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German Pages [98] Year 2015
Handbuch zum Evangelischen Gesangbuch Band 3
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch Im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland gemeinschaftlich mit
Ansgar Franz, Gerhard Hahn, Barbara Lange, Helmut Lauterwasser, Bernhard Leube, Andreas Marti und Bernhard Schmidt
herausgegeben von
Martin Evang und Ilsabe Seibt
Ausgabe in Einzelheften Heft 21
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
VERZEICHNIS DER MITARBEITERINNEN UND MITARBEITER Ackermann, Andrea, Diplom-Theologin, Projektmitarbeiterin im Gesangbucharchiv Mainz: EG 262/263 T * Egerer, Ernst-Dietrich (s. Heft 10): EG 323 * Evang, Dr. Martin, (s. Heft 19): EG 480 T * Hahn, Dr. Gerhard (s. Heft 1): EG 215 T * Herbst, Dr. Wolfgang (s. Heft 15): EG 255, 256, 257, 258 * Kaiser, Dr. Jochen, Liturgiewissenschaftler und Kirchenmusiker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Praktische Theologie der Universität Erlangen: EG 345 * Klek, Dr. Konrad, Theologe und Kirchenmusiker, Professor für Kirchenmusik an der Universität Erlangen: EG 259 * Lauterwasser, Dr. Helmut (s. Heft 17): EG 215 M; 262/263 M, * Lange, Barbara (s. Heft 19): EG 248 * Leube, Bernhard (s. Heft 17): EG 200, 323 * Liebig, Dr. Elke, Studium der Kulturwissenschaften, der Musikwissenschaft und der Evangelischen Theologie, Göttingen: EG 370 * Marti, Dr. Andreas (s. Heft 7/8): EG 193, 286 * Monninger, Dorothea (s. Heft 2): Redaktion * Reich, Dr. Christa (s. Heft 1): EG 504 * Schäfer, Dr. Christiane (s. Heft 14): Hymnologische Nachweise * Stalmann, Dr. Joachim (s. Heft 1): EG 314 * Wissemann-Garbe, Dr. Daniela (s. Heft 15): Hymnologische Nachweise, EG 480 M
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-50344-8 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg
193 Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort
Kommentare zu den Liedern
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193 Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort
EG 193
RG 255
KG 95 (M)
193 Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort
CG 437 (M)
EM 418
Text Verfasser Martin Luther Entstehung vermutlich Ende 1541 oder Anfang 1542 Quellen (a) verlorener Einzelblattdruck von 1542 (1792 bezeugt) * (b) Geistliche Lieder (Joseph Klug), Wittenberg 1544 (DKL 154405); auch schon in der verschollenen Auflage von 1543 (DKL 154310) Überschrift (b) Ein Kinderlied/ zü singen/ wider die zween Ertzfeinde Christi vnd seiner heiligen Kirchen/ den Bapst und Turcken/ etc:
Ausgaben W III,43; WA 35, 4687f (Nr. 32); WA.A 4, 304f (Nr. 38); HahnL 53 (Nr. 35) Strophenbau A8/4a A8/4a A8/4b A8/4b vgl. Frank 4.58 ‚Ambrosianische Hymnenstrophe‘ Abweichungen (b) 1,2 und steur des Bapsts und Türcken Mord; 1,4 Wollten; * RG: 1,4 wollten; 3,2 einen Sinn; 3,4 leit * EM: 1,2 wehre deiner Verbindung TM wie EG
Melodie Incipit 1_3b1–7b13b21_ Verfasser Martin Luther Vorlagen Hymnus Veni redemptor gentium (MMMA I, 503) * Nun komm der Heiden Heiland (EG 4) Quellen s. o. Ausgaben Z I,360a; WA.A 4, 304f (Nr. 38); DKL III/1.2 Ee21 Besonderes melodisch und rezeptionsgeschichtlich enge Verbindung zu Verleih uns Frieden gnädiglich (EG 421) Ambitus G: 8b; Z: 4356b Abweichungen Choralnotation ohne Längen (außer
Schlussnote); Ton tiefer; vorletzte Note ohne # * RG: mit Taktzeichen C * EM: mit 4st. Satz (M. Praetorius 1610) Verbindung MT wie EG * weitere: Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ (EG 246) * Ich glaube: Gott ist Herr der Welt (Peter Spangenberg; RG 271, KG 95, CG 437, EM 307) * die Verbindung mit zahlreichen Texten bis 1580 ist in DKL III/1.3 Registerbd., 121 dokumentiert
Literatur HEKG (Nr. 142) I/2, 245f; II, 56.62; III/1, 501–504; Sb, 230–233; HEG II, 204–208 ** ÖLK Lfg. 2; ThustB, 205–207; ThustL I, 342–345 ** EEKM (1888–1895) I, 372f; WA (1883ff) 35, 235–254.467f. 528.616.624; WA.A 4 (1985) 118f.304f; Bruppacher (1953) 375f; NSKA 17 (1975) 84; DKL (1993–2010) III/1.2 Textbd., 207f und III/1–3 Registerbd., 121 und DKL III/2, Textbd., 129; RößlerL (22001) 72f.111.286 ** AMELN, Konrad: Lateinischer Hymnus und deutsches Kirchenlied, MuK 6 (1934) 138–148 * DOLLINGER, Robert: Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort!, Zeitschrift für bayerische Kirchengeschich-
