit den Reformen in einigen Regionen trotz bildungspolitischer Maßnahmen auf 1 % ab (vgl. Brizić 2007, 114). Zum einen sind Provinzen mit hohem Anteil an Analphabeten bis heute die östlichen Provinzen mit hohem Minderheitenanteil (Strohmeier/YalçınHeckmann 2000, 241). Dass sich seit der Publikation dieser Daten im Jahr 2000 im Wesentlichen nichts geändert hat, zeigt folgende Stellungnahme zum Bereich Bildung auf der Website der Stadt Kızıltepe34: || 34 Kızıltepe ist die Hauptstadt des il [Distrikt] Kızıltepe mit annähernd 200 000 Einwohnern. Das Zahlenmaterial aus Kızıltepe zeigt mit den peripheren Gebieten im il Ankara (dem Her-

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İlçedeki okur yazar oranı % 80 dir. İlköğretim hizmetlerini tüm ilçe genelinde yaygınlaştırılması bakımından, son yıllarda çalışmalar olmasına rağmen, ilçenin gün geçtikçe büyümesi ve son yıllardaki köy boşaltmaların etkisiyle ilçeye yoğun göç yaşanması nedeniyle ilköğretimdeki mevcut okul sayısı ihtiyacı karşılayacak düzeyden çok uzaktadır. [Der Grad der Alphabetisierung beträgt im Distrikt 80 %. Was die flächendeckende Versorgung des Distrikts mit Pflichtschulen betrifft, so ist trotz der Anstrengungen der letzten Jahre aufgrund des Bevölkerungswachstums, der Landflucht und der im Distrikt weit verbreiteten nomadischen Lebensweise die Anzahl an Schulen vom tatsächlichen Bedarf weit entfernt.] (Stadtverwaltung Kızıltepe)

Zum zweiten ist die Analphabetismusrate auch in den zentraltürkischen ländlichen Gebieten unter Sprechern der Mehrheitssprache türkisch hoch (Brizić 2007, 114). Dem Befund von Katharina Brizić, dass „die Sprachreform, ein insgesamt ambitionierter Versuch gesellschaftlicher Modernisierung nur für eine kleine Minderheit – die Bildungsschicht – erfolgreich verlaufen konnte; für die Mehrheit der türkischen Bevölkerung tat sie dies nicht.“ (Brizić 2007, 115), ist daher uneingeschränkt zuzustimmen. 2.1.1.3 Die Minderheitensprache Kurdisch als Gegenstand von Statusplanung Kurdisch ist ein Sammelbegriff für ein Bündel nah verwandter west-iranischer Sprachen, die in der Türkei, dem Irak und dem Iran gesprochen werden. Kleinere Sprechergruppen leben in Syrien, Armenien und Aserbaidschan, eine mittlerweile repräsentative Gruppe lebt in Westeuropa. Die Angaben über die Sprecherzahlen divergieren zwischen 15 und 25 Millionen, zwischen 700000 und 1 Million Kurden leben in Europa (Strohmeier/Yalçın-Heckmann 2000; Haig 2002; Ammann 2004). Die an Sprecherzahlen größten Gruppen sind Sorani (Zentralkurdisch) und Kurmanji35 (Nordkurdisch).Diese beiden Dialekte sind auch im Hinsicht auf Standardisierung relativ weit fortgeschritten. Die Sorani-Varietät der Stadt Sulaymaniyah im Nordirak wurde im 19. Jahrhundert unter britischer Administration mit arabischer Schrift geschrieben und war Sprache der Republik von Mahabad. Im Nordirak ist Kurmanji anerkannte Sprache des Unterrichts und der Medien, inoffiziell auch in einigen kurdischen Gebieten des Iran in Gebrauch (vgl. Haig/Matras 2002, 4). In der kurdischen Überlieferung gibt es

|| kunftsgebiet der in dieser Untersuchung befragten Migranten) hohe Übereinstimmung. Der Bedarf an Ausbildungsstätten ist aber im il Kızıltepe am deutlichsten ausformuliert. 35 Kurmanji ist die Sprache der Probanden dieser Untersuchung und wird in dieser Studie als Kurdisch bezeichnet. Dies entspricht der Selbstbezeichnung der Kurmanji-Sprecher im Deutschen.

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einen reichen Bestand an mündlich tradierten Epen, Sagen und Märchen36. Diese Inhalte dieser Erzählungen werden bis heute überliefert und sind für die Kurden in der Türkei sowie in der Diaspora identitätsstiftend. Diese sprachlichen Ausdrucksformen einer oral geprägten Gesellschaft bilden den Ausgangspunkt der kurdischen literarischen Tradition und sind auch heute noch Anknüpfungspunkte für künstlerische Ausdrucksformen, wie z. B. kurdische Filmproduktionen (Turgut 2010, Six-Hohenbalken 2013). Die literarische Tradition des Kurmanji entwickelte sich im Spannungsfeld türkisch-iranisch-arabisch, dreier literal ausgebauter Sprachen mit reicher Literatur. Je nachdem, ob die kurdischen Stammesfürsten gerade eher unter iranischer oder osmanischer Oberhoheit standen, war der Einfluss des jeweiligen Hofes mit der jeweiligen Schriftsprache dominant. Viele kurdische Autoren schrieben in einer dieser drei Sprachen, zum Beispiel gilt der Autor des auf persisch abgefasste Şarafname (1595), eines Geschichtswerks, als kurdisch (vgl. Strohmeier/Yalçın-Heckmann, 2000, 64). Es entwickelten sich aber auch quasi eigenständige Emirate37, an deren Höfen das Kurdische selbst als Schriftsprache ausgebaut wurde. Erste Autoren, die auf kurdisch in arabischer Schrift schrieben, waren unter anderen Melayê Cezirî (1570-1640) und Feqê Teyran (15901660) (vgl. Uzun 1999, 18). Die kurdischen Schreiber standen aber immer unter dem Zwang zur Rechtfertigung: So sieht sich Ehmedê Xanî (1651-1707), der wohl bekannteste der frühen kurdischen Dichter veranlasst, an den Anfang seines Epos Mem û Zîn38 eine Rechtfertigung zu stellen, dass es eigentlich etwas gänz-

|| 36 Ursprünglich wurden diese Erzählungen von den dengbêj, fahrenden Barden überliefert. Es handelt sich hierbei um eine in vorislamische Zeit zurückreichende zentralasiatische Erzähltradition, bei der die dengbêj Versepen in Begleitung eines Volksinstrumentes wie der Kurzoboe mey oder der Langflöte bilûr vortrugen. Bis in die 1980er Jahre wird von dengbêj-Treffen in den Teehäusern von Diyarbakır berichtet (Kayan 2002, 513), danach blieb diese Erzähltradition auf die ländlichen Gebiete beschränkt. Die Kunst der dengbêj wurde in den folgenden Jahren in der Diaspora gepflegt und am Leben erhalten, mit der Liberalisierung der türkischen Kurdenpolitik gibt es auch in den Städten der Osttürkei kulturelle Veranstaltungen, an denen dengbêj teilnehmen (Kayan 2002). Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass die soziokulturelle Eingebundenheit bei derartigen Veranstaltungen nicht mehr gegeben ist. Die traditionelle Erzähltradition war Vorbild und Ausgangspunkt für die frühen schriftlich niedergelegten Versepen kurdischer Dichter. 37 Einflussreich waren hier vor allem die Dialekte von Hakkari und Botan, gesprochen in Emiraten im heutigen türkisch-syrischen Grenzgebiet (vgl. Haig/Matras 2002, 4.) 38 Das Versepos Mem û Zîn (1692) wird seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts von kurdischnationalistischer Seite als Nationalepos reklamiert. Die Hauptcharaktere Mem und Zîn symbolisieren das kurdische Volk und das kurdische Land, denen eine erfolgreiche Vereinigung versagt blieb (vgl. Unzun 1999, 22). Diese Vereinnahmung als nationalistischer Schriftsteller

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lich Normales sei, in seiner Muttersprache zu schreiben, in diesem Fall nicht Osmanisch, Arabisch oder Persisch, sondern eben Kurdisch (vgl. Uzun 1999, 23). Das kurdische Gebiet war von einem dichten Netz an Koranschulen (Medresen) überzogen, in denen das Kurdische als Unterrichts- und somit Metasprache diente. Geschrieben und gelesen wurde in arabischer Schrift, Unterrichtsgegenstände waren in erster Linie der Koran und Arabisch als dessen Sprache. In der Tradition der Koranschulen steht das Nûbihara Biçûkan (1683), einem „Wörterbuch für die Kleinen“, das nahezu 900 arabische Begriffe mit ihrer kurdischen Übersetzung enthält (vgl. Uzun 1999, 23). Weitere Werke kurdischer Autoren zu dieser Zeit sind Darstellungen aus den Bereichen Astrologie, Astronomie, (arabischer) Grammatik und Geographie, meist in Versform, oft auch in Dialogform zu den Hauptunterrichtsgegenständen in den Medresen (vgl. Uzun 1999, 23). Auch wenn der Umfang der Überlieferung bei weitem nicht an denjenigen der osmanischen, persischen und arabischen Literaturen heranreicht, kann das Kurdische auf eine jahrhundertelange schriftkulturelle Tradition zurückblicken, die – wie die volkssprachliche Dichtung im gesamten islamischen Raum (Faroqhi 2000) – über die Koranschulen der Bevölkerung zugängzugänglich waren. Im späten 19. Jahrhundert wurden die Kurden unzweifelhaft als eigenständige Gruppe mit eigener Sprache und Kultur wahrgenommen. Kurdische Intellektuelle gründeten in Istanbul politische Vereinigungen und publizierten Zeitungen und Zeitschriften in kurdischer Sprache und arabischer Schrift (Haig/Matras 2002, Ammann 2004). In den 1930er Jahren führte Celadet BedirKhan (1893–1951)ein lateinisches Alphabet für die kurdische Sprache ein. Diese Reform war von der türkischen Sprachreform beeinflusst. Das lateinische Alphabet wurde gemeinsam mit einem normativen grammatikalischem Abriss in der Zeitschrift Hawar publiziert und erfuhr eine Erweiterung in der Monographie von Bedir-Khan und Roger Lescot 1970 (vgl. Haig/Matras 2002, 4). Die „Hawar-Norm“ (Haig/Matras 2002, 4) bildete die Grundlage für die Weiterentwicklung der kurdischen Schriftsprache, die sich bis heute in erster Linie in der Diaspora vollzog. In den frühen Zeitungen Kürdistan, gegründet 1898 und Hawar, gegründet 1932) wurde der Dialekt von Cizre-Botan erstmalig in Prosatexten gedruckt, bislang waren schriftliche Zeugnisse vorwiegend in Versform abgefasst und handschriftlich überliefert. Die Zeitungen bildeten ein Diskussi-

|| werden jedoch dem Dichter, der die feudalen Verhältnisse und die zwischen drei Großreichen fluktuierenden Herrschaftsverhältnisse des 17. Jahrhunderts beschreibt, nicht gerecht (vgl. Strohmeier/Yalçın-Heckmann, 2000, 39).

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onsforum der sich im syrischen (Damaskus) oder europäischen (Schweiz und Großbritannien) Exil befindlichen kurdischen Intellektuellen und trugen wesentlich zur Standardisierung des Kurdischen bei (vgl. Strohmeier/YalçınHeckmann, 2000, 85). Allerdings war diese Sprache im Gegensatz zur mündlichen und früheren schriftlichen Überlieferung auf eine kleine Elite beschränkt, die sich vornehmlich aus der im Ausland (Europa und Syrien) befindenden jungtürkischen Opposition zusammensetzte. Mit dem Ende des osmanischen Reiches und der Gründung der Republik Türkei waren die Kurden der Türkei von der Atatürkschen Sprachenreform betroffen. Die Ursprünge der türkischen Kurdenpolitik können an dieser Stelle nicht in aller Komplexität dargestellt werden, es soll hier besonders auf zwei Aspekte, die für die sprachliche Situation der Kurden relevant sind, hingewiesen werden. Der eine liegt in der Definition von ‚Minderheit‘, die im Vertrag von Lausanne (24.07.1923) vorgenommen wird. Der Vertrag von Lausanne beinhaltet die international gültigen Rahmenbedingungen für Grenzziehung und Souveränität des entstehenden Staates Türkei. ‚Minderheit‘ wurde im Vertrag nach religiösen Gesichtspunkten definiert, nur nicht-muslimische Gruppen wurden als Minderheiten anerkannt: Griechisch -orthodoxe Christen, die wenigen Armenier, die das vorrepublikanische Massaker überlebt hatten, Assyrische Christen und Juden erhielten Rechte auf Gebrauch und Unterricht ihrer Sprachen. Die zahlenmäßig wesentlich größere kurdische sowie weitere muslimische Minderheiten sind nicht erwähnt und somit nicht Gegenstand international verbindlicher Verträge (van Bruinessen 1989a). Während die Definition von Minderheit im Lausanner Vertrag den legalen Rahmen für die türkische Kurdenpolitik darstellte, bildete die ethnischnationalistische türkische Staatsideologie deren zweiten Pfeiler. Im Osmanischen Reich hatte der Islam das Vielvölkergebilde zusammengehalten, in der neugegründeten laizistischen Türkei konnte die Religion diese kohäsive Funktion nicht länger wahrnehmen. An ihre Stelle trat ein ethnisch-nationalistisch definiertes Türkentum. Die Reformen Atatürks zielten darauf ab, die sichtbaren Zeichen der osmanischen Vergangenheit zu ersetzen: Die Kleiderreform verbot die traditionellen osmanischen Kleidungsstücke, das arabische Alphabet wurde durch ein modifiziertes lateinisches ersetzt, westliche Formen der Namensgebung mit Vornamen und Familiennamen und Personaladressen wurden eingeführt. Ankara, eine bis zu diesem Zeitpunkt relativ unbedeutende Stadt inmitten der anatolischen Steppe ersetzte Istanbul, das Symbol der jahrhundertelangen Osmanenherrschaft als Hauptstadt. (z.B. Nestmann 1989, van Bruinessen 1989a, Haig 2004). Mit dem türkischen Nationalismus als einzigem Bindeglied des neuen immer noch multiethnischen und multireligiösem Staates war die Türki-

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fizierung aller nichttürkischen ‚Elemente‘ wichtigste Strategie und langfristiges Ziel zugleich. Die Frage danach, was für eine bestimmte Kultur konstituierend ist, und damit auch die Frage nach den zu eliminierenden nichttürkischen Elementen in den Minderheitskulturen der Türkei, ist Gegenstand weitreichender Debatten, wobei Haig als Konstituenten einer Kultur die Aspekte heranzieht, die die betreffende Kultur von der unmittelbar benachbarten abgrenzen. Zweifellos bestehen wesentliche Unterschiede im Bereich der materiellen Kultur, der Traditionen und der religiösen Zugehörigkeit39. Diese Konstituenten von ‚Kultur‘ sind wesentliche Punkte für die Identitätsbildung einer Gruppe und den sozialen Zusammenhalt (z.B. Nestmann 1989; Haig 2004; Krumm/Plutzar 2008), sind jedoch für den Nichtexperten nicht unmittelbar ins Auge stechend (vgl. Haig 2004, 128). Zwar existiert eine Kulturscheide, die sich von Erzurum über das Vilayet Dersim (türk.: Tunceli) nach Süden erstreckt, und sich weiter dem Eufrat entlang nach Westen bis Gaziantep hinzieht (vgl. Nestmann 1989, 546). Hier handelt es sich aber eher um eine Trennlinie zwischen West- und Osttürkei, im Bereich des Ostens ist es für den Ungeübten eher schwierig, ein türkisches von einem beispielsweise kurdischen Dorf zu unterscheiden. Es bleibt also der sprachliche Bereich, in welchem der Unterschied ein großer ist, obwohl die einzelnen Sprachen nach jahrhundertelanger Koexistenz in enger gegenseitiger Beeinflussung stehen (vgl. Haig 2001, 196). Die Sprache ist das offensichtlichste Zeichen der Differenz und wurde daher zum Hauptziel des türkischen NationBuilding-Projekts. Die die kurdische Sprache und ihre Sprecher betreffenden Assimilationsversuche kann nicht getrennt vom gesamttürkischen Projekt40 gesehen werden. Bei den Versuchen, das Türkische von Fremdelementen zu reinigen und dem Zwang für alle Staatsbürger, ausschließlich Türkisch zu sprechen, handelt es sich um Kehrseiten ein- und derselben Medaille (vgl. Haig 2004, 120). Während jedoch der Türkifizierungsprozess unter den Augen der Öffentlichkeit ablief,

|| 39 Die meisten sunnitischen Kurden gehören der schafiitischen Rechtsschule an, die sich von der hanefitischen Rechtsschule, der die meisten Türken angehören, in Einzelheiten der theologischen Auslegung und der Alltagspraxis unterscheidet. Weiters existiert ein Volksislam, der sich weniger an den Vorschriften der Religionsgelehrten als vielmehr am Sufismus ausrichtet, und offen für die Aufnahme aus Bestandteilen anderer Religionen ist. (vgl. Strohmeier/YalçınHeckmann 2000, 43–44). 40 Nämlich der Schaffung einer nationalen Standardsprache, frei von fremden Elementen, zugänglich für alle Mitglieder der Gesellschaft, reich und flexibel genug, um den Belangen eines modernen, funktional differenzierten Staatswesens zu genügen (siehe Kap. 2.1.1.2).

