Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch. Heft 25 [1 ed.]
 9783666503481, 9783525503485

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Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch Heft 25

Vandenhoeck & Ruprecht

Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch Band 3

Vandenhoeck & Ruprecht

Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch Im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland gemeinschaftlich mit

Ansgar Franz, Gerhard Hahn, Bernhard Leube, Andreas Marti, Christiane Schäfer und Bernhard Schmidt herausgegeben von

Ilsabe Alpermann und Martin Evang Ausgabe in Einzelheften Heft 25

Vandenhoeck & Ruprecht

Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Bauer, Brinja, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät der Universität Kiel: EG 388 T * Dehlinger, Frieder, Pfarrer in Eislingen / Fils: EG 416 * Fillmann, Dr. Elisabeth (s. Heft 20): EG 265 * Herbst, Dr. Wolfgang (s. Heft 15): EG 217, 298, 424, 507 * Klek, Dr. Konrad (s. Heft 21): EG 324 S * Lütcke, Karl-Heinrich (s. Heft 24): EG 358 * Marti, Dr. Andreas: Musiker und Theologe, Professor em. für Liturgik und Hymnologie, Liebefeld (CH): EG 296, 316 M, 388 M, * Meier, Dr. Siegfried (s. Heft 20): EG 316/317 T * Meyer, Dr. Dietrich, Archivdirektor i. R., Herrnhut: EG 350 * Monninger, Dorothea (s. Heft 2): Redaktion * Praßl, Dr. Franz Karl, Professor für Liturgiewissenschaft an der Universität Graz: EG 227 * Schäfer, Dr. Christiane, Germanistin, Forschungsstelle Kirchenlied und Gesangbuch an der Universität Mainz: Hymnologische Nachweise * Schilling, Dr. Dr. Johannes, Professor em. für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Kiel: EG 388 T * Smets, Dr. Anne (s. Heft 23): EG 229 * Stalmann, Dr. Joachim (s. Heft 1): EG 245 * Weichenhan, Susanne, Pfarrerin, Potsdam: EG 324 T * Wiefel-Jenner, Dr. Katharina, Theologin, Berlin: EG 446 * Wissemann-Garbe, Dr. Daniela (s. Heft 15): Hymnologische Nachweise; EG 442

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-50348-1

217 Herr Jesu Christe, mein getreuer Hirte

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217 Herr Jesu Christe, mein getreuer Hirte Text

Verfasser Johann Heermann Vorlagen nach einem Gebet aus Joh. Arndts Paradiesgärtlein 1612, II, 11; Mt 11,28 Quelle DEVOTI MUSICA CORDIS. Hauß= und Hertz=Musica. (Johann Heermann), Breslau 1630 (DKL 163005) Überschrift 21. Vom H. Abendmal. Im Thon: Gott sey gelobet und gebenedeyet. Ausgaben FT I,337; Johann Heermanns geistliche Lieder, Philipp Wackernagel, Stuttgart 1856 Strophenbau A11/5a- 8/4a-, A11/5b- 8/4b-, R: Kyrieleison 9/4c- 9/4c- 7/4d 7/4d R: Kyrieleison Abweichungen 1,4 was ich darff; 2,8 las es mit Trost;

nach 3: 4. Grewlich beflecket ist mein arm Gewissen; 5. Der darff des Arztes, den die Kranck­ heit plaget; 4,1 rufest allen zu dir in Genaden; 4,3 Sünde wiltu jhn verzeihen; 4,4 Bürden; nach 4: 7. Mein Geist und Hertze wollstu zu dir neigen; 8. Kom, meine Frewde, kom, du schönste Krone; 9. Diß sind die Blümlein, die mich können heilen Verbindung TM in der Q ohne N, aber mit Melodieverweis (s. o. Überschrift) wie EG * eigene Melodie: Z IV,7044/8085 (Stolze 1834)

Melodie

s. Gott sei gelobet und gebenedeiet (EG 214) Literatur

HEKG (Nr.156) I/2, 266–269; III/1, 523 f. 529–531; Sb, 244 f; HEG II, 135–137 ** ThustB, 221 (Neufassung Ingelheim 2016, 202 f ); ThustL I, 382 f  ** KLL (1878–1886) I, 272; RößlerL (22001) 374 ** Büchner, Arno: Das Kirchenlied in Schlesien und der Oberlausitz, Düsseldorf 1971, 90 f * Kneitschel,

Ernst-Ulrich: Ein Hirt und viele Herden? Eine Spurensuche zwischen Neuem Geistlichen Lied und Ökumenischer Bewegung, in: Michael Fischer / Diana Rothaug (Hg.), Das Motiv des Guten Hirten in Theologie, Literatur und Musik, Tübingen / Basel 2001, 269–286 (bes. 272 f )

Johann Heermann hat seine Lieder „Auff bekandte / vnd in vnsern Kirchen vbliche Weisen verfasset“ (Untertitel der Quelle). Das bedeutet, dass der Dichter seiner Textdichtung ein durch die Melodie bereits vorgegebenes poetisches Modell zu Grunde gelegt hat. Damit kam er der praktischen Singbarkeit ein gutes Stück entgegen. Auch bei den von ihm gedichteten Texten beruft er sich auf Bekanntes, denn er hat die Lieder „aus den H. Kirchenlehrern und selbst eigner Andacht“ verfasst. Der „Leis“ (Kyrieleis) am Ende der Strophen stammt aus dem 13. Jh. und ist hier durch die Melodie vorgegeben. Näheres dazu im Kommentar zu EG 124 Nun bitten wir den Heiligen Geist (HEG III, H. 10, 69–75). Johann Heermann ist einer der ersten, die die Poesiereform von Martin Opitz in das Kirchenlied eingebracht haben. Darin gründet das hohe sprachliche Niveau seiner Verse, die Sauberkeit seiner Reime und sein Vorbildcharakter für spätere Dichter.

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Kommentare zu den Liedern

Das Lied ist nur selten ungekürzt wiedergegeben worden. Alle neun Strophen Johann Heermanns stehen z. B. im Gesangbuch der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern 1910 (Nr. 193). Das EKG (Nr. 156) hatte die Strophen 1–3 und 6–9 unverändert übernommen, im EG finden wir nur noch die Strophen 1–3 und 6. Anlass für Veränderungen sind nicht nur die Länge des Liedes gewesen, sondern auch die oft gefühlvoll-lieblichen Verniedlichungen (Schäflein, Herzkrüglein, Blutströpflein, süße Lieblichkeit, Blümlein, Gnadenbrünnlein). In manchen Gesangbüchern sind deshalb entsprechende Korrekturen des Textes angebracht worden.1 Als Vorbild für das Lied hat ein Gebet für den Empfang des heiligen Abendmahls aus Johann Arndts „Paradiesgärtlein“ gedient, das der Dichter für alle neun Strophen als Anregung benutzt hat. In der Zeit von Heermann war Arndt einer der „Heiligen Kirchenlehrer“. Seine „Vier Bücher vom Wahren Christentum“ und vor allem sein „Paradiesgärtlein“ gehörten zu den einflussreichsten lutherischen Erbauungsbüchern. „Die einzigartige Verbreitung des ‚Paradiesgärtleins‘ macht Arndt zu einem gewichtigen Vermittler bernhardinischer Mystik an den deutschen Protestantismus.“2 Das kam der Vorliebe Heermanns für die mystische Frömmigkeit des Mittelalters entgegen und war zugleich ein Schritt in Richtung Pietismus. Das Lied ist ein Gebet, das für Hausgottesdienste oder zur persönlichen Meditation als Andachtslied gedacht ist. Dementsprechend zeigt es eine individuelle Privatfrömmigkeit fast ohne jeden Gemeindebezug. Ein Vergleich des Liedtextes mit seiner Vorlage zeigt, wo Heermann dem Gebet ­Johann Arndts gefolgt ist und wo er sich anders entschieden hat. Devoti musica cordis 16303 „Vom H. Abendmal“

Johann Arndts Paradiesgärtlein 16124 2.Theil, Nr. 11, „Gebet für der Empfahung deß heiligen Abendmahls“

1. HErr Jesu Christe / mein getrewer Hirte / Kom / mit Gnaden mich bewirthe. Bey dir alleine find ich Heyl vnd Leben: Was ich darff kanstu mir geben. Kyrieleison. Dein arm Schäfflein wollestu weiden Auff Israels Bergen mit Frewden: Vnd zum frischen Wasser führen / Da das Leben her thut rühren. Kyrieleison. (EG Str. 1)

HErr JEsu CHriste / mein getreuer Hirte […] du wollest mich […] zum würdigen Gast machen dieser himmlischen Mahlzeit /

wollest mich dein armes Schäfflein heute weiden auff deiner grünen Aue / und zum frischen Wasser deß Lebens führen /

2. All andre speiß vñ Tranck ist gantz vergebens. Du bist selbst das Brodt des Lebens. Ich bin das Brod deß Lebens / wer von mir isset /  Kein Hunger plaget den der von dir isset: den wird nicht hungern / Alles Jammers er vergisset. Kyrieleison / 1 Z. B. Vollständig Braunschweigisches Gesang=Buch 1776, Nr. 266. 2 Johannes Wallmann: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock, Tübingen 1995, 16. 3 Ausgabe: Leipzig 1636, 72–75. 4 Ausgabe: Frankfurt / Leipzig 1675, 216–220.

217 Herr Jesu Christe, mein getreuer Hirte

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Du bist die lebendige Quelle: Zu dir ich mein Hertz Krüglein stelle / Las es mit Trost fliessen voll; So wird meiner Seelen wol. Kyrieleison. (EG Str. 2)

Ich armes Schäfflein komme […] zum lebendigen Brunnen / […] Du wollest […] mir voll einschenken den Becher deiner Liebe und Gnade.

3. Las mich recht trawren vber meine Sünde / Doch den Glauben auch anzünde. Den wahren Glauben / mit dem ich dich fasse / Mich auff dein Verdienst verlasse. Kyrieleison. Gib mir ein recht bußfertig Hertze / Daß ich mit der Sünde nicht schertze: Noch durch meine Sicherheit Mich bring vmb die Seligkeit. Kyrieleison. (EG Str. 3)

Für allen Dingen aber gib mir wahre hertzliche Reue und Leid über meine Sünde / und lege mir an das rechte Hochzeitliche Kleid deß Glaubens / durch welchen ich dein heiliges Verdienst ergreife […] Gib mir ein demütiges versöhnliches Hertz, daß ich meinen Feinden von Hertzengrund vergebe: Tilge auß meinem Hertzen die Wurtzel aller Bitterkeit und Feindseligkeit / pflantze dagegen in meine Seele Liebe und Barmhertzigkeit / daß ich meinen Nechsten / ja alle Menschen in dir lieb habe.

6. Du ruffest allen zu dir in Genaden / Die mühselig vnd beladen; All jhre Sünde wiltu jhn verzeihen / Jhrer Bürden sie befreyen. Kyrieleison. Ach kom selbst / leg an deine Hände / Vnd die schwere Last von mir wende. Mache mich von Sünden frey / Dir zu dienen Krafft verleyh. Kyrieleison. (EG Str. 4)

Du hast gesagt / kompt her zu mir alle die ihr mühselig / und beladen seyd / ich will euch erquicken / Ach HErr / ich komm mit vielen Sünden beladen / nimm sie von mir / entledige mich dieser grossen Bürde /

Der Dichter erspart seinem Lied jegliche dogmatische Last, wie sie im Zusammenhang mit dem Abendmahl naheliegen könnte. So verzichtet er auf eine Meditation über das sakramentale Geheimnis und auf Spekulationen über die Elemente. Sein Thema ist allein die Sündenlast, die auf dem einzelnen Menschen liegt, und die Bitte, diese Last abzunehmen. Strophe 1: Die erste Strophe ist die einzige, in der der klassische Hirten-Psalm 23 zitiert wird. Dabei wird der Hirte vor allem zum Gastgeber, der das geistliche Bedürfnis befriedigt (Was ich darf [wessen ich bedarf ] kannst du mir geben). Er weidet allerdings seine Schafe nicht auf einer grünen Aue, wie im Psalm und bei Arndt, sondern auf Israels Bergen. Mit diesem Zitat aus Hesekiel 34,13 wird das Bild des treuen Hirten direkt mit den prophetischen Worten in Verbindung gebracht, wo den von ihren untreuen Hirten verlassenen Herden Gott selbst als neuer Hirte verheißen wird, und zwar durch seinen Knecht David. Strophe 2: Christus, das Brot des Lebens (Joh 6,35), ist nicht zu vergleichen mit anderer Speise, die letztlich immer wieder zu neuem Hunger führt. Das Lebensbrot stillt den Hunger für immer und lässt allen Jammer vergessen. Arndts Rede vom lebendigen Brunnen wird von Heermann korrigiert, denn in Jeremia 2,13 haben die Brunnen eine negative Bedeutung: Sie sind löchrig und geben kein Wasser, der Herr aber spricht von sich selbst als der lebendigen Quelle. Dass der Trost Gottes eingefüllt werden kann wie in einen Krug, ist eine Vorstellung, die uns auch in Luthers Übersetzung der Apostel-

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Kommentare zu den Liedern

geschichte begegnet, wo es heißt: Die Gemeinde ward erfüllt mit Trost des Heiligen Geistes (Apg 9,31). Aus Arndts „Becher der Liebe und Gnade“ macht Heermann das sehr viel intimere Herzkrüglein. Strophe 3: Heermanns Neigung zu persönlicher Andacht und Selbstprüfung geht so weit, dass er Johann Arndts Abendmahlsgedanken an Versöhnung, Vergebung und Feindesliebe nicht übernimmt. Auch die Barmherzigkeit gegen den Nächsten und die Liebe aller Menschen passt ihm nicht in sein Thema der persönlichen Sünde und Buße. Das gilt auch für die nicht ins EG aufgenommenen Strophen. Anstatt der Bitte um ein demütiges und versöhnliches Herz – beides Worte, bei denen der andere im Blickfeld ist, dem gegenüber ich demütig und versöhnlich sein soll – geht es Heermann nur um ein bußfertiges Herz, also um das persönliche Sündenbewusstsein. Der Dichter warnt davor, die Sünde nicht ernst zu nehmen, über sie zu scherzen und sich in falscher Sicherheit zu wiegen (Ps 39,6: Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben!). Seine Frömmigkeit ist vor allem private Herzensfrömmigkeit, selbst im Rahmen des Abendmahls, bei dem es doch ganz wesentlich auch um die Gemeinschaft geht. Das bezeugt auch in allen Strophen die Häufigkeit der Wörter ich, mein, mir. Für Johann Arndt – wie schon für Martin Luther – war es noch selbstverständlich, dass das Abendmahl auch etwas mit dem Verhältnis zum Mitmenschen zu tun hat. Deshalb endet Luthers Abendmahlslied Jesus Christus, unser Heiland (EG 215) mit der Strophe Die Frucht soll auch nicht ausbleiben:/ deinen Nächsten sollst du lieben, / dass er dein genießen kann, / wie dein Gott hat an dir getan. Luther spricht in seinem Lied von wir und uns, aber er lässt nicht das Ich des Einzelnen sprechen. Ähnliches beobachten wir bei Thomas Blarer in EG 216 und bei Johann Andreas Cramer in EG 221. Bei Friedrich Spitta (EG 222) endet das persönlich formulierte Abendmahlslied mit der Strophe O Herr, verleih, dass Lieb und Treu / in dir uns all verbinden. Die Abendmahlslieder Johann Heermanns5 sind dagegen völlig frei von jedem Gedanken an den Mitmenschen, an eine Abendmahlsgemeinschaft und an die Communio sanctorum. Strophe 4: Das Wort Jesu Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid (Mt  11,28) bezieht der Dichter ausschließlich auf die Last der Sünde. Sie allein ist die Bürde, von der der Mensch befreit werden soll, damit er Kraft bekommt, Gott zu dienen. Sie allein ist der Jammer, von dem in Str. 2 die Rede ist. Auch hier spielt der Nächste, an dem ich mich versündigt habe oder er an mir, keine Rolle. Das mystische Ich ist der Mittelpunkt des ganzen Liedes. Es findet Gestalt in dem täglichen Gebet des schweizerischen Mystikers Nikolaus von Flüe (1417–1487), genannt „Bruder Klaus“,6 das Heermann in seiner Strophe 7 zitiert: Nimm mich mir, gib mich dir eigen (Arndt: „führe mich von mir selber ab / und nimm mich auff zu dir / ja in dich“). Dieses Gebet war im Luthertum sehr beliebt.7 5 FT I, 317, 337, 338, 369. 6 „Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir“ (Heinrich Stirnimann, Der Gottesgelehrte Nikolaus von Flüe, Freiburg CH 1981, 131–133). 7 Paul Gerhardt im Lied O Häupt voll blut und wunden Str. 9: Wann ich einmal sol scheiden / So scheide mich [sic!] von mir in FT III,467. – Salomo Franck im Text zur Bach-Kantate Nur jedem das Seine, BWV 163, Duett mit Choral: Nimm mich mir und gib mich dir!

217 Herr Jesu Christe, mein getreuer Hirte

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Das Lied gehört zu den intimsten Frömmigkeitsliedern des Gesangbuchs und hat deshalb auch heute noch seinen Wert für die persönliche Meditation und Besinnung, auch wenn in unserer Zeit die Verwendbarkeit als Gemeindelied ihre Grenzen hat, weil das Abendmahl hier ausschließlich als ein Geschehen zwischen Jesus und der einzelnen Seele verstanden wird. 

Wolfgang Herbst

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Kommentare zu den Liedern

227 Dank sei dir, Vater, für das ewge Leben EG 227ö  GL2 484ö  RG 320ö+ KG 143ö+  CG 494ö+ Text

Verfasser Maria Luise Thurmair Entstehung 1968 f, vgl. Kommentar Vorlagen Kirchenordnung Didache (um 100), vgl. Fußnote 2 und Kommentar * Du gingst, o Heiland, hin, für uns zu leiden (Johann Andreas Cramer 1780 [RG 448]) Quellen (a) Publikation zum Einheitsgesangbuch EGB 3: Gesänge zur Eucharistiefeier. München / Innsbruck 1970 * (b) GEMEINSAME KIRCHENLIEDER . Gesänge der deutschsprachigen Christenheit (Arbeitsgemeinschaft für öku-

menisches Liedgut) Berlin 1973 (= GL1 634) Strophenbau 11/5a- 11/5a- 11/5b- 5/2b- vgl. Frank 4.83 ‚sapphische Strophe‘ Abweichungen (a) 3,4 und alle Brüder; 4,3 brüderlich zusammen; 6,2 aus der Gewalt (b) 3,4 und alle Brüder; 4,3 brüderlich zusammen * GL2, RG, KG, CG: 4,3 durch deinen Geist zu einem Volk zusammen Verbindung TM (a+b) wie EG (in a ohne Leitton in Z. 4)

Melodie

s. Lobet den Herrn und dankt ihm seine Gaben (EG 460) Literatur

HEG II, 326 mit Ergänzungen in JLH 45 (2006) 218 ** WGL1 VII, 241 f; RGL1, 774 f; ÖLK Lfg. 2; ThustB, 226 (Neufassung Ingelheim 2016, 207 f ); ThustL I, 396 f ** NSKA (1975) 16, 80; Meyer (21997) 290–299 (bes. 291 f )  ** Giering, Achim: Abendmahl und Ökumene. Text und Melodie EG 227, Chl 47 (1994) 323–325 * Buchrucker, Armin-Ernst: Theologie der evangelischen Abendmahlslieder, Erlangen 1987, 265 * Kraft, Sigisbert: Dank sei dir, Vater, für das ewge Leben, in: Möller 1997, 137–142 * Braungart, Wolfgang /  Malsch, Katja: Kompromisslyrik. Anmerkun-

gen zu den Kirchenliedern Maria ­Luise Thurmairs, in: Hermann Kurzke / Andrea Neuhaus (Hg.), Gotteslob-Revision. Probleme, Prozesse und Perspektiven einer Gesangbuchreform, Tü­bingen / Basel 2003, 29–45 (bes. 32–35) * Horn, Werner: Eucharistische Frömmigkeit in den Abendmahlsliedern des Evangelischen Gesangbuchs, Heiliger Dienst 61 (2007) 173– 185, bes. 183 f * Prassl, Franz Karl: Dank sei dir, Vater, für das ewge Leben, in: Ansgar Franz / Hermann Kurzke / Christiane Schäfer, Die Lieder des Gotteslob. Geschichte – Liturgie – Kultur, Stuttgart 2017, 129–133

Am Beginn der Entstehungsgeschichte dieses 1968 entstandenen und bereits mehrmals im Text umgearbeiteten Liedes1 standen die Beratungen der Liedkommission für das katholische Einheitsgesangbuch „Gotteslob“ (1975) über das evangelische Abendmahlslied 1 Vgl. Markus Jenny in WGL1 VII, 241 f.

227 Dank sei dir, Vater, für das ewge Leben

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von Johann Andreas Cramer (1780) Du gingst, o Heiland, hin, für uns zu leiden (RKG 230, RG 448). Im reformierten Schweizer Gesangbuch (und im Österreichteil des Gotteslob 2013) ist das leicht aufklärerische Lied mit der Passionsmelodie von Johann Crüger 1640 (Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen) verknüpft, eine musikalisch-assoziativ sinnvolle Lösung, da im Lied die Verbindung von Passion und Eucharistie abgehandelt wird. In den deutschen Gesangbüchern, in denen Cramers Text in einer Auswahl von drei Strophen – beginnend mit der leicht veränderten zweiten Das sollt ihr, Jesu Jünger, nie vergessen (EKG 159, EG 221) – steht, wird die um den Passionsgedanken gekürzte und dadurch nunmehr auf Eucharistie und Einheit der Gemeinde bzw. Ökumene ausgerichtete Kurzfassung ebenfalls auf eine 1640 publizierte Melodie von Johann Crüger gesungen, die ursprünglich zum Tischlied Lobet den Herrn und dankt ihm seine Gaben (EKG 375, EG 460, RG 635) gehörte. Der Text dieser Kurzfassung, der vereinzelt auch den Weg in katholische Diözesangesangbücher vor dem Gotteslob 1975 gefunden hatte (z. B. Graz 1967), sagte der Gotteslob-Kommission insgesamt nicht zu, man wollte aber in Verbindung mit der Crüger-Melodie im EKG, die assoziativ unbelastet war, einen Dankgesang nach der Kommunion haben. Am Cramerschen Text (in der Kurzfassung) gefiel die starke Betonung von eucharistischem Mahl und Einheit der Gemeinde, doch fand die Kommission, der Text sei weiterzuentwickeln. Dazu boten sich ähnlich lautende Gedankensegmente aus dem ältesten bekannten christlichen Eucharistiegebet an, das sich in der Didache, der „Lehre der zwölf Apostel“2, findet. Diese sollten sich mit den Gedanken Cramers verbinden. Den Auftrag zu einer Neufassung erhielt 1967 die Südtiroler Germanistin und Dichterin Maria Luise Thurmair (1912–2005). In der Didache, nach den Abschnitten über die Taufe und das Vaterunser, steht folgendes Eucharistiegebet, das sich über die Kapitel 9 und 10 erstreckt: 9.1. Was aber die Eucharistie betrifft, sagt folgendermaßen Dank: 2. Zuerst beim Kelch: „Wir danken dir, unser Vater, für den heiligen Weinstock Davids, deines Knechtes, den du uns offenbar gemacht hast durch Jesus, deinen Knecht. Dir sei Herrlichkeit in Ewigkeit!“ 3. Beim gebrochenen Brot: „Wir danken dir, unser Vater, für das Leben und die Erkenntnis, die du uns offenbar gemacht hast durch Jesus, deinen Knecht. Dir sei Herrlichkeit in Ewigkeit! 4. Wie dieses gebrochene Brot zerstreut war auf den Bergen und zusammengebracht eines geworden ist, so soll zusammengeführt werden deine Kirche von den Enden der Erde in dein Reich; denn dein ist die Herrlichkeit und die Macht durch Jesus Christus in Ewigkeit.“

2 Die Didache, entstanden um 100 in Syrien oder Palästina, enthält Anweisungen für das Gemeindeleben und den Gottesdienst. Edition: Didache, Zwölf-Apostel-Lehre, übersetzt und eingeleitet von Georg Schöllgen, Freiburg 2000 (Fontes Christiani 1). Die im Folgenden zitierten Kapitel 9 und 10 finden sich, mit kleinen Änderungen, dort auf den Seiten 121–127.

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Kommentare zu den Liedern

5. Doch niemand soll essen und trinken von eurer Eucharistie außer denen, die auf den Namen des Herrn getauft sind. Denn auch darüber hat der Herr gesagt: „Gebt das Heilige nicht den Hunden!“ 10.1. Nach der Sättigung sagt folgendermaßen Dank: 2. „Wir danken dir, heiliger Vater, für deinen heiligen Namen, den du in unseren Herzen hast Wohnung nehmen lassen, und für die Erkenntnis und den Glauben und die Unsterblichkeit, die du uns offenbar gemacht hast durch Jesus, deinen Knecht. Dir sei Herrlichkeit in Ewigkeit! 3. Du, Herr, Allherrscher, hast das All geschaffen um deines Namens willen, Speise und Trank hast du den Menschen gegeben zum Genuss, damit sie dir danken. Uns aber hast du (aus Gnade) geistliche Speise und Trank und ewiges Leben durch (Jesus), deinen Knecht, geschenkt. 4. Vor allem aber danken wir dir, weil du mächtig bist. Dir sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! 5. Gedenke, Herr, deiner Kirche, dass du sie befreist von allem Bösen und sie vollendest in deiner Liebe. Und führe sie zusammen von den vier Winden, die Geheiligte, in dein Reich, das du ihr bereitet hast. Denn dein ist die Macht und die Herrlichkeit in Ewigkeit. 6. Es komme die Gnade und es vergehe diese Welt! Hosanna dem Gott Davids! Wer heilig ist, der soll herkommen! Wer es nicht ist, soll Buße tun! Maranatha. Amen. 7. Den Propheten aber gestattet, Dank zu sagen, soviel sie wollen.

Wesentliche Gedanken dieses altehrwürdigen Gebetes, das uns an die Anfänge christlichen Gemeindelebens und Denkens führt, sind zusammen mit dem inhaltlichen Grundduktus der Kurzfassung des Cramer-Liedes (Eucharistie und Einheit) von Maria Luise Thurmair zu einem neuen Ganzen verbunden worden. Die Strophen 1, 2, 4 und 6 nehmen Motive aus der Didache auf, die Strophen 3 und 5 sind von Cramers Lied inspiriert, welches freilich selbst biblische Themen aufgreift. Der 1968 von der beauftragten Autorin vorgelegte sechsstrophige Text wurde im selben und im darauffolgenden Jahr in Zusammenarbeit mit der EGB-Subkommission „Lieder“ erstmals verändert und 1970 in der Probepublikation zum EGB3 veröffentlicht. Mit einer weiteren Textänderung in Str. 6,2 wurde es von der AÖL 1971 unter die ö-Lieder aufgenommen und 1973 in „Gemeinsame Kirchenlieder“ (GKL 85) publiziert. In dieser Version verbreitete es sich rasch über GL1 hinaus. Das Lied beginnt in seiner ersten Strophe mit dem zentralen Motiv der Eucharistie, dem Dank-Sagen. Dies ist die klassische Eröffnung eines Hochgebets, in dessen Präfa 3 EGB 3 – Gesänge zur Eucharistiefeier während des Jahres, München 1970.

227 Dank sei dir, Vater, für das ewge Leben

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tion zuerst das Dankmotiv anklingt und entfaltet wird. Anhand von Didache 9.3. und 10.2. ist als erstes der Dank für das Leben angesprochen. Der Ursprungstext erfährt hier eine nicht unwesentliche Umdeutung. Dankt die Didache Gott als dem Schöpfer des Lebens, so wird im Lied daraus das ewge Leben, was im Gebetstext nicht gemeint sein kann, zumal erst in 10.3. im Kontext der „geistlichen Speise“ das „ewige Leben“ ausdrücklich genannt wird. In der Tradition altkirchlichen Betens wird dem Schöpfer des kreatürlichen Lebens für die Gabe der eigenen Existenz und der aller anderen Geschöpfe gedankt, denn Gott ist der Herr des Lebens und damit des fundamentalen Da-Seins. Dies hatte Thurmair ursprünglich mit Dank sei dir, heilger Vater, für das Leben auch so ausgedrückt, die EGB-Subkommission Lieder änderte dies jedoch in für das ewge Leben. Die Autorin machte sich dies zu eigen und legt in ihrem eigenen Kommentar zum Lied im Werkbuch zum Gotteslob dar, dass sie die „grundlegende Gabe des neuen Lebens“ verstanden und gemeint hat, was auch ihre Gliederung des Liedes zeigt: „Geheimnis des Christuslebens in uns“ in den Strophen 1–3, „Aufgaben, die uns aus diesem Leben erwachsen“, in den Strophen 4–6.4 Das Dankmotiv erstreckt sich in weiterer Folge auf den Glauben als Gabe Gottes sowie auf die Gotteserkenntnis in Jesus Christus, die uns Gott Vater nennen lässt. Als biblische Referenzen zu dieser Strophe sind u. a. zu nennen: Matthäus 6,9; Johannes 14,7; Apostelgeschichte 17,25; Römer 8,15; Hebräer 12,2. In der zweiten Strophe ist Didache 10.3. aufgegriffen. Der Schöpfer gibt dem Menschen „Speise und Trank … zum Genuss“ (sinnrichtig im Lied erweitert auf jedes Geschöpf ), die Gemeinde des Herrn (Didache: „uns aber …“) erhält darüber hinaus noch geistliche Speise und ewiges Leben. Dieser Gedanke wird im Lied umgeformt zu Speise zum ewgen Leben, was den Charakter der Speise gegenüber der Vorlage instrumentalisiert. Die Liedstrophe erweitert den Gedanken der Didache um den Hinweis, dass die Eucharistie das Herz des Menschen zu sättigen, also zu erfüllen und zufriedenzustellen vermag. Dies ist ein zentrales Motiv des Gesprächs Jesu mit der Samariterin am Jakobsbrunnen (Joh 4,14), das sich in der johanneischen Brotrede (Joh 6,35 ff ) weiterentwickelt. Weitere wichtige biblische Referenzen sind Psalm 145,15.16 und Johannes 6,27. In den ersten beiden Strophen ist zwar das Wirken Gottes in Jesus Christus angesprochen, die zentrale Bezugsperspektive ist jedoch die Gemeinde, das wir bzw. uns. Von Gott ist insofern die Rede, als er mit uns etwas zu tun hat, und wir diejenigen sind, die Gottes Zuwendung erfahren. Im Text der Didache jedoch wird der Blickpunkt auf Gott, in dessen Horizont wir erscheinen, noch verstärkt durch die Doxologien, die jeden Satz des Gebetes quasi als deren Höhepunkt beschließen und abrunden. Dieser Perspektivenwechsel zwischen Didache-Text und Lied ist bedeutsam für die theologische Situation und das geistliche Klima, in dem dieses Lied entstanden ist. Die durchaus geringfügigen, aber inhaltlich gewichtigen Verschiebungen sind ein beredtes Zeugnis für das theologische Denken der späten Sechzigerjahre. In der dritten Strophe wird die Perspektive nun völlig und direkt auf die Gemeinde verschoben: „Wir sind Kirche.“ Hier klingen die Motive des Cramer-Liedes an, aus dem im ursprünglichen Wortlaut zitiert sei: 4 WGL1 VII, 241.

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Kommentare zu den Liedern

Das sollt ihr, Jesu Jünger, nie vergessen: Wir sind, die wir von einem Brote essen, aus einem Kelche trinken, alle Brüder und Jesu Glieder.

Konstitutiv für das Bewusstsein, dem Leibe Christi anzugehören, ist das Essen und Trinken bei der gemeinsamen Gedächtnisfeier. Eucharistie führt zusammen und ist auch Ursymbol der Einheit, wie es in den nächsten Strophen noch anklingen wird. Die letzten beiden Zeilen besagen, dass die Gliedschaft am Leibe Christi auch etwas über das Verhältnis der Gemeindeglieder zueinander aussagt bzw. dieses bedingt: Seines Leibes Glieder sind alle „Geschwister“, bzw. Schwestern und Brüder, d. h. Gleiche unter Gleichen, Teilhaberinnen und Teilhaber am Wesen des Hauptes, funktional verschieden, aber gleich an Wert und Würde, gleichsam genetisch miteinander verbunden und in einer Schicksalsgemeinschaft. Die Formulierung und alle Brüder in der vierten Zeile, welche der inklusiven Formulierung Schwestern und Brüder durch einen Beschluss der AÖL 1987 weichen musste, hat ihre besondere inhaltliche Komponente, sie zeigt diese Doppelrolle (Glied an Christi Leib und einander Schwester bzw. Bruder), wie die Autorin in ihrem Kommentar selbst hervorhebt: „Wir sind Glieder seines Leibes und untereinander Brüder“5. Zentrale biblische Referenzen dieser Strophe sind Römer 12,4 und 1. Korinther 10,16.17; 12,12–31a. In der vierten Strophe weitet sich wieder der Blick von der Gemeinde vor Ort auf die größeren Dimensionen von Kirche. Ausgehend vom Bild der Didache (9.4.), dass im gebackenen Brot die Weizenkörner, die auf vielen Feldern in den Bergen gewachsen und eingesammelt, nun von „Einzelnen“ zu einer „Einheit“ geworden sind, wird dafür gebetet, dass im Namen Jesu wir zu einer einzigen universalen geschwisterlichen Kirche zusammengeführt werden, zu einem größeren Ganzen. Ab hier wird die Bitte um Einheit der Kirche(n) und der Christen zum zentralen Motiv des Liedes, ausgehend von der Erkenntnis, dass das innerste Tun der Kirche, die Eucharistie, fundamentales Zeichen der (nicht vorhandenen) Einheit ist. In welche Einheit geführt werden soll und auf welchem Weg dies geschehen soll, darüber gibt es seit Jahrhunderten unterschiedliche Meinungen, vor allem im theologischen Disput. Dies zeigt sich nicht zuletzt an den Änderungen, welche das Lied an dieser speziellen Stelle während der letzten Jahrzehnte erfahren hat:   Aus vielen Körnern ist ein Brot geworden:   So führ auch uns, o Herr, aus allen Orten   zu einer Kirche gnädiglich zusammen     zu einer Kirche brüderlich zusammen (1975)     zu einer Kirche durch dein Wort zusammen (1994)     durch deinen Geist zu einem Volk zusammen (1995)   in Jesu Namen.

Thurmairs ursprüngliche Formulierung der Zeile 3 zu einer Kirche gnädiglich zusammen wurde durch die EGB-Subkommission „Lieder“ in brüderlich zusammen geändert. Die 5 WGL1 VII, 242.

227 Dank sei dir, Vater, für das ewge Leben

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Formulierung brüderlich, welche Thurmair vor 50 Jahren noch akzeptieren konnte, musste gleich zweimal neuen Varianten weichen, die jedes Mal neue theologische Aspekte einbrachten. So wurde mit zunehmender Sensibilität für inklusive Sprache zunächst im Vorfeld der EG-Erarbeitung 1991 seitens der AÖL die Formulierung durch dein Wort zusammen ins Spiel gebracht. Dass die Kirche durch Gottes Wort zusammengeführt wird, ist eine theologische Binsenweisheit, die im Kontext dieser Strophe jedoch wie ein Fremdkörper wirkt, wenngleich hier eine Standardformel aus lutherischer Tradition verwendet wird. Anlässlich der „kleinen Gotteslob-Revision“ (1995) wurde schließlich die bisher letzte Änderung hin zur heute gültigen ö-Fassung vorgenommen, die in KG, RG und GL2 vorliegt. Diese Variante, die den Heiligen Geist als Katalysator für das Einswerden des Gottesvolkes ins Spiel bringt, passt hier schon besser in den theologischen Duktus, weil sie dem Bild vom Brot aus den verstreut aufgewachsenen Körnern besser entspricht. Mit dem Brotbild der Didache wird ein Gegenbild der zerstrittenen, verfeindeten und uneinigen kirchlichen Gemeinschaften entworfen, die ein Skandal für Kirche und Welt sind. Das Eucharistiegebet der Didache jedoch hat in seinen Formulierungen (9.4. und 10.5.) nicht die zerstrittenen Christen vor Augen. Vielmehr ist dies die verchristlichte Form der jüdischen Bitte um die Zusammenführung der in der Diaspora Zerstreuten in Jerusalem. Auch die Christen lebten in der Diaspora und empfanden sich als Fremdlinge, die im Reiche Gottes gesammelt ihre endgültige Heimat finden. „Jede Fremde ist für sie Vaterland und jede Heimat ist für sie Fremde“, „auf Erden halten sie sich auf, aber im Himmel sind sie Bürger“6. Die fünfte Strophe greift nun wieder den Schluss den Cramer-Liedes auf: Ach, dazu müsse deine Lieb uns dringen! Du wollest, Herr, dies große Werk vollbringen, dass unter einem Hirten eine Herde aus allen werde.  (EG 221,3)

Hatte das Brot in der vierten Strophe als Sinnbild der Einheit gedient, so verwendet Thurmair in diesem eucharistischen Lied jenes der Traube anstelle des Cramerschen Herden-­Bildes. Gleichzeitig erweitert bzw. variiert sie die Bitte, die Einheit zu wahren. Während Paulus noch die Epheser ermahnt, selber an der Einheit zu arbeiten (Eph 4,4 ff ), wird diese im Lied als Geschenk des Himmels erbeten. Die Einheit soll Zeugnis für die Welt sein, damit diese glaube (Joh 17,21). Die Bitte ist freilich so formuliert, dass Einheit für ein Zeugnis instrumentalisiert wird und damit doch an Eigenwert zugunsten einer pädagogischen Komponente verliert. Die sechste Strophe ist ausgehend von Didache 10.5. die Bitte um Befreiung der Kirche aus den Verstrickungen des Bösen und um „unsere“ Vollendung in der Liebe. Auch hier wird ein Gebet für die Kirche unmittelbar auf „uns“, die wir ja Kirche sind, angewendet. Ergänzend ist der Gedanke der Sendung als Zeugen der Liebe Gottes, der wiederum die Gemeindeperspektive weitet auf die Welt, die des Zeugnisses der Christinnen und Christen bedarf. Wenn darauf verwiesen wird, dass das Lied das Eucharistiegebet der Didache für den heutigen Gemeindegottesdienst in Liedform nutzbar macht, so ist auf die Umdeutun 6 Brief an Diognet (5.5. und 5.9.), in: Bernd Lorenz (Hg.), Der Brief an Diognet, Einsiedeln 1982.

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Kommentare zu den Liedern

gen aufmerksam zu machen. Die theozentrische, ganz auf Gott ausgerichtete bildhafte Sprache des 1. Jh. wird für eine moderne anthropozentrische Kirchentheologie in Dienst genommen, indem sie sehr selektiv in moderne Gedankengänge eingebaut wird. Die Ekklesiologie des modernen Liedes hat zweifellos andere Schwerpunkte als der alte Text und stellt insgesamt ein etwas eingeschränktes Spektrum dar, was aber durchaus legitim ist, denn niemand verlangt, dass alle Aspekte des Themas Kirche in einem einzigen Lied abgehandelt sein müssen. Die Einschränkung auf das Thema „Wir sind Kirche“ und die darauf bezogene Sorge um die Einheit ist ein Gedanke, der in der postkonziliaren katholischen Kirche sehr aufregend war, weil damit doch etwas wiederentdeckt worden ist, was im hierarchisch geprägten Denken des Katholizismus vor allem in der Neuzeit kaum seinen Platz gehabt hatte. Dieselben Ideen haben auch in der Ökumene große Resonanz gefunden. Dass das Thema geschickt in einen urkirchlichen Traditionszusammenhang gestellt werden konnte, hat die Attraktivität des Liedes zusätzlich gesteigert. In nur knapp 50 Jahren hat das Lied, das als Auftragsarbeit am grünen Tisch entstanden war, einen selten zu beobachtenden Siegeszug durch nahezu alle deutschsprachigen Gesangbücher angetreten, nicht zuletzt, weil seine zentralen Aspekte von Eucharistie und Einheit ansprechen, ein unerschöpfliches Thema, das unmittelbar jede Generation von Christinnen und Christen hautnah mehr oder minder schmerzvoll oder freudvoll berührt. 