te 29 (1960) 33–42 * JENNYG 1962, 209 (Nr. 107) * SOMMER, Ernst: Die Metrik in Luthers Liedern, JLH 9 (1964) 29–81, bes. 35.40.74 * BLUME, Friedrich: Geschichte der evangelischen Kirchenmusik, Kassel 2 1965, 23f * JENNY, Markus: Die Lieder Zwinglis, JLH 14 (1969) 98f * LIPPHARDT, Walther: Gesangbuchdrucke in Frankfurt am Main vor 1569, Frankfurt/M. 1974, Nr. 197 * HAHNEV 1981, bes. 96–98 * JENNY, Markus: Luther, Zwingli, Calvin in ihren Liedern, Zürich 1983, 145f * ERNST, Hans-Bruno: Zur Geschichte des Kinderlieds: Das einstimmige deutsche geistliche Kinderlied im 16. Jahrhundert, Regensburg
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Kommentare zu den Liedern
1985, 77–81.239f (mit Faks) * VEIT, Patrice: Das Kirchenlied in der Reformation Martin Luthers. Eine thematische und semantische Untersuchung, Stuttgart 1986, 45f.72–76 * MEYER, Christian: Les Mélodies des églises protestantes de langue allemande. Catalogue [. . .] et édition [. . .], Bd. I: Les mélodies publiées à Strasbourg (1524–1547), Baden-Baden/Bouxwiller 1987, Nr. 29 * HEITMEYER, Erika: Das Gesangbuch von Johann Leisentrit 1567, St. Ottilien 1988, 116–134 * AMELN, Konrad: Über die Sprachmelodie in den geistlichen
Gesängen Martin Luthers, in: Friedhelm Brusniak/ Horst Leuchtmann (Hg.), Quaestiones in musica. FS Franz Krautwurst zum 65. Geburtstag, Tutzing 1989, 17f * KURZKE, Hermann: Kirchenlied und Literaturgeschichte. Die Aufklärung und ihre Folgen, JLH 35 (1994/95) 124–135, bes. 125f * MEDING 1998 * CZUBATYNSKI, Uwe: Erhalt uns Herr bei deinem Wort, Luther 71 (2000) 43–45 (Liedpredigt) * STALMANN, Joachim: Art. Luther, Martin, in: MGG2 Personenteil 11 (2004) 636–654
„Mord“ ist nicht gerade ein Wort, das man im Gesangbuch erwartet, und erst recht befremdlich klingt die zweite Zeile im originalen Wortlaut: und steur des Papsts und Türken Mord. Luther nennt die beiden „Erzfeinde Christi“ in einer für unsere Ohren geradezu anstößigen Konkretheit beim Namen und hat dabei eine ebenso konkrete Bedrohung im Blick. Nachdem bereits 1529 ein türkisches Heer bis vor Wien gezogen war, stieg im Jahre 1541 die Gefahr türkischer Expansion in Richtung Mitteleuropa wieder stark an. Ein österreichisches Heer erlitt in Ungarn eine schwere Niederlage. Auch von Seiten des Papstes (Paul III., 1534–1549) stieg die Kriegsgefahr; die reformatorische Bewegung sollte offenbar mit militärischen Mitteln beseitigt oder wenigstens eingedämmt werden. Wenig später, 1546–47, bestätigten sich diese Befürchtungen dann auch in dem von Kaiser Karl V., teilweise unterstützt vom Papst, gegen die evangelischen Stände geführten Schmalkaldischen Krieg, der mit dem für die evangelische Seite ungünstigen Augsburger Interim von 1548 endete. Dass Luther das Lied in der Überschrift „ein Kinderlied“ nennt, liegt vielleicht an seiner schlichten Form. Es ist dieselbe vierzeilige Strophe, die er wenige Jahre zuvor für Vom Himmel hoch, da komm ich her gewählt hatte. Schon Ambrosius von Mailand hatte sie Ende des 4. Jh. für seine Gemeinde-Hymnen verwendet, und ihre Übersichtlichkeit und Regelmäßigkeit macht sie für das Erlernen und Behalten besonders geeignet. Dazu kommt, dass Luther hier – anders als beispielsweise in seiner Hymnenübertragung Nun komm, der Heiden Heiland – Wort- und Versakzent weitgehend übereinstimmen lässt (mit Ausnahme vor allem der vierten Zeile von Str. 1), so dass sich der Text fast mit der Glätte eines Kinderverses aufsagen lässt. Es ist aber auch ein inhaltlicher Grund für die Bezeichnung „Kinderlied“ vermutet worden:1 Nur noch das einfältige Gebet der Kinder kann in dieser Notsituation helfen. Gibt es einen größeren Gegensatz zur militärischen Gewalt als ein Kindergebet? Das bloße Reden oder Stammeln der physisch Schwächsten gegen die Macht der äußerlich Stärksten? Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder 1 HEKG III/1, 503; WA.A 4, 118; vgl. Dietrich Bonhoeffer, Das innere Leben der deutschen evangelischen Kirche, DBW 14, 714–720.