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verliefen die Assimilationsversuche gegenüber den Minderheitensprachen weitestgehend verdeckt. Haig verwendet in diesem Zusammenhang den von SkutnabbKangas/Bucak (1995) geprägten Begriff invisibilisation (Haig 2004, 122). Die internationale wissenschaftliche Literatur über die Türkische Sprachreform spiegelt die offizielle türkische Position wider, indem die Annahme, die Bevölkerung sei sprachlich homogen, stillschweigend übernommen wurde, und man die untersuchten Aspekte der Sprachreform auf die Korpusplanung reduzierte. Erst die Publikation von Skutnabb-Kangas/Bucak (1995)41 benennt hier neue Zusammenhänge und beleuchtet die Sprachplanungsaktivitäten der Republik Türkei gegenüber ihren Minderheiten, bei denen vor allem der Status, der den einzelnen Minderheitensprachen zugewiesen werden sollte, im Zentrum stand: Als eine der ersten sprachplanerischen Maßnahmen nach der Staatsgründung (1924) wurde der Unterricht in den Medresen verboten (vgl. Uzun 1999, 45). Dies stellte den Versuch dar, das Kurdische, das als Unterrichtssprache in den religiösen Bildungseinrichtungen immer geduldet war, durch die Schließung dieser Medresen, indirekt abzuschaffen (vgl. Strohmeier/YalçınHeckmann, 2000, 93). Aufgrund der topografischen Unzugänglichkeit der kurdischen Gebiete konnte dieses Verbot allerdings nie gänzlich exekutiert werden (Uzun 1999). Im Gegensatz zu den meisten anderen anatolischen Minderheitensprachen, die heute vom Aussterben bedroht sind, erwies sich das Kurdische – wahrscheinlich aufgrund der Größe der Sprechergemeinschaft – als robuster. Tatsächlich stellten die Aufstände der 20er und 30er Jahre in Reaktion auf den neuen Kurs der türkischen Regierung eine ernsthafte militärische Bedrohung für die junge Türkische Republik dar. In diesen Jahren entstanden Pläne für Massenumsiedlungen42, die die Umsiedlung ‚nichttürkischer‘ Elemente in türkisch dominierte Gebiete – und umgekehrt –, vorsahen. Die legale Grundlage bildete das İskân Kanunu [Besiedelungsgesetz] Nr. 2510 vom 14. Juni 1934, das die Türkei in drei Zonen unterteilte:

|| 41 Vgl. auch Haig 1996 42 Massenumsiedlungen hatten in Anatolien bereits seit osmanischer Zeit Tradition. Die Osmanen siedelten im Lauf ihrer Militäraktionen im 19. Jahrhundert eine große Zahl an Kurden um (Strohmeier/Yalçin-Heckmann, 1999) und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden einerseits die armenische, andererseits die griechische Bevölkerung – allerdings unter keineswegs vergleichbaren Umständen – durch Umsiedlung nahezu gänzlich aus Anatolien verdrängt. In jüngerer Zeit führt die Errichtung von Staudämmen an Eufrat und Tigris zu Massenaussiedlung der lokal ansässigen Bevölkerung.

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1 numaralı mıntakalar:Türk kültürlü nüfusunun tekasüfü istenilen yerlerdir. [Zonen, die für die Ansiedlung von Bevölkerung mit türkischer Kultur bestimmt waren] 2 numaralı mıntakalar: Türk kültürüne temsili istenilen nüfusun nakil ve iskânına ayrılan yerlerdir. [Zonen für die Ansiedlung von Bevölkerung, die der türkischen Kultur angeglichen werden soll] 3 numaralı mıntakalar: Yer, sıhhat, iktisat, kültür, siyaset, askerlik ve inzibat sebeplerile boşaltılması istenilen ve iskân ve ikamet yasak edilen yerlerdir. [Zonen, die aus Gründen der Gesundheit, Wirtschaft, Kultur, Politik Militär und Ordnung entvölkert werden sollten, und in denen Ansiedlung verboten wird.] (T.C. Resmî Gazete, 21. 06. 1934)

Das Ziel dieser Kampagnen war eine raschere Assimilierung der kurdischen Minderheit. So sollen nach 1938 annähernd 50 000 Personen aus der Region Dersim (seither türkifiziert zu Tunceli) deportiert worden sein (z. B. Van Bruinessen 1989a und b; Strohmeier/Yalçın-Heckmann 2000, Ammann 2004, Haig 2004). Nach den Aufständen der 1920er und 1930er Jahre und einer relativen Beruhigung und Verbesserung der Situation der Kurden, traten die Assimilierungsversuche der türkischen Regierung in eine Phase, die Haig als „virtual assimilation“ (Haig 2004, 130) bezeichnet. Im Gegensatz zum Tunceli Kanunu war für diese Form der Assimilation kennzeichnend, dass dazu keine offiziellen Pläne formuliert wurden, oder existierende Dokumente nicht öffentlich zugänglich waren (vgl. Haig 2004, 130, siehe auch Nestmann 1989). Für die meiste Zeit der 1980er und 1990er Jahre galten die rechtlichen Grundlagen des Ausnahmezustandes43. Bis 1965 war es für Ausländer verboten, den Osten der Türkei zu bereisen. Aus diesen Gründen ist es wenig erstaunlich, dass für die Maßnahmen gegen kurdische Kultur und Sprache kaum aussagekräftige und vertrauenswürdige Dokumente gibt. (Strohmeier/Yalçin-Heckmann, 2000). Als wirkungsvollste Maßnahme virtueller Assimilation kann das Nicht-inErscheinung-treten einer Sprache in den öffentlichen Belangen eines Staates und somit die Reduktion des Kurdischen auf den häuslichen Bereich betrachtet werden. Jedoch gab es bis in die 1980er hinein kein offizielles Dokument, dass || 43 In der Geschichte der Republik Türkei gab es wiederholt außergewöhnliche Formen des Regierens (Idare-i-Örfiye). Erstmalig gesetzlich niedergelegt wurden diese im 1943 ‚Gesetz zur außergewöhnlichen Verwaltung‘ (İdare-i Örfiye Kanunu). Es wurde 1971 durch das Kriegsrecht (sıkıyönetim) ersetzt. Das erste Gesetz zu Ausnahmezustand, Mobilmachung und Krieg wurde unter militärischer Herrschaft im Jahre 1983 erlassen. Es handelt sich um das Gesetz Nr. 2935, verabschiedet am 25. Oktober 1983, veröffentlicht im Amtsblatt der Republik Türkei am 27. Oktober 1983 (nach dem Militärputsch). Es wurden nunmehr 4 verschiedene Formen der ungewöhnlichen Herrschaft unterschieden: Kriegsrecht (sıkıyönetim), Ausnahmezustand (olağanüstü hal, abgekürzt ohal), Mobilmachung (seferberlik) und Kriegszustand (savaş hali).(T. C. Resmî Gazete, 25.10.1983)

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den Gebrauch des Kurdischen einschränkte oder verbat. In Kampagnen wurde den Bürgern vielmehr nahegelegt, türkisch zu sprechen. Eher ist vom obligatorischen Gebrauch des Türkischen die Rede, als davon, ‚nicht kurdisch‘ zu sprechen. Außerdem wurden Programme ins Leben gerufen, die türkische Zivilisation und Kultur in die rückständigen Gebiete Ostanatoliens bringen sollten. Parteizugehörigkeit zur Cumhuriet Halk Partisi (CHP), der einzigen Partei von 1923-1945, war laut Parteistatuten beschränkt auf Staatsbürger, die türkisch (Türkçe konuşmakta bulunmuş) sprachen. Weiters wurden Internatsschulen mit der Zielsetzung kurdische Kinder in türkischer Sprache und Kultur zu unterrichten, schwerpunktmäßig in den Hauptsiedlungsgebieten der Kurden errichtet (Skubsch 2000). 1962 verfügten schließlich staatliche Betriebe in Diyarbakιr den ausschließlichen Gebrauch des Türkischen. (vgl. Strohmeier/YalçinHeckmann, 2000, 103-104) So zieht sich der Ausschluss von Kurdischsprechenden aus öffentlichen Ämtern und Positionen – jedoch ohne offene Erwähnung – als roter Faden durch die Türkifizierungspolitik der Regierung (Haig 2004, siehe auch Grond 2013). Wo die Begriffe Kurde und Kurdentum Erwähnung fanden, standen sie für religiösen Fanatismus, Rückständigkeit oder als fehlinterpretierte (= nichttürkische) Identität. Weitere Maßnahmen zur virtual assimilation waren die Ersetzung kurdischer Ortsnamen durch türkische: Orte mit Namen wie Yeni köy [Neudorf] oder Gölbaşı [Am Beginn des Sees] deuten darauf hin, dass der ursprüngliche Name ein anderer war. Ebenso wurden Personennamen nichttürkischer Herkunft verboten, wobei traditionelle islamische Namen arabischen Ursprungs wie Mustafa oder Abdullah geduldet wurden. Argumentiert wird bei derartigen Erlässen mit der Sonnensprachentheorie. Der offizielle Standpunkt lautet: Kurden seien eine Gruppe von Personen, die sich irrtümlich als Kurden bezeichnen, in Wirklichkeit handle es sich um Türken44. Als weitere Strategie in den Assimilationsversuchen nennt Haig denigration einer Spielart der virtuellen Assimilation (Haig 2004, 136). Hier wird die Existenz des Kurdischen zwar anerkannt, jedoch nicht mit dem Status einer vollwertigen Sprache. Sprecher des Kurdischen werden in Verbindung gebracht mit Rückständigkeit, Armut, Bildungsmangel, religiösem Fanatismus, Drogenge|| 44 Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang der Begriff ‚Bergtürke‘, welcher 1936 von Armeegeneral Abdullah Alpdoğan geprägt wurde (Haig 2004, 134). Vgl. hierzu auch den Eintrag zu ‚Kurde‘ im Wörterbuch der Türk Dil kurumu: „Kürt: Soyca Türk olup dillerini değistirerek bozuk bir farsça konuşan Türkiye, Irak, İranda yaşayan bir topluluk dair.“ [Kurde: eine Gruppe türkischen Ursprungs, die die Sprache gewechselt hat und nun ein minderwertiges Persisch spricht und in der Türkei, dem Irak und dem Iran lebt.] (Türkçe Sözlük 1979) Ankara: Türk dil kurumu revidierter Neudruck der 6 Auflage von 1974.

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brauch und -handel und Terror. Als typisch für den aktuellen offiziellen Standpunkt kann die Ansicht gelten, dass ‚das Kurdische‘ ein Gefüge aus verschiedenen Sprachen und Dialekten, gesprochen in den südöstlichen Provinzen der Türkei, darstelle. Diese Sprachen seien so unterschiedlich wie etwa Französisch, Deutsch, Englisch. Als lingua franca gelte daher das Türkische, da die Einwohner unterschiedlicher Dörfer nicht miteinander kommunizieren könnten. Haig hält dieser Ansicht entgegen, dass dialektale Unterschiede im Kurmanji -Kurdischen nicht stärker als in anderen Sprachen ausgeprägt sind. Er erwähnt in diesem Zusammenhang die Existenz kurdischer Fernsehprogramme und eine unübersehbare Zahl kurdischer Publikationen, die vor allem in der Diaspora entstanden sind (Haig 1996 und 2004; siehe auch Chyet 2003). Die Effekte derartiger Politik (so lächerlich die Versuche, Kurden als Bergtürken zu definieren, auch erscheinen mögen) sind weitreichend. Wenn eine Gruppe oder Sprache nicht existiert, können Forderungen nach sprachlichen Rechten und kultureller Autonomie leichter ignoriert werden. Wird das Kurdische nicht als ‚richtige‘ Sprache bewertet, kann es auch im institutionellen Bereich oder oder Bildungswesen nicht in Erscheinung treten. Einigkeit herrscht in der Literatur hinsichtlich des Zusammenhangs von Sprache und Identität (z.B.: Fishman 1999; Dirksmayer 2005; Brizić 2007; Grinevald/Michel 2011). Die positive Einschätzung einer Minderheitensprache ist die Grundvoraussetzung dafür, dass die Sprache an die nächste Generation weitergegeben wird. Sprachverlust hingegen geht vielfach mit einer negativen Veränderung des Selbstbildes der betroffenen Person einher (Kouritzin 1999). Viele Sprecher des Kurmanji Kurdischen haben unbewusst die negative Haltung des Staates gegenüber ihrer Sprache übernommen und geben sie nicht mehr an die nächste Generation weiter. Dementsprechend werden die Jahrzehnte der denigration als wesentlich wirkungsvoller in Bezug auf die sprachliche Assimilation der Kurden eingeschätzt, als die Zeit der militärischen Auseinandersetzungen der 30er Jahre (Haig 2004; Coşkun/Derince/Uçarlar 2010; Öpengin 2012; Zeydanlıoğlu 2012). Mit dem Militärputsch am 12. September 1980 begann auch in der Minderheiten- und Sprachenpolitik eine neue Phase. Die Türkei erhielt mit dem 09.11.1982 eine neue Verfassung, die den Sprachgebrauch im öffentlichen Bereich streng regelte. Der Gebrauch des Kurdischen wurde – jedoch ohne offene Erwähnung – gänzlich eingeschränkt. Die Verfassung erklärte das Türkische zur Muttersprache aller türkischen Staatsbürger, die öffentliche Verwendung einer Sprache, die nicht Staatssprache eines von der Türkei anerkannten Landes war, wurde verboten. Die neue Verfassung ging also noch einen Schritt weiter als das Manifest der CHP (Cumhuriyet Halk Partisi) von 1931: Sie kriminalisierte den Gebrauch des Kurdischen (vgl. Haig 2004, 138):

