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German Pages [100] Year 2021
Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch Heft 28
Vandenhoeck & Ruprecht
Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch Band 3
Vandenhoeck & Ruprecht
Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch Im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland gemeinschaftlich mit
Bernhard Leube und Andreas Marti herausgegeben von
Ilsabe Alpermann und Martin Evang Ausgabe in Einzelheften Heft 28
Vandenhoeck & Ruprecht
Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Bitzel, Dr. Alexander (s. Heft 26): EG 329 T * Böttler, Winfried, Pfarrer i.R., Berlin: EG 477 T * Heinrich, Dr. Johannes (s. Heft 1): EG 477 S * Herbst, Dr. Wolfgang (s. Heft 15): EG 315, 329 M, 436, 505 * Klek, Dr. Konrad (s. Heft 21): EG 371 M, 391 M, 404, 405 * Leube, Bernhard (s. Heft 17): EG 283 * Lorbeer, Dr. Lukas (s. Heft 23): EG 524 T * Marti, Dr. Andreas (s. Heft 7/8): EG 260, 329 M, 487, 524 M * Melzl, Dr. Thomas, Pfarrer, Nürnberg, Referent am Gottesdienstinstitut der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern: EG 354 * Meyer, Dr. Dietrich (s. Heft 26): EG 391 T * Rößler, Dr. Martin (s. Heft 1): EG 254 M * Schäfer, Dr. Christiane (s. Heft 25): Hymnologische Nachweise * Schatull, Dr. Nicole, Pfarrerin am Kurfürst-Ruprecht-Gymnasium Neustadt/ Weinstr.: EG 254 T * Schiek, Maximilian-Friedrich (s. Heft 17): EG 205, 206 * Schmidt, Dr. Bernhard (s. Heft 26): EG 304 * Schmidt, Thomas (s. Heft 24): EG 339, 340, 493, 497 * Stalmann, Dr. Joachim (s. Heft 1): EG 343 * Weichenhan, Susanne, Pfarrerin, Bad Belzig: EG 371 T * Wissemann-Garbe, Dr. Daniela (s. Heft 14/15): Hymnologische Nachweise, Redaktion
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-50350-4
205 Gott Vater, höre unsre Bitt
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205 Gott Vater, höre unsre Bitt Text
Verfasser Johann Bornschürer Quelle Geistliche Lieder zu Ubung Christlicher Gottseeligkeit, Meiningen 1676 Überschrift Tauflied. Mel.: In dich hab ich gehoffet, Herr Liturgische Einordnung Von dem Vierdten Hauptstück der heyligen Tauffe
Ausgabe FT IV,308 Strophenbau A8/4a A8/4a A7/3b- A8/4 x+x A7/3b- Frank 5.6 (‚Lindenschmidtstrophe‘ mit Binnenreim in Vers 4) Abweichungen 3,1 allerwerthster Geist Verbindung TM in der Q ohne N
Melodie
s. In dich hab ich gehoffet, Herr (EG 275) Literatur
HEKG (Nr.150) I/2, 255 f; III/1, 516; Sb, 239; HEG II, 51 * ThustB, 214 / Nf, 195; ThustL
I, 362 f ** KLL (1878–1886) I, 237; Schlunk (1951) 124 f
Der Thüringer Theologe und Liederdichter Johann Bornschürer ließ dieses Tauflied 1676, ein Jahr vor seinem Tod, als „Übung christlicher Gottseligkeit“ drucken. Es kleidet anlässlich einer Kindertaufe eine Vielzahl theologischer Topoi in ein diesem Kind (Str. 1) geltendes persönliches, deutlich lutherisch-orthodox geprägtes Bittgebet. Das ist kein Widerspruch – das Lied ist in seinem persönlichen Sprechgestus – höre unsre Bitt – zugleich ein Glaubenslied und als solches ein Andachtslied für eine Tauffamilie. Das vierstrophige Gebet fußt tauftheologisch konsequent auf dem sogenannten Missions- bzw. Taufbefehl Mt 28,18–20 und richtet in den ersten drei Strophen spezifische Bitten an die drei Personen der Heiligen Dreieinigkeit (Str. 4), auf deren Namen getauft wird. Die trinitarische Doxologie in Str. 4 entspricht der Liedtradition im 16. und 17. Jh. In der ersten Strophe wird Gott Vater um Segen und Gnade für den Täufling gebeten. Die Gnade besteht in der Zueignung der Gotteskindschaft und in der Wegnahme der Erbsünde (lass’s sein dein Kind, nimm weg sein Sünd, vgl. Apg 2,38; 22,16 in Verbindung mit der Taufe). Dass der Segen zuerst genannt wird (vgl. das sogenannte evangelium infantium Mk 10,13–16), macht das Lied an Erwartungen heutiger Tauffamilien anschlussfähig. Jedoch müssen Tauf- und Segenshandlung erlebbar differenziert werden, sonst steht der Taufsegen in Gefahr, als magischer Schutzzauber verstanden zu werden, der lediglich als Ritual zur Begrüßung neuen Lebens den Anlass zu einem Familienfest gibt. Nach evangelischem Taufverständnis ist es Gott, der in der Taufe handelt. Als Mitsterben mit Christus (Röm 6,2–3) reinigt das Taufbad (vgl. Tit 3,5; Offb 1,5) von der Erbsünde und überwindet die Trennung von Gott. Das hält die Strophe fest. Die zweite Strophe verbindet tauftheologischen und katechetischen Traditionsbestand. Die Bezeichnung Bad der Heilgen Tauf stammt aus Tit 3,5–8 und ist im Kleinen
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Kommentare zu den Liedern
Katechismus aufgenommen. Die Taufe ist Christus zugeordnet: Er ließ sich selbst taufen (Mk 1,9–11par.; Joh 1,32–34), befahl die Taufe (Mt 28,18–20) und bestätigte ihre Heilsrelevanz (Mk 16,16). Durch die Taufe werden wir Glied und Erbe Christi (gemäß Eph 3,6; vgl. Gal 4,7; Röm 8,16 f; 1. Kor 12,12 f ) und mit seinem Tod und seiner Auferstehung verbunden (Röm 6,8) – im Leben und im Sterben (vgl. Heidelberger Katechismus, Frage 1). Die dritte Strophe ist in der Herabrufung des Geistes eine Taufepiklese. Das Christusgeschehen ereignet sich durch den Heiligen Geist an uns und gibt uns bereits jetzt Anteil am Heil (vgl. Röm 5,5; 6,1–11; 8,1–11). Die Aufnahme in Gottes Bund durch die Taufe (vgl. Heidelberger Katechismus Frage 74) entspricht der Rede vom Glied und Erben Christi in Str. 2. Die Prädikation des Heiligen Geistes samt Vater und dem Sohn gepreist schließt an das Nicänum an. Lob, Ehr und Dank (vgl. Offb 7,12) in der 4. Strophe korrespondieren – bedingt durch das Versmaß wohl zufällig – in ihrer Dreizahl mit der Heiligen Dreieinigkeit. Die abschließende, kurze Formulierung ist theologisch weitreichend. Nicht weniger als die Nachfolge Jesu und die Einhaltung der Gebote ist mit Gib, dass dafür / wir dienen dir; / vor Sünden uns behüte gemeint. Was zum konkreten Kasus in Str. 1 für den Täufling erbeten wurde – nimm weg sein Sünd –, wird mit diesem Schlusssatz auf die Gemeinschaft der Getauften ausgeweitet. Der lebenslange Taufprozess steht in der Dialektik des „simul iustus et peccator“: in der Gefahr, wieder sündig zu werden, und deshalb auf Bewahrung vor Sünde angewiesen. Gerade in dieser „Widersprüchlichkeit“ mag sich das Tauflied mit den Vorstellungen von Tauf-Eltern und -Paten berühren. Viele haben weniger die Übereignung ihres Kindes an den dreieinigen Gott im Blick; sie erbitten vielmehr angesichts der Unverfügbarkeit des Lebens und der Ungewissheit der Zukunft Segen und Bewahrung durch Gott und begrüßen das Kind als Teil der Christenheit in ihrer Familie. Dass die Welt nicht das Paradies ist, wissen Eltern und Paten. Jedes Leben ist vom „Aspekt der Verfehlung der Bestimmung des Lebens“1 gekennzeichnet. Dass wir sündig werden können trotz unserer Taufe und trotz unseres In-Christus-Seins, gehört zu den Zumutungen des christlichen Lebens in der Spannung von „schon“ (präsentische Eschatologie) und „noch nicht“ bzw. „und noch mehr“ (futurische Eschatologie). Hier entlasten die starken Bilder vom Mit-Glied-Sein (im Sinne der Mitbürger und Hausgenossen Eph 2,17–19) und Erben (Str. 2), vom Segen (Str. 1) sowie vom Bund (Str. 3) und Gottes Güte (Str. 4) und helfen, die Kontingenz des Lebens zu bewältigen. Die Taufe hat wesensgemäß eschatologischen Charakter. Die Taufe eröffnet den Weg, der erst im Tod zu seiner Vollendung kommt, wie es in Str. 2 anklingt: Das Kind möge bei Christus allzeit sein / im Leben und im Sterben. Der Motivkosmos aus dem Kleinen Katechismus klingt bei Bornschürer deutlich nach. So verstanden erinnert das Lied Erziehungsberechtigte und Paten daran, dass christliche Erziehung und Glaubenspraxis auf einem lebenslangen Taufweg unabdingbar zum Getauftsein gehören.
Maximilian-Friedrich Schiek
1 Wilfried Härle, Dogmatik (3., überarbeitete Auflage), Berlin 2007, 477.
206 Liebster Jesu, wir sind hier, deinem Worte nachzuleben
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206 Liebster Jesu, wir sind hier, deinem Worte nachzuleben EG 206 RG 174 CG 736 Text
Verfasser Benjamin Schmolck Entstehung ab 1711 nachweisbar (vgl. Fußnote 3) Vorlagen Str. 1: Incipit identisch mit dem Lied Tobias Clausnitzers, 1663 (EG 161); Str. 2: Joh 3,5 Quelle [Haupttitel in Rot-SchwarzDruck:] Heilige Flammen Der Himmlisch gesinnten Seele (Benjamin Schmolck), Görlitz und Lauban 1711 / [nach 136 Seiten neues Titelblatt und nachfolgend neue Seitenzählung:] Benjamin Schmolkens Heilige Lieder=Flammen Der Himmlisch=gesinnten Seele, Görlitz 17111 Überschrift Gute Gedancken der Paten / welche mit einem Kinde zur Tauffe reisen Ausgabe Sämtliche Trost= und Geistreiche Schrifften (Benjamin Schmolck), Erster Teil, Tübingen 17382 Stro-
phenbau 7/4a 8/4b-, 7/4a 8/4b-, 8/4c- 8/4cvgl. Frank 6.23 Abweichungen 1,5 daß man sie zu Christo führe; nach 3: 4. Wasch es / JEsu / durch dein Blut; 5. Mache Licht aus Finsterniß; 4,4 Friedefürst schenck ihm den Friede * RG: 1,5 „Lasst die Kinder zu mir kommen!“; 1,6 und dein Arm sie aufgenommen; Str. 2 fehlt; 3,1 Darum kommen wir; 3,2 nimm dies Kind von; nach 4: 5. Höre, Jesu, dies Gebet; Str. 5 fehlt * CG: 1,5 „Lasst die Kinder zu mir kommen!“; 1,6 und sie alle aufgenommen; Str. 2 fehlt; 3,1 Darum kommen wir; 3,2 nimm dies Kind von; nach 4: 5. Höre, Jesu, dies Gebet; Str. 5 fehlt Verbindung TM in der Q ohne M, das Incipit legt die M von EG 161 nahe
Melodie
s. Liebster Jesu, wir sind hier (EG 161) Literatur
HEKG (Nr.151) I/2, 256–259; III/1, 516– 518; Sb 239; HEG I, 277 f ** ThustB, 214 / Nf, 196; ThustL I, 363 f ** KLL (1878–1886) II, 34 f; EEKM (1888–1895) I, 162; Nelle (31924/1962) Nr. 214; Schlunk (1951) 228; Bruppacher (1953) 237; RößlerL (22001) 672 ** NelleG 41962, 244 * Erb, Jörg: Dichter
und Sänger des Kirchenliedes, Bd IV: Verfasser von Liedern und Weisen des Kirchengesangbuchs aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges und des Pietismus, Lahr-Dinglingen 21986, 82 f * Güntli, Erich: Liebster Jesu wir sind hier – oder: Wie finden wir zum Einklang? in: NSK 1989/2, 31
Der der lutherischen Orthodoxie zuzurechnende Benjamin Schmolck veröffentlichte den Text des Liedes, anders als im EG angegeben, wahrscheinlich erst 1711 in Görlitz unter dem Titel „Gute Gedanken der Paten, welche mit einem Kind zur Taufe reisen“.3 1 Digitalisat Staatsbibliothek Berlin: https://t1p.de/uf7d (1.3.2021). 2 Digitalisat Bayerische Staatsbibliothek München: https://t1p.de/t0dx (1.3.2021). 3 In den vor 1711 erschienenen Auflagen der Liedersammlung „Heilige Flammen Der Himmlisch=gesinnten Seele / In mehr als hundert Neuen und andächtigen Liedern angezündet …“ ist das Lied nicht enthalten.
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Kommentare zu den Liedern
Schmolck war Pfarrer an der lutherischen Friedenskirche im Schweidnitz (heute: Świdnica), wohin die Evangelischen seit dem Westfälischen Frieden im rekatholisierten Schlesien aus weitem Umkreis und lange Wege in Kauf nehmend zum Gottesdienst und also auch zu Taufen zusammenkamen. Das Lied sollte unterwegs zur Einstimmung der Paten auf das ihnen von der Kirche verliehene geistliche Amt dienen.4 Das Incipit lehnt sich bewusst an das 1663 von Tobias Clausnitzer geschriebene Eingangslied Liebster Jesu, wir sind hier, dich und dein Wort anzuhören an. Damit war auch die beliebte Melodie Johann Rudolf Ahles sofort präsent. Das Lied ist ein an Jesus gerichtetes Gebet. Es ruft in Str. 1 und 2 zunächst biblische Taufbezüge in Erinnerung, Str. 3 bis 5 sind eine Fürbitte für den Täufling. Zu zwei weiteren ursprünglichen Strophen s. u. Strophe 1 verbindet die aktuelle Taufsituation zwar mit der Weisung Jesu Mt 28,18– 20, weil du den Befehl gegeben, rekurriert aber inhaltlich nicht auf den Tauf-„Befehl“, sondern auf das so genannte Kinderevangelium Mk 10,13–16, das in lutherischen Taufgottesdiensten zu den klassischen Lesungen zählt. In der Haltung des Kindes, das alles empfängt, was es zum Leben braucht, in seinem Glauben also, ist gleichwohl bereits ein aktives Moment präsent,5 das in der Wendung dieses Kindlein kommt zu dir zum Ausdruck kommt: Der Täufling wird nicht passiv gebracht, sondern kommt als Kindlein selbst. Das Motiv denn das Himmelreich ist ihre bildet den Übergang zur 2. Strophe. In Str. 2 unterstreicht Schmolck die Heilsnotwendigkeit der Taufe mit dem Zitat aus Joh 3,5, das in seinem ersten Satzteil fast wörtlich aus der Lutherbibel übernommen, im zweiten Teil durch wenige Redundanzen erweitert ist. Die Vokalgleichklänge es schallet allermeist / dieses Wort in unsern Ohren schaffen Nachdruck. Damit ruft Schmolck ein zentrales Element lutherischer Tauftheologie auf: Während die physische Geburt in die unter der Macht der Erbsünde stehende Welt den Tod unausweichlich macht, ist die Taufe am Anfang des irdischen Lebens die geistliche Geburt – neu geboren. Str. 3 geht von der biblischen Erinnerung zur Fürbitte über. Die Tauffamilie erklärt die Dringlichkeit der Taufe – Darum eilen wir zu dir – und gibt das Kind mit nimm das Pfand von unsern Armen Gott zurück, das sie – als Pfand – geliehen bekommen hat. Die Hingabe des Täuflings an Gott in der Taufe und seine Annahme durch ihn ist eine Adoptionshandlung und wird als Ereignis der Gotteskindschaft ausgedrückt: dass es dein Kind hier auf Erden / und im Himmel möge werden. Gottes Offenbarung – tritt mit deinem Glanz herfür – ist ein Heilsgeschehen „extra nos“ und „pro nobis“: und erzeige dein Erbarmen. Im Original folgen nun zwei weitere Strophen, die in weiteren Bitten in einer unseren Ohren fremd gewordenen barocken Motivfülle die Abwaschung der Erbsünde durch Jesu Opfertod am Kreuz, seine Passion und die Taufe engstens verbindend lutherisch 4 Unter der Überschrift „Gute Gedancken der Paten / welche nach der Tauffe nach Hause reisen“ stand mit Nun Gott Lob, es ist vollbracht und der Bund mit Gott geschlossen ein Lied zur Beschäftigung während der Rückreise vom Taufgottesdienst zur Verfügung. 5 Für Luther galt die promissio auch den Kindern. Es bestand daher kein Widerspruch zwischen Kindertaufe und Mk 16,16, vgl. Dorothea Wendebourg, Art. Taufe und Abendmahl, in: Lutherhandbuch, hg. von Albrecht Beutel, Tübingen 2005, (414–423) 417.
206 Liebster Jesu, wir sind hier, deinem Worte nachzuleben
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orthodoxe Tauftheologie entfalten und mit einer Anspielung auf die Heilung des Naaman im Jordan (2. Kön 5,1–14) enden: 4. Wasch es / Jesu / durch dein Blut, / Von dem angeerbten Flecken; / Laß es bald nach dieser Fluth / deinen Purpur=Mantel decken; / Schenck ihm deiner Unschuld Seide / Daß es sich in dich verkleide.
5. Mache Licht aus Finsterniß / Sez es aus dem Zorn zur Gnade / Heil den tiefen Schlangen=Biß / Durch die Krafft im Wunderbade. Laß hier einen Jordan rinnen / So vergeht der Aussaz drinnen.
Str. 4 fällt als einzige im Lied aus dem „Du-Wir-Schema“ der übrigen Strophen heraus und ist zugleich die kunstreichste, indem sie mit großem Geschick biblische HeilandsMetaphern, vorwiegend aus dem Johannesevangelium, Fürbitte der Familie und Passivität des Täufling miteinander verbindet: Hirt – Schäflein (vgl. Joh 10,11–16); Haupt – Glied (vgl. Kol 1,18; Eph 1,22); Himmelsweg – Bahn (vgl. Joh 14,6); Friedefürst – Friede (vgl. Jes 9,5; Eph 2,14); Weinstock – Rebe (vgl. Joh 15,5). Str. 5 setzt sprachlich neu ein und endet mit Gleichklang und markanten Doppelungen: … legen an dein Herz / was vom Herzen ist gegangen … schreib ins Lebensbuch zum Leben. Das Nun zu Beginn der Strophe signalisiert, dass mit ihr die gesungene Fürbitte zum Abschluss kommt. Das biblische Zeugnis der ersten Strophe wird aufgenommen: Nun wir legen an dein Herz korreliert mit Und er herzte sie und legte die Hände auf sie des Kinderevangeliums (Mk 10,16). Führ die Seufzer himmelwärts und erfülle das Verlangen fasst mit einem Anklang an Röm 8,26 f die Fürbitten zusammen. Auch die letzte Zeile knüpft im eschatologischen Sinn nochmals an die letzte Zeile der ersten Strophe an: Der Name des Kindes, der bei der Taufe genannt wird, soll ins Lebensbuch zum Leben geschrieben sein (vgl. Lk 10,20b; Ps 69,29; Phil 4,3; Offb 13,8; 17,8). In warmherzigem Ton, der sich ganz aus der erwünschten Heilsbeziehung Christi zum Täufling ergibt, werden die Gefühle der Tauffamilie gegenüber dem Täufling stimmig aufgenommen und kommen persönlicher Glaube ebenso wie das gemeinsame Wir der Gemeinde als Glaubensfamilie treffend zur Sprache. Die biblische Botschaft des Liedes kann ebenso wie die starken Fürbitten in der Taufvorbereitung oder bei Tauferinnerungen – auch in einer Liedpredigt – thematisiert werden. Das Lied kann in gemeindlichen und eigenständigen Taufgottesdiensten als Antwort auf die Lesung des Kinderevangeliums und, seiner originalen Bestimmung nahe, im Zusammenhang der Taufverkündigung gesungen werden. Auch könnte die Taufhandlung durch die Strophengruppen 1–3 und 4–5 – diese als Tauffürbitte – gerahmt werden. Bei der Verwendung im Gottesdienst kann weiterhin der (historische) Zusammenklang mit Liebster Jesu, wir sind hier, dich und dein Wort anzuhören (EG 161) und Unsern Ausgang segne Gott (EG 163) berücksichtigt werden. Als zeitgemäße Ergänzung bieten sich moderne Tauflieder an, in denen oft von der Verbindung von Himmel und Erde die Rede ist oder die Fürbitte für den Täufling im Vordergrund steht.6
Maximilian-Friedrich Schiek
6 Z. B. Das Wasser der Erde in: Wo wir dich loben, wachsen neue Lieder plus (Stuttgart 22019), Nr. 115, oder Wasser des Lebens, a. a. O., Nr. 209.
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Kommentare zu den Liedern
254 Wir wolln uns gerne wagen EG 254 RG 811 (T) EM 557 Text
Verfasser Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf Entstehung Kompilation Vorlagen (a, Str. 2–4) Graf Ludwigs von Zinzendorff Teutscher Gedichte Erster Theil, Herrnhut 1735: Strophe 2–4 = Strophen 10, 11, 13 des 13-strophigen Liedes Errettet werden wollen (Auff Herr Krügelsteins, Medici in Herrnhuth, Verehligung mit der Anna Goldin aus Mähren, vgl. Geistliche Gedichte des Grafen von Zinzendorf; 1733; hg. Albert Knapp, Stuttgart 1845) * (b, Str. 1) Ein kleines Gesang-Büchlein, zum Gebrauch der Pilger, Frankfurt am Main 1736: Str. 1 = Str. 3 des Liedes Du blutverwandte Liebe (zum Geburtstag der Gräfin Theodora Reuß) Quelle Gesangbuch zum Gebrauch der evangelischen Brüdergemeinen, Barby 17781 (Kompilation aus zwei Liedern, vgl. Vorlagen a und b) Überschrift 1328. Mel. 209 Strophenbau A7/3a- A5/2a- A7/3a- A4/2b A7/3a- A4/2b
A7/3a- A5/2a- A7/3a- A4/2b Abweichungen Strophenreihenfolge im Vergleich zum EG: Strn. 2, 3, 1 und 4 (Incipit: Die Liebe wird uns leiten); 2,6 sei?; 2,9 von unsern Seligkeiten; 3,2 wir solln; 3,5 am Stamm beklieben; 4,1 Gespielen, seyd zufrieden; 4,2 Wir gehn in Glieden; 4,3 die Last, die uns; 4,4 hat ihr Gewicht; 4,5 das Joch ist einem jeden; 4,7 geht, laßt das Fleisch hienieden; 4,8 zu Tod ermüden; 4,9 so wird sein Gift versieden; 4,10 so sterbt ihr nicht * RG u. EM: 2,7 Sie wird in diesen Zeiten; 2,8 uns zubereiten; 2,9 für unsre; ohne Strophe 3 Verbindung TM in der Q ohne N, aber mit Nummer, die im Melodienregister als Errettet werden wollen = Z IV,7496 (vgl. Vorlage a) identifiziert wird2 * weitere neben den beiden des EG: Erich Prüfer (1931) in: Ein neues Lied (Otto Riethmüller), Berlin [1932] 21933; Pierre Pidoux (1946) in: RKG (1952) 195 / RG 811
Erste Melodie
Incipit 1_ 1_.234 5_ 3_ Verfasser Manfred Schlenker Entstehung 1986 Quelle EG (im Vorentwurf zum EG, 1988 Nr. 250) Besonderes Die Melodie greift in der ersten Zeile auf die zu Errettet werden wollen (s. o. Text / Vorlage
und Verbindung TM) zurück Ambitus G: 11; Z (10 Verse): 5645565644 Abweichungen RG: M von Pierre Pidoux (s. o. Verbindung TM); EM: nur 2. Mel.
Zweite Melodie
Incipit 1 321–6 -5_-6 Verfasser Gustav Pezold Entstehung s. Kommentar Quelle Gesangbuch für die evangelische Kirche in Württemberg, Stuttgart 1912 Ambitus G: 8; Z (10 Verse): 6354645464 Abweichungen RG: Mel. von Pierre Pidoux (s. o. Verbindung TM); EM:
mit 4st. Satz (Karl Layer 1967) Verbindung MT niederländisch (Voorwaar, het ist te wagen) und tschechisch (Chcem do díla se dáti) im Gesangbuch der Evangelischen Brüdergemeine, 2007
1 Digitalisat Bayerische Staatsbibliothek München: https://t1p.de/gmbl (1.3.2021). 2 Zu Beginn des Registers wird auf ein unbestimmtes „in den Brüdergemeinen gebräuchliches Choralbuch“ verwiesen.
254 Wir wolln uns gerne wagen
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Literatur
HEG II, 241 f.275 f.358–360 ** ThustB, 242 f / Nf, 222; ThustL I, 446–448 ** Bruppacher (1953) 351 f; Meyer (21997) 237 f.245 f ** Gesangbuch-Informationen, Der Kirchenchor
48 (1988) 55–57 * Lippold, Ernst: Wir wolln uns gerne wagen, in: Möller 1997, 145–152 * Marti, Andreas: Wir wolln uns gerne wagen, MGD 67 (2013), 205–209
Das Lied stammt aus den frühen Jahren der Herrnhuter Brüdergemeine. Ihr Gründer Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) hatte die erste Strophe 1736 anlässlich des Geburtstages der Gräfin Theodora Reuß und die Strophen 2–4 ursprünglich für eine Hochzeit im Jahr 1733 gedichtet. Diese Strophen wurden im vorliegenden Lied kombiniert und umgeformt auf die Gemeinschaft übertragen, indem u. a. die ursprüngliche Anrede an das Brautpaar durch das inkludierende „Wir“ der Gemeinde ersetzt wird. Die pietistische Gemeinschaft um Zinzendorf stand von Beginn an für ein tätiges Christentum, das die landeskirchlichen Strukturen durch persönlichen Einsatz aller Glieder erneuern wollte. Der Text von Wir wolln uns gerne wagen atmet im Rückgriff auf biblische Motive ganz diesen Geist des Aufbruchs und der Erneuerung. In den vier zehnzeiligen Strophen des nun ausdrücklichen Wir-Liedes wird das Herrnhuter Modell zum Gemeindeaufbau ausgeführt. Es integriert individuelle Frömmigkeit in kirchliche Gemeinschaft, indem es die Dynamik eines persönlichen Engagements als Bereicherung des Gemeindelebens betont. Zinzendorf nutzt den strophischen Aufbau, um diesen Gedanken zu entwickeln: Str. 1 von der Ruhe zur Arbeit, Str. 2 von der Liebe (das meint Jesus) geleitet auf dem Weg zu den verheißenen Seligkeiten, Str. 3 vom christlichen Individuum zur Gemeinde Christi, Str. 4 vom diesseitigen zum jenseitigen Leben in der stetigen Gemeinschaft mit Jesus. Die erste Strophe beginnt programmatisch mit einer energischen Selbstaufforderung der Singenden: Wir wolln uns gerne wagen. Als Geburtstagsgedicht entstanden, begegnet diese Strophe bereits 1736 gedruckt in Zinzendorfs Pilgergesangbuch (s. Hymnologischer Nachweis Vorlage b), allerdings dort als dritte Strophe des Liedes Du blutverwandte Liebe. Als Eingangsstrophe des neuen Liedes will sie zum gemeinsamen Aufbruch in die aktive Nachfolge Jesu rufen. Der untätigen Ruhe einer schlafenden Christenheit in unsern Tagen wird die Frage nach vorhandener Arbeit entgegengestellt. Anstatt an den von Christus auferlegten Aufgaben, dem Amt, zu verzagen, sind die Singenden bereit, sich fröhlich [zu] plagen und sich um ein tätiges Christenleben zu bemühen. Plastisch wird dieses Plagen im biblischen Bild des Hausbaus (vgl. 1. Kor. 3,9 ff; Mt 7,24 ff; Ps 118,22 f; Eph 2,19 ff ): man will die Steine tragen auf ’s Baugerüst, um aktiv am Bau der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen mitzuwirken. Diese Intention des Aufbruchs motivierter Christenmenschen in der ersten Strophe macht das Lied gerade heute in der Situation der Kirchen in Deutschland im Blick auf Konzeptionen des Gemeindeaufbaus aktuell. Wer im landeskirchlichen Kontext würde sich nicht eine solche Belebung des Gemeindelebens und der Gottesdienste durch motivierte, persönlich engagierte, dynamische und innovative Gemeindeglieder wünschen? Mit dem Begriff Amt (1,6) wird konkret die Frage nach der kirchenpraktischen Bedeutung des reformatorischen Grundgedankens vom „Priestertum aller Gläubigen“ gestellt. Während sich im landeskirchlichen Rah-
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Kommentare zu den Liedern
men damals wie heute die meisten gemeindlichen Funktionen im Wesentlichen auf das Pfarramt konzentrieren, haben sich in der Herrnhuter Brüdergemeine von Beginn an vielfältige seelsorgerliche, liturgische, diakonische und gemeindepädagogische „Ämter“ funktional ausdifferenziert, die sich bis in die Gegenwart für eine lebendige Gemeinschaft als tragend und fruchtbar erweisen. So verteilen sich Pflichten und Verantwortung auf viele Schultern: jede / r baut an der Gemeinschaft der Kirche mit (1,9 f ). In Strophe 2 benennen die Singenden den Orientierungspunkt, den Leitstern ihres Weges, den sie mit freudiger Arbeit engagiert zurücklegen wollen: Die Liebe wird uns leiten. Hier beschreibt Zinzendorf in Anknüpfung an die johanneische Theologie Jesus Christus als die Liebe (vgl. 1. Joh 4,16). Voller Zuversicht legen die Singenden ihr Schicksal in seine Hand, denn er wird sie nicht nur leiten und ihren Weg bereiten, sondern sogar mit den Augen deuten (vgl. unten zum Brauch des Losens), ob sie streiten (d. h. für die Sache Jesu eintreten, vgl. 2. Tim 2,3) oder Rasttag (Ruhetag mit Andacht, Gebet, Kontemplation) halten sollen. Man kann diese Zeilen allgemein als Wegweisung Christi für die Gemeinde interpretieren: Der Herr führt die Gemeinde wie schon das Volk Israel seit Abraham und Mose auf ihrem Weg durch die Zeit im Spannungsfeld von Tätigkeit und Ausruhen, von Aktion und Kontemplation. Die spezifische Bedeutung der von der Brüdergemeine geprägten Begriffe ist jedoch ohne einen Blick auf den historischen Hintergrund des Liedes nicht angemessen zu verstehen. Besonders die Strophen 2 und 3 sind geprägt vom theologischen Kontext und der Begrifflichkeit der Herrnhuter Brüdergemeine um Zinzendorf im 18. Jh. Die Gemeinschaft betrachtete Jesus Christus als ihren Herrn und Entscheidungsträger. In diesem Rahmen hatte die Gemeine den Brauch des Losens: Man legte wichtige Fragen dem Herrn Jesus zur Entscheidung vor. Das praktizierte man, indem drei Lose beschriftet wurden: Ja, Nein, Unentschieden. Sollte eine wichtige Frage des Gemeindelebens entschieden werden, wurde aus diesen drei Losen eines gezogen, das den Willen Jesu kundgab. Loste man „Unentschieden“, wurde die Frage bei der nächsten Zusammenkunft erneut zum Losen vorgelegt. Auf diese Lospraxis bezieht sich die Wendung mit den Augen deuten (2,3; vgl. Ps 32,8). Die Gemeindeglieder selbst betrachteten sich ausdrücklich als Streiter (2,5) für Christus und meinten damit insbesondere ihre missionarischen Aktivitäten sowohl in fernen Ländern als auch in der eigenen Region. Am Rasttag feierte die Gemeine teils in Gruppen teils als Gesamtheit den ganzen Tag lang Gottesdienst. Im Herrnhuter Gemeindemodell spielt der doppelte Sendungsauftrag dieses Streitertums eine zentrale Rolle: den Glauben an die frohe Botschaft Jesu Christi in der Verkündigung des Evangeliums wecken und zugleich mit der eigenen Person in der Nachfolge Jesu den Vorbildcharakter christlicher Existenz verwirklichen. Das Ziel dieses arbeitsreichen und oft mühevollen Weges ist schon in Sicht, wenngleich noch weit entfernt: die verheißnen Seligkeiten (2,9). Hinter diesem Begriff steht die eschatologische Gewissheit einer zukünftigen himmlischen Gemeinschaft mit dem auferstandenen Herrn. Dieses Ziel vor Augen schließt Strophe 2 mit der Ermutigung für die Gemeinde nur treu, nur treu! (vgl. 1. Sam 12,24; 1. Kor 4,2), während es im ursprünglichen Text „geliebte Zwei“ hieß, weil nur das Brautpaar angesprochen war. Strophe 3 beginnt mit einem konstatierenden Wir sind, das sofort in ein aufforderndes wir wolln mündet. Diese Konstellation wird dann mit Wir sind (3,5) und Drum gilt’s (3,7) wiederholt. In der gesamten dritten Strophe geht es um die Gemeinschaft
254 Wir wolln uns gerne wagen
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der Gläubigen als Überbietung des frommen Individuums. Hier kommt der Wir-Charakter des Liedes besonders zum Tragen. Wir, die Singenden, sind nicht einsam, sondern am Stamm der Kreuzgemein geblieben. Wiederum mit bildhaften Worten der Brüdergemeine des 18. Jh. ist hier das gemeinsame Festhalten am „Stamm des Kreuzes“ beschrieben. Das Kreuz als zentrales Element des Passionsgeschehens und dann Symbol des christlichen Glaubens vereinigt die frommen Individuen zu einer Gemeinschaft von Geschwistern um ihren gekreuzigten Herrn und Bruder. Praktische Konsequenzen einer solchen Gemeine sind nach biblischem Vorbild die tätige Nächstenliebe sowie das Teilen von Leid und Last: gemeinsam lieben, sich mit betrüben und unsere Lasten schieben. Die abschießende Strophe 4 führt das arbeitsame Vorwärtsstreben und den auffordernden Charakter der Strophen 1–3 nicht nahtlos weiter. Vielmehr lädt die Schlussstrophe zunächst zum bilanzierenden Verweilen ein. Die Singenden sind dem Corpus Christi einverleibt, so sind sie nicht nur bei ihm, sondern auch in ihm – und damit sind sie in ihrem (gegenwärtigen) Leben zufrieden. Auf die in Str. 3,9 f erwähnten Lasten Christi wird in der vierten Strophe genauer eingegangen. Im irdischen Leben hinieden tragen die Singenden eine von ihrem Herrn auferlegte Last (vgl. Gal 6,2–5). Obwohl deren Gewicht nicht leicht ist, wird den einzelnen Gläubigen nicht zu viel aufgebürdet. Jede / r bekommt nur so viel zugemutet, wie er / sie verkraften kann. Das wird im Bild des Jochs ausgedrückt: Die Größe der Last ist auf die Kräfte der Einzelnen eingericht (vgl. Ps 68,20; Mt 11,29 f ). Wenngleich alle ihre individuelle Last zu tragen haben, tragen sie diese immer in der Gemeinschaft mit den anderen Christen, in der Kirche. Deshalb bleibt das Lied auch an dieser Stelle ausdrücklich Wir-Lied der Gemein(d)e. Die Lasten des irdischen Lebens lassen den Leib ermüden (4,7), doch ist das für die Singenden in Christus kein Grund zur Hoffnungslosigkeit. Wie sie im Leben in und bei ihrem Heiland zufrieden sind und sich für ihn fröhlich plagen (1,8), so scheiden sie im Frieden aus diesem Leben (vgl. Joh 14,27.33). Die Singenden gehen mit der Gewissheit, bleibend in ihrem Herrn zu sein: von Jesus ungeschieden. In diesem Sinne sterben sie nicht, sondern der Tod wird ihnen zum Übergang in ein neues Leben mit ihrem Herrn Jesus Christus (2,9; vgl. Joh 11,25 f; Röm 14,8). Die Mitglieder der Herrnhuter Brüdergemeine bezeichnen das Sterben daher als „Heimgehen“. So steht die Hoffnung auf solch ein neues Leben in Christus immer als Ziel vor Augen. Dennoch wird das aktive Leben als Christ in der Nachfolge Jesu durch diese Zukunftshoffnung nicht gehemmt, sondern vielmehr befördert: Wer sich der Liebe Christi mit der Verheißung eines neuen erfüllten Lebens gewiss ist, für den wird die Arbeit am Reich Gottes im Hier und Jetzt zum „fröhlichen Plagen“, an das man sich gerne wagt.
Nicole Schatull
Vielleicht ist der zehnzeilige, singulär kunstvolle Strophenbau mit seinem dreifachen und gar siebenfachen Reim der Grund dafür, dass sich keine Melodie selbstverständlich und fortdauernd mit dem Text verbunden hat; die Melodisten fühlen sich immer wieder herausgefordert, formgerechte Lösungen zu suchen. Das geschieht häufig bei diesem Zinzendorf-Text im Vorfeld von neuen Gesangbuch-Ausgaben. Dekan Gustav Pezold, rühriger Organisator des Evangelischen Kirchengesangvereins und Mitglied der
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Kommentare zu den Liedern
württembergischen Gesangbuch- und Choralbuchkommission, brachte im Amtlichen Entwurf 1911 zum „Gesangbuch für die evangelische Kirche in Württemberg“ von 1912 seine eigene Melodie ein, allerdings noch mit dem bescheidenen Vermerk versehen: „Nicht für den Gesang der Gemeinde im Gottesdienst bestimmt.“ Diese Melodie aber hat sich eingesungen: Sie wurde als Zweitmelodie in das „Gesangbuch der Evangelischen Brüdergemeine“ von 1927 aufgenommen und rückte in der Ausgabe 1967 in den Rang der alleinigen Eigenmelodie. Ebenfalls hat sie den Weg in die freikirchlichen Gemeindelieder von 19783 gefunden – nun im EG als „Zweite Melodie“. Für Riethmüllers Jugendliederbuch „Ein neues Lied“ von 1932 steuerte Erich Prüfer 1931 eine dorische Melodie in Art des wiederentdeckten reformatorischen Singstils bei. Für das „Gesangbuch der Evangelisch-reformierten Kirche der deutschsprachigen Schweiz“ von 1952 verfasste Pierre Pidoux, reformierter Theologe und Erforscher des Genfer Psalters, eine neue, nun rhythmisch bewegte Dur-Melodie – heute in RG 811. Und schließlich schrieb 1986 Manfred Schlenker, Komponist und Landeskirchenmusikdirektor in Greifswald, zum Vorentwurf des EG von 1988 eine weitere Melodie – nun im EG als „Erste Melodie“. Ein poetisch artifizieller Text wie der vorliegende ruft offenbar unterschiedliche Melodiebildungen hervor und lässt sie durchaus mit Recht nebeneinander bestehen. Zur älteren Melodie: Pezold entnimmt die Großgliederung für seine Vertonung der poetischen Grundstruktur: Das dreimalige männlich betonte Reimwort empfindet er als Abschluss eines Formabschnitts, und er unterstreicht diesen Abschluss musikalisch durch ein konsequent eingesetztes, viergliedriges Tonleitersegment, ein absteigendes Tetrachord. So ergibt sich eine symmetrische Dreiteilung: zu Anfang (Z. 1–4) und Schluss (Z. 7–10) zwei längere Melodie-Perioden, getrennt oder verbunden durch eine kurze Periode in der Mitte (Z. 5/6). Pezolds Gestaltung der einzelnen Formteile entspricht einer spätromantischen „unendlichen Melodie“: ohne Haltepunkte, sofern nicht der durchgängig beibehaltene Vier-Viertel-Takt Dehnungen erfordert, ohne rational strukturierte Motivik, mit Ausnahme der drei Schlussbildungen. Die erste Periode lässt mit Zeile 1 den freundlichen Wechsel von Sekundschritten und Terzsprüngen anklingen, der den ganzen Verlauf bestimmt, und fundiert die Melodie in der Unterquart d’. Zeile 2 tritt engräumig auf der Stelle, ohne irgendwie auszubrechen: eine Kreisfigur vom und zum Leitton fis’, der in Zeile 1 in der pentatonisch angelegten Figur ausgespart blieb; und der Komponist lässt sich nicht auf die durch die sprachliche Metrik vorgegebene Kurzzeile ein, sondern dehnt sie mittels halber Noten auf die Normallänge der übrigen Verszeilen. Zeile 3 gewinnt in ähnlichem Ablauf wie Zeile 1 die IV. Stufe, den oberen Ton c’’ hinzu und bringt das Melodiegefälle in eine solche Ausgangslage, dass Zeile 4, wiederum gedehnt, als Schluss-Tetrachord vom Grundton g’ zur Unterquart d’ das erste der drei männlich betonten Reimworte erreicht. Diese Unterquart wird jetzt offensichtlich als Halbschluss in der Dominante empfunden. – Der schlanken Mittelperiode bleibt nicht viel Zeit zur Entfaltung. Zeile 5 durchläuft den bisherigen Tonraum in angedeuteter Gegenbewegung zu Zeile 1 und katapultiert das Schluss-Tetrachord Zeile 6 auf den Spitzenton d’’ von dem aus es die instabile II. Stufe, den Ton a’ erreicht: kein in sich ruhen 3 Gemeindelieder. Hg. im Auftrag des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland, Wuppertal 1978.