Franz Karl Prassl

229 Kommt mit Gaben und Lobgesang

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229 Kommt mit Gaben und Lobgesang EG 229 (EM 525) Text

Verfasser Detlev Block Entstehung Auftragsarbeit des EG-Gesangbuchausschusses 1988 (Melodie sollte beibehalten werden) Vorlage Let us talents and tongues employ von Fred Kaan 1975 Quelle Evangelisches Gesangbuch. Vorent-

wurf, Hannover 1988 Liturgische Einordnung Abendmahlsfeier Strophenbau 8/4a 8/4a 8/4b 8/4b K: 5/3c 5/3c 5/3d 3/2d Verbindung TM wie EG

Melodie

Incipit 5_53_58_ 6_6_5__ Verfasserin Doreen Potter Entstehung 1972 Vorlage Calypso (Volkslied aus Jamaica)  Quelle Break not the circle. Twenty new hymns (Fred Kaan, Doreen Potter), Illinois 1975 Ambitus G: 8; Z:

6b46b464 Abweichungen mit Klavierbegleitung, EM: mit 4st. Satz (M. Heinig) Verbindung MT Q: Let us talents and tongues employ * Auf, bringt Gaben und Lob herbei (Wolfgang Teichmann, EM 525)

Literatur

HEG II, 42–44.173 (mit Ergänzung in JLH 2011, 167).243 ** ThustB, 227 (Neufassung Ingelheim 2016, 208); ThustL I, 399–401 ** Meyer (21997) 71 f.152 f ** Giering, Achim: Abendmahl und Calypso? Text und Melodie EG 229, Chl 48 (1995) 371–373; gekürzter Wiederabdruck in: Siegward Kunath (Hg.), Abendstern und Morgenstern sind ein und derselbe. Festschrift zum 80. Geburtstag von Detlev Block, München [2014], 36 f * Schröer,

Henning: Das Dialogische in Kirchenlied und Gottesdienst, WEG V (1998) 7–12 (bes. 11) * Egerer 1999 * Trautwein, Dieter: Ausländische Autoren, denen ich begegnet bin, WEG VI (2000) 55–68, bes. 60 f.63 f * Horn, Werner: Eucharistische Frömmigkeit in den Abendmahlsliedern des Evangelischen Gesangbuchs, in: Heiliger Dienst 61 (2007) 173–185, bes. 184 f

Kommt mit Gaben und Lobgesang ist ein Lied der weltweiten Ökumene par excellence. Es wurde erstmals 1975 bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Nairobi, die passenderweise unter der Losung „Jesus Christus befreit und eint“ stand, in einer großen Gemeinde gesungen. Den englischen Originaltext hat Fred Kaan verfasst, ein reformierter Pfarrer und Textdichter, der aus den Niederlanden stammte und in England tätig gewesen war. Seit 1968 lebte er in Genf, der Stadt des ÖRK, und arbeitete dort mit der Musikerin und Komponistin Doreen Potter aus Jamaika zusammen, die in derselben Straße wohnte und schon einige seiner Liedtexte vertont hatte. Sie schlug Fred Kaan vor, einen Text zu ihrem Arrangement des jamaikanischen Marktliedes Carry me akee, go Linstead market

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Kommentare zu den Liedern

zu schreiben. So entstand Let us talents and tongues employ. Bereits diese Originalfassung verbindet den karibischen Calypso mit dem Abendmahl und dem Gedanken der weltweiten Ökumene. Eine gelungene und einleuchtende Verbindung, denn der Calypso ist zur Entstehungszeit des Liedes in der Karibik ein wesentlicher Teil des Alltags. Wenn Menschen sich begegnen, wird der Calypso gemeinsam gesungen, musiziert und getanzt. Er hat Unterhaltungswert, aber in ihm kommt auch die Solidarisierung über die aktuell anwesende Gemeinschaft hinaus zum Ausdruck, indem Lieder der verschiedenen karibischen Inseln, nicht nur der jeweils eigenen, gesungen werden. Auch in Kaans Text kommt eine Gemeinschaft zur Sprache: die Gemeinschaft derer, die von Christus zum Abendmahl gerufen und eingeladen sind, die sein Wort und Brot miteinander teilen und in die Welt hinaustragen. Kaan selbst schreibt zum Abendmahl, es sei „eher eine ernste und würdige Angelegenheit […], aber wir vergessen oft, daß es auch eine Feier ist, ein Fest, ein Anlaß, aus der Erinnerung heraus hoffnungsvoll der Zukunft zu begegnen. Vor allem aber bedeutet das Abendmahl, daß wir unserem Gott nahe sind und uns gegenseitig akzeptieren beim gemeinsamen Verehren Gottes und dieses in gegenseitiges Dienen und Achten umsetzen.“1 Dieter Trautwein, ebenfalls der ökumenischen Bewegung eng verbunden, verfasste die erste deutsche Übertragung Auf, bringt Gaben und Lob herbei, die im Gottesdienstbuch für die ÖRK-Vollversammlung 1983 in Vancouver abgedruckt ist. Durch diese später noch einmal von Trautwein selbst überarbeitete Fassung wurde das Lied im deutschsprachigen Raum zunehmend bekannt, transportiert v. a. durch die Kirchentage und ihre Liederhefte. In das EG wurde es jedoch mit der Textfassung von Detlev Block aufgenommen, die er 1988 als Auftragswerk für eben dieses Gesangbuch verfasst hat. Er überträgt zentrale Gedanken des englischen Originaltextes, setzt aber auch eigene Akzente und verdeutlicht einige wichtige Aussagen. Sein Text beginnt – anders als das englische Original – mit einer Einladung: Kommt mit Gaben und Lobgesang, mit lautem Jubel und fröhlichem Dank. Die Gaben des Abendmahls, Brot und Wein (Mt 26,26 f ), sind von Christus selbst bereitgestellt. Die Bereitung und Darbringung dieser Gaben soll jedoch durch diejenigen geschehen, die an seinem Mahl teilnehmen. Mit den Gaben bringen sie sich selbst, ihr ganzes Leben und Sein vor Gott im Sinne des vernünftigen Gottesdienstes (Röm 12,1). So lässt sich das Lied als ein dezidiertes Gabenbereitungslied verstehen, das den Vollzug des Abendmahles thematisiert, wie es im EG selten anzutreffen ist. Im Sinne Kaans betont auch die deutsche Fassung den freudigen und festlichen Charakter des Abendmahles, wenn sie die Danksagung (Mt 26,26; vgl. Eph 5,19 f ) – Eucharistie im Wortsinne – als fröhlichen, von Jubel begleiteten Akt versteht. Christus selbst bricht heute, in der erzählten Gegenwart, Brot und reicht uns, den impliziten Adressatinnen und Adressaten, den Wein. So verstanden ereignet sich im Abendmahl die Gegenwart Christi hier und heute – weil er es fühlbar will und denen, die es feiern, nahekommen möchte. Dieser fühlbaren Nähe korrespondiert wiederum der Jubel als 1 Zit. n. Meyer 21997, 152.

229 Kommt mit Gaben und Lobgesang

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„körperlicher Vorgang, der unsere Hände in die Höhe reißt oder sie uns gegenseitig reichen läßt mit dem Ausdruck oder Ruf der Freude.“2 Der Kehrvers richtet sich über den Kreis der anwesenden Abendmahlsgemeinschaft hinaus an die Erde, die ganze bewohnte Welt (griech. oikoumene; vgl. Mt 24,14): Weil Christus nahe ist, weil er lebt und durch Brot und Wein eine weltumspannende Gemeinschaft stiftet, darf die Erde erleichtert aufatmen. In ihr soll sich Gottes Wort ausbreiten. Laut englischem Original soll es quasi mit dem Brot und dem Wein am Abendmahlstisch herumgereicht werden (pass the word around ). Diese auch im deutschen Text formulierte Verbreitung des Wortes in der Welt erinnert an das ebenfalls aus dem Englischen übertragene Abendlied Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen (EG 266): So wie die Morgensonne langsam, aber stetig über der schlafenden Erde aufgeht, ist immer ein Gebet und immer / ein Loblied wach, das vor dir steht (Str. 3). Wenn also in meinem Teil der Welt, in meiner eigenen Wahrnehmung die Zertrennung und der Zweifel (EG 229,3) zu überwiegen scheinen, steht dem doch die Gewissheit entgegen, dass anderswo auf der Erde Gottes Lob gesungen wird und sein Wort sich verbreitet, eben seinen Lauf nimmt (vgl. 2. Thess 3,1). Und dies geschieht durch das Teilen des Brotes: beim Abendmahl und ebenso in solidarischem Miteinander mit Menschen, denen es an Nötigem zum Leben fehlt. Nichts weniger, so erinnert das Lied, ist das Gebot des lebendigen Christus. Er, der vor seinem Tod das Abendmahl eingesetzt hat, teilt das Brot auch und erst recht als Auferstandener mit denen, die Wort und Brot so nötig brauchen (vgl. Lk 24,30; Joh 16,13 u.ö.). So wird dieser Kehrvers zur Osterbotschaft, die sich auf der Erde ausbreitet und in den ebenso prägnanten wie konkreten Ruf Teilt das Brot! mündet. Die zweite Strophe spitzt die Formulierung des englischen Originals zu: Christus ist nicht nur in der Lage, uns zu einen (able to make us one), er eint uns tatsächlich (vgl. Gal 3,28), untereinander und mit Gott (Joh 17,21). Nach der Einladung der ersten Strophe formuliert die zweite, was Christus im Abendmahl schenkt: die Teilhabe an seinem Heil, an seiner Gemeinschaft und an ihm selbst: Nehmt und esst – das bin ich. Christus schenkt sich selbst im Abendmahl. Durch das Teilen des Brotes und die Aufforderung, es ihm gleichzutun, lehrt er nicht nur, was vor Gott ein gutes Leben ist, sondern er schenkt uns auch die Fähigkeit, unsererseits das Wort weiterzugeben und in seinem Sinne tätig zu werden – mit dem englischen Text gesagt: durch das eigene Leben der Welt zum Segen zu werden (vgl. 1. Mose 12,2). An diesen Gedanken knüpft die dritte Strophe an. Sie verdeutlicht, dass wir als von Jesus Eingeladene und Beschenkte auch Gerufene und Erwählte sind. Eindrücklich und mit Bezug auf die Aussendung der Jünger (Mk 6,7 parr) formuliert das englische Original diesen Zusammenhang: Jesus calls us in, sends us out. Erwählt sein bedeutet in diesem Kontext also nicht in erster Linie herausgehoben, sondern beauftragt zu sein, nämlich Frucht zu bringen, wo Zweifel quält. Über die Bezüge zu Matthäus 7,16; Johannes 15,5.8 und Judas 22 hinaus ist der Bezug zur matthäischen Version der Erzählung vom verdorrten Feigenbaum (Mt 21,18–22) zu nennen: Jesus verspürt Hunger, findet an einem Feigenbaum keine Frucht, lässt ihn verdorren und erklärt seinen Jüngern, dass 2 Giering 1995, 372.

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Kommentare zu den Liedern

dem, der glaubt, ohne zu zweifeln, so etwas möglich ist und noch mehr. O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens, heißt es in einem bekannten, ehemals Franz von Assisi zugeschriebenen Gebet, dass ich den Glauben bringe, wo der Zweifel drückt (vgl. EG 416). Um eine solche Ermutigung geht es auch dem Lied: Das Vertrauen auf Gott, der überall zu uns hält, auf Christus, der im Abendmahl die Teilhabe am Heil und an der Gemeinschaft der Glaubenden schenkt, befähigt Menschen dazu, das von ihm empfangene Wort und Brot mit der Welt zu teilen. Beides, Wort und Brot, ist die „Substanz des Gottesdienstes“3. Worin sich Christus den Menschen schenkt, das gilt es weiterzuschenken. Daher dürfte der Ausdruck Brot für die Welt eine Anspielung auf die gleichnamige diakonische Aktion sein. Diese steht dann stellvertretend für die zahlreichen Initiativen, mit denen sich Christen und Christinnen in der Welt engagieren und auf diese Weise die ihnen von Gott geschenkten Gaben – seien sie materieller Art oder Talente – mit anderen Menschen teilen. Im so als Gabe und Aufgabe verstandenen Abendmahl sind Menschen untereinander und mit Gott verbunden und auch mit sich selbst im Einklang. Das Lied ist als Calypso unter den Chorälen eine große Bereicherung der EG-Rubrik „Abendmahl“. Gemeinsam mit der Spiritual-Übertragung Komm, sag es allen weiter (EG 225) weitet es den Blick auf die weltweite Ökumene hin und betont jenseits konfessioneller Differenzen ein Verständnis des Abendmahles als Gemeinschaftsmahl, das stets über die an einem Ort anwesende Gemeinde hinausweist mit dem Ruf Teilt das Brot! 

3 Schröer 1998, 11.

Anne Smets

245 Preis, Lob und Dank sei Gott dem Herren

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245 Preis, Lob und Dank sei Gott dem Herren Text

Verfasser Petrus Herbert Entstehung 1566 Quelle Kirchengesang darrinen die Heubartickel des Christlichen glaubens. o. O. [Eibenschütz] 1566 (DKL 156604) Überschrift Preis, lob und danck sei Gott dem Herren Ausgabe W IV,590 Strophenbau A9/4a- A8/4b A9/4a- A8/4b A9/ 4c- A8/4d A9/4c- A8/4d Frank 8.37 Abweichungen 1,2 der sein geschepff nicht lesst verderben; 1,3 Sondern samlet; 1,4 ein ewige Kirch auff Erden; 1,5 welch er; nach 1: 2. Die ist Gottes ruhe und wonung; 3. Sie ist erbawt auff rechtem grunde; 4. Nu last uns all den Baw ansehen; 2,1 Geist selbs drin; 2,2 und besetzt die thor mit hütern; 2,3 wie es gebühret; 2,4 allen trewen kirchendienern; 2,8 mit glauben; 3,1 Ausser der

Kirch wird kein Mensch selig; 3,2 den sie ist die Arche Gottes; 3,3 Wer drin recht wont ist Gott gesellig; 3,4 und ist ein glied seines Volckes; 3,5 Für die hat Gott sein Blut; welchs sie mit Glauben; 4,1 Ob wol die thor nicht sind verschlossen; 4,2 und des tags liecht jmer scheinet; 4,3 Werden doch nicht all eingelassen; 4,4 und mit Gott dem Herrn vereinet; 4,5 Denn es …denn der glaube; 4,8 weil er sich hie nicht; 5,2 allzeit in der Welt erhalten; 5,3 Gott (dem sey lob) schützt; 5,4 und will jrer ewig walten; 5,5 Er will ir auch nach dem Tod geben; 5,7 das gantz freudreiche ewig leben; 5,8 das verley uns auch, Herre Gott Verbindung TM in der Q wie EG

Melodie

s. Nun saget Dank und lobt den Herren (EG 294) Literatur

HEKG (Nr. 206) I/2, 330 f; III/2, 81–83; Sb, 318 f; HEG II, 143 f ** ThustB, 238 (Neufassung Ingelheim 2016, 217 f); ThustL I, 429–431 * KLL (1878–1886) II, 223; EEKM (1888–1895) II, 739 f; Schlunk (1951) 299 f; DKL (1993–2010) III/1.3 Textbd. 105; DKL III (1993–2010)/2 Textbd. 381; RößlerL (22001) 255 ** Fornaçon, Siegfried: Johann Crüger und der Genfer Psalter, JLH 1 (1955) 115–117 (bes. 116 f )  * Schönborn, Hans-Bernhard: „Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt“, JLH 22 (1978) 173–180 (bes. 177) * Erb, Jörg: Dichter und Sänger des Kirchenliedes, Bd I: Verfasser von Liedern und Weisen des Kirchengesangbuchs aus dem Reformationsjahrhundert, Lahr-Dinglingen 21981,

104–106 * Heiner, Wolfgang: Bekannte Lieder – wie sie entstanden, Neuhausen / Stuttgart 31985, 78 * Roser, Hans: Lieder der Christenheit. Die Wochenlieder im Kirchenjahr – Geschichte, Hintergründe, Wissenswertes, Neukirchen-Vluyn 1995, 92 f * Martini, Britta: Sprache und Rezeption des Kirchenliedes. Analysen und Interviews zu einem Tauflied aus dem Evangelischen Gesangbuch, Göttingen 2002, 89 f * Henkys, Jürgen: Der Stadt, der Himmel und die Erde. Vier Kirchenlieder im Vergleich, GAGF 18 (03/2004) 75–88 (bes. 82) * Korth, Hans-Otto: Die Weise „Entlaubet ist der Walde“ als Kirchenlied-Melodie, JLH 50 (2011) 123–149, bes. 137.139

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Kommentare zu den Liedern

Das ursprünglich achtstrophige Lied dichtete Petrus Herbert für ein von ihm herausgegebenes Gesangbuch der Böhmischen Brüderunität von 1566. Laut Vorwort lag dieses schon zwei Jahre früher fertig vor. Herbert hat es mit einer Delegation seiner Reformkirche 1566 Kaiser Maximilian II. als Druck überbracht und gewidmet. Das Lied entwirft eine Lehre von der Kirche aus der spezifischen Sicht der Unität: Kirche ist Gemeinde der von Christi Botschaft zum Glauben Erweckten. Ihre primäre Gestalt ist die an einem Ort um das Wort Gottes versammelte Schar. Aber zu ihr gehören alle vom Evangelium Erreichten und Ergriffenen, wo immer sie leben. Insofern ist sie universal. Ihre Glieder haben sich nicht aus eigener Initiative zusammengefunden, sie wurden zusammengerufen und zusammengeschlossen. Preis, Lob und Dank sei Gott, dem Herren, / der … sammelt draus zu seinen Ehren / sich eine ewge Kirch auf Erd, so beginnt die 1. Strophe. So erscheint Gott von Anfang als Baumeister der Kirche, seiner auserwählten Stadt, die darauf nur mit Vertrauen, mit Glauben also, antworten kann. Das Jerusalem der Endzeit (Offb 21) wird so zum Bild für die Versammlung der Christgläubigen. Hier ist Kirche am Ort wie auch weltweit nicht als durchorganisierte Hierarchie im Blick, sondern als überall und insgesamt allein aus Gottes Zuwendung und Leitung lebend. Gottes Zuwendung: Der seiner Menschen Jammer wehrt, hat ihre jammer-volle Gottferne in der hingebungs-vollen Menschlichkeit Christi überwunden, wenngleich noch immer Vieles dagegen spricht. Dafür steht Gottes auserwählte Stadt, in der er Menschen sammelt, denen schon das ewig Licht aufzugehen beginnt, darin wir Bürgerrecht gewinnen. Kirche verwirklicht sich für Herbert am Ort und im Nahbereich. Aber das schließt ja nicht aus, dass die Glaubenden sich als weltweite Gemeinschaft erkennen und darauf einrichten. Dass diese Sicht von der Basis aus in der katholischen Kirche seiner Zeit und seines Landes von Amts wegen nicht geteilt wurde, war Petrus Herbert wohl bewusst. Dennoch bringt er sie ganz unbekümmert zur Sprache. Kaiser Maximilian II. galt als stiller Sympathisant der Reformation, dies mag Herbert einkalkuliert haben, als er ihm mit dem Gesangbuch das Lied überreichte. Gott, der Herr ist in dieser 1. Strophe der Bau-Herr der Kirche als Gemeinde. Die im EG folgende Strophe beschreibt das Wirken des Heiligen Geistes. Dazwischen standen ursprünglich drei auf Christus ausgerichtete Strophen – die Kirche ist das Werk des dreieinigen Gottes. Die ausgefallenen Strophen entfalten das Bild von dem auf Christus gegründeten „Bauwerk Kirche“1: Die ist Gottes Ruhe und Wohnung, sein Tempel, Haus und Gemeinde, der Gläubigen Zahl und Versammlung, die auf Christus gründt alleine, ein Pfeiler und Grundfest der Wahrheit, darin behalten wird das Wort und besteht wider der Welt Bosheit, ja wider alle Höllenpfort.

1 Nach HEKG Sb, 318.

245 Preis, Lob und Dank sei Gott dem Herren

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Sie ist erbaut auf rechtem Grunde der Apostel und Propheten, das bezeugen mit gleichem Munde und rühmen all Auserwählten, von edlen lebendigen Steinen, gar schöner Perlen und Feingold, von Christi Fleisch und seim Gebeine, drin herrschet Glaub, Treu, Lieb und Huld. Nun lasst uns all den Bau ansehen: drin sind eitel neue Werkstück, dabei ist groß Wunder geschehen, Christus trug sie selbst auf seim Rück, fügt sie in einem Geist zusammen, durch ein’ Glauben, Tauf und Beruf: die Stadt heißt Friedgesicht mit Namen, auf dass man drin Einigkeit hoff.

In Str. 2 (orig.) wird die Gemeinde gesehen als Gottes Ruhe und Wohnung, die auf Christum gründt alleine, als Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit. Die Charakterisierung darin behalten wird das Wort / und besteht wider der Welt Bosheit,​/ ja wider alle Höllenpfort spielt u. a. auf Matthäus 16,18 an, akzentuiert dabei aber nicht das (Petrus-)Amt, sondern das Christus bekennende und verkündigende Wort. Originalstrophe 3 fügt als rechten Grund die Apostel und Propheten hinzu, dazu all Auserwählten als edle, lebendige Steine (vgl. 1. Petr 2,5). Das weckt die Vorstellung von einem stattlichen Prachtbau. Str. 4 (orig.) schließlich beschreibt Christus nicht mehr als Fundament, sondern als den Maurer, der eitel neue Werkstück versetzt und die Christen als Bausteine in einem Geist zusammenfügt. Daran schließt unmittelbar die heutige Str. 2 an (Str. 5 orig.). Gott ist nicht nur seiner Kirche Bauherr (Str. 1) und Bewohner (Str. 2 orig.), nicht nur – in Christus – Fundament (Str. 2 orig.), Baukörper (Str. 3 orig.: von Christi Fleisch und seim Gebeine) und Baumeister (Str. 4 orig.), sondern auch der Hausherr, der im Heiligen Geist das Regiment führt. Er setzt Mitarbeiter, Hüter und Wächter, ein: Die führn das Predigtamt darinnen / und zeigen an das ewig Licht. Nun doch wieder eine Hierarchie? Offenbar nicht, wenn sie sich – und die Gemeinde sie – als Beauftragte sehen, die in Gottes Namen Glauben, Lieb und Zuversicht (vgl. 1. Kor 13,13) vermitteln, durch die das Bürgerrecht in jenem Gemeinwesen gewonnen und ausgeübt wird. Spätestens hier ist auf die biblische Grundlage dieser Sicht von Gemeinde und Kirche einzugehen: So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist, auf welchem der ganze Bau ineinandergefügt wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn. Durch ihn werdet auch ihr mit erbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist (Eph 2,19–22). Diese Gedanken des Epheserbriefs bestimmen das ganze Lied. In der frühen kleinasiatischen Theologie, spätestens seit dem Epheserbrief, wurde das Bild von Gottes „Hausbau“ (oikodomé) zu einem Schlüsselbegriff. Die Böhmischen Brüder übernahmen ihn und verbanden ihn mit dem Gedanken einer Gemeinde Christi als Familie Gottes (familiaritas Dei). Insofern gerät Petrus Herberts Sicht auf die Kirche

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Kommentare zu den Liedern

so sympathisch unhierarchisch: Gott in Christus steht allein im Mittelpunkt. Bei näherem Hinhören werden wir indes gewahr: Gott sucht und beruft sich dafür seine Leute. Er bevollmächtigt Wächter (Hüter), die wachen stets, wie sich’s gebühret,​/ dass Gottes Haus sei unverletzt;​/ die führn das Predigtamt darinnen … Auch den Gedanken des Bürgerrechts hat Herbert vom Epheserbrief übernommen (vgl. ferner Phil 3,20). Da wird letztendlich nicht nur ein einzelnes Haus erbaut, sondern eine ganze Stadt (Str. 1,6) mit mündigen Bürgern. Herbert hat lutherische wie calvinistische Beziehungen gepflegt, beides hat seine Ekklesiologie beeinflusst. Die drei weiteren Strophen entfalten einige Aspekte des Lebens in Gottes Gemeine (Str. 5,1). Gottes Hausgenossen (vgl. Eph  2,19) sind inmitten einer Todesflut in Gottes Arche geborgen. Im Glauben nehmen sie Christi Lebenshingabe für sich an, was auch die eigene Lebenspraxis bestimmt (die recht in dieser Kirche wohnen; sind ihm auch willig untertan: Str. 3). Dass nur der Glaube / an Jesus Christus, unsern Herrn den Zugang schafft, bedeutet umgekehrt: Wer diesen Weg nicht geht, muss draußen bleiben,​/ solang er sich nicht will bekehrn (Str. 4). Wir sind mit solchen apodiktischen Sätzen gewiss zurückhaltender geworden, denn sie klingen nicht gerade tolerant und passen auch nicht für jede Situation. Andererseits muss deutlich bleiben, dass zur Kirche gehört, wer an Jesus Christus glaubt. Unsere Aufgabe ist, in unterschiedlichen Situationen und Konstellationen eine angemessene Sprache und den richtigen Ton zu finden. Das Lied schließt mit einem Zuspruch an Gottes Gemeine. Ihr wird  – aus Christi Wohltat, Füll und Gnad – das freudenreiche ewge Leben verheißen. Und die singende Gemeinde heute bittet: Das gib auch uns, Herr unser Gott! (Str. 5) Noch eine Nachbemerkung zum ökumenischen Aspekt des Liedes: Ist es etwa zu sehr auf die Gemeinde hier und jetzt beschränkt? Bleibt die weltweite und zeitenumspannende Christenheit außer Sichtweite? Nein, es ist ja die ewge Kirch auf Erd, die allezeit auf ihn vertrauet (Str. 1); sie wird erhalten in der Zeit und in Ewigkeit gesegnet (Str. 5). Nur bleibt für Petrus Herbert und für die Böhmischen Brüder die Kirche vom Gedanken der Gemeinde und der in ihr versammelten Menschen her bestimmt. Die Strophenreduktionen in neueren Gesangbüchern ebenso wie deren Textänderungen in den verbleibenden Strophen haben inhaltlich-sprachliche wie auch musikalisch-metrische Gründe. Herbert hatte die Melodie aus dem Genfer Psalter seinem Text angeglichen und in eine stollige Form gebracht.2 Die heutige Textfassung wurde ihrerseits der ursprünglichen Genfer Melodie adaptiert. Jetzt passen beide  – auch in dem zuversichtlichen Grundton – gut zueinander. Das EG verweist zur Melodie auf EG 294 Nun saget Dank und lobt den Herren, die deutsche Fassung von Psalm 118 des Genfer Psalters mit der Melodie von Guillaume Franc und Loys Bourgeois. Diese Melodie finden wir im EG mit fünf verschiedenen Liedtexten verbunden. Sie wurde bei EG 294 bereits ausführlich besprochen.3  2 DKL III.1.3 Eg 173. 3 HEG III, H. 16, 19.

Joachim Stalmann

265 Nun singe Lob, du Christenheit

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265 Nun singe Lob, du Christenheit EG 265ö  GL2 487ö  CG 829ö  EM 414ö Text

Verfasser Georg Thurmair Entstehung Entstanden auf Wunsch des Bischofs Leiprecht von Rottenburg für den Katholikentag in Stuttgart 1964 Quellen (a) 80. Deutscher Katholikentag in Stuttgart. 2.–6. September 1964. Programm * (b) KIRCHENLIED: EINE AUSLESE GEISTLICHER LIEDER. ZWEITER TEIL (Josef Diewald, Adolf Lohmann, Georg Thurmair), Freiburg im Breisgau 1967 * (c) Singe, Christenheit! Lieder für das gemeinsame Gotteslob (Samuel Rothenberg, Georg Thurmair), Freiburg im Breisgau 1969 Überschrift (a)  Lied zum Katholikentag (zu Nun singe Lob, du Christen-

heit) Besonderes Das Lied wurde ursprünglich in zwei Teilen veröffentlicht, vgl. Kommentar und Abweichungen Strophenbau A8/4a A6/3b A8/4a A6/3b ‚Chevy Chase-Strophe‘ vgl. Frank 4.34 Abweichungen (a+b) Nun singe Lob, du Christenheit (Str. 1–2) und Nun singe Lob, Jerusalem (Str. 7–9) ergeben zusammen die Strophen 1–5 von EG 265: 1,2 Gott Vater; 1,3 allerort; 2,4 der Einheit Kraft; 3,1 wie Brüder sein * (c) 1,2 Gott Vater; 1,3 allerort; 2,4 der Einheit Kraft; nach 2: 3. Der gnädig uns als Volk erkannt; 3,1 wie Brüder sein; * GL2: 1,3 allerort Verbindung TM (a–c) wie EG

Melodie

s. Nun danket all und bringet Ehr (EG 322) Literatur

HEG II, 325 f ** WGL1 VII, 249 f; RGL1, 776; ThustB, 247 f (Neufassung Ingelheim 2016, 227); ThustL I, 463 f ** Meyer (21997) 295 f ** Kretzer, Armin / Grabner-Haider, Anton: Nun singe Lob, du Christenheit (Gotteslob Nr. 638), in: Paul Nordhues / Alois Wagner,

Predigten zum Gotteslob, Bd. 2, Graz / Wien /  Köln 1977, 164–167 * Fillmann, Elisabeth: Nun singe Lob, du Christenheit, in: Ansgar Franz / Hermann Kurzke / Christiane Schäfer, Die Lieder des Gotteslob. Geschichte – Liturgie – Kultur, Stuttgart 2017, 861–863

Es ist unüberhörbar und augenfällig: Georg Thurmairs Nun singe Lob hat bekannte Quellen. Das evangelische Basismodell Nun danket all und bringet Ehr (EG 322) hatten er und die weiteren Herausgeber 1938 über die Sammlung „Kirchenlied“ in den katholischen Gesichtskreis gebracht. Ganz bewusst hat Georg Thurmair nicht nur die Melodie von Johann Crüger übernommen, sondern sich auch sprachlich von Paul Gerhardt für sein Lied anregen lassen. Er verstand sein eigenes Lied als Ergänzung.1

1 WGL1 VII, 249.

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Kommentare zu den Liedern

Thurmairs weitere Erinnerungen daran, wie es für den Katholikentag 1964 geschaffen und gebraucht wurde,2 sind mit den Erstdrucken im Textheft und dem Veranstaltungsprogramm abzugleichen, um die Entstehungszusammenhänge abzubilden. Für die Bedürfnisse von Großgottesdiensten wurde ein längeres Lied gebraucht und vom Rottenburger Bischof in Auftrag gegeben, in dessen Diözese Stuttgart, der Ort des Katholikentags, lag. Im Programm- und Textheft für den Katholikentag3 erscheint Nun singe Lob in zwei Teilen: zwölf Strophen mit dem Eingangsvers Nun singe Lob, Jerusalem und sechs Strophen mit dem Initium Nun singe Lob, du Christenheit. Nun singe Lob, du Christenheit ist im Textteil des Programmhefts als „Lied zum Katholikentag“ „für den Katholikentag verfasst von Georg Thurmair“ über- und unterschrieben. Es ist im gedruckten Programmverlauf als „Katholikentagslied“ an mehreren Stellen angesetzt: bei der Eröffnungsveranstaltung mit zwei Strophen und der Schlussveranstaltung mit allen Strophen. Nun singe Lob, Jerusalem wurde bei zwei Eucharistiefeiern als Lied während der Kommunionausteilung gesungen, wo tatsächlich viele Strophen nötig waren. Unter Nr. 13, Nun singe Lob, Jerusalem, steht als Quellenangabe: „Aus ‚Kirchenlied‘ II. Teil“, obwohl der II. Teil noch gar nicht erschienen war. Auch die von Thurmair 1964 bereits vorbereitete, 1967 erschienene Sammlung „Kirchenlied II“ enthält den längeren Ursprungstext des später kondensierten Liedes unter zwei verschiedenen Nummern4; eine Strophe ist ausgelassen. Die zusammengezogene Form erscheint zum ersten Mal im ökumenischen Liederbuchprojekt von Friedrich ­Samuel Rothenberg und Georg Thurmair „Singe, Christenheit“ (1969), dort noch sechsstrophig. Die folgende Gegenüberstellung dokumentiert den Prozess: Nun singe Lob, du Christenheit

Nun singe Lob, Jerusalem

1 Nun singe Lob, du Christenheit, Gott Vater, Sohn und Geist, der allerort und allezeit sich gütig uns erweist.  (vgl. Str. 1, EG)

1 Nun singe Lob, Jerusalem, Lob Deinem Gott und Herrn, der Speise gab, wie ehedem, aus besten Weizens Kern.

2 Der Frieden uns und Freude gibt, den Geist der Heiligkeit; der uns als seine Kirche liebt, der Einheit Kraft verleiht.  (vgl. Str. 2, EG)

2 Der uns erlöste durch das Wort, Erbarmen uns gewährt, in Christus Jesus fort und fort uns wunderbar ernährt.

3 Herr hilf uns, daß wir treulich tun, was uns der Glaube lehrt, daß wir nicht müßig sind und ruhn, bis alle Welt Dich ehrt.

3 Sein wahrer Leib ward uns zuteil als Seines Todes Pfand, als seiner Auferstehung Heil, als Seines Friedens Band.

2 Vgl. Meyer 21997, 290–299.295 f. 3 80. Deutscher Katholikentag in Stuttgart 2.–6. September 1964. Programm (Umschlagtitel: Wandelt euch durch ein neues Denken), hg. vom Lokalkomitee des 80. Deutschen Katholikentages in Stuttgart, Stuttgart (1964), 94 und 98 f, Text Nr. 2 und Nr. 13. Zur Verwendung im Programm s. die Seiten 16, 17, 48 und 50. 4 Kirchenlied. Eine Auslese geistlicher Lieder. Zweiter Teil, Freiburg i. Br. 1967, Nr. 73 u. Nr. 137.

265 Nun singe Lob, du Christenheit 4 Laß uns erkennen, was Dir dient, Dein sehnliches Gebot; was wir den Brüdern schuldig sind in der Zerstreuung Not.  (nicht KL II)

4 Er machte Seine Liebe kund, gab sich im Brot und Wein, in Seines Blutes Neuem Bund mit allen eins zu sein.

5 Daß wir uns wandeln, wie Dein Geist uns will in dieser Zeit, und handeln, wie Dein Wort uns heißt zum Heil der Christenheit.

5 Der mit dem Vater eins sich weist, als einer Sonne Schein; Er will auch uns durch Seinen Geist der einen Wahrheit weihn.

6 Bis alle Welt Dich, Herr, erkennt, vom Vater uns gesandt, mit Freuden deinen Namen nennt, in dem uns Heil erstand!

6 Der gnädig uns als Volk erkannt, zum Erbe uns erwählt, der Seinen Himmel ausgespannt als Seines Friedens Zelt. (Str. 3, „Singe, Christenheit“)

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7 Er lasse uns wie Brüder sein, der Eintracht uns erfreun, als seiner Liebe Widerschein die Christenheit erneun.  (vgl. Str. 3, EG) 8 Du guter Hirt, Herr Jesus Christ, steh’ Deiner Kirche bei, dass über allem, was da ist, ein Herr, ein Glaube sei.  (Str. 4, EG) 9 Herr, mache uns im Glauben treu und in der Wahrheit frei, dass unsre Liebe immer neu der Einheit Zeugnis sei.  (Str. 5, EG) 10 Maria, Mutter unsres Herrn, der herzlich wir vertraun, laß uns und alle, die noch fern, das Heil der Einheit schaun! 11 Ihr Freunde Gottes, steht uns bei, zu tilgen, was uns trennt, daß bald ein Volk, ein Hirte sei nach Jesu Testament, 12 daß alle wie aus einem Mund in Zeit und Ewigkeit mit allen Engeln machen kund des Kreuzes Herrlichkeit!

Thurmair ging es um die Eucharistiefeier als Einheit stiftendes Element. In Nun singe Lob, Jerusalem gründet die Bitte um Einheit (Str. 7–9) in der materiellen Basis des Mahls (Weizen, ernährt, Brot und Wein, vgl. Str. 1, 2 und 4) und ihrer christologischen Deutung. Die Strophen sieben bis neun bilden die Strophen drei bis fünf des zusammengezogenen Liedes Nun singe Lob, du Christenheit in der heutigen Fassung.

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Kommentare zu den Liedern

Das offizielle Leitmotiv des Katholikentages 1964 hieß: „Wandelt euch durch ein neues Denken“ (vgl. Röm 12,2). In Str. 5 des damals Nun singe Lob, du Christenheit genannten Liedes kam dieses Motto deutlich vor: Daß wir uns wandeln, /… und handeln …; auch erneun (Str. 3 von EG 265) ist dem verwandt. Die ersten beiden Strophen dieses Liedes wurden zu den Eingangsstrophen des Liedes Nun singe Lob, du Christenheit in seiner jetzigen Gestalt. Das Lied in der so entstandenen Form wird mit der Aufforderung zum Lob Gottes eröffnet: Nun singe Lob. Die angesprochenen Adressaten sind Christenheit und Kirche (Str. 2), also auch die singende Gemeinde, repräsentiert im Pronomen uns. Zeile 1,3–2,4 nennen den Grund des an Vater, Sohn und Geist gerichteten Lobs: die verlässliche Güte Gottes, das Geschenk von Frieden und Freude und des Geistes der Heiligkeit. Im Hintergrund steht der Epheserbrief: Ertragt einer den andern in Liebe und seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens (4,2 f; vgl. auch den Tugendkatalog Gal 5,22). Die zweite Strophe richtet den Blick aus auf Gott; er ist es, der uns als seine Kirche liebt und ihr Einigkeit verleiht. Gott, nicht wir, begründet die Ökumene. In der dritten Strophe geht das Lied folgerichtig in die Bittform über, wenn es um die völlige Realisierung der Einigkeit geht: Er lasse uns Geschwister sein, der Eintracht uns erfreun. Geschwister können (nach Ps 133,1) einträchtig beieinander wohnen. Es ist die Liebe Gottes, die dieses Modell des wohltuenden Zusammenlebens vorprägt. Die von Gott verliehene Einigkeit kann in der geschwisterlichen Eintracht auch in noch unvollständiger Form konkret gelebt werden. Wo Gott das gewährt, erneuert sich durch uns die Christenheit. Mit der vierten Strophe wendet sich das Lied in ein direktes Gebet an Christus. Der gute Hirt wird um Beistand für seine Kirche gebeten, damit sie sich durch den einen Glauben auf den einen Herrn bezieht. In den Worten über allem, was da ist kann man die Kirche in ihren verschiedenen Gestalten benannt sehen. Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater aller, der da ist über allen proklamiert der Epheserbrief (4,5–6a), und durch die Anspielung werden die Singenden vielleicht auch an die Taufe als das verbindende Sakrament erinnert. Die fünfte Strophe fügt den Aspekt der Zeugenschaft vor der Welt hinzu. Um Glaubenstreue und die frei machende Wahrheit (Joh 8,32) wird gebetet. Sie sind die Grundlage dafür, dass wir, die Christenheit, mit unsrer Liebe Zeugnis der Einheit ablegen. Unsre Liebe und die Einheit kommen jedoch nicht aus uns selbst, sondern sind der Widerschein (Str. 3) der Liebe Gottes, mit der er seine Kirche liebt und eint (Str. 2). Im Heft „Singe, Christenheit“ hatte das Lied sechs Strophen. Das Ausscheiden der 3. Strophe (Str. 6 in der rechten Tabellenspalte)  dürfte seinen Grund im christlichjüdischen Dialog haben. Die Strophe schließt das Missverständnis nicht aus, als habe die Christenheit Israel als Gottes Volk und Erbe abgelöst. Fünfstrophig hat die Arbeitsgemeinschaft für Ökumenisches Liedgut (vermutlich 1991) das Lied aufgenommen. En passant wurde aus wie Brüder in Str. 3 Geschwister, so dass die Einheit auch die Frauen einschließt. In dieser Fassung wurde das Lied in das EG und das Gotteslob von 2013 übernommen. 