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Das sogenannte Sprachverbotsgesetz Nr. 2932 vom 19. Oktober 1983 hält in Artikel 3 fest: Türk Vatandaşlarının anadili Türkçedir. [Die Muttersprache der türkischen Staatsbürger ist Türkisch.] a) Türkçeden başka dillerin anadili olarak kullanılmasına ve yayılmasına yönelik her türlü faaliyette bulunulması, [Jede Art von Aktivitäten betreffend die Benutzung sowie die Verbreitung einer anderen Muttersprache außer Türkisch ist verboten.] b) … Türkçeden başka dille yazılmış afiş, pankart, döviz, levha ve benzerlerinin taşınması, plak, ses ve görüntü bantları ve diğer anlatım araç ve egereçleriyle yayım yapılması, Yasaktır.“ [das Tragen von Plakaten, Transparenten, Parolen, Schildern mit Aufschriften in anderen Sprachen als Türkisch in Versammlungen und Demonstrationen und ähnlichem, das Ausstrahlen von Tondokumenten und Bildstreifen und sonstigen Ausdrucksmitteln ist verboten] (T.C. Resmî Gazete 22.10. 1983)

Artikel 2 von Gesetz Nr. 2932 regelt den Sprachgebrauch in öffentlichen Kundgebungen: Türk Devleti tarafından tanınmış bulunan devletlerin birinci resmi dilleri dışındaki herhangi bir dille düşüncelerin açıklanması, yayılması ve yayınlanması yasaktır. [Die Darlegung, Verbreitung und Veröffentlichung von Gedankengut in einer anderen Sprache als der ersten Amtssprache der von der Türkei anerkannten Staaten ist verboten.] (T.C. Resmî Gazete, 22. 10. 1983)

Das Strafausmaß bei Verstoß gegen Art. 2 ist mit Gefängnis von 6 Monaten bis zu 3 Jahren, sowie einer Geldstrafe bis zu 100 000 Türkische Lira festgelegt. (vgl. T.C. Resmî Gazete, 22.10.1983, Art. 4). Der Unterricht in den Minderheitensprachen wurde mit einem Beschluss in Verfassungsrang verboten, während beispielsweise Englisch oder Arabisch weiterhin gelehrt werden konnten: Art. 49 (2) Türkçeden başka hiçbir dil, eğitim ve öğretim kurumlarında Türk vatandaşlarına anadilleri olarak okutulamaz ve öğretilemez. Eğitim ve öğretim kurumlarında okutulacak yabancı diller ile yabancı dille eğitim ve öğretim yapan okulların tâbi olacağı esaslar kanunla düzenlenir. [Außer Türkisch soll türkischen Staatsbürgern keine Sprache als Muttersprache in den Unterrichts- und Bildungsinstitutionen gelehrt werden. Fremdsprachlicher Unterricht in den Unterrichts- und Bildungsinstitutionen und Unterricht in einer Fremdsprache ist gesetzlich zu regeln.] (T.C. Resmî Gazete 27.10.1982)

Die Folgen für die Sprachpraxis zeigten sich unmittelbar. Zwei in Diyarbakır durchgeführte Studien dokumentieren den dem Gesetz fast direkt folgenden Abbruch der Weitergabe der Erstsprache durch die Eltern, und das oft mitten in einer Geschwisterreihe. Während mit den Erstgeborenen noch Kurdisch gesprochen wurde, wurden die Anfang der 80er Jahre geborenen Kinder nur mehr in

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Türkisch sozialisiert (Grond/Bozyil 2014; Cağlayan 2014). Wenn man bedenkt, dass gerade die innerfamiliären kommunikativen Prozesse zu einem großen Teil unbewusst ablaufen, kann man den Druck, der hier vom Staat ausgeübt wurde, erahnen. Zum Vergleich müsste man sich vorstellen, dass in einer österreichischen Familie mit dem ersten Kind deutsch gesprochen wird, das zweite hingegen in einer von den Eltern nicht oder wenig beherrschten Sprache, da türkisch ist für den Großteil der kurdischen Eltern aus dieser Zeit fremd ist. In den 80er Jahren mit den Aktivitäten der PKK (Partiya Karkerên Kurdistanê [Arbeiterpartei Kurdistans]) und infolge immer massiverer türkischer Militärpräsenz endete auch die Pflege des Kurdischen (verboten seit Gründung der Republik, aber nicht exekutiert) als geschriebene Sprache an den Medresen (vgl. Strohmeier/Yalçin-Heckmann, 2000, 91). Der 1984 ausbrechende PKKAufstand und der Golfkrieg 1991 mit seinen Folgen brachten aber auch eine Internationalisierung des Kurdenkonflikts und waren Katalysatoren für neue Entwicklungen. Mit der Flucht von Hunderttausenden irakischen Kurden an die türkische Grenze wurde die Türkei zum Befürworter einer international kontrollierten Zone im Irak. Staatspräsident Turgut Özal (1927-1993) eröffnete auch den Dialog zwischen Ankara und den irakischen Kurdenführern Masud Barzani und Jalal Talabani. Um auch in seinem eigenen Land die Kurdenproblematik zu entschärfen, verhandelte er mit der PKK über eine Waffenruhe. Er stand öffentlich zu seinen kurdischen Wurzeln und seiner Abstammung aus der südöstlichen Provinz Malatya. In den 90er Jahren konnten sich so kurdische Abgeordnete im türkischen Parlament etablieren. 1991 erfolgte durch das Antiterrorgesetz Nr. 3713 (T.C. Resmî Gazete Nr. 20843 vom 12. April 1991) eine Aufhebung des Sprachverbotsgesetzes. In der Folge entstanden erste Vorschläge für kurdischsprachige TV- und Radiosendungen und eine Präsenz der Sprache im Schulbereich wurde vorsichtig andiskutiert. Im Bereich der Dokumentation und Erforschung lokaler Sprachen und Dialekte (wobei alle muslimischen Minderheitensprachen als türkische Dialekte klassifiziert wurden) kam es erst in den späten 90er Jahren zu einem Wandel. Türkische Wissenschafter begannen, sich mit der Existenz nichttürkischer Minderheitensprachen auseinanderzusetzen. Ausgangspunkt des Wandels war die Publikation von Andrews (1989), die auch in Teilen ins Türkische übersetzt worden war. Nach dem Tod von Turgut Özal 1993 ging der Konflikt zwischen PKK und türkischem Staat jedoch unvermindert weiter (Skuttnabb-Kangas/Bucak 1994). Mit der Verhaftung Abdullah Öcalan s 1999 und dem folgenden Prozess wurden in den türkischen Medien Stimmen laut, nunmehr eine politische Lösung des Kurdenproblems in Angriff zu nehmen. Auch die Annäherung an die

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Europäische Union zeigt ihre Auswirkung auf die Minderheitenpolitik der Türkei, was besonders deutlich der sprachlichen Situation der Bevölkerung zum Ausdruck kommt, da das Überleben einer Minderheitensprache in erster Linie von ihrem Aufscheinen im Schul- und Bildungssystem des jeweiligen Landes abhängt. Die Einschulung bietet dem Staat die erste Möglichkeit, direkt auf die Sprachwahl seiner Bürger Einfluss zu nehmen. Wenn die Kinder in jungem Alter dazu gebracht werden können, ihre Muttersprachen nicht mehr zu verwenden, ist es unwahrscheinlich, dass sie jemals volle Kompetenz in ihrer Sprache erwerben können. Viele Staaten verfolgten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ein monolinguales Unterrichtsprogramm, erst in letzter Zeit wurden neue Modelle implementiert, die der multilingualen Lebenswirklichkeit Rechnung tragen sollen (vgl. Hamers/Blanc 2000, 207; vgl. Dirksmeyer 2005, 59). Dem Kurdischen war und ist die Präsenz im staatlichen Schulsystem verwehrt. In Teilen Ostanatoliens betraf das Problem der nicht Türkisch sprechenden Minderheitenkinder nicht nur einzelne Individuen, sondern ganze Klassen und Schulen. (Skubsch 2000; Haig 2004). Ende 2001 bis Anfang 2002 organisierten Studenten an mehreren türkischen Universitäten gewaltfreie Kundgebungen, in denen sie Kurdischkurse an den Universitäten forderten. Die Forderung nach Sprachkursen wurde zurückgewiesen, der Druck, der im Rahmen der EU-Beitritts-Verhandlungen auf die Türkei ausgeübt wurde, führte jedoch zu einigen Veränderungen. Im August 2002 erließ das türkische Parlament eine Reihe von Gesetzesreformen. So wurde am 30. November 2002 der Ausnahmezustand (olağan üstü hal) in den letzten osttürkischen Provinzen beendet. Dies ist im Hinblick auf die Sprach- und Bildungssituation insofern von Bedeutung, als Schulwege nun einfacher, gefahrloser und schneller zu bewältigen waren. Weiters wurde Unterricht in Minderheitensprachen in privaten Institutionen zugelassen. Sogar hier bleibt die Tendenz zum Nicht-sichtbar-werden-lassen aufrecht: in den gesamten Gesetzestexten werden die Minderheitensprachen kein einziges Mal erwähnt, es ist vielmehr die Rede von Sprachen und Dialekten, die von türkischen Staatsbürgern traditionellerweise in ihrem Alltag verwendet werden. Die neuen Gesetze ermöglichen nun den Unterricht in kurdischer Sprache und schaffen trotz Anlaufschwierigkeiten neue Ausdrucksmöglichkeiten. Folgende Bereiche sind dabei die Hauptkritikpunkte: – Der Kurdischunterricht ist auf private Institutionen beschränkt. In der Praxis bedeutet das, dass der Unterricht auf die größeren Städte beschränkt bleibt, und dass es insbesondere im wirtschaftlich benachteiligten Osten schwierig ist, Lernende zu finden, die sich den Unterricht leisten können.

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Der Kurdischunterricht ist beschränkt auf Personen, die mindestens 8 Jahre Schulpflicht erfüllt haben. Das bedeutet, dass diejenigen, die für die Kurse infrage kommen, das kritische Alter für Spracherwerb und Schriftspracherwerb bereits überschritten haben. Der Sprachunterricht schließt kulturelle und historische Aspekte aus. Die Absurdität, eine Sprache außerhalb ihres gewachsenen Kontexts zu studieren, ist an anderer Stelle ausführlich diskutiert. Nur Unterrichtende aus der Türkei sind als Lehrer zugelassen. Das bedeutet, dass Kurdischlehrer aus Ländern wie dem Irak oder auch Schweden, die über Unterrichtserfahrung in Kurdisch verfügen, nicht die Möglichkeit haben, in der Türkei zu unterrichten. Auf in anderen Ländern aufgebaute Erfahrungen kann so nicht zurückgegriffen werden.

Der alltägliche Sprachgebrauch bleibt weiterhin von Misstrauen und Vorsicht gekennzeichnet. Abgesehen von der rechtlichen Lage, die Unterricht in anderen Bildungssprachen als dem Türkischen nicht zulässt und für den Sprachunterricht in Kurdisch relativ hohe Barrieren errichtet (s.o.) werden dem Kurdischen von Seiten der türkischen Bürokratie eine Reihe von Vorurteilen entgegengebracht, die sich mindestens ebenso massiv auswirken wie die Gesetzgebung. Der Bogen der Befürchtungen spannt sich von der Angst vor einer Verdrängung des Türkischen durch Unterricht in der (kurdischen) Muttersprache, über die Angst vor Forderungen nach Sprachenrechten von anderen Minderheiten, im Falle, dass die Zugeständnisse an die Kurden zu weitreichend wären, bis hin zu Sorgen um Schwierigkeiten bei der Implementierung von mehrsprachigen Unterrichtsmodellen (Coşkun o. J.). Die Hauptsorge gilt aber der „Registertauglichkeit“ (Maas 2008b, 66) des Kurdischen: Kurdisch sei keine ‚richtige‘ Sprache, für einen qualitätsvollen Unterricht ungeeignet. Die Verwendungsmöglichkeiten werden auf den Alltagsgebrauch reduziert, Unterricht (Sprach- wie Fachunterricht) seien in dieser Sprache nicht möglich. Diesem Vorurteil wird von kurdischer Seite entgegengehalten, dass der Unterricht in der Vergangenheit in den Medresen auf Kurdisch erfolgt sei (s.o.) und dass in der Autonomen Region Kurdistan (Irak) das Kurdische auf allen Ebenen des Bildungssystems als Unterrichtssprache funktioniere (vgl. Coşkun o. J., 2). Die weiteren Entwicklungen stehen im Zusammenhang mit dem gesamttürkischen Prozessen in der Nachfolge der Gezi-Bewegung. Weiters besteht auch ein Zusammenhang mit dem weiterhin schwelenden Konflikt mit der PKK. Im Zeitraum von Juni 2011 bis August 2012 wird von bis zu 700 Opfern bei Zusammenstößen zwischen türkischer Armee und PKK-Kämpfern berichtet. Dies ent-

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spricht dem alljährlichen Durchschnitt und zeigt, dass der Konflikt unvermindert mit Waffengewalt ausgetragen wurde (Afacan 2014). Die nach wie vor gewaltsamen Auseinandersetzungen bilden im Verein mit dem syrischen Bürgerkrieg und der Heranbildung einer zweiten autonomen kurdischen Region (Schmidinger 2014) an der türkischen Grenze die Voraussetzung für die Aufnahme von Verhandlungen zwischen Staat und PKK, die zu einem dreistufigen Deeskalationsprozess führen sollten (Afacan 2014): – Die PKK sollte ihre Kämpfer aus der Türkei zurückziehen – Demokratisierungsmaßnahmen sollten den Forderungen der türkischen Kurden nachkommen – die entwaffneten PKK-Kämpfer sollten mittels geeigneter Maßnahmen ins zivile Leben reintegriert werden. Die Umsetzung ging von beiden Seiten schleppend voran. So wurde zwar eine große Zahl an PKK-Kämpfern entwaffnet, der Rückzug von türkischem Territorium jedoch nicht abgeschlossen und das im September 2013 präsentierte Demokratiepaket wurde von kurdischer Seite mit Skepsis betrachtet. Im Zentrum der Diskussion, die auch immer mehr in die Öffentlichkeit getragen wurde, schien die Sprache zu stehen. Um das Kurdische nicht nur als Unterrichtsgegenstand sondern auch als Unterrichtssprache etablieren zu können, war eine Verfassungsänderung nötig. Hier wurden zwei Möglichkeiten diskutiert: die erste Lösung enthielte keinen einschränkenden Passus in der Verfassung, sondern ließe einen Freiraum für die Verwendung anderer Unterrichtssprachen als dem Türkischen. Die Umsetzung würde im Einzelfall per Gesetz geregelt (vgl. Coşkun o. J. S. 5). Diese Form der rechtlichen Regelung wurde von türkischer Seite favorisiert. Außerdem sollte der Status der Minderheitensprachen und damit auch des Kurdischen erst nach einer friedlichen Lösung des Konflikts determiniert werden (vgl. Derince 2012, 7). Die zweite Lösung sollte das Recht auf Bildung in der Muttersprache in der Verfassung selbst verankern. Dies wurde von kurdischer Seite als wesentlicher vertrauensbildender Schritt noch im Rahmen der Friedensverhandlungen gesehen, der Sprache und der Regelung ihres Status wurde eine Schlüsselrolle bei der Lösung der ‚Kurdischen Frage‘ in der Türkei zugemessen (vgl. Coşkun o. J., 5; siehe auch Cağlayan et al. 2010 und Öney 2015).45

|| 45 In der wissenschaftlichen Diskussion und in pädagogischen Maßnahmen tritt mehr und mehr die Frage nach dem Zugang zu Literalität in den Vordergrund. Während die 90er Jahre und die Jahre nach 2000 von den Alphabetisierungskampagnen der UNESCO geprägt waren (siehe Kap. 2.1.2.1 und 2.4.2), verlagert sich der Blick auf Schriftlichkeit als gesamtgesellschaft-