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der Abschluss, vielmehr eine Art Doppelpunkt, der auf den nächsten Melodieabschnitt aufmerksam macht. – Die dritte Periode scheint von rückwärts her die erste Periode nachzuzeichnen und auf diese Weise die Strophenform wohltuend abzurunden. Zeile 7 kann als Variation von Zeile 3 gelten. Zeile 8 mit dem eigensinnigen Beharren auf dem Leitton fis ist identisch mit Zeile 2, nur schwach kaschiert durch den tonmalerisch bedingten Juchzer „fröhlich“. Zeile 9 entspricht Zeile 1, abgesehen von dem gefühlsbetont ausgreifenden Sextsprung als Auftakt und dem doppelten, eine Septime summierenden Quartsprung, der das letzte Schluss-Tetrachord Zeile10 in die richtige Position setzt: Der Melodieverlauf kann nun (im Gegensatz zu Zeile 4 Dominante und Zeile 6 II. Stufe) zum endgültigen Abschluss auf dem Grundton kommen. Eine wohlklingende, gegen Ende sich emotional steigernde, im Ganzen aber nicht leicht merkfähige Melodie. Die jüngere Melodie wirkt ungleich moderner, einleuchtender, mitreißender. Der Komponist Schlenker übernimmt dieselbe Grundgliederung der Dreiteilung, füllt sie aber im Geist einer „motivisch strukturierten Melodie“. Er strafft das rhythmische Material und beschreibt das so: „Die Melodie versucht, den inneren Antrieb des Textes durch den häufigen Wechsel von kurzen Zweier- und Dreiertakten auszudrücken,“4 die Kurzzeilen werden also gerade nicht auf ein einheitliches Längenmaß gebracht wie bei Pezold, sondern zur immanenten Dynamik genutzt. Auch das rationalisierte melodische Material denkt Schlenker textauslegend und formuliert weiter: „den aufrufenden Charakter [versucht die Melodie] hingegen durch aufsteigende Tonleitern im Quintraum und durch aufwärts gebrochene Dreiklänge [auszudrücken …] Natürlich positives Dur; […] lebhafter Wechsel zwischen aktivierenden Achteln und befestigenden Vierteln.“5 Das erste Motiv, also das nach oben gerichtete Tonleitersegment, wobei der Anschub jeweils durch ein punktiertes Viertel aufgestaut und somit intensiviert wird (T. 1) ist eindeutig von der ursprünglich im Brüdergesangbuch 1778 angegebenen Melodie inspiriert.6 Ein zweites Motiv, das Wechselspiel zwischen abwärts gebrochenem Tonika-Dreiklang und aufwärts gerichtetem Subdominant-Dreiklang (T. 2/3), ist Schlenkers Idee. Aus diesen beiden, stets in der gleichen Weise einander zugeordneten Motiven setzt sich die Gesamtmelodie als rational geordnetes Puzzle zusammen. Erster Teil: Zeile 1 und 2 exponieren die Motive in ihrer Grundgestalt; Zeile 3 und 4 variieren sie jeweils gegen Ende, damit der Teilschluss auf der Unterquart als Dominante erreicht wird. Das kurze Zeilenpaar als zweiter Teil: In Zeile 5 und 6 erklingen die beiden Motive aus Zeile 1 und 2 in die untere Lage der Dominante versetzt. Dritter Teil: eine notengetreue Reprise des ersten Teils bis auf den Schlusston, der nicht zur Dominante abfällt, sondern zur Tonika in den Grundton zurückführt. Eine schwungvolle Melodieführung, die Intentionen des Textes umsetzend, eingängig und behältlich wie ein Ohrwurm, jedoch ein wenig durch die gehäufte Wiederholung des musikalischen Grundmaterials beeinträchtigt, besonders wenn alle 4 Strophen am Stück nacheinander gesungen werden. 4 Manfred Schlenker in: Meyer (21997), 237 f. 5 Ebd. 6 Vgl. den Hymnologischen Nachweis Verbindung TM.
Martin Rössler
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Kommentare zu den Liedern
260 Gleichwie mich mein Vater gesandt hat EG 260ö KG 511ö EM 553ö Text
Verfasser / Entstehung s. Melodie Vorlage Joh 20,21; Lk 4,18; Jes 61,1 f Quellen s. Melodie Überschrift (a) III Johannes 20,21/Lukas 4,18 Strophenbau eingerichteter Bibeltext Ab-
weichungen (b) Str. 1+2: Die Schlusszeilen der Strophen (jeweils ab und ich sende euch …) sind in der Quelle nicht vorhanden. * Verbindung TM wie EG
Melodie
Incipit 321-5 -61_23_3_ Verfasser Paul Ernst Ruppel Entstehung zum landeskirchlichen Jugendtag in Neuß 1962 Quellen (a) 940. Vier Gesänge für einen Gottesdienst, NeukirchenVluyn [1963] (Bundesgaben des Christlichen Sängerbundes 1963) Nr. III * (b) Neue geistliche Lieder (Oskar Gottlieb Blarr / Christine Heuser / Uwe Seidel, Hg.), Regensburg 1967 Tonalität Pentatonik (g a h d e) Ambitus G: 10b;
Z: Kehrvers: 67b(67b) Str.: 7b7b Abweichungen (a) mit dreitaktigem Vorspiel und Klavierbegleitung * (a+b): Kehrvers, Z. 2, N 5 und Str, Z. 1+3, N 7 mit Betonungszeichen * (b) mit Akkordbezeichnungen * EM: mit Begleitsatz (Paul Ernst Ruppel 1975/2000) Verbindung MT (a) wie EG * (b) wie EG * 12-strophige Fassung (C. Fasbender / W. Offele), in: K. Linke (Hg.), Jubelt nicht unbedacht, Essen 1969
Literatur
HEG II, 266–268 mit Ergänzungen von Wolfgang Herbst in JLH 47 (2008) 203 ** WGL1 VII, 257 f; RGL1, 777; ThustB, 245/Nf, 225; ThustL I, 456 f ** Meyer (21997) 229; RößlerL (22001) 989 ** Thust 1976, 791 ** Corbach, Dieter: Nicht entlassen, sondern gesandt. Das neue Lied im RU, Zeitschrift für Religions-
pädagogik 33 (1978) H. 2, 62 f * Giering, Achim: Sendung – Neue Singformen. Text und Melodie EG 260, Der Chorleiter 47 (1994) 417–419 * Seibt, Ilsabe / Evang, Martin: Monatslieder. Liturgische Anregungen für das Kirchenjahr 2012/13, Thema: Gd 37 (2013) 48 f
Der Gesang verbindet zwei Bibeltexte, von denen aus weitere Texte assoziiert werden können. Das Sendungswort Jesu aus dem Johannesevangelium (Joh 20,21) bildet eine Art Antiphon, als Kanon ausführbar. Danach wird die im Johannesevangelium lediglich summarisch genannte Sendung in einem zweiten, rezitationsartigen Teil konkretisiert. Diese Konkretisierung stammt aus Jesu Synagogenpredigt, von der das Lukasevangelium erzählt (Lk 4,17–19): Der Geist des Herrn ist bei mir, darum weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie los sein sollen, und den Blinden, dass sie sehend werden, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn. Jesus zitiert dort bekanntlich ein Wort aus dem dritten Teil des Jesajabuches (Jes 61,1–2) und bezieht das Gnadenjahr auf den Beginn seines Auftretens, die Befreiung und Heilung auf den An-
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260 Gleichwie mich mein Vater gesandt hat
bruch der neuen, der messianischen Zeit. Ähnlich und noch konzentrierter formuliert dies das Matthäusevangelium in anderem Zusammenhang: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt (Mt 11,5). Diese Heilungs- und Befreiungserfahrungen erscheinen in den Evangelien nicht nur als individuelle Erfahrungen, sondern sie sind Zeichen für Gottes Eingreifen in die Welt, für den Anbruch des Gottesreiches. Diese Dimension muss bei unserem Lied mitbedacht werden. Seine Entstehung Anfang der 1960er Jahre fällt in die Zeit der ökumenischen und politischen Aufbrüche, in der die weltweite Dimension des Glaubens verstärkt in den Blick rückte. In dem Satz dass sie frei sein sollen kann sehr wohl die Befreiungstheologie anklingen, und bei den Zerschlagenen müssen wir auch an die in brutalen politischen Systemen Gefolterten denken. Formal steht das Stück auf der Grenze zur eigentlichen Liedform; eine reguläre Versund Strophenform liegt nicht vor, ebenso wenig ein Reim. Im Grunde ist es rhythmisierte Prosa, die aber durch ihren Aufbau und durch die Wiederholungen eine klar organisierte Form erhält. Beide Teile sind bestimmt durch die Symmetrie der beiden Sendungen – die Sendung Jesu durch den Vater, die Sendung der Jünger durch Jesus. Innerhalb der beiden Teile wiederholt sich die Anzahl der Pulsschläge bzw. der Takte und bildet so diese Symmetrie ab. Im zweiten Teil wird die Entsprechung der beiden Sendungen noch durch die Melodiegleichheit unterstrichen, im ersten Teil schließt die zweite Zeile die melodische Kreisbewegung ab, welche die erste eröffnet hat. Im zweiten Teil kann die Symmetrie auch noch in der Ausführung verdeutlicht werden, wenn die beiden Zeilen auf zwei Gruppen oder Gemeindehälften verteilt werden. Damit ist auch die Schwierigkeit beseitigt, dass zwischen den beiden Zeilen nur wenig Zeit zum Atmen ist. Rhythmische Stauungen unterstreichen die Entsprechungen zusätzlich. Im ersten Teil ist zunächst Vater rhythmisch hervorgehoben (ohne dass beim Singen die zweite Silbe betont werden darf ), danach ich euch. Im zweiten Teil ist es das Wort predigen, das die Sendung konkretisiert und auf diese Weise besonders betont wird. Das Tonmaterial der Melodie ist pentatonisch; es kommen keine Halbtonschritte vor. Das erinnert einerseits an Melodiebildungen im Umfeld der Gregorianik und kommt im raschen Rezitationsgesang des zweiten Teils mit seinen kleinen Tonschritten zur Geltung, andererseits an Melodien aus dem Spiritual-Gospel-Bereich, an welche vor allem der erste Teil anklingt. In beiden Fällen ergibt sich ein freischwebender Charakter, der nicht durch Kadenzen und harmonische Funktionen kanalisiert ist. Entsprechend einfach können Begleitungen gefunden oder auch improvisiert werden. Leider hat Ruppel nur zwei Strophen geschrieben. Eine zwölfstrophige Fassung in „Jubelt nicht unbedacht“ (1969) übernimmt nur die erste Strophe und ergänzt dann mit Jesusworten, zunächst frei nach Matthäus 11, dann vor allem aus den johanneischen Abschiedsreden,1 was der ursprünglichen Idee nicht entspricht. Es könnte dagegen verlockend sein, die Reihe mit der Aufzählung aus Matthäus 11 fortzusetzen, mit den Blinden und Lahmen, den Tauben und Aussätzigen, den Armen und gar mit den Toten, vielleicht eine Gestaltungsaufgabe für kreative Konfirmandenklassen.
Andreas Marti
1 Die Ausgabe 1972 bietet eine vierstrophige Fassung mit Zitaten aus den Abschiedsreden.
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Kommentare zu den Liedern
283 Herr, der du vormals hast dein Land Text
Verfasser Paul Gerhardt Vorlage Ps 85 Entstehung 1648 oder früher Quelle PRAXIS PIETATIS MELICA. Das ist: Vbung der Gottseligkeit […] EDITIO V (Johann Crüger), Berlin 1653 (DKL 165304) Ausgaben FT III,440; PPMEDW I/1, Nr. 408; CCC II, Nr. 122 Strophenbau A8/4a A7/3b-, A8/4a A7/3b-, A8/4c A8/4c A7/3x- vgl. Frank 7.7 (‚Lutherstrophe‘) Abweichungen 1,3 Jacobs Band; 1,4 und ihn; 1,6 die dein volck vor; nach 1: 2. HErr, der du deines eyvers glut; und 3. Lesch
aus, Herr, deinen grossen Grimm; 4,2 sich stellt in guten; 5,6 und über alle Verbindung TM in der Q mit der M Die Zeit nunmehr vorhanden ist (Johann Hermann Schein DKL 162710; Z III,4574; PPMEDW I/1, Nr. 408 und CCC II, Nr. 122 [Herr, der du vormals hast dein Land] und I, Nr. 148 [O Gott, der du die Menschenkind]) * weitere: Johann Georg Ebeling (DKL 166705; Z III,4671); Friedrich Mergner 1876 (Z III,4672); s. auch Kommentar
Melodie
s. Aus tiefer Not schrei ich zu dir (EG 299 II) Literatur
HEKG (Nr.185) I/2, 305 f; III/2, 24 f; Sb 288 f; HEG II, 110–112 ** ThustB, 259 / Nf, 238; ThustL 34–36 ** KLL (1878–1886) I, 256 f; PPMEDW (2014–2017) I/2, 244 f und II/2, 112 f ** Wittenberg, Andreas: „Allmächtger Herr der Heere…“ Krieg und Frieden im Kirchenlied des 20. Jahrhunderts, JLH 23 (1979), 53–94 (bes. 57, 66, 93) * Erb, Jörg: Paul Gerhardt und seine Lieder, Lahr-Dinglingen 1988, 114–117 * Lehmann, Hartmut: Ach, dass doch diese böse Zeit sich stillt in guten Tagen … Paul Gerhardt in seiner Zeit, in: Susanne Weichenhan / Ellen Ueberschär (Hg.): LebensArt und SterbensKunst, Berlin 2003, 11–39, bes. 13–16 * Bunners 2006, bes. 177.254 * Deichgräber, Reinhard: Nichts nimmt mir meinen Mut. Paul Gerhardt als Meister christlicher Lebenskunst, Göttingen 2006, 73–77
* Muntanjohl, Felizitas: Herr, der du vormals hast dein Land. Biografiearbeit mit Senioren über Kriegserfahrungen, in: Dies. / Michael Heymel, Auf, auf mein Herz, mit Freuden. Gottesdienste, Gemeindearbeit und Seelsorge mit Liedern von Paul Gerhardt, Gütersloh 2006, 128–131 * Finke, Christian: Paul Gerhardt vertont. Eine unvollständige Übersicht über mehrstimmige Fassungen und Kanons seiner Lieder, in: Winfried Böttler (Hg): Paul Gerhardt in Kirche, Kultur und Lebensalltag. Beispiele für die Praxis, Berlin 2007, 157–171 (bes. 163) * Mennecke, Ute: Paul Gerhardts Lieder zu Krieg und Frieden, in: Dorothea Wendebourg (Hg.): Paul Gerhardt – Dichtung, Theologie, Musik. Wissenschaftliche Beiträge zum 400. Geburtstag, Tübingen 2008, 175– 205, bes. 182–188
283 Herr, der du vormals hast dein Land
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Unter den vier Psalmliedern Paul Gerhardts im Evangelischen Gesangbuch1 aus den insgesamt 29, die es von ihm gibt, zählt die Übertragung des 85. Psalms zu den unbekannten und wenig gesungenen. Erstmals sicher belegt ist das Lied 1653 in der 5. Auflage von Crügers Praxis Pietatis Melica (PPM). Ob es schon in der verlorenen 3. Auflage von 1648 stand, wie Johannes Kulp vermutet, muss offenbleiben.2 Jedenfalls aber muss das Lied in Gerhardts erster Berliner Zeit vor dem Westfälischen Frieden entstanden sein. Der biblisch ursprüngliche Sitz im Leben des 85. Psalms erscheint am plausibelsten in der Zeit von Judäern, die ihre Rückkehr aus dem babylonischen Exil als Erlösung und großen Aufbruch (Ps 85,2–4), den Wiederaufbau in der alten Heimat aber als mühsam erlebt haben, nachdem die großen prophetischen Ansagen insbesondere Deuterojesaias erst einmal nicht wie erwartet eingetroffen waren (vgl. Jes 59,9–15; Hag 1,5–11; Sach 1,12–15). Der erste Teil des Psalms legt Klagegebete nahe, die in dieser Lage im Gottesdienst an Gott gerichtet werden (Ps 85,5–8). Der mit sechs Versen fast gleich lange zweite Teil des Psalms (Ps 85,9–14) enthält wohl die kultisch-liturgische Antwort eines Priesters oder Propheten, der Gottes Nähe zusagt, die sich in der Erfahrung von Güte, Treue, Frieden und Gerechtigkeit erweist. Seit der Reformation taucht der Psalm in diversen Ordnungen für Bittgottesdienste um Verschonung der Ernte (sogenannte Hagelfeiern),3 oder allgemein für Bußgottesdienste auf.4 In Gottesdiensten während des 30jährigen Krieges wurde er häufig gelesen und gebetet. 1717 kommt er in Hannover auch bei einem „Jubelfest zur Erinnerung an die Reformation“ vor.5 Heute ist Ps 85 Wochenpsalm in der 3. Adventswoche, Gerhardts Lied kann also auch zum Adventslied avancieren. Am Drittletzten Sonntag im Kirchenjahr ist Ps 85 Predigttext im dritten Predigtjahrgang, für das Lied also eine weitere Verwendungsmöglichkeit. Vor Gerhardt gibt es Liedbereimungen des 85. Psalms in Genf, bei Cornelius Becker6 und anderen. Gerhardt nun überträgt den Psalm in insgesamt neun Strophen und akzentuiert ihn deutlich als Kriegsklage. Aus jeweils zwei Psalmversen macht er in ziemlich genauer Entsprechung je eine Liedstrophe in den EG-Strophen eins, zwei, sechs und sieben und zwei weiteren, im EG ausgefallenen Strophen, da und dort mit kleinen Zusätzen. Damit sind die Verse 2–8 und 11–14 des Psalms abgedeckt. Die beiden Psalmverse neun und zehn mit der Bitte um Zusage des Friedens und der Verknüpfung von Gottes Hilfe mit der Gottesfurcht der Menschen baut Gerhardt allerdings zu drei ganzen Liedstrophen und damit zum Schwerpunkt des Liedes aus. Wie die Psalmbeter aller Zeiten betet und schreibt sich auch Gerhardt in seiner Notlage nach dreißig Jahren Krieg in die Worte der aus dem babylonischen Exil Heimgekehrten hinein, macht sie sich zu eigen und interpretiert sie aus seiner Situation heraus neu. 1 EG 283, 302, 361, 371. 2 HEKG Sb, 288; in der Bibliographie von Johannes Zahn, erscheint das Lied nicht in der Liste der zum ersten Mal in der PPM III gedruckten Lieder (Z VI, S. 172). 3 Paul Graff, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands, Bd. 1, Göttingen 1939, 141. 4 Ebd., 235. 5 Ebd., 240. 6 W V,605.
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Kommentare zu den Liedern
Das Lied ist aber, heute gesungen, mehr als Expression eigener Befindlichkeit. Auch wenn heutzutage das eigene Land seit langem von Krieg verschont ist, besteht in der Verbundenheit mit Menschen anderer Länder und Erdteile mehr als genug Anlass zur Kriegsklage. Gerade ein von Kriegserfahrung stark geprägtes Lied wie dieses kann angesichts anhaltender Kriegsherde weltweit bei Friedensgebeten eine starke Stimme sein. Fürbitte gibt den Stummen eine Stimme (vgl. Spr 31,8) und ist immer auch stellvertretendes Handeln. Die erste Strophe ist eine umfangreiche Gottesanrede, die wie in alten Gebeten mit einer Reihe von Relativpartikeln ansetzend, Gott daran erinnert bzw. dabei behaftet, was er seinem Land, d. h. dem Volk, dem dieses Land verheißen ist, mit dem zweiten Exodus aus dem babylonischen Exil Gutes getan hat. Die Sünde, die nach eingehender Selbsterkenntnis seinerzeit zur Strafe des Exils geführt hat, ist vergeben. Der christliche Sänger mag andere geschichtliche Wohltaten Gottes assoziieren. Dass Gott die Sünden des Volkes väterlich verziehen hat (1,7), ist in der Vorlage Ps 85,3 nicht enthalten. Bei der ansonsten selbstverständlich christlichen Deutung der Psalmen bei Luther fällt auf, dass das Lied mit dieser Stelle und der Anrede o Vater in 2,1, gegenüber Ps 85,7 ebenfalls ein Zusatz, nur zwei ganz verhalten trinitarische Anspielungen enthält. Die nächsten beiden im EG ausgelassenen Strophen entsprechen den Psalmversen 4–6, in denen die Erinnerung an Gottes Wohltat umschlägt in die Klage über die nach wie vor und immer wieder akute Notlage des Beters: [originale Str. 2] Herr, der du deines Eifers Glut / zuvor oft abgewendet, / und nach dem Zorn das süße Gut / der Lieb und Huld gesendet, / ach frommes Herz, ach unser Heil, / nimm weg und heb auf in der Eil / Was uns betrübt und kränket.
[originale Str. 3] Lösch aus, Herr, deinen großen Grimm / im Brunnen deiner Gnaden / Erfreu und tröst uns wiederüm / nach ausgestandnem Schaden! / Willst du denn zürnen ewiglich, / und sollen deine Fluten sich / Ohn alles End ergießen?
Die 2. EG-Strophe springt zum 7. Psalmvers und geht, die Klage fortsetzend, an drei Stellen über den Wortlaut des Psalms hinaus. Die Anrede Vater (2,1), das Licht als Wesen und Wirkung Gottes (2,3) und die Bitte, aus dem Himmel Güt und Segen zu gießen, können auch als zurückhaltende trinitarische Andeutungen gelesen werden. In der 3. EG-Strophe wird mit der den 9. Psalmvers im Grunde verdoppelnden Ergänzung, die Gerhardt seiner Übertragung anfügt und beide Strophenteile seufzend mit Ach7 einleitet, die Erschöpfung deutlich, die einen Menschen nach drei Jahrzehnten Krieg ergriffen hat. In der Dringlichkeit der Bitten wird zudem spürbar, dass das traditionelle Verständnis des Krieges als strafendes, und das heißt sinnvolles Handeln Gottes auch überstrapaziert werden kann. Im Sinne der Adaption des Psalms an die eigene Wirklichkeit werden aus dem Volk und seinen Heiligen des Psalms im Lied Christen.
7 Erst im 20. Jh. verschwindet das den 9. Psalmvers einleitende „Ach“ aus den Lutherbibelrevisionen. Gerhardt hat es in „seiner“ Lutherbibel also noch stehen und übernimmt es ins Lied.
283 Herr, der du vormals hast dein Land
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Ganz mit eigenen Worten Gerhardts und mit seit der 2. Strophe anaphorischem Ach setzt die 4. EG-Strophe ein, die den Schluss des 9. und den 10. Psalmvers nun anders als in den übrigen Strophen frei und ausführlich paraphrasiert. Die Formulierung Dass die böse Zeit bald wiche guten Tagen, die das EG in der 2. Zeile der Strophe übernimmt, ist erst seit 1937 nachweisbar,8 […] sich stillt in guten Tagen hat Johann Georg Ebeling in seiner Gesamtausgabe 1667, […] sich stellt in guten Tagen, steht in der ältesten erhaltenen Ausgabe der Praxis Pietatis Melica 1653, dürfte aber nach der Methode der Bevorzugung der lectio difficilior beim Vergleich von Lesarten ursprünglich sein.9 Offenbar hat aber bereits Ebeling nur schwer einen Sinn erkennen können und eine Textänderung mit einem Buchstaben für notwendig erachtet, die auch heute noch tragfähig wäre. Die eigenen Kriegserfahrungen sind jedenfalls mit Händen zu greifen. Mit dieser Strophe muss die Entstehung des Textes vor dem Westfälischen Frieden angesetzt werden, auch wenn das Lied für uns erst 1653 greifbar wird. Dass Gottes Hilfe dem Gottesfürchtigen nahe sei, ist bei den alles Bisherige übersteigenden Schrecken des Krieges trotzig und in verzweifelter Hoffnung der Bibel nach-, bzw. dem Psalm entlanggesprochen, auch wenn die eigene Erfahrung der Kriegsschrecken mehr für die Abwesenheit Gottes zu sprechen scheint. Ohne Text und weitere Bemerkungen, nur eben mit Liednummern- und Strophenangabe aus dem Liederbuch „Ein neues Lied“ nennt Dietrich Bonhoeffer diese Strophen drei und vier in seinem Brief an Eberhard Bethge am 28. Juli 1944 kurz nach dem Scheitern des Attentats auf Hitler.10 Auch in der 5. Strophe setzt Gerhardt in freier Formulierung ein mit der Behauptung, Gott werde den Krieg beenden, wenn wir nur fromm sind. Allerdings kommt er mit der traditionellen Sicht des Krieges als Strafe Gottes für fehlenden Glauben bzw. als Ruf zur Buße an Grenzen, denn der Krieg nimmt tatsächlich in seiner Grausamkeit Formen an, in denen die väterliche Zuchtrute nicht mehr erkennbar ist, die Gott „mit Maßen“ schwingt, wie Gerhardt anderswo wiederholt sagt.11 Dieser Krieg ist kein maßvolles Widerfahrnis mehr, aber in den Modus der Gottes-Anklage wie Hiob findet Gerhardt nicht. Die Lösung des Problems mit dem Bußruf bleibt traditionell: Wenn wir nur fromm sind, wird Gott das Unheil des Krieges wenden. Die Sänger klammern sich an den Strohhalm der Zusagen der im Lied enthaltenen Psalmworte, auch wenn die tatsächliche Erfahrung eine völlig andere Sprache spricht. Mit der 6. EG-Strophe kehrt Gerhardt wieder zurück in die Spur der unmittelbaren und weniger paraphrasierenden Übertragung der Psalmverse 11 und 12 mit dem berühmten Bild des Kusses von Friede und Gerechtigkeit. Den in weisheitlicher Manier zunächst auf den Frieden zwischen Gott und Mensch abzielenden 9. Psalmvers, um „Torheit“ zu vermeiden, münzt Gerhardt ganz auf den durch den Krieg zerstörten politischen und gesellschaftlichen Frieden und das Leid, das die Menschen an den Rand des Erträglichen und darüber hinaus bringt. 8 Schlesisches Provinzialgesangbuch […] von 1908, Ausgabe Breslau 1937, Nr. 435. 9 Lehmann 2003 führt weitere Varianten auf: Württembergisches Gesangbuch 1743: […] sich kehrt zu guten Tagen; Oldenburg 1923: Ach wendete die böse Zeit sich doch zu guten Tagen. 10 DBW 8, 549. 11 Vgl. EG 325,9; 370,5.
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Kommentare zu den Liedern
Auch die 7. EG-Strophe, die entgegen aller Kriegserfahrung die Einkehr von Gerechtigkeit behauptet und prophezeit, bleibt nahe am Psalm. Im Liedschluss zur Ehre seines Namens klingt das sonst lutherischen Psalmliedern meist in einer eigenen Strophe hinzugefügte Gloria Patri an, auf das Gerhardt hier bemerkenswerterweise verzichtet. Das Lied ist mit vielen verschiedenen Melodien gesungen worden. Johann Crüger weist dem Text Gerhardts in der Praxis Pietatis Melica von 1653 eine Melodie Johann Hermann Scheins von 1627 zu, die seinerzeit weit verbreitet ist, aber im 19. Jh. außer Gebrauch kommt. Johann Georg Ebeling nimmt in seine Gerhardt-Gesamtausgabe (1667, Nr. 105) eine eigene Melodie auf. Eine weitere stammt von dem bayrischen Pfarrer und Liedkomponisten Friedrich Mergner (1818–1891). Otto Riethmüller und Alfred Stier geben Gerhardts Text eine Melodie von Hans Sachs („Ein neues Lied“, Berlin 1932 Nr. 369). Weitere Melodiezuweisungen sind Herr Jesu Christ, du höchstes Gut (Württemberg 1841, Nr. 528; Melodie EG 219) und Es ist gewisslich an der Zeit (Mecklenburg 1891, Nr. 449; Melodie EG 149). Die Melodiezuweisung des EG ist seit dem DEG 1915 in Deutschland allgemein üblich.
Bernhard Leube
304 Lobet den Herren, denn er ist sehr freundlich
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304 Lobet den Herren, denn er ist sehr freundlich EG 304 EM 84 Text
Vorlagen Martin Luther: Gratias (vgl. HEKG I/2, 318 f ) * Ps 147 Quellen (a) Zwey Schöne Geistliche Lieder / an stadt des Gracias zu singen nach dem Essen, Nürnberg o. J.1 (WB DCCCI, eingeordnet ins Jahr 1560) * (b) Jungfraw Schulordenung zu Torgaw (Johann Jhan), Leipzig 1565 (DKL 156511)2 Überschrift (a) Ein ander Lied * (b) Nu folget darauff der 147. Psalm zusingen. Ausgabe W IV,239 Strophenbau 11/4x1- A11/5x2- A11/5x3- R: Lobet den Herren! Abweichungen (a) In jeder Strophe wird jeweils die erste Halbzeile (= 5 Silben) wiederholt; 1,3 schöne und lieblich zu hören; 2,1 Singet gegen einander den Herren; 2,2 Gott, den Werden [„den Werten“]; 3,2 Er gibt den; nach 4: 5. Er hat kein luste an der sterck des Rosses;
5,3 sehr aus seinem * (b) 1,3 lieblich zu hören; 2,1 Singet gegen einander; 2,2 den werden; nach 3: 4. Er siehet von Oben aus dem höchsten Throne; nach 4: 6. Er hat kein luste an der stercke des Rosses; 5,3 vom Himmel auff der Menschen Kinder; 6,1 O Jesu Christ ein Sohn; 6,2 Gib deine Gnade; nach 6: 9. Ehr vnd preis Gott dem Vater aller ehren Verbindung TM (a) ohne M * (b) DKL III/1.3 Eg93B (geht auf die Odenkomposition Iam satis terrae von Petrus Tritonius zurück, vgl. Z I,966) * weitere: Z I 975 (DKL 156813 = DKL III/2 Textband, A409.1 [S. 465] und Abschließender Kommentarband; Satz von Antonio Scandelli 1568), 976–980 und V 8679 (18./19. Jh.)
Melodie
s. Lobet den Herren alle, die ihn ehren (EG 447) Literatur
HEKG (Nr.199) I/2, 318 f; III/2, 54 f; Sb, 305 ** ThustB, 274 / Nf, 253; ThustL II, 71–73 **
KLL (1878–1886) II, 38; EEKM (1888–1895) II, 76
Zur Geschichte des Liedes gehört die Frage nach seiner Gattung und Einordnung. Steht das Lied – wie im EG und zuvor im EKG – zu Recht in der Rubrik der Psalmen und Lobgesänge? Oder handelt es sich da um das „Versteck“ (Hartmut Drude im HEKG) eines Mittagsliedes? Auch Karl Christian Thust urteilt im Anschluss an Rudolf Köhler: „Das Lied eines Unbekannten ist also eigentlich ein Tischlied über Luthers ‚Gratias‘“. Martin Luther fordert im Kleinen Katechismus:
1 Digitalisat Staatsbibliothek Berlin: https://t1p.de/ld92 (1.3.2021). 2 Digitalisat Staatsbibliothek Berlin: https://t1p.de/00vg (1.3.2021).
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Kommentare zu den Liedern
Also auch nach dem essen sollen sie […] mit gefalten henden sprechen: ‚Dancket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine güte weret ewiglich. Der allem fleische speise gibet, der dem Viehe sein futter gibet, den jungen Raben, die in anruffen; er hat nicht lust an der stercke des Rosses noch gefallen an jemandes beinen, der Herr hat gefallen an denen, die ihn fürchten und die auff seine güte warten.‘ Darnach das Vaterunser …3
Tatsächlich bezieht sich Luther in seinem Dankgebet auf Verse aus Ps 147. Doch man kann bezweifeln, dass der unbekannte Autor unseres Liedes damit wirklich das „Gratias“ ersetzen wollte, zumal das Lied gerade nicht mit dem „Gratias“ (Danket dem Herrn) beginnt, sondern den Beginn von Ps 147 aufnimmt. Auch die letzte Strophe leitet kaum zum Vaterunser über, ist sie doch nicht an den Vater, sondern an den Sohn gerichtet, womit der Dichter dem lutherischen Usus folgt, Psalmlieder am Ende christologisch oder trinitarisch zu qualifizieren.4 Zwar lautet der Titel eines undatierten Zweiliederdruckes (mit Darstellung einer Tischszene!) „Zwey Schöne Geistliche Lieder / an stadt des Gracias zu singen nach dem Essen […] Das Ander / Lobet den Herren“ (Nürnberg o. J.). Doch die Torgauer Schulordnung (1565) bietet einen ganz anderen „Sitz im Leben“. Im Anschluss an die Erklärung des 1. Gebots heißt es: „Nu folget darauff der 147. Psalm zu singen“. Hier fungiert das Lied explizit als Psalmlied und als Ausdruck allgemeiner Dankbarkeit und wahrer Gottesfurcht.5 So erscheint EG 304 als ein Psalmlied aus lutherischer Tradition, das den Psalmtext frei und selektiv rezipiert, indem der ursprünglich siebenstrophige Gesang in den Strophen 1 bis 5 (Str. 5 fehlt im EG) die Psalmverse 1, 5, 7 bis 10 herausgreift, während die beiden Schluss-Strophen Lob und Dank verallgemeinern und den Gottessohn miteinbeziehen. Mit dem häufigen Personenwechsel (2. Person Plural, 3. Person Singular, 2. Person Singular) folgt das Lied einem typischen Duktus der Psalmen, wobei die Imperative Lobet, Singet, Danket und die abschließende Gebetsstrophe das Lied rahmen, während die mittleren Strophen die großen Taten des Schöpfers in erzählender Form rühmen. Der Dichter spricht eine klare Sprache, er nimmt als Versmaß die im 15./16. Jh. häufig verwendete Sapphische Strophe (vgl. etwa EG 81). Er verzichtet weitgehend auf Endreime (Ausnahme 4. Str.), bedient sich aber gelegentlicher Stabreime (Str. 4 und 5). Die ersten beiden Strophen rufen zum Lob Gottes auf und rühmen dessen Schönheit und Lieblichkeit. „Schön und lieblich“ ist keine Tautologie, sondern benennt zwei Dimensionen des Gotteslobes.6 In das Gotteslob werden ausdrücklich auch die 3 BSELK, 892–894. 4 Aus Luthers Vorrede zum Psalter (1528): „Und solt [der Psalter] allein des halben theur vnd lieb sein, das von Christus sterben vnd auffersten, so klerlich verheisset, vnd sein reich vnd der gantzen Christenheit stand vnd wesen furbildet, das es wol mocht ein kleine Biblia heissen“ (WA DB 10/1, 98.20–22). Vgl. auch EG 280. Zu EG 273 vgl. Matthias Schneider, in H. 13 (2007), 63–68. Die im EG stehende abschließende Gloria-Patri-Strophe stand schon im Erfurter Enchiridion von 1524. 5 „… das ich nicht mehr so vergessen und undanckbar werde / kein ander Götter / noch trost auff Erden / noch in alle Creaturn suche“ Jungfraw Schulordenung zu Torgaw von Johannes Jhan, wo das Lied 9 Strophen hat, s. Digitalisat (wie Anm. 1) 6 Erich Zenger übersetzt – der Einheitsübersetzung folgend – „gut“ und „schön“, in: Frank-Lothar Hossfeld / Erich Zenger, Psalmen 101–150, Freiburg-Basel-Wien 2008, 824.
304 Lobet den Herren, denn er ist sehr freundlich
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Instrumente einbezogen (Ps 147,7b: „Lobt unsern Gott mit Harfen“). Die Psalmkommentatoren übersetzen den Kinor ( )כנורmit „Leier“. Es handelt sich um ein der Harfe ähnliches gezupftes Saiteninstrument. Mit Psalmen dürfte hier tatsächlich die Gattung gemeint sein und nicht – wie bei Joachim Neander („Psalter und Harfe“ EG 317,1) – das Instrument. Das überschwängliche Gotteslob wird begründet mit der Bewunderung des Schöpfers, der den Himmel mit Wolken bedecken und Regen geben sowie Grünes wachsen lassen kann, sogar auf „dürren Bergen“, wo es keine Flüsse gibt. Dieses Erstaunen stammt ursprünglich aus der Naturerfahrung Palästinas (Ps 147,8), die durch Wassermangel und lange Dürrezeiten geprägt ist. Aufgrund der normalen klimatischen Verhältnisse im Nahen Osten (hohe Temperaturen bei niedriger Luftfeuchtigkeit) stellen Wolken immer schon eine Seltenheit dar, die bewundert und religiös gedeutet werden können. Die in Str. 3 geschilderten Naturvorgänge bzw. Schöpfungsgaben stellen die Voraussetzung für Str. 4 dar. Weil Gott Regen gibt und Gras wachsen lässt, können Mensch und Tier, hier zu „allem Fleische“ zusammengefasst, leben. Doch warum erwähnt der Psalm ausgerechnet die jungen Raben? Erich Zenger lehnt die seit der christlichen Antike verbreitete volkstümliche Deutung der sogenannten Rabeneltern ab und führt die Erwähnung mit Hiob 38,41 auf das mitleidheischende Krächzen der Rabenjungen zurück, die zudem dadurch gleichsam benachteiligt seien, dass sie als unreine Tiere gelten (vgl. Lev 11,15; Dtn 14,14).7 Vielleicht ist das Krächzen der jungen Raben in unserem Lied auch als ein Exempel für vorbildliches menschliches Verhalten und vollkommenes Gottvertrauen verstanden. Man vergleiche den häufigen Gebrauch des Wortes „anrufen“ in Liedern des 16. Jh. (vgl. z. B. EG 78,4; 128,3; 232,1; 366,2). Die originale fünfte Strophe fehlte bereits im EKG. Sie lautet (nach W IV,239): Er hat kein luste an der sterck des Rosses noch wolgefallen an jemandes beinen: Er hat gefallen an den die auff jn trawen: lobet den HERREN!
Die Streichung ist womöglich aus Sorge um ein sexuelles Missverstehen der Beine (vgl. Ps 147,10: „noch Gefallen an den Schenkeln des Mannes“) geschehen. Dagegen erläutert Zenger, dass im Psalm die zur Rüstung gehörenden Beinschienen gemeint seien.8 Die Auslassung dieser Strophe ist umso bedauerlicher, als sie die Überlegenheit Gottes auch über alle militärische Gewalt und Machtpose zum Ausdruck bringt und sein Wohlgefallen am Gottvertrauen festhält. Die beiden Schlussstrophen lösen sich vom Psalmtext und entwickeln eine christologische Dynamik, indem sie den Blick auf die geistlichen Gaben lenken. Der Brunn des Lebens erinnert an die Quelle des Lebens bzw. des lebendigen Wassers (vgl. Ps 36,10; Joh 4,14; 7,38 f; Offb 21,6).9 Hier dürfte die johanneische Unterscheidung zwischen 7 Ebd., 833. 8 Vgl. ebd., 833. 9 Das Bild begegnet auch in EG 126,2 (M. Luther), EG 148,7 (J. Walter), EG 399 (J. Mühlmann: „O Lebensbrünnlein tief und groß, entsprungen aus des Vaters Schoß … dein lieb Herz zu uns wende“), EG 413,1 (N. Herman).
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Kommentare zu den Liedern
dem natürlichen und dem geistlichen Wasser im Hintergrund stehen (Joh 4,13 f ). Vielleicht ist mit dem Brunn des Lebens, der in Gottes Herz entspringt, sogar Christus selbst gemeint, an den die letzte Strophe explizit gerichtet ist. Dass der Sohn aus dem Herzen des Vaters entsprungen oder entsprossen sei, kennen wir aus dem Lied von Elisabeth Cruciger Herr Christ, der einig Gott Sohn, Vaters in Ewigkeit, aus seim Herzen entsprossen, gleichwie geschrieben steht (EG 67,1). Nachdem die mutmaßliche Erstveröffentlichung des Liedes ohne Noten oder Melodieangabe gedruckt wurde, war das Lied in der Schulordnung von Johann Jhan (s. o. Text / Quelle) mit einer Melodie verbunden, die mit der Ode Iam satis terrae (1507, Petrus Tritonius) verwandt ist, und die bereits verschiedenen Liedern zugrunde liegt.10 1568 war der Text einem vierstimmigen Satz Antonio Scandellis unterlegt, auf den noch Johann Crüger seit 1640 zurückgegriffen hat.11 Das Lied wird heute selten gesungen, obwohl Psalm 147 am 12. Sonntag nach Trinitatis Introituspsalm ist. Doch in Zeiten, in denen Themen wie Klimawandel und Tierwohl auch Gottesdienste und Andachten erobern, könnte es für die singende und betende Gemeinde wieder interessant werden, zumal die Crügersche Melodie von dem gleichnamigen Morgenlied Paul Gerhardts (EG 447) her bekannt und beliebt ist.