Elisabeth Fillmann

296 Ich heb mein Augen sehnlich auf

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296 Ich heb mein Augen sehnlich auf EG 296  EM 78 Text

Verfasser Cornelius Becker Entstehung 1602 Vorlage Ps 121 Quelle Der Psalter Dauids Gesangweis (Cornelius Becker), Leipzig 1602 (DKL 160202)1 Überschrift Der CXXI. Psalm. Der Hüter Israel schlefft nicht. [zwei sechszeilige Strophen als Summa:] ZV Tag zu Nacht helt Gott die Wach / Verhütet allen schaden / Schafft ruh vnd rast / Des Creutzes last Wendet Er ab in Gnaden. [2.] Harr nur des HERRN / Er wird dich gwern Vnd dir sein hülff beweisen. Das du sein Gnad Vnd groß wolthat In ewigkeit wirst preisen. Ein Lied im höhern Chor. Im Thon: Wenn wir in höchsten nöthen sein Ausgabe

W V,614 Besonderes Psalmlied wird durch Summa in den Kontext von Mt  11,29 f gestellt (vgl. HEKG I/2,309) Strophenbau A8/4a A8/4a A8/4b A8/4b vgl. Frank 4.58 Abweichungen 1,3 Wenn mir […] vons Himmelsthron; 2,4 er helt vber vns hut und; 8,2 zu Weg und Steg gesund dich spar; 8,3 zu Haus * EM: ohne die Strophen 6 und 7 Verbindung TM in Q ohne N, die Tonangabe in der Überschrift verweist vermutlich auf die noch heute verwendete Melodie (EG 366) * eigene Melodien: Z I,542a (Schütz 1628), 542b (Schütz 1661); weitere s. Kommentar

Melodie

s. Wenn wir in höchsten Nöten sein (EG 366) Literatur

HEKG (Nr. 191) I/2, 309; III/2, 35 f; Sb 295 f; HEG II, 33 f ** ThustB, 266 (Neufassung Ingelheim 2016, 246); ThustL II, 57–59 ** KLL (1878–1886) I, 340 ** Rössler, Martin: Bibliographie der deutschen Liedpredigt, Nieuwkoop 1976, 257 * Schott, Christian-Erd-

mann: Der Glaube an die Führung Gottes im Evangelischen Kirchengesangbuch, JLH 23 (1979) 159–170 (bes. 163–165) * Scheffbuch, Beate und Winrich: Dennoch fröhlich singen. So entstanden bekannte Lieder (Bd. 2), Holzgerlingen 22001, 225–232 (bes. 231 f )

Cornelius Becker hat 1602 seinen kompletten deutschen Reimpsalter veröffentlicht, um dem beginnenden Siegeszug des reformierten französischen Psalters in der Übertragung von Ambrosius Lobwasser eine genuin lutherische Dichtung entgegenzusetzen und „dem hochschädlichen Calvinismus“2 den Weg zu versperren. Wohl bestanden in der Psalmenhermeneutik der beiden reformatorischen Hauptrichtungen Unterschiede, indem die Lutheraner die christologische Psalmeninterpretation bereits im nachgedichteten Text selbst unterbrachten, die Calvinisten jedoch möglichst nahe am biblischen Wortlaut blie 1 Digitalisat: Bayerische Staatsbibliothek. 2 Cornelius Becker, Der Psalter Dauids Gesangweis, Leipzig 1602, DKL 160202.

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Kommentare zu den Liedern

ben. Darüber hinaus ging es aber in dem sich verschärfenden Konfessionalismus darum, die eigene Position bis in die kirchliche und liturgische Praxis deutlich zu machen, dies in expliziter Abgrenzung von der anderen Seite. In der vorliegenden Nachdichtung von Psalm 121 ist die christologische Interpretation nicht zu erkennen und damit auch nicht eine inhaltliche Begründung, Lobwassers Übertragung Mein Augen ich gen Berg aufricht zu ersetzen. Hier ging es vielmehr um den Grundsatz des eigenen Psalmliederrepertoires. Luther 1545

Becker 1602

1 Ein Lied im höhern Chor. JCH HEBE MEINE AUGEN auff zu den Bergen / Von welchen mir Hülffe kompt.

1 JCh heb mein Augen sehnlich auff / Vnd seh die Berge hoch hinauff / Wenn mir mein Gott vons Himmels thron Mit seiner hülf zu staten kom.

2 Meine Hülffe kompt vom HERRN /

2 Mein hülffe kompt mir von dem Herrn / Er hilfft vns ja von hertzen gern / Himmel vnd Erd hat Er gemacht / Er helt vber vns hut vnd wacht.

Der Himel vnd Erden gemacht hat.

3 Er wird deinen fus nicht gleitten lassen / Vnd der dich behütet / schlefft nicht. 4 Sihe / der Hüter Jsrael / Schlefft noch schlumet nicht.

5 Der HERR behütet dich / Der HERR ist dein Schatten vber deiner rechten hand.

3 Er führet dich auff rechter Ban / Wird deinen Fuß nicht gleitten lan. / Setz nutz [!] auff Gott dein zuuersicht / Der dich behütet schleffet nicht. 4 Der trewe Hüter Israel Bewaret dir dein Leib vnd Seel / Er schlefft nicht weder tag noch nacht / Wird auch nicht müde von der wach. 5 Für allem vnfall gnediglich Der fromme Gott behütet dich / Vnter dem schatten seiner Gnad Bistu gesichert frü vnd spat.

6 Das dich des tages die Sonne nicht steche / noch der Mond des nachts.

6 Der Sonnen hitz / des Mondes schein / Sollen dir nicht beschwerlich sein / Gott wendet alle trübsal schwer Zu deinem nutz / vnd seiner Ehr.

7 Der HERR behüte dich fur allem Vbel / Er behüte deine Seele.

7 Kein vbels muß begegnen dir / Des HErren schutz ist gut dafür / In Gnad bewart er deine Seel Für allem leid vnd vngefell.

8 Der HERR behüte deinen ausgang vnd eingang / Von nun an bis in ewigkeit.

8 Der HErr deinn Außgang stets bewar / Zu Weg vnd Steg gesund dich spar / Bring dich zu hauß in seim Geleit / Von nu an biß in ewigkeit.

Becker hat aus jedem der acht Psalmverse eine ganze Strophe gemacht. Auch wenn die Strophen kurz sind, bedeutet dies eine massive Ausweitung des Textes, verglichen mit dem notorisch knappen Hebräischen silbenmäßig um mehr als das Doppelte, aber auch

296 Ich heb mein Augen sehnlich auf

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gegenüber dem Luthertext noch in bedeutendem Ausmaß. Diese Füllungen sind nicht unproblematisch; meist bestehen sie aus gängigen Formeln, wie sie aus anderen Lieddichtungen bekannt sind, manchmal sind es Entlehnungen aus anderen Psalmen. Dabei ist es nicht zu vermeiden, dass sie die Stoßrichtung des Psalms da und dort verändern. Dies wird gleich in der ersten Strophe deutlich. Durch die Nennung Gottes in der dritten Zeile wird die bange Frage des Psalms – für die wohl das Wort „ängstlich“ zutreffender wäre als Beckers sehnlich – entschärft: Dass die Hilfe von Gott kommt, ist bereits vorausgesetzt, die Frage ist nur, wann sie kommen wird. Inkonsequent ist danach, dass die zweite Strophe auf die zwar im Psalm, nicht aber im Lied gestellte Frage antwortet, woher die Hilfe kommen soll: von dem Herrn. Zweite und vierte Zeile dieser Strophe sind Erweiterungen, die an dieser Stelle im Psalm keinen Anhalt haben; die vierte Zeile nimmt verdoppelnd den Gedanken von Vers bzw. Strophe 4 voraus. Strophe 3 ist mit Zitaten aus anderen Psalmen angereichert, zunächst mit Vers 3 aus Psalm 23, dann mit dem Anklang an verschiedene Psalmverse, so Psalm 46,2. Strophe 4 ist aufgefüllt durch eine Vorausnahme aus Vers bzw. Strophe 7. Aus der Seel wird hier Leib und Seel, zunächst ein formelhaftes Wortpaar, aber – vielleicht unbewusst – dem hebräischen nafschächa (V. 7) näher, von Luther mit Seele übersetzt, aber umfassender mit „Leben“ wiederzugeben. Zur genannten Formel tritt in Z. 3 eine weitere, ebenfalls in sich komplementäre Formel Tag und Nacht in Anklang an Vers bzw. Str. 6. Strophe 5 greift das Bild des Schattens auf, nimmt ihm aber seine poetische Offenheit durch den deutenden Zusatz seiner Gnad. Verloren ist auch die Vorstellung, dass Gott der Schatten über deiner rechten Hand ist, zugunsten einer weit allgemeineren Formulierung, zusammengesetzt aus Textbausteinen des Liedrepertoires. Ebenso abgeschwächt ist das „Stechen“ von Sonne und Mond in Str. 6. Gerade des Mondes Schein wäre ja sonst eher positiv konnotiert und nimmt den vielleicht im Psalm mitgedachten Hintergrund des Unheimlichen nicht auf. Frei hinzugefügt ist die zweite Hälfte dieser Strophe. Strophe 7 ergänzt wie schon Strophe 5 die Gnad. Im Alten Testament gibt es zwar viele Stellen, die bei Luther mit „Gnade“ übersetzt werden, jedoch nicht in diesem Psalm. Vielleicht ist hier im Eintrag des Begriffs eine implizite christologische Interpretation zu erkennen, weil auf dem Hintergrund reformatorischer Theologie „sola gratia“ und „solus Christus“ – „aus Gnade allein“ und „Christus allein“ – unlösbar zusammengehören. Die schöne komplementäre Doppelformel in Luthers Übersetzung Ausgang und Eingang hat Becker nicht übernehmen können; ihr zweiter Bestandteil ist in Z. 3 in die Umschreibung nach Haus eingegangen. Wiederum war Füllmaterial nötig, hier in der zweiten Zeile eine ausformulierte Doppelung des Übels aus Str. 7. Die Bilanz der großen quantitativen Ausweitung der Vorlage muss zwiespältig ausfallen. Auf der einen Seite steht der Verlust der Knappheit, der Dichte und der poetischen Offenheit des Psalmtextes, auf der anderen Seite fehlt im Grunde der inhaltliche Mehrwert, der durch den zusätzlichen Text erzeugt werden könnte. Beckers Texte waren offenbar schon im 17. Jh. ihrer poetischen Qualität nach nicht unbestritten. Heinrich Schütz berichtet davon im Vorwort zur zweiten Ausgabe seiner Vertonungen 1661, räumt dann aber ein, dass in Kirchenliedtexten der geistliche Gehalt Vorrang habe.3 Es 3 Vorrede an den Leser in der Ausgabe 1661, hg. von Walter Blankenburg, Kassel 1957, S. IX.

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Kommentare zu den Liedern

darf wohl vermutet werden, dass heute niemand auf die Idee käme, einen solchen Text in ein Gesangbuch aufzunehmen, wenn er sich nicht durch eine gewisse Tradition seinen Platz erworben hätte. Die Melodie selbst ist andernorts kommentiert.4 Hier ist auf die Melodiezuweisung einzugehen. Becker selbst hat die auch heute verwendete Melodie von Wenn wir in höchsten Nöten sein vorgeschlagen. Heinrich Schütz hat in seinem Psalter von 1628 eine eigene Melodie geschaffen, wie auch sonst zu den meisten Becker-Texten. Er wollte bekanntlich nicht, dass die Texte „gleichsam mit geborgeter Kleidung“5 daherkämen. Seine Melodie ist von Rhythmus, Führung und Lage her sehr anspruchsvoll, so anspruchsvoll, dass er sie in der zweiten Ausgabe des Psalters 1661 etwas vereinfacht hat. Zwar wurde die eine oder die andere der Schütz-Melodien in der Folge in einige Gesangbücher übernommen, so von Johann Crüger in seine „Praxis Pietatis Melica“ ab 1649 oder vom Dresdner Gesangbuch 1694.6 Aber auch Beckers Melodiewahl scheint nicht alle Gesangbuchverantwortlichen überzeugt zu haben; das häufig vorkommende Strophenmaß lädt ja geradezu zum Melodiewechsel ein. So wählt das Brandenburger Gesangbuch von 18847 Herr Jesu Christ, dich zu uns wend (unter dem Rubrikentitel „Reiselied“), das Altmärkische und Prignitzische Gesangbuch 18868 O Jesu Christ, meins Lebens Licht; beide Melodien wären, in heutigem Tempo gesungen, zweifellos zu munter für den Text. Das Gesangbuch für Brandenburg und Pommern greift auf Schütz zurück, und zwar mit der Fassung von 1661.9 Das Lied steht dort im Regionalteil, der an den Stammteil des DEG angeschlossen ist. Bemerkenswert ist hier die Einordnung des Liedes in die Rubrik „Haus und Beruf“. Beckers Melodiezuweisung ist durch das EKG 1950 wieder aufgenommen worden. 

Andreas Marti

4 Kommentar von Martin Rößler zu Wenn wir in höchsten Nöten sein, EG 366, HEG III, H. 15, 40 f. 5 Heinrich Schütz, Widmungsvorrede 1628, 3. Faks in der Schütz-Ausgabe Bd. 40, Kassel 1988, S. XVII. 6 Angaben bei Z I,542a/b. Johann Crüger, Praxis Pietatis Melica, Editio X, 1661, hg. von Hans-Otto Korth und Wolfgang Miersemann unter Mitarbeit von Maik Richter, Bd. 1 und 2, Halle 2014/2015, Nr. 413. 7 Berlin 1884. 8 Salzwedel 1886, Nr. 906. 9 Berlin 1931.

298 Wenn der Herr einst die Gefangnen

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298 Wenn der Herr einst die Gefangnen EG 298 EM 673 Text

Verfasser Samuel Gottlieb Bürde Vorlage Ps 126 Quelle Geistliche Poesieen (S. G. Bürde), Breslau 17871 Überschrift XXVI. Sehnsucht nach der Freiheit der Kinder Gottes (nach Psalm 126.)

Strophenbau 8/4a- 7/4b, 8/4a- 7/4b, 7/4c 7/4c 8/4d- 8/4d- vgl. Frank 8.25 Abweichungen 2,2 gib uns einen Vaterblick * EM: ohne Str. 2 Verbindung TM in der Q ohne M

Melodie

s. Freu dich sehr, o meine Seele (EG 524) Literatur

HEG II, 57 f * ThustB 268 (Neufassung Ingelheim 2016, 247); ThustL II, 61 f ** Koch (31866–1877) VI, 321 ** Gitschmann, Ger-

hard: Samuel Gottlieb Bürde, Diss. phil. Breslau 1941, 45–66

Der Dichter hat seine geistlichen Lieder sowohl für den „Gebrauch beim öffentlichen Gottesdienste“ als auch zur „gemeinschaftlichen häuslichen Erbauung“ und für die „ganz einsame Andacht, die jedem Christen der reinste Freudengenuß seyn sollte“, bestimmt. Dabei sollte „ein ungekünstelter Gesang, ohne jene widrige und unehrerbietige Anstren­ gung der Stimme, die alles Gefühl betäubt, allenfalls von einer einfachen Instrumentalbegleitung unterstützt“, sich als „wirksames Mittel zur Rührung und Erbauung des Herzens“ erweisen.2 Die musikalische Gestaltung sollte nicht artifiziell oder virtuos sein. Die Kunstfertigkeiten der Kantatenpraxis werden für unangemessen gehalten. Sie sind „schwerfällige, ausdruckslose Kirchenkompositionen, die den Mangel wahrer Erhabenheit und Würde durch einen gewissen pedantisch-künstlichen Schwulst zu ersetzen suchen.“3 Die instrumentale Begleitung der Kirchenlieder soll „allenfalls“ – das heißt: sofern überhaupt nötig – einfach und dienend den Gesang unterstützen. Dieses Programm liest sich zunächst wie ein kirchenmusikalisches Aufklärungsmanifest, wobei die private Erbauung in „ganz einsamer Andacht“ im Vordergrund steht. Damit aber ist auch eine Verbindung zu pietistischer Frömmigkeit gegeben. Bürdes „religiöses Weltbild beruht demnach auf einem eigenartigen Kompromiß zwischen einer durch pietistische Elemente verinner-

1 Digitalisat: Bayerische Staatsbibliothek. 2 Vorbericht zu den Geistlichen Poesieen S. V–VI. 3 Vorbericht S. X.

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Kommentare zu den Liedern

lichten Orthodoxie als dem entscheidenden Faktor und Wesenszügen der Aufklärung.“4 Dazu kommt noch ein weiterer Aspekt. Der Text Bürdes geht von Luthers Übersetzung des Psalms 126 aus und verbindet innige Frömmigkeit mit vorsichtigen Anspielungen auf die vorrevolutionäre Situation seiner eigenen Zeit, denn der Dichter hat als hoher Staatsbeamter eine enge Beziehung zur Politik gehabt. Strophe 1: Bürde ergänzt den Psalmvers durch das Wörtchen einst und unterstreicht damit, dass er von der Zukunft spricht und die Befreiung als eschatologisches Ereignis versteht. Im Psalm geht es um die Heimkehr der Judäer aus der babylonischen Gefangenschaft, und die wird als ein Ereignis in diesem Leben ersehnt, aber schon früh auch eschatologisch verstanden. Der Dichter spricht außerdem nicht von den Gefangenen Zions wie der Psalm, sondern allgemein von Gefangenen, die in Banden liegen. Er erweitert damit den religiösen Kontext ins Allgemeine oder gar ins Politische. Während der Psalm von einem guten und tröstenden Traum handelt, ist der Traum bei Bürde wegen der fehlenden Freiheit ein böser nächtlicher Traum, der am Morgen verschwindet. Im Psalm ist zwar nicht von Freiheit die Rede,5 aber sie kann als das Stichwort der ganzen Generation Bürdes gelten. Dass sich die Herzen freuen werden und der Mund voll Lachens sein wird, genügt dem Dichter nicht. Er steigert in den beiden Schlussversen noch die emotionale Temperatur, wenn er sagt: Jauchzend werden wir erheben / den, der Freiheit uns gegeben. Hier klingt bereits die Begeisterung des Marquis Posa in Don Carlos an: „Ein Federzug von dieser Hand, und neu erschaffen wird die Erde. Geben Sie Gedankenfreiheit.“6 Strophe 2: Die rechte Hand des Höchsten bietet väterlichen Schutz (Ps 18,33–37; 118,15–18). Dass Gott wie ein Vater auf uns blicken soll, erinnert an den aaronitischen Segen (der Herr erhebe sein Angesicht auf dich). Die verstoßenen Knechte, die bald ins Vaterland zurückkehren sollen, sind in Psalm 126 die in alle Welt versprengten Judäer. Exil oder Diaspora bedeutete für sie das Unglück, fern zu sein von Zion, und die Rückkehr in die Heimat war Glück und Heil. Jeremia 40,12: Da kehrten all die Judäer aus all den Orten, wohin sie versprengt waren, zurück (M. Buber). Das von Luther gebrauchte Wort „verstoßen“ meint, dass sich jemand von Gott abgelehnt fühlt (Ps 27,9 Verbirg dein Antlitz nicht vor mir, verstoße nicht im Zorn deinen Knecht). In zahlreichen geistlichen Texten anderer Dichter wird die religiöse Sprache benutzt, um politische Situationen zu deuten. Bei Bürde ist es anders: Seine Sprache dient ausschließlich dazu, den manchmal mühseligen und Geduld erfordernden Weg des Glaubens zu beschreiben. Das in der Zukunft erwartete Vaterland ist bei ihm identisch mit dem Frieden der stillen Hütten (Str. 2,8), und das lässt wieder an den „reinsten Freudengenuss“ der „ganz einsamen Andacht“ denken. Strophe 3: Was im Psalm als Hoffnung in diesem Leben beschrieben wird, die Saat unter Tränen und die Ernte mit Freuden, wird von Bürde konsequent ins Jenseits verlegt 4 Gitschmann, 54. 5 In Jes 61,1 wird den Gefangenen die zukünftige Freiheit verkündet. 6 Friedrich Schiller, Don Carlos, III. Akt, 10. Auftritt. – Das „dramatische Gedicht“ Don Carlos Infant von Spanien wurde im gleichen Jahr gedruckt und uraufgeführt, in dem Bürdes „Geistliche Poesieen“ erschienen sind: 1787.

298 Wenn der Herr einst die Gefangnen

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(Str. 3). Dort erst reift die Frucht der Leiden und weht des Sieges Palme. Die seelsorgerliche Komponente des Liedes findet dann ihr Zentrum in dem Satz, dass am Ende aller Tage Gott selbst der Lohn für alle Leiden und für die bestandene Prüfungszeit sein wird. Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn (Röm 14,8). Alle drei Strophen sprechen von der Zukunft, sie haben eschatologischen Charakter und heben sich dadurch vom üblichen Aufklärungsoptimismus ab. Bürdes Sprachmittel sind allerdings vielfach die der Aufklärung, z. B. die Substantiv-Verbindungen Vaterblick (Str. 2,2), Prüfungszeit (Str. 2,6) oder die das Gefühl verstärkenden Ausrufe O (Str. 1,3) und Ach (Str. 2,5) und die Wortverdoppelung Er, er (Str. 3,6). Trotz dieser Verwendung poetischer Mittel der Aufklärung hält Bürde treu an der pietistischen Frömmigkeit und der protestantischen Orthodoxie fest.7 Die Rezeption des Liedes wirft ein Licht auf die Situation der Erweckungsbewegung in Deutschland und Nordamerika. Die „Stillen im Lande“ (Ps 35,20) sahen sich von Bürdes Gedanken ebenso bestätigt wie die lutherischen Rechtgläubigen und die Anhänger einer gemäßigten Aufklärung. Das in seiner Zeit neu erwachte Freiheitsstreben fühlte sich ebenfalls in dem Lied verstanden. Dabei ist zu bedenken, dass Bürde in seiner Überschrift zwar die Sehnsucht nach Freiheit zur Sprache bringt, sie aber religiös eingrenzt, indem er sie als „Freiheit der Kinder Gottes“ (vgl. Röm 8,21) versteht. Das Lied wurde auf drei verschiedene Weisen verbreitet. Erstens mit der Angabe der Verfasserschaft Bürdes als Dichter des Liedes, so im Bremer Gesangbuch 1812 (Nr. 576) und im Hamburgischen Gesangbuch 1842 (Nr. 439) mit allen drei Strophen. Diese Version scheint auf die Kenntnis der geistlichen Poesie Bürdes, die gedruckt vorlag, zurückzugehen. Die zweite Weise ist der Verzicht auf die Nennung des Verfassers, ein typisch pietistisches Verfahren in Anlehnung an das Hallesche Gesangbuch von 1704, das von der Wittenberger theologischen Fakultät deswegen kritisiert wurde.8 In einem Begräbnisliederbuch aus Pennsylvania,9 dem Einwanderungsland radikaler Pietisten, wird vom dortigen reformierten Prediger Herrmann der gesamte Liedbestand ohne Autorennamen veröffentlicht, so auch das Lied Wenn der Herr einst die Gefangnen. Mit Johann Peter Langes „Kirchlicher Hymnologie“ und seinem „Deutschen Kirchenliederbuch“ 184310 öffnet sich ein dritter Weg, indem der Verfasser die Leerstelle des vermeintlich unbekannten Verfassers auffüllt durch die Zuschreibung der Verfasserschaft 7 Gitschmann, 59. 8 „Wir befinden III. daß man so wohl bey denen alten / alß neuen / Liedern die fast in allen Gesang-Büchern bekandt gemachte Nahmen hinweg gelassen: Es kan weder der Mangel des Platzes / noch eine andere Ursach / so viel wir penetriren können / verhindert haben / als daß man auf solche Art den Leser und Singer in eine Ungewisheit setzen wollen / welches alte oder neue Lieder seyn / umb mit der Zeit denen neuen verkehrten Liedern den Schein eines Alterthums zu wege zu bringen / und sie auf solche Art so zu sagen zu canonisiren. Es liegt in Warheit nicht wenig dran / daß man wisse / so wohl quid? als quis cecinerit?“ (Der Löblichen Theologischen Facultät zu Wittenberg Bedencken, 1716, 9). 9 C. G. Herrmann: Der Sänger am Grabe. Eine Auswahl Lieder zum Gebrauch bei Leichenbegängnissen; wie auch Trost-Lieder für Solche, die um geliebte Todte trauern, Kutztaun, Pa. 21845, Nr. 95. 10 J. P. Lange, Die kirchliche Hymnologie oder die Lehre vom Kirchengesang, theoretische Abtheilung, im Grundriß. Einleitung in das deutsche Kirchenliederbuch, Zürich 1843. – Ders.: Deutsches Kirchenliederbuch oder die Lehre vom Kirchengesang. Praktische Abtheilung, Zürich 1843, Nr. 565.

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Kommentare zu den Liedern

an den pietistischen Kirchenlieddichter Christian Heinrich Zeller (1779–1860). Dass diese Fehlinformation, die bereits im Württembergischen Gesangbuch11 enthalten war, ausgerechnet von einem versierten Hymnologen verbreitet wurde, hatte seine Gründe. Zeller war der Gründer der Armenschullehreranstalt und des „Rettungshauses“ auf Schloss Beuggen bei Rheinfelden. Dicht an der schweizerischen Grenze hatte Zeller in seiner pädagogischen Anstalt das anonyme Lied in Umlauf gebracht und damit die Vermutung begründet, es auch gedichtet zu haben. Obwohl er das selbst zurückgewiesen hat,12 wurde er weiter als Autor genannt. Die dadurch wieder gewonnene Angabe einer Verfasserschaft gab den Pietisten das Gefühl, das Lied sei von einem der Ihren gedichtet worden. Damit konnte die Erweckungsbewegung das Lied für sich reklamieren. So übernahmen verschiedene Gesangbücher13 die angebliche Verfasserschaft Zellers ebenso wie andere kirchliche Veröffentlichungen.14 In dem amerikanischen Lexikon Hymnary. org steht bis heute Zeller als Autor. Das Lied Bürdes wurde aus dem EKG-Anhang Württembergs übernommen und ist in seiner einfachen und zu Herzen gehenden Sprache ein Gewinn für das EG. Es könnte auch als Lied zum Ende des Kirchenjahres gesungen werden, was im Verzeichnis „Lieder und Gesänge“ des EG mit Recht vorgeschlagen wird. 

Wolfgang Herbst

11 Gesangbuch für die evangelische Kirche in Württemberg, Stuttgart 1842, unter „Trostlieder“ Nr. 490 Wann der Herr einst die Gefangnen. 12 Koch VII, 192. 13 Z. B. „Sammlung geistlicher Lieder für Gemeindegenossen der evangelisch-lutherischen Kirche“, Riga, Moskwa und Odessa 1846. – GB der Ev. Kirche, hg. von der ev. Synode von Nord-Amerika, 1908, 384. 14 Z. B. „Erbauungsblatt“ Jg. 12, Nr. 42, Ansbach 1847.

316/317 Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren

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316/317 Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren EG 316ö/317  GL2 392ö  RG 242(ö)  KG 524(ö)  CG 836(ö)+  EM 82(ö) Text

Verfasser Joachim Neander Vorlagen Ps 103,1; Ps  24,7–10 Quelle JOACHIMI NEANDRI Glaub- und Liebesübung. Auffgemuntert durch Einfältige Bundes=Lieder und Danck=Psalmen, Bremen 1680 (DKL 168009) Überschrift Der Lobende. Ps. CIII.1. Lobe den HErren meine Seele / und was in mir ist seinen heiligen Namen. Ausgaben Joachim Neander: Bundeslieder und Dankpsalmen von 1680. Historisch-praktische Ausgabe von Oskar Gottlieb Blarr, Köln 1984; Joachim Neander: Einfältige Bundeslieder und Dankpsalmen, hg. von Rudolf Mohr. Kleine Texte des Pietismus, Bd. 4, Leipzig 2002; Johann Anastasius Freylinghausen. Geistreiches Gesangbuch. Edition und Kommentar I/2, hg. von Dianne Marie McMullen und Wolfgang

Miersemann, Berlin / New York 2006, 700 Strophenbau 14/5a- 14/5a-, 4/2b 7/3b 8/3avgl. Frank 5.13 Abweichungen zu EG 316: 1,2 meine geliebete Seele, das ist mein Begehren; 1,5 lasset die Musicam, 2,4 immer gefällt; 4,1 der deinen Stand sichtbar gesegnet; 5,2 Alles, was Othem hat, lobe mit Abrahams Samen; 5,5 Lobende, schließe mit Amen * zu EG 317: 1,5 lasset die Musicam; 2,4 immer gefällt * RG, KG, CG: wie EG 316, aber 2,2 der wie auf Flügeln des Adlers * GL2 und EM: wie EG 316; Verbindung TM in der Q ohne N, aber mit Verweis auf das dort abgedruckte Lied Hastu dann Jesu dein Angesicht (= Z I,1912c), das als Vorlagefassung für die heutige Melodiefassung gelten kann

Melodie

Incipit 1_1_5_ 3_.21_-7_-6_-5_-6_-7_1_ 2__. 1__. Vorlagen Geistreiches Gesang-Buch Darinnen 347. mehrentheils neue außerlesene Geistund Krafftreiche Psalmen und Lieder, Stralsund 1665, S. 6531 zum Text HAst du denn Liebster dein Angesicht gäntzlich verborgen (FT I,569) Quelle Geist-reiches Gesang-Buch (Johann Anastasius Freylinghausen), Halle 1741 (DKL 174103)2 Ausgaben Z I,1912a (nach der Vorlage); Z I,1912c (nach der Textquelle, s. o.) Ambitus G: 9; Z: 8(8)246 Abweichungen mit Generalbass, 3/4-Takt; Ton höher (G-Dur);

Z. 1 (=2), N. 7–8 punktierte Viertel mit Achtel, N. 13–14 Halbe mit Viertel; Z. 4, N. 1–2 punktierte Viertel mit Achtel; Z. 5, N. 7–8 Halbe mit Viertel Verbindung MT wie EG; Text der Vorlage s. o.; weitere: Kömmst du nun, Jesu, vom Himmel herunter auf Erden (Kaspar Friedrich Nachtenhöfer 1667; FT IV,439); Jauchzet, ihr Himmel, frohlocket, ihr Engel, in Chören (Gerhard Tersteegen 1731; RG 404; auch Alternativvorschlag bei EG 41); Seht, er kommt, seht unsern Herrn nach Jerusalem reiten (Silja Walter 1995; KG 414)

1 Digitalisat: Universitätsbibliothek Greifswald – eine eigenständige Publikation, nicht ein zweiter Teil, wie in Z VI,627 und DKL 166510 angegeben. 2 Digitalisat: Bayerische Staatsbibliothek, München.

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Kommentare zu den Liedern

Literatur

HEKG I/2, 364 f; III/2, 154; Sb 359–363; HEG II, 223–225 ** WGL1 III, 87 f; RGL1, 647; ÖLK, Lfg. 2; ThustB, 280–282 (Neufassung Ingelheim 2016, 259  f ); ThustL II, 90–93 ** KLL (1878–1886) II, 36; B (1886–1911) III, 280 f; EEKM (1888–1895) II, 71–73; Erk-Böhme (1893–1894) III, 695; Bruppacher (1953) 53–55; RößlerL (22001) 554–594 ** Fornaçon, Siegfried: Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren, JLH 2 (1956) 130–133 * Rehm, Gottfried: Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren. Ein Loblied von „großer Festlichkeit“, MS 84 (1964) 298–302 * Blankenburg, Walter: Joachim Neander, MGD 34. Jg. (1980) 117–127 * Schumacher, Gerhard: Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren, III, Kontraste, MGD 35. Jg. (1981) 132–146 * Buschbeck, Reinhard: Lobe mit Abrahams Samen. Beobachtungen im Gesangbuch, in: Pietismus und Neuzeit 20 (1994) 212–217 * Ackermann, Helmut: Joachim Neander. Sein Leben. Seine Lieder. Sein Tal, Düsseldorf 1997 (21999 / 32005) * Martini, Britta: Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren. Einige sprachwissenschaftliche Aspekte der

Textanalyse, JLH 38 (1999) 242–252 * Henkys, Jürgen: Joachim Neanders „Lobe den Herren“ im Zusammenhang seiner Bundeslieder und Dankpsalmen, GAGF 38 (2000) 37–48 * Henkys, Jürgen: Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren, in: Wunderhorn (2001) 310–319 * Fischer, Michael: Lobe den Herren, den mächtigen König (2005), in: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL: http://www.liederlexikon. de * Goldschmidt, Stephan: Lobe den Herren, den mächtigen König EG 317, in: Arnold / Bresgott 2011, 155–158 * Rössler, Martin: „Lobe den Herren“  – das Lied eines Außenseiters wird zum Hit, in: Peter Bubmann / Konrad Klek (Hg.): Davon ich singen und sagen will. Die Evangelischen und ihre Lieder, Leipzig 2012, 103–118 * Hug, Wolfgang: Von der Poesie des Glaubens. Ökumenische Liederkunde, Freiburg 2016, 45–48 * Liebig, Elke / Kurzke, Hermann: Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren, in: Ansgar Franz / Hermann Kurzke / Christiane Schäfer, Die Lieder des Gotteslob. Geschichte – Liturgie – Kultur, Stuttgart 2017, 693–697

Joachim Neander gibt seinem Lied mehrfach gegliederte Überschriften mit:3 „Der Lobende“, gefolgt von der Angabe „Psal. CIII, 1“ und dem Zitat „Lobe den HErrn meine Seele / und was in mir ist seinen heiligen Namen“. Der Psalmvers ist mehr als ein Motto, Neander hat den ganzen Psalm vor Augen – aber nicht nur diesen, er greift auch auf zahlreiche andere Psalmen zurück. Mag es seine Vertrautheit mit dem Psalter als (reformierter) Christ sein, mag es das Fehlen anderer Lieder im reformierten Gottesdienst sein4, –

3 Nimmt man die Vorrede hinzu, kann man sogar von einer dreifachen Überschrift sprechen. Kein anderes Lied der Sammlung hat so starke Bezüge zur Vorrede wie Lobe den Herren. Die drei vorangestellten Bibelzitate (Ps 57,8–11; Kol 3,16 f; Offb 15,3) erwähnen Psalter und Harfe, Psalmen, Lobgesänge und geistliche Lieder (dem entspricht „der Lobende“ mit Ps 103,1) und das Lied des Mose und des Lammes (aus dem Lied des Mose 5. Mose 32 wird ebenfalls zitiert). Selbst die Wendung Abrahams Samen findet sich in der Einleitung (S. 6 verso), dazu s. u. Beschlossen wird die Vorrede mit den Worten „Der HErr segne meine Arbeit und eure Andacht. Du aber / meine Seele / Lobe den HErren / und was in mir ist seinen heiligen Namen / Lobe den HErren meine Seele / und vergiß nicht / was er dir Gutes gethan hat!“ 4 Vgl. Henkys 2001, 314.

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Lobe den Herren ist wie ein Kompendium des Psalters5, gedichtet und zu singen mit der Absicht, Gott zu loben, ihm für sein vielfältiges Handeln am Beter, am Lobenden, zu danken. Im Zwiegespräch mit seiner Seele (der Pietismus nimmt das Reden mit der Seele gerne auf ) entfaltet Neander das Lob in fünf Strophen6, die jeweils mit Lobe den Herren anheben. In zahlreichen Versen spiegelt sich Psalm 103 mit seinem typischen Prädikationsstil: der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen (V. 3) der dein Leben vom Verderben erlöst (V. 4) der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit (V. 4) der deinen Mund fröhlich macht und du wieder jung wirst wie ein Adler (V. 5)

– der dir Gesundheit verliehen, dich freundlich geleitet (3,2) – der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet (2,2) – der aus dem Himmel mit Strömen der Liebe geregnet (4,2) – der dir mit Liebe begegnet (4,5) – der dich erhält,​/ wie es dir selber gefällt;​/ hast du nicht dieses verspüret? (2,3–5) – der deinen Stand sichtbar gesegnet (4,1)

Auch der Rahmen in den Strophen 1 und 5 ist Psalm 103,2 entlehnt. Schließlich folgt das Lied dem Psalm auch darin, dass Gott über seinen Taten gelobt wird, dass er sein Wesen darin zeigt, dem Lobenden Gutes zu tun. Aus der Position hoher Überlegenheit (König) wendet er sich dem Beter in Barmherzigkeit zu – das aus Psalm 24,7–10 entlehnte Vorbild König der Ehre, mächtig im Streit bleibt das Grundbild jeder einzelnen Strophe. So gibt die erste Strophe nicht nur das Thema an, wie es bereits in der Überschrift anklingt („Der Lobende“), sondern greift auch Psalm 103,1 und 24,7 ff auf, indem der Herr als mächtiger König 7 der Ehren näherbestimmt wird. Wie in EG 1 der Herr der Herrlichkeit in seiner Güte zu den Menschen beschrieben wird (der Heil und Leben mit sich bringt; / derhalben jauchzt, mit Freuden singt:/ Gelobet sei mein Gott), so wird auch hier Gott aufgrund seiner Liebe gelobt. Neander verstärkt meine Seele zu meine geliebete Seele, über den Wortlaut von Psalm 103,1 hinaus8; das Lob gilt dem Herrn, der mich liebt. So ist mein Begehren, Gott für diese Liebe zu loben, ein von ihm selbst gewecktes – und sich zur Gemeinschaft öffnendes Begehren: Nur hier und in der letzten Strophe kommen auch andere in den Blick. Kommet zuhauf (Ps 95,1 f ) lädt auch andere ein. Zum Gottesdienst der Gemeinde? Im heutigen Kontext schon; schließlich ist dieses Lied eines der wenigen, die säkulare Zeitgenossen noch mit dem Gottesdienst verbinden. Neander wollte seine Lieder allerdings „auf Reisen / zu Hauß oder bey Christen=Ergetzungen 5 Einige große Themen des Psalters werden mit Loben (Ps 103,1 f.20 ff ), Vertrauen (Ps 91,2.4.9), Not (Ps 91,5 ff ), Dankbarkeit (Ps 103,1 f ) und Heil (Ps 27,5) im Lied angesprochen (s. u.). 6 Henkys 2001, 316, bündelt die drei Binnenstrophen thematisch (Str. 2: Gottes Weltregierung; Str. 3: Gottes Schöpfungsfürsorge; Str. 4: Gottes Segensfülle). 7 Statt vieler Hinweise auf die in diesem Lied dokumentierte reformierte Theologie nur ein Verweis auf den Heidelberger Katechismus, Frage 26–27 (der allmächtige Gott als Regent und Erhalter) sowie Frage 121 (Gott versorgt in seiner himmlischen Majestät Leib und Seele der Menschen). Zum mächtigen König vgl. auch Neanders Lied Wunderbarer König (EG 327). 8 Aufgrund des dortigen negativen Kontextes kaum ein Anklang an den reichen, aber undankbaren Kornbauern, so aber die Erwägung von Martini 1999, 245.

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Kommentare zu den Liedern

im Grünen durch ein geheiligtes Hertzens=Halleluja“9 gesungen wissen. Ob auch nur außerhalb des (reformierten) Gottesdienstes an den Gebrauch der Instrumente zu denken war? Immerhin stehen die zum Mitmachen ermunterten Instrumente Psalter und Harfe10 für die musica, die Neander eigentlich hören lassen wollte, die aber durch Lobgesang ersetzt wurde11. Die zweite Strophe behauptet das Regiment Gottes nicht, sondern bekennt es12. Das Amt des Königs der Ehren ist, herrlich zu regieren13. Um es mit Worten der lutherischen Dogmatik zu formulieren: Von der die ganze Schöpfung durchwaltenden providentia Dei generalis (der alles so herrlich regieret) richtet sich der Blick auf Gottes Fürsorge, die dem einzelnen Geschöpf gilt, die providentia Dei peculiaris seu specialissima (der dich, nämlich die geliebete Seele, auf Adelers Fittichen sicher geführet). Diese metaphorische Prädikation knüpft an Psalm 103,5 an14, wird aber in der Aussage stärker von der Erfahrung Jakob-Israels nach dem Lied des Mose (5. Mose 32,1115) bestimmt. Gottes Gefallen am Beter korrespondiert mit dessen Hoffnung, dass Gott dich erhält, wie es dir selber gefällt. Die rhetorische Frage hast du nicht dieses verspüret? appelliert an die Erfahrung, in unsicherer Zeit wie auf Adlersflügeln getragen worden zu sein16. 9 So der Titel. 10 In dieser Zusammenstellung Ps 57,9; 108,3; 150,3 als gottesdienstlich wie häuslich gebrauchte Instrumente, Tragleiern oder auch Standleiern, je nach Bauart. 11 Mit dem EG findet eine Variante des Liedes, die sogenannte ökumenische Fassung von 1973, ihren Platz im Gesangbuch – vor der Originalversion. Die Gründe dafür müssen hier nicht diskutiert werden (gab der Text denn solche Rätsel auf? und wie wurden sie gelöst?), allenfalls die Varianten zu EG 317. In Str. 1,2 ist es das altertümlich wirkende o Seele (hat man 1973 noch so gesungen?) und dann, Ps 103,20–22 aufgreifend, vereint mit den himmlischen Chören. Das zarte, sich zur nahen Gemeinschaft öffnende Zwiegespräch wird sogleich weit aufgerissen und in den Kontext der universalen Anbetung Gottes (wie im Sanctus) gestellt; in Ps 103 und in Neanders (Nach-)Dichtung dagegen steht die Universalisierung bewusst erst am Schluss. 12 Vgl. Dorothee Sölle (Welches Christentum hat Zukunft? Dorothee Sölle und Johann Baptist Metz im Gespräch mit Karl-Josef Kuschel, Stuttgart 1990, 32, auch mehrfach ohne Zitatangabe als geflügeltes Wort im Umlauf ): „Dieser Glaube an den Gott, der alles so herrlich regieret, wie ein oberster Boß an der Spitze der Pyramide sitzt, ist mir im Laufe meines theologischen Nach-Denkens gründlich vergangen.“ Dagegen z. B. Helmut Gollwitzer, Von der Stellvertretung Gottes. Christlicher Glaube in der Erfahrung der Verborgenheit Gottes, München 1967, 143 f, so auch bei Helmut Ackermann (Joachim Neander. Sein Leben. Seine Lieder. Sein Tal, Düsseldorf 1997 passim) und Martini 251. Grundsätzlich nun Jan Bauke-Ruegg, Die Allmacht Gottes. Systematisch-theologische Erwägungen zwischen Metaphysik, Postmoderne und Poesie, Berlin /  New York 1998, bes. 489 ff (§ 9 Anwendungen: Der usus der Lehre von der Allmacht Gottes. Trost und Gewißheit). 13 Denn alles, was er tut, das ist recht. Hier klingt zum ersten Mal in diesem Lied das „Lied des Mose“ an (5. Mose 32, hier: V. 4a). 14 Der aber ist kein Adler, sondern ein Geier. Dazu wie überhaupt zu Ps 103 und den Liedern, die diesen Psalm nachdichten, vgl. Siegfried Meier, Psalmen, Lobgesänge und geistliche Lieder. Studien zur musika­ lischen Exegese und biblischen Grundlegung evangelischer Kirchenmusik (Kontexte 36), Frankfurt am Main u. a. 2004, 129–164. 15 Wie ein Adler ausführt seine Jungen und über ihnen schwebt, so breitete er seine Fittiche aus und nahm ihn und trug ihn auf seinen Flügeln. 16 Die Flügel stehen hier zum einen für die Möglichkeit, der Gefahr auf wundersame Weise zu entgehen (vgl. auch Ps 91,4), zum andern für den, der Schutz unter den Flügeln sucht (Ps 17,8; 36,8 u. ö., vgl. auch Mt 23,37).