193 Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort
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(Mt 18,3) – alles von Gott erwarten, nichts aus eigener Macht: Das ist das Grundanliegen von Luthers Reformation und meint eben nicht nur das Seelenheil, sondern auch das politische Überleben. (Zwingli sah das mit seiner die militärische Option durchaus einschließenden Diplomatie etwas anders – wir würden heute vielleicht sagen: realpolitischer.) Ähnlich hat der Prophet Jesaja angesichts übermächtiger äußerer Bedrohung gemahnt: Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein (Jes 30,15). Und ähnlich ist beim Propheten und beim Reformator auch der Zusammenhang zwischen der äußeren und der inneren Bedrohung gesehen: Das gestörte Gottesverhältnis, die Missachtung des Wortes Gottes ist der tiefste Grund für die schlimme Situation. Für die Reformation ist das Wort ein Schlüsselbegriff, das erste und einzige Kommunikationsmittel zwischen Gott und Mensch. So beginnt das Lied mit einer Bitte nicht um äußere Bewahrung, sondern um den rechten, durch das Wort und durch Gott selbst gewirkten Glauben. Durch die Nennung der äußeren Bedrohung (1,2) erhält diese erste Bitte eine konkrete, politische Dimension. Die beiden „Erzfeinde“ (gemäß Original der Papst und die Türken) gefährden ja auch den freien Lauf des Wortes. Sie bestreiten die Herrschaft Christi, wollen ihn vom Thron [. . .] stürzen: Der Islam macht ihn zum bloßen Propheten, der Papst setzt ihm von Menschen gemachte Heilsmittel an die Seite. Nur drei kurze Strophen machen das Lied aus, konzentriert in trinitarischem Aufbau. Richtet sich die erste Strophe an Gott den Vater, ist in Str. 2 Christus als Herr aller Herren angesprochen, auf dem Hintergrund etwa des Christushymnus im Philipperbrief (Phil 2,6–11). Die Herrschaft Christi ist die Kritik an der Macht der irdischen Herren. Es ist seine Macht (2,1), die uns rettet und bewahrt. Mit unsrer Macht ist nichts getan, dichtete Luther in Ein feste Burg ist unser Gott (EG 362). Auf den ersten Blick mag das Lied kämpferisch oder gar militärisch klingen. Doch dieser Schein trügt. Noch nicht einmal seine zweite Zeile sollte als (einziger) Fall eines „grimmigen Kampf-Liede[s]“2 bezeichnet werden. Dem steht Luthers tiefes Misstrauen gegen alle menschliche Macht entgegen, das auch hier seinen deutlichen Ausdruck gefunden hat. Erst recht klar wird dies in Strophe 3. Sie übersteigt alle Konflikthaftigkeit in der Bitte an den Heiligen Geist, den Tröster wert, um einerlei Sinn, um das Ende des heillosen Streites unter den Menschen – ganz ähnlich übrigens wie Zwingli in seinem sogenannten Kappeler Lied: Hilf, dass alle Bitterkeit / scheid, o Herr, und alte Treu / wiederkehr und werde neu (EG 242, hochdeutsch von Friedrich Spitta 1897). Was Luther mit deim Volk meint, bleibt offen, greift sicher weiter als nur auf die reformatorischen Kirchen, vielleicht aber auch weiter als auf die in 2,2 genannte arme Christenheit, hin auf die Vision einer in Gottes Frieden und durch sein Wort versöhnten Menschheit.
2 Markus Jenny, Ein frühes Zeugnis für die kirchenverbindende Bedeutung des evangelischen Kirchenliedes, JLH 8 (1963) 123–128, Zitat 128, Anm. 25.