10 DKL III/1.3 Eg93, 93A; vgl. Z I,966. 11 PPMEDW I/2, Nr. 310.
Bernhard Schmidt
315 Ich will zu meinem Vater gehn
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315 Ich will zu meinem Vater gehn Text
Verfasserin Lotte Denkhaus Entstehung 1975 Vorlage Lk 15,18–24 Quelle Der Friede hat die Stadt eingenommen. Gedichte (Lotte Denkhaus), Neukirchen-Vluyn 1977 Überschrift
Der Vater Strophenbau A8/4a 3/2b 8/4a 3/2b (3/2b) Abweichung nach 2: 3. Und bangt mir’s, spricht der Mann am Kreuz Verbindung TM in der Q ohne N
Melodie
Incipit 1 4654 5312_3 4_ Verfasser Dieter Trautwein Entstehung auf Bitte der Dichterin für Jugendliche (Familiengottesdienste), vgl. Meyer 1997 Quelle Bundesgaben für gemischten Chor (Christlicher Sängerbund), Jahrgang 1977 (I) CS 11181 Ausgabe Dieter Trautwein, Neue Lieder aus drei Jahrzehnten, München 1992 Besonderes Ein Aufführungsvorschlag sieht einen Wechsel mit der Lesung Lk 15,11–24 vor. Tonalität vgl. Abweichungen und Kommentar Ambitus G: 8; Z: 68 Abweichungen Ton höher; Intonation, Satz A: Kla-
viersatz zum einstimmigen Gesang mit Oberstimme ad lib. mit Str. 1, 3, 6 (1. voller Takt F-Dur, letzter d-Moll), B: 4st. Chorsatz mit Str. 1, 2, 8 (Akkordbezifferung: 1. voller und letzter Takt d-Moll), C: 3st. Chorsatz mit c. f. in der Männerstimme mit Str. 1, 4, 5 und 7 (1., 2. und letzter Melodieton einstimmig), Akkordbezifferung zum einstimmigen Satz (1. voller Takt F, letzter G gefolgt von C auf der Pause), abschließend wiederholt die Gemeinde Str. 1 Verbindung MT wie EG
Literatur
HEG II, 76 f.327–329 mit Nachträgen von Wolfgang Herbst in JLH 45 (2006) und 42 (2003) ** ThustB, 279 / Nf, 314; ThustL II, 86–88 ** Meyer (21997) 304 f ** Mittring,
Johannes, in: Der Kirchenchor 48 (1988), H. 4, 57–59 * Trautwein, Dieter: Liedmeditation in: Möller 1997, 169–172
Angeregt vom Frankfurter Kirchentag 1975 schrieb Lotte Denkhaus ihr Gedicht Ich will zu meinem Vater gehn und schickte es mit der Bitte um Vertonung an den Frankfurter Propst Dieter Trautwein. Im Lied werden Motive der sogenannten Geschichte vom verlorenen Sohn Lk 15,18–24 aufgegriffen und zu einem Lied von der Umkehr zum Vater gestaltet. Das so entstandene Gedicht ist bei seiner Aufnahme ins EG allerdings vom Gesangbuchausschuss um eine Strophe verkürzt worden.2 Die ausgelassene Strophe (nach der 2.) lautet im Original:
1 ULB Bonn: Z 76/367 (156–1144). 2 Trautwein 1997, 169–172.
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Kommentare zu den Liedern
Und bangt mir’s, spricht der Mann am Kreuz, der nicht lügt: Kehr um, kehr heim, den Vater freut’s. Das genügt.
In Strophe 1 geht es darum, dass Gott für jedes Wort des Menschen offen ist und Verständnis hat. Gott versteht die Klage des Menschen, der sich tief im Staub befindet (Str. 3). In Strophe 7 hat das Wort verstehen einen anderen Sinn: Die Menschen sollen auf seinen Ruf hören und ihm folgen. Die Sehnsucht des verlorenen Sohnes nach seinem Vater und nach dem Zuhause ist das Thema der 2. Strophe. Die ersten beiden Strophen sind „Ich“-Strophen. In Strophe 3 wechselt die Perspektive: Das „Ich“ wird in den Strophen 3–5 nun als „Du“ angesprochen. Singende bzw. Betende sind direkt in das Geschehen einbezogen. Der Sohn entschließt sich zur Umkehr und geht im Vertrauen auf den Vater zu. Danach ist der Vater der eigentlich Handelnde. Er verzeiht, läuft dem Sohn entgegen und gibt ihm schöne neue Kleider und Schmuck. Er rehabilitiert ihn in aller Form. Das folgende Freudenfest (Str. 6) ist ein Grund zum Jubeln. Schließlich endet das Lied damit, dass „Ich“ und „Du“ sich gemeinsam auf den Weg zum Vater machen (Str. 7). Die dem Lied zugrundeliegende biblische Geschichte ist ein Gleichnis für Gottes barmherzige Annahme des Menschen, der die Umkehr wagt. Das Lied blendet den ersten Teil des biblischen Gleichnisses (Lk 15,11–17) aus und setzt bei dem Entschluss der Umkehr des Sohnes ein. Auch die Reaktion des älteren Sohnes (Lk 15, 25–32) findet keine Beachtung. In der entfallenen originalen Strophe 3 geschieht andererseits eine christologische Pointierung. In Strophe 5 wird ein weiterer biblischer Kontext aufgerufen: brennt wie Spreu bezieht sich auf die Bußpredigt Johannes Täufers (Mt 3,12). Es zeigt sich, dass das Lied in seiner ursprünglichen Intention und Anlage kein biblisches Erzähllied ist. Vielmehr will es unter Rückgriff auf eine populäre biblische Umkehrgeschichte heute Menschen zur Umkehr zu einem verzeihenden, menschenfreundlichen Gott einladen. Die Aufnahme in die Rubik biblische Erzähllieder verdankt es vermutlich seiner einfachen, in kurze Strophen gefassten Sprache mit ihren eingängigen Bildern. Auch der Wegfall der christologischen Strophe erklärt sich aus der Zuordnung zu dieser Rubrik, denn das Gleichnis wird zwar von Jesus erzählt, deutet aber nirgends auf den Gekreuzigten hin. Die Melodie von Dieter Trautwein folgt der Zweiteilung des Textes und betont jeweils die letzten Worte jeder Strophe durch Wiederholung. Die erste Hälfte der Melodie lässt als Tonart F-Dur vermuten, in der zweiten moduliert die Melodie nach e-Moll bis sie am Ende die dorische Tonart andeutet. Der ungewöhnliche Schluss lässt das Lied im Ungewissen, macht es zu einem Wagnis, wie der Text in Str. 1 andeutet. Die Melodie entzieht sich dadurch den klassischen Tonartbestimmungen und signalisiert Freiheit. Interessant ist die dabei unterschiedliche Harmonisierung in verschiedenen Sätzen der Erstveröffentlichung (s. o. Melodie / Abweichungen).
Wolfgang Herbst
329 Bis hierher hat mich Gott gebracht
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329 Bis hierher hat mich Gott gebracht EG 329ö RG 275+ (M) KG 98+ (M) EM 368ö Text
Verfasserin Ämilie Juliane von SchwarzburgRudolstadt Quelle Tägliches Morgen- Mittagsund Abend-Opffer […] Zum andern mahl aufgeleget, Rudolstadt 1699 [Die erste Auflage von 1685 enthält das Lied – anders als in HEKG vermutet – noch nicht] Überschrift Mittwochs nach der Mahlzeit. Ein Loblied. Im Thon: HErr JEsu Christ, ich weiß gar [wohl] etc. Ausgabe FT V,634 Strophenbau A8/4a A7/3b-, A8/4a
A7/3b-, A8/4c A8/4c A7/3k- vgl. Frank 7.7 (‚Lutherstrophe‘) Abweichungen 2,1 Hab Lob, hab Ehr; 2,6: hat groß’s an mir Verbindung TM in der Q ohne N, der in der Überschrift genannte Text hat vor 1685 verschiedene eige ne Melodien: Z III,4525–4529, 4552b (1608–1661) und ist außerdem belegt mit Z III,4482b, 4486, 4587b * Allein Gott in der Höh sei Ehr (= EG 179 angegeben in DEG 1915)
Melodie
Incipit -5_ 1_2_3_-6_ 2_.1–7_ Verfasser Peter Sohren Quelle Johann Crügers […] Neu zugerichtete PRAXIS PIETATIS MELICA (Peter Sohren), Frankfurt / M. 1668 (DKL 166808) Ausgaben Z III,4680a; B IV,402 Besonderes Die Melodie ist in überarbeiteter Form im Freylinghausenschen Gesangbuch DKL 170404 zum Text Mein Herzens Jesu, meine Lust, enthalten (Z III, 4680b). Ambitus G: 9; Z: 66(66)644 Abweichungen mit Generalbaß; Taktvorzeichnung 𝄵; Zeilentrennstriche; doppelte Notenwerte; Halbton höher; Z. 1, vor N. 1: Viertelpause, N. 6: a’; Z. 2, N. 3: e’, N. 4: Achtel fis’ gis’, N. 5 a’; N. 7: Halbe; Z. 5, vor N. 1 Viertelpause, N. 4–5: punktierte Viertel mit Achtel e’e’; Z. 7, N. 1–3: e’a’h’, N. 7 Ganze * RG, KG: Taktvorzeichnung 𝄵; statt punktierter Viertel mit Achtel stets zwei Viertel; Z. 1, vor
Note 1: Viertelpause; Z. 2, Note 7: Halbe; Z. 5 vor Note 1: Viertelpause, Note 5: zwei Achtel fis’e’; Z. 6, Note 8: Halbe; Z. 7, vor Note 1: Viertelpause, Note 7: Halbe * EM: mit 4st. Satz (nach Samuel Furer 1952) Verbindung MT Q: Du Lebensbrot, Herr Jesu Christ (EKG-Regionalteile) * vgl. auch die Texte zu Z III,4680b: Meins Herzens Jesu meine Lust; Lobt Gott in seinem Heiligtum; Der Herr ist Gott und keiner mehr; Lob, Ehr und Preis dem höchsten Gut * weitere: Ich steh in meines Herren Hand (Sachsen 1883), Such, wer da will, ein ander Ziel; Wie Gott mich führt; Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut; Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht (alle vier im DEG 1915, letzteres auch EG 506 / EKGRegionalteil Pfalz 466 / EM 54); Ich glaube, dass die Heiligen (EG 253); Wir glauben Gott, dass du es bist (RG 275 / KG 98)
Literatur
HEKG (Nr. 236) III/2, 159–162; Sb 364 f; HEG II, 127–130. 292 f.302 ** ThustB 291 / Nf, 270; ThustL II, 120–122; Een Comp 31998, Nr. 86 ** Nelle (31924/1962), Nr. 12 ** NelleG 41962,177 * Buchrucker, Ernst: Theologie der evangelischen Abendmahlslieder, Erlangen 1987, 114 f.119 f * Rölleke,
Heinz: Dichtung und Gesangbuch, in: Irmgard Scheitler (Hg.), Geistliches Lied und Kirchenlied im 19. Jahrhundert. Theologische, musikologische und literaturwissenschaftliche Aspekte, Tübingen / Basel 2000, 217–323 bes. 227 (zur Rezeption)
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Kommentare zu den Liedern
Seit der Reformationszeit gab es im evangelischen Bereich Frauen, die als Autorinnen geistlicher Texte hervorgetreten sind. Unter den frühen ist etwa zu denken an Katharina Zell (1497/98–1562). Im barocken Luthertum hat sich die österreichische Gräfin Katharina Regina von Greiffenberg (1633–1694) als geistliche Schriftstellerin einen Namen gemacht. Der Pietismus hat viele Frauen zur geistlichen Textproduktion ermutigt, in separierten pietistischen Kreisen konnten Frauen sogar als Predigerinnen und Gemeindeleiterinnen wirken – sehr zum Missfallen der etablierten evangelischen Geistlichkeit.1 Schreibend tätig werden konnten Frauen naturgemäß nur dann, wenn sie über Mußestunden verfügten. Das war bei Frauen von Adel häufiger der Fall als bei Frauen, die einen Haushalt zu führen hatten, die im Bereich des Handwerks oder im Agrarsektor beschäftigt waren. Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt (1637–1706) entstammte einer traditionsreichen Familie.2 Nach dem frühen Tod der Eltern kam sie als Pflegekind in den Haushalt einer Tante, die in das Haus von Schwarzburg-Rudolstadt eingeheiratet hatte. Auf Erziehung und Bildung hielt man dort große Stücke. Ämilie Juliane erhielt einen exzellenten häuslichen Unterricht. Die Fertigkeiten des Dichtens beherrschte sie bereits in jungen Jahren. Als Jugendliche trat sie mit qualitätsvollen Gelegenheitsgedichten auf den Plan. Großen Wert legte man im Hause Schwarzburg-Rudolstadt auf die Pflege einer lutherischen Frömmigkeit. Die Klassiker der lutherischen Trostliteratur waren in Gebrauch, darunter die „Meditationes Sacrae“ von Johann Gerhard und die „Vier Bücher vom wahren Christentum“ von Johann Arndt. Als junge Frau kam Ämilie Juliane in Kontakt mit dem gelehrten Juristen Ahasver Fritsch (1629–1701), der ihr als Anhänger des Spener’schen Pietismus wichtige geistliche Impulse gab. Er ermutigte sie zur Intensivierung der poetischen Produktion. Ämilie Juliane war vielfältig literarisch tätig. Insgesamt haben sich rund 600 Gedichte aus ihrer Feder erhalten. Zu Lebzeiten wurden viele ihrer Lieder publiziert, unter ihnen das Lied Bis hierher hat mich Gott gebracht, das erstmals 1699 in einem von Heinrich Urban in Rudolstadt gedruckten Gebet- und Liederbuch erschien. Ämilie Julianes Leben war von zahlreichen Verlusterfahrungen überschattet. Früh verwaist musste sie erleben, wie drei ihrer Pflegschwestern und ihre vier leiblichen Geschwister in den 1670er und 1680er Jahren starben. Wahrscheinlich hat dieser biographische Hintergrund das theologische Thema der „providentia Dei“ für sie besonders wichtig werden lassen. Generell war jenes Lehrstück für barocklutherische Christenmenschen – sowohl pietistischer als auch nichtpietistischer Prägung – von zentraler Bedeutung. Die klassische lutherische Theologie unterscheidet im Blick auf die „providentia Dei“ (Vorsehung Gottes) drei Dimensionen: zum einen die allgemeine Fürsorge, die für die Erhaltung der Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten sorgt (providentia generalis). Zum zweiten spricht die lutherische Theologie von Gottes spezieller Fürsorge, die jenen Menschen gilt, die sich im Leben zu ihm halten (providentia specialis). Drittens gibt es Gottes außerordentliche Fürsorge für die, die seine auserwählten Kinder sind (providentia peculiaris). Zu den Auserwählten Gottes gehören nach barocklutherischer Sicht alle 1 Vgl. Martin H. Jung, Frauen des Pietismus. Zehn Porträts, Gütersloh 1998. 2 Zur Biographie vgl. ebd., 11–26; Elisabeth Schneider-Böklen, in: HEG II, 292 f.
329 Bis hierher hat mich Gott gebracht
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diejenigen, „welche an Christum warhafftig gläuben / und in solchem Glauben biß an ihr Ende beständig verharren.“3 Im vorliegenden Lied macht Ämilie Juliane die „providentia Dei peculiaris“ zum Thema. Wer das Lied singt, dankt Gott für Bewahrung und Geleit bisher. Mehr noch: Wer das Lied singt, singt sich in die Schar der Auserwählten Gottes hinein, welche der „providentia Dei peculiaris“ teilhaftig werden. Unter den Stichwörtern Geleit, Erfreuen und Hilfe wird Gottes Handeln für die Seinen in der ersten Liedstrophe kataloghaft zusammengefasst. Nachdem Gottes Gnadenhandeln festgestellt wurde, geht die zweite Strophe in das Lob und den Dank für Gottes Geleit über. Die Passage hat insofern eine pietistische Anmutung, als sie eine empirische Verifizierbarkeit von Gottes Welthandeln grundsätzlich für möglich hält. Die Strophe mündet ein in die auf das Magnificat der Maria (Lk 1,49) anspielende Erklärung der frommen Seele, dass Gott Großes an ihr getan habe. Im Rahmen einer Andacht sich der Wohltaten Gottes zu versichern, ist wichtig, weil alltägliche Beschwernisse Menschen oft dazu bringen, Gottes bisheriges Geleit zu vergessen. Sie gehen dann ohne Zutrauen auf Gottes Hilfe dem Kommenden angstvoll entgegen. Deshalb fordert Ämilie Juliane zur Andacht auf, welche sich des Geleits Gottes erneut versichert. Nach dem persönlichen Bekenntnis in Str. 1 und dem Lob und Dank in Str. 2 geht das Lied in Str. 3 ins Bitten über. Gott wird biblisch als Hort bezeichnet (Ps 18,3; 71,3; 95,1), der jederzeit und überall helfen könne und möge. Erwähnt werden in diesem Zusammenhang nicht ohne Grund Jesu Wunden. Gelten diese doch spätestens seit der Mystik des Mittelalters als Bergungsorte der angefochtenen Seele. Bei Bernhard von Clairvaux werden Jesu Wunden mit Hld 2,4 als Felsspalten gedeutet, in welche sich die Seelentaube vor den Gewittern und Stürmen des Lebens flüchten könne. Diese „wundenmystische“ Tradition fand breite Rezeption in den Trostschriften von Reformatoren und barocklutherischen Autoren.4 Über solche Schriften wurde sie auch Ämilie Juliane vermittelt. Im letzten Vers des Liedes (er hilft, wie er geholfen) wird abschließend noch einmal die Hilfe Gottes in Vergangenheit, Gegenwart und – besonders tröstlich! – Zukunft besungen. Unter der Hand kommt in den Strophen zwei und drei das theologische Thema der Beständigkeit im Glauben (perseverantia fidei) zur Sprache, die (s. oben) ein Merkmal von denjenigen Menschen ist, welche zu den Auserwählten Gottes gehören. Der theologischen Tradition folgend kennzeichnet Ämilie Juliane die Beständigkeit im Glauben als Gabe Gottes. Der Rhythmus des Liedes ist ebenmäßig und macht auf diese Weise die Stabilität der providentiellen Begleitung durch Gott erfahrbar. Die Melodieführung der heute zugewiesenen Weise kommt ohne große Sprünge aus, wodurch die ruhige Stetigkeit der „providentia Dei peculiaris“ unterstrichen wird. Was auffällt im Vergleich des vorliegenden Liedes mit inhaltlich verwandten Liedtexten aus der ersten Hälfte des 17. Jh. – etwa von Josua Stegmann (EG 347) oder Paul Gerhardt (EG 322) –, ist: Ämilie Julianes Lied ist nahezu monothematisch. Gottes Fürsorge steht im Zentrum, weitere Themen werden lediglich gestreift. Die Tendenz zur theologischen Konzentration lässt sich auch beobachten, wenn man Predigten nicht 3 Leonhard Hutter, Compendium locorum theologicorum. Wittenberg 1610, Locus VII, Art. 5. 4 Z. B. bei Valerius Herberger und Josua Stegmann.
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Kommentare zu den Liedern
pietistischer Lutheraner des 17. Jh. vergleicht mit solchen pietistischer Prediger. Die Beschränkung letzterer auf wenige theologische Topoi geht zurück auf das Reformprogramm Philipp Jakob Speners, der als sechsten und letzten seiner „Frommen Wünsche“ (pia desideria) gefordert hatte, die Verkündigung müsse konsequent elementarisieren. Die Predigt sei nicht für die Gebildeten zu halten, sondern für die Einfältigen, schrieb Spener. Keine kunstvolle Kanzelrede sei gefragt, sondern eine klare und einfache Predigt, die Glauben wecken könne, weil sie ihre Zuhörer und Zuhörerinnen nicht mit einem Wust an Themen, Bildern und rhetorischen Kunstgriffen überrolle.5 Dieser sechste Wunsch Speners hat unter seinen Anhängern und Anhängerinnen dazu geführt, dass die theologische Komplexität ihrer Gebrauchstexte (Predigt, Erbauungsliteratur, geistliche Lyrik) signifikant reduziert wurde. Bis hierher hat mich Gott gebracht steht in dieser Wirkungsgeschichte Speners. Der theologische Gedanke der „providentia Dei“ bzw. der Vorsehung kann nur je persönlich verifiziert werden. Es ist unmöglich, Menschen über das Geleit Gottes in ihrem Leben zu belehren, aber man kann es ihnen zusprechen. Nachvollziehbar ist es nur auf persönlich-individueller Ebene – zumeist retrospektiv. Wenn Menschen dieses Erleben möglich ist, dann entfaltet der theologische Topos der „providentia Dei“ sein tröstliches Potential.
Alexander Bitzel
Die Melodie stammt von Peter Sohren und gehört ursprünglich zu dem Lied Du Lebensbrot, Herr Jesu Christ, das in mehreren EKG-Anhängen noch enthalten war (z. B. Baden 433, Sachsen 422, Hannover 415, Rheinland-Pfalz 425). Sie wurde erstmals in der „Praxis pietatis melica“ (PPM) von 1668 veröffentlicht und später auch zahlreichen anderen Liedern zugeordnet – wechselnde Text-Melodieverbindungen sind bei diesem Strophenmaß, der „Lutherstrophe“ generell häufig. Die Melodie ist in der Weise des kunstvollen Sologesangs komponiert, der in der strophenförmigen Arie seine Form gefunden hat. Ihre heutige Fassung hat sie allerdings über mehrere Zwischenschritte erhalten. Die Melodie von Peter Sohren, wie sie in der PPM geboten wird, weicht in der Führung an mehreren Stellen deutlich von der unsrigen ab; auch rhythmisch war sie noch anders gestaltet, mit einem Achteldurchgang in der zweiten Zeile, wo wir heute einen Terzsprung haben, mit einer zusätzlichen Punktierung in der ersten Abgesangszeile und mit einer langen Schlussnote am Ende und am Stollenende (mit Viertelpause am Anfang und zu Beginn der Folgezeile), so dass die regelmäßige Abfolge von betonten und unbetonten Halbeschlägen durchbrochen wird. Im Freylinghausenschen Gesangbuch, Halle 1704 kamen ausgesprochen barocke Elemente dazu, welche die Melodie noch deutlicher im arios-solistischen Stil verankerten, vor allem mehrere Achtelumspielungen. Im 19. Jh. wurden die barocken Merkmale reduziert, bis hin zur völligen Gleichförmigkeit in lauter Viertelnoten, abgesehen von gedehnten Zeilenschlüssen, so z. B. im Gesangbuch für Elsaß-Lothringen von 1899 (Nr. 223 Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut) oder im sächsi 5 Philipp Jakob Spener, Pia desideria, Frankfurt am Main 1680, 149–151; Philipp Jacob Spener, Schriften. Bd. 1 Pia desideria u. a. Nachdruck / eingeleitet von Erich Beyreuther, Hildesheim 1979, 295–297.
329 Bis hierher hat mich Gott gebracht
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schen Gesangbuch von 1910 (Nr. 243, Du Lebensbrot, Herr Jesu Christ). Die drei heute vorhandenen Punktierungen finden sich im DEG 1915 (zu vier Melodien unter Hinweis auf die seit Freylinghausen Mein Herzens=Jesu, meine Lust benannte Melodie). Damit ist der ursprüngliche, barocke Stil der Melodie wieder etwas besser zu erkennen. Er zeigt sich überdies im relativ großen Tonumfang der meisten Zeilen, im funktional-tonalen Kadenzplan der Zeilenenden, in der sequenzartigen Abfolge der Zeilenschlüsse 5 und 6, in der Korrespondenz von Stollen- und Strophenschluss. In denselben Zusammenhang gehören auch die Quartsprünge in der ersten Zeile und die verlängerten Zeilenschlüsse, welche Wortbetonungen und Phrasengliederung deklamatorisch unterstreichen. In der heutigen Fassung vereinen sich auf diese Weise der barocke Arienstil und der feierlichausgeglichene Choralstil im Verständnis des 19. Jh. Im Drama „Der Hauptmann von Köpenick“ (2. Akt) lässt Carl Zuckmayer die Gefängnisinsassen beim Gottesdienst mit weihevoller Stimme singen Bis hierher hat mich Gott gebracht in seiner großen Güte und beschreibt damit die seit der Mitte des 17. Jh. vielfach geübte Praxis des besonders langsamen und affektvollen Kirchengesangs.
Wolfgang Herbst / Andreas Marti
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Kommentare zu den Liedern
339 Mein Herz ist bereit EG 339 RG 36 Text
Quelle Ps 57,8 Abweichungen Mein Herz ist bereit, Gott, mein Herz ist bereit, dass ich singe und lobe (Luther 2017) Melodie
Incipit 5_8__7_6_ 8__1____ Verfasser Paul Ernst Ruppel Entstehung entweder 1937 (möglicherweise auf mündlicher Information beruhende Angabe im EG) oder zwischen 1939 und 1943 (das entspräche der Angabe Ruppels
bei Meyer 1997, dass der Kanon in der Singearbeit in Schorborn entstanden sei) Quelle Kleine Fische. Kanons und Singsprüche (Paul Ernst Ruppel), Wolfenbüttel / Zürich 1964 Ambitus G: 8; Z: 43b54
Literatur
HEG II, 266–268 ** ThustB, 297 / Nf, 276; ThustL II, 135 f ** Meyer (21997) 231
Dieser Kanon ist ein Kleinod aus der beruflichen Anfangszeit des Komponisten. Ruppel hatte bis zum Jahr 1936 in Stuttgart Kirchenmusik studiert und begann im selben Jahr seine Tätigkeit als Bundessingwart des Christlichen Sängerbundes (CS). In erster Linie waren die Chöre des CS die „Zielgruppe“ seiner Werke. Psalmtexte waren für Ruppel stets eine Quelle der Inspiration. Seine zahlreichen Psalmmotetten und -singsprüche erschienen posthum als „Vluyner Psalmenbuch“ (Wuppertal, 2010). Der Kanon Mein Herz ist bereit ist dort allerdings nicht enthalten. Dennoch zeigt die Veröffentlichung dieser Ausgabe die große Bedeutung der Psalmen für den Komponisten. Ruppel vertont hier einen Vers aus dem zweiten Teil von Psalm 57. In diesem Gebet eines Verfolgten (… ich liege mitten unter Löwen … sie haben meinen Schritten ein Netz gestellt …) erfolgt in Vers 8 die Wende von der Klage zum Lob mit dem doppelten Ausruf Mein Herz ist bereit. Dieser zweite Teil von Psalm 57 weist viele Parallelen zu Psalm108,2–6 auf. Teile daraus (die Verse 4–6) vertonte Ruppel im Jahr 1964 zu dem Lied EG 291 Ich will dir danken, Herr, unter den Völkern. Die gleichartigen Aussagen beider Psalmen müssen dem Komponisten ein großes Anliegen gewesen sein. Ruppel wählt den 2/2-Takt. Das vermittelt einen schwingenden, zugleich stabilen und in sich ruhenden Charakter. Die Assoziationen sind Zuversicht und Freude. Die Tonart B-Dur ist allerdings ein Ton tiefer als die Originaltonart. Die auftaktige Melodie beginnt mit einem Quartsprung nach oben – ein klassischer Anfang für ein Lied mit
339 Mein Herz ist bereit
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„Wach-auf“-Charakter (vgl. EG 241; 444; 447; 451; 452). In den ersten drei Teilen des vierstimmigen Kanons bleibt die Melodie im Oktavraum zwischen den Grundtönen b und b’. Dabei kreist sie um ihren Mittelpunkt, den Quintton f ’. Auf ihm finden wir das Wort Gott, das hier durch die einzige Synkope des Liedes und die Länge (einzige ganze Note) besonders betont wird. Der Text wird dabei syllabisch vertont. Zwei Ausnahmen gibt es: Melismen bei singe und lobe. Und gerade bei lobe kommt durch die einzige Achtelbewegung des ganzen Liedes ein kleiner Schwung hinein. Im vierten und letzten Kanonteil verlässt die Melodie den Oktavraum und erhebt sich zum Schlusston d’’. Das geschieht auf den Text des Anfangsteiles. Ruppel stellt hier den Text des Psalms etwas um. Dort steht Mein Herz ist bereit zweifach hintereinander. Ruppel setzt diese Aussage jeweils an den Anfang und den Schluss des Kanons. Singen und Loben der mittleren beiden Teile werden in dieses Herzensbekenntnis eingeschlossen. Am Ende des Kanons verleiht die krönende Dur-Terz dem Schluss einen strahlenden Charakter. Weil die Kanoneinsätze nicht bei musikalischen oder textlichen Zäsuren liegen, ist eine gute Singleitung erforderlich. Man kann diesen Kanon als Vorspruch oder Rahmenvers bei anderen Liedern verwenden, zum Beispiel EG 302 Du, meine Seele, singe oder EG 328 Dir, dir, o Höchster will ich singen. Er eignet sich aber auch als Möglichkeit zum Einsingen, zur Lockerung und Stimmbildung, sogar als Grundlage chorischer Improvisation – so schlägt es Ruppel selbst im Vorwort von „Kleine Fische“ und bei Meyer 21997 vor.
Thomas Schmidt
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Kommentare zu den Liedern
340 Ich will dem Herrn singen mein Leben lang EG 340 RG 65+ KG 529+
CG 796+ EM 27
Text
Quelle Ps 104,33 Abweichungen ohne Wiederholung von und meinen Gott loben (Luther 2017) Melodie
Incipit 1_ 2_1_2_ 3_2_1_ 5__5_ 5__ Verfasser Johannes Petzold Entstehung 1969 Quellen (a) Autograph wiedergegeben auf: https:// www.johannes-petzold.de/ (16.11.2020) * (b) Herbert Beuerle, Doris Kusenberg (Hg.), Mein Dudelsack. Sing- und Spielbuch für Kinder, Gelnhausen / Berlin 1971 Besonderes Kanon mit Vorspruch; Unterschrift in (b): Dieser
Kanon läßt sich verbinden mit Liedern wie: „Ich singe dir mit Herz und Mund“, „Nun lob, mein Seel, den Herren“, „Lobe den Herren, den mächtigen König …“ Ambitus G: 8; Z: 5455(455) Abweichungen Fermate über Schlusston der 1. Zeile * EM: mit Ostinato und Schluss von Horst Krüger 1986
Literatur
HEG II, 239–241 ** ThustB, 297 / Nf, 276; ThustL II, 136
Ich will dem Herrn singen mein Leben lang ist ein dreistimmiger Kanon von Johannes Petzold, der aus einem kurzen Vorspruch und dem eigentlichen Kanon besteht. Er wurde in vielen Liederbüchern veröffentlicht und hat weite Verbreitung gefunden. Christoph Petzold hat seinem Vater eine Homepage eingerichtet. Auf ihr findet man den Kanon an oberster Stelle als Autograph des Komponisten. Er steht dort wie eine Überschrift zu dessen Leben. Petzold vertont den Vers 33 des Lob-Psalms 104. Durch die Wiederholung der Formulierung und meinen Gott loben gibt er ihr besonderes Gewicht. Der Kanon entstand in der Zeit des Liederfrühlings der 1960er Jahre, hat aber andere Wurzeln als das damals boomende Neue Geistliche Lied, das sich aus Quellen der Pop-, Jazz- und Gospelmusik speiste. Petzold, ein Kirchenmusiker in der DDR, sah sich selbst dagegen in der Tradition der Singbewegung1, die sich am Choral der Reformationszeit orientierte. Er grenzte sich von der Stilrichtung der Neuen Geistlichen Lieder ab und wurde in einem Vortrag zu den Melodien des Beiheftes zum EKG (1983) deutlich: 1 „In die erste Zeit meines Studiums fällt meine Begegnung mit der Singbewegung, die mich fortan nicht losließ und für mich in einer Weise bestimmend wurde, die über das Musikalische weit hinausging.“ (Lebenslauf vom 9.8.1964 – vgl. die Homepage des Komponisten: https://t1p.de/41lw; Abruf: 1.3.21).
340 Ich will dem Herrn singen mein Leben lang
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Es spricht gegen die Qualität vieler neu entstandener und immer wieder neu entstehender Jugendlied-Melodien, dass diese – von der Gitarre her konzipiert – in ihrer Ausführung durch die Gemeinde von entsprechender Begleitung fast vollständig abhängig sind. […] Man lässt sich mitreißen, aber man ist kaum in der Lage, die ‚heißen Rhythmen‘ richtig zu singen. Sie werden abgeflacht; die lautstarke Begleitung deckt den Mangel. Die eigentliche melodische Substanz ist meist beschämend dürftig. […] Eine gute Melodie, und sei sie noch so einfach, ist ein kleines Kunstwerk. Eine gute Liedmelodie entspricht in ihrem musikalischen Ausdruck der Aussage des Textes. Sie soll die Text-Aussage deklamatorisch unterstreichen und gefühlsmäßig vertiefen.2
Genau dies zeigt Petzold mit seiner Melodie zu dem gewählten Psalmvers. Der ¾-Takt beschert dem Lied einen tänzerischen, beschwingten und fröhlichen Charakter. Auf jeden Fall wird man es ganztaktig empfinden – wie einen schnellen Walzer. Im Vorspruch beginnt die Melodie in engen Schritten, erweitert sich schnell und schwingt sich dann empor zum dreimaligen c’’ auf Leben lang. Hier stehen die einzigen halben Noten, wenn man vom Schlusston einmal absieht. Damit „staut“ sich der Melodiefluss; in Petzolds Autograph steht auf lang sogar eine Fermate. Musikalisch gesehen ist diese Stelle ein komponierter Doppelpunkt, bevor dann der Kanonteil mit und meinen Gott loben beginnt. Jetzt sprudelt die Melodie wie ein Wasserfall: Punktierte Viertel, kleine Achtelläufe und Melismen bringen Lebendigkeit hinein. Sinnfällig ist, dass Petzold den zweifachen Satz und meinen Gott loben beide Male mit der gleichen Melodie bringt, beim zweiten Mal eine Terz tiefer, nur der Anfangston übernimmt den Schluss der vorhergehenden Zeile. Die Melodie gewinnt in diesen ersten beiden Kanonteilen an Tempo. Man denkt unwillkürlich an das biblische Sprichwort: Wes das Herz voll ist, des fließt der Mund über (Lk 6,45). Im dritten und letzten Kanonteil auf den Text solange ich bin beruhigt sich die Tonfolge wieder. Die Fokussierung auf das eigene Lebensende führt von der überschäumenden Freude in die Besinnung. In syllabisch verteilten Viertel noten unterschreitet die Weise hier einmalig den Grundton f. Auf ihm endet der Kanon. Die Schlussharmonie des Kanons bringt die drei Töne des Tonika-Akkordes F-Dur in seiner Grundstellung. Die dabei erklingenden Silben sind (lo-)ben und bin – also kein fanfarenhaftes (Hallelu-)ja! als Schlusswirkung. Der Kanon muss aber nicht unbedingt mehrstimmig gesungen werden. Auch das einstimmige Singen entfaltet das oben Gesagte. Dabei bilden die Schlusstakte des Vorspruchs (Leben lang) und des Kanons (solange ich bin) nicht nur textlich, sondern auch musikalisch eine Klammer. Bei manchen Liedern ist die Melodie – bildlich gesprochen – ein Resonanzboden des Wortes. Ohne diesen würde bei einem Instrument keine Saite richtig klingen. Und nur mit ihm kann ein Text auch Tiefenwirkung entfalten. Bei Petzolds Kanon ist dies in besonderer Weise der Fall.
Thomas Schmidt
2 Die Melodien des Beiheftes zum EKG NEUE LIEDER (1983): Referat vor den Kirchenmusikern der Arbeitsgemeinschaft evangelischer Kirchenmusiker in Erfurt am 11.10.1982, in Magdeburg am 8.11.1982 und in Friedrichroda im November 1982. Vgl. die Homepage des Komponisten https://t1p.de/ado5 (1.3.2021).
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Kommentare zu den Liedern
343 Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ EG 343 RG 206 Text
Verfasser unklar; neben Johann Agricola (s. Quelle) werden Herzog Albrecht von Preußen und Paul Speratus genannt (DKL III/1,2, Textband, S. 203 f ) Quellen (a) Ein neuwes lied / zů bitten vmb Glauben / Liebe / vnd Hoffnung / Vnnd vmb ein seliges leben gmacht durch Jon̄ Eyßleben des Hertzzoch Hans von saschē pridiger [= Johann Agricola], o. O. / o. J. [Hagenau 1526/27] (DKL 152701)1 * (b) Ein schœn geystlich lied,|| Zu Gott, in aller not […]. (Jobst Gutknecht), o.O / o.J [um 1526]2 Überschrift (a) s. Quellentitel * (b) Ein ander lied Ausgaben (a) W III,79 * (b) W III,78 Strophenbau A8/4a A7/3b-, A8/4a A7/3b-, A8/4c A7/3d- 4/2d- A6/3c A7/3d- Abweichungen (a) 1,3 verleih mir dy-
ner gnaden; 1,4 mich nit gar verzagen; 1,7 dich zuo lieben; 1,8 Nächsten nutz syn; 1,9 ist dir das gefelligst leben; 2,1 Ich darff noch; 2,8 auf alles mein thun; 2,9 es brecht mir hellisch grawen; 3,2 mein Feinden müg verzeihen; 3,4 schaff mir ein rechte rewe; 3,9 sonst wird ich bal v’lieren; 4,6 niemand verdienen; 4,7 noch sich sehnen; 4,8 durch werck nach deiner Gunst; 4,9 wie noch mancher thuott wenen; 5,2 doh bin ich vil zu schwache * (b) 2,8 auf all mein thun; 3,2 mein Feinden; 3,5 Speis laß ewig sein; 3,8 Unglück geht herein; 4,7 Werke dein gnad Verbindung TM (a) in der Q eigene Melodie (DKL III/1.1, B21 = Hagenau um 1526/27 [nicht die Melodie im EG]) * (b) in der Q ohne M
Melodie
Incipit 5_3b43b13b45_ Vorlage Die Stollenmelodie entspricht der Melodie zu Johann Agricolas Gottes Recht und Wundertat (Z III, 5689; DKL III/1, Ee1) in DKL 152611 Quelle Geistliche lieder auffs new gebessert, Wittenberg, 1533 (DKL 153302; Faksimile Kassel 1954; möglicherweise bereits in der verschollenen Auflage DKL 152903) Ausgaben Z IV,7400; B IV,431; DKL III/1.2, Ee17 Ambitus G: 9; Z: 55(55)65466 Abweichungen 𝄵; Oktave tiefer; Z. 1/2 und 3/4, letzter / erster Ton: je Viertelnote; Z. 5 letzter Ton Viertelnote mit Viertelpause; Z. 8, N 4–5: Halbenote zur Silbe nutz (ohne zu); Z. 9 letzter Ton: Ganze * RG: Taktvorzeichnung 𝄴; letzter Ton Ganze Verbindung MT in der Q wie EG * weitere Texte bis 1610:
Da Christus hätt’ nun dreißig Jahr (C. Spangenberg; DKL 156808); Nach Dir, o Herr, verlanget mich (B. Thaurer; DKL 156808); Ich schrei zum Herrn mit meiner Stimm’ (B. Thaurer; DKL 156808); Ach, Herr, vernimm mein kläglich Stimm’ (L. Jud; DKL 156702); Ach, Herr, wie sind derer so viel (G. Sunnderreitter; DKL 158109); Wahr’ Gottes Sohn, Herr Jesu Christ (P. Reinigius; DKL 158708); Herr hör, was ich will bitten dich (C. Becker; DKL 160503); Danket dem Herrn aus Herzensgrund (P. Reinigius; DKL 160504); Also hat Gott die Welt geliebt (W V, 116; DKL 160505); Gleich wie der Hirsch auf grüner Heid (G. E. Oemler; DKL 161006) * aktuell: O Jesu Christ, mein schönstes Licht (Paul Gerhardt; RG 654)
1 Digitalisat google books: https://t1p.de/f094 (1.3.2021). 2 Digitalisat Staatsbibliothek Berlin: https://t1p.de/w14e (1.3.2021).