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Die dritte Strophe lobt nach dem Erhalter den Schöpfer und ist darin wieder einem Psalmwort (Ps 139,14) verpflichtet. Das wunderbar gemacht des Psalms wird hier zum künstlich und fein dich bereitet, d. h. kunstvoll, mit Liebe und Sorgfalt geschaffen, und dies nicht nur als Ausgangszustand, sondern innerhalb der creatio continua. Wohl ist die Gesundheit verliehen, doch das Geleiten ist freundlich und war freundlich, wie der Lobende aus dem bereits Erfahrenen und Erlebten bestätigen kann: In wieviel Not / hat nicht der gnädige Gott / über dir Flügel gebreitet! Nicht allein der gnädige Gott (Ps 103,4.8.11), auch die Flügel werden wieder bemüht, diesmal jedoch nicht, um das Herausheben aus der Not zu beschreiben (das wäre Sache des „Adlers“), sondern um den sichernden Schutz anschaulich zu machen (vgl. Mt 23,37 und Ps 91,417). Die vierte Strophe weist mit der Zeile der deinen Stand sichtbar gesegnet18 in die reformierte Theologie. Auch wenn es problematisch ist, den Segen Gottes sichtbar an Gesundheit, Kindern oder Vermögen ablesen zu wollen, bleibt diese Aussage doch eingebettet in das Loben Gottes, der mit Strömen der Liebe geregnet hat (vgl. den Überfluss an Gutem nach 5. Mose 28,11), dessen Liebe nicht nur die Seele erreicht hat (Str. 1), sondern auch das ganze Leben, den Stand. Zum Nicht-Vergessen (Ps 103,2) gehört das Gedenken, was der Allmächtige kann. Gottes zu gedenken eröffnet Zukunft für die Menschen, die an ihre Vergangenheit gebunden sind; denn Gott begegnet mit Liebe. Sein Vermögen als König äußert sich in der Liebe zum Beter, zum Lobenden, der weiß, dass seine Seele von Gott geliebt wird. Die fünfte und letzte Strophe bildet mit der ersten den Rahmen des Liedes. Wörtlich wird Lobe den Herrn … was in mir ist [seinen heiligen] Namen (Ps 103,1) aufgegriffen. Auch Seele, vergiss es ja nicht weist auf Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat (Ps 103,2) zurück. Aber der Blick geht – wie anfänglich in der ersten Strophe: kommet zuhauf – nun weit über den Lobenden hinaus, nämlich auf alles, was Odem hat (Ps 150,6): Alles Lebendige19 lobe mit Abrahams Samen. Dieser ist jedoch nicht einfach mit dem Volk des alten Bundes identisch20. Er umfasst alle, die durch die 17 Die dritte Strophe liest sich wie eine Meditation zu Ps 91: Schirm und Schutz; Bergen unter den Flügeln; Erretten, weil Gott den Beter liebt; kein Übel und keine Plage – analog dem unbeirrten Regieren und Geleiten. 18 EG 316,4 liest statt deinen Stand nun der sichtbar dein Leben gesegnet. Umfassend ist beides, nötig ist die Änderung nicht. Auch EG 322,6; 361,3; 443,7; 497,13; 529,1; EKG-West 602,4; 631,3; 635,7 wird „Stand“ im Sinne einer Position in einem sozialen Gefüge bezeichnet. 19 „Alles Lebendige“ ist umfassender als alle, die seine Verheißung bekamen (EG 316,5) und schließt die Schöpfung mit ein, selbst alles, was wir als unbelebte Schöpfung bezeichnen würden (vgl. Ps 148 mit den leuchtenden Sternen, Feuer, Hagel usw.). 20 Neander: „Was halff den Juden ihr eingebildeter Schein=Grund? Joh VIII, 33.39 Wir sind Abrahams Samen! Abraham ist unser Vatter! Christus nante sie gar anders“ (Vorrede 6v). Henkys 2001, 318, scheint diesen Abschnitt der Vorrede nicht zu kennen, daher denkt er bei „Abrahams Samen“ an Ps 105,6; im Verständnis dieser Zeile wird häufig unreflektiert vorausgesetzt, dass „das Judentum“ gemeint sei, vgl. „Das Judentum im christlichen Gottesdienst“, www.jcrelations.net/_Lob+ihn+mit+Abrahams+Samen_+.2298. html?L=2, ferner Reinhard Buschbeck u. a., „Lobe mit Abrahams Samen“. Israel im evangelischen Gottesdienst. Eine Arbeitshilfe, Heppenheim / Wolfsburg 1995. Vgl. auch www.kirchenliederblog.wordpress.com (letzter Zugriff am 11.9.2015). Neander denkt eher an das „Israel Gottes“ (Gal 6,16), d. h. die aus Juden und Heiden bestehende Kirche Jesu Christi.

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Kommentare zu den Liedern

Verheißung an Abraham, in ihm würden alle Völker gesegnet werden (1. Mose 12,1–3), kraft dieses Segens den Vater Jesu Christi loben21. Er wird der Seele nachdrücklich (vergiss es ja nicht) als dein Licht vor Augen gestellt (Ps 27,1). Dabei hatte Neander sicher auch Johannes 8,12 vor Augen, wo sich das Bekenntnis des Lobenden zu Gott, der mein Licht und mein Heil ist, mit der Selbstvorstellung Jesu überschneidet, das Licht der Welt zu sein, eben der ganzen Oikumene22. Dennoch geht am Ende des Liedes wie am Ende von Psalm 103 (V. 22) der Blick auf die lobende Seele zurück, sie wird aufgefordert: Lobende (Seele), schließe mit Amen23. Bestätige, dass er dein Licht ist, Schöpfer, König, der dich hält, trägt, geleitet und dir mit Liebe begegnet. Trotz vielfacher Konkretionen der göttlichen Liebe bleibt freier Raum, den jeder Beter und jede Beterin mit Erfahrungen und Vorstellungen selbst füllen kann und füllen wird. Das ist wohl ein Geheimnis der Popularität dieses Liedes24, das auch in weiteren europäischen Ländern bekannt und beliebt ist; im EG wurde jeweils die erste Strophe von fünf Übersetzungen abgedruckt25.  Siegfried Meier Die Melodie hat einen vielfach verzweigten Weg hinter sich, der möglicherweise um die Mitte des 17. Jh. mit einem weltlichen Lied begann, als das daktylische Versmaß in der deutschen Dichtkunst in Mode kam. Auch ihr erster geistlicher Text im Stralsunder Gesangbuch von 1665 klingt noch wie ein weltliches Liebeslied und könnte sehr wohl eine Kontrafaktur, die Umformung eines weltlichen in einen geistlichen Text sein: Hast du denn, Liebster, dein Angesicht gänzlich verborgen – die Änderung von Liebster in Jesu in späteren Gesangbüchern musste dies wohl nachträglich noch verdeutlichen. Diese älteste greifbare Melodiefassung lautet folgendermaßen:26

21 Daher hat die Variante EG 316,5,2 Lob ihn mit allen, die seine Verheißung bekamen ihr gewisses Recht. 22 Das dürfte ein impliziter Hinweis auf Jesus Christus sein. Henkys 2001, 316, vermutet dagegen, dass sich „Neander jeder Berufung auf den Erlöser“ in diesem Liede enthält. 23 Oder eben – wie in EG 316,5 – Lob ihn in Ewigkeit, was einen gewissen Abschluss signalisiert, der mit einem Amen wie in einem Gebet beschlossen wird. Das ist aber etwas anderes als die Selbstaufforderung an die Seele mit Amen zu schließen (s. o.). 24 Ein weiterer Aspekt dürfte darin liegen, dass wir uns mit diesem Lied nahezu ausschließlich in der Welt des 1. Glaubensartikels bewegen. 25 Wie in den „Beigaben zur Liederkunde“ erwähnt, sind zwei Übersetzungen (englisch und schwedisch) aus dem 19. Jh. und damit schon generationenübergreifend im Gebrauch. Alle fünf Strophen in nicht weniger als acht Sprachen sind im GEKE-Gesangbuch „Colours of Grace“ (2006, Nr. 21) enthalten. 26 Z I,1912a.

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Die Melodie begegnet in den Quellen des 17. und 18. Jh. mit zahlreichen kleineren und größeren Varianten. Der Typus, dem sie angehört, die generalbassbegleitete Solo-Arie, scheint solche Veränderungen, Ausschmückungen und individuellen Anpassungen ge­ radezu herauszufordern. Neander verweist bei der Melodie in seinen „Bundesliedern und Dankpsalmen“ ausdrücklich auf das genannte Lied, bringt aber eine Fassung, die von der obigen deutlich unterschieden ist.27

Auffällig ist der Anfang auf dem dreimaligen Quintton. Genau dieser Anfang begegnet in einer weltlichen Aufzeichnung von 167928 – wir können vermuten, dass die Melodie in verschiedenen Fassungen im Umlauf war. Der Schluss mit seinem Nonensprung und mit der vom Text aus gesehen recht unlogischen Wiederholung lässt nochmals deutlich erkennen, dass es hier zunächst nicht um eine Melodie für den Kirchen-, sondern für den Sologesang geht. Erst durch mehrere Anpassungsschritte erreichte sie dann eine Gestalt, in der sie ihre große Popularität und weite Verbreitung in den Gesangbüchern und in der geistlichen Musik erreichen konnte.29 Dabei spielte die Stralsunder Gestalt eine wesentlich größere Rolle als die Fassung Neanders. Für den heutigen Beginn auf zweimaligem Grundton und anschließendem Quintsprung führt Zahn als erste Quelle das in Stuttgart erschienene Choralbuch von Daniel Speer (DKL 169212) an, für den linearen Aufstieg zum Stollenschluss anstelle des Quartsprungs nennt er Johann Bernhard Falck, Rothenburg ob der Tauber 1701 (DKL 170105). Die mittlere Zeile des Abgesangs findet sich in einem Gebet- und Gesangbuch aus dem ostfriesischen Aurich (DKL 170813) und im Württembergischen Gesangbuch von 1711 (DKL 171113). Der Verlangsamung und Entrhythmisierung des Gemeindegesangs verdankte die Melodie den zeitweiligen Verlust der Punktierungen und die Dehnung des Stollenschlus­ ses. Im „Eisenacher Stamm“30, dem Ergebnis der deutschen Kirchenliedrestauration im 19. Jh., steht sie dann aber bereits in der heutigen Fassung, welche im Wesentlichen auf die Ausgabe 1741 des Freylinghausenschen Gesangbuches zurückgeht (dort Nr. 1203). Daran, dass das Lied zu den bekanntesten evangelischen Kirchenliedern gehört, hat die Melodie mit Sicherheit einen beträchtlichen Anteil. Für ihre Beliebtheit sind verschiedene Faktoren verantwortlich – wir beziehen uns dabei auf die heutige, gleichsam standardisierte Fassung. Zunächst einmal erzeugt der Dreiertakt einen eleganten Fluss 27 Z I,1912c. 28 Handgeschriebenes Liederbuch des Studenten Johann Heck, vgl. Fornaçon 1956, 131. 29 Zur Rolle in der Kirchenmusik vgl. Gerhard Schumacher 1981. 30 Deutsches Evangelisches Kirchen-Gesangbuch in 150 Kernliedern, Stuttgart und Augsburg 1854, Faks Köln 1995 (Nr. 78).

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Kommentare zu den Liedern

beim Singen, der offensichtlich als angenehm empfunden wird. Dann kommt die klare Dreiklangs- und Tonalitätsbezogenheit dem Hören sehr entgegen: Der Beginn besteht zunächst nur aus den Dreiklangstönen, alle Zeilen beginnen auf einem Ton des Grunddreiklangs, und die Schlüsse der drei Abgesangszeilen implizieren eine authentische Kadenz mit der Folge von Subdominante (Z. 3), Dominante (Z. 4) und Tonika (Z. 5). Dass nach dem mit dem Quintsprung recht großräumig ansetzenden Melodiebeginn und der anschließenden Terz innerhalb der einzelnen Zeilen ausschließlich nur noch Tonschritte und keine Sprünge mehr verwendet werden, hat zur Folge, dass einerseits der Melodieanfang markant profiliert ist und sich sofort einprägt, dass aber andererseits im Verlauf der Melodie keinerlei Schwierigkeiten auch für weniger geübte Sängerinnen und Sänger auftreten. Dass sich die Singenden bei dieser Melodie offenbar wohlfühlen, kann auch mit ihrer inneren Balance zusammenhängen. Die Stollenzeile beschreibt fast perfekt das, was man etwa eine musikalische Kreisfigur nennt: eine Bewegung nach oben, eine entsprechende nach unten und dann zurück zum Ausgangspunkt. Die erste Abgesangszeile, formal der Spannungshöhepunkt der Strophe, sprengt den Oktavambitus durch den melodisch meist besonders gewichtigen Schritt zur 6. Melodiestufe und setzt dieser Öffnung nach oben sofort in der 2. Abgesangszeile eine ausgleichende Abwärtsbewegung entgegen. Die Schlusszeile nimmt in ihrer Bewegung den Stollenschluss wieder auf – in der Stralsunder Fassung war die Übereinstimmung sogar exakt – und rundet dadurch die Strophe ab. Ausgewogenheit kann langweilig sein. Das wird hier schon durch die außergewöhnliche Strophenform verhindert: Auf die längsten überhaupt im Gesangbuch vorkommenden Zeilen mit 14 Silben folgt eine der kürzesten überhaupt mit nur vier Silben, und der Zeilenambitus geht von der Oktave gleich auf die Sekunde zurück. Diese starke formale Spannung, verbunden mit dem beschriebenen melodischen Höhepunkt, verleiht der Melodie Individualität, ohne dass aber Sing- und Hörgewohnheiten dabei strapaziert würden.  Andreas Marti

324 Ich singe dir mit Herz und Mund

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324 Ich singe dir mit Herz und Mund EG 324(ö)  RG 723(ö)  EM 73(ö) Text

Verfasser Paul Gerhardt Quelle PRAXIS PIETATIS MELICA. Das ist: Vbung der Gottseligkeit […] EDITIO V. (Johann Crüger), Berlin 1653 (DKL 165304) Überschrift 234. Mel. Lobt Gott, jhr Christen. Ausgaben FT III,420; PPMEDW (2014 ff ) 1/1, Nr. 2531 Strophenbau A8/4a A6/3b A8/4a A6/3b vgl. Frank 4.34 ‚Chevy-Chase-Strophe‘ Abweichungen 2,2 s­ eyst; 12,3 das himmelhaus * RG: 11,1 Du siehst dein Kind, wie oft es wein’; 11,3 kein Tränlein ist vor dir zu klein; 16,4 zum Heil gekehrt * EM: Strophen 5, 10 und 11 fehlen; 16,4 zum Heil gekehrt Verbindung TM in der Q ohne N, zur

Melodieangabe in der Überschrift s. die Angaben zu EG 322 * eigene Melodien: Z I,213 (Johann Georg Ebeling; DKL 166705; Ausgabe: Johann Georg Ebeling, Zwölf geistliche Lieder Paul Gerhardts für vierstimmigen gemischten Chor, zwei Violinen und Generalbass (Konrad Ameln, Hg.), Kassel 1956); Z I,214–219 und III,5597 und V,8671 (1738–1868) * weitere Melodien außer EG 322: Nun danket all und bringet Ehr (Z I,210; 1687); So fliehen unsre Tage hin (Z I,229; 1775); Heil dem, der dich Religion (Z I,230; 1799)

Melodie

s. Nun danket all und bringet Ehr (EG 322) Satz:

Verfasser Johann Schoeberlein nach Johann Crüger Vorlage laut Quelle: PRAXIS PIETATIS MELICA. Das ist: Vbung der Gottseligkeit […] (Johann Crüger), Frankfurt/M. 1662 (DKL 166207), Melodie und Bc identisch mit PPM V (DKL 165304) Quelle Schatz des liturgischen Chor- und Gemeindegesangs […], Theil 2, Kirchliche Chorgesänge […], Abtheilung 1 (Hg. Ludwig Schoeberlein), Göttingen 1868 (Nr. 679 / S. 987) Abweichungen Q: Taktvorgabe 𝄴; halbe Taktstriche erstmals nach vier

Vierteln (kein Auftakt); Ganzton höher; Alt: Schlussnote f ‘; Bass: Schlusston Oktave höher * zu DKL 165304/166207: Taktvorgabe 𝄵; keine Taktstriche; Melodie mit Bc; Bass: Z. 1, N. 2–5: G A B G, N. 6–7 Achtel FG AB, Z. 2, N. 1 Oktave höher, N. 6 Oktave tiefer, Z. 3, N. 3+5 je A, N. 6–7 Oktave tiefer, Z. 4, N. 2–3 B G, N. 4 punktierte Viertel mit Achtel AB Verbindung TM Nun danket All [sic] und bringet Ehr

1 Korth, Hans-Otto / Miersemann, Wolfgang (Hg.): Johann Crüger. Praxis Pietatis Melica. Edition und Dokumentation der Werkgeschichte [PPMEDW] Bd. I, Teil 1: Praxis Pietatis Melica Editio X. Berlin 1661. Text. Halle / Saale 2014, Bd. I, Teil 2 Apparat, Halle / Saale 2015.

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Kommentare zu den Liedern

Literatur

HEKG (Nr. 230) I/2, 359 f; III/2, 144–146; Sb 353 f; HEG II, 66–69.110–112 ** ThustB, 286 f (Neufassung Ingelheim 2016, 265 f); ThustL II, 106–110 ** KLL (1878–1886) I, 346; Bruppacher (1953) 41–43 ** Albrecht, Christoph: Johann Georg Ebeling 1637– 1676, MGD 30 (1976) 138 * Schönborn, Hans-Bernhard: Lieder Paul Gerhardts in den heute gebräuchlichen Gesangbüchern, JLH 24 (1980) 113–123 * Zippert, Christian: Liedpredigten, Kassel 1984, 83–87 * Schneider /  Vicktor 1993/21996, 104–106 * Erb, Jörg: Paul Gerhardt und seine Lieder, Lahr-Dinglingen 31984, 123–125 * Axmacher, Elke: Johann Arndt und Paul Gerhardt. Studien zur Theologie, Frömmigkeit und geistlichen Dichtung des 17.  Jahrhunderts, Tübingen / Basel 2001 * Bunners 2006, bes. 137.164 f * Teichmann, Wolfgang: Paul Gerhardt mit Konfis. Wie ein Lied von 1653 über seinen Rhythmus neu zu erleben ist, GAGF 20 (02/2006) 62–65 * Deichgräber, Reinhard: Nichts nimmt mir meinen Mut. Paul Gerhardt als Meister christlicher Lebenskunst, Göttingen 2006, 40–44 * Muntanjohl, Felizitas: Ich singe dir mit Herz und Mund. Familiengottesdienst zu Erntedank, in: Dies./ Michael Heymel, Auf, auf mein Herz, mit Freuden. Gottesdienste, Gemeindearbeit und Seelsorge mit Liedern von Paul Gerhardt, Gütersloh 2006, 145–148 * Bunners, Christian: Mit Paul Gerhardts Lie-

dern predigen. Möglichkeiten, Probleme, Modelle, Beispiele, in: Böttler, Winfried (Hg.): Paul Gerhardt in Kirche, Kultur und Lebensalltag. Beispiele für die Praxis, Berlin 2007, 93– 112 (bes. 105–107) * Finke, Christian: Paul Gerhardt vertont. Eine unvollständige Übersicht über mehrstimmige Fassungen und Kanons seiner Lieder, in: ebd., 157–171, bes. 164 * Henkys, Jürgen: Singende Ökumene. Überlegungen  – Erfahrungen  – Aufgaben, in: Johannes Block / Irene Mildenberger (Hg.): Herausforderung: missionarischer Gottesdienst. Liturgie kommt zur Welt. Wolfgang Ratzmann zum 60. Geburtstag, Leipzig 2007, 263–273; Wiederabdruck in: Jürgen Henkys, Dichtung, Bibel und Gesangbuch. Hymnologische Beiträge in dritter Folge, Göttingen 2014, 233– 241, bes. 233 f * Arnold / Bresgott 2011, 233 f * Betz, Susanne / Hilt, Hans / Leube, Bernhard: Unsere Kernlieder zur Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, München 2011, 101–105 * Kadelbach, Ada: Beschauliches und Erbauliches. Paul Gerhardt im Werk von Ludwig Richter, in: Günter Balders / Winfried Böttler / Susanne Weichenhan: „Doch der ist am besten dran / Der mit Andacht singen kann“, Festschrift für Christian Bunners, Beiträge der Paul-Gerhardt-Gesellschaft Bd. 10, Berlin 2016, 85–112, bes. 100 f * Messner, Herbert: Nun danket all und bringet Ehr, Singende Kirche 63 (2016) 257–258

Das Privileg, gänzlich ungekürzt in den EG-Stammteil aufgenommen zu sein, teilt das 18-strophige Gedicht mit elf von insgesamt 26 Texten Gerhardts.2 Der Wortlaut weicht nur unwesentlich vom Erstdruck in der Praxis Pietatis Melica 1653 (5. Auflage, im Abschnitt „Lob- und Dancklieder“) ab: vgl. Str. 12,3: das himmelhaus. Auch in der – von Gerhardt wahrscheinlich autorisierten – Ebelingschen Gesamtausgabe 1667, hier unter der Überschrift: „Lobgesang“, finden sich nur geringe Abweichungen (Str. 8,4: hertzlich statt EG: treulich; Str. 12,3 des Himmels-Haus statt EG: des Himmels Haus). Zur Entstehungsgeschichte ist bisher nichts bekannt; eine Abfassung in den ersten Amtsjahren Gerhardts im stark landwirtschaftlich geprägten märkischen Ackerbürgerstädtchen 2 Ungekürzt: EG 11 Wie soll ich dich empfangen; EG 58 Nun lasst uns gehen und treten; EG 85 O Haupt voll Blut und Wunden; weiterhin EG 322; 361; 370; 371; 447; 449; 477; 503.

324 Ich singe dir mit Herz und Mund

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Mittenwalde zwischen 1651 und 1653 ist wahrscheinlich. Die Erleichterung über das zurückliegende Ende des Dreißigjährigen Krieges (1648), der auch Mittenwalde extrem geschädigt hatte, klingt noch an, wenn der Dichter mit einer ungewöhnlichen Dreifachreihung den güldnen, werten, edlen Fried (Str. 6,3) preist. Unschwer erschließen sich zwei Gliederungsebenen nach Redeform (2 Hauptteile) und nach Richtung der Anrede: ein Gebet als direkte Anrede Gottes (untergliedert in 2 × 6 Strophen) und ein darauf folgendes Selbstgespräch des Ich (in 6 Strophen), wobei beide Hauptteile je mit eschatologischem Ausblick enden: Redeform

Anrede

Thema / Gedankengang

Gebet Str. 1–12

Str. 1–6 Ich → Du: mein Herr /  (unser) Vater

Das (kleine) menschliche Ich rühmt (den großen) Gott Str. 1–2 rühmende Einleitung: Gott als Quelle von Freude, Heil und Gutem für die Menschen Str. 3–6 rhetorische Fragen des wissenden Ichs

Str. 7–12 (Ich →) Du: Herr, mein /(unser) Gott

Wohltaten Gottes für die Menschen Str. 7,1.2 Antwort auf die rhetorischen Fragen Str. 7,3 bis Str. 11 Entfaltung: rühmende Aufzählung der Wohltaten Gottes im irdischen Leben Str. 12 Entfaltung: (kollektive) Heilsgewissheit bis ins Jenseits

Selbstgespräch Str. 13–18 Str. 13–18 (Ich →) Du: mein Herz

(Individuelle) Aneignung jener Wohltaten bis ins menschliche Herz Str. 13–14 vom Ich in seinem Herzen empfangene Wohltaten Gottes Str. 15–16 vergewissernde Fragen und Antworten: Getrostwerden bei Sorge und Unglück Str. 17 Zusammenfassung: Gottes Wohltun in Vergangenheit und Gegenwart Str. 18 (individuelle) Annahme göttlicher Führung in Zukunft und Eschaton

Nicht nur die Gliederung des Gedichtes, sondern auch Strophenbau und Versmaß sind völlig regelmäßig gehalten: Gerhardt dichtet den Lobgesang in Form einer vierzeiligen (volksliedhaften) Strophe mit Kreuzreim (abab) und jeweils 8 bzw. 6 Silben und 4 bzw. 3 Hebungen pro Zeile. Das jambische Versmaß (ganz anders in der Vertonung!) wird strikt durchgehalten; alle Zeilen enden mit betonter Schlusssilbe.3 Als rhetorische Mittel4 werden neben der klaren Gliederung und dem Wohlklang von Reim und Rhythmus am häufigsten wiederholende Reihungen eingesetzt, und zwar in jeder (!) der 18 Strophen, seien es adjektivlose Substantivreihen („Zwillingsformeln“ in additiver oder synonymer Aufzählung, teilweise alliterierend oder assonant) wie Herz und Mund, Heil und Gutes, Tau und Regen, Kält und Frost, Öl und Most, Leben und Geblüt, Zähr- und Tränlein, Erb 3 Die formalen Kriterien der Vierzeiligkeit, der Anzahl der Hebungen (4/3/4/3) und der steten Betonung der letzten Silbe treffen auch auf eine Sonderform der Volksliedstrophe, die Chevy-Chase-Strophe zu, die Bernoulli für das melodiegleiche EG 322 ansetzt (HEG III, H. 18, 53); allerdings läge hier höchstens ein Vorläufer der erst im 19. Jh. beliebten Form vor, der ihre Besonderheit der Füllungsfreiheit (variable Silbenanzahl zwischen den Hebungen als bewusstes Gestaltungsmittel zur Veranschaulichung dramatischen Geschehens) noch nicht ausnutzt. 4 Vgl. ausführlich dazu Hillenbrand, 15–49.

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Kommentare zu den Liedern

und Teil, Glanz und Freudenlicht, Schirm und Schild, Hülf und Heil, Tag und Nacht, sei es eine erweiterte Substantivreihe: Brunn der Gnad und ewge Quelle, seien es Verbreihen, z. B. ich sing und mach oder unser Herze seufzt und schreit, oder auch Adverb- / Adjektivreihen, z. B. früh und spat, fromm und treu, einmal sogar, wie erwähnt, dreifach. Bei Gerhardt beliebte Mittel sind auch das instrumentale „mit“ wie mit Herz und Mund (ähnlich auch in 6,2; 12,2) sowie vorangestellte Genitivattribute wie des Lebens Mangel und des Himmels Haus. Formale Stilmittel sind z. B. die Anapher (Str. 1 und 2: Ich singe / Ich weiß ), Ich-Du-Paarungen (mehrfach), die Epanalepsis (Str. 2: bewusst / Ich weiß ) sowie die rhetorische Frage (Str. 3–6; 15; 16). Gerhardt bedient sich einer anspielungsreichen, „bibelgesättigten“ Sprache und Metaphorik, hier unter Zugrundelegung von 2. Mose 34,6.7 (Gnade), 5. Mose 32,1–4 (Tau, Regen; zu preisende Vollkommenheit, Treue, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit Gottes), zahlreichen Psalmen (z. B. Ps 16,2.5: Gut, Teil, Erbteil; Ps 37,4: Lust, Herz; Ps 104: zu lobende Fülle der weise geordneten Schöpfung einschl. landwirtschaftlicher Produkte), 1. Petrus 5,7 (Menschen sollen Sorgen auf Gott werfen; vgl. auch Ps 55,23), 2. Kor 5,1 (ewiges Haus im Himmel). Wichtige Motive sind Brunnen (z. B. 1. Mose 16,14) und Quelle (Ps 36, 9 f; 87,7), aus denen Flüssigkeiten hervorgehen, sowie das Meer (Micha 7,18 f: Schulderlass, Gott wird Sünden in Tiefen des Meeres werfen), welches strömende Flüssigkeiten aufnimmt; diesen Metaphern entsprechen mehrere reale Flüssigkeiten: Tau, Regen, Öl, Most, Tränen, welche – jeweils auch im übertragenen Sinn – hervorquellen, strömen, münden oder vorher versiegen können. Die starke Bindung an biblische Metaphorik, die Dichte der verwendeten rhetorischen Mittel sowie das Fehlen eigener Wortschöpfungen machen den Text in seinem inneren „aptum“ zu einem Musterbeispiel des „genus medium“. In beiden Redeformen spricht das Ich teils für sich selbst, teils für ein Wir. Durch direkte Anreden bis hin zu Imperativen (Str. 13 und 18!), große Anschaulichkeit und klare Gedankenführung sowie die aus einer Haltung der Ehrfurcht und zuversichtlichen Unerschütterlichkeit5 vorgetragenen Zusammenhänge will der Dichter den / die Rezipienten unmittelbar zum Gotteslob voll dankbarer Freude und Hoffnung mitreißen. Bereits in Str. 1 klingt dieser freudige Grundton der „affectio cordis“ in einer Gebetsanrede an: Herr, meines Herzens Lust, und hält sich sowohl in den ersten zwölf betenden Strophen durch als auch in den sechs reflektierenden Strophen, die – auch unter Benennung von Anfechtungen wie Kränkung, Sorge, Gram, Unglück – durchweg Zuversicht ausdrücken und in der letzten Zeile in den Worten ewig fröhlich gipfeln; dabei speist sich solches vergewisserndes Getrostwerden hier nicht aus einer längeren Argumentationsreihe, sondern der evozierten Bereitschaft, Gott noch größer sein zu lassen als die schmerzvolle Anfechtung und damit an dieser nicht mehr bedingungslos festzuhalten bzw. sich völlig von ihr beherrschen zu lassen. Die Beziehung des Menschen zu seinem Schöpfer und zugleich dem Schöpfer der Welt (creator) wird als ein Anteilhaben am Strömen von Heil und Gutem erlebt und gepriesen – sei es im Wahrnehmen der schönen, nährenden, auf den Menschen hin wohl geordneten Schöpfung, sei es im Bereich des menschlichen Lebens, in das Gott in seiner Vorsehung (providentia) schützend und bewahrend (in 5 Zu philosophischen Einflüssen des christlichen Neustoizismus vgl. Lisbeth Foss, Paul Gerhardt. Eine hymnologisch-komparative Studie, Copenhagen 1995, 155–163.

324 Ich singe dir mit Herz und Mund

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der Tätigkeit der conservatio) sowie lenkend (gubernatio) und mitwirkend (concursus) eingreift, sei es im Erlösungshandeln (redemptio oder reconciliatio). Die dogmatische Denkfigur der providentia innerhalb der lutherischen Orthodoxie6 führt Gerhardt im vorliegenden Lied, fokussiert auf Gott als Vater, in vielerlei Differenzierungen ausführlich vor: praescientia (Vorherwissen) und decretum (Wollen des Gewussten) Str. 17; providentia i. e. S. als actio ipsa, qua res reguntur Str. 2–12 (dazu korrespondierende Auswirkungen Str. 13–18), und zwar mit Allaussage Str. 7,2 (entspr. 13,3). Von daher kann der Lobgesang nicht nur als ein Vertrauenslied, sondern wie Befiehl du deine Wege geradezu als „providentia-Lied“7 gelesen werden. Das Erlösungswerk kommt hier zur Sprache im Begriff der Gnade (Str. 2,1); dieser setzt seiner Natur nach Sünde bzw. strafwürdige Schuld voraus, welche der Rechtfertigung bedarf (damit ist implizit dogmatisch auf die Wiederherstellung der Gottesgemeinschaft durch Jesus Christus und den die Gnade zueignenden Hl. Geist angespielt). Die gänzliche Auslöschung von Sünde bzw. Schuld (vgl. Str. 9, d. h. in der Mitte von 18 Strophen!) wird beschrieben in wohl aufeinander abgestimmten Metaphern: Aus dem Brunn der Gnad, in dem die Quelle des Heils und Guten ewig quillt, kann ein Meer gespeist werden, in dem die Schuld spurlos versinken kann und soll. Die solchermaßen erlösten, „in statu gratiae“ befindlichen und von Gott darüber hinaus mit Trost bei Kummer (Str. 11) und Hoffnung auf den Himmel (Str. 12) versehenen Menschen, deren Tränen nicht etwa in ein Meer zusammenfließen, sondern versiegen (Str. 12), sollen sich dies im Glauben weiter aneignen (Str. 13 ff ): Dem verstandesmäßig wissenden Menschen, der sich Gottes Allgegenwart vor Augen stellt, kann im wachsenden Staunen (bildlich: durch immer tieferes Schöpfen im Brunnen) über das Ausmaß der Vollkommenheit göttlichen providentiellen Handelns auch Seele und Herz durchdrungen werden, so dass dieses kaum noch anders als „singen und springen“ kann. Zu solcher Auferbauung hilft besonders der  – bereits in den Psalmen vorgegebene und in barocker Dichtung beliebte – Kunstgriff einer Aufspaltung des Individuums in das Ich (Str. 1,1) und sein Herz (Str. 13 ff ): Indem das Ich, welches in der unerlösten Welt immer auch dunkle und gottferne Bereiche birgt und an sich selbst kennt, nur einen Teil seiner selbst, nämlich das Herz als unkorrumpiertes Zentrum seiner Person, anspricht und durch einen Befehl zum Singen und Schwingen bringt, bricht sich Gottvertrauen Bahn, auch wenn dies vorher in der Person womöglich kaum vorhanden oder verkümmert war. Das Herz steht hier für den Teil des Ich (bzw. der Seele), für den auch im 21. Jh. nicht in erster Linie die Kardiologie oder Psychologie zuständig ist, sondern der Schöpfer; es ist der bessere Teil des Menschen, von dem Paul Gerhardt aussagt, dass er sich „aufschwingen“ kann zu seinem Gott (Schwing dich auf zu deinem Gott, du betrübte Seele, EKG 296). – Hinzu kommt eine ekklesiologische Dimension. Denn das hier aufgerufene „Ich“ (mit dem allein 16 Lieder Gerhardts beginnen, davon neben EG 324 nur drei weitere im EG: 37 Ich steh an deiner Krippen hier; 497 Ich weiß, mein Gott; 529 Ich bin ein Gast auf Erden) ist kein lediglich individuelles oder lyrisches, auch nicht nur ein kollektives als Ausdruck einer Anzahl von Menschen (vgl. Wir-Form Str. 7–12!), sondern hier spricht 6 Vgl. dazu Axmacher, 112–117. 7 AaO., 113.

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Kommentare zu den Liedern

ein gemeindliches Ich, das sich durch den Glauben mit anderen verbunden weiß, noch gesteigert bei Gebrauch des Liedes sowohl im „Kirchen- als Privat-Gottesdienst“8 als typologisches „liturgisches Ich“9, welches auch das Credo spricht: „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen …“ – d. h. unterschiedlichste zum Gottesdienst versammelte selbstbestimmte Menschen (mit ihren je eigenen Sorgen, Zweifeln, Freuden, Lebensgeschichten) stimmen betend in einen für alle identischen Text in der Ich-Form ein (im bestem Falle aus ganzem Herzen!), damit zugleich voreinander bekennend. Folglich: Indem jeder einzelne mit anderen zusammen singt: Ich singe dir mit Herz und Mund, wird Glaube auf Erden kundgetan und Gemeinde mit konstituiert. Die Wirkungsgeschichte des „kindlich frohen“ Liedes (so R. A. Schröder) ist reichhaltig, bspw. war es das „Leiblied“ Johann Joachim Winckelmanns, dessen Text er in Italien in dem ihm extra zugesandten Gesangbuch bitter vermisste10. Adolf v. Harnack ermutigt in einer Predigt in notvoller Nachkriegszeit 1919 mit Str. 1 dazu, „deinen Augenpunkt so über der Erde und der Menschheitsgeschichte zu nehmen, daß du Ihn siehst. Sei so hochgemut und rein, dass du Seine Luft zu atmen vermagst …; dann … wird deine Seele nicht verzagen …!“11. Jochen Klepper widmete sich an seinem 36. Geburtstag dem Studium des Liedes12, um sich in schweren Anfechtungen von seiner Glaubensgewissheit tragen zu lassen. Auch Parodistisches, das eine hohe Bekanntheit des Textes voraussetzt, um wirken zu können, findet sich im erbaulichen Schrifttum, z. B. bei Klee.13 Neben der gottesdienstlichen Verwendung als Loblied mit starkem Schöpfungsbezug und als vergewisserndes Danklied kann besonders eine Verwendung im Taufgottesdienst empfohlen werden. Die bildhafte klare Sprache eignet sich darüber hinaus sehr gut für Kindergottesdienste.  Susanne Weichenhan Während Johann Crüger seit 1653 zu Paul Gerhardts Nun danket all und bringet Ehr die eigene Melodie aufführte, verwies er bei diesem Lied weiter auf seine Melodie von Lobt Gott, ihr Christen allzugleich (vgl. die Ausführungen zur Melodie bei EG 322). Diese Zuweisung hielt sich bis ins Freylinghausensche Gesangbuch 1741. Erst seit dem „Deutschen Evangelischen Kirchen-Gesangbuch in 150 Kernliedern“ von 1854 ist die melodiöse Parallelisierung der beiden Lieder üblich. Die von Crüger benannte dorische Melodie hatte nur eine klare Zäsur zwischen Z. 2 und 3, was in den meisten Liedstrophen dem zeilenübergreifenden Satzbau besser korreliert. Ihr Tripla-Takt korrespondierte als symbolische Repräsentanz göttlicher Heilsgegenwart spezifisch mit den durchgängig indikativischen, überwiegend präsentischen Aussagen von Gottes Heilshandeln. Die Eigenschaften der jetzigen Melodie, beschrie 8 Crüger, Widmung auf der Titelseite der Praxis Pietatis Melica 1653. 9 Wolfgang Ullmann, Ich singe dir mit Herz und Mund. Paul Gerhardts redliche Orthodoxie, FAZ vom 15.11.1993, L 14.  10 Erb, 122. 11 Adolf v. Harnack, Vom inwendigen Leben. Betrachtungen über Bibelworte und freie Texte, Heilbronn 1931, 156. 12 KlepperSch 31972, 439. 13 Ernst Klee, Gottesmänner und ihre Frauen. Geschichten aus dem Pfarrhaus, Frankfurt/M. 1979, 112.