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Kommentare zu den Liedern
Zuletzt überschreitet das Lied auch den Bereich des irdischen Lebens: Gott, der heilige Geist, geleitet uns ins wahre, ewige Leben, gegenüber welchem das irdische, zutiefst bedrohte Leben, als Tod (3,4) erscheint. Luther nimmt hier einen Gedanken auf, der in der Tradition von Gebeten zum Heiligen Geist eine wichtige Rolle spielt, so auch in dem von Luther neu gefassten und ergänzten Pfingstleis Nun bitten wir den Heiligen Geist (EG 124,1,3.4). Die Sorge in der konkreten politischen Situation ist damit in den weitest möglichen Kontext gestellt. Das Lied verbreitete sich rasch in den frühen Gesangbüchern und erhielt einen festen Platz im Gottesdienst. Lucas Lossius bestimmt es in seiner „Psalmodia“ (1533) zum Gottesdienst-Schlusslied,3 manchmal begegnet es zusammen mit Verleih uns Frieden gnädiglich (EG 421), Luthers Umdichtung der alten Friedensantiphon.4 Mehrfach wurden Strophen angefügt (so bereits Mitte des 16. Jh. durch Justus Jonas oder im Straßburger „Kirchenamt“ 1565); das Lied wurde umgedichtet oder in anderen Liedern zitiert, so in Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ (EG 246, Nikolaus Selnecker 1578), das bis heute im EG mit der Melodie von Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort gesungen wird. Selnecker zitiert den Anfang der ersten Strophe fast wörtlich, verschiebt aber die Betonung auf die geistliche Ebene: und wehr des Teufels Trug und Mord (Str. 4,2). Eine ähnliche Fassung, und wehr des Satans List und Mord, war unter dem Druck des Augsburger Interims 1548 verordnet worden,5 doch blieb im Allgemeinen die Konkretheit der „Erzfeinde“ bestehen. Im mehr auf Ausgleich bedachten 18. Jh. und mit wachsendem historischem Abstand verlor sie jedoch an Sinn, so dass sich erst vereinzelt – z. B. im Leipziger Gesangbuch von 1731 –, dann gegen Ende des Jahrhunderts allgemein die heutige Fassung von 1,2 deiner Feinde Mord durchsetzte.6 Seit langem ist bekannt, dass die Melodie aus jener zum Hymnus Veni redemptor gentium entwickelt ist.7 Dass Luther selber sie geschaffen hat, ist nicht zu beweisen, liegt aber angesichts des engen Verhältnisses von Text und Musik sehr nahe. Die Melodiewahl könnte damit zu tun haben, dass Luther in der Bedrohung durch die Völker hintergründig den „Heiland der Völker“ (redemptor gentium) anruft, ähnlich wie schon einige Jahre zuvor bei Verleih uns Frieden gnädiglich.8
3 Werner Merten, Die „Psalmodia“ des Lucas Lossius (III), JLH 21 (1977) 39–67, hier 65. 4 Walter Blankenburg, Wer schuf den Gesang „Gib unserm Fürsten und aller Obrigkeit“?, JLH 25 (1981) 102f. 5 HEKG III/1, 504. 6 Kurzke, 125. 7 Karl Severin Meister, Das katholische deutsche Kirchenlied in seinen Singweisen, Bd. 1, Freiburg i. Br. 1862, 34f; Ameln, 138–148; Friedrich Blume/ Ludwig Finscher, Das Zeitalter der Reformation, in: Geschichte der evangelischen Kirchenmusik, hg. v. Friedrich Blume, Kassel 21965, 3–75, hier 23f. 8 WA.A 4, 105–107.
193 Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort
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EG 193
In den Zeilen 1 und 2 ist je nur ein einziger Ton gegenüber der Vorlage verändert (abgesehen vom Verzicht auf die Ligatur am Ende von Zeile 2). Dies ist eine kleine, aber folgenschwere Änderung, welche die Melodie in eine andere musikalische Gattung verschiebt. Die fast sprechgesangartige Rezitation des Melodieanfangs (g-g-g)9 wird aufgebrochen durch den Terzsprung g-b, der den Sprachgestus des Anrufes in Erhalt direkt aufnimmt. Mit dem Terzsprung gegen Ende der Zeile entsteht eine nachdrückliche Wiederholung – die Betenden bedrängen Gott geradezu mit ihrer Bitte. Dieselbe rhetorische Wiederholung zeigt sich in Zeile 2, nun eine Terz höher. Hier ist die Terzbewegung durch Tonschritte ausgefüllt, beide Zeilenhälften sind völlig identisch, wiederum ein Bild für das nicht nachlassende Bitten. Zusätzlich bestehen diese beiden Zeilenhälften intern wiederum aus der – hier um einen Ton nach oben versetzten – Wiederholung eines kleinsten melodischen Kerns, der steigenden Sekunde. 9 Wir notieren beide Melodien hier auf der Finalis g, entsprechend der üblichen Notation der Hymnus-Melodie.