343 Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ
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Literatur
HEKG (Nr. 244) I/2, 384 f; III/2, 183–186; Sb, 381 f; HEG II, 18.352–354 ** ThustB 303 f / Nf, 281 f; ThustL II, 145–147 ** Koch (31866–1877) I, 353; VIII, 308–311; KLL (1878–1886) I, 344 f; Nelle (31924/1962), Nr. 282; Bruppacher (1953), 330 f; DKL III (1993–2010)/ 1.2, Textbd. 203 f und 1, Registerbd. 120 und 2, Textbd. 331 und Abschließender Kommentarbd. zu Bd. 2–4, 289 f ** Spitta, Friedrich: Das Lied „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ und sein Verfasser, MGKK 20 (1915), 46–54 * Boehmer, Julius: Wer ist der Verfasser des Liedes „Ich ruf zu dir, Herr
Jesu Christ“?, MGKK 34 (1929), 132–138 * JennyG 1962, 246 * Gilman, Sander S.: The Hymns of Johann Agricola of Eisleben: A Literary Reappraisal, Modern Language Review 67 (1972), 375–381 * Rössler, Martin: Bibliographie der deutschen Liedpredigt, Nieuwkoop 1976, 258 * Meding, Wichmann von: Luthers Gesangbuch. Die gesungene Theologie eines christlichen Psalters, Hamburg 1998, 233–235.296.446 * Wissemann-Garbe, Daniela: Neue Weisen zu alten Liedern. Die Ersatzmelodien im Klugschen Gesangbuch von 1533, JLH 37 (1998), 118–138, bes. 136
Dieses Gebetslied aus der Frühzeit reformatorischen Singens erbittet Wegweisung für ein christliches Leben: Den rechten Glauben, Herr, ich mein (im Sinne von: erstrebe ich). Die Verfasserschaft gilt als unsicher. Die erste Quelle, ein Einzelblattdruck von 1526/27, verweist auf Johann Agricola (1494–1566). Der war wie Luther aus Eisleben gebürtig und wirkte dort von 1525 bis 1536 als Lateinschulrektor und Prediger. Er war mit Luther und Melanchthon befreundet, enger Mitreformator und ab 1536 wieder in Wittenberg anzutreffen. Später begannen die drei Freunde, sich über Lehrfragen zu zerstreiten. Der sogenannte „antinomistische Streit“ ging um die Frage, ob der Mensch das göttliche Gesetz zur Erkenntnis seiner Sündhaftigkeit vor Gott brauche oder ob diese Erkenntnis nicht eine Frucht des Glaubens als Erkenntnis der Barmherzigkeit Gottes sei. Bei Entstehung des Liedes war diese Diskussion noch in den Anfängen, sie spielte noch keine so wesentliche Rolle. Insbesondere mit Luther bestanden noch jahrelang lebhafte Kooperationen. Es spricht immer noch viel für den im Erstdruck angegebenen Autor. Erwogene Alternativen (etwa Herzog Albrecht von Preußen und Paul Speratus) sind keineswegs stärker begründet. Der Text beginnt in Str. 1 als Gebet: Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ. Was wird erbeten? Den rechten Glauben, Herr, ich mein, den wollest du mir geben. Es geht hier nicht um eine Zusammenstellung zentraler Glaubens-Formulierungen wie bei der Gattung der „Glaubenslieder“, sondern um den Glaubens-Akt als Bekenntnis zu Gott. Dir zu leben, begehrt das Lied. Dafür bleibt dem Menschen nur das Erbitten, kein Versprechen, nur ein Meinen, das aber im Sinne uneingeschränkten Wollens. Darum wohl wird gleich zu Beginn dieses Bittlied als Klage deklariert – ich bitt, erhör mein Klagen. Der Beter / die Beterin bleibt auf Gott angewiesen, gemäß dem Jesuswort ohne mich könnt ihr nichts tun (Joh 15,5). Der Erstdruck hatte die Anliegen des Gebets in der Überschrift vierfach konkretisiert: „Ein neuwes lied / zu bitten vmb Glauben / Liebe / vnd Hoffnung / Vnnd vmb ein seliges leben“. Die ersten drei Anliegen zitieren die zentrale Bibelstelle 1. Kor 13,13. Davon wird neben dem Glauben ausdrücklich nur die Hoffnung erwähnt: die Hoffnung gib daneben (Str. 2,4). Allerdings heißt es im Erstdruck statt dir zu leben: dich zu lieben. Dieses Leben bzw. diese Liebe wird alsbald konkretisiert als Nächstenliebe: meim Nächs-
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Kommentare zu den Liedern
ten nütz zu sein, aber auch da gebunden an das Wort Gottes (vgl. Mi 6,8): dein Wort zu halten eben. Die von Luther bestimmten Gesangbücher von Josef Klug 1533 (Erstausgabe 1529 verschollen) und Valentin Babst 1545 haben den Schlüsselbegriff Glauben durch Weg ersetzt: Den rechten Weg, o Herr, ich mein. Das sollte wohl die paulinische Trias der Überschrift zusammenfassen. Spätere Gesangbuchredaktionen sind hier zum Originaltext den rechten Glauben, Herr, ich mein zurückgekehrt, da sie die Gottesliebe durch dir zu leben hinreichend ausgesprochen fanden. In Str. 2 kommt, wie bereits erwähnt, die Hoffnung ausdrücklich zur Sprache, und zwar im Blick aufs Sterben: voraus, wenn ich muss hier davon. Die in Glauben und Gottesliebe eröffnete Hoffnung wird mich nicht auf all mein eigen Tun, sondern auf Gott vertrauen lassen: Du kannst es mir wohl geben. Auch hier wird nicht gefordert, sondern erbeten. Str. 3 konkretisiert die schon benannten Aspekte eines Lebens aus Glauben noch einmal beispielhaft durch Feindesliebe und Leben aus Gottes Wort. Beides mache standhaft gegen alles Unglück. Str. 4 vertieft nachdrücklich, dass hier alles nur durch Gottes geist erfüllendes Handeln zu bewirken ist und – bei aller Nächsten- und Feindesliebe – nichts verdient oder erarbeitet werden muss und kann. Str. 5: Ich lieg im Streit und widerstreb. Anfechtungen, Zweifel, auch Entmutigungen (vgl. Str. 2,3: dass ich nicht wieder werd zu Spott) werden dem Glauben weiterhin zu schaffen machen. Aber wir haben in Jesus Christus, in dem uns Gott ganz nahegekommen ist und nahe bleibt, den allmächtigen Bundesgenossen. Wir müssen, ja wir können nun selber nahe dranbleiben – an deiner Gnad allein ich kleb –, weil wir wissen, du wirst’s nicht lassen. So leben wir mit der Aussicht, nicht „umgestoßen“ zu werden – dass mir’s nicht bringt Gefahr –, mit einer Aussicht also, die nicht einmal im Sterben enden wird und schon dieses Leben lebenswert macht. Und das wird nun gesungen! Die Textquelle a von 1526/27, bietet noch eine andere Melodie mit auskolorierten Zeilenschlüssen nach Meistersingerart. Im Gesangbuch Josef Klugs finden wir die heute gebräuchliche Weise. In den beiden Stollen (vor dem Wiederholungszeichen) stimmt diese Melodie mit der eines früheren Liedes von Johann Agricola überein (siehe oben die Hymnologischen Nachweise zu Melodie / Vorlage). Die von Klug ist anscheinend aus jener entwickelt. Auch dies spricht meines Erachtens für Agricola als Textdichter. Dorische Melodik wurde im 16. Jh. durch Erniedrigung des h zu b dem heutigen dmoll weitgehend angenähert, sofern die Melodie nicht aufwärts weiter fortschreitet. So (zweimal) auch hier. In den (melodisch gleichen) Stollen kreist sie um den Ton a’, erst abwärts bis zum Grundton d’, dann aufwärts bis zum c’, dem dorischen „Reperkussionston“ (von „zurückwerfen“, „umlenken“), um danach mit dem Halbtonintervall von b aus auf dem a zur Ruhe zu kommen. Im Abgesang verlagert sich die Tonalität zunächst in den lydischen F-Raum (entsprechend heutigem F-Dur), kreist aber weiter um den Ton a. Die Melodie beginnt hier mit einer höher gelegten Abwandlung der Stolleneröffnungszeile. Die Motive werden teils umgekehrt, teils verlagert. Die mit dem Durchgangston g’ gefüllte absteigende Terz a’ f ’ wird in der nächsten Zeile bis zur Quinte ausgeweitet und endet damit auf dem Grundton d’. In der anschließenden Kurzzeile (dir zu
343 Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ
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leben) erreichen wir – einen Tetrachord abwärts – sogar den unteren Reperkussionston c’ und somit den hypo-lydischen Tonraum (eine Quarte unter dem „authentischen“). Der Ton c’ eröffnet einen Auftakt, Quarte aufwärts, immer noch im hypolydischen Raum. Erst die Schlusszeile kehrt in dorische Tonalität zurück. Sie setzt noch einmal auf dem b-rotundum ein, springt vom letzten Ton des Tetrachords f ’ zum Grundton d’ und kehrt noch einmal zum f ’ zurück, um mit einer letzten absteigenden Terz zu schließen. Diese vielfältigen Verzahnungen und Abwandlungen aus wenigen Motivbausteinen erzeugen nicht nur eine einprägsame Kantabilität, sondern dienen einer konzentrierten Diktion singenden Betens und damit dem Text. Anders als in Agricolas Ursprungsmelodie könnte bei dieser Melodiegestaltung ein musikalischer Profi aus dem Wittenberger Kulturkreis mitgewirkt haben.3 Allerdings finden sich dafür weder bei Johann Walter noch bei Georg Rhau Belege.
3 Wissemann-Garbe 1998, 137 f.
Joachim Stalmann
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Kommentare zu den Liedern
354 Ich habe nun den Grund gefunden Text
Verfasser Johann Andreas Rothe Entstehung kaum als Geburtstagsgabe für Zinzendorf 1728, wie oftmals angenommen, da bereits vorher veröffentlicht Vorlage Hebr 6,19; dazugehörige Predigt von Johannes Tauler Quelle Sammlung geistlicher und lieblicher Lieder (Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf ), Leipzig [1725, so die Datierung des Vorworts; ohne Verfasserangabe] Überschrift XV. Vom Glauben zu GOtt. 934. Mel. Wer nur den lieben GOtt läßt walten etc. Strophenbau A9/4a- A8/4b A9/4a- A8/4b A8/4c A8/4c vgl. Frank 6.38 Abweichungen 2,4 zu dem Sünder; 6,6 bleibet die Barmherzigkeit; nach 6: 7. Beginnt das irdische zu drücken; 8. Muß ich an meinen besten wercken; 9. Es gehe nur nach dessen Willen Verbindung TM in der Q ohne N; die in der Überschrift genannte Mel ist nicht eindeutig
zu bestimmen: vgl. Z II,2778 (= EG 369) – 2781, darunter ist der Text „Ich habe nur den Grund gefunden“ aber nur mit Z II,2781 (vgl. EG 328 Dir, dir, o Höchster will ich singen) belegt, im 19. Jh. wurde die Melodie neben anderen Texten auch nach Ich habe nun den Grund gefunden benannt * eigene Melodien: Z II,2863 (DKL 173506), 2864 (DKL 176724) * weitere: Z II,2849 (Ich bin mit dir, mein Gott zufrieden, DKL 173103, verbunden in DKL 179801) * Z II,2869 (Ich sterbe täglich, Handschrift Emskirchen 1756, verbunden 1870) * Z II,2883 (Ich bin dein Gott und deines Samens, Handschrift Doles 1780, verbunden in DKL 179801) * Z II,2907 (Mir ist Erbarmung widerfahren, Schicht 1819, verbunden: Zürich 1853); vgl. auch Z V, S. 391 unter „3. Ergänzungen zu den statistischen Angaben“.
Melodie
s. O dass ich tausend Zungen hätte (EG 330) Literatur
HEKG (Nr.269) I/2, 415 f; III/2,236 f; Sb 421–423; HEG II,262 f ** ThustB, 311/ Nf, 289; ThustL II, 168–170 ** KLL (1878–1886) I, 335; Nelle (31924/1962) Nr. 272; Bruppacher (1953) 281 f; RößlerL (22001) 656 ** König, Christof: Johann Andreas Rothes’s geist-
liche Lieder. Ein Beitrag zur Geschichte des Kirchenliedes, MGkK 10 (1905), 297–301 * Müller, Joseph Theodor: Hymnologisches Handbuch zum Gesangbuch der Brüdergemeine, Herrnhut 1916 * NelleG 41962, 224
In dem zuerst 1725 in Zinzendorfs Sammlung geistlicher und lieblicher Lieder ohne Angabe des Verfassers abgedruckten Lied sind Grundüberzeugungen lutherischer Theologie und Motive pietistischer Frömmigkeit miteinander verbunden. Schon der Beginn des Liedes mit dem prominent vorangestellten Ich habe nun den Grund gefunden könnte auf ein Bekehrungserlebnis Johann Andreas Rothes hindeuten. Dieser Grund der eigenen Glaubensexistenz ist die abgrundtiefe Barmherzigkeit, die sich im heilbringenden Sterben Jesu manifestiert. Das Bild des Grundes rahmt das Lied, denn in der 7. (original 10.)
354 Ich habe nun den Grund gefunden
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Strophe heißt es: Bei diesem Grunde will ich bleiben. Es wird – zum Abgrund transformiert – noch in Str. 4 verwendet. Dies ist insofern von Bedeutung, als diese Strophe einen Umschwung im Lied markiert: Während nach dem Auftakt in Str. 1, in der das Ich so klar betont wird, in den Strophen 2 bis 4 das Erbarmen Gottes im Mittelpunkt steht, geht es in den Strophen 5 bis 10 um den Menschen in seinen Anfechtungen. Die vierte Strophe bringt das Thema des Liedes auf den Begriff: Barmherzigkeit, Barmherzigkeit. Mit der wohl auf Hebr 6,18 ff anspielenden nautischen Metapher in Str. 1 greift Rothe die im Pietismus rezipierte Mystik auf. Der Dominikaner Johannes Tauler (um 1300–1361) forderte nämlich in einer Predigt dazu auf, in der Anfechtung, wenn einem alles verloren zu sein scheint, den Anker zu ergreifen und ihn in den göttlichen Grund der Gnade zu werfen, „das ist ein ganz vollkommenes Vertrauen und Hoffen in Gott dem Herrn.“1 Schon Tauler rekurriert also auf Hebr 6,19. Rothe ergänzt das Bild um ein Motiv der Blut- und Wundentheologie, die er bei Zinzendorf kennengelernt hat (vgl. dazu den Kommentar zu EG 350): der zeitliche (Seelen-)Anker findet in Jesu Wunden seinen ewigen Grund. Diese theologische Aussage markiert nun allerdings einen Unterschied zwischen Rothe und der Mystik. Während diese nämlich die Einigung mit Gott im Seelen-Grund sucht, bleibt für Rothe (gut lutherisch) dieser Grund ein externes heilsgeschichtliches Ereignis: der Kreuzestod Christi. Beiden gemeinsam dürfte das Anliegen sein, Glaubende, denen sich die Heilsgewissheit verdunkelt hat, weil ihre Sünden sie kränken (Str. 5) oder weil ihnen alles entrissen wird, was Seel und Leib erquicken kann (Str. 6), zu trösten und zu stärken. Deshalb liegt der Akzent deutlich auf der Mitteilung der göttlichen Barmherzigkeit. Die nachfolgenden Strophen entfalten und vertiefen die in der ersten Strophe eröffnete Sicht mit weiteren biblischen Anklängen. Die offenen Liebesarme in Str. 2 erinnern – wohl auch im Sinne einer Passionsfrömmigkeit (s. u.) – an die ausgespannten Arme Christi am Kreuz, der sich zu den Sündern neigt (vgl. Lk 23,42 f ). Str. 3 lässt Rothe mit einem Anklang an Joh 3,16 f (auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben) beginnen und endet dann mit einem Hinweis auf Offb 3,20 (Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an). In alledem ist Christus der Handelnde. In Str. 4 kehrt das Bild des Grundes zurück: Es ist der Abgrund der Barmherzigkeit (Str. 7). Schon Luther konnte vom „Abgrund der Liebe“ im Sinne einer unermesslichen Tiefe reden. Aber auch in der Mystik ist Abgrund ein gebräuchlicher Terminus. In dieser Tiefe der Barmherzigkeit Gottes verschwinden alle Sünden. Neben Anspielungen auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter in Lk 10,25–37 (die Wunde recht verbinden) und der Erzählung von Jesus und der Ehebrecherin in Joh 8,2–11 (da findet kein Verdammen statt) kommt hier ein weiteres Mal die Blut- und Wundenfrömmigkeit des Zinzendorfschen Pietismus zum Tragen. Anders als das Blut Abels, das nach Vergeltung schreit (vgl. Gen 4,10), schreit das Blut Christi nach Barmherzigkeit. Die am Ende von Str. 4 zweifach angerufene Barmherzigkeit wird in allen folgenden Strophen wieder genannt. 1 Johann Taulers Predigten. Nach den besten Ausgaben und in unverändertem Text in die jetzige Schriftsprache übertragen. Zweyter Theil. Von Ostern bis zum Advent, Frankfurt / Main 1826, 224 (Predigt am 3. Sonntag n. Trinitatis).
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Kommentare zu den Liedern
Nach Str. 5 ist der Abgrund der Barmherzigkeit Gottes, in dem alle Sünden verschwinden, zugleich der Abgrund, in den hinein sich der Glauben senken soll (Darein). Hier klingt noch einmal ein Motiv der Mystik an, ebenso auch in der Schau des göttlichen Herzens. Der seelsorgerliche Rat Rothes lautet: Der Blick soll sich nicht auf die eigenen Sünden richten, sondern auf die Barmherzigkeit Gottes. Freilich wird auch hier wieder die Differenz zur Mystik deutlich: Die nach innen gerichtete Schau Gottes, die die Mystik zu erlangen suchte, ist etwas anderes, als nach Gott zu schauen. Eher drückt sich darin noch eine Passionsfrömmigkeit aus, die in der Anschauung des Gekreuzigten als Meditationsübung gipfelt. In Str. 6 und den ausgefallenen Strophen 7 und 8 geht es um konkrete Anlässe, die jeweils auf die göttliche Barmherzigkeit hoffen lassen und damit um die Anwendung der gefundenen Glaubenseinsicht. Ist es in Str. 6 der Verlust von allem, was Seel und Leib erquicken kann, so in Str. 7 die Anfechtung durch das Irdische, das zur Zerstreuung führt. In Str. 8 schließlich wird sich der Glaubende bewusst, dass seine Werke unvollkommen sind. Die 9. Strophe bringt zum Ausdruck, dass die Ergebung in Gottes Willen in Lieb und Leid letztlich das Herze stillen kann. 7. Beginnt das Irdische zu drücken, ja, häuft sich Kummer und Verdruss, dass ich mich noch in vielen Stücken mit eitlen Dingen mühen muss; ich werde ziemlich sehr zerstreut: so hoff ich auf Barmherzigkeit.
8. Muss ich an meinen besten Werken, darinnen ich gewandelt bin, viel Unvollkommenheit bemerken, so fällt wohl alles Rühmen hin. Doch ist auch dieser Trost bereit: so hoff ich auf Barmherzigkeit.
9. Es gehe nur nach dessen Willen, bei dem so viel Erbarmen ist; er wolle selbst mein Herze stillen, damit es das nur nicht vergisst: So stehet es in Lieb und Leid in, durch und auf Barmherzigkeit.
Die jetzige Strophe 7, die ursprüngliche zehnte Strophe, schließt den Kreis. Hier scheint zuletzt doch ein genuin pietistisches Motiv auf: Es kommt nicht nur darauf an, den Grund gefunden zu haben, sondern auch, bei ihm zu bleiben, und zwar so, dass sich dieser Grund im gesamten Leben (denken, tun und treiben) auswirkt. Die letzte Strophe berührt auch insofern die erste Strophe, als sich hier ebenfalls der Blick auf die Ewigkeit weitet. Es ist ja ein Ankern im ewigen Grund. Darum kann auch das Bleiben in diesem Grund keine letzte Erfüllung auf Erden finden, sondern erreicht diese erst in der Ewigkeit.
Thomas Melzl
371 Gib dich zufrieden und sei stille
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371 Gib dich zufrieden und sei stille EG 371 RG 683 Text
Verfasser Paul Gerhardt Entstehung vielleicht vor 1664 (s. Kommentar) Vorlagen Tob 5,29 (Verszählung nach Zählung Luther 1545/ 1970); Ps 37,7; Ps 116,7 Quelle PAULI GERHARDI Geistliche Andachten Bestehend in hundert und zwantzig Liedern (Johann Georg Ebeling), Berlin 1666/1667 (DKL 166603-04/ 166705)1 (Nr. XI) Ausgaben FT III,474 * Wunderhorn 2001, 299 Strophenbau A9/4a8/4b-, A9/4a- 8/4b-, A9/2c+2d- A9/2c+2d(Binnenreim) R: A5/2x- Abweichungen 4,1 (u. ö.) wann; 4,6 dich zu benehmen; 7,6 Da
See und Land sich muß von laben; 8,5 Der wird ja auch dich eingen füllen; 8,6 deinen Bauch zur Notdurft; 9,6 Da schickt er zu uns; 10,6 was verzeucht * RG: 5,1 das Seufzen; 7,6 dran See und Land sich müssen laben; 8,5 der wird dir auch den Hunger stillen; 8,6 nach Vaterbrauch die Hand dir füllen; 15,3 Frieden heimgefahren; ohne Strophen 6, 10, 12, Verbindung TM in der Q mit eigener Melodie: Z IV,7414 * weitere: Z IV,7415 (s. u. Melodie); Z IV,7416– 7427 (1699–1876)
Melodie
Incipit 8__7b_6b_ 5_.54_5_ 3b__2__ Verfasser Jakob Hintze Quelle Neuvermehrete Geistliche Wasserquelle […] Mit […] Pauli Gerhardi 120. Geist- und Trostreichen Liedern, Berlin 1670 (DKL 167007) Ausgaben Z IV,7415;
PPMEDW II/1, Nr. 780 in Vorb. (nach DKL 169016) Ambitus G: 10b; Z: 7b6(7b6)6b85 Abweichungen Q (nach Z): mit 𝄵; Halbton höher; Z. 7 N 1: d’ * RG: mit 𝄵; Halbton höher Verbindung MT wie EG
Literatur
HEKG (Nr. 295) I/2, 446 f; III/2, 288–291; Sb, 461–464; HEG II, 110–112.155 f ** ThustB, 331 f / Nf, 308 f; ThustL II, 212–214 ** KLL (1878–1886) I, 211 f; Bruppacher (1953) 300 f ** de Boor, Friedrich: Theologie, Frömmigkeit und Zeitgeschichte im Leben und Werk Paul Gerhardts, in: Heinz Hoffmann (Hg.), Paul Gerhardt. Dichter, Theologe, Seelsorger 1607–1676. Beiträge der Wittenberger Paul-Gerhardt-Tage 1976, Wittenberg 1976, 25–52 (bes. 40–46) * Schönborn, Hans-Bernhard: Lieder Paul Gerhardts in den heute gebräuchlichen Gesangbüchern, JLH 24
(1980), 113–123 * Möller, Christian: Vom Geist eines geistlichen Widerstandes in Paul Gerhardts Lied „Gib dich zufrieden und sei stille“, Der Kirchenchor 47 (1987), 31–37 * Möller, Christian: Gib dich zufrieden und sei stille (Liedmeditation), in: Möller 1997, 194– 199 * Henkys, Jürgen: Gib dich zufrieden und sei stille, in: Wunderhorn 2001, 299–309 * Friederich, Anselm: Predigt zu „Gib dich zufrieden und sei stille“, in: Richard Hartmann (Hg): Wer singt, betet doppelt: Liedpredigten und Betrachtungen zum „Geistlichen Wunderhorn“, Münster 2003, 113–119 * Deich-
1 Digitalisat Bayerische Staatsbibliothek München: https://t1p.de/bgv1 (1.3.2021) und Faks.: hg. von Friedhelm Kemp, Bern 1975.
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Kommentare zu den Liedern
gräber, Reinhard: Nichts nimmt mir meinen Mut. Paul Gerhardt als Meister christlicher Lebenskunst, Göttingen 2006, 106–110 * Bunners 2006/2007 passim * Heymel, Michael: Gib dich zufrieden und sei stille. Trostargumente für Besuchskreise, in: Felizitas Muntanjohl / Michael Heymel: Auf, auf, mein Herz, mit Freuden. Gottesdienste, Gemeindearbeit und Seelsorge mit Liedern von Paul Gerhardt, Gütersloh 2006, 184–188 * Finke, Christian: Paul Gerhardt vertont. Eine unvollständige Übersicht über mehrstimmige Fassungen und Kanons seiner Lieder, in: Winfried Böttler (Hg.): Paul Gerhardt in Kirche, Kultur und Lebens-
alltag. Beispiele für die Praxis, Berlin 2007, 157–171 (bes. 163) * Göldner, Klaus (2007): Predigt auf www.predigtpreis.de: https://t1p. de/y1y1 (1.3.2021) * Wenzel, Mechthild: … unanständige Melodien heraußgelassen … Die Editio XXIV der Praxis pietatis melica, Berlin 1690, von Johann Crüger und Jacob Hintze, JLH 46 (2007), 190–213 (bes. 197.199.208) * Schmidt, Bernhard: „Gib dich zufrieden und sei stille …“, Predigt zum Festgottesdienst in der Kirche zu Groß Glienicke am 16. September 2007, in: Ders. (Hg): Ein unbeugsamer Protestant. Der Groß Glienicker Paul-Gerhardt-Tag 2007, Berlin und Basel 2008, 11–18
Ein veritabler Ehestreit, und das in der Bibel: Die in bitterer Armut lebende, zänkische Frau klagt ihren seit einiger Zeit erblindeten Ehemann weinend an, dass er ihren einzigen Sohn, die Hoffnung ihres Alters, in Lebensgefahr bringe aus dem Streben nach Geld; der Sohn ist aufgebrochen in entferntes Ausland, um auf risikoreicher Tour dem Vater zustehendes Geld einzutreiben. Der Ehemann wehrt sich gegen den Vorwurf – einzig mit seinem Gottvertrauen. Er ist sich der guten Heimkehr des Sohnes völlig sicher, obwohl dieser nur einen einzigen vertrauenswürdigen Begleiter hat: Denn ich gleube das der gute Engel Gottes jn geleite / vnd alles wol schicken wird / das er fur hat … Also schweig seine mutter stille / vnd gab sich zu frieden (Tob 5,292). Paul Gerhardt bündelt diese Begebenheit in den Rat: Gib dich zufrieden und sei stille / in dem Gotte deines Lebens!, und die ersten drei Wörter werden zum suggestiven Refrain jeder der 15 Strophen des Liedes: Gib dich zufrieden! Der im EG vollständig repräsentierte Textbestand ist nur behutsam orthographisch und sprachlich aktualisiert; so ist in 8,6 das drastische deinen Bauch zur Nohtdurfft stillen jetzt gemildert in dein Begehr und Notdurft stillen. Der Text zählt zu den späten Gedichten Gerhardts, erstmals greifbar in der ersten Teillieferung der Ebelingschen Werkausgabe, deren Widmung vom Komponisten auf den 16. Februar 1666 datiert ist. Dies fällt in dramatische Zeiten, da der lutherische Pfarrer Gerhardt am 13. Februar 1666 durch seinen reformierten Kurfürsten und obersten Bischof Friedrich Wilhelm des Amtes enthoben worden war. Jenes erste Dutzend Lieder ist von Ebeling speziell den „Praelaten / Grafen / Herren / Ritterschafft und Städten / Der Chur und Marck Brandenburg / disseits der Oder / und jenseits der Elbe / Meinen respectivè gnädigen / gebietenden Herren und mächtigen Befoderern“3 gewidmet, also der Sponsorengruppe der Stände – eine Gruppe, die es wagt, den Druck von Liedern eines in Ungnade gefallenen lutherischen Pfarrers zu finanzieren. Direkte Spuren des
2 Orthographie hier und im Folgenden nach Luther 1545, ebenso die Verszählung. Die Vulgata und der revidierte Luther-Text 1970 zählen jedoch 5,28! In heutigen Ausgaben, die auf anderen Textzeugen als den von Luther verwendeten beruhen, z. T. nicht enthalten! 3 Ebeling, unpaginiertes Vorsatzblatt zum 1. Dutzend.
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Kirchenstreits sind im Text kaum auszumachen,4 der Anlass scheint vielmehr seelsorgerlicher Art. Für eine genauere Datierung der Entstehung kann lediglich ein Anhaltspunkt gefunden werden in dem 1664 gedruckten Gedicht „Zion gib dich nur zufrieden“ von Joachim Pauli (1636–1708), einem Schüler Gerhardts; es wird vermutet, dass Gerhardt ihm im Rahmen der seinerzeit üblichen Praxis der Nachahmung („imitatio“) zur Erlernung des dichterischen Handwerks seinen Text als zu imitierendes Vorbild gegeben habe, so dass dieser dann bereits 1664 vorgelegen haben müsste.5 Mögliche Gliederungsebenen erschließen sich sowohl über die Rederichtung als auch nach inhaltlichen Kriterien. Das im Refrain stets angesprochene Du sei hier charakterisiert als ein „Trostbedürftiger“, dem das tröstende Handeln Gottes von einem „Seelsorger“ vor Augen gestellt wird. In Str. 1 bis 11 spricht der „Seelsorger“ zum „Trostbedürftigen“ in direkter Du-Anrede und meldet sich in 3,6 indirekt (unser Sehnen), in Str. 9 und 10 direkt als Ich selbst zu Wort. Str. 12 setzt Str. 11 sinngemäß fort, enthält jedoch ausschließlich im Refrain die Anrede des Du. In den Strophen 13 bis 15 stellt der „Seelsorger“ sowohl den „Trostbedürftigen“ als auch sich selbst in die Gemeinschaft eines größeren „Wir“ der sterblichen und erlösungsbedürftigen Menschheit (die womöglich in 3,6 auch schon mit angeklungen war). Der inhaltliche Gedankengang beginnt in den Strophen 1 und 2 mit der summarischen, preisenden Benennung Gottes als Quelle von Geborgenheit, Freude, Trost, Licht und Gnade und seinem helfenden Nahesein auch in Pein und Tod. Die ebenfalls im Präsens gehaltenen Strophen 3 bis 5 schildern Gott als den, der Not und Sorgen der Menschen sieht, kennt, zählt, weiß, hört. Dabei ist er verlässlich treu und nahe (5,5 steht in der Mitten). Darauf erhält der „Trostbedürftige“ vom „Seelsorger“ über den Refrain hinaus in 6,2 einen direkten, positiven Rat: Halt an Gott, so wirst du siegen! Die Strophen 6 bis 10 entfalten das helfende Eingreifen Gottes: Gott erhört, beschert, labt, tränkt, speist, füllt, stillt, hilft, schickt, führt – die Verben dabei teils im Präsens, teils im Futur. Schon ab Str. 9 bis Str.12 werden allerdings verschiedene Anfechtungen benannt, die den „Trostbedürftigen“ hindern könn(t)en, das helfende Handeln Gottes wahr- bzw. anzunehmen. Dies mündet in zwei ausdrückliche Warnungen des „Seelsorgers“ an ihn: 9,1 Sprich nicht …; 11,1 Nimm nicht zu Herzen … Die futurischen Strophen 13 bis 15 nehmen den bereits in 2,6 benannten Tod wieder in den Blick, aber in erweitertem Horizont: Alle Menschen müssen leiden und sterben, es warten jedoch erlösender Ruhetag und die eschatologische Gemeinschaft der Erlösten, geborgen in Gottes Frieden. Für die Strophen 1 bis 14 ist auch eine paarweise inhaltliche Gliederung vorgeschlagen worden6, dies ist jedoch nicht durchgängig plausibel. Das ganze Lied lässt sich auch nach dem spätantiken, im Barock beliebten rhetorischen Muster der septem loci gliedern:7 Wer? Str. 1 und 2; Was? Str. 3–5; Wann? 4,3; 5,6; 13,6; 14,1; Wo? 5,5; Wie? („quemadmodum“) und Wodurch? (Hilfsmittel) Str. 7–9; Warum? Str. 14–15.
4 Anders z. B. Schmidt 2008, 14. 5 Vgl. Arnold Niemann, Paul Gerhardt ohne Legende, Göttingen 2009, 250 f; bes. Fußnote 368. 6 ThustL II, 213 f. 7 Vgl. Henkys 2001, 305 f.
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Kommentare zu den Liedern
Das kunstvolle Versmaß ist von Gerhardt eigens entwickelt worden und einmalig in seinem Werk. Nach altdeutscher Einteilung liegt eine Meistersangstrophe mit zweistolligem Aufgesang (Verse 1–4) und dem Abgesang (Verse 5–7) vor. Nach antiker Metrik wechseln in Vers 1–4 jeweils vierhebige auftaktige (jambische) und volltaktige (trochäische) Verse, gefolgt von zwei vierhebigen Jamben und dem zweihebigen, ebenfalls jambischen Refrain. Sämtliche sieben Verse enden weiblich, d. h. unbetont. Allerdings wird das streng durchgehaltene jambische Schema im Incipit (1,1) und durchweg im Refrain durch den einsilbigen, drängenden Imperativ Gib überprägt, der nach Betonung verlangt ebenso wie das mehrfach am Zeilenanfang stehende Er (vgl. die volltaktige Melodiefassung).8 Das Reimschema zeigt Endreime (ein Kreuzreim abab, ein Paarreim cc; der reimlose Refrain d ist eine „Waise“). Sämtliche Strophen weisen allerdings zusätzlich in den Versen 5 und 6 einen Binnenreim der Halbzeilen auf (z. B. 1,5 und 1,6: Quell – hell; 7,5 und 7,6: Hand – Land; letzteres in den ersten Auflagen des EG (1993) fälschlich nicht durchgehalten, daher wäre Vers 6 auch dort wie im Original zu lesen: Er hat ein Hand, voll aller Gaben, da See und Land sich muss von laben).9 Der regelmäßige Wechsel von Hebungen und Senkungen mit je weiblich endenden Zeilen evoziert eine „strömende Ruhe … und einen sich steigernden Nachdruck“10 zum Refrain hin. Re frainverse sind bei Gerhardt selten und in nur vier von 139 Gedichten zu beobachten; analog lediglich EG 447 Lobet den Herren, alle die ihn ehren (Refrain wie Incipit: Lobet den Herren!), bei EG 325 bildet die Sentenz Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit unabhängig vom Incipit den Refrain, sowie (nicht im EG) Wir singen dir, Immanuel ein Alleluja-Ruf als Refrain.11 Außer Tob 5,29 als Ansatzpunkt der Lied-Dichtung finden sich weitere wörtliche Entsprechungen im selben apokryphen Buch. Auf die oben zitierte Tobias-Rede 5,29 rekurriert auch da schickt er zu / uns wol zu führen in Str. 9,6. Tob 13,8 VND ich wil mich nu von hertzen frewen in Gott spiegelt sich in 1,2 f … / in dem Gotte deines Lebens / In ihm ruht aller Freuden Fülle; Tob 14,4 Vnd hat die vbrige zeit seines Lebens / frölich zugebracht / vnd nam zu in Gottes furcht / vnd starb in gutem frieden wird aufgenommen in 15,3 f: Die hier mit Frieden abgefahren, / sich nun auch im Frieden freuen. Darüber hinaus gibt es deutliche Analogien zum Buch Tobias, das sich mit seinen 14 Kapiteln als literarisch kunstvolle Vorlage des Liedes lesen lässt. Sämtliche im Gedicht differenziert geschilderten Nöte, die nach Trost rufen, wie auch die je geschehende tröstende Hilfe durch Gott sind hier vorgebildet, sei es die o. g. peinvolle Lebenssituation von Tobias, der zeitweise bitter lebensmüde ist, und seiner Frau, deren Zank auch eine Form der Untreue bildet, sei es die zusätzliche Probe beider in monatelangem Harren auf den ausbleibenden Sohn. Als dieser schließlich, bewahrt durch den Weggefährten, zur Freude 8 Hier wäre eine weitere metrische Untersuchung erforderlich. 9 Vgl. Henkys 2001, 524, Anm. 5; 303 f wird auch eine 9-zeilige Strophendarstellung vorgeschlagen (wie bereits im Handbuch zum EKG, Wort- und Sachkonkordanz, Göttingen 1953, S. 258 als sicher angenommen), so dass nun zwei Kreuzreime und die Waise blieben. Jedoch zeigt das Druckbild bei Ebeling 1666/67 präzise die 7-zeilige Anordnung mit Binnenreim. 10 Ebd., 304. 11 Faksimileausgabe (wie Fußnote 1), 128; FT III, 403. In EKG 30 fehlt der Halleluja-Refrain, weil eine andere Melodie gewählt wurde.
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der Eltern mit neuer Ehefrau zurückkehrt, erfährt der Leser, dass der freundliche Beschützer ein Engel Gottes war, und erkennt im Nachhinein: Das vielfältige Leid sollte für alle Familienmitglieder der Einübung von Geduld und der Prüfung der Glaubenskraft, dem Getrostbleiben in vielerlei Anfechtung, dienen, und das lamentierende Sorgen der Mutter erweist sich als gegenstandslos. Solche Einsichten und damit Trost zu vermitteln, ist schließlich auch in Gerhardts Lied das Ziel des „Seelsorgers“ in seinem Sprechen zum „Trostbedürftigen“. Die gründlich aneignende Lektüre des Buches Tobias durch Gerhardt zeigt m. E. auch die stilistische Ähnlichkeit des sogenannten Testamentes Gerhardts für seinen Sohn Paul Friedrich (1676)12 in seiner „stillen Glaubensgewissheit“13 mit dem Vermächtnis des Tobias an seinen Sohn (Tob 4,2–20). Die Apokryphen verwendet Gerhardt als Vorlage für dichterisches Paraphrasieren gern und durch alle Schaffensphasen, z. B. EG 322 Nun danket all und bringet Ehr (1647/48; Sir 50,24–26); Herr, aller Weisheit Quell und Grund (1660;14 Weish 7–9, zugleich nach Johann Arndt, Paradiesgärtlein; Titel bei Ebeling 1667: Salomonis Gebät und Weißheit). Weiterhin finden sich in diesem Lied zahlreiche Bezüge zu den Psalmen, insbesondere Ps 37,7 Sey stille dem Herrn und warte auf ihn, ebenso wie Ps 116,7 sey nun wieder zufrieden meine Seele als formale und inhaltliche Parallele für den initialen Imperativ, weiterhin zu 1,1 f auch Ps 42,9 Gott meins lebens und Ps 62,2 in der Luther-Übersetzung von 1534: Meine Seele harret nur auf Gott / Der mir hilfft mit folgender Randglosse: „(harret) Ist stille vnd zu friden / lesst Gott walten“, ähnlich dieser Psalmvers in der Luther-Übersetzung 1545: Meine Seele ist stille zu Gott / Der mir hilfft mit der Randglosse: „(Stille) Ist zu frieden / lesst Gott walten / murret / tobet nicht / leidet sich vnd harret“. Zum Trost durch Gott (Str. 2,1) ist 2. Kor 1,3 zu vergleichen; zur Treue Gottes (Str. 4) 5. Mose 32,4 sowie 1. Kor 1,9 und 10,13 sowie Sir 40,1–4; zum Gefühl, von Gott vergessen zu sein und doch noch erhört zu werden (Str. 9), Ps 10. Zur Zusammenrottung der Feinde (Str. 11) und ihrem tatsächlichen Ergehen (Str. 12) siehe Ps 56. Alle Strophen enthalten zahlreiche weitere biblische Anklänge. Der Imperativ an einen oder mehrere menschliche Rezipienten als Aufmerksamkeit heischender Liedbeginn ist bei Gerhardt beliebtes Gestaltungsmittel, im Gesamtwerk 13mal zu beobachten. Die weithin schlichte, von einzelnen Metaphern (z. B. 1,5: Quell, Sonne) und Anklängen (z. B. 13,3 was da webt und lebet, vgl. Apg 17,28) durchsetzte Sprache bietet durch Endreim und Binnenreim (nur in 11,5.6 unrein: Freund / Feind) sowie im lebendigen Wechsel oder auch durch Häufung der Vokale großen Wohlklang (Assonanzen z. B. 4,5 er weiß dein Leid und heimlich Grämen – Häufung des ei; 13,3: was lebt und webet auf der Erden – Häufung des e), unterstützt durch Alliteration (z. B. 1,3 aller Freuden Fülle; 5,1 Seufzer deiner Seelen). Um den Gegensatz von Gott und Mensch anschaulich zu machen, arbeitet Gerhardt mit Superlativ (4,2 f menschliche Treue – aber Gott als Treuster), Paradoxon (5,3 f was du keinem darfst erzählen, / darfst du Gott gar kühnlich sagen), rhetorischer Frage (7,1 f Was sorgst du für dein armes Leben …? bei 12 Wortlaut s. Bunners 2006/2007, 301 f. 13 de Boor 1976, 45. 14 Datierung in bisheriger neuerer Gerhardt-Literatur noch auf 1661, neu in: PPMEDW I/2, 230 f.