324 Ich singe dir mit Herz und Mund

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ben im Kommentar zu EG 322, machen sie natürlich auch für diesen Text geeignet. Durch die Melodie-Identität wurden EG 322 und 324 gerade als „Double“ zum Inbegriff für Paul Gerhardts Lob- und Dankgesang. Der vierstimmige Satz ist im EG mit „Crüger 1653“ nachgewiesen. Das ist falsch. In Crügers Ausgabe der Praxis Pietatis Melica von 165314 erscheint zwar erstmalig diese Melodie bei Nun danket all und bringet Ehr, der Basso continuo, wie üblich mit abgedruckt, differiert aber mehrfach vom EG-Satz, und auch Crügers sechsstimmige Variante mit zwei Instrumentaloberstimmen von 1657 hat mit dem Satz im EG nichts zu tun; der Basso continuo geht mit dem von 1653 konform. Die EG-Fassung ist vielmehr übernommen aus Ludwig Schoeberleins „Schatz des liturgischen Chor- und Gemeindegesangs“, Band 2 (1868), Nr. 679, dort mit „Joh. Crüger, Prax. Piet. 1662“ nachgewiesen. In der genannten Ausgabe von 1662 findet sich aber ebenfalls die Fassung von 1653. Obgleich Schoeberlein im Vorwort betont, die Tonsätze seien „getreu nach den Originalen wiedergegeben“, hat er hier seine Vorlage bearbeitet. Wahrscheinlich lagen ihm nicht die opulenten Sätze aus Crügers „Geistliche Lieder und Psalmen“ (1657) vor, sondern die mit Generalbass notierten Liedfassungen aus dem Gesangbuch. Daraus machte er einen Chorsatz nach eigenem Gusto. Zur Beförderung der Sanglichkeit legte er den Bass an einigen Stellen höher – am Anfang etwa sind die ersten fünf Bassnoten bei Crüger F / G / A / B / G. Bei der Kadenz am Ende der zweiten Zeile änderte Schoeberlein die von Crüger notierte Vorhaltbildung mit „Quartenformel“ (f / e / f ) in den für seine eigene Zeit typischen Quartsextakkord samt gefühlsträchtiger Auflösung über Durchgangs-Septime. Am Strophenende kam Crüger vom Sextakkord über A (mit Septimvorhalt!) zur Dominante. Schoeberlein setzte noch einmal den für Choralbücher um 1850 signifikanten Quartsextakkord und führte ihn zum Quartvorhalt weiter. Als schlichter, harmonisch nicht überladener Vokalsatz ist dieser sehr praktikabel, und namentlich die Tenöre mögen sich freuen, wenn sie ihres Herzens Lust in die Durchgangsseptime legen können. Aber das für manche bisher mitschwingende Feeling – „wir singen einen originalen Crüger-Satz“  – ist fortan verwehrt. Die korrekte Angabe im Gesangbuch müsste nun lauten: „Satz: Ludwig Schoeberlein 1868 nach Johann Crüger 1662 (1653)“. 

Konrad Klek

14 Vgl. Hans-Otto Korth / Wolfgang Miersemann (Hg.), s. Anm. 1; Holger Eichhorn / Martin Lubenow (Hg.): Johann Crüger. Kritische Ausgabe ausgewählter Werke. Crüger Concert Choräle, Bd. I Geistliche Kirchen-Melodien 1649, Germersheim 2014, 103; Burkard Rosenberger (Hg.): Johann Crügers Geistliche Kirchen-Melodien (1649). Textkritische Edition, Münster 2014, 103.

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Kommentare zu den Liedern

350 Christi Blut und Gerechtigkeit EG 350  EM 295 Text

Verfasser Str. 1 16. Jh. (?), Leipzig 1638; Str. 2–5 Nikolaus von Zinzendorf 1739, bearbeitet von Christian Gregor 1778 Entstehung s. Kommentar Quellen (a)  New=Zugerichtetes Lutherisches GesangBüchlein, Leipzig 1638 (Str.1; dort mit dem Initium In Christi Wunden schlaf ich ein) * (b)  Anhang als ein zweyter Theil zu dem Gesang=buche der Evangelischen Brüder=Gemeinen: [das ist:] Christliches Gesang=Buch der Evangelischen Brüder=Gemeinen von 1735 (Achter Anhang 1739, Nr. 1258) * (c)  Gesangbuch zum Gebrauch der evangelischen Brüdergemeinen, Barby 1778, Nr. 399 Überschrift (a)  Ein anders * (b)  1258. Mel. 31 * (c) 399. Mel. 22 Ausgabe W IV,9 (Str. 1) Strophenbau A8/4a A8/4a A8/4b A8/4b vgl. Frank 4.58 Abweichungen (a) vgl. Kommentar * (b) insgesamt 33 Strophen, davon Strophen 1 (=EG Str. 1), 30 (=EG Str. 4) und 32 (=EG Str. 5) im EG mit folgenden Abweichungen: 1,4 wann ich in Himmel; 4,4 ewigs; 5,1 Du könig der ehren; 5,2 GOTT’S vaters; 5,5 erbarm dich nun * (c) insgesamt 20 Strophen, davon Strophen 1 (=EG Str. 1), 6 (=EG Str. 2), 16 (=EG Str. 3), 17 (EG= Str. 4) und 19 (=EG Str. 5) im EG mit folgenden Abweichungen: 1,4 ich in Himmel; 4,4 ewigs; 5,1 Du Kön’g der

ehren Verbindung TM (a) in der Q ohne M * (b+c) in der Q ohne N, die in der Überschrift angegebene „Mel. 31“ bzw. „Mel. 22“ ist eine Auswahl von 11 bzw. 13 Melodien in Form von Textincipits: (b) Ach bleib bey uns Herr (auch in [c]); Christ der du bist der helle; Christe der du bist tag und (auch in [c]); Die seele Christi heilge (auch in [c]); HErr aller weisheit; HErr JEsu Christ mein’s (auch in [c]); JEsus Christus unser; Ihr töchter Zions, die; Lob sey dem Allmächt. (auch in [c]); Nun kom der heiden; Vom himmel hoch da; (c): Christum wir sollen loben schon; Herr Gott, dich loben alle wir; Herr Jesu Christ, dich zu uns wend; Erhalt uns Herr bei deinem Wort; Wo Gott zum Haus nicht gibt sein’ Gunst; Wenn wir in höchsten Nöthen seyn; Herr Jesu Christ, wahr’r Mensch und Gott; Veni creator spiritus * weitere: Nun lasst uns den Leib begraben (EKG 174 / EG 520; zugewiesen im DEG [Melodienband] 1926, ausgeführt z. B. im Thüringer Gesangbuch 1938); Wenn wir in höchsten Nöten sein (EG 366, zugewiesen im DEG 1915); O Jesu Christ, meins Lebens Licht (EG 203; zugewiesen in EKG 273); Herr Jesu Christ, dich zu uns wend (EG 155); Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort (EG 193; 246); Wir danken dir, Herr Jesu Christ (EG 79)

Melodie

s. Wir danken dir, Herr Jesu Christ (EG 79) Literatur

HEKG (Nr. 273) I/2, 420 f; III/2, 245–248; Sb, 427–429; HEG II, 120 f.358–360 ** ThustB, 309 (Neufassung Ingelheim 2016, 286 f ); ThustL II, 159–161 ** Koch (31866– 1877) VIII, 595–601; KLL (1878–1886) I,

74 f; Bruppacher (1953) 285 f; RößlerL (22001) 671 f ** Kölbing, Friedrich Wilhelm: Der Graf von Zinzendorf. Dargestellt aus seinen Gedichten. Eine Skizze, Gnadau 1850, 9–16, bes. 12 * Müller, Joseph-Theodor: Hym-

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nologisches Handbuch zum Gesangbuch der Brüdergemeine, Herrnhut 1916, 87 * Marx, Rudolf: Zinzendorf und seine Lieder, Leipzig, Hamburg 1936, 30 * Neub, Waltraud: Pietismus und Luthertum in Zinzendorfs Liedern,

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Berlin 1951 (Manuskript), 12 f (Unitätsarchiv Herrnhut S 140/2) * Bintz, Helmut: Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Dichter der christlichen Gemeinde, Stuttgart 1979, 21–27

Zinzendorf verwendet die erste Strophe eines älteren Sterbe-Liedes, um im Anschluss daran zu verdeutlichen, was Christi Tod für uns bedeutet. Diese erste Strophe stammt aus dem Lied In Christi Wunden schlaf ich ein, das sich zuerst im Leipziger Gesangbuch 1638 findet.1 Es wurde früher Paul Eber zugeschrieben und könnte aus dem 16. Jh. stammen. Str. 1 lautet bei Wackernagel: In Christi Wunden schlaff ich ein, / die machen mich von sünden rein, / Ja Christi Blut und Herrligkeit / ist mein ornat und ehrenkleid. Bereits in Johann Martin Schamelius’ Evangelischem Lieder-Commentarius (Leipzig 1724) wurde diese Zeile geändert in: Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid.2 Zinzendorf übernahm das Lied aus dem Freylinghausenschen Gesangbuch3 ins Berthelsdorfische Gesangbuch von 1725 Nr. 852 in der Fassung, wie sie sich bei Wackernagel findet. Diese Fassung enthält auch das Marchesche Gesangbuch von 1731. Die ersten sechs Zeilen des Liedes druckte Zinzendorf auch noch einmal im Londoner Gesangbuch von 1753 Teil I, Nr. 507 als selbstständiges Lied ab. Nach August Gottlieb Spangenberg hat Zinzendorf das Lied Christi Blut und Gerechtigkeit, das er aus dem Freylinghausenschen Gesangbuch kannte, auf der Rückreise seines Besuchs auf den Karibischen Inseln nach Europa im Frühjahr 1739 gedichtet.4 Am 28. Februar war das Schiff von Eustachius abgegangen und am 22. April war er nach einer anstrengenden Schiffsreise wieder in Dover. In seinem Tagebuch berichtet er seiner Frau, dass er den 8. Anhang zum Herrnhuter Gesangbuch auf der Rückreise ganz „ins reine geschrieben“ habe. Dies deckt sich mit der Datierung des Vorworts zum 8. Anhang: „an bord des schiffes Aletta auf der höhe von Uschant am 16ten April 1739“. Island of Ushant oder Ile d’Ouessant ist der Bretagne vorgelagert und markiert im Süden den Eingang zum Kanal zwischen Frankreich und England. Wenn er dort die Reinschrift des 8. Anhangs vornahm, muss die Entstehung der Lieder davor erfolgt sein. In den ersten Tagen des Januar auf der Hinreise in die Karibik berichtet er: „Ich arbeitete auch etliche Lieder zum 8ten Anhang aus, sonderlich am Bettage. Es war grade der Tag, da die

1 Siehe W IV,9, wo es als dreistrophiges Lied abgedruckt ist. 2 Vgl. dazu Koch, VIII, 595. 3 2. Teil, 1714, Nr. 659; Gesamtausgabe von 1741, Nr. 1388. 4 Leben des Herrn Nicolaus Ludwig Grafen und Herrn von Zinzendorf und Pottendorf, 1775, ­1184–1186. Vielleicht kannte Zinzendorf auch die Fassung aus dem Hessen-Homburgischen Gesangbuch: Christi Blut und Gerechtigkeit soll seyn mein ruhm und höchste freud (Hessen-Homburgisches Neu-Vollstän­ diges Gesangbuch, Enthaltend Eine Sammlung von 1941 der außerlesensten Geist- und Lieblichen Alt- und Neuen Liedern, Homburg 1734, Nr. 1105). Dort heißt die Zeile: ja Christi Blut und Gerechtigkeit / ist mein Ornat und Ehren-Kleid. FT verweisen auf den Abdruck des 10-strophigen Liedes im Altonaer Gesangbuch 1767, 224, leider ohne Verfasserangabe. Es ist eine völlig selbstständige Bearbeitung des reformatorischen Liedes.

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ersten Grönländische Brüder sind abgefertigt worden5, und der unser Grönländischer Fest-Tag ist, dabey mir sehr wohl war.“6 Vermutlich entstand das Lied also schon auf der Hinreise dieses wagemutigen Schrittes einer Karibikreise, der ersten Reise Zinzendorfs in Übersee, um dem Vorwurf zu begegnen, er schicke seine Brüder leichtfertig in den Tod auf malariaverseuchten Tropeninseln. Zinzendorf war sich nicht sicher, ob er diese Reise überleben würde, und hatte darum ein Eventual-Testament verfasst. Die eschatologische Stimmung des Liedes In Jesu Wunden schlaf ich ein, das Rechnen mit einem möglichen Tod passt ganz zu der Situation vor Beginn der Fahrt. Die zweite Strophe, mit der Zinzendorf an das Lied von 1638 (s. oben) anknüpft, beginnt: Denn tret ich gleich mit vors Gericht, / Es kommt zu keiner Klage nicht./ Das macht ich bin schon absolvirt / Und meine Schuld ist abgeführt. Die Befreiung vor dem Endgericht und die Vergebung der Schuld auf Grund des Blutopfers Jesu ist die das ganze Lied beherrschende Grundstimmung. Bald nach seiner Rückkehr in die Wetterau im Mai brach Zinzendorf am 8. Juli zu einer Reise nach Süddeutschland7 auf und brachte anschließend einen Druck mit vier Liedern zur Erinnerung an die Begegnungen heraus, unter denen das Lied Christi Blut und Gerechtigkeit an erster Stelle steht und in voller Länge mit 33 Strophen abgedruckt ist.8 Es ist der früheste Druck des Liedes. Für eine Interpretation sollte sowohl der eschatologische Aspekt (mögliches Lebensende) als auch der Kontext der Mission in der Karibik und in Grönland seit 1732 bedacht werden, da Zinzendorf zur Unterstützung dieser Missionen seine Reise angetreten hatte. Hier seien zunächst die wichtigsten Veränderungen notiert, die das Lied innerhalb der Brüdergemeine im 18. Jh. erfuhr. Nach der ersten Fassung von 1739 und seinem bis auf winzige Veränderungen identischen Abdruck im Herrnhuter Gesangbuch, dritte Auflage von 1741 (33 Strophen) erscheint es im Londoner Gesangbuch von 1753 etwas gekürzt (31 Strophen). Christian Gregor hat das Lied im Gesangbuch von 1778 noch stärker auf 20 Strophen gekürzt und bearbeitet. Im Gesangbuch der Evangelischen Brüdergemeine von 1967 hat das Lied noch 17 Strophen, in der jüngsten Auflage von 2007 nur noch 10 Strophen. Das EG bietet nur fünf Strophen, und zwar entsprechen die Strophen 3 bis 5 den Strophen 26, 30 und 32 des Originals. Str. 2 ist eine Neudichtung von Christian Gregor anstelle von Strophe 11 bei Zinzendorf. Die von Gregor bearbeitete Str. 3 des EG lautet im Original: Nun weil ich noch im Leben bin, / So ist mein gantzes Hertz und Sinn,​/ Das ich mein’m Volck der Christenheit / Drauff helffen will zu aller Zeit. In Strophe 5 hat Zinzendorf statt Ehrenkönig: König der Ehren und statt der allgemeinen, von Christian Gregor gefassten Wendung erbarme dich eine zeitliche Intensivierung: erbarm dich nun. 5 Die ersten Grönlandmissionare Matthäus und Christian Stach und Christian David verließen Herrnhut am 19. Januar 1733. 6 Des seligen Jüngers Diarium seiner Reise nach Thomas (Unitätsarchiv Herrnhut, R.15.B.a.2.a). 7 Pfullingen, Kloster Hirsau, Schwäbisch Hall und Heilbronn. 8 Der Titel dieses Druckes lautet: „Eines Kindes Gottes Einfältiges Lieder-Geschenck Vor die Lieben Seelen zu Pfullingen, Hirschau, Schwäbisch Hall und Heilbrunn zum Andencken des Inhalts der am 8.9.11. und 13. Juli 1739 bey Ihnen gehaltenen Predigten von dem geschlachteten Lamm und der ihnen durch Blut erworbenen und schon gegebenen Gerechtigkeit, Heiligkeit und Seeligkeit, die sie nur nehmen dürffen, Büdingen, 16 S. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert.

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Das Lied enthält die Zinzendorfische Blut- und Wundentheologie, die er seit 1734, nach seiner Auseinandersetzung mit Johann Conrad Dippel (1673–1734), immer klarer entwickelte und die zum beherrschenden Thema der brüderischen Frömmigkeit und Missionstheologie wurde. Die einzelnen Strophen folgen keiner deduktiven logischen Gliederung, sondern entfalten das Motiv der Kreuzestheologie sternförmig vom Leitmotiv ausgehend nach den verschiedensten Richtungen hin. Die fünf im EG ausgewählten Strophen richten zunächst den Blick auf Jesu Blut und Wunden und weiten ihn dann auf Jesu Menschwerdung und schließlich auf sein Erbarmen über die ganze Welt. Diese Anordnung ergibt also eine klare Gliederung von dem Zentrum der Rechtfertigungslehre über die Inkarnation zur Erlösung der Welt. Strophe 1 ist eine eindrückliche Beschreibung lutherischer Kreuzestheologie, die über Jahrhunderte das Leitmotiv der Sterbeseelsorge bildete (vgl. dazu die Beschreibung der Todesstunden in den barocken Leichenpredigten). Zinzendorf ließ in diesem Sinne die Inschriften auf den Herrnhuter Grabsteinen in roter Farbe eingravieren, um die Symbolik des erlösenden, vergebenden Blutes Jesu als alleinige Ursache für die Annahme des Christen im jüngsten Gericht zu verdeutlichen. Die spätere Einfügung des Begriffs der Gerechtigkeit statt Herrligkeit (1724, 1734) nimmt das Motiv der Rechtfertigung des Sünders nach den Briefen des Paulus auf und damit die reformatorische Neuentdeckung Martin Luthers. Das Bild des Überkleidetwerdens stammt von Paulus (2. Kor 5,2–4) und geht auf das Alte Testament zurück, wo das Volk bekennt: alle unsre Gerechtigkeit ist wie ein beflecktes Kleid und der Begnadigte jubelt: er hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet (Jes 64,5; 61,10). Auch wenn diese erste Strophe nicht von Zinzendorf stammt, so entspricht sie doch ganz seiner Sicht des ewigen Gerichts, die wie seine gesamte Theologie vom Johannesevangelium geprägt ist. Er vertraut auf Jesu Verdienst und Genugtuung, die dem Glaubenden im Endgericht Gottes Gnade widerfahren lassen wird (Joh 5,24; 1. Joh 4,17a). Strophe 2, von Christian Gregor ergänzt, wiederholt noch einmal die beiden Stichworte und Grunddaten von Zinzendorfs Kreuzestheologie: Blut und Wunden Jesu. Zinzendorfs Blut- und Wundentheologie bildete sich in den Jahren 1740 bis 1750 aus. Nun konnte er sagen: „Der actus effusionis sanguinis gehört zur Rechtfertigung, aber zur Heiligung gehört die Application des Blutes.“9 Damit wird die Zielrichtung seiner Blut- und Wundentheologie angedeutet. Es geht in ihr um die Anwendung und Verwirklichung der zugerechneten Gerechtigkeit Gottes. In Christi Tod und Leiden – und Blut und Wunden sind ja nur Sinnbilder oder Chiffren für dieses Leiden – wird Christi Erlösung für den Menschen anschaulich und erfahrbar. Zinzendorf drückt es in Str. 8 seines Liedes so aus: Ich glaube, daß sein theures Blut, das aller unschätzbarste Gut, und daß es GOttes Schäze füllt und ewig in dem Himmel gilt. 9 Vgl. dazu Bernhard Becker, Zinzendorf und sein Christentum im Verhältnis zum kirchlichen und religiösen Leben seiner Zeit, Neudietendorf 1900, 366–374 („Die Blutlehre“). Das Zitat bei Spangenberg, Apologetische Schluß-Schrift, Leipzig und Görlitz 1752, 632.

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Oder in Str. 20: Und weil ich wußte, daß sein blut die Sünd verschwemmt mit seiner Flut, und daß man nicht muß will’gen ein, so ließ ich mirs ein’ Freude seyn.

Bei Christian Gregor sind Blut und Wunden mehr noch als bei Zinzendorf Chiffren für Christi Erlösungstat. In Strophe 3 deutet Gregor mit Zinzendorf den Sinn der Blut- und Wundentheologie an: Sie ist die Zuspitzung der in Christus offenbarten Gnade Gottes. Der Begriff der Gnade wird von Gregor neu eingeführt, er fehlt bei Zinzendorf in diesem Lied, dem Blut und Wunden der Inbegriff der Gnade sind. Man kann durchaus bei Zinzendorf von einer lutherischen Gnadentheologie sprechen, denn wie Luther legte er größten Wert darauf, dass der Mensch sein Heil nicht verdienen kann. Es ist bedauerlich, dass gerade die Strophen 14 und 15 des Zinzendorfschen Originals, die dieses Motiv genauer entfalten, nicht in das EG übernommen wurden. Sie lauten in der leicht modernisierten Fassung des heutigen Brüdergesangbuchs: Und würd ich durch des Herrn Verdienst auch noch so treu in seinem Dienst und sagte allem Bösen ab und sündigte nicht bis ins Grab: So will ich, wenn ich zu ihm komm, nicht denken mehr an gut und fromm, sondern: Da kommt ein Sünder her, der gern fürs Lösgeld selig wär.

Ein Leben in der Geborgenheit der Gnade, befreit von Schuld sowie den negativen Folgen von Vererbung und sozialer Abhängigkeit, das wollte die Brüdergemeine den Christen anbieten, und daher hießen ihre Orte: Gnadau, Gnadenfrei, Gnadenberg, Gnadenfeld, Genadendal/SA usw. In dieser von Gregor überarbeiteten Strophe kommt das missio­ narische Motiv, das in dem ganzen Lied verborgen ist, am deutlichsten zum Ausdruck. In Zinzendorfs ursprünglicher Fassung (s. o.) wird deutlich, dass er seine an Luther anknüpfende Kreuzestheologie in der Christenheit seiner Zeit vermisst und sich darum zunächst nur an diese wenden will. Gregor hat dieses polemische Element getilgt und auf die Heiden im allgemeinen Sinn bezogen, was durchaus der brüderischen Absicht entsprach. Strophe 4 spricht die Menschwerdung Gottes in Christus als das Urdatum des Erlösungsgeschehens an, denn Zinzendorfs Kreuzestheologie gründet wie bei Luther in dem Verständnis von Gottes Kondeszendenz und Inkarnation.10 Der Begriff Lösegeld spielt für Zinzendorfs Biographie eine besondere Rolle. In der Auseinandersetzung mit 10 Str. 4 knüpft bewusst an Luthers Weihnachtslied (EG 23) an, wie Zinzendorf in seinen Liedern und Ansprachen überhaupt gern Wendungen aus Luthers oder Paul Gerhardts Liedern aufnahm, weil sie ihm und der Gemeinde seit Kindheit vertraut waren und gern gesungen wurden. Vgl. dazu sein Weihnachtslied Die wahre Gnadensonne (BG Nr. 181), das fast nur aus Zitaten besteht.

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Dippel erkannte er, dass die aufgeklärte Theologie Dippels mit diesem biblischen Begriff nichts mehr anfangen konnte, dass aber „in der Nothwendigkeit des Todes Jesu und in dem Wort Lytron [Lösegeld] ein besonder Geheimniß, und grosse Tieffe stecke, wo die Philosophie zwar simpliciter stehen bleibe, und nicht weiter komme, die Revelation [= Offenbarung Gottes] aber unbeweglich drüber halte, das gab mir einen Aufschluß in die gantze Heils-Lehre“.11 Strophe 5 weitet den Blick über die Menschwerdung Christi hinaus. Der Titel König der Ehre (so im Original) knüpft an Psalm 24 an und bezieht ihn auf Christus. Zinzendorf konnte Christus überall im Alten Testament entdecken und die Aussage von Psalm 24,1 Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist mit Luther als christologische Aussage auffassen. Christi Versöhnungstat, die mit den Stichworten Blut und Wunden angedeutet wird, ist nun als Gnadenangebot für die ganze Welt verstanden und damit der Missionsgedanke noch einmal angesprochen. Zugleich ist es ein Kennzeichen Zinzendorfischer Theologie, dass er den Segen Jesu über alle, die Jesus nachfolgen, also die Gemeinde Jesu in aller Welt und in allen Konfessionen, Freikirchen oder Sondergruppen, speziell erbittet. Durch die starke Kürzung des Liedes im EG fallen mehrere Motive weg, die für Zinzendorf charakteristisch sind. Die Bezeichnung Jesu als Lamm Gottes, die im Titel des Erstdrucks auftaucht, wird im Lied zweimal aufgenommen. So heißt es in Str. 7 der ursprünglichen Fassung: Nun das heilig unschuld’ge Lamm, / Das an dem rauhen Creutzes-Stamm / Vor meine Seel gestorben ist, / Erkenn ich vor den HErrn und Christ. Auch die Strophen, die die ethischen Folgerungen aus Jesu Tod für mich ziehen, fehlen nun in der EG-Fassung ganz. Sie waren Zinzendorf immer eine notwendige und wichtige Folge seiner Kreuzestheologie, und ich nenne wenigstens eine Strophe: Wenn nun kam eine böse Lust, / So danckt ich GOtt, daß ich nicht mußt: / Ich sagte zur Lust, Stoltz und Geitz:/ Dafür hieng unser HErr am Creutz (Str. 21 im Herrnhuter Gesangbuch). Dass das Lied eine besondere Bedeutung für die Mission hatte, ersieht man auch daraus, dass es bald in die verschiedensten Sprachen übersetzt wurde: 1742 Englisch, Innuktitut, Lettisch, 1743 Französisch, Dänisch, Niederländisch, 1746 Mahicanisch, 1747 Estnisch, Tschechisch, 1774 Kreolisch.12 Dass es zu dieser weiten Verbreitung kam, mag auch an dem unkomplizierten Strophenbau und der eingängigen Bildsprache liegen, in der das Blut Jesu als Kleid des neuen Menschen vor Gott erscheint. Das Lied steht im Londoner Gesangbuch (Nr. 2066) unter der Rubrik „Lehrlieder“ an erster Stelle und zeigt, welche theologische Bedeutung Zinzendorf ihm beigemessen hat. Christian Gregor (Nr. 399) stellte es unter die Rubrik „Von der Vergebung der Sünden“ und damit an den Anfang der weiteren Stufen der Heilsordnung. Im EG lautet die Rubrik: „Rechtfertigung und Zuversicht“, auch hier wird es also dem Rechtfertigungsgeschehen zuge 11 Büdingische Sammlung Einiger In die Kirchen-Historie Einschlagender Sonderlich neuerer Schrifften. Bd. 1 Büdingen 1742, Vorwort, Anmerkung. Zum Begriff „Lytron“ bei Zinzendorf s. Becker (Anm. 9), 291–296. Ferner: Wilhelm Bettermann, Der lutherische Sinn der Blut- und Wundentheologie, in: Ders., Theologie und Sprache bei Zinzendorf, Gotha 1935, 55–64. 12 Der Herrnhuter Archivar Rüdiger Kröger hat eine Synopse aller Übersetzungen erstellt, dem ich für diese Information herzlich danke.

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ordnet. Das ist sicherlich auch für Zinzendorf zentral gewesen, doch sollte man darüber den eschatologischen und missionarischen Aspekt nicht aus dem Blick verlieren. Das Ursprungslied In Jesu Wunden schlaf ich ein steht im Hessisch-Homburgischen Gesangbuch von 1734 unter der Rubrik „Tod und Auferstehung“. Zinzendorfs Lied fand bald Eingang in die landeskirchlichen Gesangbücher. Der brüderische Komponist Heinrich Theodor Lonas (1838–1903) schrieb eine Kantate für Chor, Orgel und Orchester mit dem Titel: „Du leitest mich nach Deinem Rath und nimmst mich endlich in Ehren an.13 Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid.“14  Dietrich Meyer

13 Ps 73,24. 14 Erhalten im Herrnhuter Unitätsarchiv, Sign. Mus.E.52:4, vgl. RISM ID (https://opac.rism.info): 220014842).

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358 Es kennt der Herr die Seinen EG 358  EM 403 Text

Verfasser Carl Johann Philipp Spitta Quelle Psalter und Harfe. Zweite Sammlung christlicher Lieder zur häuslichen Erbauung (C. J. Ph. Spitta), Leipzig 18431 Überschrift Der Herr kennet die Seinen Ausgabe Psalter und Harfe. Sammlung christlicher Lieder zur häuslichen Erbauung (Carl Johann Philipp Spitta, hg. von Hans-Christian Drömann), Hannover 1991,

160–162 Strophenbau A7/3a- A6/3b, A7/3aA6/3b, A7/3c- A6/3d A7/3c- A6/3d vgl. Frank 8.7 ‚Hildebrandston‘ Abweichung EM: ohne Str. 5 Verbindung TM in der Q o. M * Alternative im EG: Ich freu mich in dem Herren (EG 349) * weitere: Felix Mendelssohn Bartholdy (in: Josef Bohn, Schulgesangbuch für höhere Lehranstalten, Trier 1902)

Melodie

s. Ich weiß, woran ich glaube (EG 357) Literatur

HEG II, 308–310 ** ThustB, 313 (Neufassung Ingelheim 2016, 291); ThustL II, 175 f ** Koch (31866–1877) VII, 243; * RößlerL (22001) 879f ** Heydrich, Jürgen: Untersuchungen zum geistlichen Lied der Erweckungsbewegung, Mainz 1962, passim * Förster, Fridolin / Lähnemann, Johannes: Es kennt der

Herr die Seinen [Dialogpredigt], in: Johannes Lähnemann (Hg.), Liedpredigten (mit Kunstwerken von Rika Unger), Nürnberg 1996, 93– 100 * Klahr, Detlef: Glaubensheiterkeit. Carl Johann Philipp Spitta (1801–1859): Theologe und Dichter der Erweckung, Göttingen 1999/ 22009, 213–250, bes. 236

Carl Johann Philipp Spitta hat schon in jungen Jahren Gedichte geschrieben und gehörte in der Studienzeit dem Göttinger Dichterkreis an. Aber nach seiner „Erweckung“, die sich unter dem Einfluss theologischer Lehrer wie Friedrich August Gottreu Tholuck in der Hauslehrerzeit im niedersächsischen Lüne entwickelte, entschloss er sich 1825, nur noch geistliche Lieder zu dichten. Er wollte „das neu gewonnene Glaubensverständnis mit dem künstlerischen Schaffen in Einklang“ bringen.2 Die vielen Lieder, die nun entstanden, wurden großenteils in zwei Schüben in der Sammlung „Psalter und Harfe“ 1833 und 1843 veröffentlicht. Sechs davon finden sich im EG. Das Lied Es kennt der Herr die Seinen gehört zu den späteren, zwischen 1832 und 1842 gedichteten Liedern, die 1843 im zweiten Band veröffentlicht wurden. Im Stammteil des EKG fehlte es noch, war aber in mehreren Anhängen vertreten (z. B. Schleswig-Holstein, Hessen-Nassau) und wurde schließlich ins EG aufgenommen. 1 Digitalisat: Bayerische Staatsbibliothek. 2 Detlev Klahr 22009, 213.

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Das Lied schöpft aus zwei biblischen Quellen. Mit dem immer wieder variiert aufgenommenen Es kennt der Herr die Seinen knüpft es an das Wort aus 2. Timotheus 2,19 an: Der Herr kennt die Seinen. Mit der Ausführung dieses Gedankens in den folgenden Strophen wird zugleich die Trias „Glaube – Hoffnung – Liebe“ aufgenommen, wie sie sich prominent in 1. Korinther 13,13 findet. Das Lied ist sehr klar aufgebaut: Strophe 1 entfaltet das Thema Der Herr kennt die Seinen; in den Strophen 2 bis 4 werden Glaube – Hoffnung – Liebe als Kennzeichen des Christseins vorgestellt (er kennt sie an …); die 5. Strophe fasst die Strophen 2 bis 4 in sprachlicher Aufnahme von Str. 1 zusammen und macht dabei deutlich, dass diese drei „Kennzeichen“ nicht menschliche Leistungen, sondern seiner Gnade Werk sind. Die letzte Strophe entfaltet das Gesagte noch einmal in der Form des Gebets und stellt das Ganze zum Schluss ins Licht der Eschatologie. Die erste Strophe beginnt mit dem Kernsatz des Liedes in wörtlicher Anknüpfung an 2. Timotheus 2,19. In der Rede Jesu vom Guten Hirten findet sich dieser Gedanke auch in der Ich-Form: Johannes 10,14: Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen (ähnlich  V. 27). Spitta stellt den Satz Es kennt der Herr die Seinen gleich in einen umfassenden, man könnte sagen: ökumenischen Kontext: die Großen und die Kleinen – in jedem Volk und Land – im Leben und im Sterben. Die Großen und die Kleinen findet man schon bei Ludwig Helmbold (EG 320,7), und man mag bei der Erwähnung der Kleinen auch an Jesu Umgang mit den „Kleinen“ (Mt 18,10) und den Kindern (Mk 10,13 ff ) denken. Speziell an die Kleinen sendet die gleiche Botschaft das zum Volkslied gewordene Lied Weißt du wieviel Sternlein stehen? mit seinem kennt auch dich und hat dich lieb. Das Lied ist in der gleichen Zeit entstanden wie das von Spitta, und der Autor Wilhelm Hey gehörte wie Spitta zur Erweckungsbewegung. In jedem Volk und Land lässt an Matthäus 28,19 denken. Dass alle vom Herrn Gekannten im Leben und im Sterben dem Herrn gehören, erinnert an Römer 14,8; Spitta, der lutherische Erweckungstheologe mit hugenottischen Vorfahren, wird hier aber auch den bekannten ersten Satz des Heidelberger Katechismus im Kopf gehabt haben: „Dass ich mit Leib und Seele, beides, im Leben und im Sterben nicht mein, sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin.“ Wer ist „der Herr“? Gott, der Herr, oder Christus Kyrios? Bei Wilhelm Hey bezieht sich das kennt auch dich und hat dich lieb auf Gott, den Schöpfer. Aber dass Spitta an den Kyrios Christus denkt, geht aus dem Bezug zur Rede vom Guten Hirten in Johannes 10,14 hervor. Trinitätstheologisch gehört beides natürlich zusammen. Die Dogmatik kennt die Lehre von den „notae ecclesiae“, den Kennzeichen der Kirche. In den Strophen 2–4 werden nicht Kennzeichen der Kirche, wohl aber Kennzeichen des Christseins beschrieben: Glaube, Hoffnung und Liebe. In Strophe 2 geht es um den Glauben. Glaube wird als Vertrauen zu dem unsichtbaren Gott beschrieben. In der Formulierung Glauben, der nicht schaut klingen Hebräer 11,1, Johannes 20,29, 2. Korinther 5,7 und 1. Petrus 1,8 an. Der für Martin Luther und die lutherische Theologie so wichtige Zusammenhang von Wort und Glaube wird in vier Aspekten eindrucksvoll verdeutlicht: – Der Glaube verdankt sich dem Wort. – Der Glaube lebt vom Wort. Die Nahrungs-Metapher (durch das Wort sich nährt) ist

358 Es kennt der Herr die Seinen

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uns als „geistige Nahrung“ vertraut und wird schon von Paulus (1. Kor 3,2) und im 1. Petrusbrief (2,2 f ) auf das Wort Gottes bezogen. – Der Glaube achtet die Autorität des Wortes. – Die Waffe des Glaubens ist das Wort, nicht die Gewalt (sine vi sed verbo). Im Pfingstlied (EG 136) bittet Spitta um die scharf geschliffnen Waffen der ersten Christenheit. In der 3. Strophe erscheint die Hoffnung nicht wie der Glaube und die Liebe in den anderen Strophen als unmittelbares Erkennungsmerkmal, sondern als Attribut des Mutes. Um solchen Mut betet Spitta auch im Pfingstlied (EG 136), wenn er in einer glaubensarmen Zeit um Befreiung von aller Menschenscheu bittet. In der Tat gehören Hoffnung und Mut zusammen. Die Hoffnung macht Mut, weil sie hilft, über gegenwärtig Bedrängendes hinauszuschauen auf Gottes Verheißungen. Dass die Hoffnung fröhlich ist, erinnert an Römer 12,12. Dass sie grün ist, steht in einer langen, christlich beeinflussten Tradition, in der Grün als Farbe des Lebens gilt.3 Das Grün des Frühlings wird mit der Auferstehungsbotschaft und damit der Hoffnung auf Leben und ewiges Leben verbunden (immerdar grün). Diese Verbindung zur Auferstehung steht wohl auch hinter der Feststellung, dass die Hoffnung auf dem Herr-Sein Christi ruht. Für das Bild der grünen Pflanze als Hoffnungszeichen kann man auch an Jeremia 17,7 ff denken: Wer auf den Herrn hofft, ist wie ein Baum, dessen Blätter grün bleiben (vgl. auch Psalm 1,3). Bei der 4. Strophe denkt man wegen der vorhergehenden Strophen zuerst an 1. Korinther 13,13 und kann sich am Schluss auch an das erträgt alles aus 1. Korinther 13,7 erinnert fühlen. Auch Römer 12,14 klingt an; daneben muss man die Verbindung zum 1. Johannesbrief (z. B. 4,11) sehen. Denn bei Paulus ist die Liebe als die höchste Gabe unter die anderen Gnadengaben (1. Kor  12 und 13) eingereiht; Spitta aber hebt im Sinne von Johannes mehrfach den Zusammenhang von Gottesliebe und Menschenliebe hervor. Die menschliche Liebe ist Frucht der Gottesliebe, und dieser Bezug wird durch das dreimalige wie er verstärkt. Im 1. Johannesbrief (3,1) wird es zudem gerade als Ausdruck der Liebe Gottes bezeichnet, dass wir Gottes Kinder sind, also, mit Spitta die Seinen ! Strophe 5 nimmt mit ihrer ersten Hälfte den Anfang fast wörtlich wieder auf. Das So zeigt an: Die vorhergehenden Strophen waren eine Entfaltung dieser Anfangsaussage. Darum werden die drei Kennzeichen des Christseins (der Seinen) zum Schluss der Strophe noch einmal genannt. Zugleich wird ein wichtiger zusätzlicher Gedanke angesprochen: Diese drei Kennzeichen des Christseins sind Gnadenwerke. Man hätte die Strophen 2–4 auch so verstehen können: Da werden menschliche Voraussetzungen, vielleicht sogar Bedingungen dafür genannt, dass Gott die Seinen kennt. Glaube, Hoffnung und Liebe wären dann menschliche Leistungen, Tugenden. Dazu muss man wissen, dass die mittelalterliche Theologie diese Trias in der Ethik behandelte: Die drei „geistlichen Tugenden“ (Glauben, Hoffen, Lieben) waren den vier „weltlichen Tugenden“ (die klassischen Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigkeit, Klugheit) gegenüber­ gestellt. Dem Missverständnis als menschliche Leistungen wehrt der dreifache Hinweis: 3 Vgl. Friedrich Kalb, Grundriss der Liturgik, München 1985, 83.

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Kommentare zu den Liedern

Es sind Gnadentriebe4, sie werden durch den Heiligen Geist geschenkt, sie sind das Werk der Gnade Gottes. In Krummachers Lied EG 407,2 wird der gleiche Gedanke so formuliert: Ohne dich zerstieben / würden mir im Nu / Glauben, Hoffen, Lieben … Ein weiteres So am Anfang der letzten Strophe wendet dieses Wissen von der Gnade in die Form des Gebets. Dass einer glaubt, hofft, liebt, ist nicht selbstverständlich, es muss erbeten werden. Dieses Gebet schließt mit einer eschatologischen Bitte: am letzten Tag, dem Tag des Weltgerichts, als „die Seinen“ an seiner Seite erkennbar zu werden. Auch hier sind die biblischen Bezüge deutlich: die Erzählung vom Weltgericht in Matthäus 25, besonders V. 33 (zur Rechten). Das ganze Lied ist, wie sich gezeigt hat, voller biblischer Bezüge und Anklänge, und es ist in einer klaren und einfachen Sprache geschrieben. Beides ist bezeichnend für die Lieder der Erweckungsbewegung und besonders auch für die Lieder von Spitta. Jede Strophe umfasst achtmal drei Jamben mit abwechselnd unbetontem und betontem Versschluss. Jürgen Heydrich hat in seinen „Untersuchungen zum geistlichen Lied der Erweckungsbewegung“ für die Lieder jener Zeit vom „Ton des frommen Biedermeiertums“ gesprochen, auf das man „heute“ (Heydrich schreibt 1962) empfindlich reagiere. Er spricht von „der Zeitgebundenheit, dem Verhaftetsein an eine bürgerlich-befriedete und zufriedene Existenz“5. Auch heute, 2017, könnte jedenfalls dieses Lied mit seiner Schlichtheit durchaus Menschen ansprechen, die umgetrieben sind von den Problemen der gegenwärtigen Welt: Die Globalisierung hat zu einem neuen Sinn für „Heimat“ geführt; die Anonymität in den Städten hat den Sinn für die Bedeutung des Individuums gestärkt; es gibt eine Sehnsucht, in der Masse noch wahrgenommen zu werden. Es dürfte kein Zufall sein, dass neue Lieder die Motivik von Spittas Lied auf ihre Weise aufnehmen. In dem Refrain-Lied Von allen Seiten umgibst du mich heißt es: Gott, du kennst mich. Du achtest auf mich. Nie gibst du mich verloren …6; und in Jan von Lingens Du bist da, du bist da heißt es: im Dunkel der Nacht hast du für mich schon gewacht7. Zu beachten ist beim Vergleich, dass Spitta von der Gemeinde redet (die Seinen), während die neueren Lieder in Anknüpfung an Psalm 139 vom „Ich“ des Einzelnen ausgehen. Im Vergleich mit solchen neuen, eher gefühligen Liedern wirkt Spittas theologisch reflektiertes Lied nüchterner. Es will die Gemeinde in ihrem Glauben vergewissern und lässt die singende Gemeinde am Schluss zur betenden Gemeinde werden. Was Jürgen Heydrich über die Lieder der Erweckungsbewegung sagt, trifft für dieses Lied zu: Sie nehmen „die Theologie und das christliche Ethos“ ernst, und ihnen gelingt „in vielen Fällen auch die ästhetisch reizvolle Form, die den Kunstwert eines Liedes ausmacht.“8 

Karl-Heinrich Lütcke

4 Jürgen Heydrich erwähnt die Vorliebe für zusammengesetzte Substantive als ein Stilelement der Lieder der Erweckungsbewegung (Heydrich 1962, 56). 5 AaO., 118. 6 Singt Jubilate. Lieder und Gesänge für die Gemeinde, 2012, Nr. 101. 7 AaO., Nr. 100. 8 Heydrich 1962, 48.