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Kommentare zu den Liedern
Im Wittenberger Gesangbuch von 1543/44 (Klug) ist die Melodie unmensuriert notiert. Das Gesangbuch von Valentin Babst 1545 bringt sie in mensurierter Notation mit langen Zeilenanfangs- und Schlussnoten. Gelängt sind dort auch die Spitzentöne der zweiten und dritten Zeile, und die zweite Zeile beginnt auf dem Grundton, was jedoch die Identität der beiden Zeilenhälften zerstört. Für Zeile 1 ist die Terz g-b bestimmend, Zeile 2 steigt um eine Terz höher in den Raum b-d, und Zeile 3 setzt nun diesen Anstieg nochmals um eine Terz nach oben fort. Mit den Tönen es und f sprengt sie den Ambitus der Vorlage und verlässt so noch deutlicher den alten Melodietypus. Hatten sich nämlich viele Hymnus-Melodien eher in kleineren Umfängen bewegt und sich an der mittelalterlichen Organisation des Tonraumes in „Hexachorde“, in Sechstonräume, orientiert, so setzte sich seit dem 15. und 16. Jh. mehr und mehr die Oktavorganisation durch, theoretisch erfasst beispielsweise in Heinrich Glareans „Dodekachordon“10 und der dortigen Beschreibung der Modi als Oktavausschnitte. Durch die beiden zusätzlichen Töne wechselt die Melodie vom 6in den 8-Tonraum und kommt so dem neuzeitlichen Musikverständnis entgegen. Zeile 3 verlässt die Vorlage, Zeile 4 kehrt zu ihr zurück und verwendet die Abstiegsfigur aus deren dritter Zeile, ergänzt um die Wendung zum unteren Nebenton des Grundtones (mit ausnotierter Leittonerhöhung seit Ende des 16. Jh. belegt, aber im Sinne der „musica ficta“ auch sonst nicht auszuschließen). Erste und zweite Melodiehälfte sind durch eine Art Symmetrie verbunden: Die zweite Hälfte von Zeile 3 wiederholt gespiegelt jene von Zeile 2 und leitet so den Abstieg vom Höhepunkt ein; Zeile 4 ist geprägt durch die in den ersten beiden Zeilen wichtigen Terzen, nun in umgekehrter Richtung und Reihenfolge. Dadurch ergibt sich zugleich eine interessante Dreiklangsstruktur in den Zeilen 3 und 4 (im Notenbeispiel durch Bogen gekennzeichnet); sie lässt die DurMoll-Entsprechung des neuzeitlichen Tonalitätsdenkens vorausahnen und bestätigt nach der rhetorischen Gestaltung des Anfangs und der Ausweitung des Ambitus nochmals die ausgesprochene stilistische Aktualität der Melodie – eine Aktualität, die dem drängenden Gegenwartsbezug des Textes entspricht. ANDREAS MARTI
10 Heinrich Glarean, Dodekachordon, entstanden 1519–1539; Faks der Ausgabe Basel 1547: Hildesheim 1969; englische Übersetzung von C. A. Miller, Rom 1965.
200 Ich bin getauft auf deinen Namen
Kommentare zu den Liedern
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200 Ich bin getauft auf deinen Namen
EG 200
RG 177
200 Ich bin getauft auf deinen Namen
EM 511 (T)