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Kommentare zu den Liedern
vorausgesetzter Antwort: Du brauchst gar nicht zu sorgen, Gott tut es) und steigerndem Vergleich (Str. 8: Wenn Gott schon die Tiere nährt, wie viel mehr den Menschen). Eine (linguistische) Anapher bietet 5,4 im Zusammenhang mit 5,1 (Gott rückwirkend mit Er verbunden). Eine Reihung zeigt z. B. 2,5 Kreuz, Angst und Not …, eine Sentenz findet sich in 10,5 f Was langsam schleicht … In der letzten Strophe, die den Gedankengang zum Höhepunkt führt, wird zur Bekräftigung eine Epanalepse verwendet (15,3 f Die hier mit Frieden abgefahren, / sich nun auch im Frieden freuen), deren Sinn schon im Re frain ständig präsent war und die Pointe im letzten Wort des Liedes im Wortsinn bündelt (15,7 … zufrieden!). Insgesamt bleibt das Gedicht mit seinen vornehmlich biblischen Metaphern, dem Fehlen eigener Wortschöpfungen und der meisterlichen, aber moderaten Anwendung rhetorischer Mittel gleichwohl im „genus medium“. In dogmatischer Hinsicht liegt hier – wie bei EG 361 – ein Providentia-Lied vor, d. h. die Entfaltung des lutherisch-orthodoxen Lehrstückes der Vorsehung Gottes. Die „providentia Dei“ wird als „actio externa“ sowohl in der „conservatio“ (Erhaltung, Bewahrung durch Gott) wie auch in der „gubernatio“ (Lenkung, Leitung, Führung durch Gott) entfaltet. Dabei werden Not und Elend nicht verschwiegen, sondern in 14 (!) von 15 Strophen (außer der letzten) in diversen Schattierungen angesprochen, gedeutet als vom Menschen in der Christusnachfolge zu tragendes Kreuz (2,5 Kreuz, Angst und Not; 13,5 des Kreuzes Stab schlägt unsre Lenden). Ohne dass Christus genannt wird, ist so doch der christologische Grund gelegt, dass der Glaube bei Gerhardt keine Trennung von Gott und Leid kennt, sondern das Leid bedingungslos von Gott her verstanden werden und darin auch ausgehalten sein will. Daher stellt sich für Gerhardt die im 20./21. Jh. vordringliche Theodizeefrage nicht, also die verzweifelte oder vorwurfsvoll richtende Frage an Gott, warum er – womöglich aus Achtlosigkeit oder gar um der Demütigung des Geschöpfes willen – Leid auf Erden zulassen könne. Umso mehr Aufmerksamkeit verdient, wie differenziert der Dichter peinigende Lebenslagen und die seelischen Folgen daraus benennt – das bloße Aussprechen(-dürfen, -können) ist in der Seelsorge oft schon der erste Schritt zur Heilung. Stets verbindet Gerhardt den jeweilige Leidensmoment mit einem von Gott herkommenden Ermutigungsgrund: Er sieht und kennet aus der Höhe / der betrübten Herzen Sorgen. / Er zählt den Lauf der heißen Tränen (3,4 f ). Dies reicht weiter von der Erfahrung der Vergeblichkeit 1,4 – Ohn ihn mühst du dich vergebens und tiefster Vereinsamung Menschen gegenüber 4,5 – Er weiß dein Leid und heimlich Grämen; 5,3 f – was du keinem darfst erzählen, / darfst du Gott gar kühnlich sagen, über das Leiden unter Untreue (4,1–4), der Gottes Treue gegenüber steht, unter Hunger (Str. 7 und 8), wo Gott nährt, unter Spott von Feinden, wo Gott zum Freund wird (Str. 11), bis hin zu tiefer Verbitterung – 9,1 f Sprich nicht: Ich sehe keine Mittel, / wo ich such ist nichts zum Besten (hier kann der gänzliche Verlust der Hoffnung auf einen heilsamen Ort gemeint sein oder auch ein Ich, das sich nur noch als Versager oder Opfer sehen kann und von daher gefährdet ist). Es gipfelt im wohl gefährlichsten Moment, auch an Gott irre zu werden – 9,5 Wenn ich und du ihn nicht mehr spüren, wo Leben nur noch Aushalten ist, hier aber stets im (vielleicht auch verzweifelten) Festhalten zumindest des „Seelsorgers“ daran, dass sich der heilsame Sinn auch dieser Anfechtung rückwirkend zeigen wird – 10,3–5 macht dir das Harren angst und bange, / glaube mir, es ist dein Frommen. / Was langsam schleicht, fasst
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man gewisser, / Und was verzieht, ist desto süßer. Im Benennen und Freilegen all dieser Spielarten seelischer Gefährdung eröffnet dieses Lied kostbare Möglichkeiten für das seelsorgerliche Gespräch. Will man der Intention des Liedes im Ganzen gerecht werden und nicht nur in der Suggestion des Refrains verharren, braucht es die in 1,2 f programmatisch ausgedrückte Dimension des Gottesbezuges als Innesein in dem Gotte deines Lebens. Die Frage, ob Gerhardts Dichten als Ausdruck mystischer Frömmigkeit gelten kann, wird heute allgemein bejaht.15 Die Tradition führt von Luther her, der sich durch Augustinus, die „Theologia teutsch“ und Tauler inspirieren ließ, vor allem über Johann Arndts „Vier Bücher vom wahren Christentum“ mit dem Gebets-Anhang „Paradiesgärtlein“ zu Gerhardt. Zahlreiche Motive im vorliegenden Lied finden sich bei Arndt etwa in den Gebeten Nr. 9 „Um brünstige Andacht“ („Stehe auf, Herr, bedräue … das unruhige Meer meines Herzens, dass es stille sey, in dir ruhe, dich ohne Hinderniß anschaue, mit dir vereiniget bleibe“16) und Nr. 16 „Um die Ruhe der Seele in Christo“ („… es kann die unsterbliche Seele nicht gesättiget, noch gestillet, noch gesänftiget werden, denn mit unsterblichen Dingen, nämlich in dir und mit dir. O du unsterblicher Gott, wo du nicht bist, da ist keine Ruhe der Seele“17). Der nur im Innersten des Menschen zu erringende bzw. zu erfahrende Friede in Gott ist für den Dichter die Voraussetzung dafür, an Gott festhalten zu können und so in der Welt zu bestehen: 6,2 Halt an Gott, so wirst du siegen. Diese Zeile ist (neben Incipit und Refrain) die einzige positive Handlungsaufforderung im Lied, daher umso gewichtiger. Hier erweist sich die seelsorgerliche Stärke des Textes, der einen Verzagten (trotz der vielen Imperative) nicht bedrängt und einem vor Verzweiflung wie Gelähmten nichts Unmögliches abverlangt, sondern das Handeln Gott überantwortet und dies dem Verzagten nur bewusst macht, so dass er auch selbst beginnen kann, sich darauf zu stützen. Das kann und soll gerade mitten in der Not geschehen, nicht etwa nach ihr: „Leiden sind für die Mystik Auszeichnung Gottes, weil sie den Menschen in die Gemeinschaft mit der Passion Jesu, dem leidenden Jesus Christus führen“18 – 13,5 Des Kreuzes Stab schlägt unsre Lenden, zugleich mit dem Gib dich zufrieden nirgends als in dem Gotte deines Lebens (1,2). Gestützt auf das Buch Tobias und die mystische Tradition weiß Gerhardt, dass der Weg aus der äußeren und inneren Not heraus nur über einen – vielleicht auch schwer errungenen – inneren Frieden geht. Der heute gern gegen dieses Lied erhobene Vorwurf des Quietismus, der Tatenlosigkeit im Angesicht der Übelstände dieser Welt (auch fast alle zeitgenössischen Liedpredigten hierzu setzen damit ein!), trifft also nicht, denn diese Übel sind von angegriffenen Menschen im Zustand der Lähmung und Verzagtheit ohnehin nicht zu bekämpfen. Starke Menschen brauchen andere Lieder. 15 Vgl. Cornelis Pieter van Andel, Paul Gerhardt, ein Mystiker zur Zeit des Barock, in: Traditio – Krisis – Renovatio. Festschrift für Winfried Zeller zum 65. Geburtstag, hg. v. Bernd Jaspert und Rudolf Mohr, Marburg 1976, 172–184; Peter Zimmerling, Evangelische Mystik, Göttingen 2015, 75–79. 16 Johann Arndt, Paradies-Gärtlein, 24, in: Vier Bücher vom wahren Christentum … nebst desselben Paradies-Gärtlein, Berlin 1851. 17 Ebd., 32. 18 Zimmerling (wie Anm. 15), 79.
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Kommentare zu den Liedern
Oder doch nicht? Auch Starke haben sich auf genau dieses Lied gestützt, wenn es hart auf hart ging, insbesondere Männer im deutschen Widerstand gegen das NS-Regime: Dietrich Bonhoeffers Vermächtnisgedicht „Stationen auf dem Weg zur Freiheit“ spielt in der Strophe „Leiden“ direkt darauf an,19 Kurt Scharf und der ihm befreundete Maler Wilhelm Groß wurden durch „das köstliche … Lied“ auf dem Weg zu einer Bruderratssitzung getröstet,20 es war das Lieblingslied von Emil Fuchs.21 Der Bonhoeffer-Freund Franz Hildebrandt hält 1939 im britischen Exil Predigten für Flüchtlinge, die mehrfach auf das Lied Bezug nehmen.22 In jüngerer Zeit besinnt sich die Lyrikerin Gabriele Wohmann: „Um mich ruhig zu machen, singe ich tagsüber innerlich Kirchenlieder, es gehen mir immer welche im Kopf rum: Gib dich zufrieden, Wer nur den lieben Gott lässt walten, Lobe den Herren.“23 Wohl den Menschen, denen solches noch widerfährt!
Susanne Weichenhan
Nicht von den Paul-Gerhardt-Kantoren Johann Crüger oder Johann Georg Ebeling, sondern vom späteren Herausgeber der Praxis pietatis melica (PPM), Jacob Hintze, stammt die Melodie. Er hatte sie bereits 1670 in der von ihm edierten „Neuvermehrten Geistlichen Wasserquelle“ eingeführt und bei der erstmaligen Aufnahme des Liedes in die PPM seit 1675 beibehalten. Ebeling hatte das Lied bei der Erstveröffentlichung in den „Geistlichen Andachten“ 1666 dem singulären Strophenbau gemäß „In seiner eigenen Melodey“ präsentiert. Diese Melodie wollte Hintze (wie alle anderen Ebeling-Weisen) nicht übernehmen. Ebelings Version, ohne Wiederholung durchkomponiert (!), war im Tripla-Takt rhythmisch profiliert, gespickt mit Hemiolen. Bei Hintzes Weise steht der melodische Fluss im Vordergrund, die Rhythmik ist ziemlich gleichförmig. Wie im Genfer Psalter beginnt jede Zeile mit einer Halben, Sekundschritte sind vorherrschend, Punktierungen setzen nur kleine rhythmische Akzente. Formal ist das gleichwohl einer Solo-„Aria“ nachgebildet, die mit konstitutivem Basso Continuo harmonisch „denkt“. Dass der Abstieg in der ersten Zeile etwa nicht zum Grundton führt, sondern zur Sekunde, ist nur plausibel, wenn man die Harmonik mithört, welche hier von der 1. zur 5. Stufe (Durdominante!) führt, um in der nächsten Zeile (Stollenende) ausdrücklich (via Doppeldominante) in die Dominante zu kadenzieren. Der ungewöhnliche Melodieeinstieg auf dem oberen Grundton steht im Dienste eines Gelassenheitsgestus, den die folgenden Abwärtsschritte vermitteln als Sich-Fallenlassen. (Vgl. im 20. Jh. prototypisch das „Let it be“ der Beatles im kleinen Terz-Ambitus.) Das zentrale Wort zufrieden ist nicht nur durch Punktierung auf der Hauptsilbe betont, sondern auch durch Tonrepetition und weiteres Umkreisen dieses gewichtigen 19 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Berlin 5. Aufl. 1982, 403. 20 Heinrich Vogel (Hg.), Männer der evangelischen Kirche in Deutschland. Eine Festgabe für Kurt Scharf zu seinem 60. Geburtstag, Berlin-Stuttgart 1962, 74. 21 Zitiert in de Boor 1976, 46 und 52 (Anm. 99). 22 Franz Hildebrandt, Theologie für Refugees. Ein Kapitel Paul Gerhardt. Herausgegeben vom Church of England Committee for „Non-Aryan“ Christians, London 1940. 23 Gabriele Wohmann, Interview mit Dirk von Nayhauß, chrismon 05/12, 30.
371 Gib dich zufrieden und sei stille
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5. Tons der Melodieskala. Gegenpolig zum melodischen Abfallen in der ersten Zeile verhält sich die benannte harmonische Hinführung zur Dominante, welche auch den Aufschwung in Zeile 2 zurück zum Ausgangston stützt. So ist Zufriedenheit musikalisch umgesetzt nicht als interne Entspannung, sondern als Ausrichtung auf eine externe harmonische Dimension, Symbol für das „Extra nos“ des Glaubens (Gott deines Lebens). In der Wiederholung bekräftigt, verlangt dies nach melodischer Steigerung im Abgesang, was der Aufstieg zur 3. Tonstufe der oberen Oktave leistet, zusätzlich durch Punktierung betont, dezidiert bestätigt durch den Einsatz der nächsten Zeile auf diesem exponierten Ton. (Auch Ebelings Melodie hatte diesen Ambitus bis zur oberen Terz.) Jetzt folgt ein zweiter Gelassenheits-Abgang, diesmal im vollen Oktav-Ambitus, harmonisch „light“ gefasst in der Kadenzierung zur „entspannten“ Dur-Parallele. Der fünftönige SchlussRefrain begann bei Hintze mit demselben Ton und betonte so das einen Ton höher folgende dich. Seit dem 18. Jh. – etwa PPM 1712 (DKL 171210), Bachs Fassung im Schemelli-Gesangbuch 1736 (DKL 173613) – ist hier der Abstieg im Quintraum als reiner Gelassenheits-Gestus üblich. Jedenfalls ist am Strophenende erst der Grundton erreicht, stellt sich also definitiv Zufriedenheit ein. Auf der rhythmischen Ebene allerdings repräsentiert bereits von Anfang an in jeder Zeile die Halbe-Ruhenote an vorletzter Stelle die Option auf Stille. Bemerkenswert ist, dass Hintze bei der vierstimmigen Lied-Fassung mit der Editio XXIV. der PPM (DKL 169016), zwei Ausgaben für Cantus / Bass und Alt / Tenor,24 die Melodie modifiziert und dabei rhythmisch verfeinert hat, so dass der Satz mit der auch in den Folgeauflagen gewählten, ursprünglichen Melodiefassung nicht kompatibel ist.
Konrad Klek
24 Ediert bei Christian Finke (Hg.), Sollt ich meinem Gott nicht singen. Paul-Gerhardt-Chorbuch, München 2007, 64 und Mechthild Wenzel auf der homepage der IAH: https://t1p.de/0bz0 (1.3.2021); PPMEDW II/1, Nr. 780 in Vorb. (nach DKL 169016).
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Kommentare zu den Liedern
391 Jesu, geh voran EG 391ö RG 690 EM 385ö Text
Verfasser Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und Christian Gregor Entstehung 1719 auf die Markgräfin Sophie Christiane von Brandenburg-Bayreuth-Culmbach und 1721 Morgengedanken für Zinzendorfs Mutter in Berlin, vgl. Kommentar Vorlagen (a): Sammlung Geistlicher und lieblicher Lieder, 1725 (Berthelsdorfer Gesangbuch) Nr. 434,10.4.11 und 470,11 * (b) Sammlung Geist- und lieblicher Lieder, 1731 (Marchesches Gesangbuch) Nr. 743,10.4.11 und 604,11 * (c) Das Gesang-Buch der Gemeine in Herrn-Huth, 1735, Nr. 415,10.4.11 und 296,10 * (d) Teutscher Gedichte Erster Theil, Herrnhut 1735, Nr. 9 * (e) Etwas vom Liede Mosis, des Knechts GOttes,
und dem Liede des Lammes, das ist: Alt- und neuer Brüder-Gesang, London 1753 (Londoner Gesangbuch), Bd. 1, Nr. 1668,2–4 * (f ) Das Kleine Brüder-Gesang-Buch, 4. Aufl. 1767, Teil 3, Nr. 144 Quelle Gesangbuch zum Gebrauch der evangelischen Brüdergemeine (Christian Gregor), Barby 17781 Überschrift 525. Mel. 68 Strophenbau 5/3a 5/3a 8/4b- 8/4b5/3c 5/3c Abweichung 4,2 Liebster! lebenslang Verbindung TM in der Q ohne N, aber mit Nummer, die im Melodienregister als Seelenbräutigam! identifiziert wird2, zu diesem Incipit s. Z III,3255a (wie EG, s. u. Quelle a) und b (s. u. Quelle b), 3256 (Witt 1715), 3257 (König 1738)
Melodie
Incipit 11-7_1_ 2__ Verfasser Adam Drese Quellen (a) Geistreiches Gesang-Buch / Vormahls in Halle gedruckt, Darmstadt 1698 (DKL 169806)3 * (b) Geist-reiches Gesang-Buch. Den Kern […] (Johann Anastasius Freylinghausen), Halle 1704 (DKL 1704) Ausgabe Z II,3255a+b Ambitus G: 6b; Z: 3b3443b3 Abweichungen (a) Quarte höher, aber nur 1 b vorgezeichnet; mit Generalbass; statt Halbenoten jeweils Viertel mit Viertelpause; Z. 3 N 2+4 ohne b * (b) 𝄵; Viertel statt Achtel, ohne Pausen, Z. 2+6 N 4
punktierte Achtel g mit Sechzehntel f; Z. 3, N 7: punktierte Viertel a mit Achtel g; Z. 4, N 7: punktierte Viertel f mit Achtel e * RG: Tonhöhenverlauf wie EG, aber 𝄵-Takt (2/2 und 3/2), statt Achtel sind Viertel notiert, ohne Pausen und bei -weilen und -eilen stehen Halbe, letzte N: Ganze (nach Quelle b); mit 4st. Satz (nach DKL 169806) * EM: Ton höher; mit 4st. Satz (nach DKL 169806); letzte N: punktierte Halbe Verbindung MT (a + b): Seelenbräutigam, Jesu Gotteslamm
Literatur
HEKG (Nr. 274) I/2, 421 f; III/2, 248–250; Sb, 429 f; HEG II, 78.120 f.358–360 ** ThustB, 344 / Nf 320 f; ThustL II, 250–252
** Schneider / Vicktor (1993), 113–116 * Henkys, Jürgen: Jesu, geh voran, in: Wunderhorn 2001, 329–336 * Kastner, Hannes-Diet-
1 Digitalisat Bayerische Staatsbibliothek München: https://t1p.de/7r6q (1.3.2021). 2 Zu Beginn des Registers wird auf ein unbestimmtes „in den Brüdergemeinen gebräuchliches Choralbuch“ verwiesen. 3 Digitalisat: http://digitale.bibliothek.uni-halle.de/vd17/content/pageview/6286260 (21.1.21).
391 Jesu, geh voran
rich: Jesu, geh voran, in: Richard Hartmann (Hg.): Wer singt, betet doppelt: Liedpredigten und Betrachtungen zum „Geistlichen Wun derhorn“, Münster 2003, 128–132 * Betz, Susanne / Hilt, Hans / Leube, Bernhard: Unsere Kernlieder. Werkbuch zur Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, München 2011, 129–135 * Kunz, Ralph: Jesu, geh
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voran, in: Arnold / Bresgott (2011), 72–75 * Meyer, Dietrich: Geist-reiche Lieder. Der Pietismus als breite Singbewegung, in: Peter Bubmann / Konrad Klek (Hg.), Davon ich singen und sagen will. Die Evangelischen und ihre Lieder, Leipzig 2012, 126 f * Mering 2013, 153–158
Das Lied geht in seiner heutigen Form auf zwei Lieder Zinzendorfs zurück, die er in seiner Jugend (1719/1721) gedichtet hatte und die von Christian Gregor 1778 miteinander verbunden wurden. Das erste Lied Seelen-Bräutigam, dem drei Strophen (heute 1, 3 und 4) entnommen wurden, ist ein Jesuslied, das Zinzendorf 1719 oder 1721 der Gräfin Sophie Christiane von Brandenburg-Bayreuth-Culmbach (1667–1737) gewidmet hatte. Es taucht in allen dem Berthelsdorfer Gesangbuch von 1725 folgenden Gesangbüchern Zinzendorfs auf und unterliegt dabei kleinen Veränderungen. Aus diesem Lied übernahm Zinzendorf die genannten drei Strophen in das Londoner Gesangbuch von 1753 und stellte ihnen die Strophe O du süße Lust, aus der liebes-brust aus demselben Lied voran. Christian Gregor hat das Lied aus dem Londoner Gesangbuch in sein Gesangbuch von 1778 übernommen, aber die Anordnung der Strophen geändert, die ihm offensichtlich zu barock erscheinende erste Strophe des Londoner Gesangbuchs beiseitegelassen und dafür eine Strophe aus einem Morgenlied Zinzendorfs für seine Mutter von 1721 (Glantz der Ewigkeit) als 2. Strophe eingefügt. Um die Entwicklung des Liedes verfolgen zu können, scheint es mir geboten, zunächst die Urfassung zu zitieren, wie sie im Berthelsdorfer Gesangbuch (Nr. 434) erhalten ist, wobei ich lediglich die Strophen 1–4 und 10–11 wiedergebe:
[28] 54 1. SEelen-bräutigam, o du GOttes-lamm, prüfe, JEsu, meine sinnen, höre, was sie doch beginnen; ist ihr wollen rein, ey, so laß es seyn. 2. Creutzige mich mir, heilige mich dir: reinige die innern wege; irr ich auf dem finstern stege, scheine du mich an, tritt mit auf dem plan. 3. Jesu, süsse lust, aus der liebes-brust! nimm mich ein in deine stille, ein genuß aus deiner fülle macht mich seliger als ein wollust-meer.
Kommentare zu den Liedern
4. Rührt mein eigen hertz Creutz und schwerer schmertz; kümmert mich ein frembdes leiden; gib gedult zu allen beyden, richte meinen sinn auf das ende hin. 10. JEsu, geh voran nach der lebens-bahn, und ich will mich nicht verweilen ohne rast dir nachzueilen: nimm mich bey der hand weg zum vaterland. 11. Ordne meinen gang, Liebster, lebenslang: führst du mich durch trockne wüsten; schencke mir aus deinen brüsten, thu mir, nach dem lauff, eine thüre auf.
Aus diesem Lied übernahm Zinzendorf nur vier Strophen (3, 4, 10 und 11) in das Londoner Gesangbuch, das Christian Gregor als Vorlage diente. Gregor ließ Strophe 1 fort, stellte die anderen um und ergänzte dafür eine Strophe aus Glantz der Ewigkeit (Berthelsdorfer GB Nr. 470; Marchesches GB Nr. 604; Herrnhuter GB Nr. 296). Zunächst seien die wichtigsten sprachlichen Änderungen genannt, die Christian Gregor gegenüber seiner Vorlage im Londoner Gesangbuch vorgenommen hat. Strophe 1 (EG): Zinzendorf schrieb das Lied in der ersten Person Singular, während es Gregor auf die erste Person Plural umstellt. Das ursprüngliche nach der lebens-bahn, das auf Jesu Führung entsprechend dem Lebensgang eines Menschen verweist, hatte Zinzendorf selbst im Londoner Gesangbuch in das verständlichere auf geändert. Hieß es im Londoner Gesangbuch noch: ohne rast dir nachzueilen, übernimmt Gregor die (wahrscheinlich auf Zinzendorf zurückgehende) Fassung aus dem Kleinen Brüdergesangbuch (1767): dir getreulich nachzueilen. Zeile 5 und 6 heißt bei Zinzendorf im Londoner Gesangbuch: nimm mich bey der hand, Weg zum vaterland! Dabei denkt Zinzendorf offenbar daran, dass Christus nach Johannes 14,6 der Weg ist. Gregor vereinfacht die Zeile, beseitigt damit den Hinweis auf Joh 14 und fügt mit dem Begriff führ uns den für die Brüdergemeine wichtigen Führungsgedanken ein. Strophe 2: Da die Morgengedanken Zinzendorfs von 1721 im Londoner Gesangbuch fehlen, muss Gregor die Strophe aus dem Herrnhuter Gesangbuch Nr. 296,10 oder den Teutschen Gedichten von 1735 (1. Auflage) oder 1766 (2. Auflage) übernommen haben. Die Erstfassung im Berthelsdorfer Gesangbuch lautet: Solls uns übel gehn, / laß uns feste stehn, / und so gar in bösen tagen / niemahls über unglück klagen, / denn diß ist der weg / zu der sternen steg. Gregor übernimmt die Formulierung Zinzendorfs im Herrn huter Gesangbuch von 1735: Solls uns harte gehn: / laß uns feste stehn, / und so gar in schweren tagen / niemahls über lasten klagen: / denn das ist der weg / zu der sternen steg. Er gibt dem Text aber in den Zeilen 3, 5 und 6 eine verständlichere Fassung, eine christliche Deutung des bei Zinzendorf im Hintergrund stehenden Motivs „per aspera ad astra“.
391 Jesu, geh voran
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Strophe 3: Die EG-Fassung in den Zeilen 1 und 2, auch in Zeile 4 geht auf Gregor zurück. Strophe 4: Gregor übernimmt Zinzendorf in Zeile 1 und 2. Die heutige Fassung mit der Ersetzung des Liebster durch Jesu ist eine Änderung bei der Übernahme des Liedes in das Deutsche Evangelische Gesangbuch 1915. Den Hinweis auf die Wüstenwanderung in Zeile 3 und 4 hat Zinzendorf selbst im Herrnhuter Gesangbuch getilgt und durch die Zeile führst du mich durch rauhe wege, gieb mir auch die nöthge pflege ersetzt. In Zeile 6 ändert Gregor eine thüre in deine Thüre. Wichtiger als diese sprachlichen Änderungen ist die durch Gregor vorgenommene Verschiebung des gesamten Charakters des ursprünglichen Liedes Seelenbräutigam, o du Gotteslamm, die freilich durch die Kurzfassung im Londoner Gesangbuch schon angedeutet und eingeleitet wird. Zinzendorfs Lied von 1719 ist, wie er es gerne tat, eine Anlehnung an Melodie und Text des Liedes von Adam Drese: Seelen-Bräutigam, JESU, GOttes Lamm! habe dank für deine liebe, die mich zieht aus reinem triebe von der sünden schlamm, JESU, GOttes Lamm.
Zinzendorf kannte das Lied aus dem Freylinghausenschen Gesangbuch (1704: Nr. 197; 1741: Nr. 435). Aber während das Lied bei Drese ein Dank- und Liebeslied der Bräutigamsmystik ist, wird es bei Zinzendorf ein „Streiterlied“, ein Lied der Selbstprüfung und Heiligung: Creutzige mich mir, heilige mich dir (Str. 2). Der junge Zinzendorf lebte zunächst stark in der Halleschen Frömmigkeit, die auf Sinneswandel und die Erfahrung des Bußkampfes Wert legte. „Er bittet also um freie Bahn für sein inneres Leben, um den ‚Durchbruch‘“.4 Demgemäß steht das Lied im Berthelsdorfer Gesangbuch in der Rubrik „Von der Nachfolge Jesu“, im Marcheschen Gesangbuch in der Rubrik „Vom Durchbruch“ und im Herrnhuter Gesangbuch in der Rubrik „Vom rechtschaffenen Wesen in Christo Jesu und von der Überwindung des Bösewichts“. Da man in Halle an einem echten Durchbruch bei Zinzendorf zweifelte, drückt er in seinen Liedern das ehrliche Verlangen nach wahrer Heiligung sehr lebhaft aus. Auch die Tatsache, dass er das Lied der verwitweten Gräfin Christiane von Brandenburg-Bayreuth-Culmbach widmete, zeigt, wie er hoffte, dass diese „große Beterin, eine Freundin [August Hermann] Franckes, eine gereifte Christin“5, mehr Verständnis für ihn aufbringe. Da deren Tochter Magdalene mit dem Kronprinzen Christian von Dänemark, dem späteren König von Dänemark, verheiratet war, mag damit auch die Hoffnung auf ein Amt in Dänemark verbunden gewesen sein, um dem ungeliebten Dienst als Jurist in Dresden zu entgehen.
4 So Wilhelm Bettermann, Einige Lieder Zinzendorfs in ihrer Urgestalt, in: Zeitschrift für Brüdergeschichte, Jg. 14 (1920), 32–46, hier 43. 5 Erich Beyreuther, Der junge Zinzendorf, Marburg 1957, 231.
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Kommentare zu den Liedern
In den 1730er Jahren trat bei Zinzendorf eine theologische Wende ein. Er erkannte das pietistische Verlangen nach Heiligung als ein falsches Streben und erblickte nun in Jesu Tod die Befreiung von allem eigenen Bemühen um geistliche Reife. Das dürfte der Grund gewesen sein, dass er ins Londoner Gesangbuch nur noch vier Strophen aus dem ursprünglich elf Strophen umfassenden Lied übernahm und die ursprünglich dritte Strophe mit dem Motiv der stillen Jesusliebe (nimm mich ein in deine stille) dem Lied voranstellt. Christian Gregor befreite das Lied von jeder Bräutigamsmystik und stellte es ganz unter das Thema der Nachfolge Jesu. Er gibt dem Lied in der ersten Strophe das Leitmotiv Jesu, geh voran. Das Ringen um die eigene Heiligung tritt in den Hintergrund. Aus dem „Ich“ wird ein „Wir“, aus der Selbstkreuzigung ein Ertragen der Widerwärtigkeiten, der Lasten und Leiden, die dem Christen in dieser Welt nun einmal widerfahren. So wurde aus einem persönlichen Gebet um Reinigung und Vervollkommnung des christlichen Lebens bei dem jungen Zinzendorf ein Gebet um Jesu Beistand in den täglichen Herausforderungen des Lebensgangs. In dieser Fassung fand es leicht Eingang in die volkskirchliche Frömmigkeit des 19. und 20. Jh. Was dem Lied bei Gregor seinen besonderen Charakter gibt, ist der eschatologische Ausblick am Ende jeder der vier Strophen, den das ursprüngliche Lied so nicht hatte. „Also keine Entwicklung des Gedankens durch alle verschiedenen Liedabschnitte hin, bis erst der Liedschluss summiert, worauf alles hinausläuft. Sondern das Lebensziel leuchtet mit jeder Strophe neu auf.“6 Dieser wiederholte Blick auf die Ewigkeit ist für den jungen Zinzendorf durchaus charakteristisch, fällt aber durch Gregors Auswahl der Strophen nun besonders in das Blickfeld. Es unterstreicht die Sicht des Lebens als eine Wanderschaft zur Ewigkeit in der Nachfolge Jesu und seiner Pflege. Gerade für den älteren Zinzendorf war dieser zweite Aspekt, die Betonung von Jesu Beistand und Pflege im täglichen Leben, wichtig, weshalb er dieses Motiv im Londoner Gesangbuch bewusst an den Anfang stellte. Das will sagen: Wir dürfen aus der Fülle Jesu leben und seine Heilstat „genießen“ (vgl. das Zitat oben). Nur wer aus dieser Gemeinschaft mit Jesus lebt, kann ihm mit Freude und gern nachfolgen. Fragt man nach dem biblischen Hintergrund dieses Liedes und seinen Anspielungen auf einzelne Stellen der Schrift, so steht das Motiv der Jüngerschaft im Vordergrund. Es ist daran zu erinnern, dass Zinzendorf sich später gern als Jünger Jesu und den Kreis seiner engsten Mitarbeiter, die ihn begleiteten, als „Jüngerhaus“ bezeichnete. Die Brüdergemeine verstand sich als die Jüngergemeinde, wie sie sich in den 40 Tagen nach Ostern um den Auferstandenen sammelte. Das Motiv der Nachfolge war Gregor durch Lieder von Johann Scheffler (Mir nach, spricht Christus, unser Held, EG 385) und viele andere geläufig und legte sich als Eingang eines Liedes nahe. In Str. 2 klingt das Stichwort des „Lastentragens“ an (Ps 68,20, aber auch Mt 11,30 und Gal 6,5). In Str. 3 bittet Zinzendorf um Geduld im Ertragen des eigenen und des fremden Leids; er könnte dabei an Röm 12,12 und 1. Thess 5,14 denken, vor allem aber an Hebr 10,36 und 12,1 sowie an Lk 8,15 und Mt 21,19. In Str. 4 könnte man bei der Pflege durch Christus an Eph 5,29 denken. Das Bild der offenen Türe dürfte aus Offb 3,8.20 übernommen sein. 6 Henkys 2001, 335.
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Rudolf Köhler hat im Handbuch zum EKG (I/2, Nr. 274) das Pilgermotiv für das Leitmotiv des Liedes nach Hebr 11,13–16 gehalten. Er hat sich dabei von dem Stichwort Vaterland in Strophe 1 leiten lassen. Doch das Motiv der Wanderschaft zum himmlischen Vaterland und das Stichwort Lebensbahn mögen durch die Zusammenstellung der einzelnen Strophen von Christian Gregor zwar auf den ersten Blick vorrangig erscheinen. Wenn man aber Zinzendorfs erste Fassung des Liedes kennt, wird man das Motiv der Jesusnachfolge und Jüngerschaft für zentraler halten. Die Nachfolge verbindet sich in diesem Lied mit dem Gedanken der Führung, der für Zinzendorf und den Pietismus überhaupt wichtig war (führ uns an der Hand / führst du uns durch raue Wege). Man vergleiche dazu Zinzendorfs Lied: Gottes Führung fordert Stille.7 Die brüderische Tradition, bei dem Begräbnis eines Menschen möglichst dessen selbst verfassten Lebenslauf vorzulesen, entspricht dem Wunsch, der Lebensführung eines Menschen nach Jesu Leitung nachzudenken, denn das Leben wird nicht als selbst gestaltete Karriere verstanden, sondern als von Gott geleitet und zum Ziel geführt. Das Lied hat etwas Modernes und zeigt eine geradezu weltliche Frömmigkeit, weil es alle theologischen Stichworte vermeidet und weder von der Verirrung und Verfehlung eines Menschen noch von der Verleugnung des eigenen Willens oder von dem Gehorsam gegenüber Gottes Wort redet. Die dunklen Seiten des menschlichen Lebens werden lediglich als ein auferlegtes Erleiden (hart ergehn, in den schwersten Tagen, eigner Schmerz, fremdes Leiden, raue Wege) beschrieben, als ein Schicksal, das dem Menschen aus welchen Gründen auch immer widerfährt. Demgegenüber ruft es zur Geduld und zu einem mutigen Ertragen der Lasten auf, was freilich der heutigen Wiederentdeckung der Klage in den Psalmen entgegensteht. Das biblische Motiv des kindlichen Vertrauens oder festen Glaubens an Jesus wird nicht ausgesprochen, auch wenn das mit dem feste stehn gemeint sein wird. Mit der Aufforderung Ordne unsern Gang dürfte Zinzendorf auf den Gehorsam gegenüber Jesu Wort abzielen, doch wird das eben nicht so formuliert, sondern lediglich angedeutet. Gerade diese bildhafte, andeutende Sprache dürfte zur Beliebtheit des Liedes beigetragen haben. Es ist schade, dass der Stabreim in der vierten Strophe Liebster, lebenslang getilgt wurde; er hätte dem Lied nichts von seiner nüchtern knappen Redeweise weggenommen, sondern den Ton der Zärtlichkeit bewahrt, den es ursprünglich hatte.
Dietrich Meyer
Seine große Beliebtheit, namentlich bei Kasualien, verdankt dieses Lied sicher auch seiner Melodie, die sehr einfach und eingängig ist, dabei aber durchaus kunstvoll, vergleichbar etwa Johann Abraham Peter Schulz’ Wurf zu Der Mond ist aufgegangen (EG 482). Die Melodie erscheint 1698 erstmals in Verbindung mit dem Lied Seelenbräutigam, Jesu Gotteslamm und ist dem Liedtext gleichsam auf den Leib geschrieben. Als Autor von Melodie wie Text gilt der Kapellmeister in Diensten Thüringer Fürsten, Adam Drese 7 GOTTES führung fordert stille; / wo der fuß noch selber rauscht, / wird des ewgen Vaters wille / mit der eignen wahl vertauscht (Herrnhuter Gesangbuch von 1735, Nr. 846,1; Gesangbuch der Evangelischen Brüdergemeine, Basel 2007, Nr. 750,1).
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Kommentare zu den Liedern
(1620–1701), also ein Musik-Profi, der allerdings auch pietistische Konventikel abhielt. Dass Zinzendorf dieses Lied so parodierte, dass die Verbindung zum SeelenbräutigamVorbild deutlich kenntlich blieb, zeigt, wie griffig und stimmig diese Liedgestalt für pietistische Frömmigkeit war. Der Strophenbau ist signifikant: je zwei fünfsilbige Kurzzeilen als Rahmen, dazwischen zwei achtsilbige Zeilen; trochäisches Versmaß mit harter Endung bei den Kurzzeilen, weicher bei den Langzeilen. Die Doppelzeilen sind jeweils mit Paarreim verbunden. In Dreses Original hatten die Zeilen 5 und 6 zudem denselben Reim wie Z. 1 und 2, meist auch mit zumindest einem identischen Wort oder gar gleichlautenden Zeilen. Das ist bei Zinzendorf / Gregor gelockert, aber Vokalanklänge bleiben: Str. 1 an / Hand, Str. 2 stehn / hier (e-i-Nähe), Str. 3 wieder e-i, Str. 4 a / au. Die melodische Identität der Rahmenzeilen 1/2 und 5/6 entspricht also präzise dem Strophenbau. Deren Kurzzeilen sind musikalisch pointiert durch die Pause nach der 5. Silbe. Im Original standen sogar zwei Viertelpausen (nach Viertelton zur betonten 5. Silbe). Man kann dies als Gebetsgestus deuten: die (gesungenen) Gebetsworte werden via Pause auf den Weg zum Ohr des Gegenübers geschickt. In der geistlichen Poesie sind Kurzzeilen typisch für mystische Verdichtungen, sie suggerieren Unmittelbarkeit zum göttlichen Gegenüber (vgl. prototypisch den Beginn des Abgesangs in beiden Liedern Philipp Nicolais EG 70 und EG 147 oder bei Paul Gerhardt in EG 36 und 370). Die ursprüngliche Lied-Anrede Seelen=Bräutigam bei Drese wie Zinzendorf ist Inbegriff intimer Glaubensbeziehung zu Jesus. Korrelat dazu in Z. 2 war die theologisch bestimmte Anrede Jesu, [o du] Gottes=Lamm. Diese signifikante Eröffnung mit doppelter Anrede unterstrich die musikalische Gestalt. Jetzt, mit Jesu, geh voran / auf der Lebensbahn, ist ausgerechnet am Liedbeginn die doppelte Kurzzeile durch den Satzzusammenhang verwischt, demgemäß die Pause nicht plausibel. So ist es allen organistischen Begleitkniffen zum Trotz kaum möglich, die Gemeinde zu rhythmisch korrektem Singen zu bringen. Als die Herrnhuter Textzuweisung erfolgte, gab es die Pausen allerdings schon gar nicht mehr. Bereits sechs Jahre nach der Erstveröffentlichung wurde, bei Freylinghausen 1704, aus dem Dreiertakt mit Pausen ein Allabreve in gleichmäßiger Viertelbewegung mit Halbe-Schlussnoten. Die erste Doppelzeile ist hier durchaus als Zusammenhang wahrnehmbar – s. die dem genau entsprechende Fassung in RG 690. Im Basso continuo fanden sich 1704 mehrfach Achtel und bei der Bezifferung einige Vorhaltsfolgen in Achtelbewegung (durchgängig in Z. 4), was auf gemäßigtes Tempo schließen lässt. Das Lied wurde wohl als expressive Solo-Aria wahrgenommen. Seit der Freylinghausen-Edition 1741 zum behäbigen Viertel-gegen-Viertel-„Choral“ verblasst, dominierte diese Version im 18. Jh. Nur wenige restaurative Liedsammlungen und einzelne Gesangbücher (z. B. Bayern 1854) kehrten im 19. Jh. für beide Lieder zum Dreiertakt mit Achteln, Vierteln und Pausen zurück. Das DEG 1915 notierte beide Lieder bereits wie später EKG und EG mit Dreiertakt und Halbe-Ton plus Viertelpause in Takt 2 und 4. Das dafür ursächliche Lied Seelenbräutigam haben EKG und EG allerdings ausgeschieden. Im landläufigen Gebrauch hat sich der „historische“ Seelenbräutigam-Rhythmus bei Jesu, geh voran nicht durchgesetzt. Meistens ergibt sich in der Realität ein „Zwiefacher“: Wechsel von Dreier- und Zweier-Takt in den Kurzzeilen, wie es manche Gesangbücher zwischen DEG und EKG tatsächlich notierten. Die in der Schweiz bis heute gebräuchliche Hal-
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lenser Fassung von 1704 / 1741 ist für Jesu, geh voran nicht nur die „originale“, sondern auch gut praktikabel für den Gemeindegesang. Bei der ursprünglichen Seelenbräutigam-Fassung bestimmt der charakteristische Rhythmus des ersten Taktes der Kurzzeilen (2 Achtel / 2 Viertel) auch alle vier Takte der beiden Mittelzeilen 3 und 4. Das kann ebenfalls als Gebetsgestus gedeutet werden: konstantes, unablässiges Anklopfen an der Tür (Mt 7,7). Allerdings kommt das Lied bei den beiden Langzeilen so auch „in Gang“. Beim neuen Text der ersten Strophe passt das besonders gut. Die Singenden machen sich auf in die Nachfolge, sogar ins Nacheilen. Die beiden Schlusszeilen sistieren mit den Kurzzeilen und Pausen die Bewegung wieder, lassen im Wortsinn innehalten. Die Melodie begnügt sich mit Sekundschritten im Quintraum über dem Grundton und zum Leitton darunter. Die beiden mittleren Zeilen sind identisch im Terzabstand. Die Tonwiederholung auf dem Grundton zu Beginn, dann nur ein Leitton-Wechsel (dasselbe in Z. 5) ist besonders markant. Wechselnoten-Schritte sind auch im Weiteren prägend. Gerade bei Beerdigungen ist das passend: Den Singenden ist da nicht nach Sprüngemachen zu Mute. Gleichwohl eröffnet der Schritt zur 2. Tonstufe in Takt 2 mit dominantischer Harmonisierung eine Perspektive. Gerade bei so einfacher Melodieführung ist die Harmonisierung essentiell. Das Lied wurde von Anfang an mit Generalbass publiziert, und es gibt diesbezüglich eigentlich keine Alternative zum Original: nur Wechsel zwischen Tonika und Dominante, zu Beginn von Z. 2 kurz 6. Stufe und von dieser in Z. 4 zwischendominantischer Wechsel (d-Moll / A-Dur). Dieser bleibt im ersten Takt von Zeile 5 erhalten, sodass die Monotonie einer wörtlichen Wiederholung von Zeile 1 vermieden ist. Mit der Schlusssilbe von Z. 5 auf der Dominante ist dann die Grundtonart wieder erreicht. In knappster Form – nur sechs Liedzeilen, zwei davon wiederholt – ist so ein kleines Kunstwerk geschaffen, das mit der Zwischendominantbildung zur Mollparallele alles andere als „eintönig“ ist und im Moll die rauhen Wege (4,3) anklingen lässt. Im Singen eines solchen Liedsatzes ohne harmonische „Überraschung“ kann regressive Bergung als tröstende Erfahrung sich erschließen. Gerade so bewährt sich dieses Lied an Orten wie dem Friedhof.