388 O Durchbrecher aller Bande

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388 O Durchbrecher aller Bande EG 388 (EM 422) Text

Verfasser Gottfried Arnold Entstehung vor 1698 Quelle CLXIX. Göttliche Liebes-Funcken (Gottfried Arnold), Frankfurt  /  Main 1698 Überschrift Das Seuffzen der Gefangenen. Nach der Melodey: JEsu meines Hertzens Freude /  meine Sonne / etc. Ausgaben Gottfried Arnolds sämmtliche geistliche Lieder mit einer reichen Auswahl aus den freieren Dichtungen und einem Lebens-Abriß desselben, ein Beitrag zur christlichen Hymnologie und Mystik, hg. von K. C. E. Ehmann, Stuttgart 1856, 81–83 Nr. 20 „Das Seufzen der Gefangenen. Weise: Jesu, meines Herzens Freude, meine Sonne etc.“; Gottfried Arnold. In Auswahl hg. von Erich Seeberg, München 1934, 289 f; Lieder des Pietismus aus dem 17. und 18. Jahrhundert, hg. von Christian Bunners, Leipzig 2003, 33 f, 99 f, Nr. 17 Strophenbau 8/4a- 7/4b, 8/4a- 7/4b, 8/4c- 7/4d 8/4c- 7/4d Frank 8.26 Abweichungen 1,6 wider unsers Adams Sinn;

1,7–8 bis uns dein so treu Gesichte führet aus; 2,7 von dem Treiben; 2,8 Ruhe-Stadt; 4,6 so harte drückt; 4,7 Ungeacht der Geist in Zeiten; nach 4: 5. Ach! erheb die matte Kräfften, 6. HERR / zermalme / brich und reisse, 7. Wir verlangen keine Ruhe, 8. Herrscher herrsche / Sieger siege ; 5,2 (in der Q = Str. 9) in Lust und Gefälligkeit; 5,6 alle schreyen; 6,8 deiner Hüll; 7,1 Liebe zeuch; 7,2 laß uns mit gekreuzigt; 7,6 Wo wir nur Verbindung TM in der Q o. N., aber mit Melodieangabe (s. o.): Z IV,6707 (DKL 169806) * eigene Meln.: wie EG (s. u.); Z IV,6710 (DKL 172310) * Z IV,6711 (Filitz 1847) * andere Meln.: Nürnberg 1684 (RKG 306; vgl. Z IV,6693/95 [O du Liebe meiner Liebe]; Herz und Herz vereint zusammen (1740, EG 251 = alternative Melodie in RKG 306); Z IV,6759 (Gott, hier sind wir, deine Kinder, 1822; unterlegt in: Stuttgart 1825)

Melodie

Incipit 12 3234♯ 55 Quelle Geist-reiches Gesang-Buch (Johann Anastasius Freylinghausen), Halle 1704 (DKL 170404) Ausgaben Z IV,6709; Johann Anastasius Freylinghausen. Geistreiches Gesangbuch. Edition und Kommentar, hg. von Dianne Marie McMullen und Wolfgang Miersemann, Bd. I/1, Berlin 2004, Nr. 286 Ambitus G: 8; Z: 54(54)8455 Abweichungen Q: Melodie mit Generalbass; Quarte höher; Taktvorzeichnung 𝄵, Zeilentrennstriche; Z. 2/4, N. 6: punktierte Viertel, N. 7: Achtel g’; Z. 5, N. 5–6: Achtel g’a’ (dein) g’ f ’ (Ge-); Z. 7, N. 5–6: Achtel f ’e’ (An-) f ’g’ (ge-); Z. 8 mit Wiederholung * EM: mit 4st. Satz (Stuttgart

1931); Ganzton höher Verbindung MT wie EG als Alternative zu: O du Liebe meiner Liebe (so die Überschrift der Quelle mit Verweis auf S. 132; vgl. Z IV,6693) * Geist des Glaubens, Geist der Stärke (EG  137 / EKG 410) * Herr, dein Wort, die edle Gabe (EG  198 / EKG-Regionalteil Pfalz 421 / EM 422) * Herr, die Erde ist gesegnet (EG  512 / EKG-Regionalteil Pfalz 489); Liebe, die du mich geliebet (1727) * Wo ist Jesus, mein Verlangen (1768); Lieber Tag, seh ich dich wieder (1784); Welt hinweg, ich bin dein müde (1788); Ach, erkennet, liebste Seelen (1800); Ich will danken und lobsingen (1819)

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Kommentare zu den Liedern

Literatur

HEKG (Nr. 262) I/2, 405–407; II/2, 106 f; III/2, 221–223; Sb, 411–414; HEG II, 27.127–130 ** ThustB, 342 f (Neufassung Ingelheim 2016, 319); ThustL II, 245–247 ** Koch (31866–1877) VIII, 432–434; KLL (1878–1886) II, 141; EEKM (1888–1895) II, 474–476; Julian (21907) 827  f; Nelle (31924/1962) Nr. 313; Schlunk (1951) 270– 272; Bruppacher (1953) 333 f ** Stählin, Traugott: Gottfried Arnolds geistliche Dichtung. Glaube und Mystik, Göttingen 1966, 35 f.108 f.132 * Sauer-Geppert 1984, 131 *

Henkys, Jürgen: Paul Gerhardt, Gottfried Arnold und die „guten Mächte“, GAGF 20 (03/2006) 52–66 * Busch, Gudrun: Lieder in „liederloser Zeit“, oder: „der Freylinghausen“ (1704/1714) als wiederentdeckte Klammer zwischen zwei Jahrhunderten deutscher Liedgeschichte. Versuch einer Bestandsaufnahme, in: Gudrun Busch  /  Wolfgang Miersemann (Hg.): „Singt dem Herrn nah und fern“. 300 Jahre Freylinghausensches Gesangbuch, Tübingen 2008, 1–54, bes. 26 (zur Melodie)

O Durchbrecher aller Bande ist das einzige Lied Gottfried Arnolds (1666–1714) im EG. Schon das EKG hatte in seinen Stammteil nur dieses eine Lied des pietistischen Dichtertheologen aufgenommen. Dagegen war auch Arnolds Lied So führst du doch recht selig, Herr, die Deinen1 bis in das 20. Jh. hinein weit verbreitet – Dietrich Bonhoeffer und Maria von Wedemeyer tauschten sich in Briefen über dieses Lied aus2, und Bonhoeffer hat für sein Gedicht Von guten Mächten3 Arnolds Strophenschema übernommen – es ist ohne Arnolds Vorlage wohl nicht zu denken.4 Wo aber ein Lied aus dem Kanon genommen wird, ist seine Wirkungsgeschichte häufig zu Ende. Unvergessen ist Gottfried Arnold5 wegen seiner „Unpartheyische(n) Kirchen- und Ketzer-Historie“ (1699/1700), mit der er einen Paradigmenwechsel in der Geschichte 1 Text: Gottfried Arnold, Goettliche Liebes-Funken, Frankfurt am Main 1698, 192–197: „CXXXIIX[!] Der beste Fuehrer. Im Thon: JEHOVA ist mein Licht und Gnaden-Sonne.“ – Das Lied hat 13 Strophen. – EKG Bayern 472. – Auch im Gesangbuch der evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz von 1998 fehlen O Durchbrecher aller Bande und So führst du doch recht selig, Herr, die Deinen, die in der Ausgabe von 1952 noch enthalten waren. 2 Brautbriefe Zelle 92. Dietrich Bonhoeffer Maria von Wedemeyer 1943–1945, hg. v. Ruth-Alice von Bismarck u. Ulrich Kabitz, mit einem Nachwort v. Eberhard Bethge, München 1994 (1992). – Bonhoeffers Hinweis in seinem Brief vom 9. September 1943: „Lies doch mal das Lied von Gottfr. Arnold, das die meisten Leute nicht kennen und das ich ganz besonders liebe; es ist schwer nach Inhalt und Melodie, fast zu schwer für ein Gemeindelied, aber man gewinnt es immer lieber; es beginnt ‚So führst du doch … ‘ und steht im Gesangbuch [Evangelisches Gesangbuch für Brandenburg und Pommern 1931, 230]“ (54) beantwortete Maria am 29. September: „Ja, das Lied von Gottfr. Arnold lese ich oft und werde dankbar daran“ (62). 3 EG 65. 4 Vgl. dazu Jürgen Henkys, Geheimnis der Freiheit. Dietrich Bonhoeffers Gedichte aus der Haft, Gütersloh 2005, 267 f und Geistliches Wunderhorn, 452–461. Vgl. auch Roger Friedrich, Eine Einstimmung, in: Gottfried Arnold zum 350. Geburtstag, Perleberg 2016, 4 f – In HEG III, H. 4, 36–41 gibt es (noch) keinen Hinweis auf diesen Zusammenhang. 5 Biographisches in: HEG II, 27. Seither / außerdem: Gottfried Arnold. Radikaler Pietist und Gelehrter. Jubiläumsausgabe von und für Dietrich Blaufuß und Hanspeter Marti. Offenhertzige Bekäntniß, Köln 2011; Gottfried Arnold, Gießener Antrittsvorlesung sowie andere Dokumente seiner Gießener Zeit und Gedoppelter Lebenslauf, hg. v. Hans Schneider, Leipzig 2012.

388 O Durchbrecher aller Bande

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der kirchlichen Geschichtsschreibung vollzog. Aber auch als Verfasser geistlicher Gedichte und Lieder6 ist er hervorgetreten. Seine Lieder sind so gut wie alle vor 1701 entstanden. Zuerst erschienen die Lieder 1698 in der Sammlung „Göttliche Liebes-Funcken“ in Frankfurt am Main7; eine zweite Sammlung folgte 1701.8 1704 kam „Ein neuer Kern rechtgeistlicher lieblicher Lieder“9 heraus. Im selben Jahr erschien der erste Teil des Freylinghausenschen Gesangbuchs, in den 22 Lieder Arnolds und in dessen zweiten Teil 1714 drei weitere aufgenommen wurden.10 In der Widmung zu den „Göttliche(n) Liebes-Funcken“11 an die Landgräfin Dorothea Charlotte von Hessen-Darmstadt (1661–1705), eine entschiedene Pietistin, stellt Arnold in einer mit Worten der Bibel und der Tradition reich geschmückten Rede die Liebe Gottes und das Gesetz, an dem die Menschen notwendig scheitern, scharf gegenüber. Wer aber gedemütigt sei, „wird endlich gewahr / daß Christi Lieb alle Erkänntnüß weit übertrifft“. Die Widmungszuschrift gipfelt in dem in fetten Lettern gesetzten Wort aus 1. Joh 4,16b: „GOTT ist die Liebe / und wer in der Liebe bleibet / der bleibet in GOTT / und GOtt in ihm: auff daß GOtt sey Alles in Allem.“ In der darauf folgenden „Vorrede“12, die auf den 12. Juni 1697 datiert ist, nimmt sich der Autor gegenüber „denen vortrefflichen Dichtern“13 ausdrücklich zurück – er will seine Gedichte vielmehr als Gelegenheitspoesie verstanden wissen  –; nicht das dichterische Handwerk, sondern die göttliche Eingebung mache sein Dichtertum aus. Überhaupt aber meint Arnold, dass von den Menschen „doch die Zeit und Kräffte am besten und verantwortlichsten angewendet [seien] / die sie auff Betrachtung beständiger göttlicher und ewiger Dinge gerichtet“ und nicht auf „Grillen“14 und auf die „Nichtigkeit aller Dinge“ dieser Welt.15 Ja, er bekennt: „Ich halte alles Dichten und Singen vor unnütze / das nicht aus dem Geist Gottes fleusset.“ Vielmehr sollte christliche Dichtung 6 Roger Friedrich, Reden vom Verborgenen, in: Gottfried Arnold zum 350. Geburtstag. Reden vom Verborgenen, Perleberg 2016, 6–17; Markus Matthias, Geistliche Liebestöne. Beobachtungen zur Lyrik Gottfried Arnolds (1666–1714), in: Irmtraut Sahmland, Hans-Jürgen Schrader (Hg.), Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus. Heilkunst und Ethik, arkane Traditionen, Musik, Literatur und Sprache, Göttingen 2016, 255–277. 7 Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts (VD 17), 39: 146898M (online). 8 Vorhanden z. B. in der Bibliothek des Michaelisklosters Hildesheim, GBA 1701. – Ein i.W. ablehnendes Urteil Valentin Ernst Löschers über das Buch findet sich bei Stählin (25) zitiert. 9 Vgl. künftig Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 18. Jahrhunderts (VD 18). 10 Nach Stählin 27 und HEG s.v. 11 Ohne Paginierung. 12 Ebenfalls ohne Paginierung. 13 Wie Martin Opitz, August Buchner (von denen er doch unzweifelhaft gelernt hat), Christian Hofmann von Hofmannswaldau, Angelus Silesius u. a. 14 DWb s.v.: närrische Gedanken, wunderliche Einfälle, Hirngespinste u. a. 15 In der „Historie von Gottfried Arnold“ im „Gedoppelte(n) Lebens-Lauff“ heißt es dagegen, in den „Göttliche(n) Liebes-Funcken“ habe er „dargethan was für ein fürtrefflicher teutscher Poet er sey / dessen Gedichte so lieblich / honigfliessend und zierlich / als innig und geistlich einem jeden erscheinen … daß er ein Meister der teutschen Sprach / ja auch der Zung / Feder und Gemüths gewesen“ (Schneider 2012 [s. Anm. 5], 158,13–16; 159,2–4).

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Kommentare zu den Liedern

aus Gebet und Gehorsam des Glaubens erwachsen, unbeeindruckt und unbeeinflusst von der „Welt“. „Dir aber / Gottbegierige Seele / wünsche ich / bey dem Eingang in diesen dir gleichsam geöffneten Garten / die Quelle der Liebe / Christum JEsum selbst in dein Hertz.“ Die Seele möge sich nur ganz und gar auf Jesus einlassen. „Summa: Er soll dir Eins und Alles / ja Alles in Allem werden / seyn und bleiben.“ Das ist das Selbstverständnis des Dichters. O Durchbrecher aller Bande steht in den Göttliche(n) Liebes-Funcken an letzter Stelle16 und trägt die Überschrift: „Das Seuffzen der Gefangenen“, gefolgt von einer Abhandlung „Von den Stuffen der Christen“. In dieser führt Arnold aus, wie die „Welt-Kinder“ Christen werden, durch Bekehrung und Wiedergeburt und Wachstum im Glauben. Das Gesetz kann dazu nicht helfen; allein das Evangelium führt den Menschen in ein neues Leben, und es ist Christi Werk und nicht Menschenwerk, dieses neue Leben zu erfahren und in seinem Sinne zu führen. Die „Göttliche(n) Liebes-Funcken“ enthalten bereits unter der Nummer „XII.“ (14 f ) ein Gedicht mit dem Titel „Das Seufftzen des [!] Gefangenen“, das sich thematisch mit O Durchbrecher aller Bande berührt.17 Das kraftvolle, in seinen machtvollen Bildern drängende Lied ist ein Freiheitslied par excellence, das im EG seinesgleichen sucht: frei und bloß (orig. 5,4) soll der Mensch werden, und von der wahren Freiheit (orig. 6,7) wird ebenso gesungen wie von der Freiheitsbahn (5,8), um am Ende in den Traum der himmlischen, ewigen Freiheit zu münden (7,8). Der Text ist insgesamt geprägt von Römer 8,19 ff, Psalm 126 und Römer 6,4 ff; daneben lässt sich biblische Sprache an zahlreichen Stellen erkennen.18 Von den ursprünglich elf Strophen, die das EKG noch vollständig bietet, sind die Strophen 5–8 in das EG nicht mehr aufgenommen worden. Der Grund für die Streichung dürfte in den aggressiv wirkenden Bildern liegen, mit denen Arnold die Sänger Gott anrufen lässt. Die Strophen lauten in der Fassung von 1698: 5. Ach! erheb die matte [!] Kräfften /  Sich einmahl zu reissen loß / Und durch alle Welt-Geschäfften Durchgebrochen stehen bloß.19 Weg mit Menschen-Furcht und Zagen / Weich Vernunffts-Bedencklichkeit! Fort mit Scheu vor Schmach und Plagen / Weg des Fleisches Zärtlichkeit! 6. HERR / zermalme / brich und reisse Die verboßte20 Macht entzwey / Dencke / daß ein armer Waise 16 Und zwar nach einer Zwischenüberschrift „Folgen noch einige Gedichte / so man aus einem andern Büchlein hieher zu setzen dienlich geachtet“ (177). 17 Text auch bei Seeberg 1934, 264 f. 18 Vgl. auch Stählin 35 f und die – nicht immer ganz überzeugenden – Einzelnachweise in: HEKG, 405–407. 19 EKG: Durchzubrechen frei und bloß. 20 Vgl. DWb s.v. verbosen: böse / schlecht gemachte, depravierte.

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Dir im Tod nichts nütze sey.21 Heb ihn aus dem Staub der Suenden / Wirff die Schlangen-Brut hinauß 22 / Laß uns wahre Freyheit finden In des Vatters Hochzeit-Hauß.23 7. Wir verlangen keine Ruhe Vor das Fleisch in Ewigkeit.24 Wie dus nöthig findst / so thue noch vor unser Abschieds-Zeit: Aber unser Geist der bindet Dich im Glauben / Läst dich nicht / Biß er die Erlösung findet / Da ihm Zeit und Krafft gebricht. 8. Herrscher herrsche / Sieger siege / König brauch dein Regiment / Führe deines Reiches Kriege / Mach der Sclaverey ein End 25 / Laß doch auß der Grub die Seelen26 Durch des neuen Bundes Blut27: Laß uns länger nicht so quälen / Dann du meynsts mit uns ja gut.

Mag die pietistische Anklage und Selbstanklage schon manchen Zeitgenossen fremd erschienen sein, meinten die Gesangbuchrevisoren wohl, sie werde den meisten Nutzern des EG vollends unzeitgemäß vorkommen. Freilich geht mit der Streichung manches verloren: der Aufruf zur Trennung von den Welt-Geschäffte(n), der Ruf, sich von Menschenfurcht nicht beeindrucken zu lassen, auch der pietistische Einspruch gegen die Vernunffts-Bedencklichkeit, schließlich das Ringen mit Gott um die Erlösung: Aber unser Geist der bindet / Dich im Glauben / Läst dich nicht. Ist von Freiheit die Rede, so auch von dem, was ihr entgegensteht: Bande (1,1), Kerker (1,8) und Grube (orig. 8,5), des Kreuzes Niedrigkeiten (3,7), Ketten (4,1), die Natur (4,4) im Sinne der durch die Sünde verderbten menschlichen Natur, der Dienst der Eitelkeiten (4,5), Welt-Geschäffte (orig. 5,3), die Macht der Finsternis (orig. 6,2) und der Staub der Sünde (orig. 6,5), das Fleisch (orig. 7,2), Sclaverey (orig. 8,4), Lust und Eigenheit (5,2) und der Tod der Eitelkeit (5,4)  – sie allesamt werden als Last (5,5) erfahren, die den Menschen niederdrückt. 21 EKG: Herr, zermalme, brich, vernichte / Alle Macht der Finsternis / Unterwirf sie dem Gerichte / Mach des Sieges uns gewiß. 22 Vgl. Mt 3,7.12,34; Lk 3,7. 23 Vgl. Mt 22,1–14. In der Fassung des EKG: Droben in des Vaters Haus wird der Rekurs auf den Bibeltext undeutlich. 24 Vgl. Röm 8,3–13. 25 Vgl. 1. Kor 12,13; Gal 3,28; Kol 3,11. 26 EKG: Aus dem Kerker führ die Seelen. 27 Vgl. Mt 26,28; Mk 14,24; Lk 22,20.

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Kommentare zu den Liedern

Das Lied ist bestimmt von der Rede von wir (3,3.5; 4,2; 5,1.6; 6,1; 7,6.7)28 und uns bzw. unsre (1,2.6.7; 3,1.4.8; 4,1.6; 5,2.5; 6,4.7; 7,1.2.4)29. Es geht also fast ständig darum, wie wir sind, was uns bedrückt und wer uns befreien soll. Von der ersten Strophe an wendet sich die singende Gemeinde an Jesus Christus, den Durchbrecher30 aller Bande (1,1), der aus dem Kercker31 führt, den Herrn (orig. 6,1), Herrscher und Sieger (orig. 8,1), König (orig. 8,2) und die Liebe (7,1): Jesus Christus gibt denen, die zu ihm kommen, Anteil an seiner Kraft. In der zweiten Strophe wird Jesus daran erinnert, den Heilswillen seines Vaters zu vollenden.32 Um dieses Ziel zu erreichen, hat er alles, was dazu erforderlich ist: Weisheit, Lieb und Stärk – eine poetische Aneignung von Jesaja 11,2: Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn. Jesus soll sein Eigentum behaupten, das Geschenk, das ihm der Vater gemacht hat, aus der Unruhe dieser Welt33 in sein Reich führen, in dem süße Ruhe herrscht – in 7,4 wird dieser Ort als Paradies benannt. Jesus, dem im Himmel und auf Erden alle Macht gegeben ist, kann die Menschen in Unruhe – Augustins Wort aus den Confessiones (1,1) inquietum est cor nostrum donec requiescat in te (unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir) war auch dem gelehrten Arnold geläufig – zur Vollendung bringen, wie er es ja auch will. Aber ER ist es, der es tut – und nicht nur mit den Händen, sondern auch mit dem Herzen, und mit dem Mund ohnehin. Christgläubige sind verachtet vor der Welt, werden als Gefangene betrachtet – eine theologia crucis zeitigt ihre Wirkungen. Aber der Allerverachtetste war doch ER – das Kreuz hat uns, die Menschen, nur verachtet und unansehnlich gemacht. Jesus wird geradezu beschworen, die Gefangenschaft der Menschen anzusehen, die sich nach der Erlösung des Leibes sehnen – Römer 8,14–25 bildet erkennbar den Hintergrund gerade für diese Strophe. Gefangen in der Kreatürlichkeit richtet sich der Geist gelegentlich auf etwas Bessers, das aber noch aussteht. Wenn wir uns in uns selbst gefangen haben – als einem lutherisch gebildeten Theologen war Arnold die seit Augustin geläufige Vorstellung des homo incurvatus in seipsum, des in sich selbst verkrümmten Menschen, eben des alten Adam, vertraut34 –, dann soll

28 Außerdem orig. 7,1. 29 Außerdem orig. 7,4.5; 8,7.8. 30 Vgl. Mi 2,13. – Vgl. auch orig. 5,4. 31 Vgl. Ps 142,8. 32 Arnold könnte etwa an die Strophen 5 und 6 von Luthers Lied Nun freut euch, lieben Christen gmein (EG 341) gedacht haben. 33 Der Text der 2. Auflage der „Göttliche(n) Liebes-Funcken“ bietet anstelle von Treiben Treiber. Stählin (95 und Anm. 37) plädiert für diese Lesart „als die ursprüngliche Form“. – Aber wer ist der Treiber? Das Gesetz? Der Satan? 34 Vgl. etwa Luthers Auslegung von Röm 5,4 in der Vorlesung 1516: „Der Grund ist, dass unsere Natur durch die Verfehlung der ersten Sünde so tief in sich selbst verkrümmt ist, dass sie nicht nur die besten Gaben Gottes sich einbiegt und sie gebraucht […], sondern auch Gott selbst benutzt, um diese zu verfolgen; aber auch dasselbe nicht kennen will, dass sie derart unrecht, verdreht und niederträchtig alles, sogar Gott, um ihrer selbst willen sucht“ (WA 56, 304,25–29).

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Jesus Christus wenigstens den Weg zeigen, auf dem dieser Zustand überwunden werden kann, einen Weg, der ja schon gebahnt, gebrochen ist. Die letzte Strophe beginnt mit der Anrede Liebe, in der sich gleichsam alle Christustitel vereinen  – nach den Ausführungen in der Vorrede ist dieses Gottesprädikat der eigentliche Ziel- und Angelpunkt von Arnolds Gottes- und Christusverständnis. Entsprechend den paulinischen Ausführungen in Römer 6 sollen die Menschen mit Christus sterben und mit ihm auferstehen und leben. Geradezu drängend wird er abschließend beschworen: Warte nicht, verziehe nicht und lass uns nicht lau sein – es wird traumhaft sein, wenn die Freiheit35 anbricht. Seiner unzeitgemäßen Textgestalt zum Trotz stellt das Lied die weiterhin aktuelle Frage nach dem Anbruch der Freiheit als einem zentralen Element der christlichen Theologie und des christlichen Glaubens. O Durchbrecher aller Bande bezeugt mit drastischen Bildern und in drängender Sprache, dass dieser Anbruch Gottes, nicht der Menschen Werk ist.36 

Johannes Schilling / Brinja Bauer

Gegenüber der Originalfassung in Freylinghausens „Geist-reichem Gesangbuch“ ist die Melodie an mehreren Stellen vereinfacht – die Einzelnachweise sind bei den hymnologischen Angaben zu Beginn dieses Liedkommentars aufgeführt. Einige Achtelumspielungen sind entfernt, ebenso die Antizipationsfiguren am Stollenende und am Melodieende. Ferner fehlt die bei Freylinghausen angegebene Wiederholung der letzten Zeile, eine „petite reprise“, die in barocken Suitensätzen häufig anzutreffen ist. Die Bezifferung des Originals weist zudem auf stark verzierte Kadenzen am Ende mehrerer Zeilen hin (Z. 1/3, 2/4, 6, 8). Die Taktstriche sind im EG um einen halben Takt verschoben, so dass die Melodie mit einem Auftakt im Umfang eines halben Takts beginnt, offenbar im Hinblick auf die Textbetonung. Die Originalfassung dagegen beginnt mit einer vollständigen Mensur und lässt damit an die alte Tanzgattung der Pavana denken, einen ernsten Schreittanz in geradem Takt und gleichmäßiger Bewegung. Dem Tanztyp entspricht auch der regelmäßige periodische Bau; jeweils zwei Takte bilden eine Phrase. Die Phrasen beginnen im Original mehrheitlich in gleichmäßigem Rhythmus und sind im zweiten Takt etwas belebt. Die Gleichmäßigkeit ist in der heutigen Fassung meist auf die gesamte Phrase ausgedehnt, so dass der barocke ariose Charakter kaum noch zu spüren ist. Dennoch bleibt die Melodie im Rahmen der barocken Textdeklamation, indem dem fallenden Akzent der trochäischen Silbenpaare fast durchgehend Rechnung getragen wird, entweder durch Sekundabstieg (Z. 1/3, 6, 8) – teilweise durch Punktierung ver 35 Zum Verständnis der Freiheit bei Arnold vgl. Hermann Dörries, Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold, Göttingen 1963, 190 f. Anm. 63; Stählin 106–109. 36 Die letzte Strophe berührt sich thematisch und sprachlich mit der siebten Strophe von Arnolds Lied O der alles hätt verloren: O, du Abgrund aller Güte, / zeuch durchs Kreuz in dich hinein / Geist und Herz, Sinn und Gemüte, / ewig mit dir eins zu sein! Weitere motivische und thematische Berührungen mit anderen Texten Arnolds sowie mit solchen Luthers und Jakob Böhmes (dazu Stählin 43–48) dürften unschwer auszumachen sein – eine systematische Suche nach Parallelen kann in diesem Rahmen nicht erfolgen.

[25] 68

Kommentare zu den Liedern

deutlicht (Z. 5, 7) – oder durch Tonwiederholung, bei welcher der zweite Ton nur als ein Nachklingen des ersten wahrgenommen wird (Z. 1/3, 2/4, 5, 6, 7). Da die Melodie auch in der vereinfachten Fassung überwiegend linear in Sekundschritten verläuft und die Tonumfänge der einzelnen Zeilen mit Ausnahme der ersten Abgesangszeile klein sind, ergibt sich im Gesamten ein eher zurückhaltender Affekt, der hinter der emotionalen Intensität des Textes ein Stück weit zurückbleibt. Hier war die Melodie, die dem Text im alten Reformierten Kirchengesangbuch der Schweiz von 1952 (Nr. 306) zugewiesen war, deutlich emotionaler, nämlich eine etwas vereinfachte Fassung von O du Liebe meiner Liebe (Z IV,6695). Diese Zuweisung findet sich im Schaffhauser Gesangbuch 1841 (Nr. 350, Melodie bei Nr. 122). Der Vorzug der vorliegenden Text-Melodie-Verbindung liegt dagegen darin, dass sich die Zeilenphrasen gut zu Doppelphrasen verbinden, dies vor allem bei den Stollenzeilen, und so dem Lied einen größeren Atembogen verleihen. 

Andreas Marti

416 O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens

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416 O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens EG 416  (RG 800)  EM 585 Text

Verfasser früher Franz von Assisi zugeschrieben Entstehung vgl. Frieder Schulz: Das sogenannte Franziskusgebet. Forschungen zur evangelischen Gebetsliteratur (III), JLH 13 (1968) 39–53 Vorlage Andachtsbild um 1912, vgl. JLH 13, 48, Tafel I, Abb. 1,2 Ausgabe JLH 13

(1968) 48 [älteste deutsche Textfassung, auf ca. 1945 zu datieren. Sie stammt von A. Ohly und ist handschriftlich überliefert.] Strophenbau rhythmische Prosa Abweichungen vgl. JLH 13 (1968) 8 Verbindung TM in der Q ohne M * Theophil Rothenberg 1958 (EG BT 656)

Melodie

Incipit 53_568753 32133_. Verfasser Rolf Schweizer Entstehung 1962, erweitert 1969 Quellen (a)  Bausteine für den Gottesdienst, hg. von Jochen Schwarz, im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Musik in der Evangelischen Jugend Deutschlands. Melodieheft, Neuhausen-Stuttgart 1968 * (b) Neue geistliche Lieder. Anhang 71, Neuhausen-Stuttgart 1971

Besonderes Strophen auskomponiert Ambitus G: 12; Z: 8587b 87b87b8 (8587b) 6858555 (8587b) 6657b (8587b) Abweichungen (a) nur Kehrvers und Vers 1 (bis „Kummer wohnt“) mit da Capo Vermerk; Halbton höher * (b) Halbton höher * RG: ohne Noten; EM: mit Begleitsatz (Christoph Peter); nur Kehrvers mit Noten Verbindung MT (a+b) wie EG

Literatur

HEG II, 293–295 mit Ergänzungen in JLH 55 (2016) 245 f ** ThustB, 358 f (Neufassung Ingelheim 2016, 336); ThustL II, 302–304 ** Meyer (21997) 271 f.274–276 ** Schulz, Frieder: Das sogenannte Franziskusgebet. Forschungen zur evangelischen Gebetsliteratur (III), JLH 13 (1968) 39–53; Wiederabdruck mit Nachträgen von 1994 in: Ders., Mit Singen und Beten. Forschungen zur christlichen Gebetsliteratur und zum Kirchengesang. Gesammelte Aufsätze, hg. von Alexander Völker, Hannover 1996 * Schweizer, Rolf: O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens, WEG 2, 1994, 32–34 * Meyer, Frank:

„Herr, deine Lieder sind wie Schmalz und Honig“? Eine kritische Analyse besonders erfolgreicher Neuer Geistlicher Lieder, in: Lothar Käser (Hg.), Wort und Klang. Martin Gotthold Schneider zum 65. Geburtstag, Bonn 1995, 133–187, bes. 141–144 * Postweiler, Angela / Ludwig, Ulrich: Werkverzeichnis von Rolf Schweizer, Pforzheim 2001 * Renoux, Christian: La prière pour la paix, attribuée à saint François: une énigme à résoudre, Paris 2001 (mit 40 Textfassungen in verschiedenen Sprachen) * Schulz, Frieder: Neue Forschungen über das sogenannte Franziskusgebet, JLH 41 (2002) 46–53

Unter der Überschrift „Nächsten- und Feindesliebe“ finden wir mit der Nummer 416 ein Gebet, das wie kaum ein anderes im 20. Jh. in katholischen wie evangelischen Gemeinden weltweit eine Selbstverpflichtung zum aktiven Friedenstiften in der Nachfolge

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Kommentare zu den Liedern

Jesu formuliert. Bei der Übertragung ins Deutsche wie auch bei der Umformung zum Gemeindelied hat dieses Friedensgebet Veränderungen erfahren. Liegt der Schwerpunkt des Gebets zunächst in einer individuellen innig-mystischen Christusfrömmigkeit, wird das Gebet durch die völker- und staatenübergreifende Rezeption während der beiden Weltkriege zu einem grundlegenden Bekenntnis der Christen zu entschiedenem gewaltfreiem Handeln für den Frieden. Schon in frühen Veröffentlichungen des ursprünglichen Textes (seit 1927) ist der Zusatz zu finden „Franz von Assisi zugeschrieben“, doch gibt es keine Quellen, die vor das Jahr 1912 reichen. Noch beim Erscheinen des EG im Jahr 1993 war die Herkunft des Gebetes unklar. Im Jahr 2002 erschien in Paris eine umfassende Studie des französischen Historikers Christian Renoux: „La priere pour la paix, attribuée a saint François“, die die Textgeschichte samt einer Vielzahl von Übersetzungen aus allen Teilen der Welt dokumentiert. Frieder Schulz hat im Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie1 diese Studie dargestellt. Die älteste Quelle ist die Dezemberausgabe 1912 der kleinen Zeitschrift „La Clochette“2. Ein Verfasser ist dort nicht genannt; manche vermuten, Priester Abbé Esther Bouquerel, der Herausgeber der Zeitschrift, habe das Gebet geschrieben. Die Überschrift lautet: „Belle priere à faire pendant la Messe“, deutsch: „Ein schönes Gebet zum Sprechen während des Messgottesdienstes“. – Während der Priester dem Altar zugewandt die lateinischen Worte der Wandlung und des Messopfers murmelt, sollen die Teilnehmenden diese Gebetsworte einer eigenen inneren Wandlung und Lebenshingabe im Geist Christi sprechen. Der erste Kontext des Gebetes ist laut Frieder Schulz ein „Impuls zur Erweckung einer eucharistischen Frömmigkeit“3, also einer alles umfassenden Lebenspraxis auf der Spur der Lebenshingabe Jesu Christi, die in der Feier der Eucha­ristie erinnert, verinnerlicht und als nachzuahmendes Vorbild gefeiert wird. Immer wieder wird im Zusammenhang mit dem Lied das „Souvenir Normand“ genannt. „Souvenir Normand“ ist der Name einer französisch-englischen Vereinigung, die sich für Frieden und Gerechtigkeit in Europa einsetzte. Der Impulsgeber dieser Bewegung, Marquis Stanislas de la Rochethulon et Grente, sandte das Friedensgebet im Namen des „Souvenir Normand“ während des 1. Weltkriegs an Papst Benedikt XV. Durch einen Abdruck 1916 in italienischer Sprache im Osservatore Romano wurde das Gebet nun in der katholischen Welt rasch weit bekannt. Der Zusatz „dem heiligen Franz von Assisi zugeschrieben“ findet sich erstmals 1927 in einer Veröffentlichung der evangelisch inspirierten französischen Friedensbewegung „Mouvement des Chevalliers du Prince du Paix“. Im Jahr 1919 war in Straßburg die Franziskusbiographie des protestantischen Theologieprofessors Paul Sabatier erschienen. Daraufhin hatte sich eine evangelische Variante des dritten franziskanischen Ordens4 ge-

1 Schulz 2002. 2 Deutsch: Das Messglöckchen. Nr. 12, Dezember 1912, 12. 3 AaO., 48. 4 1. Orden: Franziskanerbrüder, 2. Orden: Clarissen, 3. Orden: Laiengemeinschaft außerhalb der Klöster.

416 O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens

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gründet, in dessen Zeitschrift das Gebet abgedruckt worden war. – Festzuhalten bleibt: Die Zuschreibung an Franz von Assisi entbehrt der äußeren Anhaltspunkte und stammt aus einer empfundenen Nähe im Zusammenhang der Wiederentdeckung des Heiligen Franz in den Jahren um den 1. Weltkrieg. Die Zuschreibung an Franziskus verdeckte – zumal in evangelischen Kreisen – die Wurzel des Textes in einer in den Evangelien gegründeten Christusfrömmigkeit. Wenden wir uns dem ursprünglichen Text des Gebetes zu.5 (A) 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Seigneur, faites de moi un instrument de votre paix. Là où il y a de la haine, que je mette l’amour. Là où il y a l’offense, que je mette le pardon. Là où il y a la discorde, que je mette l’union. Là où il y a l’erreur, que je mette la vérité. Là où il y a le doute, que je mette la foi. Là où il y a le désespoir, que je mette l’espérance. Là où il y a les ténèbres, que je mette votre lumière. Là où il y a la tristesse, que je mette la joie.

Herr, mach aus mir ein Werkzeug deines Friedens. Da, wo es den Hass gibt, dass ich setze die Liebe. Da, wo es die Beleidigung gibt, dass ich setze das Verzeihen. Da, wo es die Zwietracht gibt, dass ich setze die Einung. Da, wo es den Irrtum gibt, dass ich setze die Wahrheit. Da, wo es den Zweifel gibt, dass ich setze den Glauben. Da, wo es die Verzweiflung gibt, dass ich setze die Hoffnung. Da, wo es die Finsternis gibt, dass ich setze dein Licht. Da, wo es die Trauer gibt, dass ich setze die Freude.

(B) 10 11 12 13

O maître, que je ne cherche pas tant à être consolé qu’à consoler; à être compris qu’à comprendre; à être aimé qu’à aimer.

O Meister, dass ich nicht so sehr strebe, getröstet zu werden, wie zu trösten; verstanden zu werden, wie zu verstehen; geliebt zu werden, wie zu lieben.

(C) 14 Car c’est en donnant qu’on reçoit; 15 c’est en s’oubliant qu’on trouve; 16 c’est en pardonnant qu’on est pardonné; 17 c’est en mourant qu’on ressuscite à l’éternelle vie.

Denn es ist durch Geben, dass man empfängt; es ist durch Sich-Vergessen, dass man findet; es ist durch Verzeihen, dass einem verziehen wird; es ist durch Sterben, dass man aufersteht zum ewigen Leben.

Die Titelzeile richtet sich im Gebet an Christus: „Herr, mach aus mir ein Werkzeug deines Friedens“. Sie charakterisiert den ganzen Text als ein Gebet um Aussendung. Es folgen acht genau parallel formulierte Zeilen. Je einer Gestalt äußeren Unfriedens (Z. 2–4) und seelischer Not (Z. 5–9) wird eine konkrete Gestalt des Friedens Christi entgegengesetzt, die der Beter als Apostel Christi an diesen Ort bringen will. Im Abschnitt B wird Christus als Meister (griechisch: διδάσκαλος) angerufen, also mit dem Titel, mit dem in den Evangelien Jesus als Weisheitslehrer gekennzeichnet wird. Die Weisheit Jesu besteht hier darin, den Nächsten so sehr zu lieben wie sich selbst. – Wenn im Abschnitt A der Fokus auf dem nach außen gewandten apostolischen Handeln des oder der Betenden liegt, vertieft sich nun der Gestus hin zur Bitte um die richtige innere Motivation.

5 Das französische Original ist abgedruckt bei Christian Renoux und auch im Internet gut zu finden. Die weitgehend wörtliche Übersetzung gibt Struktur, Duktus und Prägnanz des Originals möglichst genau wieder und nimmt sprachliche Mängel in Kauf.