Text Verfasser Johann Jakob Rambach Quelle D. Joh. Jacob Rambachs [. . .] Erbauliches Handbüchlein für Kinder. Andere Auflage, Gießen 1734 Überschrift Tägliche Erneuerung des Taufbundes. Ausgaben Johann Jacob Rambach, Erbauliches Handbüchlein für Kinder (1734), hg. von Stefanie Pfister und Malte van Spankeren, Leipzig 2014; Christian Bunners (Hg.), Lieder des Pietismus, Leipzig 2003, 58f.121f (Nr. 31) Strophenbau A9/4a- A8/4b, A9/4a- A8/4b, A8/4c A8/4c Frank 6.38 Abweichungen 3,3 Ich habe mich aus reinem triebe; nach Str. 5: 6. Weich, weich, du fürst der finsternissen * RG: 1,3 und so ist alles Ja und Amen; 1,4 was mir dein treues Wort verheißt; 1,5 in Christi Tod versenkt; weitere Strn. fehlen * EM:
1,3 und so ist alles Ja und Amen; 1,4 was mir dein treues Wort verheißt; 1,5 in Christi Tod versenkt; nach 2: 3. Ich lege nun mein ganzes Leben; nach 3: 6. Lass diesen Vorsatz nimmer wanken Verbindung TM in der Q ohne N, aber mit Hinweis auf die Melodie Wer nur den lieben Gott lässt walten; bis 1734 sind bei Zahn fünf Melodien nachgewiesen (Z II,2778–2782), darunter die heute gebräuchliche EG 369 * Z II,2836 (Wer weiß wie nahe mir mein Ende, 1726; verbunden in: DKL 174408) * Z II,2872a (Wer nur den lieben Gott lässt walten; 1799, verbunden bei Kocher 1855) * EM: Dein Heil, o Christ, nicht zu verscherzen (Knecht 1796, gedruckt: DKL 159914; Z II,2897)
Melodie s. O dass ich tausend Zungen hätte (EG 330) Literatur HEKG (Nr. 152) I/2, 259–261; HEKG III/1, 518–520; Sb, 240; HEG II, 247 mit Ergänzungen in JLH 38 (1999) 260 ** ThustB, 211; ThustL I, 353–355 ** KLL (1878/1967) I, 319; Nelle (31924/1962) Nr. 217; RößlerL (22001) 645 ** DRÖMANN, Hans-Christian: Der revidierte Wochenliedplan, JLH 22 (1978) 186–195 (bes. 188.192) * LEUDESDORF, René: Ich bin getauft auf deinen Namen – EKG 152, in: Horst Nitschke (Hg.), Aus dem Gesangbuch gepredigt. Predigten, Meditationen, Gottesdienste, Gütersloh 1981, 33–35 * HESSING, Erich: Schätze des Gesangbuchs, Hannover 21989, 34f * DORLASS-MÜLLER, Monika: 3. Taufe „Ich bin getauft auf deinen Namen“ in: Ralf Koerrenz/ Jochen
Remy (Hg.), Mit Liedern predigen. Theorie und Praxis der Liedpredigt, RheinbachMerzbach 1994, 171–178 * ROSER, Hans: Lieder der Christen. Die Wochenlieder im Kirchenjahr – Geschichte, Hintergründe, Wissenswertes, Neukirchen-Vluyn 1995, 93f * HOLZAPFEL, Otto: Religiöse Identität und Gesangbuch. Zur Ideologiegeschichte deutschsprachiger Einwanderer in den USA und die Auseinandersetzung um das ‚richtige‘ Gesangbuch, Bern u. a. 1998, 150–173.228f * MARTINI, Britta: Sprache und Rezeption des Kirchenliedes. Analysen und Interviews zu einem Tauflied aus dem Evangelischen Gesangbuch, Göttingen 2002, 145f * SCHEFFBUCH, Beate und Winrich: Den Kummer sich vom Herzen singen.
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Kommentare zu den Liedern
So entstanden bekannte Lieder I, Holzgerlingen 82003, 193f * SWARAT, Uwe: Der Bund eines guten Gewissens mit Gott. Die Theologie des Chorals „Ich bin getauft auf deinen Namen“ von Johann Jakob Rambach, in: ders. (Hg.), Das Lob Gottes
bringt den Himmel zur Erde. FS für Günter Balders, Wuppertal 2007, 133–161 * GAUER, Mathias: Ich bin getauft auf deinen Namen – EG 200, in: Arnold/ Bresgott 2011, 167–169 * WKERNLIEDER 2011, 74–79 * MERING, 2013, 91–96.