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Nach der Belagerung des syrisch-kurdischen Kantons Kobanî an der türkischen Grenze (2014) und der im Jänner 2015 zugunsten der PKK-nahen Yekîneyên Parastina Gel (YPG) und Yekîneyên Parastina Jin (YPJ) [Volks- und Frauenverteidigungseinheiten] entschiedenen Schlacht von Kobanî entwickelte sich die militärische Lage positiv für die ‚de-facto-Autonomie‘ von Rojava. (Schmidinger 2015). Für die Türkei bedeutete das ein zweites autonomes Kurdengebiet nach der Autonomen Region Kurdistan Irak an ihrer südlichen Grenze. Im Zuge der Parlamentswahlen in der Türkei 2015 wurde der Friedensprozess beendet und der Kurdenkonflikt in der Türkei eskalierte erneut. Im Juni 2015 verlor die Partei des Präsidenten Recep Tayyıp Erdoğan, die AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi [Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung]) die absolute Mehrheit, die pro-kurdische HDP (Halkların Demokratik Partisi [Demokratische Partei der Völker]) schaffte erstmals den Einzug ins Parlament. Der HDP war es gelungen, nicht nur die kurdische Bevölkerung zu mobilisieren, sondern sich als Oppositionspartei mit einem überraschend breiten inhaltlichen Spektrum zu positionieren. So wurde die HDP von LGBT-Aktivisten, Vertretern von christlichen Minderheiten, bis hin zu islamisch-konservativen Bewegungen unterstützt. Nach erfolglosen Regierungsbildungsverhandlungen wurden Neuwahlen für November 2015 ausgerufen. In der Folge spitzten sich die Auseinandersetzungen zwischen Anhängern von HDP und AKP zu. Es folgten Anschläge auf Wahlveranstaltungen der HDP mit Vergeltungsschlägen der PKK (Çakır 2015). Die AKP ging mit absoluter Mehrheit aus den Neuwahlen hervor. Im August 2015 wurden in mehreren kurdischen Städten im Südosten der Türkei so genannte Volksparlamente gegründet und eine Selbstverwaltung von Städten und Stadtteilen proklamiert. Die Nachkommen der Familien, die im Zuge der gewalttätigen Auseinandersetzungen in den 1980er und 1990er aus den Dörfern in die Städte vertrieben waren und dort bis heute ökonomisch nicht Fuß fassen konnten, wurden als Yurtsever Devrimci Gençlik Hareketi, YGD-H [Patriotisch revolutionäre Jugendbewegung] zu Hauptakteuren in dem nunmehr in die Städte getragenen Konflikt mit dem Staat. Es folgten Offensiven durch die Armee, im Zuge derer eine Fluchtbewegung einsetzte, die sich bereits in einer gestiegenen Anzahl an Asylanträgen in EU-Mitgliedsländern spiegelt (Schmidinger 2016). Außerdem kam es bei den Kämpfen von November 2015 bis 2016

|| lich Ressource und deren Rolle bei der Ausprägung kognitiver und persönlicher Kompetenzen (vgl. z. B.: Derince 2010 und 2012; Öney 2015).

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zu massiven Zerstörungen in den historischen kurdischen Städten46 von Amed (türk.: Diyarbakır), Gever (Yüksekova), Colemêrg (Hakkâri), Gimgim (Varto), Nisêbîn (Nusaybin), Cizîra-Botan (Cizre), Farqîn (Silvan), Dêrik (Derik) und Qoser (Kızıltepe) (Schmidinger 2016; Galler 2016). Der Putschversuch gegen die Regierung Erdoğan im Juli 2016 führte zu massiven demokratiepolitischen Einschränkungen in nahezu allen öffentlichen Bereichen der Türkei. In sprachlicher Hinsicht ist für die kurdische Bevölkerung abgesehen von der katastrophalen humanitären Situation die Schließung von Schulen und von kurdischen Fernseh- und Radiosendern bedeutsam. Weiters kam es durch die Fluchtbewegungen innerhalb der Türkei und nach Europa zu einem massiven Verlust an kompetenten Sprechern des Kurdischen. Neue kurdische Flüchtlinge nach Europa aus allen kurdischen Siedlungsgebieten werden auch die seit den 60er Jahren bestehenden kurdischen Communities in Europa stark verändern (vgl. Grond 2018. i. E.). Diese Ereignisse auf der Makroebene (Gesetzgebung, Sprachverwendung im öffentlichen Raum,…) formen die individuelle Sprachverwendung und beeinflussen sprachliches Verhalten wie Sprachweitergabe oder Sprachverlust. Im folgenden Kapitel wird der Zugang zu schriftgeprägter Sprachverwendung in der Türkei beleuchtet. Im Fokus stehen dabei die Institutionen Familie, Schule und Medrese.

2.1.2 Der institutionelle Zugang zu den schriftkulturellen Ressourcen 2.1.2.1 Familie Kinder wachsen in gesellschaftliche Verhältnisse hinein, die sich sprachlich artikulieren und entdecken hier literale Strukturen. Die erste Phase des Spracherwerbs findet im sozialen Umfeld der Familie statt. Im Falle kurdischer Familien aus der Türkei gibt es typologische Unterschiede in der literalen Sozialisation, die aber weniger die Einzelsprachen, als vielmehr die Kulturräume betreffen. Die literale Sozialisation setzt sich aus den kulturspezifischen Merkmalen schriftgebundener Handlungsweisen im muslimischen Raum einerseits und den mündlich geprägten Erzählformen der kurdischen Kultur andererseits zusammen. Kermani (2000, 67) spricht in diesem Zusammenhang treffend von Kulturtechniken des „Kollationierens“ im Gegensatz zu Kulturtechniken des „Memorierens“. Als Beispiele für frühkindliche kulturell bestimmte literale || 46 Die Bedeutung der historischen Städte für die kurdische Identität wird in dem Bericht von Sonja Galler zur Zerstörung von Sur/Diyarbakır deutlich (Galler 2016).

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Erfahrungen können das abendliche Geschichtenvorlesen der westlichen Welt im Gegensatz zu den oralen Kulturformen (Erzähltraditionen) Mittel- und Zentralasiens genannt werden. In einer literal ausgerichteten Gesellschaft beginnen die Vorbereitungen für die Schriftlichkeit mit der Geburt. Schriftlichkeit ist in die Mündlichkeit eingebettet und prägt die soziale Interaktion in der Umgebung des Kindes. Der Prozess der Schriftlichkeitsentwicklung beginnt somit weit vor der Einschulung. Das Geschichtenvorlesen ist eine wichtige aber nicht die einzige Quelle frühkindlicher Schriftlichkeitserfahrung: in einem Haushalt kann es die Namen der Kinder in Zierbuchstaben geben, die Anzahl der Lebensjahre in Marzipan auf der Torte, Magazine für Kleinkinder, Aufschriften auf Kleidungsstücken, wie überhaupt Aufschriften ganz allgemein, an denen sich Kinder unter anderem auch orientieren, wenn sie eine ganz bestimmte Schokolade im Supermarkt wollen – und nicht die andere (vgl. Häcki Buhofer 1998, 73). In einem Durchschnittshaushalt ist außerdem sehr viel Gedrucktes zu finden: Verpackungen, Zeitungen, Gebrauchsanweisungen, Bücher. Barton hat in seiner Studie über Geschriebenes in einem Durchschnittshaushalt über 50 Textsorten herausgefiltert: Bücher, Wörterbücher, Schulbücher, Atlanten, Enzyklopädien, Postkarten, Quittungen, Tickets, Theaterkarten, Personalausweise uvm. Kinder sind mit Äußerungen konfrontiert wie: „Lass mich in Ruhe, ich will Zeitung lesen“, „Ich muss die Rechnung zahlen“, sie wissen, dass man in der Zeitung nachsehen kann, was im Fernsehen kommt, sie wollen, dass man in der Gebrauchsanleitung nachsieht, wie das Spiel geht, sie wollen nach Anleitung basteln und bauen. (Barton 2006). Das oben genannte Geschichtenvorlesen beginnt mit einer Strukturierung durch den Erwachsenen, der das Buch auswählt und die Laute des Kindes als Reaktionen auf das Gelesene deutet, dann übernimmt das Kind mehr und mehr die Regie, entscheidet, ob es Zwischenfragen stellen will, oder nur zuhören, ob es das Buch nochmals anschauen will usw. (Häcki Buhofer 1998, 73-74). In beiden Kulturräumen, im europäischen wie im muslimischen, bedeutet der Erwerb der Schriftsprache „die Initiation in eine bestimmte gesellschaftlich determinierte Praxis – mit ihr wird der Lerner Mitglied einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe.“ (Maas 2010, 74) Die Schriftkultur im muslimischen Raum ist jedoch im Unterschied zur österreichischen Einwanderungsgesellschaft ausgerichtet auf Text mit autoritativem Charakter. Zu Beginn der systematischen Unterweisung steht dieser Text meist in religiösen Zusammenhängen. In der traditionellen Koranschule ist es ausgeschlossen, dass ein Kind Fragen an einen Text stellt, den es noch nicht fassen kann. Das Initiationsritual ist derartig gefasst, dass das Kind den Text auswendig lernt (vgl. Maas 2010, 74). Angesichts

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der bereits angesprochenen hohen Analphabetismusraten in den östlichen und zentralanatolischen Provinzen ist die frühkindliche schriftsprachliche Sozialisation stark an den religiösen Bereich gebunden. Dieser ist in den Familien stark präsent, da die Religionsausübung im Islam nicht so sehr an Kontemplation und Rückzug gebunden ist, wie im Christentum, sondern stark in das Alltagsleben hineingetragen wird (Kermani 2000). Auf diese Weise wachsen die Kinder in die Rhythmen der Gebetszeiten hinein, sind bei Rezitationen aus dem Koran anwesend, lernen erste Suren und Gebete auswendig. Zudem ist der Sprachgebrauch im Alltag stark von Zitaten aus dem Koran und Interpretationen desselben von anerkannten Autoritäten durchsetzt. Auf diese Weise stellt sich der Sprecher in eine bestimmte Tradition und verleiht einen Worten Gewicht (Lohlker 2004). Im Rahmen der Atatürkschen Reformen mit dem Ziel der Modernisierung der türkischen Bevölkerung in allen Lebensbereichen setzten zahlreiche Bildungsinitiativen gerade in den östlichen und bäuerlich geprägten zentralanatolischen Provinzen ein. Zu nennen wären die Erwachsenenbildungskurse aus der Frühzeit der Sprachreform (vgl. Brizić 2007, 114), sowie die sogenannten halk evleri (Volkshäuser) mit einem reichhaltigen Kursangebot in den Bereichen Lesen/Schreiben, Sprache, Musik, Literatur, Theater, Gesundheit, Handwerk. Die halk evleri verfügen landesweit über 761 Bibliotheken und Leseräume (http://www.halkevleri.org.tr/). Die Bildungsbemühungen entfalteten ihre Wirkung nur sehr zögerlich. Heute liegen die Hauptanstrengungen im Bereich Bildung und Alphabetisierung in den Händen der UNESCO zugehörigen Anne Çocuk Eğitim Vakfı [Mother Child Education Foundation]. Die Anne Çocuk Eğitim Vakfı (AÇEV) ist seit den 90er Jahren in der Türkei tätig und hat als Hauptzielgruppe die Familien und hier in besonderer Weise die Frauen. Die Ausgangspositionen ähneln den großen Alphabetisierungskampagnen der 60er Jahre im Iran. So sind die Erkenntnisse aus den dörflichen Gebieten des Iran gut auf die Kurdengebiete der Türkei übertragbar, daher sollen hier die Ergebnisse von Brian Streets (1995; 2007) Analysen der Alphabetisierungskampagnen im Iran dargestellt werden: Um an die Kinder heranzukommen, galt es, die Mütter zu unterweisen. Die Väter sah man als patriarchale Familienoberhäupter, die die meiste Zeit außerhalb des Hauses zubrachten47, somit lag die Tradierung von Werten und fortschrittsfeindlichen Traditionen, denen man durch unterrichtliche Maßnahmen zu Leibe rücken wollte, in erster Linie in den Händen der Frauen. Diesen schrieb || 47 Vgl. hier das aktuelle Projekt „Sen benim Babamsın“ der AÇEV, das die innerfamiliäre Väterrolle gesamtgesellschaftlich stärken möchte (http://www.acev.org/).

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man Eigenschaften wie Nachgiebigkeit, schlechten hygienischen und medizinischen Standard48 und passive Schicksalsgläubigkeit zu. Das Familienleben wurde als Widerpart zu den Prinzipien, die in der Schule unterrichtet wurden, gesehen. Die Erziehung der Frauen wurde so zu einem zentralen Punkt in Ausbildungs- und Entwicklungsprogrammen (vgl. Street 1995, 38). Eine besondere Rolle in diesem Gefüge kommt der Person des Lehrers zu, der nicht nur Fachwissen vermittelt, sondern auch soziale Gewohnheiten, landwirtschaftliches Wissen und eine neue Geisteshaltung vermitteln soll. Geplant war die Entsendung von Frauenteams, die in den Dörfern die Botschaft des modernen Lebens weitervermitteln sollten. Es waren aber die Frauen selbst, die sich diesem Vorhaben widersetzten, indem sie sich weigerten nach ihrer Ausbildung in den Städten, in entfernten Dörfern zu unterrichten.49 Das Konzept weist sicherlich seine positiven Seiten auf. So stellt die Anerkennung weiblicher Lehrkräfte und die Einbeziehung der ländlichen Gegebenheiten eine Verbesserung gegenüber den autoritären, der städtischen Kultur verhafteten Konzepten dar. In einer Atmosphäre aber, die sich gegen allzu rapide ‚Verwestlichung‘ wandte, war dieses Konzept zum Scheitern verurteilt. Außerdem gab es einen tiefsitzenden Widerstand der ländlichen Bevölkerung gegenüber dem staatlichen Erziehungssystem und den Formen der Literalität, die von diesem vermittelt wurden (Street 1995, 39). Trotzdem war es das erklärte Ziel einer Familie, einen oder zwei männliche Nachkommen in diesem staatlichen System auszubilden und eine höhere Erziehung zukommen zu lassen, um die Angelegenheiten der Familie in der fernen (Haupt)-Stadt zu managen (vgl. Kap. 1.3). Die Vorteile eines städtischen Lebens mit sauberen, modernen Arbeitsbedingungen, hohem Einkommen und Sicherheit standen im Gegensatz zu den Unwägbarkeiten des Landlebens mit schwer kalkulierbarem, weil kulturabhängigem Einkommen, und bildeten gemeinsam mit den technischen Veränderungen in der Landwirtschaft der 50er und 60er Jahre einen starken Abwanderungsreiz für die jungen (männlichen) Familienmitglieder. Für Mädchen war die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihre Ausbildung fortsetzten, sehr gering. Es wurde angenommen, dass sie ohnehin früh heiraten, und dass das Großziehen der Kinder und der Haushalt ihre Haupttätigkeitsbe-

|| 48 Die Alphabetisierungskurse für Frauen der AÇEV sind in vielen Fällen mit Unterweisung in Hygiene und Gesundheit gekoppelt und enthalten Einheiten für soziales Empowerment (AksuKoç et al. 2002). 49 Dieses Problem besteht auch massiv in den ländlichen Gebieten der Türkei, in die junge Lehrer nach dem Abschluss ihrer Ausbildung einige Jahre am Land ihren Dienst verrichten müssen, bevor sie in die Städte zurückversetzt werden (Skubsch 2000; Brizić 2007).