Konrad Klek
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Kommentare zu den Liedern
404 Herr Jesu, Gnadensonne Text
Verfasser Ludwig Andreas Gotter Quelle Geistliche Lieder und Lobgesänge … o. O. [Coburg] 16951 Überschrift Mel. HErr Christ der einig Gottes Sohn/&c. Strophenbau A7/3a- A6/3b A7/3a- A6/3b, A7/3c- A7/3c- A6/3a vgl. Frank 7.2 Abweichungen 1,3 laß Leben; 1,4 mein blödes Angesicht; 2,4 und hilf genädiglich; 3,4
daß ich mich führo hin; 4,4 durch dein Geheilget Wort; 4,5 dich gläube; 5,1 Tränck mich an deinen Brüsten; 5,2 und creutzge mein Begier; 5,3 sammt allen bösen Lüsten Verbindung TM in der Q ohne N, aber mit Hinweis auf die Melodie wie EG * Z III,4325 (DKL 174514)
Melodie
s. Herr Christ, der einig Gotts Sohn (EG 67) Literatur
HEKG (Nr. 258) III/2, 213–215; Sb 406; HEG II, 116 ** ThustB, 353 / Nf, 330; ThustL II, 282–284 ** Koch (31866–1877) IV, 402 und VIII, 40; KLL (1878–1886) I, 278 f; Nelle (31924/1962) Nr. 309; RößlerL (22001) 645 ** Berger, Kurt: Barock und Aufklärung
im geistlichen Lied, Marburg 1951, 130 f * elleG 41962, 209 * Roser, Hans: Lieder der N Christenheit. Die Wochenlieder im Kirchenjahr – Geschichte, Hintergründe, Wissenswertes, Neukirchen-Vluyn 1995, 128 f
Herr Jesu, Gnaden=Sonne – in Zeiten, da in Frankreich ein „Sonnenkönig“ regiert und der (habsburgische) deutsche Kaiser Leopold I. (1640–1705) sich in Huldigungsschriften tatsächlich „Gnaden=Sonne“ titulieren lässt, ist diese Anrufung am Beginn des 1695 erstmals publizierten Liedes ein dezidiertes Bekenntnis, vergleichbar dem „Kyrios Iesous“ der ersten Christen im Gegenüber zum römischen Kaiserkult. Allerdings ist die Sonne auch fester Topos in barocker Erbauungsliteratur bei deren emblematischen Bilddarstellungen. Da ist sie hell leuchtend dargestellt, oft in bedrohlicher Umgebung dunkler Gewitterwolken, bisweilen sogar mit lächelndem Gesicht (vgl. heute „smiley“). So macht die Sonne Gottes Gnadenhandeln anschaulich und lädt zum Vertrauen darauf ein. Insofern im römisch-katholischen Bereich vorrangig die Gottesmutter „voll der Gnaden“ (nach Lk 1,28) angerufen wird und demgemäß emblematisch ebenfalls der Gnaden=Sonne korreliert,2 kommt der Anrufung Herr Jesu hier nicht nur politisch, sondern auch konfessionell eine abgrenzende Funktion zu. 1 Digitalisat ThuLB Jena: https://t1p.de/c1d1 (1.3.2021). 2 Im 19. Jh. wird dann ein burgenländisches „Volkslied“ gerne gesungen (und z. B. von Josef Gabriel Rheinberger vertont), das analog zu EG 404 beginnt O Maria, Gnadensonne.
404 Herr Jesu, Gnadensonne
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Barocke Dichtung nutzt gerne Komposita, um weitere Sinndimensionen aufzuzeigen. Die Doppelworte sind durch Notation mit Bindestrich in den Originalquellen als solche auch augenscheinlich. Dieses Lied enthält außer in Str. 3 in jeder Strophe mindestens ein Kompositum, insgesamt neun. Gnaden=Sonne ist auch sonst im Liedgut zu finden, im EG noch bei drei weiteren Liedern: im Osterlied Johann Heermanns (EG 111,2), im Neujahrslied Paul Gerhardts (EG 58,11) und prominent als Pointe des Refrains in Christian Keimanns Weihnachtslied (EG 34: Christus ist die Gnaden=Sonne). In unserem Lied wird das Leitbild Gnaden=Sonne gleich in der Folgezeile profiliert durch das Kompositum Lebens=Licht. Die dritte Zeile greift das mit Leben, Licht und Wonne nochmals auf, so dass Christus in seinem Wohltun für die Menschen („beneficia“) als Gnaden=Sonne plastisch vor Augen steht wie bei einem Emblem. Das Lied ist dem nicht so häufigen Strophenbau von Herr Christ, der einig Gotts Sohn (EG 67) nachgestaltet; dessen Reimschema abab ccd ist jedoch durch Integration der Schlusszeile zu abab ccb gerundet – eine Analogie zur Melodie. Die Erstveröffentlichung verweist auf das reformatorische Lied als Melodiengeber. Offensichtlich war jenes Lied der Elisabeth Cruciger dem Dichter Ludwig Andreas Gotter aber auch inhaltlich Vorbild, nicht nur im Leitbild eines hell leuchtenden Himmelsphänomens als Christussymbol – dort Morgenstern, hier Sonne –, sondern auch im spezifischen Duktus eines Bußgebets. Dort mündet der „Lobsanck“ („Lobgesang“) zweimal in eine Bitte: um das Bleiben im Glauben (Str. 3) und um Erneuerung des alten Menschen (ab 4,5). Hier ist das ganze Lied Bußgebet und entfaltet eben diese beiden Bitten. Auch weitere Anliegen und Kernworte des Lied-Vorbildes sind aufgegriffen: Bitte um Liebe zu Jesus, um die rechte Kenntnis / Erkenntnis, Umpolung des Begehrens / der Begier und der Sinne. Wie dort die Bitte der Schlussstrophe auf Gottes Güte und Gnad rekurriert, beginnt hier die Schlussstrophe pointierend Darum, du Gott der Gnaden. Da Gott seine Sonne über Böse und Gute scheinen lässt (Mt 5,45), wird das Emblem Gnaden=Sonne relevant gerade in der Bußpraxis, welche sich ja der Realität des Bösen stellt. Das ganze Lied steht im Modus der Bitte. Andere Verbformen gibt es nicht. Die ersten beiden und die letzten beiden Strophen enthalten explizite Anrede Herr Jesu / mein Gott / ach, Herr / Nun, Herr / du Gott und zugleich (insgesamt fünf ) verschiedene Wortformen zu Gnade. So wird mit diesen Rahmenstrophen der Gott der Gnaden (8,1) als Adressat der Anrufung deutlich. Bußpezifisch ist auch der Ach-Seufzer am Ende von Str. 2 (s. ebenso Str. 6,1). Die Anrufung Herr Jesu / Ach, Herr bildet so die Klammer um Str. 1 und 2. Weitere sprachliche Akzentuierungen in Anlehnung an Bußpsalm-Diktion sind auszumachen: Str. 1,6 Geist erneuen (Ps 51,12), 1,7 mein Gott (Ps 51,16); 2,3 Zorn (Ps 6,2); 7,4 dein Geist (Ps 51,13); auf Psalm 38,11 rekurrieren 1,4 ursprünglich mein blödes Angesicht, 2,4 armes Herz und 7,2 verleih mir Kraft. Die plastische Wendung Vergib mir meine Sünden und wirf sie hinter dich ist Hiskias Psalm-Gebet entnommen (Jes 38,17). Dass die Doppelanrede Herr / mein Gott in Str. 1 und 2 mit der Bitte um Friedensgaben korreliert (2,5), könnte durch Joh 20,19–29 inspiriert sein, wo der Auferstandene den zweifelnden Jüngern mit dem Friedensgruß gegenübertritt, ihnen den heiligen Geist zur Vergebung der Sünden zuspricht (V. 22 f ) und Thomas schließlich zur Erkenntnis kommt: Mein Herr und mein Gott (V. 28). Die beiden Schlussstrophen als Bündelung der Bitten sind dann trinitarisch präzise gefasst mit Anrede Nun, Herr
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Kommentare zu den Liedern
(7,1 – 2. Person), die dein Geist schafft (7,4 – 3. Person) und der insgesamt an Gott Vater (1. Person) gerichteten 8. Strophe, wobei die beide Strophen verbindende Bitte um Kraft (7,2 / 8,8) eine spezifische Geistesgabe aufruft (Apg 1,8). Das Stichwort Kraft in Verbindung mit rüsten in Str. 5,1 verdankt sich allerdings Gesangbuchredaktoren seit dem 19. Jh., die den Gemeinden das originale Tränk mich an deinen Brüsten nicht zumuten wollten, ein mystischer Topos aus der Verbindung von Joh 6,35 und Hohelied-Motivik, der auch bei Cruciger in EG 67,3 aufgegriffen sein mag: und dürsten stets nach dir. Die vier mittleren Strophen 3 bis 6 sind sprachlich analog darin, dass die Bitte – in Str. 3 bis 5 eine mit und verknüpfte Doppel-Bitte – in einen Konsekutiv-Nebensatz mündet, der ebenfalls als und-Parallelismus (in allen Strophen) die Perspektiven des Lebens in der Heiligung umreißt, wie es die von Gott gewährten Friedensgaben, signifikante Werke des Heiligen Geistes, möglich machen. Diesen Akzent des Liedes kann man als pietistisch kennzeichnen. Das Lied gehört denn auch zu den signifikanten „neuen Liedern“ im Kontext der Neuentdeckung der „Predigt der Buße und des Evangelii“, wovon Johann Anastasius Freylinghausen im Vorwort des berühmten Hallenser Gesangbuches von 1704 spricht, und es steht dort bereits an zweiter Stelle der Rubrik „Vom Christl. Leben und Wandel“. Die wie bei einem Kollektengebet bündelnden Schlussstrophen 7 und 8 rekurrieren auf 2. Thess 3,3: Aber der HERR ist treu; der wird euch stärken und bewahren vor dem Argen. Zugleich betonen sie gut lutherisch, dass dieses christliche Leben nur als Gnadenwerk Gottes in der Kraft seines Geistes gelingen kann, denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf (1. Mose 8,21 – Vorlage für 7,5–7). Und mit Anspielung auf das Jesuswort Mk 8,38 f (Seelenschaden) akzentuiert der Dichter gemäß Luthers Lehre Buße als tägliche Erneuerung (8,5), was in pietistischen Kreisen allerdings auch betont wurde als spezifische „Praxis pietatis“ der Bekehrten. Der heute oft abstoßend wirkende, explizite Antagonismus christlichen Lebens zu bösen Lüsten, Sündenwelt (5,3.5), auch die Rede vom alten Adamssinn (3,2) und Höllenpfort (4,6), vom Verderben nach dem Fleisch (5,6) sind biblisch, vorwiegend paulinisch gedeckt (Röm 6 und 8) und für lutherische Gnadenlehre essentiell. Jeder lutherische Gottesdienst beginnt eigentlich mit dem Confiteor. Dieses Lied hält diverse Sprachformen dafür bereit und könnte, namentlich mit den 2+2 Rahmenstrophen, als „entfaltetes Confiteor“ vielleicht sogar manches Unbehagen an diesem liturgischen Topos entschärfen. Gott der Gnaden / Vater aller Treu / Lebenslicht / Gnadensonne – an leuchtenden Worten für arme (Sünder-)Herzen ist da kein Mangel. Die Melodie korrespondiert in ihrer Dur-Charakteristik mit mehrfacher Betonung der Terz-Tonstufe dem Leitbild der Gnaden=Sonne. Es ist zu vermuten, dass der Dichter bereits mit einer rhythmisch geglätteten Melodievariante rechnete. Auch die Gesangbücher vor dem EKG vermieden zumindest die gegen das Versmaß stehende Halbe-Akzentuierung auf der vorletzten Note in den melodisch identischen Zeilen 2, 4 und 7. Namentlich die letzten drei Silben aller Strophen-Schlusszeilen dieses Liedes wollen dezidiert gleichförmig akzentuiert sein, wie es in der DEG-Fassung (1915) mit drei Halben der Fall war. Dem Einschnitt zwischen Stollen und Abgesang (Zeile 4/5) korrespondiert in Str. 2, 4 und 8 präzise ein Doppelpunkt (ursprüngliche Zeichensetzung), in Str. 6 der
404 Herr Jesu, Gnadensonne
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und-Parallelismus, in Str. 7 die Antithese hingegen. In Str. 1, 3 und 5 stört die Zäsur den Satzzusammenhang, allerdings entspricht dem Melodieaufschwung zum Höhepunkt in Zeile 5 stets eine zentrale inhaltliche Aussage. Namentlich sogleich in Str. 1 macht der Höhepunkt er-freu-en förmlich spürbar, dass Buße nach lutherischem Verständnis fröhliche Buße ist, da sie die Erfahrung von Gottes Gnade erschließt.
Konrad Klek
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Kommentare zu den Liedern
405 Halt im Gedächtnis Jesus Christ RG 277 (T) EM 124 (T) Text
Verfasser Cyriakus Günther Entstehung vor 1704 (Tod des Verfassers) Vorlage Symbolum Nicaenum, Artikel 2 Quelle Neues Geist=reiches Gesang=Buch (Johann Anastasius Freylinghausen), Halle 1714 (DKL 171406)1 Überschrift 765. Mel. Es ist das Heil uns kommen cc. Oder: Mein Hertzens=JEsu / meine Lust cc. p.78 Ausgabe FreylEd 2010, Band 2, Teil 2, S. 965 Strophenbau A8/4a A7/3b-, A8/4a A7/3b-, A8/4c A8/4c A7/3x- vgl. Frank 7.7 ‚Lutherstrophe‘ Abweichungen 1,1 (hier und in allen folgenden Strophen) JEsum Christ * RG: 1,1 (hier und in allen folgenden Strophen) Jesum Christ; 1,2 den Heiland, der auf Erden; 1,3 vom Himmelsthron gekommen ist; 1,4 Bruder hier zu werden; 2,4 hat dir das Heil erstritten; 3,2 der früh am;
3,5 Das Leben hat er dir gebracht; 3,6 und dich gerecht vor Gott gemacht; 4,4 die Stätte zu; 5,5 O sorge, dass; * EM: 1,2 den Heiland, der auf Erden; 1,3 vom Himmelsthron gekommen ist; 1,4 Bruder hier zu werden; 2,4 hat dir das Heil erstritten; 2,5 Besieget hat er Sünd und Tod; 3,2 der früh am; 4,4 die Stätte zu; 4,6 und schauen seine; 5,5 O sorge, dass Verbindung TM in der Q ohne N, aber mit der Angabe von Melodien, vgl. Überschrift: Es ist das Heil uns kommen her (s. die Angaben zu EG 342); Mein Herzens-Jesu, meine Lust (Z III,4680b; FreylEd 2010, Band I, Teil 1, S. 93; heute zu Bis hierher hat mich Gott gebracht: EG 329) * weitere: RG 277 / EM 124 (= Alternative im EG): Es ist gewisslich an der Zeit (EG 149)
Melodie
s. Herr, für dein Wort sei hoch gepreist (EG 196) Literatur
HEKG (Nr.257) II/2, 65.68; III/2, 212 f; Sb 405 f; HEG II, 125 ** ThustB, 354/Nf, 330; ThustL II, 284 f ** KLL (1878–1886) I,
246 f; Nelle (31924/1962) Nr. 305; Bruppacher (1953) 279 f; RößlerL (22001) 645 ** NelleG, 4 1962, 240
Halt im Gedächtnis Jesum Christ, der auferstanden ist von den Toten – dieses Diktum aus 2. Tim 2,8, bei Johann Sebastian Bach vertont im Eingangssatz der Kantate BWV 67 zu Quasimodogeniti, ist hier Leitfaden für ein ganzes Lied. Der Appell Halt im Gedächtnis Jesum Christ eröffnet fünf von sechs Strophen als wörtliches Bibelzitat. Der Auferstandene ist dann Thema der mittleren Strophe 3. Die anderen Strophen entfalten je einen weiteren Topos aus dem 2. Artikel des Symbolum Nicaenum (Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel 381), so dass dieser vollumfänglich – mit signifikanten DetailAuslassungen bzw. Akzentuierungen – ins Lied übertragen ist: Str. 1 descendit de coelis 1 Digitalisat Bayerische Staatsbibliothek München: https://t1p.de/9y6z (1.3.2021).
405 Halt im Gedächtnis Jesus Christ
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et incarnatus est (Inkarnation); Str. 2 crucifixus etiam pro nobis, passus (Passion); Str. 3 et resurrexit tertia die (Auferstehung); Str. 4 et ascendit in coelum (Himmelfahrt); Str. 5 et iterum venturus est iudicare vivos et mortuos (Wiederkunft zum Gericht). In der Sprachform des (Selbst-)Appells ruft das Lied so zu umfänglicher Christus-Anamnese auf. Die Schlussstrophe ist als Gebet an Jesus gerichtet. Sie bittet um den zuvor explizierten wahren Christusglauben und das Bleiben darin, also um das Gelingen solcher ChristusAnamnese in der „Praxis pietatis“. Eine konkrete liturgische Anbindung des Liedes an die Anamnese in der Abendmahlsliturgie ist nicht ersichtlich. „Hoc est Christum cognoscere beneficia eius cognoscere“ („Das heißt Christus erkennen, seine Wohltaten zu erkennen“) – was Melanchthon in seinen „Loci communes“ (1521) mit diesem Leitsatz formuliert hat, setzt das Lied konsequent um, indem jeder einzelne Christus-Topos daraufhin zugespitzt wird, was er dem Menschen zugut als Heil eröffnet. Vergiss nicht, dass er dir zu gut (1,5) greift konkret die Diktion von Psalm 103,2 auf: Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Analog zur Anamnese-Kultur des Volkes Israel heißt Christus-Gedenken Erinnern seiner Heilstaten und im Singen davon als gegenwärtige Wirkkraft Erfahren. Dem korreliert auf Seiten des Menschen der Dank. Dem stets identischen Halt im Gedächtnis-Appell am Strophenbeginn entspricht so in den Schlusszeilen der Refrain Dank ihm für diese Liebe, in Str. 5 finalisierend modifiziert ihm ewiglich zu danken. Die sprachliche Korrelation von Gedenken / Gedächtnis und Dank ist nicht zufällig. (Beachte in der Zentralstrophe 3,5 das zusätzliche bedenke und in Str. 5,5 denke, beides sprachlich noch näher an Dank.) Die Leitkategorie Liebe, ohne Reimverknüpfung pointierend als Strophen-Schlusswort gesetzt, rekurriert auf 1. Joh 4,9: Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. Die Liebe-leben-Korrelation im Bibelwort (vgl. auch das johanneische Zentralwort Joh 3,16) bildet auch das Lied ab, indem die letzte Strophe in zu dir ins Leben dringen mündet. Eingeordnet ist das Lied im Freylinghausen-Gesangbuch in die Rubrik mit der schönen, passenden Überschrift „Von der Leutseligkeit Gottes und Christi“ (S. 1104). Die Anrede o Mensch in der zweiten Liedzeile, sonst als Bußappell gebräuchlich (vgl. EG 76,1; 78,7), betont einerseits die Dringlichkeit des Appells der ersten Strophenzeilen, andererseits schließt der Relativsatz zur Inkarnation Christi direkt an Mensch an, grammatikalisch wohl absichtlich unscharf, so dass „et homo factus est“ („und ist Mensch worden“) aus dem Glaubensbekenntnis assoziiert werden kann. Jedenfalls ist die tatsächliche Mensch-Werdung Christi akzentuiert, der des hier angesprochenen Menschen Bruder geworden ist (1,4) in Fleisch und Blut (1,6). Im Hintergrund steht hier Hebr 2,11.14, wo eben diese beiden Topoi im Zusammenhang genannt sind. Dass dies uns Menschen zugut geschehen ist, hat das Nicaenum in die Worte gefasst: „qui propter nos homines et propter nostram salutem“ („für uns Menschen und zu unserem Heil“). Die Passionsthematik in Str. 2 nimmt sprachlich Anleihe auch beim Apostolicum – „gekreuzigt, gestorben …“, für dich findet sich als „pro nobis“ explizit im Nicaenum in Verbindung mit „crucifixus“. Dass Christus im Kreuzestod die Macht des Teufels erfolgreich bestritten hat, ist wieder in Hebr 2,14 vorgebildet. Im Lied (2,5) steht der Teufel in Mittelposition bei der Auflistung aller fünf Feinde Christi, von denen die Theologie der
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Kommentare zu den Liedern
Barockzeit ausging (analog etwa zu den fünf Wunden Christi und den fünf Buchstaben des Namens Satan). Auch die Vorstellung von der Höllenfahrt Christi (um die dort Gepeinigten auszulösen, vgl. EG 100,3) könnte im Hintergrund stehen. Dich erlöst aus aller Not ist dann durch Hebr 2,15 mit dem Verb „erlösen“ biblisch gedeckt. Analog zur Kampf-Metaphorik in Str. 2 wird in Str. 3 die Auferstehung als siegreich besungen (3,3) – „victoria“ (vgl. das V-Zeichen in Christi rechter Hand bei manchen Darstellungen des Auferstandenen) ist seit alters her zentrales Ostermotiv. Wendungen aus anderen (älteren) Osterliedern klingen durch: zu 3,4 erstund er frei ohn alle Klag (EG 103,2); zu 3,6 Licht, Heil und Leben wiederbracht (EG 111,1; vgl. EG 107,1). Dass der Auferstandene durch diesen Sieg definitiv Frieden geschaffen hat (3,5), widerspiegelt den dreimaligen Friedenszuspruch des Auferstandenen an die Jünger in Joh 20,19.21.26, wie es in Bachs o. g. Kantate BWV 67 in Satz 6 eindrücklich inszeniert ist (gefolgt vom Choral Du Friedefürst, Herr Jesu Christ EG 422,1). Das knappe „ascendit ad coelos“ enthält im Bekenntnis kein pro nobis-Element. Dies wird in Str. 4 sachgerecht eingetragen im Verweis auf die sogenannten Abschiedsreden Jesu im Johannesevangelium Joh 14–17, welche ja insgesamt deutlich machen, was Jesu Weg aus der Welt den zurückbleibenden Jüngern als Nutzen bringt. Dem Lieddichter gelingt das Kunststück, mit konkreten Anspielungen auf Joh 14,2 (Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten, vgl. Str. 4,4) und Joh 17,24 (dass sie meine Herrlichkeit sehen, vgl. Str. 4,6), also Anfang und Schluss der umfänglichen Jesusrede, deren gesamten Inhalt aufzurufen. Die in Str. 5 thematisierte Wiederkunft Christi zum Gericht motiviert nicht unmittelbar zum Dank, sondern provoziert das mahnende o denke (dem o Mensch von Str. 1,2 korrelierend). Die Prüfung des eigenen Lebens und Glaubens im Horizont des Jüngsten Gerichts, wo es zu bestehen gilt (Offb 6,17), ist ein zentrales Anliegen des Pietismus, der sich dieses Lied mit der Publikation im Halleschen Gesangbuch 1714 zu eigen gemacht hat. Aber es gilt die Verheißung, durch dieses Gericht in Christi Reich einzugehen (Formulierung in Anlehnung an das Endgerichtsgleichnis Mt 25,21.23); das Positive am Gericht ist, dass es die Tür öffnet zum Leben als ewiglich danken (5,7). Gerade im Gerichtshorizont wird deutlich, dass dem Menschen mangels eigenen Vermögens nur die Bitte bleibt, Jesus selbst möge den wahren Glauben gewähren. Analog zur Eingangsstrophe wird in der Schlussstrophe erneut Psalm 103,2 aufgerufen (was du an mir getan 6,3); jedoch ist hier das Personzentrum nicht in der Seele, sondern barocktypisch im Herzen (6,4) verortet. Dem vergiss nicht in Str. 1,5 korrespondiert die Wendung 6,3 f und nie … aus dem Herzen lassen. Zum erinnernden Gedächtnis, lat. „memoria“, also zur Memorialkultur eines jeden Christenmenschen gehört wesentlich das Bleiben im Glauben, weshalb unablässige Christus-Anamnese Kennzeichen eines frommen Lebens ist. Die so beständig erinnerten „beneficia“ sind die Nahrung für Trost (trösten) in aller Not (6,5 f ). Das Wort Trost stellt in vielen Osterliedern die Pointe dar (vgl. EG 99,1; 105,17; 106,5; 111,15), insofern trägt das Lied so auch dem Auferstehungsthema des Leitsatzes 2. Tim 2,8 Rechnung. Aber auch die letzte Liedzeile korrespondiert dem biblischen Ursprungskontext: Das ist gewisslich wahr: Sterben wir mit, so werden wir mitleben (2. Tim 2,11). Die Formulierung durch den Tod […] ins Leben dringen ist noch einmal präzise johanneisch: Joh 5,24.
405 Halt im Gedächtnis Jesus Christ
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Da der Strophenbau der sogenannten Lutherstrophe entspricht, kann das Lied auf viele Melodien gesungen werden. Die Erstpublikation bei Freylinghausen verwies auf das reformatorische Es ist das Heil uns kommen her, damals bereits isometrisch ohne Achtelauftakte gesungen, und alternativ auf eine ausgezierte Dur-Melodie, die den damals neuen, typisch bewegten Singstil der „Aria“ repräsentiert und heute zu Bis hierher hat mich Gott gebracht (EG 329) gesungen wird. Die Gesangbücher seit dem 19. Jh. haben überwiegend die für Gemeindegesang gut geeignete reformatorische Dur-Melodie, heute bei Es ist gewisslich an der Zeit (EG 149) vorgezogen, so auch heute das Reformierte Gesangbuch der Schweiz (Nr. 277) und das methodistische (EM 124). Die jetzige Zuweisung einer von J. Walter für ein nicht mehr gebräuchliches Psalmlied Luthers geschaffenen, Dur-nahen Melodie (s. dazu EG 196) geht auf das EKG zurück. Während die HalbeNote am Strophen-Beginn sinnfällig das Wort Halt in Str. 1 bis 5 plastisch macht (vgl. den Orgelpunkt dazu bei BWV 67,1), sind die kurzen Achtel-Auftakte aller weiteren Zeilen problematisch für Gemeindegesang und stören den ruhig reflexiven Duktus des Liedtextes. Bei der letzten (Refrain-)Zeile müsste das Zentralwort dank eigentlich analog zum Strophenbeginn eine Halbe erhalten. Allerdings entspricht dem inhaltlichen Duktus der Strophen sehr gut der Verlauf des Abgesangs, der vom Abstieg auf die Unterquint sich aufschwingt in den letzten beiden Zeilen. Namentlich die Schlusszeile korrespondiert gut dem Refrain von Str. 1–5 und akzentuiert in Str. 6 mit dem Spitzenton das Zielwort Leben. Das gilt aber genauso für die Melodie von EG 149 wie für die zu EG 329. Letztere sollte mit ihrem zeittypischen „Geschmack“ eigentlich die Präferenz erhalten.
Konrad Klek
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436 Herr, gib uns deinen Frieden Text
Verfasser Wolfgang Poeplau Vorlage Schlusszeile des Agnus dei (deutsch EG 190.2) Quelle s. Melodie / Quelle Melodie
Incipit 1__ 1111 2__ 3__ Verfasser Ludger Edelkötter Entstehung 1976 Quelle Kirchentagsliederheft. Fürchte dich nicht [zum 19. Deutschen Evangelischen Kirchentag 1981 in Hamburg] Ausgabe Weil du mich so magst.
Religiöse Kinderlieder. Gebete (ausgewählt von Gerhard Krombusch und Ludger Edelkötter), Drensteinfurt 21989 Ambitus G: 8; Z: 33b3b7(33b3b7) Abweichungen mit Akkorden, ohne Fermaten Verbindung MT wie EG
Literatur
HEG II, 83 f ** ThustB, 369 / Nf, 346; ThustL II, 335 ** Schmeel, Dieter: Frieden – gesungen, ZGP 9 (1991) H. 4, 11 f
Das Wort „Frieden“ (hebr. ׁשלוֹםschalom) kommt in der Bibel sehr häufig vor, dennoch stammt der Text dieses Kanons nicht aus der Bibel, sondern aus der Liturgie. Im Agnus Dei des Abendmahlsgottesdienstes (EG 190.2) heißt es in der dritten Anrufung: Gib uns deinen Frieden. Das Wort „Frieden“ hat im Hebräischen einen weitaus umfassenderen Sinn als im Deutschen. Es meint nicht nur die Abwesenheit von Krieg, Auseinandersetzung und Disharmonie, sondern darüber hinaus Wohlergehen, Lebensmöglichkeit, Heil und Eintracht: Dinge, die als Gaben von Gott betrachtet werden. In unserem Kanon erscheint zunächst die liturgische Formulierung mit einer hinzugefügten Gebets-Anrede Herr. Danach wird der Text verkürzt, in dem die Anrede weggelassen wird: Gib uns deinen Frieden. Schließlich bleibt nur noch das zentrale Wort Frieden übrig. Danach folgt wieder der liturgische Friedenswunsch Gib uns deinen Frieden, und zuletzt folgt er wieder mit der Anrede Herr. Diese „Rundreise“ verstärkt die Konzentration auf den „Schalom“. Der Kanon hat in der Friedensbewegung der 1980er Jahre eine wichtige Rolle gespielt. Er konnte auf Grund seiner einfachen Satzweise spontan mitgesungen werden. Seine Melodie besteht aus einer auf- und wieder absteigenden C-Dur-Tonleiter. Dabei läuft die erste Zeile, ähnlich die dritte, in Halben und Achteln, die zweite und vierte Zeile in Vierteln mit Halben am Ende. In allen vier Kanonteilen ist das Wort „Frieden“ durch größere Notenwerte bzw. ein Zweiton-Motiv (Z. 2) herausgehoben. Die allmähliche Aufwärtsbewegung der Melodie erzeugt eine Spannung, die in der dritten Zeile das Wort „Frieden“ zum Dreh- und Angelpunkt des ganzen Kanons werden lässt, von da führt die Melodie wieder abwärts. Der Schlussteil nimmt die Viertelbewegung von Zeile 2 wieder auf und führt mit ihr abschließend zurück zum Grundton.
Wolfgang Herbst
477 Nun ruhen alle Wälder
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477 Nun ruhen alle Wälder EG 477ö GL2 101(ö) (T) RG 594 (T) CG 323 (T) EM 633 (T) Text
Verfasser Paul Gerhardt Vorlage Jes 14,7 Quelle PRAXIS PIETATIS MELICA. Das ist Vbung der Gottseligkeit […] (Johann Crüger), Berlin 1647 (DKL 164708) Überschrift XV. Nach der Melod. O Welt ich muß dich lassen Ausgaben FT III,381; PPMEDW I/1, Nr. 22 Strophenbau A7/3a- A7/3a- A6/3b A7/3c- A7/3c- A8/4b vgl. Frank 6.9 Abweichungen 3,2 Sternen; 4,4 ich zieh; 9,2 soll heinte; 9,3 Ein Unfall * GL2: ohne Str. 5 und 7 * CG: ohne Str. 6–8 * EM:
ohne Str. 7 Verbindung TM in der Q ohne N, die Überschrift verweist auf die in der Q ebenfalls abgedruckte M wie EG * weitere eigene Melodien: Z II,2308 (Chr. Peter, 1655), 2309 (J. G. Ebeling, 1667; Faks. bei Rödding 21984, 56 f ), 2310 (J. Hintze, 1690; mit 4st. S ediert bei Wenzel 2007, 212), 2311 (Fr. Mergner, 1876) * andere Fassung der gleichen Melodie: RG 594 / CG 323 / EM 633 (vgl. Z II,2293b / DKL III/4 Ga4A)
Melodie
s. O Welt, ich muss dich lassen (EG 521) Satz
Verfasser Bartholomäus Gesius Quelle Ein ander new Opus Geistlicher Deutscher Lieder (Bartholomäus Gesius), Frankfurt / Oder 1605
(DKL 160505) Ausgaben Z II,2293c; DKL III/4 Ga4C (beide nur M) Verbindung MT O Welt, ich muss dich lassen (EG 521)
Literatur
HEKG (Nr. 361) I/2, 519–521; III/2, 468– 471; Sb, 548–551; HEG II, 110–112 ** ThustB, 394 f / Nf, 371 f; ThustL II, 407–410 ** Bruppacher (1953) 97 f; PPMEDW (2014–2017) I/2, S. 80. 279 f ** Spitta, Friedrich: Über den Ursprung des Paul Gerhardtschen Liedes „Nun ruhen alle Wälder“, MGKK 19 (1914), 212– 216 * Albrecht, Christoph: Johann Georg Ebeling 1637–1676, MGD 30 (1976), 139 f * Belfrage, Esbjörn: Morgen- und Abendlieder. Das Kunstgerechte und die Tradition, JLH 20 (1976), 91–134 (bes. 115–126) * Schönborn, Hans-Bernhard: Paul Gerhardt und seine Lieder in der Tradition des „locus amoenus“, JLH 21 (1977), 155–161 (bes. 156 f ) * Sauer-Geppert, Waldtraut Ingeborg: Hymnologische
Vorbesinnung aus der Sicht eines Germanisten, JLH 22 (1978), 133–146 * Schönborn, Hans-Bernhard: Lieder Paul Gerhardts in den heute gebräuchlichen Gesangbüchern, JLH 24 (1980), 113–123 * Hillenbrand, Rainer: Paul Gerhardts deutsche Gedichte. Rhetorische und poetische Gestaltungsmittel zwischen traditioneller Gestaltungsbindung und barocker Modernität, Frankfurt / Main 1992, 88–98 * Schneider / Vicktor 1993 / 21996, 160–163 * Foss, Lisbet: Paul Gerhardt. Eine hymnologisch-komparative Studie, Kopenhagen 1995, 77–91.114–120 * Kadelbach, Ada: Matthias Claudius, Paul Gerhardt, Thomas Mann – verborgene Beziehungen, Jahresschrift der Claudius-Gesellschaft 10 (2001), 5–18 * Bun-
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Kommentare zu den Liedern
ners, Christian: So laß die Englein singen, in: Susanne Weichenhahn / Ellen Ueberschär (Hg.): LebensArt und SterbensKunst bei Paul Gerhardt, Berlin 2003, 41–70 (bes. 66–68) * Bahr, Petra: Warum der Herr Jesus abends noch Kuchen haben darf, in: „Mein Sprachgesell“ GAGF 02/2006, 41 f * Bunners 2006, bes. 124–127.272 f.276 f * Geiger, Erika: Dem Herren musst du trauen. Paul Gerhardt 1607– 1676, Holzgerlingen 2006, bes. 125–128 * Hahn, Ulla: Jesus, der Urvogel. Überlegungen zu Paul Gerhardts „Nun ruhen alle Wälder“, in: „Mein Sprachgesell“, GAGF 02/2006, 46–49 * Rödding, Gerhard: Warum sollt ich mich denn grämen. Paul Gerhardt. Leben und Dichten in dunkler Zeit, Neukirchen-Vluyn 2006, 132–137 * Finke, Christian: Paul Gerhardt vertont. Eine unvollständige Übersicht über mehrstimmige Fassungen und Kanons seiner Lieder, in: Böttler, Winfried (Hg.): Paul
Gerhardt in Kirche, Kultur und Lebensalltag. Beispiele für die Praxis, Berlin 2007, 157–171 (bes. 167 f ) * Wenzel, Mechthild: … unanständige Melodien heraußgelassen …. Die Editio XXIV der Praxis pietatis melica, Berlin 1690, von Johann Crüger und Jacob Hintze, JLH 46 (2007), 190–213 * Fischer, Michael: Nun ruhen alle Wälder (2008), in: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon, http://www.liederlexikon.de/ lieder/nun_ruhen_alle_waelder (1.3.2021) * Balders, Günter: „Mein Herze soll dir grünen …“ in: Winfried Böttler (Hg.): „Mach in mir deinem Geiste Raum“ – Poesie und Spiritualität bei Paul Gerhardt, Berlin 2009, 100–102 * Henkys, Jürgen: Paul-Gerhardt-Rezeption und Gesangbuchgeschichte, in: DBG 2014, 41–56, bes. 43 f * Liebig, Elke in: LGL2 (2017), 849–854
Nun ruhen alle Wälder gehört zu den ersten 18 Liedgedichten Paul Gerhardts, die Johann Crüger in sein 1647 erschienenes Gesangbuch „Praxis Pietatis Melica“ aufnahm. Das Lied ist mit seinen neun Strophen meist ungekürzt bis heute fester Bestandteil nicht nur deutscher Gesangbücher geblieben. Die in schlichten Worten beschriebenen Alltagserfahrungen und Verrichtungen als Vorbereitung für die Ruhe der Nacht geben Strophe für Strophe Anlass für eine geistliche Meditation und werden so in eine Glaubenserfahrung überführt. In Str. 7 wird das Lied zum Gebet und mündet schließlich in der Schlussstrophe in einen Abendsegen. Die bildhafte und eingängige Sprache korrespondiert mit einer durchkomponierten dichterischen Gestalt. Die Strophen 1–3 beschreiben die Ruhe, den Untergang der Sonne und das Ende des Tages, die Strophen 4–6 das Geschenk der Ruhe für den Sänger und seinen Leib; in den drei letzten Strophen versichert er sich des gnädigen Waltens und Wirkens Gottes über seiner und seiner Lieben Ruhe. Wie andere Abendlieder auch (vgl. EG 475; 476) greift Gerhardt auf den Abendsegen im Paradiesgärtlein von Johann Arndt und damit letztlich auch auf Luthers Abendsegen zurück. Arndts Gebet beginnt so: „Barmherziger, gnädiger Gott und Vater! Ich sage dir Lob und Dank, dass du Tag und Nacht geschaffen, Licht und Finsternis unterschieden, den Tag zur Arbeit und die Nacht zur Ruhe, auf dass sich Menschen und Vieh erquicken“ (II, 2). Der biblische Haftpunkt von Nun ruhen alle Wälder ist Jes 14,7 Nun hat Ruhe und Frieden alle Welt und jubelt fröhlich. Unschwer ist zu erkennen, wie Gerhardt aus diesem Material seine 1. Strophe geformt hat. Die Welt schläft, aber die Sinne beginnen mit dem Lob Gottes, ihres Schöpfers (vgl. Hld 5,2a: Ich schlief, aber mein Herz war wach und Ps 57,8: Gott, mein Herz ist bereit, dass ich singe und lobe. Nach dem Modell der ersten Strophe gestaltet Gerhardt nun in strenger Regelmäßigkeit die Strophen 2–6:
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Der jeweils erste Teil beschreibt von Strophe zu Strophe fortschreitend die Naturphänomene des Abends und die Verrichtungen des Zubettgehens. Im zweiten Teil folgt eine geistliche Deutung. Natur und Alltag werden zu Metaphern für den Glauben. Die Nacht als des Tages Feind (2. Str.) lässt noch ahnen, dass das Dunkel der Nacht als die Zeit empfunden wurde, in der das Böse seine Wirksamkeit besonders entfaltet. Umso heller scheint Jesus, die andre Sonne, im eigenen Herzen, wie Gerhardt mit deutlichem Bezug auf 2. Kor 4,6 formuliert. In der 3. Strophe gibt der Sternenhimmel als Nachtphänomen Anlass für eine Deutung in Anlehnung an Dan 12,3: Die Lehrer werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich. Hier erhält das Lied auch den Aspekt des „Memento Mori“, der Sterbebereitung, der in der folgenden Strophe noch deutlicher wird. Mit der 4. Strophe wendet sich das Lied von außen gewissermaßen nach innen. Der natürliche Leib trägt das Bild der Sterblichkeit und dies Sterbliche muss anziehen die Unsterblichkeit (1. Kor 15,46.49.53). Gerhardt geht mit den biblischen Bezügen souverän um und formt daraus seinen eigenen Gedankengang. Der zweite Teil der Strophe hat Anhalt an Jes 61,10: Gott hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet. Str. 5: Die Nachtruhe ermöglicht ein Ende der Arbeit des Tages. Das Elend dieser Erden, womit an das Jammertal aus Str. 3 angeknüpft wird, hat seinen Grund nicht zuletzt darin, dass das Leben auf eine heute nur schwer vorstellbare Weise mühsam war. So dichtet Johann Hermann Schein 1628: Hier ist doch nur ein Tränental, Angst, Not, Müh, Arbeit überall (EG 525,3). Die „Werkzeuge“ der Arbeit – das Haupt, die Füß und Hände – freuen sich über die Nachtruhe. Das Herz aber blickt tiefer und weiß, dass am Ende des Lebens aller Sünden Arbeit vorbei sein wird. Str. 6–7: Schlaf gilt als der kleine Tod, der Tod ist Schlafes Bruder,1 und wer schläft, scheint wie tot. So wird das Bett zum Sinnbild für das Grab. Die empfundene Nähe des Schlafes zum Tod provoziert die Frage (Str. 7,3) Wo bleibt dann Leib und Seel? Sie bedürfen besonderen Schutzes, den sie sich selbst nicht geben können. Aus Ps 121,4 formt Gerhardt die Bitte im zweiten Teil der 7. Strophe. Nimm sie zu deinen Gnaden, sei gut für allen Schaden, bittet um die Bewahrung vor leiblich-materiellen Schäden und vor dem Schaden, den die Sünde anrichtet (vgl. EG 363,1). In dem Moment, in dem die eigenen Augen geschlossen sind, wachen die Augen Gottes über den Schlafenden und der Gemeinschaft der Glaubenden (Israel ). Schon in der Mitte der 7. Strophe wechselte der Sprachmodus ins Gebet. Die 8. Strophe schließt eng an Luthers Abendsegen an: „Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde.“ Das ist auch der Kern der Bitte in dieser Strophe. Das Bild der Henne und ihrer Küken ist aus Mt 23,37 gewonnen. Schon in Ps 91, der traditionell in der Komplet gebetet wird, findet sich das Motiv (V. 4), ebenso in Ps 17,8. Der Schutz unter den Flügeln Gottes wird erbeten gegen die Macht des Bösen, denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge (1. Petr 5,8). 1 Johann Franck: Komm, o tod, du schlafesbruder, Str. 6 aus: DV, o schönes Weltgebäude (FT IV,99).
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Kommentare zu den Liedern
Die 9. Strophe beschließt das Lied mit einem Segenswunsch für alle Lieben.2 Unfall und Gefahr, die Schrecken der Nacht, schildert der 91. Psalm eindrücklich. Dagegen helfen die Engelscharen, die gut gerüstet ums Bett stehen wie die sechzig Starken um das Bett Salomos (Hld 3,7.8). Das Lied sei ein „Märtyrer unter den Kirchenliedern“, schreibt Jörg Erb in seiner kleinen Gerhardt-Biographie. Wie an kaum einem anderen hat sich an ihm der wankelmütige, aber herrschsüchtige Zeitgeist ausgetobt und es bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet. Die Gebildeten rümpften die Nase über Vieh, Schuhe und andere gewöhnliche Ausdrücke, darüber, dass das Vieh vor den Menschen genannt werde – und überhaupt, wie kann man behaupten, die ganze Welt schlafe?3
Eines von vielen Beispielen für Umdichtungen findet sich im Straßburger Gesangbuch von 1808. Lediglich die ersten Zeilen lassen erahnen, um welches Lied es sich handelt: Nun ruhet in den Wäldern in Städten und in Feldern ein Teil der müden Welt.