Die Rubrik der Tauflieder im Evangelischen Gesangbuch wird mit einem Tauferinnerungslied eröffnet. Die Taufe ist geschehen. Wer das Lied singt, blickt darauf zurück. Es wurde und wird deshalb gern bei Konfirmationen gesungen, bei Osternachtfeiern oder in Taufgottesdiensten als Tauferinnerung für die Gemeinde. Das Lied hat heute seinen Platz im Kontext vielfacher Bemühungen um eine Kultur der Tauferinnerung. Es ist Wochenlied am 6. Sonntag nach Trinitatis, in dem die Taufe thematisiert wird, und steht in der Kernliederliste.1 Die ursprüngliche Intention des Dichters Rambach war die eines täglichen Gebets. Aus dessen Zeit stammt so manches Tauferinnerungslied: Erdmann Neumeisters Lasset mich voll Freuden sprechen:/ ich bin ein getaufter Christ2 oder Johann Friedrich Starcks 1734 erschienenes Lied Ich bin getauft, ich steh im Bunde.3 Johann Jakob Rambach4 gilt als Vertreter des halleschen Pietismus der zweiten Generation. Die ursprüngliche Verve August Hermann Franckes, Rambachs Vorgänger in Halle, ist einer gewissen pädagogischen Gelassenheit gewichen. Die Auffassung von der Taufe, wie Rambach sie hier äußert, steht durchaus in Spannung zu Franckes Auffassung von Bußkampf und Bekehrung im Vorfeld der Taufe. Rambach macht gleichwohl deutlich, dass auch ein getaufter Christ von inneren Kämpfen nicht verschont bleiben wird. 1734 wird das Lied zum ersten Mal gedruckt in Rambachs „Erbaulichem Handbüchlein für Kinder“,5 das im Religionsunterricht der Franckeschen Stiftungen in Halle benutzt wurde, aber auch in Familien gebräuchlich war. Dieses Schulbuch nimmt auf ursprünglich stolzen 268 Seiten zunächst mit vierhundert katechismusartigen Fragen den ganzen Alltag eines Kindes in den Blick,6 bietet außerdem Lieder und Gebete für alle Fälle des Lebens, selbst das Gebet eines sterbenden Kindes.7 Nachdem in Frage und Antwort (Frage 81–898) dargelegt 1 www.ekd.de/liturgische_konferenz/download/UnsereKernlieder_AmtfKirchenmusik2007.pdf; vgl. Leube, Bernhard: Die neuen „Kernlieder“, JLH 47 (2008) 140–150. 2 Etwa in: Gesangbuch für die evangelisch-lutherische Landeskirche des Königreichs Sachsen, Leipzig/Dresden 1883, Nr. 234. 3 Ebd., Nr. 233; vgl. Johann Friedrich Starck, Tägliches Hand-Buch in guten und bösen Tagen. Zweyte, verbesserte Amerikanische Auflage, Philadelphia 1813, 304–305. 4 Zuweilen „Jacob“ mit c, dann aber nicht zu verwechseln mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Jacob Rambach (1737–1818). Zur Vita vgl. HEG II, 247; BBKL 7, 1299ff.; Koch IV, 521–535. 5 Johann Jacob Rambach, Erbauliches Handbüchlein für Kinder (1734), hg. v. Stefanie Pfister und Malte van Spankeren, Leipzig 2014, 163–164. 6 Rambach, aaO., 111–154. 7 AaO., 183–185. 8 AaO.,120–121; s. auch Frage 96, 122.
200 Ich bin getauft auf deinen Namen
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ist, dass die Taufe die volle Gemeinschaft mit Gott vermittelt, formuliert Frage 90 etwas suggestiv den Bundesgedanken: „Richtet nicht auch der dreieinige Gott in der Taufe einen Bund mit uns auf?“ Antwort: „Ja, Gott richtet mit uns einen Bund der Gnaden auf, darin er uns alle Gnadengüter zusagt und übergiebt; wir aber ihm Glauben und Gehorsam zusagen, und uns zu seinem Eigenthum übergeben.“9 Damit ist die Thematik des Liedes umrissen. Im Pietismus fand und findet sich ein starkes Interesse daran, dass die Taufe im Glaubensleben auch Folgen zeitigt. Es gab deutliche Tendenzen zur Relativierung der Säuglingstaufe, hervorgehoben wurde aber die bewusste Heiligung des Lebens im dezidierten Anschluss an Luthers Dictum aus dem Kleinen Katechismus, der alte Adam müsse täglich ersäuft werden.10 Dabei bekam bei Rambach die bewusste, ausdrückliche und auch nach der Taufe praktizierte Absage an den Teufel, die „abrenuntiatio diaboli“ aus dem Taufformular, besonderes Gewicht. Im „Handbüchlein“ von 1734 steht das Lied nach den vierhundert Fragen im darauffolgenden Liederteil („Neues Gesang-Büchlein für Kinder“) als Nr. 6 unter der Überschrift „Tägliche Erneurung des Taufbundes“ in der Rubrik „Schul-Lieder“. Dem Lied-Teil folgt ein Abschnitt mit Gebeten („Neues Gebet-Büchlein für Kinder“). Dort steht im Abschnitt „Dancksagung eines Kindes für geist- und leibliche Wohlthaten“ folgendes Gebet mit der Überschrift „Tägliche Erneuerung des Taufbundes“, das auch in seinem Duktus dem Tauflied klar entspricht:11 Dreyeiniger GOtt/ Vater/ Sohn und heiliger Geist/ ich dancke dir von gantzem Hertzen/ daß du dich aus unendlicher Liebe so tief herab gelassen/ und mit mir einen Bund in meiner Taufe gemachet hast. Du hast mir versprochen/ mein GOtt zu seyn/ mich in Christo JEsu zu segnen/ mich für dein Kind zu erkennen/ mich zu lieben/ zu versorgen/ durch deinen Geist zu regieren/ und mir endlich deine ewige Herrlichkeit zum Erbtheil zu geben. [149] Ich aber habe dir zugesagt/ dich als meinen Schöpfer/ Erlöser und Heiligmacher/ zu fürchten und zu lieben/ dir zu vertrauen und zu gehorchen; hingegen deinen Feind/ den Satan/ auch für meinen Feind zu halten/ gegen seine Versuchungen zu kämpfen/ allen seinen Wercken und Wesen/ allen Sünden und Lastern/ allen weltlichen Uppigkeiten und Torheiten/ auf ewig abzusagen/ und keine Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Wercken der Finsterniß zu haben. Ach mein GOtt/ an deiner Seite steht dieser Bund wohl feste/ denn was du zusagest/ das hältst du gewiß. Aber ich sorge/ daß ich meine Zusage nicht treulich gehalten/ sondern mich oft vom Satan/ der Welt/ und meinem Fleisch zur Ubertretung derselben bewegen lassen. Vergib mir solches um meines theuren Heylandes willen/ der dein Gebot niemals übertreten/ rechne mir seinen vollkommenen Gehorsam zu/ und nimm um desselben willen mich/ dein armes gefallenes Kind/ wieder zu Gnaden an. Ich erneure/ im Vertrauen auf deinen Beystand/ meine Zusage/ und verspreche durch 9 AaO., 121. 10 Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Ausgabe für die Gemeinde, hg. vom Amt der VELKD, Gütersloh 62013, 478. 11 Rambach, aaO., 190–191.