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reiche darstellten. Ein Studium in der Stadt stellte die Familie vor eine Menge Probleme: man musste dort vertrauenswürdige Verwandte haben, denen man seine Tochter für die Zeit der Ausbildung anvertrauen konnte, man war dem Vorwurf ausgesetzt, sich nicht traditionsgemäß zu verhalten, außerdem würde es unter diesen Umständen schwierig sein, einen Ehemann für die Tochter zu finden (Street 1995, 40). Derart komplexen Lebensbedingungen für beide Geschlechter ist Rechnung zu tragen, will man eine Ausbildungsmaßnahme einführen. Viele junge Männer, die innerhalb des staatlichen Ausbildungssystems erfolgreich waren, fanden sich ohne Jobs in den Städten wieder, ausgestattet mit einem Schulwissen, dass sie ungenügend auf eine Tätigkeit in den ländlichen Familienunternehmen vorbereitete. Diejenigen hingegen, die die örtliche Koranschule absolviert hatten, waren im Hinblick auf die Tätigkeit, die sie ausübten, mit einem angemesseneren Wissen ausgestattet, im Hinblick auf die Zukunft wohl auch materiell bessergestellt. Das von der AÇEV implementierte Functional Adult Literacy Program (FALP) war speziell für die Osttürkei entwickelt worden. Dem Inkrafttreten des Programms ging eine Phase voraus, in der sehr umfangreich und aufwendig die Erfordernisse für ein derartiges Programm erhoben wurde (Aksu-Koç et al. 2002). Einerseits wurde die Sprachkompetenz von Kindergartenkindern im Vergleich zu häuslich erzogenen Kindern, die literale Kompetenz in der ersten und zweiten Volksschulklasse und die Sprachkompetenz und der Bildungsweg der Mütter erhoben, andererseits wurden Interviews mit Kindergartenpädagogen, Volksschullehrern und den Müttern geführt. Die Erhebung wurde in den Provinzen Istanbul, Diyarbakır und Van durchgeführt und ist eine der wenigen empirischen Untersuchungen zu Bildung, Sprachkompetenz und Literalität in einer Region, in der das Fehlen von empirischen Daten allgemein beklagt wird (etwa von Haig/Matras 2002; Haig 2004; Brizić 2007; Derince 2010 und 2012). Dieser Untersuchung sowie der Evaluation des FALP (Durgunoğlu/Oney 2003) kommt somit ein besonderer Stellenwert zu. Die Evaluation dieses Programms in den Provinzen Istanbul, Diyarbakır und Şanlıurfa enthielt eine Sektion, die die erworbenen Kenntnisse testete, außerdem eine, die auf Verhaltensweisen abstellte, die im Rahmen einer Alphabetisierung mitgeliefert werden sollten. Abgefragt wurden soziale Verhaltensweisen betreffend Menschen- und Frauenrechte, Gesundheit, und innerfamiliäre Prozesse (Durgunoğlu/Oney 2003, 3). Die Fragen waren um eine Erzählung über eine junge Frau angeordnet und betrafen Themen wie Ehe, Geburt, Aberglauben, eheliche Rechte und Praktiken, Kindererziehung, Kinderarbeit.

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Die Ergebnisse der Interviews mit den Müttern (Aksu-Koç et al. 2002) waren im Bezug auf die Grundannahmen des Programms (s.o.) sehr aufschlussreich. Durchschnittlich waren die Mütter 31 Jahre alt. Die Mütter in Istanbul wiesen die höchste Schulbildung auf, die meisten von ihnen hatten nach der damals fünfjährigen Volksschule eine Hauptschule besucht. Von den Müttern aus Van und Diyarbakır waren viele entweder ohne Schulbildung (41,7 %) oder Volksschulabbrecherinnen (46,7 %) (vgl. Aksu-Koç et al. 2002, 8). Die Väter wiesen in allen drei Provinzen einen höheren Bildungsgrad auf, allerdings war die Anzahl der Väter, die als Hilfsarbeiter tätig waren, im Osten signifikant höher. Das Familieneinkommen ist in Istanbul bei einer geringeren Kinderanzahl höher, auch der Wohnraum ist bei kleinerer Personenanzahl pro Familie in Istanbul größer. Entsprechend diesem West-Ostgefälle der sozioökonomischen Lebenssituation unterscheiden sich die geäußerten Bedürfnisse der Mütter: In der Periode vom Beginn der Schwangerschaft bis zum 6 Lebensjahr des Kindes äußerten die Mütter aus Diyarbakır und Van den Bedarf an Unterstützung im Haushalt während der Schwangerschaft, die Mütter aus Istanbul hingegen wünschten sich mehr emotionale Unterstützung. In der Zeit nach der Geburt war das Bedürfnis nach Hilfe in der Kinderbetreuung in Istanbul am höchsten (vgl. Aksu-Koç et al. 2002, 9). Diese Unterschiede erklären sich aus den unterschiedlichen Lebensbedingungen im städtischen und ländlichen Raum. Auch die Erwartungen an eine Betreuung der Kinder im Kindergarten unterschied sich in den drei Provinzen: die am häufigsten geäußerten Gründe für den Kindergartenbesuch waren: das Erlangen von Schulreife in Van und Diyarbakır, soziale Erfahrungen der Kinder in Istanbul (vgl. Aksu-Koç et al. 2002, 8). Das Erlangen der Schulreife hängt für die Mütter im Osten in erster Linie mit dem Erwerb ausreichender Türkischkenntnisse, um in der Schule erfolgreich bestehen zu können, zusammen. Die Sozialisation erfolgt hier im Rahmen der Großfamilien. Für die Mütter in Istanbul mit einer für Großstädte typischen Isolationserfahrung tritt der Wunsch nach Sozialisation der Kinder in den Vordergrund. Schon die Ergebnisse der Interviews zeigen deutlich, dass die Mütter keineswegs so passiv und schicksalsergeben handeln, wie von den Bildungsprogrammen angenommen wird, sondern dass sie genaue Vorstellungen davon haben, wo und welche Unterstützung gebraucht würde, und was sie von Institutionen, die ihre Kinder ausbilden, erwarten. Eine Studie über die komplexe sprachliche Situation in Sardinien von Ruth Wodak und Rosita Rindler-Schervje (1985) zeigt deutlich auf, dass es gerade die Mütter sind, die sich für oder gegen eine bestimmte Sprache (italienisch oder

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sardisch) als Familiensprache entscheiden, und sich die übrige Verwandtschaft (Großeltern, Väter, Onkeln, Tanten) sich in der Sprachwahl nach den Entscheidungen der Mütter richten. Wie im Kurdischen erklärt sich der Druck, sich für die dominante Sprache (in diesem Fall italienisch) zu entscheiden, aus der wirtschaftlich prekären Situation, dem Wunsch der Familien nach sozialem Aufstieg, und der Angst der Eltern, dass die Kinder in den italienischsprachigen Institutionen Kindergarten und Schule diskriminiert werden könnten. Es sind besonders die Angehörigen der Unterschicht und der unteren Mittelschicht, und hier in erster Linie die Mütter (da sie die Hauptlast der wirtschaftlichen Benachteiligung zu tragen haben), die sich für das Italienische entscheiden. Mit der Weitergabe der prestigereicheren Sprache erhoffen sie für sich und für ihre Nachkommen Zugang zu sozialem Aufstieg innerhalb der dominanten Kultur. 2.1.2.2 Schule Das von Atatürk eingeführte Schulwesen verlief ähnlich wie die Etablierung eines modernen Schulwesens im Iran und stand von Anfang an in Konkurrenz zu den etablierten Koranschulen, die einerseits schriftkulturelles Basiswissen, andererseits Unterricht in der Muttersprache boten (siehe Kap. 2.1.1.3). Die Schulgründungen hatten einerseits das Ziel, geeignete Beamte hervorzubringen, andererseits eine Massenliteralität zu schaffen, die die Landbevölkerung befähigen sollte, am modernen Leben teilzuhaben. Die staatliche Schule genoss in den Augen der Landbevölkerung keinen guten Ruf: man verglich die Kenntnisse der Schüler mit denjenigen, die man sich in der Koranschule angeeignet hatte, und stellte fest, dass die Orthographie und Handschrift in der öffentlichen Schule nicht so sorgfältig entwickelt wurden. Das hatte zu tun mit der hohen Schülerzahl pro Klasse, sodass der Handschrift und der korrekten Rezitation nicht so hohes Gewicht beigemessen werden konnte. Auch in öffentlichen Schulen mussten die Schüler laut vortragen und die Texte der Schulbücher auswendig lernen, aber die überfüllten Klassen machten im Gegensatz zum Unterricht beim Mullah die Lernziele unkontrollierbar. Der Wunsch nach sozialem Aufstieg, städtischer Lebensweise und Arbeitsbedingungen brachte dennoch eine Anzahl Jugendlicher hervor, die das öffentliche Schulsystem mit Erfolg durchlief (vgl. Street 1995, 60–61). Das Unterrichtsmaterial bestand aus Büchern für jeden Gegenstand, die landesweit einheitlich benutzt wurden. Die Lernenden hatten in ihrer Welt allerdings keinen Kontakt mit Büchern irgendwelcher Art, das Buch, dass es in jedem Haushalt gab, war der Koran, möglicherweise ein persischer Kommentar dazu. Die Schulbücher hatten daher über den Klassenraum hinaus kaum eine Relevanz, oftmals dienten die bereits durchgenommenen Seiten dazu, Essen

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darin einzuwickeln. Mit der alltäglichen Lebenswelt hatten die Schulbücher so gut wie nichts zu tun, sondern waren eher dazu angetan, die Dissoziation zwischen täglichem Leben und übergestülpter Erziehung zur Literalität zu verschärfen (vgl. Street 1995, 63). Kreativen Umgang mit Sprache und Literatur boten hier eher die Formen der oralen Überlieferung. Um an diese textuellen Formen, die entweder aus dem religiösen Bereich oder aus der volkssprachlichen Überlieferung stammten und die im Alltagsleben stark verwurzelt waren, anzuknüpfen, griffen die Schulbücher inhaltliche Teilbereiche daraus auf und deuteten sie um, um den Unterschied zwischen unreflektiertem Aberglauben und faktischem Wissen darzustellen. Street bringt hier ein Beispiel von der Erfindung des Feuers in der Überlieferung des Şahnameh, anhand dessen der Unterschied zwischen Legende und Geschichte dargestellt wird. Gelehrt wird hier die Art und Weise, wie man von den personifizierten Darstellungsweisen der oralen Tradition zu Verallgemeinerung gelangt. Damit war aber auch der emphatische Zugang zu Helden, die Namen trugen, die man den eigenen Kindern geben konnte, in der Hoffnung dass die Namensträger etwas von den Charaktereigenschaften des Helden abbekämen, nicht mehr gegeben (Street 1995, 69) Die Schulpflicht in der Türkei betrug bis 1997 fünf Jahre, somit dürfte ein Großteil der türkischen Einwanderer in Österreich diese fünfjährige Volksschule besucht haben (siehe Kap. 2.2.1.2). 1997 wurde die Schulpflicht auf acht Jahre angehoben und setzt sich aus 5 Jahren İlk Okul [Volksschule] und 3 Jahren Orta Okul [Mittelschule] zusammen. Nach der Pflichtschule gibt es die Möglichkeit ein Lise [Gymnasium] zu besuchen. Dieses bietet seinen Schülern bereits eine starke Spezialisierung etwa auf Sprachen, auf den technisch-naturwissenschaftlichen Bereich, auf den sozialwissenschaftlichen Bereich an. Nach dem Abschluss des Lise wird meist ein Vorbereitungskurs für die Universitätsaufnahmeprüfung besucht. Diese Kurse sind privat organisiert. Der Übergang Lise Üniversite bildet die gläserne Decke im türkischen Bildungssystem. Ohne die kostspieligen privat zu finanzierenden Vorbereitungskurse ist die Aufnahmeprüfung kaum zu schaffen. Die ökonomischen Ressourcen der Familien – besonders in den strukturschwachen Minderheitengebieten – können diesen Vorlauf zum Universitätsstudium nicht leisten (z.B.: Kızılhan 1995; Skubsch 2000). 2012 wurde die Schulpflicht auf 12 Jahre angehoben und setzt sich nunmehr aus 4 Jahren Volksschule, 4 Jahren Mittelschule und 4 Jahren Oberschule zusammen. Bei dieser sogenannten 4+4+4-Reform steht die Aufwertung der İmam hatip-Schulen in der Kritik. Diese Schulen waren urspünglich Ausbildungsstätten für Geistliche. Die 1997er Reform hatte das Ziel, die İmam hatip-Schulen zurückzudrängen. 2012 wurden sie den laizistischen Schulen gleichgestellt und