Alles, was dann folgt, ist eine freie Umdichtung des Liedes. Keine einzige von Paul Gerhardts Liedzeilen ist dort zu finden. Im Jahr 1779 dichtet Matthias Claudius sein Abendlied Der Mond ist aufgegangen (EG 482). Dieses Lied ist auch eine Hommage an Paul Gerhardt und sein Abendlied. Claudius verwendet dasselbe Versmaß, und bis Johann Abraham Peter Schulz die heute bekannte Melodie komponiert, wird es mit der Melodie des Paul-Gerhardt-Liedes gesungen. Die sprachlichen Parallelen sind auffällig: Nun ruhen alle Wälder Es schläft die ganze Welt die güldnen Sternlein prangen
Der Wald steht schwarz und schweiget Wie ist die Welt so stille die goldnen Sternlein prangen
Allerdings, während Gerhardt noch die Gefahren der Nacht bedichtet: die Nacht, des Tages Feind, hat sie für Claudius ihren Schrecken verloren und wird romantisch erfahren: Wie ist die Welt so stille / und in der Dämmrung Hülle / so traulich und so hold. Die 4. Strophe klingt wie eine spöttische Auseinandersetzung mit Gerhardts Kritikern: Wir stolzen Menschenkinder [...] Trotz aller Kritik und den Versuchen der Umdichtung und Anpassung an den Zeitgeist gehört das Abendlied zu Paul Gerhardts populärsten Dichtungen. Die beiden letzten Strophen sind das in christlichen Häusern über Jahrhunderte wohl am weitesten verbreitete Abendgebet, zumindest an den Kinderbetten: Breit aus die Flügel beide … Hat fromme Einfalt diese Strophe unter Berufung auf seine letzte Zeile zum Kindergebet degradiert? Immerhin gebraucht Jesus selbst das Bild der Henne mit den Küken bei seiner Klage über die abtrünnige Stadt Jerusalem: Wie oft habe ich deine Kinder ver 2 Günter Balders findet in den Anfangsbuchstaben der 9. Strophe sogar alle Familienmitglieder von Gerhardts Ehefrau Anna Maria geb. Berthold namentlich aufgezählt. Vgl. Balders 2009. 3 Jörg Erb, Paul Gerhardt und seine Lieder, Lahr 71994, 176.
477 Nun ruhen alle Wälder
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sammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küken unter ihre Flügel (Mt 23, 37). So ist diese Strophe ein Abendgebet nicht nur für Kinder, sondern für alle Menschen. Längst ist das Lied in seiner Originalgestalt wieder in vielen Gesangbüchern vertreten. Auch in der neusten Auflage des Gotteslob (2013) steht es im Stammteil, verzichtet aber auf die Strophen 5 und 7.
Winfried Böttler
Der Text bildet eine Einheit mit der ihm fast immer (Ausnahme Ebeling 1666/67) zugeordneten Melodie des Innsbruckliedes, das über die Kontrafaktur O Welt, ich muss dich lassen (EG 521) in den Gemeindegesang Eingang gefunden hat. Die Melodie wurde in Heft 9 kommentiert, das EG bietet aber zusätzlich zu Gerhardts Text einen vierstimmigen Satz von Bartholomäus Gesius. Gegenüber der melismenreichen Fassung der Melodie in Heinrich Isaacs um ein Jahrhundert älterem Satz bietet Gesius eine für die Gemeinde leichter sangbare Form mit syllabischer Gestalt der Liedmelodie. Lediglich in der Tenorstimme liegt auf der drittletzten Silbe der Strophe ein Melisma von 5 Tönen, auffälligerweise an eben der Textstelle, wo bei Isaac alle Stimmen eine ausführliche Kantilene formieren. In fast allen Strophen des Liedes finden sich an dieser Stelle für den Sinn des Textes besonders wichtige Wörter. Der Satz ist typisch für die seit Ende des 16. Jh. geläufige Gattung des Kantionalsatzes mit Melodie im Sopran, der so beschaffen ist, „das ein gantze Christliche Gemein durchauß mit singen kann.“4 Neben der Reduktion des Melodischen gegenüber Isaac ist auch eine Vereinfachung der Harmonik auffällig. Während Isaac teils durch die doppelte Subdominante (Es-Dur) eine Dunkelfärbung schafft, beschränkt sich Gesius fast ausschließlich auf die Hauptfunktionen Tonika, Dominante, Subdominante. Auch die in späterer Satztechnik häufigeren Sextakkorde mit Dreiklangs terz im Bass sind bei ihm selten, so dass die Bassstimme viele Sprünge statt Stufenschritte ausführt und für Laien nicht ganz leicht zu singen ist; für die Lateinschüler um 1600 war das kein Problem. Man sollte es trotzdem wagen, der Satz lohnt die Mühe. Besonders wohlklingend die vielfach weite Lage (großer Abstand zwischen Alt und Tenor) und die insgesamt sangliche Gestaltung aller Stimmen. Die etwas unbefriedigende Terzharmonie des Schlussakkordes lässt sich durch ein zusätzliches c’ durch Teilung des Alt oder Tenor für unsere Hörgewohnheiten ansprechender gestalten. Wenn viele oder alle Strophen des Liedes gesungen werden, sollte der Satz nicht allzu häufig erscheinen, sondern die von Gesius empfohlene Alternatim-Praxis angewendet werden, nach der „solche Lieder […] lieblich und nützlichen anzuhören sein, wenn sie alternatim in choro und organo gebraucht werden, also, daß ein Knabe […] einen Vers im organo mitsinge, darauf den andern Vers der chorus musicus, und also jedermann neben dem concentu auch die verständliche Wort in gebräuchlicher und gewöhnlicher Melodie hören und mitsingen kann“ (Gesius 1601, zit. nach HEG 2, 114).
Johannes Heinrich
4 Aus dem Titel von Lucas Osiander, Fuenfftzig Geistliche Lieder vnd Psalmen […], Nürnberg 1586 (DKL 158611).
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Kommentare zu den Liedern
487 Abend ward, bald kommt die Nacht EG 487 RG 601 EM 631 Text
Verfasser Rudolf Alexander Schröder Entstehung 1942 Quelle Das junge Lied. 80 neue Lieder der Christenheit (hg. von Friedrich Samuel Rothenberg), Kassel 1949 Strophenbau 7/4a 5/3b 7/4a 5/3b vgl. Frank 4.30 Abweichungen
EM: nach 3: 4. Bleib und mach die Herzen still (Str. 2 von Komm, der unsre Fragen schweigt; dazu s. Melodie: Verbindung MT Verbindung TM wie EG * Richard Rudolf Klein (1971)
Melodie
Incipit 1_2_3_1-5 -6_-7_1__ Verfasser Samuel Rothenberg Entstehung 1948 Quelle wie Textquelle Ambitus G: 8; Z: 63b45 Abweichungen RG: Ton tiefer; nur Melodie * EM: mit 4st. Satz (Samuel Rothenberg 1948; die Bass-Stimme stimmt mit der dritten Stimme der EG-Fassung weitgehend überein; Z. 2 letzte Note Halbe Verbindung MT wie EG * Komm, der unsre Fragen schweigt (in der Q unter der fol-
genden Nummer, mit der Überschrift „Auf die gleiche Weise zu singen“ und mit der ausdrücklichen Nennung des Textautors Rudolf Alexander Schröder unter beiden Liedern; die in der Literatur gelegentlich genannte Nennung von Jochen Klepper als Autor beruht auf der nicht näher belegten Angabe in „Songs junger Christen“, Stuttgart 1969 und dann Fuhrmann 2008, 215 und 386)
Literatur
HEG II, 263 f.282 f ** ThustB, 404 / Nf, 381; ThustL II, 433–435 ** Koerrenz, Ralf / Remy, Jochen (Hg.): Mit Liedern predigen. Theorie und Praxis der Liedpredigt, Rheinbach-Merzbach 1994, 165–169 * Behrens, Achim: „Abend ward, bald kommt die Nacht …“ Stichwortverknüpfungen im Alten Testament und in einem Gesangbuchlied, Lutherische Theologie und Kirche 23 (1999) 97–101 * Fuhrmann, Siri: Der Abend in Lied, Leben
und Liturgie. Studie zu Motiven, Riten und Alltagserfahrungen an der Schwelle vom Tag zur Nacht, Tübingen / Basel 2008, 209–216 * Kenntner, Eberhard: Abend ward, bald kommt die Nacht. Predigt über das Abendlied von Rudolf Alexander Schröder (EG 487) mit einer Kyrie-Litanei zu dessen Lied „Es mag sein, dass alles fällt“ (EG 378), Thema: Gottesdienst 36 (2012) 45–51
Die kurze, einfache Strophenform mag im ersten Augenblick darüber hinwegtäuschen, dass dieser Liedtext in einer alles andere als alltäglichen Sprache verfasst ist. An barocke Texte erinnern Doppelformulierungen wie Müh und Plag, Hort und Halt oder auch wacht und trägt. Manches klingt archaisch, vielleicht auch bis zu einem gewissen Grad manieriert, so der genannte Begriff Hort oder die zweite Zeile von Str. 4: wenn dein Trost mir frommt – wobei „frommt“ etwa mit „dient“ oder „hilft“ wiederzugeben wäre. Heutigem Sprachverständnis erschließt sich die Bedeutung von solchen Sätzen nur schwer,
487 Abend ward, bald kommt die Nacht
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und die Archaismen erinnern daran, dass in den 1930er und 1940er Jahren verschiedene Dichter – zu ihnen gehört außer Rudolf Alexander Schröder namentlich auch Jochen Klepper – auf diese Weise einen Ausweg aus romantischer Gefühlsdichtung gesucht haben, ohne in die Banalität einer bloßen Alltagssprache zu geraten. Die kurze Strophenform zwingt hier zudem zu einer Verknappung, welche die Gedanken nur mit wenigen Begriffen anspricht, ohne sie weiter auszuführen, dazu in Fügungen, die sich nicht auf Anhieb erschließen und zum Verweilen zwingen, etwa die ganze zweite Hälfte von Strophe 3: tu mit Bitten dir Gewalt: Bleib bei meinem Ruhn, die überhaupt nur verständlich ist, wenn das „Ich“ von Z. 2 am Anfang mitgedacht wird. Dass man jemandem mit Bitten Gewalt antun kann, klingt befremdlich, ist aber zu verstehen als Anspielung an das Gleichnis von der bittenden Witwe Lk 18,1–5. Die Verknappung kann auch auf Kosten der Logik gehen: Die zweite Hälfte von Str. 1 suggeriert mit dem einleitenden denn eine Begründung für das Vorangehende, wie wenn das Wissen um die Wacht der Grund für das Schlafengehen wäre, während es sich eher um die Beschreibung seiner Umstände handelt. Mit der artifiziellen Sprache kontrastiert die Schlichtheit der Melodie. Die einzigen rhythmischen Gestaltungsmittel sind die Achtel in der ersten Zeile und die den Sprachakzent verstärkende Punktierung in der dritten. Außer bei Zeilenwechseln finden sich nur an zwei Stellen Sprünge – Quartensprünge abwärts und aufwärts, fast symmetrisch auf die erste und letzte Zeile verteilt. Die implizite Harmonik ist sehr einfach; die Melodie bleibt in der Ausgangstonart, die dominantisch endende zweitletzte Zeile führt in die knappe Kadenzformel der letzten. Die Melodie ist einem Typus von Volks- und Kinderlied zuzurechnen, wie er als antiromantisches Konstrukt in der Reformbewegung der 1930er und 1940er Jahre gepflegt wurde. Auch der schlichte dreistimmige Satz entspricht dem Ideal der Reform- und Singbewegung, abzulesen an der linearen Führung der Begleitstimmen. Die Unterstimme verläuft fast durchgehend in Gegenbewegung zur Melodie, dies in einfachsten harmonischen Abläufen und mit einigen rhythmischen Belebungen. Die Mittelstimme fungiert als Füllstimme und fügt weitere rhythmische Elemente hinzu, so vor allem mit dem synkopisch vorgezogenen Beginn der zweiten Zeile und mit dem Achteldurchgang gleich zu Beginn – über alle drei Stimmen hinweg entsteht damit eine Art Komplementärrhythmik, die allerdings im weiteren Verlauf in dieser Art nicht mehr zur Anwendung kommt. Im Aufbau der vier Strophen gibt es eine klare Entwicklung hin zur personalen Zentrierung. Str. 1 redet von der Welt und allgemein von einer Wacht. Str. 2 ordnet diese Wacht einer noch nicht genannten Person zu – nur aus dem Gebrauchskontext lässt sich auf Christus schließen, dazu – für Kundige – aus der Erinnerung an das stellvertretende Leiden: trägt allein ihre Müh und Plag. Explizit wechselt die 3. Strophe, in der Christus jetzt genannt wird, von der Beschreibung zum Gebet, zur direkten Anrede. Ebenfalls hier wird die Welt aus Str. 1 auf das Sprecher-Ich konzentriert. Die 4. Strophe setzt bei der persönlichen Christusbeziehung ein – die erste Zeile enthält (wie schon Z. 2 der 3. Strophe) die Personalpronomina der ersten und der zweiten Person. Die Wacht ist nun ebenfalls von der Welt auf das Ich zugespitzt, darüber hinaus noch auf das Auge sowohl Christi wie des Beters. Mit der Nennung der Nacht ist der Bogen zum Anfang geschlagen, in der Symmetrie Abend-Nacht / Nacht-Morgen.
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Kommentare zu den Liedern
Grundthema ist der Schutz, konzentriert in den Begriffen Wacht, Hort, Halt, Trost. Abend und Nacht erscheinen dadurch im Subtext negativ, als potenzielle Bedrohung, auch wenn am Schluss dann die gute Nacht mit dem Ausblick auf einen guten Morgen steht. Diese Grundstimmung wird man wohl mit der Entstehungssituation Ende 1942, der Bedrohung durch NS-Regime und Krieg, in Verbindung bringen; sie ist jedoch auf andere individuelle und kollektive Situationen der Bedrohung und Unsicherheit ohne Weiteres übertragbar. Schließlich soll es – wiederum im Blick auf den Entstehungskontext – noch um die Frage gehen, in welchem Verhältnis Schröders Abendlied zu seinem Emmaus-Lied Komm, der unsre Fragen schweigt von 1935 steht. Da ist zunächst die Übereinstimmung des Strophenmaßes, die es erlaubt hat, dass Samuel Rothenberg eine Melodie zu beiden Liedern geschaffen hat. Ob er selber oder zuvor schon Schröder die zweite Strophe aus dem Emmaus-Lied als vierte Strophe eingeschoben hat, ist nicht klar. Diese Strophe lautet: Bleib und mach die Herzen still, der die Herzen schaut, weiß kein Herz doch, was es will, eh’ sich’s dir vertraut.
Dieser Einschub knüpft mit Bleib zwar direkt an die vorhergehende Strophe an und nimmt die in der Emmaus-Erzählung beschriebene abendliche Situation auf: Bleibe bei uns; denn es will Abend werden (Lk 24,29). Sie erzeugt jedoch in ihrer generalisierenden Formulierung einen Bruch der oben beschriebenen fortschreitenden Konzentration vom Allgemeinen aufs Christologische und von der Welt auf das Ich. Entgegen der Anweisung Rothenbergs1 ist diese Strophe denn auch nur in wenige Gesangbücher übernommen worden. Eine offenbar irrtümliche Zuschreibung des Emmaus-Liedes an Jochen Klepper – in allen frühen Ausgaben wird Schröder als Autor genannt – hat dazu geführt, dass eine Verbindung des Abendliedes mit dem Suizid Kleppers im Sinne eines verborgenen Nachrufs vermutet wurde.2 Das ist durch die Quellenlage nicht gedeckt. Ob dennoch angesichts der Entstehungszeit ein solcher Zusammenhang besteht, bleibt hypothetisch. Stilistisch und atmosphärisch steht Schröder mit seinem Abendlied ja durchaus in der Nähe Kleppers, der mit ihm das Bemühen um eine literarisch anspruchsvolle Gestalt geistlicher Dichtung geteilt hat.
1 Fuhrmann 2008, 209 f. 2 Dazu ausführlich Fuhrmann 2008, 210, 215 f.
Andreas Marti
493 Eine ruhige Nacht
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493 Eine ruhige Nacht EG 493 GL2 102 Text
Verfasser Christian Lahusen Vorlage Stundenbuch / Komplet (Eröffnungssegen)1 Quelle s.
Melodie / Quelle Unterschrift Aus der Komplet Abweichung heiliges Ende
Melodie
Incipit 1_1_442_ 3b_. Verfasser Christian Lahusen Entstehung 1946 Quelle Geistliche Kanons (Christian Lahusen), Kassel 1948 Ambitus G: 8; Z: 4468(4468) Abweichungen Q:
Halbton tiefer * GL2: Z.1 N 6 ohne Auflösungszeichen für den Schlussakkord Verbindung MT wie EG
Literatur
HEG II, 190 f ** ThustB, 406 / Nf, 384; ThustL II, 443
Christian Lahusen war Mitglied der Michaelsbruderschaft, einer Verbindung von Männern, die nach einer gestalteten Spiritualität sucht – besonders im Bereich der Liturgie. Die Praxis der Tagzeitengebete in dieser Gemeinschaft traf sich mit Lahusens Interesse an Gregorianik und Psalmodie. Der von der Ballettmusik und Choreographie herkommende Operndirigent Lahusen ließ sich von alten liturgischen Formen inspirieren. Und so stammt der Text seines Kanons aus der Eröffnung des Nachtgebets (der Komplet) des bei den Michaelsbrüdern verwendeten Tagzeitenbuches. Gottvertrauen und Zuversicht prägen die Texte der Komplet. Dazu kommt die Parallele von Schlaf und Tod (ruhige Nacht – seliges Ende). Diese Entsprechung begegnet uns nicht nur in diesem Text, sondern auch in vielen anderen Abendliedern (EG 476,6; 477,6; 478,8; 481,5; 482,6; 488,2). Sie ist gedankliches Allgemeingut. Erinnert sei an die berühmte Strophe Komm, o Tod, du Schlafesbruder aus Johann Francks Lied Du, o schönes Weltgebäude.2 Die Parallelsetzung von Tod und Schlaf begegnet übrigens nicht nur in der jüdisch-christlichen Tradition; bereits in der griechischen Mythologie ist Thanatos, der Gott des Todes, der Bruder von Hypnos, dem Gott des Schlafes. Der Segen der Komplet spannt die gesamte Zukunft auf: von der unmittelbar bevorstehenden
1 Vgl. Das Stundengebet als Entwurf (hg. vom Liturgischen Ausschuß der Evangelischen Michaels bruderschaft, Horst Schumann), Kassel 1948. Vgl. auch in vielen EG-Ausgaben Nr. 786.1 mit der Textfassung: verleihe uns der Herr, der Allmächtige. 2 FT IV,99.
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Kommentare zu den Liedern
(Nacht) bis zur entfernten (Ende).3 Er ist also nicht nur ein Gebet um eine erfrischende und gesegnete Nachtruhe (noctem quietam), sondern auch eine Bitte um ein seliges Lebensende (finem perfectum)4 – eine Sterbeübung also, denn wer schlafen geht, blickt dem Tod ins Auge. Lahusen erweitert den Originaltext um das Attribut gnädige. Das passt klanglich gut zu allmächtige (beide mit ä). Die Allmacht Gottes wird um die Gnade ergänzt (vgl. in der trinitarischen Segensformel, die auch zum Beschluss der Komplet begegnet: Gott, der Allmächtige und Barmherzige). Das ist theologisch schlüssig. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Melodie-Rhythmus dieser beiden Adjektive: Dem Begriff mächti-ge (lang[2-Ton-Melisma]-kurz-kurz) steht das Wort gnä-di-ge (kurz-kurz-lang) wie ein rhythmisches Spiegelbild gegenüber – so, als würden sich zwei Gegenteile zu einem Ganzen ergänzen. Auch beim letzten Wort greift der Verfasser noch einmal in den Text ein: Im Originaltext der Komplet wird der allmächtige Herr angerufen. Bei Lahusen ist es der allmächtige und gnädige Gott. Die ersten beiden Kanonteile sind syllabisch komponiert, dazu auch im gleichen Rhythmus. Es ist eine beliebte Kanontechnik, den ersten und zweiten Teil ähnlich oder gleich zu gestalten, die Melodie des zweiten Teils aber eine Terz höher oder tiefer zu setzen (vgl. z. B. EG 2). Dadurch entsteht ein enger Zusammenhang der ersten beiden Textzeilen. Das ist hier wegen des Begriffspaars Nacht und Ende durchaus passend. Sinnfällig ist dabei die Mollterz auf dem Wort Nacht. In beiden Teilen verengt sich die Melodiebewegung: Zunächst Quart-, dann Terzsprung, zuletzt ein Sekundschritt. Da zieht sich die Melodie zweimal zusammen, sie verdichtet sich und befreit sich im Folgenden aus der Enge durch einen Sprung zu ihrem Spitzenton c’’. Dies geschieht auf dem Kern des Textes, der konjunktivisch formulierten Bitte verleihe uns. Es ist die markanteste Melodiebewegung: Der Aufschwung in die Höhe, die längeren Notenwerte, die Synkope in der Taktmitte, das Melisma auf (ver-)lei-(he) – all das hebt diese Stelle aus dem Gesamtverlauf als Höhepunkt hervor. Hier kommt die Melodie auch zur Ruhe. Es folgt im vierten Teil eine schnelle Abwärtsbewegung über eine halbe Oktave mit einem abschließenden Quintfall zum tiefen Grundton c’. Beim Schlusston auf Gott entsteht dadurch die Wirkung eines Fundaments, das alles trägt. Damit korrespondiert der hohe Oktavton auf dem Wort uns. Die durch die Noten ausgedrückte Aussage lautet also „Gott trägt uns“. Das gleichzeitige Erklingen der Melodieteile beim Singen als Kanon folgt harmonisch einem bekannten Schema, den Stufen I-VI-IV-V-I (c-As-f-G7-c), wobei sich im Akkord am Zeilenende jeweils die zentralen Begriffe Nacht, Ende, uns, Gott mit allen vier Tönen c-es-g-c des Oktavraums zu einer ausgewogenen Schlusswirkung verbinden. Das Kanonende bekommt noch eine andere Farbe, indem die Moll-Terz auf Nacht zur Dur-Terz erhöht wird. In der Nacht erscheint schon der kommende Tag, im Ende der Anfang.
Thomas Schmidt
3 Liborius Olaf Lumma, Die Komplet. Eine Auslegung des römisch-katholischen Nachtgebets, Regensburg 2017, 152. 4 Lateinischer Segenstext: Noctem quietam et finem perfectum concedat nobis Dominus omnipotens. Amen.
497 Ich weiß, mein Gott, dass all mein Tun
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497 Ich weiß, mein Gott, dass all mein Tun Text
Verfasser Paul Gerhardt Vorlage Jer 10,23 Quelle PRAXIS PIETATIS MELICA. Das ist: Vbung der Gottseligkeit […] EDITIO V. (Johann Crüger), Berlin 1653 (DKL 165304)1 Überschrift 321. Mel. Verzage nicht / o frommer Christ. Ausgaben FT III,434; PPMEDW I/1 Nr. 366 Strophenbau A8/4a A8/4a A7/3bA8/4x A7/3b- (‚Lindenschmidtstrophe‘) vgl. Frank 5.6 Abweichungen zusätzliche Strn. s. Kommentar; 3,1 So fängt auch mancher; 8,4
pflegt von ihm selbst; 9,1 Tritt zu mir zu; 11,2 da ihn sonst für graut; 12,1 ist fast wild; 12,5 und wonne; 14,2 Tun hie Verbindung TM in der Q ohne N, die Überschrift verweist auf die in der Q ebenfalls abgedruckte Melodie, eine etwas abweichende Fassung von EG 497 (s. u. Melodie / Abweichungen) * weitere eigene Melodien: Z I,1715 (J. G. Ebeling 1666); Z I,1716–1720 (1710–1805)
Melodie
Incipit 8__8_8_ 7_5_6_7_8__ Vorlage Fürwitz der Krämer hat viel War’ (Die Narrenkappe / Fasnachtskram; ediert Böhme 356 / Erk-Böhme III,1156) Quellen (a) Gesangbuch Christlicher Psalmen / vnd Kirchen Lieder, Dresden 1608 (DKL 160804; mit Nachträgen DKL I, S. 723 und DKL III/4, S. 474) * (b) s. o. Textquelle Ausgaben (Z I,1712); DKL III/4 C39A Ambitus G: 9; Z: 45565 Abweichungen (a) Oktave tiefer, Z. 2 N 1 Halbe (ohne Pause vorab);
Z. 3, statt N 5–6 Viertel c’’; Z. 4, N 1 h’; N 3–4 a’ g’; statt N 7–8 Viertel f ’; Z. 5, statt N 1–9: 2_3_4_5__4_3_2__1____ * (b) Z. 1, N 2 d’’; Z. 3, statt N 5–6 Viertelnote c’’; Z. 4, N 1 h’; N 3–4 a’ g’; statt N 7–8 Viertelnote f ’; Z. 5, statt N 1–9: 2_3_4_5__4_3_2__1____ Verbindung MT (a+b) Verzage nicht, o frommer Christ (s. o. Verbindung TM) * In dich hab ich gehoffet, Herr; Gott, dessen Kraft / Güt sich weit (s. Z I,1712)
Literatur
HEKG (Nr. 384) I/2, 544 f; III/2, 519–522; Sb, 572; HEG II, 110–112 ** ThustB, 408 f / Nf, 386 f; ThustL II, 449–452 ** DKL III (1993–2010)/4, S. 205 (vgl. auch DKL III/1,2, S. 21 f ); PPMEDW (2014–2017) I/2, S. 227 ** Metzger, Günther: Ich weiß, mein Gott, daß all mein Tun, WüBll 25 (1958), 6–8 * Schönborn, Hans-Bernhard: Lieder Paul Gerhardts in den heute gebräuchlichen Gesangbüchern, JLH 24 (1980), 113–123 * Kenntner, Eberhard: Gesungener Trost. Liedpredigten im Kirchenjahr, Rheinbach 2001, 105–117 * Deichgräber, Reinhard: Nichts nimmt mir
meinen Mut. Paul Gerhardt als Meister christlicher Lebenskunst, Göttingen 2006, 68–72 * Heymel, Michael: Ich weiß, mein Gott, dass all mein Tun. Liedpredigt, in: Felizitat Muntanjohl / Michael Heymel: Auf, auf, mein Herz, mit Freuden. Gottesdienste, Gemeindearbeit und Seelsorge mit Liedern von Paul Gerhardt, Gütersloh 2006, 222–228 * Finke, Christian: Paul Gerhardt vertont. Eine unvollständige Übersicht über mehrstimmige Fassungen und Kanons seiner Lieder, in: Winfried Böttler (Hg.): Paul Gerhardt in Kirche, Kultur und Lebensalltag. Beispiele für die Praxis, Berlin
1 Digitalisat Bayerische Staatsbibliothek: https://t1p.de/y698 (1.3.2021).
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Kommentare zu den Liedern
2007, 157–171 (bes. 165) * Korth, HansOtto: Martin Luthers Lied „Vom Himmel hoch“. Zur Herkunft der beiden jüngeren Melodien, in: Wolfgang Hirschmann / Hans-Otto
Korth (Hg.), Das deutsche Kirchenlied. Bilanz und Perspektiven einer Edition. Bericht über die internationale Tagung in Mainz. November 2008, Kassel u. a. 2010, 40–51, bes. 48–50
Dieses Paul-Gerhardt-Lied gehört nicht zu den allerbekanntesten seiner Lieder wie etwa den regelrecht zu Volksliedern gewordenen Nun ruhen alle Wälder (EG 477) oder Geh aus, mein Herz, und suche Freud (EG 503). Dennoch spricht uns auch hier unverkennbar der typische Sprach-Ton Paul Gerhardts an, der große Tiefe und höchste Dichtkunst vereint. Wie viele andere Paul-Gerhardt-Texte ist auch Ich weiß, mein Gott, dass all mein Tun ein Ich-Lied: in Betrachtung und Gebet durch und durch von dem persönlichen Anliegen beseelt, das eigene Tun und Leben im Einklang mit dem Willen Gottes zu führen. Andere typische Merkmale des Gerhardt-Stils sind die Bezüge zwischen Beginn und Schluss (Str. 1 mein Gott – Str. 13 mein Vater), eine markante Gliederung, Perspektivwechsel, ein Wechsel des Versmaßes innerhalb der Strophen, Stabreime (Werk und Willen), Zwillingsformeln (Fleisch und Blut), Binnenreime (geht und steht). Hierzu gehört auch, dass der Dichter auf zahlreiche Bibelworte anspielt; programmatisch zitiert die 1. Strophe nahezu wörtlich Jeremia 10,23: Ich weiß, Herr, dass des Menschen Tun nicht in seiner Gewalt steht, und es liegt in niemandes Macht, wie er wandle und seinen Gang richte. Weitere prominente biblische Reminiszenzen sind das Gleichnis vom Hausbau (Mt 7,24–27) in Str. 3 und der Rat des Gamaliel (Apg 5,38 f ) in Str. 8. In der Gesamtausgabe der 120 Kirchenlieder Gerhardts durch Johann Georg Ebeling im Jahr 1667 unter dem Titel „Geistliche Andachten“ trägt das Lied die Überschrift „Ein Gebet um Glück und Segen zu allem christlichen Tun und Vorhaben“. Demnach geht es in diesem Lied um das menschliche Handeln in Beziehung zu Gott; genauer darum, menschliches Bestreben und Tun dem Willen Gottes unterzuordnen. Im Original hat das Lied 18 Strophen. Im EG fehlen wie schon im EKG die Originalstrophen 3, 5, 6 und 12. Im ursprünglichen Text zeigt sich eine flexibel angelegte Gliederung, deren Proportionalität (6+6+6 Str.; vgl. EG 324) durch die Streichungen im EG unkenntlich wird. Dennoch schaden die Kürzungen auf der Ebene des praktischen Singens dem Gesamtcharakter wenig, zumal es sich inhaltlich oft um Varianten des in den umgebenden Strophen Gesagten handelt. Da sie im Folgenden aber berücksichtigt werden sollen, werden die fehlenden Strophen hier modernisiert wiedergegeben: [1.–2. = EG] 3. Oft denkt der Mensch in seinem Mut, dies oder jenes sei ihm gut, und ist doch weit gefehlet; oft sieht er auch für schädlich an, was doch Gott selbst erwählet. [4. = EG 3.] 5. Wie mancher ist in seinem Sinn fast über Berg und Spitzen hin, und eh er sich’s versiehet, so liegt er da, und hat sein Fuß vergeblich sich bemühet.
6. Drum, lieber Vater, der du Kron und Zepter trägst in deinem Thron und aus den Wolken blitzest, vernimm mein Wort und höre mich vom Stuhle, da du sitzest. [7.–11. = EG 4.–8.] 12. Sollt aber dein und unser Feind an dem, was dein Herz gut gemeint, beginnen sich zu rächen, ist das mein Trost, dass seinen Zorn du leichtlich könnest brechen. [13.–18. = EG 9.–14.]
497 Ich weiß, mein Gott, dass all mein Tun
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Wenn man von der Erstveröffentlichung 1653 ausgehen darf, schreibt Gerhardt sein Lied in (oder kurz vor) der Zeit, als er seine erste Pfarrstelle in Mittenwalde antritt. Der Dreißigjährige Krieg ist vorbei, in Johann Crügers Gesangbuch Praxis Pietatis Melica (PPM) erscheinen in immer neuen und erweiterten Auflagen Gerhardts Lieder.2 Gerhardt ist mit Anna Maria Berthold verlobt. Er steht demnach an der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt. In diesen biographischen Horizont mag man das Lied einzeichnen. Die erste Einheit bilden die Originalstrophen 1 bis 6. Eine Betrachtung darüber, dass des Menschen Planen und Tun dem Willen Gottes entsprechen müssen (originale Str. 2–5), ist gerahmt von der Anrufung Gottes und von der Wendung zum eigentlichen Gebet. Str. 1 formuliert mit Jeremia 10,23 als Anrede Gottes eine zentrale Einsicht in die göttliche Vorsehung, die alles menschliche Vorhaben umgreift. Den drei Pronomina der 1. Person (ich, mein Gott, mein Tun) stehen drei der 2. Person (deinem Willen, von dir kommt, du regierst) gegenüber. Was es mit der Beziehung von menschlichem und göttlichem Tun auf sich hat, entfaltet Gerhardt betrachtend in den folgenden Strophen: Die zweite stellt die Begriffe von Menschen- und Gottesrat bzw. -macht kontrastierend gegenüber: Keines Menschen Macht kann etwas bewirken, wenn nicht des Höchsten Rat dahintersteht. Hier finden wir eine erste auffällige Wortkombination: Menschenrat. In der 8. EG-Strophe wird uns das Menschentun begegnen, und in der 11. Strophe der Sorgenstein – Begriffe, die man in keinem Wörterbuch findet. Dennoch sind sie im jeweiligen Zusammenhang verständlich und schlüssig. Es folgen drei Strophen, die den Grundgedanken – des Menschen Tun muss im Einklang mit dem Willen Gottes stehen – negativ illustrieren: für die Phasen des Überlegens oder der Planung (Str. 3), des Beginnens (EG-Str. 3) und des Fortgangs (Str. 5). Die originale 3. Strophe betrifft die Planung und die ihr zugrundeliegende Urteilsbildung. Bemerkenswert ist hier die persönliche Nuancierung sei ihm gut, die in EG-Str. 6 wieder aufgenommen wird: was mir gut. Der persönliche Vorsehungsglaube rechnet damit, dass Gott mit jedem Individuum Besonderes vorhat. Die 3. EG-Strophe nennt dann den Beginn des eigentlichen Handelns (Es fängt so … an3). Auch ein gutes Werk, selbst wenn es mit menschlicher Weisheit und Freude begonnen wird, ist zum Scheitern verurteilt, wenn ihm das Fundament fehlt. Es gleicht dann einem auf Sand errichteten Gebäude, das bei einem Wolkenbruch unterspült wird und einstürzt. Die Anspielungen auf das Ende der Bergpredigt (Mt 7,24 ff ) bzw. der Feldrede Jesu (Lk 6,47 ff ) sind unverkennbar. Fast gleichzeitig (1641/1657) verwendet Georg Neumark dieses Bild (EG 369,1). Es folgt die originale Strophe 5, die als dritte negative Illustration den Menschen vor Augen stellt, der den künftigen Erfolg in seinem Sinn vorwegnimmt, dabei aber auf die Nase fällt. Nachdem sich der Sänger vergegenwärtigt und neu eingeprägt hat, „dass all sein Tun und Werk in seinem Willen ruhn“ müssen, wendet er sich Gott nun wieder in direkter Anrede zu und leitet sein Gebet mit der 6. Strophe ein. Die Begriffe Krone, Zepter, Thron und Stuhl greifen zurück auf du regierst in der 1. Strophe; theologisch geht es um Gottes „gubernatio“ (Führung), und zwar um die auf 2 Vgl. dazu die tabellarische Entwicklung des Liedbestandes in PPMEDW II/2. 3 Die Originalstrophe beginnt: So fängt auch mancher weise Mann … und knüpft so an die im EG ausgelassene Strophe an.
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Kommentare zu den Liedern
den einzelnen Menschen gerichtete „gubernatio specialis“. Die Anrede lieber Vater, verbunden mit der Bitte vernimm mein Wort und höre mich, signalisiert einen für Gerhardts Texte typischen Richtungswechsel: Nach den Betrachtungen über die Sinnlosigkeit menschlichen Tuns ohne göttliches Zutun folgen konkrete Bitten. Am Ende des ersten Drittels des Originaltextes könnte hier ein Doppelpunkt stehen. Die Originalstrophen 7 bis 12 bilden die nächste zusammenhängende Strophengruppe. Die EG-Strophe 4 leitet den Reigen von Gebetsbitten durch eine programmatische, ausschließlich positiv formulierte Bitte ein: Verleihe mir das edle Licht … Sie richtet sich auf die rechte Weisheit, die Grundausstattung aller Menschen, die dem Wissen von Strophe 1 verpflichtet sind. Es folgen in den EG-Strophen 5–8 vier gleichsinnige, sprachlich durch verwandte biblische Motive inspirierte Bitten, deren positiver Gehalt (Gib mir Verstand … Prüf alles wohl … Was dir gefällt … Ist’s Werk von dir …) jedes Mal durch das ausgeschlossene Gegenteil profiliert wird: meinem eignen Willen … was Fleisch und Blut erwählet … was dir zuwider … ist’s Menschentun … In diesen Strophen werden die Geistesgaben (Jes 11,2 f ), die auf dem verheißenen Messias liegen, genannt: Weisheit und Kraft (vgl. Stärke) in der 4. EG-Strophe, Verstand und Rat in der 5., Erkenntnis (umschrieben durch das gib mir ein) in der 6. und Gottesfurcht (umschrieben als was dir zuwider, lass mich nicht … verüben) in der 7. Will man herausfinden, was Gottes Wille ist, so müssen Verstand und Erkenntnisvermögen in aufmerksamer Wahrnehmung des Gegebenen in eine lebhafte Interaktion treten. Christen brauchen einen hohen Geist der Nüchternheit und zugleich die Zuversicht, dass Gott selbst durch diesen Prüfungsvorgang hindurch ihnen seinen Willen verdeutlichen könne. So beschrieb es Dietrich Bonhoeffer.4 In diesen Strophen häufen sich die für Gerhardt typischen Begriffspaare wie Freund und Rat, Fleisch und Blut, Lieb und Ehre, Sonn und Zier, gefallen und belieben, Werk und Tat. Und am Ende von Str. 6 (= originale Str. 9), genau in der Mitte der betreffenden Strophengruppe wie des ganzen Liedes, wird ein doxologischer Akzent gesetzt: Der höchste Zweck, das beste Teil / sei deine Lieb und Ehre – ganz entsprechend der ersten Zeile der Schlussstrophe: Dein soll sein aller Ruhm und Ehr. Der Rat des Gamaliel (Apg 5,38 f ) bildet die biblische Grundierung der abschließenden Bitte dieses Gebetszyklus (EG Str. 5 bis 8). Der Schlusssatz von Str. 8 ist formal eine Negativfassung des Endes der 1. Strophe ‒ eine Art bekräftigendes Fazit. Hier folgt im Originaltext die 12. Strophe, die die mittlere Strophengruppe beschließt und zugleich die Brücke nach vorn schlägt. Bis hierher waren die Gegenkräfte, gegen die Gott um Hilfe angerufen wurde, solche, die im Innern des Menschen selbst wirksam sind. Nun werden äußere Gegenkräfte thematisiert, die erst dadurch, dass ein Mensch sich dem Willen Gottes hingibt, geweckt werden. Wie auch in anderen Liedern (z. B. EG 477,8) benennt Gerhardt das Böse und verschweigt die Bedrohung nicht. Das macht seinen Text zutiefst glaubwürdig und ehrlich. Die Begrenzung des Bösen wird dabei aber immer als wesentlicher Teil göttlicher Fürsorge mitgenannt (vgl. EG 361,5), so auch hier: … dass seinen Zorn / du leichtlich
4 Ethik, in: DBW 6, 326 f, vgl. https://www.dietrich-bonhoeffer.net / zitat/502-es-ist-nun-wirklich-zupruef/ (1.3.2021).
497 Ich weiß, mein Gott, dass all mein Tun
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könnest brechen. Der Trost, der aus dieser Gewissheit entsteht, wird im nun folgenden letzten Drittel des (Original-) Textes detailliert entfaltet. Am Ende der originalen Scharnier- oder Brücken-Strophe 12 kann man sich – wie nach der originalen Strophe 6 – einen weiteren den Gesamttext gliedernden Doppelpunkt vorstellen. In der Strophengruppe 9 bis 12 des EG begegnen erneut Betrachtung (vgl. EGStr. 2–3) und Gebet (vgl. EG-Str. 4–8), nun aber in umgekehrter Reihenfolge: Auf zwei durch das Stichwort angefangen / Anfang verknüpfte Gebetsstrophen (9 und 10) folgen die beiden betrachtenden Strophen 11 – mit Str. 10 durch das Stichwort beten / betet verknüpft – und 12. Gegenstand ist nun die – wiederum durch eine Mehrzahl biblischer Motive entfaltete – Gewissheit, in den äußeren Hemmungen und Bedrohungen auf Gottes Unterstützung angewiesen zu sein und ihrer auch wirklich teilhaftig zu werden. Konkret bittet der Beter Gott um Erleichterung des schier unmöglich Erscheinenden und um glückliche Vollendung des angefangenen Werks (Str. 9) sowie darum, dass Gott ihn in solchen Stresssituationen beständig zu seufzen und zu beten antreibe (Str.10). Denn – das Gebet wechselt zur Betrachtung – wer betet, gewinnt Mut, und sein Sorgenstein wird in der Eil / in tausend Stücke springen (Str. 11). Str. 12 endet mit einem eschatologischen Ausblick: Der Weg führt durch Dorn und Hecken zu Freud und Wonne – eine christliche Variante des antiken Motivs „per aspera ad astra“. Die Innigkeit der Beziehung des Beters zu Gott, die anfänglich in mein Gott Str.1 intoniert und in den originalen Scharnierstrophen 6 (lieber Vater) und 12 (indirekt: dein und unser Feind ) bekräftigt wurde, findet in den beiden Schlussstrophen EG 13 und 14 intensiven Ausdruck: Du bist mein Vater, ich dein Kind. Es ist eine echte Wechselbeziehung: Str. 13 blickt in Bekenntnis und Gebet darauf, was der Vater für das Kind bereithält und tut. In Str. 14, Doxologie und Gelübde, erklärt der Beter, was er für Gott tun will: Gottes Tun je mehr und mehr / aus hocherfreuter Seelen / vor deinem Volk und aller Welt,/ so lang ich leb, erzählen (vgl. das Initium des zugehörigen Psalmliedes zu Ps 34 von Cornelius Becker EG 276). Von einem engen Wort-Ton-Verhältnis kann man bei diesem Lied nicht sprechen, denn die Melodie wurde nicht neu für diesen Text komponiert; stattdessen wurde ihr von Johann Crüger die Weise Verzage nicht, o frommer Christ zugeordnet, die damals bei mehreren Liedtexten verwendet wurde. Ihr Verfasser ist unbekannt. Diese Zuweisung blieb bis heute unverändert. Das Lied ließe sich auch singen auf die Weise In dich hab ich gehoffet, Herr (EG 275). Die ihr von Crüger und auch im EG zugeordnete Weise passt dennoch gut. Sie beginnt beim hohen c’’, verharrt auf dieser Note für drei Silben, kehrt am Ende der ersten Choralzeile dorthin zurück – eine große Ähnlichkeit zum Beginn von Luthers Melodie Vom Himmel hoch, da komm ich her (EG 24). Die zweite Choralzeile ist mit der ersten fast identisch; nur die zweite Silbe bringt als Wechselnote den Ton d’’. Durch das Beharren auf dem hohen Anfangston wirken die ersten beiden Choralzeilen wie ein bekenntnishaftes Ausrufen oder ein Insistieren auf der göttlichen Wahrheit. Das passt allerdings nur bei den ersten beiden Strophen gut. Die Kongruenz der ersten beiden Choralzeilen entspricht dem Reimschema des Textes (a-a-b-c-b). Die folgenden Melodieteile wenden sich zunehmend abwärts, sie enden nacheinander auf g’, e’ und c’. Die Zeilenschlüsse bilden einen Dreiklang (tatsächlich lässt sich das Lied als Kanon singen).