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Kommentare zu den Liedern

Abschnitt C verlässt die Form des Gebetes an Christus. Nun werden Grund und Verheißung für die Abschnitte A und B genannt. Die erste Begründung für ein aposto­ lisches Handeln nach den in den Augen der Welt paradoxen Gesetzen des Reiches Gottes („Denn es ist durch Geben, dass man empfängt“) besteht in der Nachahmung des Vorbildes des Meisters Jesus. Der zweite nach vorne gewandte Grund ist die Vergegenwärtigung der Verheißung, die Jesus denen zuspricht, die ihm nachfolgen und auf das Gottesreich zugehen: Wer Christus nachfolgt, muss nicht so sehr sein Eigeninteresse suchen, da ihm von Gott alles Wesentliche geschenkt wird. Deutlich sind hier die Anklänge an die Feldrede, Lukas 6,17–49 (etwa 6,38), an Markus 10,28 ff und an die Bergpredigt mit ihren Paradoxien in den Seligpreisungen und den Antithesen (Mt 5). – Die Schlusszeile nennt den letzten, unüberbietbaren Grund für das weltfremde Handeln als Werkzeug des Friedens Christi: Es ist durch Sterben, dass man aufersteht zum ewigen Leben. Hier ist die konsequente Spiritualität eines Miles Christi zu spüren – allerdings in scharfem Kontrast zu einer soldatischen Märtyrertheologie, wie sie auf vielen Gefallenendenkmälern der Weltkriege zu finden ist, etwa mit dem Christuswort aus Johannes 15,8: Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben gibt für seine Freunde. – Der Soldat stirbt, indem er die Feinde mit Gewalt bekämpft. Er setzt Gleiches gegen Gleiches. Der Friedensstifter als Werkzeug Jesu interveniert paradox: Er bringt, wo Hass ist, Liebe, und wo Dunkelheit ist, Licht. – Diese Frömmigkeit des Gebetstextes hat ihre Kraftquelle in der Lebenshingabe Jesu, die die Evangelien bezeugen und wir in Eucharistie bzw. Abendmahl erinnern und feiern. In allen drei Teilen baut sich das Gebet aus mehreren genau parallel formulierten Sätzen auf. Auf sprachliche Variation und Illustration wird verzichtet – vielleicht auch, um ein Auswendiglernen zu erleichtern. Es entsteht eine Art Litanei. Das in den Augen der Welt törichte Handeln in der Nachfolge Jesu (vgl. 1. Kor 1,18 ff ) wird durch die fast sture sprachliche Wiederholung im Originaltext in großer Entschlossenheit und Klarheit dargestellt. Eine überraschende Abweichung ist das hinzugefügte Possessivpronomen in Z. 8: „dass ich setze dein Licht“. Das Licht als Christusattribut, mehr noch: als Wesen Jesu Christi, wird hier besonders betont (vgl. Joh 8,12 u. ö.: Ich bin das Licht der Welt). Die deutsche Übertragung, die Rolf Schweizer 1962 und 1969 für sein Lied verwendet, nimmt am Urtext wesentliche Änderungen vor. Ein Hinweis zur Autorschaft findet sich im Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie, 1968. Hier steht als Autor der Übertragung „handschriftlich A. Ohly, etwa 1945“. Über die Motette von Kurt Hessenberg: O Herr, mache mich zum Werkzeug deines Friedens, opus 37, 1946/47, war diese Textfassung im deutschsprachigen Raum schon 15 Jahre vor Rolf Schweizers Lied präsent. Im französischen Text liegt in Teil A der Akzent ganz auf dem Gegensatz der Nomen: Hass vs. Liebe; Beleidigung vs. Verzeihen. Die Verben sind schwach („wo es den Hass gibt“) bzw. kehren gleichbleibend wieder („dass ich setze …“). Die Bewegung in jeder der acht Zeilen ist: Ein negativ besetzter Raum wird benannt; in diesen will der Beter eine der Kräfte Christi hineinsetzen. Im deutschen Text wird die Litanei des Originals aufgelockert. Das Ich des Beters samt der positiven Kraft steht nun vorne. In den Zeilen werden verschiedene Verben verwendet, so dass das aktive Handeln des Betenden an Farbe und Gewicht gewinnt – und verglichen mit dem französischen Original fast ein wenig heroisch wirkt. Der positive Pol ist vorangestellt; der Eindruck ist nicht mehr:

416 O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens

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Ein kleines Licht wird ins Dunkle gebracht, sondern zuversichtlicher: die positive Kraft überwiegt. – Der Christusakzent in Z. 8 („dass ich setze dein Licht“) ist weggeglättet (dass ich ein Licht anzünde). Zu Beginn von Teil B ist der Wechsel der Christusanrede (Herr / O Meister) weggefallen. Der direkte Rückbezug auf Person und Lehre Jesu kann in der deutschen Übertragung – anders als im Original – überhört werden. – In Teil B ist der französische Text näher an der Balance, die dem biblischen Gebot Liebe deinen Nächsten wie dich selbst entspricht: „O Meister, dass ich nicht so sehr strebe, getröstet zu werden, wie zu trösten.“ In der deutschen Fassung ist die Eigenliebe, das eigene Verstanden- und Getröstet-werden-Wollen dagegen ganz negiert. Herr, lass du mich trachten: nicht dass ich getröstet werde, sondern dass ich andere tröste. – Auch hierdurch wird der ursprüngliche Text aus seiner weisheitlichen Mitte gerückt. – Sind diese Verschiebungen typisch deutsch? Stehen sie in direktem Zusammenhang mit dem empfundenen Gewicht der deutschen Schuld in der Nachkriegszeit? Rolf Schweizer hat seine gesamte Lebenszeit zwischen Studium und Ruhestand als Kantor an zwei Kirchen gewirkt, die im 2. Weltkrieg durch Bomben völlig zerstört wurden. Die Mannheimer Johanniskirche wurde während seines Berufseinstiegs in neuer Gestalt wiedererrichtet; in Pforzheim, wo Schweizer 1966 zum Bezirkskantor berufen wurde, wurde seine Stadtkirche zwischen 1964 und 1968 komplett an anderer Stelle neu gebaut. Sein 1995 zum 50. Jahrestag der Zerstörung Pforzheims komponiertes Requiem „Für Tote und Lebende“ ist ein weiteres Zeugnis dafür, wie sehr das Friedenstiften auf dem Hintergrund der biblischen Botschaft wie auch der Geschichte der beiden Weltkriege Rolf Schweizer in seiner musikalischen Arbeit bewegt hat. Schweizer hat sich selbst verschiedentlich zu seinem Lied geäußert, u. a. im Werkbuch zum EG und in den „Mitteilungen des Freundeskreises für Kirchenmusik an der Stadtkirche Pforzheim“6. Er schreibt: „Auch wenn die neuere Forschung herausgefunden hat, daß das eindrucksvolle Gebet (…) weit jüngeren Datums ist, so strahlt es doch Franziskanischen oder, besser gesagt, Jesuanischen Geist aus. Die Eindeutigkeit der Aussage ist so stark, daß dieses Gebet sich auch beim häufigen Gebrauch nicht abnutzt. Insofern hat dieser Text eine geradezu liturgische Qualität. Dies hat mich seinerzeit veranlaßt, das Gebet so zu vertonen, daß es zumindest teilweise für die Gemeinde singbar ist.“7 Schweizer entscheidet sich für eine Art Kehrverslied: das Thema für die Gemeinde in den „rhythmisch nicht einfachen, aber doch relativ rasch von der Gemeinde lernbaren Kehrvers“, dazu eine Strophe, die man „durchaus der Gemeinde zumuten“ kann8, und  – 1969 ergänzt  – zwei weitere anspruchsvolle Strophenvariationen für versierte Sänger, Vorsänger oder eine Chorgruppe. Für diese Umformung zu einer Art Rondo (A1 – A2 – A1 – B – A1 – C – A1) bricht Schweizer den Textzusammenhang des Gebetes auf. Nun bekommt die Sendungsbitte der ersten vier Zeilen als Kehrvers das größte Gewicht. Anders im ursprünglichen Gebet: Dort geht die Bewegung von der Bitte um eine apostolische Berufung weiter zu konkretem Handeln (A), dann zur Bitte 6 Nr. 17, Mai 1989, 19; zitiert hier nach Frank Meyer 1995. 7 Meyer 1995, 141. 8 Ebd., 143.

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Kommentare zu den Liedern

um eine innere Haltung, die der Lehre Jesu entspricht (B), dann zu einer Begründung in Lehre und Leiden Jesu (C) und endet eschatologisch-messianisch mit der Verheißung des ewigen Lebens. In Schweizers Lied dagegen kommt der Kehrvers immer wieder auf die Sendungsbitte zurück: O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens! Der Fokus wird aus der Innerlichkeit (B) und der Zukunftsverheißung (C) auf den konkreten Friedensdienst (A) gerichtet. Schweizers Melodie beschränkt sich zunächst in Teil A bis auf einzelne Durchgangstöne auf eine pentatonische Skala, aufbauend auf dem Grundton d. Die leichtfüßige Melodie und der lebendige Rhythmus stehen in einem reizvollen Kontrast zur spirituellen und ethischen Strenge in Inhalt und Form des Textes. In Teil B und C wird die Skala erweitert, so dass klare a-Moll- und d-Moll-Klänge möglich werden. In Teil B ist die Gegenübersetzung (nicht, dass ich… / sondern dass ich…) auch melodisch und harmonisch umgesetzt: auf die pentatonische Negation folgt zweimal die melodisch reichere Position, bis dann im 3. Satz – Geliebt-werden und Lieben – die Melodie in ein warmes d-Moll mündet. Die Vertonung lebt „von einer Umsetzung des natürlichen Sprachrhythmus in melodisch und rhythmisch freiere, manchmal geradezu improvisierend wirkende Melodien“9. Schweizer spricht von seinem Interesse, das „sprachgezeugte rhythmische Deklamieren mit einem psalmodierenden Duktus von gleichbleibenden melodischen Formulierungen“10 zu verbinden.  – Noch einmal Schweizer: „Selbstverständlich verlangt dieser weitgespannte Text eine sehr differenzierte Vertonung. Seine sprachliche Struktur ist variabel. Die einzelnen Gedanken werden frei formuliert. Insofern ist es nicht leicht, eine musikalische Reduktion auf das wesentliche vorzunehmen. Ich hätte das Ganze gerne noch einfacher gemacht, aber es ist mir bislang nicht gelungen.“11 Das Lied füllt im EG drei Seiten und ist – nach EG 192: Litanei und EG 191: Te Deum – das Lied mit dem längsten Notentext im EG. Schon diese ganz formale Beobachtung macht deutlich, dass EG 416 seine Stärken als ein liturgisches Stück hat und weniger als ein situativ einsetzbares Gemeindelied. Im EG ist vorgeschlagen, den Kehrvers von der Gemeinde und die auskomponierten Teile von einem oder mehreren Vorsängern singen zu lassen. – Schweizer äußert sich zuversichtlich, was die Singbarkeit seines Liedes angeht. Für viele heutige Gottesdienstgemeinden wird das Lied zu schwer sein, auch weil die Singfähigkeit in der Breite der Gottesdienstgemeinden seit den 1960er Jahren zurückgegangen ist. In den heutigen Gottesdiensten ist es bei EG 416 unverzichtbar, dass ein Chor die Gemeinde unterstützt. Anders könnte es sein, wenn das Lied fest in der Liturgie einer Gemeinde verankert wird, etwa bei einem regelmäßigen Gebet für den Frieden oder als Friedensbitte und Sendungslied vor dem Segen. Es ist sehr zu wünschen, dass Pfarrer und Pfarrerinnen über dieses Gebet predigen, Gemeinden es beten und Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker dieses ausgesprochen kostbare, in vielem einzigartige Stück aus unserem Gesangbuch weiter in den 9 Meyer 1995, 141. 10 Ebd. 11 Ebd., 141 f.

416 O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens

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Gottesdienst einbringen. Das Friedengebet führt sehr unmittelbar zur Weisheit Jesu zurück. Es ist wie kaum ein anderer neuerer Text ökumenisch verbindend – auch wenn er durch die Übertragung ins Deutsche und die von Schweizer gewählte Liedform deutliche Umprägungen erfahren hat. Die Vertonung von Schweizer hat hohe Qualität. Die Geschichte des Liedes ist auch für die Gemeinde eine spannende Geschichte der christlichen Friedensbewegungen in Europa. Es kann sein, dass EG 416 vom Gemeindelied vollends zum Vortrags- und Chorlied wird. Vielleicht findet sich dann ein Übersetzer, Dichter und Komponist, der Schweizers Wunsch „Ich hätte das Ganze gerne noch einfacher gemacht“ aufnimmt und das ursprüngliche Gebet neu für Gottesdienst und Gemeinde in ein Lied fasst. 

Frieder Dehlinger

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Kommentare zu den Liedern

424 Deine Hände, großer Gott Text

Verfasserin Margareta Fries Quelle Mosaik [Eine Sammlung f. Schul- und Hausmusik mit Liedern aus alter und neuer Zeit], H. 57: Neue geistliche Kinderlieder, Fidula Verlag Boppard / 

Rhein, [1962], 454 Strophenbau 7/4a 8/4b7/4a 7/4a 8/4b Abweichung nach 3: 4. Lass uns Gotteskinder sein Verbindung TM wie EG

Melodie

Incipit 1_1_2_2_ 3_1_2 __ Verfasser Friedrich Zipp Quelle s. Text Ambitus G: 6; Z:

35354 Abweichung Schlusston mit Fermate Verbindung MT wie EG

Literatur

HEG II, 101 f.360 ** ThustB, 364 (Neufassung Ingelheim 2016, 341); ThustL II, 317 f ** Thust, Karl Christian: Das Kirchen-Lied der Gegenwart. Kritische Bestandsaufnahme,

Würdigung und Situationsbestimmung, Göttingen 1976, 62–64 * Zipp, Friedrich: Werkverzeichnis, St. Georgen 1990

In der hölzernen „Notkirche“ an der Eschersheimer Landstraße in Frankfurt am Main, die der Dornbuschgemeinde von 1930 bis zum Neubau der Dornbuschkirche 1962 in der Mierendorffstraße als Gotteshaus diente, wirkte seit 1946 Wilhelm Fries als Pfarrer. Seine Frau Margareta ist in der Gemeinde mehrfach als Dichterin von Liedtexten, Kantaten und musikalischen Spielen bekannt geworden. Zu einer fruchtbaren künstlerischen Zusammenarbeit kam es zwischen ihr und dem Hochschullehrer und Kirchenmusiker der Gemeinde, Friedrich Zipp. Seit 1956 schufen sie gemeinsam mehrere Kantaten („Junger Baum in Menschenhand“, „Heiteres Tierliederspiel“) und Motetten („Die Toten ruhn in Gott“, „Weihenacht ist da“). Zu den von beiden gemeinsam geschaffenen Werken gehören auch zwei Gemeindelieder: Lob, meine Seele, lobe den Herrn 1960 (EG RWLR 691) und Deine Hände, großer Gott 1961 (EG 424). Der Text ist als Gebet für Kinder gedacht. Die erste Strophe spricht Gott an als Schöpfer und Herrn über Leben und Tod, dem wir alle lebenswichtigen Gaben verdanken. Am Ende wird unsere Dankbarkeit als Aufgabe Gottes gesehen, als ob es seine Sache wäre, ob wir dankbar sind oder nicht. In der zweiten Strophe werden die Vielfältigkeit und der Pluralismus der modernen Welt mit ihren schädlichen Auswirkungen angesprochen. Die menschliche Eigensucht wird zur Sprache gebracht, die durch Hast und Getriebenheit den Umgang mit Gottes Gaben verdirbt und die Menschen krank macht. Die gerechte Verteilung der Gaben wird von Gott erwartet, nicht von uns. Auch in der dritten Strophe werden die Aufgaben der Menschen an Gott delegiert, so etwa der Kampf gegen den Hunger in der Welt und die Gestaltung einer funktionierenden Wirt-

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424 Deine Hände, großer Gott

schaftsordnung (ordne alles Gut und Geld ). Der gerechte Umgang mit Gottes Gaben ist auch hier das Thema. Gott soll helfen, dass kein Mangel in der Welt herrscht, dass die Felder fruchtbar bleiben und keine Unordnung die Seelen verdirbt. Das Bitten um die Fähigkeit zur Dankbarkeit ist ein Gedanke, der in der Bibel nicht vorkommt. Stattdessen wird direkt zur Dankbarkeit aufgerufen: Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich (Ps 106,1; Ps 118,1). Der Dank ist Sache des von Gott beschenkten Menschen, der verantwortlich ist für die Verteilung der Gaben, die Bewahrung der Böden vor Vergiftung und für die Ordnung von Wirtschaft und Finanzen. Für diese Aufgaben um Kraft und Weisheit zu bitten, wäre sinnvoll. Im Vergleich mit anderen Kinderliedern im EG (507 Himmels Au, licht und blau, 511 Weißt du, wieviel Sternlein stehen) fällt auf, dass die Dichterin mehr Wert auf ethische Wertungen legt als auf eine Bildhaftigkeit, die auch für Kinder verständlich ist. Das Thema Gerechtigkeit könnte auch ihnen nahegebracht und mit ihnen eingeübt werden, wenn es in angemessener Sprache geschähe und die Ursachen der Ungerechtigkeit angesprochen würden. Die Melodie folgt dem trochäischen Versfuß des Textes und kommt mit wenigen Tönen aus. Sie soll bewusst an Kinderlieder erinnern. Die Töne sind einer Fünftonreihe entnommen, die nur ein einziges Mal die Quinte übersteigt. Die zweite Zeile wiederholt sich wörtlich in der fünften. Die dritte Zeile zitiert Tonfolgen der ersten und die vierte enthält solche der zweiten bzw. der fünften.

♭ ♭ ♭ ♭

♭ 22 32

1.

Dei - ne

hal - ten

gibst

schenkst

gib

das

uns

auch,

Hän - de

un - sre

Le

Was

dass

gro - ßer

lie - be

- ben,

-

wir

ser,

gibst

schenkst

dank - bar

Er -

den

uns

Gott,

de,

Tod

Brot,

wer - den.

Durch die offenen oder versteckten Wiederholungen von Tonabläufen bekommt die Melodie den „Anschein des Bekannten“, wie ihn der Volksliedkomponist Johann Abraham Peter Schulz (1747–1800) postuliert hat, denn der Schein des Bekannten ist ein Mittel, „es dem Ohre lebendig und schnell fasslich zu machen“.1 Der Wiedererkennungswert soll dadurch unbewusst schon beim ersten Singen zum Tragen kommen, weil der 1 J. A. P. Schulz: Vorwort zu den „Liedern im Volkston“ 1782.

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Kommentare zu den Liedern

Eindruck entsteht, die Melodie wäre bereits vertraut. Friedrich Zipp, ein Verehrer von J. A. P. Schulz,2 schreibt über seine eigene kompositorische Arbeit: „In der Besinnung auf die Einfachheit scheint mir überhaupt – sowohl vom Ausführenden wie vom Hörer aus gesehen – ein fruchtbarer Ansatzpunkt zu liegen, um wieder eine Brücke zwischen Kunst und Allgemeinheit zu schlagen, nachdem durch eine extreme Musikentwicklung eine schier unüberwindliche Kluft aufgerissen wurde.“3 Mit seiner Rückbesinnung auf die pythagoräischen Ordnungsgesetze und Zahlenproportionen in der „verborgenen Harmonie des Alls“ setzt er sich bewusst von den Entwicklungen der Neuen Musik ab, weil er diese für nicht schöpfungsgemäß hält.4 

Wolfgang Herbst

2 Friedrich Zipp: DE MUSICA, Gesammelte Aufsätze, Kassel 1989, 78–79. 3 AaO., 146–147. 4 Friedrich Zipp: Vom Urklang zur Weltharmonie. Werden und Wirken der Idee der Sphärenmusik, Kassel 21998, 154.

442 Steht auf, ihr lieben Kinderlein

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442 Steht auf, ihr lieben Kinderlein Text

Verfasser Erasmus Alber Entstehung vor 1553 Quelle Die Morgen geseng für die Kinder / newlich zusammen gebracht, o. O., o. J.1 Überschrift Der erste Morgen Gesang / Im Thon /  Christe der du etc. Ausgabe W III,1036 Strophenbau A8/4a A8/4a A8/4b A8/4b vgl. Frank 4.60 Abweichungen 2,1 Bis willekum du schöner Stern; 6,1 Bis willekum du lieber Tag; 7,2 heiliges (überzählige Silbe); 8,3 ewigen (überzählige Silbe); 9,3 dein grosse Barmherzigkeit Verbindung TM in der Q ohne N, aber mit Melodieangabe (s. o. Überschrift), gemeint ist die Hymnenmelodie Christe, qui lux es et dies in einer verbreiteten Fassung2, etwa Z I,343 / DKL

III/1.1 B12B (nach Klug: DKL 153302) oder B12C (nach Babst: DKL 154501)/ EKG 353 * weitere Melodien: Z I,305 / DKL III/1,2 Ee10 / EKG 194 (1533 zu Wohl dem, der in Gottesfurcht steht; verbunden in: DKL 155805; Text niederdeutsch, mit Angabe des Dichters); DKL III/3 A324B / EG 469 (DKL 158814; niederdeutsch; schon in DKL 156808 ist der Melodie DKL III/1,1 A324 der Text Christ, der du bist der helle Tag von E. Alber unterlegt worden); DKL III/1.1 B54A (Nun freut euch, Gottes Kinder all [E. Alber] in: DKL 156604 –05) * zur heutigen Verbindung TM s. Kommentar

Melodie

Incipit 11155665_ Verfasser vermutlich Nikolaus Herman Entstehung 1560 Quelle Die Sontags Euangelia vber das gantze Jar Jn Gesenge verfasset / Für die Kinder vnd Christlichen Haußveter […] (Nikolaus Herman), Wittenberg 1560 (DKL 156008) Ausgaben Z I,376; DKL III/1,3 Eg97A Ambitus G: 8; Z: 6466 Abweichungen Q: Sexte tiefer; vor N. 1 Viertelpause; vor Z. 4 Halbepause * EM: 4st. Satz (Burghard Schloemann 2001); vor N. 1 Viertelpause Verbindung MT in der Q: Wer hie vor Gott will sein gerecht (N. Herman) * weitere: Ihr lieben Christen, freut euch nun (E. Alber

1546; EG  6 / EKG 3 / EM 142); Freut euch, ihr Christen alle gleich (N. Herman; DKL 156203); Herr Jesu Christ, wahr’ Mensch und Gott (P. Eber; DKL 156504); Danket dem Herren allzugleich (W. Cuntzel; DKL 156713); Ein wahrer Glaub’ Gottes Zorn stillt (N. Herman; DKL 156904); Elisabeth kam ihre Zeit (A. Hoppe; DKL 158401); Herr Jesu Christ, den Weizen dein (D. Rump; DKL 158709); Da bei dem Herrn versammlet war (N. Herman; DKL 160505); Kommt mit uns, lieben Kinderlein (N. Herman; DKL 160903); Du Morgenstern, du Licht vom Licht (J. G. Herder um 1817; EG 74 / RG 406)

Literatur

HEKG (Nr. 338) I/2, 495 f; II/2, 85 f; III/2, 407–409; Sb 525; HEG II, 19 f.145–148 ** ThustB, 373 f (Neufassung Ingelheim 2016,

350); ThustL II, 346–348 ** Schlunk (1951) 324 f; DKL III/1.3 Textbd., 68 f ** Blankenburg, Walter: Zur Frage nach der Herkunft

1 Zu Druckort und Datierung vgl. Kommentar. 2 Dass die Konstanzer Melodie DKL III/1.3 Eh13 von 1540 zu Christe, der du bist Tag und Licht gemeint ist, ist auszuschließen.

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Kommentare zu den Liedern

der Weisen des Gesangbuchs der Böhmischen Brüder von 1531, MuK 21 (1951) 71 * Weismann, Eberhard: Unsere neuen Lieder. Steht auf, ihr lieben Kinderlein (G. B. 338), WüBll 23 (1956) 47–49 * Gudewill, Kurt: Liedtenores mit F-Dur-Melodik und Oktavambitus, in: Festschrift Walter Wiora, hg. von Ludwig Finscher und Christoph-Hellmut Mahling, Kassel u. a. 1967, 275 * Schmidt-Beste, Thomas / 

(Blankenburg, Walter): Herman, Nikolaus, MGG2 Personenteil 8 (2002) 1387–1389 * Stalmann, Jo­achim: „Du bist mein Heil, des freu ich mich“ – Leben und Lieder des Erasmus Alber (* um 1500 † 5. Mai 1553) Mecklenburgia sacra 6 (2003) 29 * Seibt, Ilsabe / Evang, Martin: Monatslieder. Liturgische Anregungen für das Kirchenjahr 2011/2012, Thema: Gottesdienst 34 (2011) 24 f

Die älteste erhaltene Quelle des Textes ist ein heute nur noch in einem Berliner Konvolut erhaltener Druck3, bei dem weder Autor noch Impressum genannt sind. Philipp Wackernagel gibt Valentin Neuber zu Nürnberg als Drucker an (W III,1036) und erwähnt die niederdeutschen Textfassungen in den Hamburger Enchiridien von 1558 und 1561,4 die Erasmus Alber als Textautor erstmals nennen. Der in Hessen gebürtige Anhänger Martin Luthers war als Theologe, Schulmeister und Reformator tätig, ist aber auch mit zahlreichen Dichtungen hervorgetreten. Der Titel des Druckes „Die Morgen geseng für die Kinder / newlich zusammen gebracht. Auch dabey die Abent und Vesper geseng.“ gibt Aufschluss darüber, dass das Lied tatsächlich als Kinderlied konzipiert, also wohl aus Albers Arbeit als Lehrer erwachsen ist. Steht auf, ihr lieben Kinderlein ist das erste Lied des notenlosen Druckes. Dessen Überschrift „Der erste Morgen Gesang / Im Thon Christe der du etc.“ macht klar, dass es als Morgenlied gedacht war, und verweist für die Melodie auf das im selben Druck enthaltene und ebenfalls von Alber gedichtete Lied Christe, du bist der helle Tag (EG 469) unter der Überschrift „Der erste Abent oder Vesper gesang. im Thon Christe qui lux“ (hier gehen Text und Melodie auf den altkirchlichen Hymnus zurück). Dieser „Kettenverweis“ lässt darauf schließen, dass mindestens das Abendlied, vermutlich aber auch das Morgenlied schon längere Zeit im Umlauf war – und nicht erst nach Albers Tod 1553 an die Öffentlichkeit gelangte. Zudem zeugt er von Albers Bemühen, wie sein Vorbild Luther altkirchliche Hymnen für den deutschsprachigen Gebrauch nutzbar zu machen. Die meisten Morgenlieder im EG sprechen Dank für die Bewahrung in der Nacht und Bitte um Schutz für den Tag aus und stimmen angesichts des neu geschaffenen Tages das Schöpferlob an. Ganz anders ist Alber vorgegangen:5 Mit dem Lied Steht auf, ihr lieben Kinderlein knüpft er nur an die Situation des morgendlichen Aufstehens an und entwickelt ausgehend von der konkret sichtbaren Sonne eine geistliche Lichtmetaphorik. Die ersten drei Strophen sind als Dialog zwischen Erwachsenen und Kindern gestaltet: Steht auf, ihr lieben Kinderlein! ist ein morgendlicher Weckruf der Eltern, gefolgt vom Hinweis auf die Sonne. Die Sonne als Morgenstern weckt eine biblische Assoziation, die die Kinder in ihrer Antwort in Str. 2 aufgreifen. Indem sie im (Morgen-) Stern 3 Digitalisat: Staatsbibliothek, Berlin. 4 DKL 155805 und 156104. 5 Ähnlich wie Albers Lied sind EG 440 (All Morgen ist ganz frisch und neu) und 441 (Du höchstes Licht, du ewger Schein) konzipiert, beide von Johannes Zwick, 1545 gedruckt.

442 Steht auf, ihr lieben Kinderlein

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Christus erkannt haben, reden sie ihn auch sogleich an und heißen ihn willkommen.6 In der dritten Strophe sprechen wieder Erwachsene, die die Kinder in ihrer Auffassung bestärken und die Assoziationskette von Sonne–Morgenstern–Christus auf das Wort Christi erweitern. Das wiederum wird zum Wort Gottes gewendet in Str. 4 direkt angeredet. Bitten, an das Wort Gottes und ab Str. 7 an Jesus Christus gerichtet, und bekenntnishafte Glaubensaussagen prägen das Lied von da an. Das Lied mündet in eine doxologische Schlussstrophe. In seinem Aufbau folgt es der Dreiteilung Abholung und Hinführung (Str. 1–3), zentrales Anliegen (Str. 4–6) sowie Verheißung und Schluss (Str. 7–9). Das Lied ist vom Wortfeld Licht geprägt, dem in den Strophen 4–6 das Wortfeld Finsternis entgegensetzt ist. Der Dichter spielt geradezu mit der Lichtmetaphorik und schöpft die Möglichkeiten, die ihm durch biblische Texte zur Verfügung stehen, reichlich aus. Durch assoziative Anknüpfungen wird das Lichtbild von Strophe zu Strophe weitergetragen. Dabei bleibt die Bedeutung sprachlicher Bilder häufig in der Schwebe. Der Morgenstern – biblisch fest verankert als Bild für Christus (vgl. Offb 22,16 Ich, Jesus,… bin … der helle Morgenstern) – ist die sichtbar aufgehende Sonne am Morgen. Sie wird in Str. 1 mit Rückgriff auf Psalm 19,6 begrüßt: Die Sonne … freut sich wie ein Held zu laufen die Bahn. Und doch klingt schon hier das aufgehende Licht aus der Höhe an, damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes (Lk 1,78 f ). Str.  2 sagt es dann ausdrücklich: der schöne Stern am Morgen bringt Christus, nicht wörtlich, sondern in Gestalt eines Hinweises, der erst entschlüsselt, erkannt, werden muss (Str. 3). Wie die Weisen aus dem Morgenland dem Stern folgen und durch ihn zum Kind, dem Sohn der Maria, geführt werden (Mt 2,9), so sollen die im Lied angesprochenen Kinder Jesus als Herrn und treuen Hort erkennen. Das Erkennen Christi geschieht durch sein Wort. Mit dem Rückgriff auf Psalm 119,105 Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege gelingt es Alber, nun auch das Wort in die Lichtmetaphorik einzubinden. Damit ist das entscheidende Stichwort für die nächste Strophe gegeben. Die Identifikation Wort–Morgenstern in Str. 4 greift 2. Petrus 1,19 auf: Ihr tut gut daran, dass ihr [auf das prophetische Wort] achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen. Der Gegensatz Licht–Finsternis (= dunkler Ort) bzw. Tag–Nacht prägt die Strophen 4–6. Dabei wird die Finsternis von Strophe zu Strophe deutlicher eschatologisch profiliert. In Str. 4 erscheint sie als Zustandsbeschreibung bei Abwesenheit des leuchtenden Morgensterns. Str. 5 versetzt mit dem Rückgriff auf Matthäus 24,12 in einen eindeutig endzeitlichen Kontext: Weil die Ungerechtigkeit überhand nehmen wird, wird die Liebe in vielen erkalten. Dem bedrohlichen Potential der Finsternis setzt Alber die Bitte entgegen, die an zentraler Stelle des Liedes zugleich ein ethisches Anliegen formuliert: dass nicht die Lieb in uns erkalt. Es geht darum, eine der Liebe entsprechende Lebensführung ‚an den Tag zu legen‘. Die direkte Gegenüberstellung von Tag und Nacht in Str. 6 findet biblischen Anhalt in Römer 13,12 Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. Die 6. Strophe spricht ebenfalls von der Endzeit. Der Tag, als Tag des Herrn in eschatologischen 6 Vgl. viel später Jochen Klepper in EG 452, 1: dass ich mit seinem Worte begrüß das neue Licht.

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Kommentare zu den Liedern

Kontexten der Tag der Entscheidung und des Gerichts, ist hier der liebe Tag, der willkommen geheißen wird. Er bringt den himmelischen Schein, der die Herzen erleuchtet (vgl. 2. Kor 4,6). Der himmlische Schein bewirkt etwas in den Herzen, wendet sie hin zu Christus und macht sie bereit, ihn zu empfangen. Hier schließt Str. 7 an. Sehnsuchtsvolles Warten auf das Heil ist vielfach biblisch bezeugt, besonders eindrücklich kommt es in Offenbarung 22,20 zum Ausdruck: Amen, ja, komm, Herr Jesus! In der Strophe heißt es: wir warten dein – bleib nicht lang aus. Wenige Jahrzehnte später wird Philipp Nicolai beide Formulierungen miteinander verbinden: Amen, Amen, / komm du schöne Freudenkrone, bleib nicht lange; / deiner wart ich mit Verlangen (EG 70,7). In der Textquelle wird zu Str. 7 ausdrücklich „Jehannis am 14.“ vermerkt. Dies bezieht sich auf die Verse 23 und 2: Wer mich liebt, der wird mein Wort halten und In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen. Zu Str. 8 ist nach „Joh 14“ auch „Luc. 2“ genannt. Hier ist an den Lobgesang des Simeon zu denken: ein Licht, zu erleuchten die Heiden (V. 32). Simeon hat in dem Kind den Christus erkannt, von dem Martin Luther in seinem Weihnachtslied Vom Himmel hoch (EG 24,4) singt: Er bringt uns alle Seligkeit, die Gott der Vater hat bereit, dass ihr mit uns im Himmelreich sollt leben nun und ewiglich. Der Glaube an Christus macht Menschen zu Gottes Kindern (Gal 3,26) und so gelangen sie zur Seligkeit (1. Petr 1,5). Hier ist ausgesprochen, was eigentlich längst unterschwellig präsent ist: Zusammen mit den Kindern, die in der ersten und dritten Strophe sowie der Überschrift angesprochen sind, sind alle Glaubenden Kinder Gottes genannt. Alber verknüpft die biblische Bild- und Gedankenwelt kunstvoll zu einem Sprach­ gewebe ganz eigener Art. Aus Assoziationen und Wiederholungen entsteht ein Text, der in seiner einfachen sprachlichen Gestalt auch heute unmittelbar anspricht. Wer auch immer, ob jung oder alt, den Tag mit diesem Lied beginnt, stellt sich gleichsam unter einen guten Stern, richtet sich und sein Tun an Jesus Christus aus und bestimmt als Ziel des Lebens – das ja durchaus jeden Tag erreicht sein kann – Gottes Ewigkeit. Darum ist das Lied als Morgengesang zu jeder Zeit gut geeignet. Mit seiner biblisch gesättigten Sprache und der überwiegend hellen Bildlichkeit will Alber in den angesprochenen Kindern, die das Lied seinerzeit in der Schule oder in Hausandachten gesungen haben, die Liebe zu Christus wecken. Bald ist aus dem „Kinderlied“ ein Lied für die ganze Gemeinde geworden. Kinder von heute werden es sogar eher schwer haben mit diesem Lied als Ganzem, jedenfalls wenn es als ausdrückliches Kinderlied verwendet werden soll. Mit der Titulierung „Kinderlein“, die einfach ungebräuchlich ist, mögen kleinere Kinder noch leben können, für größere ist es über weite Strecken sprachlich weit von ihrer Welt entfernt. Es gehört aber zu den Liedern, die mit ihrer Bildlichkeit Assoziationen wecken können und eine schöne eingängige Melodie haben. Damit mag es als Eingangslied in Gottesdiensten, in denen Kinder dabei sind, in einer geeigneten Strophenwahl gerne zum Einsatz kommen. Auch in Kinderliederbüchern ist es mit wenigen ausgewählten Strophen noch anzutreffen.7  – Es mag außerdem Ansporn sein, bei Neudichtungen immer wieder nach einer Sprache zu suchen, in der die christliche Botschaft Kindern substanziell vermittelt werden kann. So werden auch Erwachsene freudig mitsingen. Die 7 Z. B. Wiebke Andersen (Hg.), Lasset uns singen, tanzen und springen, Hamburg 2012.

442 Steht auf, ihr lieben Kinderlein

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Strophen eins und sechs des Liedes sind mit minimalen Textänderungen8 unter der Angabe „aus: Des Knaben Wunderhorn“ mit einer Melodie und zweistimmigem Satz von Fidelio F. Finke in DDR-Schulgebrauch gekommen.9 Die Rede vom Morgenstern, die das Lied durchzieht, macht es in besonderer Weise für Gottesdienste in der Epiphaniaszeit geeignet, entsprechend ist es auch im Verzeichnis der Lieder und Gesänge zu Beginn des Gesangbuchs vorgeschlagen. Mit der gleichen Melodie wie EG 442 werden im EG Albers Adventslied Ihr lieben Christen, freut euch nun (EG 6) und Johann Gottfried Herders Epiphaniaslied Du Morgenstern, du Licht vom Licht (EG 74) gesungen – ein gutes Beispiel, wie durch eine Melodie ein thematischer Bogen gespannt werden kann. Angesichts der Endzeitstrophen ist darüber hinaus aber auch an eine Verwendung am Ende des Kirchenjahres, in der Adventszeit10 oder sogar bei Beerdigungen zu denken. Neben der ursprünglichen Hymnenmelodie, vermutlich in Luthers Fassung,11 die heute im EG nicht mehr verwendet wird, wurden zu dem Lied zwei weitere Melodien gedruckt oder darauf verwiesen. Im Hamburger Gesangbuch von 1558 war es die Wittenberger Melodie, die ursprünglich zu Wohl dem, der in Gottes Furcht steht und zu Wo Gott zum Haus nicht gibt sein Gunst (so noch EKG 194) erschienen ist.12 Zehn Jahre später erschien bei Cyriakus Spangenberg das verschwisterte13 Abendlied Albers (Christ, der du bist der helle Tag) zu der heute noch in EG 469 gebräuchlichen Melodie in einer früheren Fassung.14 Weitere zwanzig Jahre vergingen, bis auch das Morgenlied (wiederum in niederdeutscher Fassung) mit einer Melodiefassung dazu herauskam.15 Im Gesangbuch der Böhmischen Brüder 1566 wurde auf die im selben Druck erschienene Melodie im Dreiertakt zu Albers Lied Nun freut euch, Gottes Kinder all 16 verwiesen, die ihrerseits auf eine geradtaktige Melodie zurückgeht, die 1546 in einem Liederblatt zu Albers Ihr lieben Christen freut euch nun erschienen war.17 Wer Steht auf, ihr lieben Kinderlein mit der heute gebräuchlichen, erstmals bei Nikolaus Herman gedruckten Melodie versehen hat, ist nicht dokumentiert.18 Möglicherweise ist es in der musikalischen Jugendbewegung dazu gekommen. Der erste der 8 Str. 1: lässt sich sehn frei gleich wie ein Held statt lässt sich frei sehen wie ein Held; Str. 6: Willkommen sei du lieber Tag statt Sei uns willkommen, lieber Tag. 9 Gerhard Wohlgemuth (Hg.), Wir singen. Chorbuch für gleiche Stimmen (Frauen-, Mädchen- oder Knabenstimmen). Bd. 5 Lieder der Gegenwart, Leipzig 71977. 10 So z. B. in: Wilhelm Thomas / Konrad Ameln, Das Morgenlied, Augsburg 1927, 68 (eingeordnet bei „Advent und Weihnachten“, nicht unter „Epiphanias“). 11 DKL III/1.1 B12B / EKG 353. 12 DKL III/1.2 Ee10. 13 Es war im Erstdruck in der Überschrift genannt – s. o. Überschrift. 14 DKL III/1.1 A324. 15 DKL III/3 A324B. 16 DKL III/1 Registerbd., 57 und DKL III/1.1 B54A. 17 DKL III/1.1 B54. 18 Weder in den um 1900 erschienenen großen Gesangbüchern noch im DEG 1915 taucht es auf, nicht einmal ohne Melodie. In Wilhelm Thomas / Konrad Ameln, Das Morgenlied, Augsburg 1927, ist das Lied mit Spangenbergs Melodie und den Strophen 1.2.6–9 abgedruckt.