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dürfen ab diesem Zeitpunkt erstmals im Oberstufenbereich tätig sein. Eine Schullaufbahn an einer İmam hatip-Schule führt somit bis zur Universitätsaufnahmeprüfung. Im für diese Untersuchung maßgeblichen Grundschulbereich hat das staatliche Schulsystem einen bedeutenden Teil der erwachsenen Bevölkerung noch nicht erreicht. 1996 betrug die mittlere Anzahl an Schuljahren betrug unter Erwachsenen (älter als 25 Jahre) 3,6 Jahre, wobei Männer generell besser abschneiden, was die Anzahl an Schuljahren betrifft, als Frauen (Gökşen et al. 2000, 3.) 2.1.2.3 Medrese Die Bildung lag im Osmanischen Reich für Jahrhunderte in den Händen der Koranschulen (medrese). In der Grundausbildung lag das Hauptgewicht auf der Korankunde, d.h. dem korrekten Zitieren des arabischen Koran, in fortgeschritteneren Stufen enthielt der Lehrplan islamisches Recht, Mathematik, Grammatik und Literatur. Die Medresen waren Moscheen angegliedert und wurden von Geistlichen betrieben. Moscheen waren meist große Stiftungskomplexe (külliye) angegliedert, in denen Gästehäuser, Armenhäuser, Spitäler und Schulen untergebracht waren. Den Mädchen stand nur die Grundschule offen, allerdings hatte die weibliche Oberschicht Zugang zu privatem Lese- Schreib- und Literaturunterricht. Die in den 1920er Jahren des Lesens und Schreibens Kundigen gehörten zu einem großen Teil der osmanischen Oberschicht an und betrugen ungefähr 10 % der Gesamtbevölkerung (Faroqhi 2000; Brizić 2007). Waren die seit dem neunzehnten Jahrhundert sich herausbildenden Schulen nach europäischem Vorbild gänzlich der vermögenden Oberschicht vorbehalten, stellten die külliye für die ärmere Bevölkerung in den Städten eine Möglichkeit dar, Anteil am traditionellen Bildungssystem zu erhalten (Faroqhi 2000). In den geografischen Randgebieten und in der ländlichen Türkei, wo das Verbot der Koranschulen unter Atatürk nicht hundertprozentig durchführbar war, stellen die Koranschulen bis heute für gewisse Bevölkerungsanteile eine wichtige Bildungsmöglichkeit dar (Uzun 1999). Aufgrund des Misstrauens, dass den staatlichen Schulen vielfach entgegengebracht wird (Skubsch 2000), den Schwierigkeiten in der Durchführung und Kontrolle der allgemeinen Schulpflicht werden die Koranschulen oft zur einzigen Bildungsmöglichkeit für die ländliche Bevölkerung. Auf diese Weise bildet die Koranschule einen wesentlichen Faktor beim Zugang zur Schriftkultur, sowie im Falle des Kurdischen einen Zugang zur Muttersprache als Unterrichtssprache (siehe Kap. 2.1.1.3). Andererseits ist die Lektüre und Rezitation des Koran ist im muslimischen Kulturraum auch insofern prägend, als sie literale Kommunikationsstrategien

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hervorbringt, die aus der Geschichte der koranischen Sprache als der Sprache der Offenbarung resultieren. Auf eine Besonderheit koranischer Überlieferungstradition wurde bereits hingewiesen: der Bimodalität (siehe Kap. 1.3). Navid Kermani (2000) bringt ein in diesem Zusammenhang aufschlussreiches Beispiel: Ende der Fünfziger Jahre begann man in Kairo mit einem Projekt, das von der AzharUniversität und der Ayn-Shams-Universität initiiert wurde, und vom ägyptischen Rundfunk und dem Kulturministerium mitgetragen wurde: der Aufnahme und Verbreitung einer offiziellen Version des Koran. Sie sollte aus den sieben gesicherten, den drei anerkannten, aber ohne die vier nicht kanonischen Lesarten in jeweils acht verschiedenen Subüberlieferungen bestehen. Als Endprodukt dieses Projekts war zwar auch eine schriftliche Niederlegung der Ergebnisse geplant, Hauptsache war jedoch die Aufzeichnung der Rezitation, die von den angesehensten Rezitatoren, von Theologen wissenschaftlich begleitet und mit Hilfe der modernsten Studiotechniken verwirklicht wurde. 1967 lagen vierundvierzig Schallplatten vor, die weit über Ägypten hinaus Verbreitung fanden, und für nicht minder autoritativ galten als die schriftliche Fassung. (vgl. Kermani 2000, 171–172).

Der Leitgedanke dieser Edition war die Mündlichkeit des Koran, der in seiner Rezeptionsgeschichte immer als ein mündlich vorzutragender Text behandelt wurde. Mohammed hat die Verkündigungen mündlich erfahren und sie mündlich an die ersten Hörer weitergegeben. Der Koran ist die liturgische Rezitation der direkten Rede Gottes, ein Vortragstext. Das Hören ist somit der vorausgesetzte Modus der Rezeption, niemals das stille Lesen. Wenn der Koran auf seine eigene Rezeption verweist, spricht er vom Hören, nicht vom Sehen, Lesen oder Studieren: „Und wenn der Koran vorgetragen wird, höret zu und schweiget!“ (Kermani 2000, 172) Eine ähnliche Vorstellung liegt der monastischen Lesetradition des europäischen Mittelalters zugrunde. Das Lesen der Bibel im von Arbeit, Studium und Gebet durchstrukturierten klösterlichen Alltag ist Gottesdienst und lässt den Text in der Rezitation nicht als semantisch zu gliedernde Einheit zu Tage treten. Im 12. Jahrhundert findet der Umbruch zum scholastischen Lesen statt, das den Text als eigene sprachliche Gestalt mit semantischer Qualität wahrnimmt und ihn inhaltlich zur Disposition stellt (vgl. Feilke 2007, 26). Das Bild vom „Abheben des Textes von der Buchseite“ (Illich 1991, zitiert nach Feilke 2007, 26) im Verlauf des Übergangs vom monastischen zum scholastischen Lesen hat seine Entsprechung im umm al kitab der islamischen Tradition: Dieses Offenbarungskonzept wurde von der Tradition entsprechend konkretisiert. Nach einer auf den Koran zurückgehenden Vorstellung befindet sich der ‚Urtext‘ der Offenbarung im himmlischen umm al kitab [Mutter der Schrift]. Das materielle Schriftstück hingegen ist eine fehlerhafte, weil menschliche Aufzeichnung der göttli-

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chen Rezitation aus dem himmlischen Buch. Dementsprechend ließ der erste ‚Herausgeber‘ aller verstreuten Koranmanuskripte, Kalif Utman, jede Kopie von einem Koranrezitator begleiten. Als er in einigen Exemplaren Fehler fand, soll er gesagt haben: „Ändert sie nicht, die Araber werden sie mit ihren Zungen schon berichtigen.” Da die Rezitation als Korrektiv vorausgesetzt wurde, konnten offensichtliche Fehler in den Manuskripten geduldet werden (Kermani 2000; Lohlker 2004). Die Sprache, aus der sich schließlich das Hocharabische entwickelte, war der Dialekt eines der vielen Stämme auf der arabischen Halbinsel, und zwar desjenigen, dem der Prophet Mohammed angehörte. Mit dem Aufkommen des Islam wurde der Koran schriftlich fixiert und verbreitet, was die weitere Entwicklung nachhaltig beeinflussen sollte. Der Normenwandel in den Dimensionen Sprache und Ästhetik, den der Koran in die Wege leitete, und der auf einem gewaltigen geografischen Gebiet stattfand, ist singulär. Dadurch, dass der Koran in seiner Funktion als Gottes Rede für stilistisch einzigartig und unübertrefflich galt, wurde er vom Zeitpunkt der ersten Offenbarungen an zum Modell, nach dem sich alle anderen Texte zu richten hatten, wenn sie als anspruchsvoll gelten wollten. Um Hochachtung zu gewinnen, musste ein Text sich möglichst weitgehend an das Vorbild des Koran halten. Indem Gott nach muslimischer Auffassung die Menschen in der wunderbaren arabischen Sprache angeredet hat, unter allen Sprachen diese ausgewählt hat, wurde ihr ein Rang zuteil, den heute noch ihre Sprecher als verpflichtend, erhebend empfinden. Eine (nach koranischen Kriterien) gut gesetzte Rede kann für ihre Zuhörer eine gewaltige, mitreißende Wirkung ausüben. Die Wahl der Worte, ihre Betonung, Melodie und Rhythmik hat mindestens einen ebenso hohen Stellenwert wie der Inhalt, um die Rezipienten zu überzeugen.(vgl. Kermani 2000, 117). Im Koran haben die Muslime also ein vollkommenes, ewig gültiges göttliches Modell des Umgangs mit Sprache und damit auch ein ständiges Korrektiv des menschlichen Sprachgebrauchs zur Verfügung. Dieses Modell wird durch die Gewohnheiten, Rituale und Abschnitte eines muslimischen Lebens noch gefestigt. So wird in den Koranschulen der Koran oder Teile daraus memoriert und seine korrekte Rezitation eingeübt. Die Kenntnis des Koran wird heute noch vorausgesetzt, so dass es jederzeit möglich ist, aus ihm zu zitieren oder auf ihn Bezug zu nehmen. Die starke Präsenz des Koran im Alltag muslimischer Gesellschaften ist unübersehbar und geht über die Sphäre des rein Religiösen weit hinaus. Jede Alltagskonversation ist geprägt durch den Rückgriff auf koranische Formeln, die das scheinbar noch so Banale in einen geheiligten Rahmen stellen. Die Wirkung des Koran ist dabei keinesfalls auf die arabische Sprachgemeinschaft beschränkt, so bezieht sich beispielsweise persischsprachige Litera-

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tur ebenso wie türkisches und kurdisches Schrifttum auf die sprachlichen Besonderheiten des Koran. (siehe Kap. 2.1.1.3). Wie im christlich-europäischen Kulturkreis das Lateinische prägte das Hocharabische literarische Gattungen und Textsorten in den unterschiedlichsten Bereichen wie Justiz, Verwaltung, Naturwissenschaft. Der Unterricht in der Koranschule, der in vielen Dörfern durch Lesegruppen ergänzt wird, besteht im Wesentlichen darin, die Suren des Koran und Passagen aus der Überlieferung der Hadith als Basis für Diskussion und Interpretation zu lesen. Dieser Unterricht ist keineswegs so eindimensional, wie es in westlicher Vorstellung oft kolportiert wird50. Die Studierenden der Koranschulen lernen in den Medresen viele verborgene Konventionen von Literalität: die Anordnung der Worte auf einer Seite, das Hervorbringen von Bedeutung durch grammatische Strukturierung, den Beginn und das Ende von Wörtern, das sich in der arabischen Schrift durch unterschiedliche Buchstabenformen manifestiert (vgl. Street 1995, 40). Sie übten also Segmentieren und Kategorisieren, die grundlegenden kognitiven Handlungsmuster literaler Sprache. Vielen gelingt es, sich das in der Koranschule angeeignete literale Wissen in den ländlichen Betrieben zunutze zu machen, es in eine kommerzielle Literalität umzuwandeln. Literale Handlungsweisen konnten zum Erstellen von Warenlisten, zum Ausstellen von Rechnungen, zum Adressieren von Postsendungen, für Briefe an die Bank, Geschäftsbriefe uvm. eingesetzt werden (Street 1995). Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass ein in der Türkei lebender Sprecher des Kurdischen – sofern in der Familie nicht bereits ein Sprachwechsel zur Mehrheitssprache vollzogen worden ist – auf jeden Fall mehrsprachig ist51. Die drei meistbeteiligten Sprachen Türkisch, Kurdisch und Arabisch unterscheiden sich hinsichtlich des Zugangs, die zu ihrer ausgebauten Sprachform besteht. Für Türkisch, das in einem Jahrzehnte währenden Prozess als Staatssprache und somit als Sprache aller öffentlichen Institutionen festgelegt wurde, besteht

|| 50 Auch in der westlichen Welt existiert eine Lerntradition, die in ihrer Weise der Wissensvermittlung und Lernstrategie derjenigen der Koranschulen gleicht, und hohes soziales Prestige genießt: der Musikunterricht. In Einzelunterricht oder höchstens Kleingruppen wird ein Text studiert, auswendig gelernt und dessen Wiedergabe vom Meister kritisiert. Der einzelne Interpret stellt sich so mit der Erarbeitung seiner Interpretation in eine Schule, die bei Pianisten, Geigern, Dirigenten aber auch anderen Intrumentalgruppen über Jahrhunderte zurückverfolgt werden kann. Die auswendige Wiedergabe eines bis ins Detail studierten Textes ist Ziel der Unterweisung und erregt auf den Konzertpodien der Welt Bewunderung. 51 Der Sprachenkatalog Ethnologue geht von nur 3.000 monolingualen Kurmanji-Sprechern im Südosten der Türkei aus (https://www.ethnologue.com/language/kmr).

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der Zugang in erster Linie über das staatlich organisierte Bildungswesen. Dieses sieht jedoch für Sprecher von Minderheitensprachen keine aureichende Förderung einerseits in der Familiensprache, andererseits in der Staatssprache vor. Kurdisch wird seit der Gründung der Republik Türkei diskriminiert: die staatliche Sprachpolitik sieht eine monolinguale Türkei mit ausschließlich türkisch sprechenden Staatsbürgern vor. Die jüngsten Entwicklungen in der Türkei stellen einen schweren Rückschlag in Bezug auf die kulturelle und sprachliche Autonomie der Minderheiten dar. Arabisch als Sprache der Religion bleibt für viele Personen in ländlichen Gebieten die einzige Sprache, über die sie in den Koranschulen (Medresen) Zugang zu einer ausgebauten Sprachform haben.

2.2 Österreich 2.2.1 Die Einwanderung in Österreich 2.2.1.1 Sprachliche Rahmenbedingungen Mehrsprachigkeit ist – wie gezeigt wurde – für die Kurden in Österreich nicht erst das Ergebnis der Migration, es ist vielmehr die gewohnte Konstellation. Die (kurdische, meist dörfliche) Herkunftsgesellschaft ist gekennzeichnet von arbeitsteiliger Mehrsprachigkeit und einer professionell beschränkten Schriftkultur. Diese Charakteristika der Herkunftskultur werden im Fall der Migration mittransportiert. Zu dieser gewohnten Konstellation gehört auch der Umstand, dass die Familiensprache nicht Staats- und Bildungssprache ist, welcher in der Migration mit einer weiteren schriftassoziierten Staats- und Bildungssprache fortgeschrieben wird und die Sprache(n) der informellen Register mit Schrift nicht in Verbindung gebracht werden. Diese Registerdifferenzierung ist in den Verlaufsformen der Sprachbiographie verankert, sowie in den spezifischen Gesellschaftsformen, die ein jeweils spezifisches Repertoire an (schriftgebundenen) Kommunikationstypen verlangen, eingeschrieben (Maas 2008 a und b; 2010 a und b). Die Einwanderungsgesellschaft ist von „Registerintegration“ (Maas 2010b, 154) gekennzeichnet. Der über die Familiensprache direkte Zugang zum formellen, auf Schrift ausgerichteten Register bildet die Grundlage für die Konzeption von Sprachpolitik, Spracherwerb in der Migration und Sprachunterricht im Bildungssystem. Schrift ist für „alle, die in unserer Gesellschaft sozialisiert sind, zur zweiten Sprachnatur geworden“ (Maas 2010b, 157). Migrationsverhältnisse sind zweifellos eine moderne gesellschaftliche Erscheinung, die damit zusammenhängenden sprachlichen Verhältnisse sind mit dem nationalsprachlichen Konzept der europäischen Einwanderungsländer