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Kommentare zu den Liedern
Wirkt die Melodie zu Beginn etwas statisch, so wird sie ab der dritten Zeile lebhafter, weil die Anfangstöne kürzer sind, Achtelbewegungen und Melismen hinzutreten. Paul Gerhardt hat eine tiefe und beglückende Erkenntnis in dieses Lied gegossen: Menschliches Handeln ist kein Garant für ein erfülltes Leben, wenn es nicht im Einklang mit Gottes Willen steht. An ihm soll sich alles orientieren. Dann wird das menschliche Tun zum Lob Gottes, dem tiefsten und letzten Sinn des Lebens.
Thomas Schmidt
505 Die Ernt ist nun zu Ende
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505 Die Ernt ist nun zu Ende Text
Verfasser Gottfried Tollmann Quelle Beqvemes Gesang=Buch, voll Alter und Neuer Geistreicher Lieder, […] Andre Auflage. verbessert und vermehrt, Lauban 17241 (Eine frühere Auflage von 1719 ist z.Z. nicht bekannt, vgl. HEKG III/2,512.) Überschrift Vor glückliche Erndte. Mel. Von GOtt will ich nicht lassen. Strophenbau A7/3a- A6/3b A7/3a- A6/3b, A6/3c A7/3d- A7/3d- A6/3c vgl. Frank 8.6 Abweichungen 1,1 nun zum Ende; 1,3 womit Gott;
1,5 Der alte Gott; nach 3: 4. Er hat sein Hertz geneiget; 5,1 Zum Dancke; 5,2 frommer Gott; 5,5 Gieb Friedens=volle Zeit; 5,8 regier die Obrigkeit [= V. 5 und 8 im EG getauscht]; nach 5: 7. Besonders laß gedeyen; Strophen 8 und 9 der Q im EG getauscht (EG Str. 6 = Q Str. 9 und EG Str. 7 = Q Str. 8) Verbindung TM in der Q ohne N, zum in der Überschrift genannten Text gab es verschiedene Melodien (s. EG 365)
Melodie
s. Aus meines Herzens Grunde (EG 443) Literatur
HEKG (Nr.381) I/2, 541 f; III/2, 512–514; Sb 568; HEG II, 229 f ** ThustB, 416 / Nf, 393 f, ThustL II,471–473 ** KLL (1878–1886) I, 122; Nelle (31924/1962) Nr. 462 ** Witten-
berg, Andreas F.: „Fürchtet Gott, den König ehret…“ Die Obrigkeit im Spiegel des deutschen evangelischen Gesangbuchliedes, JLH 35 (1994/95) 202.205
Das einzige Lied des schlesischen Pfarrers Gottfried Tollmann, das uns überliefert ist, hatte ursprünglich neun Strophen. Seine Vollständigkeit wurde von 1724 (Erstdruck) bis 1950 (EKG 381) ohne Kürzung bewahrt. Erst anlässlich seiner Aufnahme in das EG kam es zum Wegfall der ursprünglichen 4. und 7. Strophe und zur Vertauschung der beiden letzten Strophen. Die Überschrift „für glückliche Ernte“ nennt das Thema des Liedes. In den Strophen 1–3 sowie der originalen Strophe 4 wird die Vollendung der Ernte in der Form eines Bekenntnisses auf die Gnade Gottes zurückgeführt, der seinen Segen trotz der Gottlosigkeit und Sündhaftigkeit der Menschen gewährt. Die EG-Strophen 4–7 wenden sich in Dank (Str. 4) und Bitten (Str. 5–7 sowie die originale Str. 7, s. u.) direkt an Gott. In Str. 1 ist vom treuen Gott die Rede, wo ursprünglich der alte Gott gestanden hat (so auch noch in EKG 381). Dieser Ausdruck klang wohl zu bieder. Mit der Streichung
1 Angaben nach dem Exemplar des Bachhauses in Eisenach (Signatur FB 5.SR 16), das erst kürzlich erworben und bibliographisch erfasst wurde. Dr. Jörg Hansen sei für rasches Bereitstellen von Aufnahmen gedankt.
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Kommentare zu den Liedern
ist eine geschichtliche Komponente – der Verweis auf die Verläßlichkeit Gottes über die Zeiten hinweg – verloren gegangen. Das Wort „alt“ hat allerdings in der modernen Gesellschaft keinen guten Klang mehr. Str. 2: Das Lied lebt noch ganz von den Gegebenheiten einer agrarischen Gesellschaft. Wir wissen heute, dass eine gute Ernte nicht mehr ausreicht, alle Stände satt, reich und fröhlich (1,3 f ) zu machen, weil die gerechte Verteilung der Gaben ein größeres Problem ist als deren Herstellung. Auch der Gedanke, dass uns Fried und Ruh gegeben sind und jeder sicher wohnt, gibt Anlass zum kritischen Nachdenken, weil eine vor Gefährdungen sichere Wohnung heute keineswegs mehr selbstverständlich ist. Dagegen wirkt es in Str. 3 angesichts eines problematischen Umgangs mit der Umwelt höchst aktuell, wenn wir lesen Zwar manchen schönen Segen / hat böses Tun verderbt. Aber auch darin blieb Gottes Güte am Werk, wie die originale Str. 4 entfaltet: Er hat sein Herz geneiget, uns Sünder zu erfreun, und gnugsam sich bezeuget durch Regn und Sonnenschein. Wards aber nicht geacht’, so hat er sich verborgen und durch verborgnes Sorgen zum Beten uns gebracht.
Hier könnte der Gedanke Anstoß erregt haben, dass Gott sich bei schlechtem Wetter nur verborgen hat, damit wir uns Sorgen machen und dadurch zum Beten angeregt werden. Str. 4, mit der das Lied vom Bekenntnis zum Gebet übergeht, dankt Gott, der mit O allerliebster Vater emphatisch angerufen wird, für den bis hierhin besungenen Segen, den er uns unverdientermaßen schenkt. Str. 5: Der Dank führt zur Bitte, uns vor Katastrophen zu bewahren, auch vor politischen (regier die Obrigkeit), damit wir im Frieden leben können. Im EG ist die Anrede frommer Gott in treuer Gott verändert worden. Das Wort „fromm“ wird heute – wenn überhaupt – nur noch für die Treue des Menschen zu Gott benutzt, nicht mehr für die Treue Gottes zum Menschen. Deswegen kann nur der Mensch „fromm“ sein. – Im Erstdruck (wie noch EKG 381,6) bekommt die Bitte Regier die Obrigkeit ein noch größeres Gewicht durch die Position als Schlusszeile der Strophe (im EG sind die Zeilen 5 und 8 vertauscht worden). In der Ursprungsfassung des Liedes folgte nun diese (original 7.) Strophe: Besonders lass gedeihen dein reines wahres Wort, dass wir uns dessen freuen und auch an unserm Ort dies gute Samkörnlein verlangte Früchte bringe und wir in allem Dinge recht fromme Leute sein.
505 Die Ernt ist nun zu Ende
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An den Dank für die Gaben des Feldes (Str. 1–4) und die Bitte um Bewahrung (Str. 5) schließt sich, anknüpfend an das Gleichnis Jesu vom vierfachen Acker (Mk 4,3–8) und also im Bildfeld der Ernte, die Bitte um das Gedeihen des Wortes Gottes an. Die Vermeidung der Anrede frommer Gott in Str. 5 könnte auch Anlass zur Streichung dieser Strophe mit der Wendung recht fromme Leute gewesen sein. Str. 6: Der Frieden (vgl. 5,8) schließt das Lebensende ein. Der Tod wird als Einbringen der Ernte-Garben voller Lust verstanden und nicht als katastrophales Ende mit Schrecken. Damit wird das ganze Leben, zu dem auch der Tod gehört, zur freudevollen Ernte. Str. 7: Die in der EG-Fassung letzte Strophe fasst das Anliegen des ganzen Liedes zusammen: den Dank für alle Gaben, die das Leben ermöglichen, und die Bitte, Gott möge auch künftig ein unbeschadetes Dasein aus Gnaden gewähren, obwohl wir kein Anrecht darauf haben. In der ursprünglichen Version stand die jetzige 6. Strophe am Ende des Liedes, das also mit dem Gedanken an den Tod endete. Das hatte einen besonderen Sinn, denn gleich danach beginnt im Erstdruck die Abteilung III mit den Liedern von den letzten Dingen „Vom Tode und Aufferstehung“, und unserem Lied schließt sich unmittelbar an Wenn mein Stündlein vorhanden ist (EG 522). Damit war ursprünglich ein sinnvoller Übergang gegeben. Im Löbauer Haus- und Kirchengesangbuch von 1724 wird als Melodiehinweis Von Gott will ich nicht lassen (EG 365) angegeben. Auch die Melodie Valet will ich dir geben ist nachgewiesen (KLL 1,122). Zu Beginn des 20. Jh. bürgert sich die Melodie EG 443 Aus meines Herzens Grunde ein.2 Der strahlenden Dur-Melodie wird damit der Vorzug gegeben vor der meditativen hypodorischen Melodie, die heute mit EG 365 verbunden ist. Und mit der Auswahl der Melodie wird zugleich eine Aussage über die emotionale Stimmung des ganzen Liedes gemacht.
2 Z. B. Brandenburg 1905, Nr. 577; Schlesien 1910, Nr. 132.
Wolfgang Herbst
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Kommentare zu den Liedern
524 Freu dich sehr, o meine Seele EG 524 CG 766 EM 648 Text
Quelle Threnodiae. Das ist: Ausserlesene Trostreiche BegräbnüszGesänge (Christoph Demantius), Freiberg 1620 (DKL 162004) Überschrift Geistliche Frewde nach der Ewigen Frewde. Ausgabe FT I,573 Strophenbau 8/4a- 7/4b, 8/4a7/4b, 7/4c 7/4c 8/4d- 8/4d-, vgl. Frank 8.27 Abweichungen [nach FT I,573] 2,6 mög Ende han; 3,2 unter Dornen spitzig gar; 3,4 in lauter Angst; 4,1 Die Welt, Teufel, Sünd; 4,3 stets hie unser; 4,6 unser Tag; 5,3 Kummer daher streichet; 5,5 Unser Tränen; 5,8 denn klagen und; 6,1 Drümb, Herr Christ; 6,3 jetzund nicht ferne; nach 6: 7. In dein Seyte will ich fliehen; 7,2 das Gehöre gar; 7,3 Und mein Zung;
7,4 sich nichts versint; 7,6 Das Leben, der Weg, die Pfort; nach 7: 9. Laß dein Engel mit dir fahren; 8,8 In Ewigkeit triumphieren * CG: 1,5 aus dem Leid; 2,6 nach dem Ende seiner Bahn; 2,7 ich gewünscht, mein Leben; 2,8 hin in Gottes Händ zu geben; 3,3 auch wir Menschen gehen; ohne Strophen 4 und 5; 6,3 doch jetzt nicht; 6,6 komm zur ewgen Seligkeit ; 7,8 und den Weg zum Himmel * EM: ohne die Strophen 3 bis 5 Verbindung TM in der Q: Z IV,6545 * weitere: Z IV,6646 (DKL 162816), Z IV,6647 (DKL 169008), Z IV,6548 (Kocher 1855) * Z IV,6636 (DKL 176724)
Melodie
Incipit 1_23_21-7-6_-5_ Verfasser Loys Bourgeois Vorlage zur gelegentlich genannten Chanson Ne l’oseray je dire, se j’ayme par amour (vgl. Fornaçon 1958/59, 111; DKL III/2, Textbd., 179) s. Kommentar Quelle Pseavmes octantes trois de Dauid, Genf 1551 Ausgaben Z IV,6543; B II,41; DKL III/2, Fa40; Pidoux I, 42; PPMEDW I/1 25 Ambitus G: 9; Z: 64(64)4555b Abweichungen Q: Quarte tiefer; Taktvorzeichnung 𝄵; Z. 8 statt zwei Viertel N 6–7 Halbenote (textbedingt) * RG: mit 4st. Satz (nach Claude Goudimel 1564/65); Ton höher; Taktvorzeichnung 𝄵 * EM: mit 4st. Satz (nach Claude Goudimel 1564/65); „halbe“ Taktstriche; ohne Pausen am Zeilenende Verbindung MT Q: Ainsi que la biche rée (Ps 42; Théodore de Bèze) *
Wie’s Gehirse bremst und rechzet (P. Melissus Schede, DKL 157204) * Wie nach einer Wasserquelle (Ps 42 A. Lobwasser, DKL 157303) * Jericho war verschlossen hart (Ph. zu Winnenberg, DKL 158613) * Wie der Hirsch, der da durstig ist (Ph. zu Winnenberg, DKL 158614) * O Gott Vater und Gott Sohne (P. Reinigius, DKL 158708) * Barmherziger Herr und Gotte (P. Reinigius, DKL 158708) * Ob ich schon arm und elend bin (C. Sigefrid, DKL 160409) * Also hoch hat Gott geliebet (DKL 164004) * Unsre müden Augenlider (DKL 165304) * Wenn der Herr einst die Gefangnen (S. G. Bürde 1787, EG 298) * Wie der Hirsch nach frischer Quelle (Kompilation verschiedener Strn.: Chr. J. Riggenbach 1868, Schaffhausen 1841, M. Jorissen 1793, RG 30)
Literatur
HEKG (Nr. 319) I/2, 474 f; III/2, 352–355; Sb, 500 f; HEG II, 52 f.74 f ** ThustB, 431/
Nf, 407 f; ThustL II, 514–516 ** Koch (31866–1877) VIII, 546–549; KLL (1878–
524 Freu dich sehr, o meine Seele
1886) I, 193 f; II, 379 f; EEKM (1888–1895) I, 428–430; Schlunk (1951) 109; Bruppacher (1953) 408 ** Pratt, Waldo Selden: The Music of the French Psalter of 1562. A Historical Survey and Analysis with the Music in Modern Notation, New York 1939, Nachdruck ebd. 1966, Nr. 42 * Fornaçon, Siegfried: Psalm 42 aus Genf, JLH 4 (1958/59) 111– 114 * Schuhmacher, Gerhard: Der beliebte, kritisierte und verbesserte Lobwasser-Psalter, JLH 12 (1967) 78.81 f * Gutknecht, Dieter: Vergleichende Betrachtung des GoudimelPsalters mit dem Lobwasser-Psalter, JLH 15 (1970) 135 f * Rössler, Martin: Bibliographie der deutschen Liedpredigt, Nieuwkoop 1976, 250 * Marti, Andreas: Die Pausen in den Genfer Psalmmelodien, Thema: Gottesdienst 9 (1994) 4–11 * Ders.: Aspekte einer hymnologischen Melodieanalyse, JLH 40 (2001) 156 f * Weber, Édith: Die Melodisten des Genfer Psalters: Franc, Bourgeois, Davantès, in:
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eter Ernst Bernoulli / Frieder Furler, (Hg.): Der P Genfer Psalter – eine Entdeckungsreise, Zürich 2001, 26–28 * Jordahn, Ottfried: Sterbeund Begräbnislieder, in: Liturgie im Angesicht des Todes. Reformatorische und katholische Traditionen der Neuzeit. Teil I, hg. von Hans jakob Becker u. a., Tübingen / Basel 2004, 262 f * Leaver, Robin A.: Genevan Psalm Tunes in the Lutheran Chorale Tradition, in: Der Genfer Psalter und seine Rezeption in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden. 16.–18. Jahrhundert, hg. von Eckhard Grunewald / Henning P. Jürgens / Jan R. Luth, Tübingen 2004, 162 * Lorbeer, Lukas: Die Sterbeund Ewigkeitslieder in deutschen lutherischen Gesangbüchern des 17. Jahrhunderts, Göttingen 2012 * Marti, Andreas: Vom französischen zum deutschen Lied. Die Melodie des Liedes EG 524 „Freu dich sehr, o meine Seele“, JLH 59 (2020) in Vorb.
In den Threnodiae, einer 1620 in Freiberg (Sachsen) erschienenen Sammlung von Begräbnisgesängen, hat Christoph Demantius auch dieses wohl etwas ältere Lied veröffentlicht. Die Autorschaft ist nicht zu ermitteln. Dem fünfstimmigen Satz, mit dem das Lied in den Threnodiae versehen ist, liegt eine eigene Melodie zugrunde. Ihr Beginn erinnert an eine Weise von Loys Bourgeois aus dem Genfer Psalter von 1551, mit der die dortige Fassung von Psalm 42 vertont ist – und später auch deren deutsche Übertragung Wie nach einer Wasserquelle von Ambrosius Lobwasser (1573). Diese Melodie wurde auch für zahlreiche andere Lieder verwendet (im EG außerdem Nr. 298). Johann Hermann Schein hat sie erstmals in seinem Cantional von 1645 mit dem Text Freu dich sehr, o meine Seele in Verbindung gebracht. Bezüge zum Psalm 42 sind auch in diesem Lied enthalten. Die Strophen haben die Form vierhebiger Trochäen mit dem Reimschema aBaBCCdd. Von den ursprünglich zehn Strophen aus den Threnodiae haben acht Eingang ins EG gefunden; nach der sechsten und der siebten ist je eine Strophe ausgefallen. Die Symmetrie der Gliederung geht dabei verloren. Innerhalb der beiden Rahmenstrophen stehen zwei Teile mit (ursprünglich) je vier Strophen: – Der erste Teil (Str. 2–5) enthält eine Klage des Ich über das irdische Leid, in der es seine eigenen Erfahrungen reflektiert und die schlimmen Lebensumstände der Christen in der Welt zur Sprache bringt; – der zweite Teil (ursprünglich Str. 6–9, im EG nur noch Str. 6 und 7) entfaltet eine Gegenperspektive: In Form eines an Christus gerichteten Gebets wird „die rechte Bahn zum Himmel“ (Str. 7,8) vorgezeichnet, die das Ich im Sterben mit der Hilfe Christi beschreiten möchte.
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Kommentare zu den Liedern
Die Rahmenstrophen selbst (Str. 1 und 8, ursprünglich Str. 1 und 10) stehen mit ihrem freudigen Grundton in starkem Kontrast zu den geschilderten Lebensumständen des Ich. Formal sind sie durch den Aufforderungscharakter der ans Du der Seele gerichteten Verse hervorgehoben. Die ewige Freude bildet damit den leuchtenden Ausgangs- und Zielpunkt jenes Weges, den das Ich beim Singen durchläuft. Diese hellen Töne sind die, die dem Lied letztlich seinen frohen und tröstlichen Charakter geben – allerdings vor einem dunklen Hintergrund, der durch die Streichung der beiden Strophen noch stärkeres Gewicht erhält. Mit den Augen des 21. Jh. gelesen, irritiert diese düstere Sicht auf die Welt, die sicher dazu beiträgt, dass das Lied heute deutlich weniger Verwendung findet als noch vor Jahren. Auch wenn es genug Grund zur Klage über den Zustand der Welt geben mag, macht es uns Mühe, wenn das Schöne im Hier und Jetzt nicht wenigstens Erwähnung findet. Im Lied geht es freilich um den Abschied von der Welt – und der wird leichter, jedenfalls nach damaligem Empfinden, wenn das Ich sich vor Augen führt, was es an Schlimmem nun hinter sich lassen kann. Bei aller Fremdheit bleibt das auch heute ein nachvollziehbarer Zugang. Ein Gewinn ist das Lied auch deshalb, weil es einen großen Teil des SterbeliederSchatzes von Bildern, Metaphern und biblischen Bezügen in eine schöne, stimmige eigene Form bringt – und weil es in seiner Hinwendung zur Himmelsfreude noch immer tröstliche Kraft entfaltet. Zwei durchgehende Motive spiegeln sich in zwei dominierenden Wortfeldern wieder: – Die Weltverneinung wird in einer großen Zahl von negativ besetzten, teilweise mehrfach genannten Begriffen ausgedrückt, die sich vor allem auf die Strophen 2–5 konzentrieren (und die in den Rahmenstrophen als ‚Kontrastmittel‘ zur Himmelsfreude fungieren). Die Welt ist demnach ein Ort von Not und Qual, Trübsal, Leid, Kreuz, Angst und Gefahr, Beschwerden, Angst und Plag, Jammer, Sorg und Kummer, Müh, Tränen, Klag und Weinen, ein Ort, an dem menschliches Leben stets gefährdet und angefochten ist. Deutlich weniger zahlreich sind die Gegenbegriffe: Licht, Herrlichkeit, Klarheit; auch Beistand, Trost. Durch ihre rahmende Stellung ist vor allem die Freud hervorgehoben (insgesamt vier Mal). – Bedeutsam für die Vorstellungswelt des Liedes ist zum anderen das Bild der Reise – des Lebens als gefahrvoller Reise durch die Welt (erster Teil); und des Sterbens als jener Reise, die danach endlich ans Ziel führt (zweiter Teil). Damit aufgerufen wird der gesamte Motivkomplex des Lebens als Pilgerschaft1 (peregrinatio), die durch die ‚Fremde‘ oder das ‚Elend‘ der Welt ins himmlische Vaterland führt (ausgefallene Str. 7,4; vgl. Hebr 11,14; vgl. EG 521,1,3; EG 529,1,4). Die beschwerliche Reise ist von der Sehnsucht des müden Reisenden nach dem Ziel bestimmt (Str. 2,5 f; vgl. EG 517: Ich wollt, dass ich daheime wär). Mehrere Verben lassen das Motiv anklingen: (von hinnen) fahren (Str. 1,6; 6,6; ausgefallene Str. 9,1; vgl. EG 519,1,1; 521,1,2), gehen (Str. 3,3), fliehen, ziehen (ausgefallene Str. 7,1.3); die Rede ist vom Weg (Str. 2,6; 7,6; vgl. Joh 14,6), vom Lauf (Str. 3,8; vgl. 2. Tim 4,7), von der Straße 1 Vgl. Lorbeer, 211–216.
524 Freu dich sehr, o meine Seele
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(Str. 6,7), der Reis (ausgefallene Str. 7,6) und der Bahn zum Himmel (Str. 7,8). Christus, der einerseits selbst als Weg und Straße angesprochen wird, ist andererseits der Begleiter, der das Ich zum Himmel führen soll (Str. 7,8). Str. 1: Freude aus der Ewigkeit in der Gegenwart Mit der Selbstaufforderung Freu dich setzt der Liedanfang ein starkes Signal für die freudige Aussicht, die dem gequälten Ich eröffnet wird. Der Ruf Christi, der einen Ausweg aus dem Jammertal der Welt weist, ergeht in der Gegenwart (nun). Er lenkt den Blick auf die Freud, die noch kommt und deren Qualität die irdischen Freuden weit hinter sich lässt: Kein Ohr hat sie je gehört (vgl. 1Kor 2,9; vgl. EG 147,3,7–9); sie endet nicht mehr, währet in Ewigkeit. Trotz dieser radikalen Überbietung alles Bekannten strahlt die Himmelsfreude auch auf die Gegenwart aus. Diese Gegenwart ist der Moment, in dem das Ich das Nahen seiner Todesstunde erkennt – oder die Todesstunde selbst. Von Todesangst, wie vielleicht zu erwarten, ist nicht die Rede – in Anbetracht der erkannten Aussicht nur von Freude. Mit der Anrede o meine Seele tritt das Ich der beiden Rahmenstrophen in Zwiesprache mit sich selbst. Der Text bedient sich dabei der Sprache des Psalters (vgl. Ps 42,6.12; 103,1; 104,1 usw.) und setzt so ähnlich ein wie viele andere geistliche Lieder (EG 289; 302; 317 usw.). Zugleich ist damit jener Teil der Person als Leib-Seele-Verbund angesprochen, dem nach zeitgenössischer (neuplatonischer) Vorstellung die Himmelsfreude als erstem zuteilwird. Die ausgefallene Str. 9 nimmt auf die Leib-Seele-Vorstellung später ausdrücklich Bezug, implizit auch Str. 4,1–4, wo beide in einer Art Dualismus gegenläufiger Bestrebungen zueinander stehen. Str. 2–5: Klage über das vom Leid bestimmte Leben Das Ich richtet seinen Blick von der Freude auf das Leid, vom Himmel auf die Erde, von der Zukunft in die Vergangenheit. Seine Klage beginnt mit der Erinnerung daran, dass es schon in der gesamten Zeit seiner Erdenexistenz Grund zur Klage hatte (weil mich stets viel Kreuz betroffen). Es hat die Klage als unablässige Anrufung Gottes um Hilfe geäußert (Tag und Nacht; vgl. Ps 22,3; 42,4; 88,2). Der Ruf Christi in Str. 1 kann als Antwort auf den unablässigen Klageruf, als seine Erhörung verstanden werden. Ist die Klage in Str. 2 noch eine Äußerung des Ich, wandelt sie sich in Str. 3–5 in die Wir-Form. Die Beschwerlichkeit der Erdenexistenz wird in einer Reihe von drei parallel gestalteten Vergleichen anschaulich gemacht (Str. 2,5–3,8): Mit der Sehnsucht des Wandersmanns nach der Ankunft am Ziel (Str. 2,1–4) wird das Pilger-Motiv aufgegriffen (s. o.); das Bild der Rose unter Dornen (Str. 3,1–4) veranschaulicht das Leben der Christen inmitten widriger Umstände, das Bild des stürmischen Meeres (Str. 3,5–8)2 die Gefahren der Lebensreise. Als Ursachen des Leides werden Welt und Teufel, Sünd und Hölle ausgemacht, eine sehr übliche Reihung (vgl. z. B. EG 525,4,1), hier ergänzt durch unser eigen Fleisch und Blut (Str. 4,1 f ) – das Leid kann auch vom Menschen selbst verschuldet oder in der schwachen, hinfälligen Natur seines Leibes begründet sein. 2 Vgl. zu diesem Motiv Lorbeer, 218–220.
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Kommentare zu den Liedern
Der unablässigen Klage entspricht die Tatsache, dass sich die Erfahrung des Leides zeitlich über die gesamte Erdenexistenz erstreckt. Jeder Tag des Lebens (Str. 4,6) von Geburt an (Str. 4,7) ist von dem Kreuz bestimmt, das ein Mensch tragen muss – und zwar von der Morgenröt bis zum Abend (Str. 5,1.7); das Tränenbrot wird früh und spät gegessen (Str. 5,5 f; vgl. Ps 42,4). Str. 6–7: Gebet um Geleit und Beistand Christi im Sterben Das Ich wendet sich nun von der allgemeinen Betrachtung im Gebet an den Herrn Christ. Die Gegenwart (Str. 6: heut), in die es damit zurückkehrt, ist die seiner Sterbestunde. Die Anrede Herr Christ, du Morgensterne (Str. 6,1) kontrastiert mit dem unmittelbar Voraufgegangenen: Während die Sonne untergeht (Str. 5,7), geht Christus der Morgenstern ewig auf (Str. 6,2; vgl. Offb 22,16; 2. Petr 1,19; vgl. EG 16; 69; 70 usw.). Dem entspricht die an Christus gerichtete Aufforderung des Ich, ihm auf der nun anzutretenden Reise Licht zu sein (Str. 6,7 und 7,5; vgl. Ps 119,105; Joh 10,6). Es bittet um die Nähe seines Erlösers (sei … nicht ferne, vgl. Ps 22,12.20; 38,22), um ein Dahinfahren mit Fried und Freud (Luther-Zitat aus EG 519; vgl. Lk 2,29) und um seinen Beistand (vgl. Ps 27,9; 38,22; 71,9). Seine Hoffnung gründet das Ich auf die bereits vollzogene Erlösung durch dein Blut (Str. 6,4). In der ausgefallenen ursprünglichen Str. 7 wird der Passionsbezug weitergeführt. Der Autor kombiniert dabei auf originelle Weise das Motiv der Pilgerschaft mit der Betrachtung der Wunden Jesu. Werden die Wunden in anderen Texten zur bergenden Zufluchtshöhle der Seele (vgl. EG 523,4,1 f; 530,3,3), übernehmen sie hier die Funktion einer Himmelspfort (vgl. Str. 7,6), durch die das Ich auf seiner Pilgerreise ins Paradies einziehen kann – jenes Paradies, das Jesus in seinem eigenen Todeskampf auch dem Schächer verheißen hat (Lk 23,43): In dein Seyte will ich fliehen An meim bittern Todes gang, Durch dein Wunden will ich ziehen Ins Himlische Vaterland. In das schöne Paradeyß, Drein der Schächer thet sein Reiß, Wirstu mich, HErr Christ, einführen, Mit ewiger Klarheit zieren.3
Str. 7 der EG-Fassung, die ursprüngliche Str. 8, vergegenwärtigt den Augenblick des Todes auf drastische Weise – und setzt eine machtvolle Häufung von johanneischen Christus-Prädikationen dagegen. Das Versagen der physischen Funktionen wird anhand des Hör- und Sehsinnes, des Sprachvermögens und des Verstandes ausgestaltet (Str. 7,1–4; vgl. EG 516,4–54). Gegen diesen Verfall der Person wird mit einem trotzigen doch die Macht Christi aufgeboten: als Licht (Joh 8,12), Wort (Joh 1,1), Leben (Joh 11,25; 14,6), Weg (Joh 14,6) und Himmelspfort (Joh 10,9). War die verwandte Verszeile ach sei du mein 3 Zit. nach FT I,573. 4 Zahlreiche weitere Beispiele für diesen Topos in Lorbeer, Sterbe- und Ewigkeitslieder, 296–300.
524 Freu dich sehr, o meine Seele
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Licht und Straße (Str. 6,7) noch als Bitte formuliert, wechselt das Ich nun in die Gewissheit des Indikativs: bist du doch … (Str. 7,5); du wirst selig mich regieren,/ die recht Bahn zum Himmel führen (Str. 7,7 f ). Die ausgefallene Str. 9 der Originalfassung kehrt noch einmal zurück zum Gestus der Bitte. Das Ich möchte sich zwei Personen anschließen, von deren Himmelsreise die Bibel berichtet und die immer wieder als ‚Patrone‘ der Sterbenden genannt werden: Elia, der im feurigen Wagen zum Himmel fährt (2. Kön 2,11), und Lazarus, der von Engeln in Abrahams Schoß (hier: in deine[n] Schoß ) getragen wird (Lk 16,22). Ähnlich wie in EG 397,3 wird die Himmelsreise des Lazarus hier zunächst nur auf die Seele bezogen, während der Leib noch bis zum Jüngsten Tage (EG 397,3,6) in der Erde bleiben muss und erst am Tag der Auferstehung wieder mit der Seele vereinigt wird: Laß dein Engel mit mir fahren Auff Elias Wagen roth Vnd mein Seele wol bewahren Mit Lazro nach seinem Tod. Laß sie ruhn in deiner Schoß, Erfüll sie mit Freud und Trost, Bis der Leib kömpt aus der Erden, Mit Ehr wird vereinigt werden.5
Str. 8: Freudiger Ausblick Abschließend wendet das Ich sich noch einmal an die Seele: Freu dich sehr. Die erste Hälfte der Anfangsstrophe wird bekräftigend übernommen, die zweite sogar noch gesteigert: Aus Trübsal und großem Leid (Str. 1,5) wird Seine Freud und Herrlichkeit (Str. 8,5). Wurde anfangs die Bewegung dorthin in Aussicht gestellt (sollst du fahren in die Freud ), verheißt die Formulierung am Ende die Gottesschau selbst: sollst du sehn in Ewigkeit (Str. 8,6). Während zu Beginn nur auf das Hören der Himmelsfreude verwiesen wird (Str. 1,7), beteiligt sich die Seele schließlich mit jubilieren und triumphieren selbst am Engelsgesang (Str. 7). Sogar in Ewigkeit (Str. 1,8) ist zu ewig, ewig (Str. 8,8) emphatisch verdoppelt. Das himmlische Hören, Sehen und Jubilieren der Seele bedeutet eine aus der Macht des Erlösers vollzogene Aufhebung jener Vernichtung, die dem Leib zuvor (Str. 7) mit dem Versagen von Ohren, Augen und Zunge widerfahren ist. Zugleich fällt vom Ende her ein anderes Licht auf das Lied insgesamt: Wie bereits am Anfang die in Aussicht stehende Freud machtvoll in die Gegenwart hineinwirkt, erscheint nun das gesungene Ende als irdischer Vorgriff auf den himmlischen Jubel.
Lukas Lorbeer
Die Melodie stammt aus dem französischen Psalter (zu Ps 42); sie ist im deutschen Kirchenlied die weitaus häufigste Entlehnung aus diesem Repertoire. Von den verschiedenen Texten, mit denen sie verbunden wurde (siehe die Aufzählung in den hymnologischen 5 Wie Anm. 3. Schoß wird hier als Femininum gebraucht.
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Kommentare zu den Liedern
Nachweisen), ist die vorliegende Verbindung die verbreitetste. Sie begegnet häufig im Orgelrepertoire des Barock. Geschaffen hat sie mit aller Wahrscheinlichkeit der Genfer „Chantre“ (Kantor) Loys Bourgeois für die Psalter-Teilausgabe von 1551. Dass die Chansonmelodie Ne l’oseray je dire als Vorlage gedient haben könnte, wie Siegfried Fornaçon vermutet hat,6 ist angesichts der großen Unterschiede in Melodiestruktur und -verlauf nicht anzunehmen7. Die stollige Barform, wie sie in unserer Melodie vorliegt, ist im französischen Psalter und überhaupt in der französischen Literatur selten anzutreffen, während sie für die deutsche Lieddichtung der Renaissance und darüber hinaus von großer Bedeutung ist. Es mag sein, dass diese formale Eigenheit die Übernahme der Melodie ins deutsche Repertoire begünstigt hat, zusammen mit der rhythmischen Struktur, die für deutsche Verse gut geeignet ist. Während nämlich in der französischen Dichtung die Silbenakzente nur schwach ausgeprägt sind und die Melodien daher lange und kurze Noten ziemlich frei verteilen können, neigt das Deutsche zu „quantitierender“ Rhythmik, bei der Akzentsilben mit langen, unbetonten Silben mit kurzen Noten vertont sind. Im trochäischen Vers unseres Liedes bildet der Anfang ein perfekt quantitierendes Muster, so dass der Eindruck eines Dreiertaktes entsteht. Dabei kann die zweite Zeilenhälfte hemiolisch als großer Dreiertakt gehört werden – von Bourgeois keineswegs beabsichtigt, aber aus dem deutschen Verständnis des Text-Melodie-Bezuges durchaus vertraut. Dieser sekundäre Dreiertakt würde dann so aussehen:
Der originale Melodieschluss zeigt eine rhythmische Besonderheit. Im Unterschied zum Zeileninneren berücksichtigt ja der Rhythmus der Genfer Melodien jeweils am Schluss die Betonungsverhältnisse. Damit müsste bei der betonten zweitletzten Silbe (Ps 42: la face, im deutschen Text Antlitz sehen; EG 524,1: auch währet) der Rhythmus kurz-lang-lang lauten, ist aber umgekehrt lang-kurz-lang: ein Einzelfall im Genfer Melodienbestand. Schon im Psalter von Lausanne 1565 wurde der Rhythmus umgedreht zu kurz-langlang, eine Lösung, die auch Johann Crüger in der „Psalmodia sacra“ getroffen hat, mit leicht veränderter Melodieführung. Die im EG enthaltene Lösung mit der Bindung auf der zweitletzten Silbe ist (zuerst?) in den „Kernliedern“ des „Eisenacher Stamms“ 1854 zu finden8. Sie hat den Vorteil, dass die ursprüngliche Lage der Noten beibehalten wird, allerdings um den Preis, dass eine im Psalter sonst ausgesprochen seltene Bindung einer Silbe über zwei Töne hinweg eingeführt werden muss. Die Melodiearchitektur zeigt die für einen großen Teil der Genfer Melodien bezeichnende Strenge und Konsequenz. In diesem Fall bildet der charakteristische Rhythmus 6 Fornaçon 1958/59, 111–114, Abdruck der Chanson 112. 7 Vgl. Marti 2020. 8 Deutsches Evangelisches Kirchen-Gesangbuch in 150 Kernliedern, Stuttgart / Augsburg 1854 (Nachdruck, Köln 1995), Nr. 135.
524 Freu dich sehr, o meine Seele
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des Beginns, der in allen Zeilen durchgehalten ist, ein verbindendes Element, während die Großform durch einen Bogen im Gesamtambitus bestimmt ist: Die Spitzentöne jeder Zeile bilden die Folge a-b- (a-b-) c’-d’-c’-b. Der Spannungshöhepunkt liegt nicht, wie sonst häufig in der stolligen Barform, direkt beim Beginn des Abgesangs, sondern erst in dessen zweiter Zeile, realisiert durch den höchsten Spitzenton, der den Oktavambitus überschreitet, und durch den implizierten dominantischen Zeilenschluss. Die Gefahr, dass sich im vorliegenden vierzeiligen Abgesang die Auflösung der Spannung zu lange hinzieht, ist auf diese Weise vermieden.
Andreas Marti
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Inhalt von Heft 28 Kommentare zu: RG KG GL2 EG 205 Gott Vater, höre unsre Bitt. . . . . . . . . . . – . . . . . . – . . . . . . – . . . . . . 3 EG 206 Liebster Jesu, wir sind hier, deinem Worte nachzuleben. . . . . . . . . . . . . . . . . 174 . . . . – . . . . . . – . . . . . . 5 Wir wolln uns gerne wagen. . . . . . . . . . . (811) . . . – . . . . . . – . . . . . . 8 EG 254 EG 260 Gleichwie mich mein Vater gesandt hat . – . . . . . . 511 . . . . – . . . . . 14 Herr, der du vormals hast dein Land. . . . – . . . . . . – . . . . . . – . . . . . 16 EG 283 EG 304 Lobet den Herren, denn er ist sehr freundlich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . – . . . . . . – . . . . . . – . . . . . 21 Ich will zu meinem Vater gehn. . . . . . . . – . . . . . . – . . . . . . – . . . . . 25 EG 315 EG 329 Bis hierher hat mich Gott gebracht. . . . . (275) . . . (98) . . . – . . . . . 27 Mein Herz ist bereit. . . . . . . . . . . . . . . . 36 . . . . . – . . . . . . – . . . . . 32 EG 339 EG 340 Ich will dem Herrn singen mein Leben lang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 . . . . . 529 . . . . – . . . . . 34 EG 343 Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ. . . . . . . . 206 . . . . – . . . . . . – . . . . . 36 EG 354 Ich habe nun den Grund gefunden. . . . . – . . . . . . – . . . . . . – . . . . . 40 Gib dich zufrieden und sei stille. . . . . . . 683 . . . . – . . . . . . – . . . . . 43 EG 371 EG 391 Jesu, geh voran. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 690 . . . . – . . . . . . – . . . . . 52 EG 404 Herr Jesu, Gnadensonne. . . . . . . . . . . . . – . . . . . . – . . . . . . – . . . . . 60 EG 405 Halt im Gedächtnis Jesus Christ. . . . . . . (277) . . . – . . . . . . – . . . . . 64 EG 436 Herr, gib uns deinen Frieden . . . . . . . . . – . . . . . . – . . . . . . – . . . . . 68 Nun ruhen alle Wälder . . . . . . . . . . . . . (594) . . . . . . . . . . (101). . 69 EG 477 EG 487 Abend ward, bald kommt die Nacht. . . . 601 . . . . – . . . . . . – . . . . . 74 EG 493 Eine ruhige Nacht. . . . . . . . . . . . . . . . . . – . . . . . . – . . . . . . 102 . . . 77 EG 497 Ich weiß, mein Gott, dass all mein Tun. . – . . . . . . – . . . . . . – . . . . . 79 EG 505 Die Ernt ist nun zu Ende . . . . . . . . . . . . – . . . . . . – . . . . . . – . . . . . 85 Freu dich sehr, o meine Seele . . . . . . . . . – . . . . . . – . . . . . . – . . . . . 88 EG 524
ISBN 978-3-525-50350-8
9 783525 503508