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Kommentare zu den Liedern

Autorin vorliegende Nachweis ist das 1932 erschienene Liederbuch für die deutsche evangelische Jugend „Ein neues Lied“.19 Im Quellennachweis am Ende des Buches drückt der Unterzeichner Otto Riethmüller seinen Dank an die Singbewegung aus. Nach unserer Melodie ist zusätzlich die heute zu EG 469 gebräuchliche Weise von Cyriakus Spangenberg abgedruckt. Der im EG abgedruckte Melodienachweis ist insofern zu korrigieren, als dass keine direkte Abhängigkeit der Melodie EG 442 von EG 441 anzunehmen ist, sondern beide Melodien auf ein gemeinsames Modell zurückgehen, das sich durch f-Melodik allgemein, vor allem aber durch eine erste Zeile mit Tonwiederholungen, Dreiklangsbildung bzw. Quintsprung mit nachfolgender Sexte auszeichnet.20 Walter Blankenburg vermutete für beide Melodien ein unbekanntes Volkslied als gemeinsame Vorlage, heute ist für EG 441 eine unmittelbare tschechische Vorlage bekannt.21 Die gelegentlich im Zusammenhang mit Hermans Weise genannte Melodie in Adam Reißners Gesangbuch zu Der schäfer in der newen statt22 hat mit ihr schon deshalb nichts zu tun, weil eine andere Tonalität zugrunde liegt. Außerdem passt das Reimschema nicht.23 Spätestens seit dem EKG ist der Text mit Hermans fröhlich-schlichter Melodie eine feste Verbindung eingegangen. Herman ist selbst an der musikalischen und theologischen Erziehung von Kindern interessiert gewesen, man denke nur an den Titel der Melodiequelle: „Sonntags-Evangelien für Kinder und christliche Hausväter“. Die Melodie ist leicht zu singen, dabei nicht banal und rhythmisch variabel. Die f-Melodik ist uns Dur-Moll-Tonalität gewohnten Menschen vertraut. Die Melodie nutzt den Oktavambitus genau aus, sie beginnt und endet mit dem Grundton und bildet dazwischen einen großen Bogen. In der ersten Zeile wird er zur Sexte auf- in der letzten von der Sexte an abgebaut, die beiden mittleren Zeilen erreichen von der Quinte aus die Oktave. Die ersten beiden Zeilen sind durch ihren Schluss verwandt (abgeschwächte Barform). Die zweite und dritte ähneln sich stark im Melodieverlauf, der größte Unterschied besteht darin, dass in der dritten ein anderer Schlusston erreicht wird, der zur vierten Zeile überleitet. Der Höhepunkt in der dritten Zeile wird durch die Punktierung unterstrichen, die zugleich eine weitere Abwandlung der zweiten Zeile bedeutet. Die vierte und letzte Zeile erzielt eine deutliche Schlusswirkung durch ihre doppelten Notenwerte und das einzige kleine Melisma (zwei Noten zur Silbe gan-). An der heutigen Beliebtheit des Liedes hat diese gut fassliche Melodie sicher wesentlichen Anteil. 

Daniela Wissemann-Garbe

19 Ein neues Lied. Ein Liederbuch für die deutsche evangelische Jugend, hg. vom Evangelischen Reichsverband weiblicher Jugend, Berlin-Dahlem 1932. Im Jugend Gesangbuch, Berlin-Spandau 1930, ist dem Lied noch die Melodie Spangenbergs beigegeben. 20 DKL III/1.3 Textbd., 68 f. 21 Ebd. 68. 22 Vgl. Siegfried Fornaçon: Nochmals: Adam Reisner, JLH 13 (1968) 143–145; Walther Lipphardt: Die Melodien in Adam Reißners Gesangbuch von 1554, JLH 16 (1971) 77. 23 Siehe dazu Johannes Janota (Hg.)/ Ute Evers (Mitarbeit), Adam Reißner. Gesangbuch, hg. und kommentiert, Bd. II: Kommentar zur Augsburger Handschrift, Tübingen 2004, 287–292.

446 Wach auf, mein Herz, und singe

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446 Wach auf, mein Herz, und singe EG 446  RG 568  EM 605 Text

Verfasser Paul Gerhardt Vorlage Ps 91 Quelle PRAXIS PIETATIS MELICA. Das ist Vbung der Gottseligkeit […] (Johann Crüger), Berlin 1647 (DKL 164708) Liturgische Einordnung Tägliche Morgengesänge Ausgaben FT III,380; PPMEDW I/11, Nr. 1 und I/2, Nr. 1 Strophenbau A7/3a- A7/3a- A7/3b- A7/3b- vgl.

Frank 4.23 Abweichungen 2,1 Heint; nach 2: 3. Ja Vater / als er suchte; 5,4 verneuen * RG: 2,1 Als mich; 2,2 heut nacht umfangen; 3,2 der Feind dich nicht; 7,1 Dein Werk an mir vollende; 7,2 und einen Engel sende Verbindung TM in der Q wie EG * weitere: Z I,171–173 (1655–1876)

Melodie

s. Nun lasst uns Gott dem Herren (EG 320) Literatur

HEKG (Nr. 348) I/2, 505 f; III/2, 437 f; Sb 535 f; HEG II, 110–112.113–115 ** ThustB, 376 f (Neufassung Ingelheim 2016, 352 f ); ThustL II, 354–357 ** PPMEDW (2014–2016) I/2 + II/21, 248 f; Bruppacher (1953) 90 f ** Zeller, Winfried: Zur Textüberlieferung der Lieder Paul Gerhardts, JLH 19 (1975) 225– 228, bes. 227 f * Schönborn, Hans-Bernhard: Lieder Paul Gerhardts in den heute gebräuchlichen Gesangbüchern, JLH 24 (1980) 113–123 * Bayer, Oswald: Der Schöpfungsmorgen. P. Gerhardts Lied „Wach auf, mein Herz, und singe“, in: Ders., Schöpfung als Anrede: Zu einer Hermeneutik der Schöpfung, Tübingen 1986, 109–127 * Foss, Lisbet: Paul Gerhardt. Eine hymnologisch-komparative Studie, Copenhagen 1995, 120–123 * Deichgräber, Reinhard: Nichts nimmt mir meinen Mut. Paul Gerhardt als Meister christlicher Lebenskunst, Göttingen 2006, 29–32 * Muntanjohl, Fe-

lizitas: Wach auf, mein Herz, und singe. Morgenmeditationen, in: Dies./ Michael Heymel, Auf, auf mein Herz, mit Freuden. Gottesdienste, Gemeindearbeit und Seelsorge mit Liedern von Paul Gerhardt, Gütersloh 2006, 189–201 * Feldtkeller, Elisabeth: Lieder Paul Gerhardts im geistlichen Tanz, in: Böttler, Winfried (Hg.): Paul Gerhardt in Kirche, Kultur und Lebensalltag. Beispiele für die Praxis, Berlin 2007, 43–61 (bes. 56 f ) * Finke, Christian: Paul Gerhardt vertont. Eine unvollständige Übersicht über mehrstimmige Fassungen und Kanons seiner Lieder, in: Böttler, Winfried (Hg.): Paul Gerhardt in Kirche, Kultur und Lebensalltag. Beispiele für die Praxis, Berlin 2007, 157–171 (bes. 169) * Henkys, Jürgen: Paul Gerhardts Morgenlieder, in: „Auf rechten guten Wegen“. Beiträge zu Leben, Werk und Wirkungen von Paul Gerhardt (1607–1676), Berlin / Basel 22007, 17–21.27 f * Loerbroks,

1 Korth, Hans-Otto / Miersemann, Wolfgang (Hg.), Johann Crüger. Praxis Pietatis Melica. Edition und Dokumentation der Werkgeschichte [PPMEDW] Bd. I, Teil 1: Praxis Pietatis Melica Editio X. Berlin 1661. Text. Halle / Saale 2014, Bd. I, Teil 2 Apparat, Halle / Saale 2015, Bd. II, Teil 2: Tabellarische Übersicht über die Entwicklung des Liedbestands, Halle / Saale 2016.

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Kommentare zu den Liedern

Matthias (Hg.): Ein Jahr mit Paul Gerhardt. 30 Liedpredigten, Stuttgart 2007, 200–206 * Wenzel, Mechthild: … unanständige Melodien heraußgelassen …. Die Editio XXIV der Praxis pietatis melica, Berlin 1690, von Johann Crüger und Jacob Hintze, JLH 46 (2007) 190– 213, bes. 206 * Korth, Hans-Otto / Miersemann, Wolfgang (Hg.): Schmücke dich, o liebe Seele. 33 ausgewählte Kirchenlieder [mit einem

Nachwort von Christian Bunners], Halle 2012, Nr. 1 * Eichhorn, Holger / Lubenow, Martin (Hg.): Johann Crüger. Kritische Ausgabe ausgewählter Werke. Crüger Concert Choräle, Bd. I Geistliche Kirchen-Melodien 1649, Germersheim 2014, Nr. 1 * Rosenberger, Burkard (Hg.): Johann Crügers Geistliche Kirchen-Melodien (1649). Textkritische Edition, Münster 2014, Nr. 1

Wach auf, mein Herz, und singe ist das früheste unter den Morgenliedern Paul Gerhardts und das erste, mit dem er als Liederdichter an die Öffentlichkeit trat. In der Wirkung und Beliebtheit steht es im Schatten seiner beiden späteren Morgenlieder Lobet den Herren, alle, die ihn ehren von 1653 (EG 447) und Die güldne Sonne von 1666 (EG 449). Es gehört zu den achtzehn Liedern Gerhardts, die Johann Crüger (1598–1662) in die 1647 unter dem Titel „Praxis Pietatis Melica“ veröffentlichte Ausgabe seines Gesangbuchs aufnahm. Es ist hier das erste Lied, auf das unmittelbar weitere „tägliche Morgengesänge“ folgen. 1640 hatte Crüger erstmals ein Gesangbuch veröffentlicht. In diesem folgten die Morgenlieder noch den Liedern zum Kirchenjahr und zu den Glaubensartikeln. Die neue Platzierung der Morgenlieder in der „Praxis Pietatis Melica“ hebt ihre Funktion hervor. Ihr Ort im Gesangbuch steht im Zusammenhang mit dem Untertitel des Gesangbuchs. Dient dies – wie der Untertitel lautet – insgesamt der „Übung der Gottseligkeit in christlichen und tröstlichen Gesängen“, so beginnt dieser geistliche Übungsweg jeden Tag neu mit den Morgenliedern bzw. einem Morgenlied. Die erste Stelle in der Rubrik der „täglichen Morgengesänge“ verdankt das Lied vermutlich seiner ersten Zeile. Der Imperativ Wach auf setzt ein Signal, einerseits für die Morgenlieder, andererseits für das gesamte Gesangbuch. Paul Gerhardt orientierte sich in Wach auf, mein Herz, und singe an den seinerzeit neuen Kriterien für die deutschsprachige Poetik. Die von seinem Wittenberger ­Poetik-Lehrer August Buchner (1591–1661) geforderte inhaltliche Einheit jeder Strophe ist genauso erkennbar wie die Einhaltung der poetischen Regeln von Martin Opitz (1597–1639) zum Versmaß.2 Er benutzt keine Fremdworte, verzichtet auch auf die im Barock sonst beliebte intensive Verwendung von Adjektiven. Im gesamten Lied gebraucht er lediglich zwei Adjektive: Str. 1 nennt den frommen Menschenhüter, Str. 2 die dunklen Schatten. Die Verse zeichnen sich durch einen einfachen Satzbau aus. Dadurch sind sie unkompliziert, leicht verständlich, gut auswendig zu lernen und nehmen Rücksicht auf die Aufnahmefähigkeit von Sängern und Hörern.3 Auf die Selbstaufforderung zum Lob Gottes (Str. 1) folgt der Rückblick in die vergangene Nacht, in der der Beter von Satan bedroht, aber von Gott beschützt wurde 2 Das durchgängige Versmaß des Lieds ist ein jambischer Dreiheber. 3 Paul Gerhardt folgt damit Buchners Grundsatz der Adressatenbezogenheit der Dichtung. Vgl. auch Bunners Hinweis, dass die Sprache Paul Gerhardts, „wirkungsästhetisch gesehen, (den) schlichten Rezeptionsbedingungen“ entgegenkommt (Bunners 42007, 202).

446 Wach auf, mein Herz, und singe

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(Str. 2–4). Seinen Dank dafür stattet er durch Gebet und Lieder ab (Str. 5–6) und erbittet Gottes Geleit für den begonnenen Tag (Str. 7–8) und sein ganzes weiteres Leben (Str. 9). Das wichtigste Stilmittel in Wach auf, mein Herz, und singe ist die direkte Anrede, die nur in Str. 2 fehlt. In Str. 1, dem Auftakt für das ganze Lied, ruft der Beter das eigene Herz wach. Von der nicht ins EG aufgenommenen ursprünglichen dritten Strophe an redet er ausschließlich zu Gott. Das Lied ist ein großes Morgengebet. Wach auf, mein Herz lebt von biblischen Sprachbildern. Jede Zeile enthält Anklänge an biblische Texte. Das Lied ist die poetische Neuschöpfung eines Morgengebets, das ganz in der geistlichen Schule Luthers steht. Jürgen Henkys weist nach, dass „Elemente aus dem Psalter und aus dem Neuen Testament, aus dem Ersten Glaubensartikel und seiner [Luthers] Erklärung im Katechismus, aus Luthers Tischreden und aus seinem Morgen- und Abendsegen“ zu einem neuen Gebet geformt wurden4. Str. 1 setzt ein mit dem signalhaften Weckruf an das eigene Herz. Das Herz ist bei Paul Gerhardt das zentrale Organ des Glaubens.5 Es kommt in seinen Liedern 426-mal vor.6 „Praxis Pietatis“, ‚(aus-)geübte Gottseligkeit‘ – wir sagen heute: gelebte Frömmigkeit – ist auf ein waches Herz angewiesen. Nur ein aufgewecktes, ein erwecktes Herz kann Gott als Schöpfer und Geber aller Güter erkennen und ihn loben. Güter sind alle Gaben, die Luther im Kleinen Katechismus in der Auslegung zum 1. Artikel des Glaubensbekenntnisses benennt. Sie dienen dem Menschen in seiner Geschöpflichkeit: materielle Ausstattung, Absicherung des Lebens, göttlicher Schutz. Die Charakterisierung Gottes als Menschenhüter – das Wort begegnet in der Lutherbibel in Hiob 7,20 – nimmt die Formulierung aus dem Katechismus „in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt“ auf. In ihr klingt Psalm 121 nach, das Lied vom Hüter Israels, der die Seinen behütet.7 Günter Balders hat darauf aufmerksam gemacht, dass die erste Strophe, die zum Gotteslob aufruft, selbst ein verborgenes Gotteslob enthält: Die Endworte der Zeilen 1–3 (singe … Dinge … Güter) beginnen mit S, D, G und ergeben so die gebräuchliche Abkürzung für Soli Deo Gloria. Angesichts der virtuosen Sprachkunst von Paul Gerhardt ist dies kaum zufällig.8 Str. 2 führt den Grund des in der ersten Strophe angestimmten Gotteslobs genauer aus: die Bewahrung in der Nacht. Das ursprüngliche heint, in den neueren Liedfassun­ gen zu heut geworden, bedeutet „heutige Nacht“.9 Der Beter hat in der Nacht den Schöpfer und Geber aller Güter als Menschenhüter erfahren. Im Schlaf sind Körper und 4 Vgl. Henkys 2007, 21. 5 Auf Paul Gerhardts Siegel ist ein Herz mit drei Rosen zu sehen. 6 Vgl. Günter Balders, „Mein Herze soll dir grünen …“ Buchstabensymbolik und kleine Formenlehre bei Paul Gerhardt, in: Winfried Böttler (Hg.), „Mach in mir deinem Geiste Raum“. Poesie und Spiritualität bei Paul Gerhardt, Berlin 2009, 89. 7 Fünfmal spricht der Psalm davon, dass der Hüter Israels behütet. 8 Balders, 94. 9 „Heint“ ist eine Kürzung aus heinacht, diese Nacht, und wird so auch von Luther in der ursprünglichen Fassung des Abendsegens verwendet: „du wollest mich auch heinte diese Nacht gnediglich behüten“. Vgl. DWb, Art. HEINT, Bd. 10, 887.

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Kommentare zu den Liedern

Seele schutzlos. Wer in der Dunkelheit wach liegt, erlebt sich wehrlos und ausgeliefert. Freund und Feind sind ununterscheidbar. Besonders in Zeiten von Krieg und um sich greifenden Epidemien gehören die Nachtstunden zu den riskanten Zeiten des Lebens. Der Dreißigjährige Krieg war noch nicht zu Ende, als Gerhardts Lied 1647 veröffentlicht wurde. Den Zeitgenossen stand die Bedrohung durch Pest, Feuersbrünste und Kriegsgewalt vor Augen. Die dunklen Schatten sind aber auch über Gerhardts Zeit hinaus ein Bild für die existentiellen Erfahrungen in der Nacht. Satan ist die Personifikation des bedrohlichen Ausgeliefertseins im nächtlichen Dunkel.10 Die dunklen Schatten nehmen satanische Gestalt an und rücken dem Menschen bedrohlich nahe. Angst und Anfechtung in den Träumen und genauso in der zermürbenden Erfahrung von Schlaflosigkeit werden heute zwar nicht mehr als Angriffe des Teufels beschrieben. Aber die Hilflosigkeit und Ohnmacht gegenüber lebensfeindlichen Mächten wird weiterhin als real und gerade in der Nacht als besonders bedrängend erlebt. In diesem Erleben von Ausgeliefertsein an dunkle Bedrohungen wird Gottes Gegenwart gebraucht. Hier erweist sich Gott als fromme(r) Menschenhüter. Die beiden folgenden Strophen beschreiben dies genauer. Die ursprüngliche dritte Strophe lautet: Ja Vater, als er suchte, / dass er mich fressen muchte, / war ich in deinem Schoße, / dein Flügel mich beschlosse.11

Im Hintergrund dieser Strophe steht das kirchliche Nachtgebet. Zwei Motive der Komplet nimmt Gerhardt auf. Aus dem sog. „Officium collationis“12 am Beginn des Nachgebets klingt die Kurzlesung 1. Petrus 5,8–9 an, worin der Beter aufgefordert wird, vor dem Wider­sacher, dem Teufel, auf der Hut zu sein, der wie ein brüllender Löwe umhergeht und sucht, wen er verschlinge. Aus dem zweiten Kompletpsalm stammt das Bild der Sicherheit unter den Flügeln Gottes: Er wird dich mit seinen Fittichen decken, und Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln (Ps 91,4). Diese biblischen Motive, die Gerhardt aufgreift, sind auch in Luthers Abendsegen eingegangen. Luthers Abend- und Morgensegen sind Adaptionen des monastischen Stundengebets, in denen er Prim und Komplet kunstvoll verdeutscht und auf ihre wesentlichen Elemente reduziert hat.13 Aus den Gebeten ­Luthers dürfte Paul Gerhardt die direkte Anrede Gottes als Vater übernommen haben. Diese kommt zwar nur in der (ursprünglichen) Str. 3 direkt vor, in allen weiteren Strophen ist sie jedoch für den Dialog mit Gott vorausgesetzt. 10 Henkys sieht hier eine Anspielung auf einen in den Tischreden überlieferten Bericht Luthers über seinen nächtlichen Disput mit dem Teufel (WATR, Nr. 6827). Luthers Schilderung beginnt mit dem gleichen „heint“ wie die zweite Strophe (Henkys 2007, 19). 11 Diese Strophe war schon im 19. Jh. nicht mehr in den Gesangbüchern. Das drastische Bild vom Satan, der den Beter fressen wollte, war wohl – trotz seiner biblischen Wurzel – nicht mehr opportun. 12 Herbert Goltzen, Der tägliche Gottesdienst. Die Geschichte des Tagzeitengebets, seine Ordnung und seine Erneuerung in der Gegenwart, Leit III, 323. 13 Vgl. Frieder Schulz, Die Hausgebete Luthers, in: Albrecht Peters (Hg.), Kommentar zu Luthers Katechismen, Bd. 5: Beichte, Haustafel, Traubüchlein, Taufbüchlein, Göttingen 1994, 203.

446 Wach auf, mein Herz, und singe

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In der folgenden dritten Strophe der EG-Version hört sich der Beter von Gott als mein Kind angesprochen. In der – für ein Kind passenden – Aufforderung nun liege klingt der Schluss des ersten Kompletpsalms nach. Aus der Vertrauensaussage des Psalmisten zu Gott wird ein väterlicher Zuspruch. Aus Ich liege und schlafe ganz mit Frieden; denn allein du, Herr, hilfst mir, dass ich sicher wohne (Ps 4,9) wird Du sprachst: „Mein Kind, nun liege …“ Die Aussage ist identisch: Wer in Gottes Schutz liegt, ist sicher. Mit kindlichem Vertrauen ist der Beter der Aufforderung gefolgt, und Gottes Schutz ist es zu verdanken, dass er wohl schlafen konnte, weil „der böse Feind keine Macht“ an ihm fand.14 Str. 4 notiert, dass das, was Gott in Str. 3 gesprochen hat (Du sprachst: …), eingetreten ist (Dein Wort, das ist geschehen). Gott sprach … und es geschah so (1. Mose 1 mehrfach) – wie für Gottes schöpferisches Tun, so gilt auch für sein bewahrendes Handeln: Gott wirkt durch sein Wort. Sogar im Einzelnen, wie der Beter erkennt und bekennt: Ich kann das Licht noch sehen (4,2) weist zurück auf du sollst die Sonne schauen (3,4); von Not bin ich befreiet (4,3) auf schlaf wohl, lass dir nicht grauen (3,3); dein Schutz hat mich erneuet auf nun liege, / trotz dem, der dich betrüge (3,1 f ). Die dunklen Schatten der Nacht sind gewichen. In Krisenzeiten wird das Morgenlicht oft als Befreiung und Erneuerung erlebt. Diese Erfahrung ist nicht auf das 17. Jh. beschränkt. Sie ist existentiell und zeitübergreifend. Die gesamte Str. 4 ist Ausdruck der Erleichterung darüber, dass – Gott sei Dank! – die Welt am Morgen neu ist, auch wenn die Nacht von Schwermut, Schlaflosigkeit, Albträumen, Gefahren und Sorgen erfüllt war. Im monastischen Stundengebet, das vermittelt über Luthers Hausgebete durch das Lied hindurchklingt, beginnt der Tag mit dem Psalmwort Herr, tue meine Lippen auf, dass mein Mund deinen Ruhm verkündige (Ps  51,17). Dies geschieht von Beginn des Liedes an. Der Psalm geht mit Worten weiter, die im Stundengebet nicht mehr rezitiert werden: Denn Schlachtopfer willst du nicht, ich wollte sie dir sonst geben, und Brandopfer gefallen dir nicht (Ps 51,18). Gott will lieber Lob und Dank als rituell dargebrachte Opfer. Diese tiefe geistliche Einsicht der Bibel entfaltet Gerhardt in den Strophen 5 und 6. Ähnlich wie im bekannteren Lied Die güldne Sonne (EG 449,3) treten an die Stelle der Opfergaben Weihrauch und Widder nun mein Gebet und Lieder. Singen und Beten sprechen die Erfahrung der Wohltaten Gottes aus und antworten darauf mit Lob und Dank. Sie sind die Gaben (5,2; vgl. Gabe 6,3), mit denen der empfangende Mensch dem Geber aller Güter (1,3) entspricht. Das vierfache mein (meine Gaben, mein Weihrauch, mein Widder, mein Gebet und Lieder) zeigt die Intensität persönlicher Beteiligung an; in der Wahrnehmung der Güter Gottes und im Dank dafür kann sich der Beter von niemandem vertreten lassen. Nach der Einsicht, dass Gott die Brandopfer nicht gefallen, heißt es im Psalm weiter: Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist, ein geängstetes, zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten (Ps 51,19). Diese Gewissheit teilt auch der Sänger unseres Morgenliedes: Die – nämlich Gebet und Lieder – wirst du nicht verschmähen (6,1). Die Haltung des Herzens ist entscheidend. Das Herz tut, wozu es am Anfang des Liedes geweckt wurde: Es singt dem Schöpfer, Geber, Menschenhüter. Der Beter ist gewiss, dass Gott mit dem, was er bieten kann, zufrieden sein wird. 14 Vgl. Luthers Abend- und Morgensegen.

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Kommentare zu den Liedern

Mit So wollst du nun vollenden / dein Werk an mir … in Str. 7 knüpft der Beter implizit an die Erfahrung des Morgens an, in der Nacht beschützt worden zu sein (Str. 4). In wollst klingt Luthers Morgensegen „du wollest mich diesen Tag auch behüten“ nach. Der nächtliche Schutz soll sich am neuen Tag fortsetzen. Im Kompletpsalm tragen Gottes Engel auf sein Geheiß den Beter auf den Händen (Ps 91,12). Auch in Luthers Morgenund Abendsegen wird „dein heiliger Engel“ als Geleit erbeten. Ohne die oder den Engel ausdrücklich zu nennen, bittet der Beter darum, dass der gesendet wird, der ihn an diesem Tage / auf seinen Händen tragen möge. Aber nicht nur in seinem bloßen passiven Dasein ist der Beter auf Gottes Schutz und Geleit angewiesen, sondern er bedarf Gottes auch – und darauf geht Str. 8 ein – in seinem aktiven Tagwerk und Tageslauf: Seine Taten soll Gott bestärken und bestätigen (Sprich Ja, 8,1), seinem Raten  – das sind die handlungsleitenden Überlegungen und Entscheidungen – soll Gott zu Hilfe kommen (8,2), und den ganzen Tageslauf von Anfang, Mitt und Ende soll Gott gelingen und sich gefallen lassen – auch dadurch, dass er zurechtbringt, was dessen bedarf (8,3 f ). Gerhardt entfaltet hier die Vorlage in Luthers Morgensegen, „dass dir all mein Tun und Leben gefalle“. Am Anfang des Tages steht – als „Übung der Gottseligkeit“ – die Hingabe an Gott, die sich aus dem Rückblick auf die Nacht als einzig angemessene Haltung ergibt: sich auch in seinem Tun und Entscheiden dem frommen Menschenhüter anzuvertrauen. Der Weg in den Tag braucht genau diese anfängliche Passivität. Wer sich Gott überlässt und sich in den eigenen Taten an Gott ausrichtet, bleibt behütet. Die Textgestalt der Schlussstrophe 9 folgt in der Fassung des EG den ersten beiden Auflagen der „Praxis Pietatis Melica“: Mich segne, mich behüte, was die erste Doppelbitte des Aaronitischen Segens aufnimmt (4. Mose 6,24). Ab der dritten Auflage von 1653 lautet die erste Zeile Mit Segen mich beschütte. Es spricht viel dafür, dass die Fassung der späteren Auflagen die ursprüngliche ist.15 Das Herz, das zu Beginn geweckt wurde (1,1) und in das Gott hineinsieht (6,2), soll nun seine Hütte sein. In einer Hütte nahm Gott in der Zeit der Wüstenwanderung Israels Wohnung (2. Mose 40,34–38). Sie war der Ort der Gottesbegegnung. Soll das Herz zur Hütte Gottes werden, dann soll Gott in ihm gegenwärtig, das heißt anzutreffen und wirksam sein. Mit der Bitte darum, dass Gottes Wort die Speise des Beters sein möge, unterstreicht Str. 9,3 ein weiteres Mal die Bedeutung des göttlichen Wortes. Es war nicht nur ein Schutzversprechen für die Nacht (Str. 3–4). Es ist auch Nahrung und Stärkung Tag für Tag. War die Speise des Gotteswortes für den Propheten Jeremia seines Herzens Freude und Trost (Jer 15,6), so erwies sie sich bei Jesus als Widerstandskraft gegen die Versuchungen des Tages: der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht (Mt 4,4 nach 5. Mose 8,3). Genährt von Gottes Wort, können Beter und Sänger ihren Tages- und Lebenslauf bestehen, bis ich gen Himmel reise. Mit diesem eschatologischen Ausblick schließt das Lied. Gerhardts Morgenlied ist von dem Glück des hellen Tages nach dunkler Nacht durchdrungen. Der Tag ist gerade erst angebrochen. Das Lied gehört gleichsam auf die Bettkante, wie auch Luthers Morgensegen noch in die Situation des Aufwachens und 15 Vgl. Zeller 1975, 227 f.

446 Wach auf, mein Herz, und singe

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Aufstehens gehört. Der Einzelne erwacht und singt und lobt. Auch wenn das Lied in der Gemeinde von Vielen gemeinsam gesungen wird, singen doch die Einzelnen. Sie versichern sich der Güte Gottes, die vor allem frühmorgens bewusst und in diesem Lied laut wird: als Dank für die Bewahrung in der Nacht und als Bitte um Geleit und Segen im bevorstehenden Tages- und im weiteren Lebenslauf. So verdient Wach auf, mein Herz, und singe den Platz, den es bei seiner ersten Veröffentlichung in Crügers Gesangbuch gefunden hat. Es ist die erste „Übung der Gottseligkeit“ am Tag, der morgendliche Prototyp aller „Praxis Pietatis Melica“, d. h. gesungener Frömmigkeit. 

Katharina Wiefel-Jenner

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Kommentare zu den Liedern

507 Himmels Au, licht und blau Text

Quelle Heil=und Hülfs=Mittel zum thätigen Christenthum, Brix 1767 (DKL 176714) Überschrift II. Ausgabe Fischer 2007, Edition A Liturgische Einordnung Von dem allerheiligsten Altars-sacrament Strophenbau 6/4 x1+x1 6/3x2R: 6/4x3+x3 7/4x4 Abweichungen Z. 4 jeder Strophe: sovielmal ehret dieses Sacrament; 1,1

Himmel=blau dich beschau; 2,1 Breite Welt; 4,1 Wilder Walt; 5,1 schau umher; 6,1 Höllen=glut Schmertzen=wut; 7,2 du Augenblick Verbindung TM Q: eigene Melodie mit Generalbass (B III,67) * B IV,164 (Alternativmelodie Luxemburg 1847) * B IV,163 (Augsburg 1859)

Melodie

Incipit 1_1_2__ 3_542__ Quelle Festkalender in Bildern und Liedern, geistlich und weltlich (Franz Graf v. Pocci, Guido Görres), 1. Teil, Heft II, 3, München 1835 Überschrift Ein schönes altes Lied zu Frohnleichnam. Andantino Ausgabe Fischer 2007, Abb. 1; B IV,162 (Lu-

xemburg 1835) Ambitus G: 5; Z: 5535 Abweichungen Q: mit 4st. Satz; 2⁄4-Takt; Z. 1 und 3, N. 3 und Z. 2, N. 7 und Z. 4, N. 9 je Viertel mit Viertelpause; Verbindung MT wie EG (mit abweichender Schlusszeile)

Literatur

ThustB, 417 (Neufassung Ingelheim 2016, 394); ThustL II, 474 f ** Aurbacher, Ludwig: Deutsche katholische Gesänge aus älterer Zeit. Eine Anthologie, Frankfurt 1833 * Bergmann, Bernhard: Werkbuch zum deutschen Kirchenlied, Freiburg 1953, 198–200 * Neubacher, Klaus: Lieder des evangelischen Religionsunterrichts, Frankfurt am Main u. a. 1968, 6 * Drömann, Hans-Christian / Schu­ berth, Dietrich (Hg.): 36 Neue Lieder mit

Erläuterungen als Anleitung zum Singen mit der Gemeinde, Kassel 1986, Nr. 33 * Harz, Frieder: Mit Kindern singen. Zugänge und Anregungen zu Liedern aus dem Evangelischen Gesangbuch, Nürnberg / Bayreuth 1995, 152 * Fischer, Michael: Himmelsau, licht und blau 2007, in: Populäre und traditionelle Lieder. Historisch-kritisches Liederlexikon. URL:

Das Lied Himmelblau dich beschau, wie viel zählst du Sternlein? war ursprünglich kein Lied, das man unter „Natur und Jahreszeiten“ in das Gesangbuch aufnehmen konnte, denn seine Naturbetrachtung diente ausschließlich der Verehrung der Eucharistie. Deswegen stand es 1767 in seinem Erstdruck aus Brix (Brüx, tschech. Most, nordböhmische Stadt am Südhang des Erzgebirges) in der Rubrik „Von dem allerheiligsten Altarssacrament“. Jede seiner sieben Strophen endete mit Aufforderung ohne Zahl, so vielmal ehret dieses Sacrament. Die Siebenzahl als „numerus perfectus et sacratus“ passt zur Heiligkeit des Altarsakraments. Die Naturbetrachtung in dem Lied deutet auf ein Singen im Freien hin, und die Überschrift „Beym feyerlichen Umgang“ in der Fassung von

507 Himmels Au, licht und blau

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18331 lässt auf die Fronleichnamsprozession schließen, was durch den Erstdruck der Melodie bestätigt wird. 1833 ist auch zum ersten Mal der Liedanfang Himmelsau, licht und blau zu finden, und die sechste Strophe wird wesentlich freundlicher gestaltet: aus Höllenglut, Schmerzenwut, wie viel zählst du Fünklein wird Sonnenschein, klar und rein, wie viel zählst du Fünklein. Die Verbindung des Liedes mit dem Sakrament wird endgültig gelöst durch die textliche Veränderung der Schlusszeile jeder Strophe, die erstmalig in einem katholischen Liederbuch von 1853 erscheint.2 Dort heißt die Zeile So vielmal sei gepriesen unser Gott. In Kinderliederbüchern findet man auch als Fassung der Schlusszeile sei gelobt der ewige Gott.3 Die EG-Version soll mein Gott gelobet sein hat die Absicht, die Betonung auf das Wort „Gott“ zu legen, dafür ist der Schlusston mit dem Wort „sein“ zu schwach belegt. Die Version unseres Gesangbuches klingt deshalb distanzierter und unbeholfener als die Kinderliedfassung. Ursprung der Doxologie sind die jüdischen Lobsprüche, die uns in biblischen Texten zahlreich begegnen, die liturgischen Charakter haben und Bestandteile von Gebeten, Bekenntnissen oder Grußformeln sind: Der Name des Herrn sei gelobt (Hi 1,21), Der Herr sei hoch gelobt (Ps 35,27), Gelobet sei der Herr, der Gott Israels (Lk 1,68). Auch der Spruch, mit dem sich Katholiken gegenseitig grüßen („Gelobt sei Jesus Christus“) gehört in diesen Zusammenhang. Durch die Textänderung am Ende des Refrains wurde eine Rezeption des Liedes in evangelischen Sammlungen möglich, weil nicht mehr von der katholischen Eucharistie die Rede war. Das Lied steht allerdings nur selten in offiziellen Gesangbüchern. Auch in das „Gotteslob“ von 1975 und dessen Neuausgabe 2013 ist es trotz seines katholischen Ursprungs nicht aufgenommen worden. Sein Thema ist die unendliche Vielfalt und Menge des Gotteslobs in der sommerlichen Natur. Alle sieben Strophen sind nach dem gleichen Schema aufgebaut. Sie lenken die Gedanken auf einen Begriff aus der Natur, der kurz beschrieben wird und der als Begründung für ein ständig zu wiederholendes Gotteslob dienen soll, denn die unermesslich große Zahl seiner Teile ist vom Menschen nicht zu begreifen. Himmel – Sterne, Welt – Staubkörner, Feld – Grashalme, Wald – Zweige, Meer – Wassertropfen, Sonne – Funken, Ewigkeit – Stunden. Das Zählen der Sterne ist eigentlich Gott selbst in seiner Allmacht vorbehalten (Ps 147,4–5). Hier wird es zum belehrenden Fragespiel für Kinder gemacht, wobei die Antwort ohne Zahl (unzählig) für alle Strophen als Refrain vorgegeben ist, denn nur Gott weiß die Zahl wirklich. In den Dreißigerjahren des 19. Jh, fast zur gleichen Zeit, in der dieses Lied bekannt geworden ist, dichtete Wilhelm Hey ein Lied, das denselben Aufbau hat: Weißt du, wieviel Sternlein stehen (EG 511; HEG III, H. 9, 52). Auch hier finden wir das Frage-und-Antwort-Spiel und die Aussage, dass Gott selbst der Zähler und der Namensgeber für die Schöpfung ist.

1 Aurbacher, 71–73, Nr. 37. 2 Fünfzig leichte zweistimmige Lieder, religiösen, geselligen und erheiternden Inhalts. Gewidmet den Vereinen christlicher Jungfrauen. III. Aufl., I. Folge, Nürnberg 1853, 18. 3 Z. B. Samuel und Theophil Rothenberg: Kinderlob. Ein Liederbuch für Kirche und Schule, Berlin ²1970, Nr. 116.

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Kommentare zu den Liedern

Das Lied hatte in seinem Erstdruck eine Melodie, die mit halben und ganzen Noten choralartig gestaltet und von einer Generalbassstimme begleitet war. Seine Melodie musste im Laufe des 19. Jh. der heutigen Melodie weichen. Diese wurde bald nach der Änderung der Anfangszeile in Himmelsau, licht und blau 1833 (s. Anm. 1) erstmals veröffentlicht in dem Festkalender von Pocci und Görres 1835 (Quelle):

507 Himmels Au, licht und blau

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Woher die neue Melodie stammt, ist unbekannt. Sie ist jedoch weitaus eingängiger und volksliedhafter als die des Erstdruckes von 1767. Ihr harmonischer Verlauf ist schlicht und bewegt sich im Wesentlichen zwischen Tonika und Dominante. In diesem Rahmen ist sie aber durchaus kunstvoll gestaltet. Die zweite Strophenhälfte ist ein Refrain. Er zitiert den Anfangstakt und wiederholt ihn auf der 2. Stufe. Die beiden Schlusstakte (Taktzählung nach EG) stellen eine Variation der Takte 2–4 dar. Dadurch kommt die Melodie mit einem geringen Tonmaterial aus, ohne ihre Spannung zu verlieren. Die Verkleinerungsformen Sternlein, Stäublein, Gräslein, Zweiglein, Tröpflein, Fünklein und Stündlein legen nahe, dass das Lied schon in seiner ursprünglichen Fassung als Sakramentslied für Kinder geeignet sein sollte. Ein Vergleich mit Paul Gerhardts Naturbetrachtung zeigt, wie das Lied Himmels Au, licht und blau die Spuren der Aufklärung in sich trägt. Hier ist die Natur nicht mehr Abbild der Güte Gottes und der Freude am künftigen Paradies. Sie führt nicht zu Christus hin, sondern sie bleibt selbst Gegenstand der Betrachtung.4 Hier geht es nicht mehr um das Erkennen der Liebe Gottes im Kleinen und des Trostes daraus, das bei Gerhardt zu Andacht, Lob und Gebet einlädt, sondern das Staunen über das Große und Unbegreifliche, das zum Gotteslob animieren soll. Gott wird dabei nicht direkt gelobt, sondern sein Lob wird gewünscht und empfohlen: Gott möge gelobt sein, und zwar so oft wie möglich. Eine seelsorgerliche Komponente, wie in Weißt du, wieviel Sternlein stehen (EG 511,3), fehlt dem Lied von der Himmels Au. Allerdings ist sein theologischer Skopus, das Staunen über die Unbegreiflichkeit der Schöpfung, zugleich eine vorsichtige Distanzierung von einer Aufklärung, die alles rational erklären will. 

Wolfgang Herbst

4 Albrecht Grözinger, Warum Matthias Claudius den Mond besingt und Paul Gerhardt nicht, in: Ders., Praktische Theologie und Ästhetik 21991, 416.

Verzeichnis der bereits erschienen Liedkommentare EG 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53

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EG 160 161 162 163 164 166 167 168 169 170 171 172 173 175 176 177.1 177.2 177.3 178.1 178.2 178.3 178.4 178.5 178.6 178.7 178.8 178.9 178.10 178.11 178.12 178.13 178.14 179 180.1 180.2 180.3 180.4 181.1 181.2 181.3 181.4 181.5 181.6 181.7 181.8 182 183 184 185.1 185.2 185.3 185.4 185.5

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Inhalt von Heft 25 Kommentare zu: EG 217 Herr Jesu Christe, mein getreuer Hirte. . EG 227 Dank sei dir, Vater, für das ewge Leben. . EG 229 Kommt mit Gaben und Lobgesang. . . . . EG 245 Preis, Lob und Dank sei Gott dem Herren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . EG 265 Nun singe Lob, du Christenheit. . . . . . . EG 296 Ich heb mein Augen sehnlich auf . . . . . . EG 298 Wenn der Herr einst die Gefangnen. . . . EG 316/317 Lobe den Herren, den mächtigen König. . EG 324 Ich singe dir mit Herz und Mund. . . . . . EG 350 Christi Blut und Gerechtigkeit. . . . . . . . EG 358 Es kennt der Herr die Seinen . . . . . . . . . EG 388 O Durchbrecher aller Bande. . . . . . . . . . EG 416 O Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . EG 424 Deine Hände, großer Gott. . . . . . . . . . . EG 442 Steht auf, ihr lieben Kinderlein. . . . . . . . EG 446 Wach auf, mein Herz, und singe. . . . . . . EG 507 Himmels Au, licht und blau. . . . . . . . . .

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– . . . . . . – . . . . . . – . . . . . 3 320 . . . . 143 . . . . 484 . . . 8 – . . . . . . – . . . . . . – . . . . 15 – . . . . . . – . . . . . . – . . . . . . – . . . . . . 242 . . . . 723 . . . . – . . . . . . – . . . . . . – . . . . . .

– . . . . . . – . . . . . . – . . . . . . – . . . . . . 524 . . . . – . . . . . . – . . . . . . – . . . . . . – . . . . . .

– . . . . 487 . . – . . . . – . . . . 392 . . – . . . . – . . . . – . . . . – . . . .

19 23 27 31 35 43 50 57 61

(800) . . . – . . . . . . – . . . . . . 568 . . . . – . . . . . .

– . . . . . . – . . . . . – . . . . . . – . . . . . . – . . . . . .

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69 76 79 85 92

Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch

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Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch Heft 25

Vandenhoeck & Ruprecht ISBN 978-3-525-50348-5

9 783525 503485

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