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jedoch sehr schwer in Einklang zu bringen, was sich im Misserfolg von Schulsystem und Maßnahmen zur Erwachsenenbildung im Bereich der Migrantenförderung widerspiegelt (Weidacher-Gruber 2014). Die sprachlichen Verhältnisse vor der Migration wirken in der ersten Generation in der Einwanderungsgesellschaft fort, lediglich das formelle Register wird um eine weitere Sprache ergänzt. Den Kindern werden diese sprachlichen Verhältnisse weiter vermittelt, diese setzen sich jedoch intensiv mit den gesellschaftlichen Vorgaben des Einwanderungslandes auseinander und adaptieren ihre sprachliche Ausrichtung. Die Ergebnisse der Migrationsforschung, dass Integration ein generationsübergreifender Prozess sei (Bade/Bommes/Oltmer 2008; Bommes 2011; Sürig/Wilmes 2011) scheinen auf das Feld der sprachlichen Integration ohne weiteres übertragbar zu sein. Das sprachliche Feld mit seinen inklusiven oder exklusiven Bedingungen, in dem sich die erste Generation bewegt, setzt sich zusammen aus den Gegebenheiten im Heimatland (siehe Kap. 1.1), dem zentralen Ereignis Migration (siehe Kap. 1.2) und den allgemeinen wie sprachenpolitischen Rahmenbedingungen, auf die diese erste Generation im Einwanderungsland trifft (siehe Kap. 2.2.1 sowie Kap. 2.2.2). Die Möglichkeiten zur Teilhabe an der Aufnahmegesellschaft bestimmen Art und Ausmaß an Engagement in der Aufnahmegesellschaft oder in innerethnischen Organisationsformen (siehe Kap. 2.2.2.1 sowie Kap. 2.2.2.2), was wiederum auf das sprachliche Umfeld rückwirkt (indem sprachliche Kontakte eher zu autochthonen Gruppen oder innerethnisch stattfinden). Für die nächste Generation wirken die Bedingungen des Heimatlandes über die Vermittlung durch die Eltern weiter, der Umgang mit dem sprachlichen Erbe scheint gruppenspezifisch zu sein. Verhoeven berichtet von einer vergleichsweise geringen Bindung an die Erstsprache bei der marokkanischen Gruppe (Verhoeven 2003), auch Maas/Mehlem (2003b) finden eine überwiegende Orientierung an den sprachlichen Vorgaben der Einwanderungsgesellschaft bei marokkanischen Kindern. Bei der türkischen Gruppe scheint eine stärkere Bindung an die Erstsprache Türkisch gegeben zu sein, allerdings sind in die Ergebnisse eventuell vorhandene Minderheitensprachen der Herkunftsgesellschaften nicht einbezogen worden (Verhoeven 2003). Für die Partizipationschancen der Kinder sind die (ökonomischen) Lebensbedingungen der Familien (siehe Kap. 2.2.2.1) ein maßgebender Faktor, da sie gemeinsam mit dem „kulturellen Kapital“ der Familie den Erfolg im Durchlaufen des Bildungssystems bestimmen. Bei der Auseinandersetzung mit dem sprachlichen System der Umwelt scheinen die Kinder und Jugendlichen vom Bildungsapparat nicht die Unterstützung zu bekommen, die sie für erfolgreiche Schullaufbahnen benötigen würden, wie die überproportional hohe Anzahl an Sonderschulüberweisungen bei marokkani-

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schen (vgl. Maas 2008b, 529) und türkischen (vgl. Brizić 2007, 57) Kindern deutlich zeigt. 2.2.1.2 Arbeitsmigration und Fluchtwanderung Kurden aus der Türkei, die eine Entscheidung zur Auswanderung treffen, sind in Europa und im deutschsprachigen Raum mittlerweile keine Pioniere mehr. In Städten wie Hamburg, die aufgrund ihrer Gegebenheiten (die Hamburger Werft) zu den ersten Zielen der Migrationsbewegung gehörten, lebt heute bereits die dritte oder sogar vierte Generation, die – stark vernetzt – Neuankömmlinge auffängt und Hilfestellungen bei den ersten Schritten in der Aufnahmegesellschaft leistet. (vgl. Grond 2013, 59) Eine Einwanderung größeren Ausmaßes aus der Türkei nach Europa begann in den 1960er Jahren mit einem Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei. In dieser Phase konzentrierten sich einerseits die Produktionskapazitäten auf Westeuropa, wodurch es zu gezielter Rekrutierung von Arbeitsmigranten kam. Andererseits stand die Türkei zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt der Mechanisierung und Kommerzialisierung der Landwirtschaft, die eine massive Abwanderung kleinbäuerlicher oder in Pachtverhältnissen lebenden Familien verursachte. Das Zusammenwirken dieser Faktoren – im Einwanderungsland, wie im Herkunftsland – bedingte, dass die Zuwanderer aus der Türkei gemeinsam mit denen aus dem ehemaligen Jugoslawien zur zahlenmäßig stärksten Gruppe an Arbeitsmigranten in Österreich wurden und es bis heute geblieben sind (Brizić 2007). Die Einwanderung nach Österreich verlief nach ähnlichen Mustern wie die Einwanderung nach Deutschland. 1961 trafen die Bundeswirtschaftskammer und der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) das sogenannte Raab-OlahAbkommen. Kernpunkte des Abkommens waren rechtliche Regelungen für ausländische Arbeitskräfte, wie Arbeitsbewilligungen, Organisation der Rückkehr, Möglichkeiten der Inanspruchnahme von Krankenversicherungsleistungen auf der Basis internationaler Verträge, Gleichstellung mit heimischen Arbeitskräften in Lohn- und arbeitsrechtlichen Fragen. Zusätzlich gab es direkte Anwerbeabkommen mit der Türkei, die Quoten wurden jährlich von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretung ausverhandelt. Die erste große Einwanderungswelle bis zum Beginn der siebziger Jahre brachte vor allem alleinstehende Arbeiter, deren Rückkehr vorgesehen war (Rotationsprinzip). Die entscheidende demographische Wende trat Mitte der siebziger Jahre ein, die nicht mehr von Neuzuzug, sondern von Familiennachzug geprägt waren. (De Cillia/Wodak 2006; Brizić 2007; Potkanski 2010).

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Dem Migrantenanteil an der österreichischen Gesamtwohnbevölkerung ist nicht leicht auf die Spur zu kommen, da in die veröffentlichten Daten unterschiedliche Aspekte miteinbezogen und diese oft nicht transparent gehandhabt werden. In der folgenden Darstellung werden Daten der Statistik Austria (2015a und b), der Landesstatistik Steiermark sowie der Bevölkerungsstatistik der Landeshauptstadt Graz (2016) herangezogen. Die Statistik Austria definiert Personen mit Migrationshintergrund wie folgt: Als Personen mit Migrationshintergrund werden hier Menschen bezeichnet, deren beide Elternteile im Ausland geboren wurden. Diese Gruppe lässt sich in weiterer Folge in Migrantinnen und Migranten der ersten Generation (Personen, die selbst im Ausland geboren wurden) und in Zuwanderer der zweiten Generation (Kinder von zugewanderten Personen, die aber selbst im Inland zur Welt gekommen sind) untergliedern. (Statistik Austria 2015b).

Die Landesstatistik Steiermark gibt für ihre Daten zum „Ausländeranteil“ keine Kriterien an. Die im Vergleich niedrigen Anteile lassen darauf schließen, dass es sich hier ausschließlich um Personen mit nichtösterreichischer Staatsbürgerschaft handelt52. (Landesstatistik Steiermark) Die Bevölkerungsstatistik der Landeshauptstadt Graz differenziert zwischen „ÖsterreicherInnen“ und „AusländerInnen“, die in bestimmten Teilbereichen der Statistik nach „EUBürgerInnen“ und „Nicht-EU-BürgerInnen“ aufgegliedert sind. Auch hier scheint es sich um die Personengruppe mit nichtösterreichischer Staatsbürgerschaft zu handeln. Die Gruppe der in Österreich geborenen nichtösterreichischen Staatsbürger_innen entspricht ungefähr 22 % der Bevölkerung mit Migrationshintergund. Eine weitere Gruppe wurde im Ausland geboren, besitzt aber die österreichische Staatsbürgerschaft. Diese Personengruppe wird gegenwärtig auf ca. 900.000 Personen geschätzt. Besonders schwer zu erfassen sind diejenigen, die nie eine andere Staatsbürgerschaft als die Österreichische besessen haben, aber einen familiären Migrationshintergrund haben, da die österreichische Einbürgerungsstatistik und der Mikrozensus nur Ausländer sowie neueingebürgerte Österreicher berücksichtigen. Der Anteil der Immigranten aus der Türkei wird unter diesem Personenbereich je nach herangezogenen Kriterien auf 200.000 bis 300.000 Personen geschätzt. Eine dritte Generation wird hier nicht miterfasst. Auch Kinder, die einen Elternteil mit österreichischer und einen Elternteil mit

|| 52 Die Statistik Austria kommt so mit ihrer weiteren Auslegung des Begriffs ‚Migrationshintergund‘ auf einen Bevölkerungsanteil von 12,6% für die Steiermark, während die Landesstatistik Steiermark von nur 8,7% ausländischer Wohnbevölkerung ausgeht.

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türkischer Staatsbürgerschaft haben, werden nicht erfasst. Da die Zuwanderung aus der Türkei aber bereits seit Mitte der 1970er Jahre von Familienzuzug geprägt war (s.o.), dürfte gerade die nichterfasste Gruppe eine beachtliche Größe aufweisen. Diese Unschärfen sind in den Angaben zum Migrantenanteil immer mitzubedenken. Die Anzahl an Kurden unter den Arbeitsmigranten aus der Türkei kann nur anhand der Prozentsätze des Anteils an Kurden in der damaligen Gesamtbevölkerung der Türkei rückgeschlossen werden. Der Anteil liegt bei 20-25 %, und stützt sich auf Zahlen, die auf Volkszählungen zurückgehen (z.B.: Bruinessen 1989a; Kleff 1985; Kızılhan 1994). Insgesamt ist davon auszugehen, dass die Einwanderung aus den großteils kurdisch bevölkerten Gebieten aufgrund der fehlenden Industrialisierung nicht parallel zur türkischen Arbeitsmigration verlief. Kurden migrierten insgesamt später als Türken, ihre Zuwanderung hielt noch an, als die türkische bereits zum Stillstand gekommen war. (vgl. Ammann 2004, 213). Die kurdische Einwanderung wurde oft durch Naturkatastrophen ausgelöst. Ammann beschreibt, dass sich in den Einwandererzügen zwischen 1967 und 1968 – also zu der Zeit, in der die Provinzen Varto und Hınıs (1966), und die Provinzen Bingöl und Muş (1967) von schweren Erdbeben betroffen waren – zeitweise genauso viele Kurden wie Türken befanden. Es gibt Hinweise dafür, dass die damalige türkische Regierung im Rahmen ihres Assimilationskonzeptes (siehe Kap. 2.1.1.3) zur Emigration aus den kurdischen Gebieten nach Europa regelrecht ermutigte, indem Bewohner von Erdbebengebieten bei der Anwerbung bevorzugt wurden. (vgl. Ammann 2004, 214). In die Schätzungen des kurdischen Anteils der Zuwanderung aus der Türkei muss zur Auswertung auf regionaler Basis auch der Faktor Binnenmigration einbezogen werden. Viele Migranten hatten vor der Auswanderung nach Europa bereits eine innertürkische Migrationsgeschichte hinter sich. Zum einen sind hier die Deportationen der zwanziger und dreißiger Jahre zu nennen (siehe Kap. 2.1.1.3), zum anderen die allgemeine Landflucht der fünfziger und sechziger Jahre als Folge der Industrialisierung. Schätzungen gehen davon aus, dass bereits zu Beginn der sechziger Jahre mindestens 45 % der Bewohner der großen Städte der Westtürkei (Istanbul, Izmir) in den Gecekondugebieten53 an den Stadträndern lebte. (vgl. Ammann 2004, 215). In der Zentraltürkei um die Städte Ankara, Konya und Kırşehir gibt es zahlenmäßig repräsentative kurdische En-

|| 53 Der Begriff gecekondu [über Nacht gebaut] bezeichnet ungeplante Viertel an der Peripherie der großen Städte. Die rechtliche Grundlage für die Bauten ist das auf osmanische Zeiten zurückgehende Gewohnheitsrecht, dass über Nacht fertiggestellte Häuser nicht mehr abgerissen werden dürfen (Wikipedia, Art. Gecekondu)

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klaven, die noch zum Teil auf die Bevölkerungspolitik des osmanischen Reichs zurückgehen. Von dieser Gruppe wanderte eine relativ große Anzahl nach Deutschland, Österreich und Skandinavien aus. Unter Berücksichtigung der genannten Faktoren kommt Ammann zu einem Mittelwert von 22 % kurdischer Zuwanderung an der gesamttürkischen Zuwanderung (vgl. Ammann 2004, 215). Brizić (2007) kommt sogar zu einem Anteil von bis zu 40 %. Eine für die kurdische Zuwanderung typische Erscheinung ist das Phänomen der Kettenmigration. Die Anwerbung nach Deutschland lief über ein Verbindungsbüro der Bundesanstalt für Arbeit in Istanbul mit einer Zweigstelle in Ankara. Von dort wurden die Anforderungen der deutschen Wirtschaft an die Arbeitsämter der 67 türkischen Provinzen weitergeleitet (vgl. Ammann 2004, 215). Eine besondere Rolle bei der Anwerbung spielte die namentliche Nennung direkt beim Arbeitgeber. Bereits in Deutschland Tätige nannten gegenüber ihrem Arbeitgeber bestimmte Personen (meist Verwandte oder Nachbarn), die das Unternehmen dann anforderte. Diese Gegebenheiten begünstigten die Kettenmigration. Für den Arbeitgeber bedeutete das den Vorteil solidarischer, kostengünstiger Teams, da die Neuangeworbenen aufgrund ihrer persönlichen Bindungen ohne Zutun des Arbeitgebers in die Gegebenheiten der neuen Umgebung eingewiesen wurden. So entstanden dichte Familien- und Regionalverbände54, da Kettenmigration bei den Kurden eine vergleichsweise größere Rolle zu spielen scheint, als bei anderen Ethnien (vgl. Ammann 2004, 216). In den 1970er Jahren kam es in der westlichen Wirtschaftsordnung zu weitreichenden Veränderungen, was zu einem Einbruch in der Rekrutierung von Arbeitskräften aus dem Ausland führte. Bei schwächer werdendem Wirtschaftswachstum und gleichzeitigem Strukturwandel in Finanzwesen und Industrie kam es zur Auslagerung der Produktion in sogenannte Billiglohnländer. Damit wuchs nicht nur der Bedarf an Spezialisten, sondern auch der an minderqualifizierten Kräften, die meist in gewerkschaftlich nicht kontrollierten Nischen beschäftigt wurden (Potkansky 2010). In den Niedriglohnsektoren stehen weltweit vor allem Arbeitsmigranten und Flüchtlinge als Arbeitskräfte zur Verfügung, oftmals als illegale Einwanderer stillschweigend geduldet, um bestimmte Produktionszweige oder Dienstleistungen am Leben zu erhalten (Brizić 2007). Gleichzeitig versuchen die Einwanderungsländer, minderqualifizierte Einwanderung einzudämmen. Die Immigranten aus der Türkei sind von diesen Entwicklungen in hohem Maß || 54 Es gibt Berichte über Familienverbände, die bis zu 1000 Personen umfassen können (Ammann 2004).

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betroffen, da sie zum Großteil der minderqualifizierten Einwanderung zuzurechnen sind. Im Gegensatz zu den Einwanderern aus dem ehemaligen Jugoslawien haben die in Österreich lebenden Einwanderer aus der Türkei im Schnitt nur fünf Schulbesuchsjahre absolviert und stammen großteils aus der ländlichen Türkei (Strohmeier/Yalçın-Heckmann 2000; Sürig/Wilmes 2011). Neben der Arbeitsmigration spielen Fluchtwanderungen eine bedeutende Rolle, wobei es bei den Auswanderungsmotiven enge Verknüpfungen und Überschneidungen gibt, sodass eine Typologie schwierig ist. Auf den türkischen Militärputsch 1960 folgten kleinere Fluchtbewegungen, die aber in Europa als Arbeitsmigration in Erscheinung traten, vergleichbar der Auswanderung, die als Reaktion auf die Ausschreitungen gegen die Aleviten 1967 in Maraş erfolgte. Nach dem Putsch von 1971 kam es zu Maßnahmen gegen linksgerichtete Organisationen, was wiederum Kurden und Aleviten besonders stark traf, die vorwiegend in der politischen Linken vertreten sind. Die Erdbeben zwischen 1966 und 1983 und der Umgang der türkischen Politik mit der betroffenen Bevölkerung wurde bereits erwähnt. Durch die politische Entwicklung, die 1980 in einem weiteren Militärputsch gipfelte, stieg in Deutschland die Anzahl der Asylanträge von türkischen Staatsbürgern von 8000 (1979) auf 58 000 (1980) an. Experten gehen hier von einem kurdischen Anteil von 50 % aus (vgl. Ammann 2004, 220). Die militärischen Auseinandersetzungen der kurdischen PKK mit dem türkischen Militär, die 1984 einsetzten und erst gegen 1999 abflauten, führten sowohl zu binnentürkischer Migration als auch zu einem konstanten Flüchtlingsstrom nach Europa. Ein wesentliches Motiv für die Auswanderung war in vielen Fällen die Wehrpflicht, die oft den Einsatz gegen Angehörige der eigenen Ethnie bedeutete. Bei den Flüchtlingen ist ebenso wie bei den Arbeitsmigranten das Phänomen der Kettenmigration zu beobachten. Im Jahr 2000 lebten etwa eine Million Kurden in Europa, davon die meisten in Deutschland (600 000), gefolgt von Frankreich (70 000), den Niederlanden (60 000), Österreich (40 000), Belgien (40 000) der Schweiz (30 000), Nordeuropa (40 000), Süd-und Osteuropa (40 000). Mittlerweile ist aufgrund der anhaltenden Fluchtbewegungen und der Heiratsmigration die Millionengrenze bereits deutlich überschritten (vgl. Ammann 2004, 221). Die meisten der in Österreich ansässigen Kurden leben in Wien, gefolgt von Vorarlberg und Niederösterreich. Ein großer Teil stammt aus dem Dersim /Tunceli Gebiet. (vgl. Ammann 2004, 227). In der Steiermark leben zur Zeit etwa 5 500 Personen aus der Türkei, der Anteil an der ausländischen Wohnbevölkerung beträgt ungefähr 7 %. (vgl. Mayer 2009, 33). Weitere 7 000 Personen sind

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in der Türkei geboren, besitzen aber mittlerweile die österreichische Staatsbürgerschaft. (vgl. Mayer 2009, 36). Die türkische Zuwanderung der Steiermark konzentriert sich auf den Raum Graz (3 801 Personen) (http://www.graz.at/statistik), das mit seiner Lage im Südosten Österreichs eine wirtschaftliche Brückenfunktion innehat und über ein Drittel der industriellen Wertschöpfung der Steiermark erwirtschaftet. Grundlagen dafür sind einerseits die Hochtechnologie-Betriebe, die in Graz angesiedelt sind, andererseits eine Ballung von ca. 180 Unternehmen, die in der Autozulieferindustrie tätig sind. Gerade der ‚Autocluster‘ ist für zugewanderte Arbeitskräfte ein wesentlicher Arbeitgeber. Die meisten der in Graz ansässigen Kurden stammen aus den ländlichen Gebieten um die Städte Ankara und Konya und haben bereits eine binnentürkische Migrationsgeschichte hinter sich. Als zahlenstärkste Minderheit in der Türkei sind die Kurden von allen Maßnahmen zur Homogenisierung der Bevölkerung des Landes besonders stark betroffen: Die Türkisierung von Orts- und Personennamen, die Schließung der Medresen (siehe Kap. 2.1.1.3), das Verbot der Sprache und das ökonomische Aushungern des kurdischen Siedlungsgebietes begünstigen die Entstehung einer explosiven Lage. Kurdische Aufstände (1925, 1930 und 1935) werden niedergeschlagen und mit Deportation in die Westtürkei beantwortet. 1938 liegt die Zahl der nach Westen Deportierten bereits bei 1,5 Millionen Menschen. Mit dem Tod Atatürks und dem Übergang zu einem Mehrparteiensystem folgt eine relativ friedliche Periode. Gegen Ende der 60er Jahre verschärft sich das Klima wieder bis zum bewaffneten Widerstand gegen die Regierung (1978 erfolgte die Gründung der PKK). Die Deportationen nehmen nun ein Ausmaß an, dass die Anfänge der Republik noch übertrifft, und halten – oft getarnt als Entwicklungsprojekte – bis in die Gegenwart an (Ammann 2004). In den ländlichen Gebieten der Zentraltürkei siedelten sich die Minderheiten relativ geschlossen in Dörfern an. In vielen Familien blieb das Kurdische als Familiensprache und lingua franca in der dörflichen Gemeinschaft erhalten. 2.2.1.3 Sprachenpolitik in Österreich Das Thema Immigration beherrscht in immer größerem Maß die politische und gesellschaftliche Diskussion in Österreich. In einer sich zunehmend schwieriger gestaltenden Umwelt, in der komplexe global-politische Ursachen nicht unmittelbar zugänglich sind, gewinnt das Eigene, Regionale an Bedeutung und resultiert in einer mehr und mehr ablehnenden Reaktion auf die Immigration. Gleichzeitig wird Migration mit dem weltweit ansteigenden Terrorismus in Verbindung gebracht, Angst vor Zuwanderung wird verknüpft mit der Angst vor

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Gewalt und so verbinden sich in Europa Migrationspolitik und Sicherheitspolitik bei gleichzeitigem Anstieg terroristischer Akte. Die durchaus reale Angst vor Terrorismus stellt insbesondere die islamische Zuwanderung unter einen Generalverdacht und betraf in den deutschsprachigen Ländern bis vor kurzem in erster Linie die Zuwanderung aus der Türkei (Brizić 2007). Seit der sogenannten Flüchtlingskrise, die ihren Ausgang im Sommer 2015 nahm, hat sich auch die Angst vor Zuwanderern ‚globalisiert‘ und betrifft jetzt den globalen Süden als Gesamtheit. Was sich nicht geändert hat, ist das Misstrauen gegenüber muslimischer Zuwanderung. Migration ist – wie gesagt – ein weltweit wachsendes Phänomen, da es eine Reaktion auf die „ungleiche Verteilung der Ressourcen zur Lebensgestaltung“ (Maas 2008b, 24) darstellt. Die Verteilung der Weltbevölkerung auf entwickelte Regionen (20 %) und unterentwickelte Regionen (80 %) (Hoffmann-Nowotny 2000) wird zum Motor für den Versuch, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu wechseln und so die eigenen Chancen sowie diejenigen der Familie zu verbessern. Angesichts immer größer werdender sozialer Unterschiede und sich häufender Umweltkatastrophen werden Migrationswanderungen trotz verschärfter Einwanderungsbestimmungen in vielen Einwanderungsländern weiter zunehmen und mit ihren ungelösten Fragen den politischen Diskurs in den Einwanderungsländern prägen (Hoffmann-Nowotny 2000). Vom Standpunkt des Individuums aus gesehen, stellt Migration ein einschneidendes Ereignis in der Biographie dar und bedeutet für den Einzelnen die Erfahrung großer Unsicherheit. Bewährte Verhaltensweisen und grundsätzliches Selbstverständnis verlieren an Gültigkeit, Lösungen für neue materielle und soziale Probleme müssen gefunden werden. Es kommt zu Loyalitätskonflikten zwischen den Wertesystemen der vertrauten und der neuen Gesellschaft. Auch kommt es oft durch die Trennung von Familienverbänden zum Verlust sozialer Beziehungen und gleichzeitig zu Ausgrenzung in den Aufnahmegesellschaften aufgrund andersartig gestalteter Beziehungssysteme. Die zweiten und dritten Generationen nehmen zwar über den Bildungsweg am gesellschaftlichen Geschehen aktiv teil, erleben aber Kultur und Selbstverständnis der Familie als fundamental unterschiedlich zur Umgebung. Gleichzeitig erscheint ihnen die Positionierung der Familie zunehmend fiktiv, wodurch sie in Loyalitätskonflikte geraten und die familiären Bindungen geschwächt werden können. (vgl. Ammann 2004, 231). Migration ist somit ein dynamischer Prozess, der von dem Bemühen angetrieben wird, die Ausgangsverhältnisse in einer neuen Umgebung zu überwinden. Die Komplexität und die Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens machen es nötig, diesen Prozess in seinem Verlauf über die Generationen hin-

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weg, der durch unterschiedliche Entwicklungsprozesse in den einzelnen Generationen nicht linear verlaufen muss, zu erfassen (vgl. Maas 2008b, 25). Migrationsmotive werden in den Einwanderungsländern klassifiziert und bewertet. Ein ‚politischer Flüchtling‘ hat einen höheren Status als ein ‚Wirtschaftsflüchtling‘. Angesichts der immer höheren Barrieren, die die ‚Festung Europa‘ um ihre Außengrenzen errichtet, bietet das Ansuchen um politischen Schutz meist die einzige Möglichkeit für einen Aufenthaltstitel. Auch kann die dem Gedanken des politischen Asyls zugrundeliegende Genfer Konvention von 1951 die Migrationsrealität der meisten Auswanderer nicht mehr fassen. Angesichts Migrationsbewegungen, die beispielsweise auf die Zerstörung der Lebensgrundlagen infolge von Umweltkatastrophen hin stattfinden, ist eine Revision des klassischen Flüchtlingsbegriffs längst nötig (Hauser 1990). Die Modelle in den USA, Kanada und Australien, die eine selektive Einwanderungspolitik betreiben, sind nicht ohne weiteres auf den deutschsprachigen Raum zu übertragen, wo sich die Verhältnisse nach der ‚Gastarbeiteranwerbung‘ und der Phase des Familiennachzugs eher ungeplant entwickelt haben. Während in den genannten klassischen Einwanderungsländern – durch das Durchlaufen eines Bewertungssystems der Kandidaten (bei gleichzeitiger unbeschränkter humanitärer Einwanderung) – davon ausgegangen werden kann, dass sich das mitgebrachte kulturelle Kapital im Verlauf einer entsprechenden Aufenthaltsdauer verzinst, stehen die „verdeckten Einwanderungsländer“ (Maas 2008b, 561) vor dem Problem nachzuholender Integration. Folgerichtig ist das System der klassischen Einwanderungsländer auf Einbürgerung ausgerichtet, während Deutschland (und Österreich) davon gekennzeichnet sind, dass 50 % der Immigranten (ohne Staatsbürgerschaft des Einwanderungslandes) seit über 10 Jahren im Land leben, ein Drittel sogar seit über 20 Jahren (vgl. Maas 2008b, 560–561). Die Staatsbürgerschaft ist jedoch eng verbunden mit politischer Partizipation. In Österreich war Nicht-Österreichern bis 1995 jegliches Wahlrecht verwehrt. Seit dem Beitritt zur EU gibt es das aktive und passive Wahlrecht für EU-Bürger auf Bezirksebene, seit 2006 gibt es nach einem EuGH Urteil den Zugang zu Arbeiterkammer- und Betriebsratswahlen auch für Drittstaatsangehörige. Grundlage für diese Gesetzesgebung ist die Selbstdefinition als Nicht-Einwanderungsland (vgl. Ahmad 2012, 53). Infolge dieser wurde durch die Staastbürgerschaftsnovellen von 1998 und 2006 der Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft erschwert. Grundvoraussetzung ist ein zumindest 10jähriger legaler Aufenthalt, Unbescholtenheit, eine Überprüfung der Geschichts- und Sprachkenntnisse sowie der Nachweis ausreichender finanzieller Mittel. Hohe Gebühren fungieren als zusätzliche Hürde (vgl. Ahmad 2012, 54). Genau besehen handelt es sich bei einem derart restriktiven Staatsbürger-

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schaftsrecht um eine integrationsfeindliche Politik, erfolgt Integration doch „in die Lebensbereiche, an denen die Menschen aktiv partizipieren“ (Maas 2008b, 567). Eine Naturalisierung in einem angemessenen Zeitrahmen begünstigt also den Integrationsprozess und sollte nicht am erfolgreichen Ende desselben stehen (Krumm/Plutzar 2008). Ein derartig hoher Anteil an Wohnbevölkerung ohne angemessene Rechte zur politischen Teilhabe ist auch und gerade in demokratiepolitischer Hinsicht problematisch – Maas spricht hier drastisch von „Metöken“55 (Maas 2008b, 162, 560, 547), die an der gesellschaftlichen Reproduktion (in Form von steuerlichen und anderen Abgabepflichten) im Einwanderungsland voll beteiligt, den „Bürgern“ aber nicht rechtlich gleichgestellt sind (vgl. Maas 2008b, 547). Den rechtlichen Rahmen für Sprachenpolitik in Österreich bildet die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen von 1992, ein Instrument, das die Harmonisierung der Bestimmungen in den EU-Einzelstaaten zum Ziel hat. Von den 68 Bestimmungen der Charta sind von den Einzelstaaten bei Ratifizierung 35 umzusetzen, wobei die Auswahl den Einzelstaaten freisteht. Die EU-Regelungen stellen also nur eine Gesamtmenge aller einzelstaatlichen Regelungen dar, eine gesamteuropäische Neuregelung in sprachenpolitischer Hinsicht stellt die Charta der Regional- und Minderheiten nicht dar (vgl. Maas 2008b, 212-213). Eine grundsätzliche Richtung gibt der Europarat mit seinen Resolutionen und Proklamationen sowie dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GERS) vor, auf die bei einzelstaatlichen Regelungen Bezug genommen wird. Die Interpretation dieser Prinzipien ist in den Einzelländern sehr unterschiedlich und stark von der aktuellen politischen Stimmungslage und Befindlichkeit abhängig (Krumm/Plutzar 2008; Maas 2008b; Ahmad 2012). Der Europarat begann angesichts der wachsenden Probleme im Zusammenhang mit der vergrößerten Mobilität mit der Erarbeitung einer Strategie, um den Herausforderungen zu begegnen. Als grundlegende Prinzipien der Integrationspolitik galt die Zusammenarbeit der Herkunftsländer und der Aufnahmeländer, sowie das Schaffen eines positiven Klimas, das den Eingliederungsprozess begünstigen sollte. Im Vordergrund stand eindeutig das Ziel Integration im Gegensatz zu Assimilation, die einseitig auf gänzliches Aufgehen in der Aufnahmegesellschaft ausgerichtet ist (Krumm/Plutzar 2008).

|| 55 Aus gr. metoikos (