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deine Gnade dir hinfort treuer zu seyn/ und dich mein Lebelang zu fürchten. Gib mir zu dem Wollen auch das Vollbringen/ um deines lieben Sohnes willen/ Amen. [150]
Über Gebet und Lied setzt Rambach 1. Petrus 3,21: Die Taufe ist der Bund eines guten Gewissens mit Gott. Die Formulierung kommt aus Luthers ursprünglicher Übersetzung.12 1735 erscheint Rambachs Lied ein zweites Mal in dessen „Geistreichem Haus=Gesangbuch . . .“ unter den Liedern „Von den Sakramenten des N. T.“. Die Tauflieder-Rubrik enthält zunächst Lieder „Vom Tauf-Bunde“,13 unser Lied steht bei den Liedern, die unter der Überschrift „Erneurung des Tauf-Bundes“ zusammengefasst sind. In Strophe 1 spricht die singende Person passivisch von sich selbst – ich bin getauft –, d. h. sie bekennt Gottes Handeln an sich selbst. Eine Selbsttaufe ist unmöglich. Rambach fügt in einer Fußnote Matthäus 28,19 an, nimmt den Wortlaut der Taufformel „Ich taufe dich auf den Namen . . .“14 genau auf, samt trinitarischer Anrufung. Es folgen anaphorisch weitere „Ich bin“-Aussagen. Der Same steht biblisch zunächst synonym für Nachkommenschaft,15 häufig in Bezug auf Abraham,16 hier aber in dem die Grenzen Israels überschreitenden und allen Getauften geltenden Sinn der Zugehörigkeit zu den Verheißungen des Volkes Gottes.17 Mit explizitem Hinweis auf Römer 6,5 verwendet Rambach den zum Begräbnis gehörenden Begriff der Einsenkung18 für die Taufe in den Tod Jesu, um die Strophe zu beschließen mit dem Hinweis auf die durch die Taufe verliehene Gabe des Geistes (vgl. Apg 2,38). Den „Ich-bin“-Aussagen der 1. Strophe entspricht in der zweiten die Reihe der „Du hast“-Bekenntnisse. Trinitarisch durchgestaltet bekennt sich der Singende als Adoptivkind Gottes, die Zugehörigkeit zu Gott wird wie in der Bibel in familiären Kategorien ausgedrückt.19 Die Frucht des Sterbens Jesu, an der die Getauften Anteil haben und woran sie sich singend erinnern, ist der neue 12 Luther 1534: Die Taufe ist „Nicht das abthun des vnflats am fleisch / Sondern der Bund eines guten gewissens mit Gott“; Luther-Revision 1984: In der Taufe „wird nicht der Schmutz vom Leib abgewaschen, sondern wir bitten Gott um ein gutes Gewissen.“ Zürcher Bibel 2007: „Die Taufe ist . . . die Zusage fester Bindung an Gott“. 13 Wie sich Rambach den Vollzug des „Tauf-Bundes“ dachte, wird deutlich etwa am ersten Lied dieser Unter-Rubrik: Satan, heb dich weg von mir (Matth 4/10),/ Denn ich diene GOtt, nicht dir;/ Mein mit GOtt getrofner bund,/ Macht mir meine tauf-pflicht kund/, Da ich dir, du seelen-dieb/, Keinen anspruch schuldig blieb/, Sondern CHRisto mich verschrieb, Nr. 360,1 im „Haus=Gesangbuch“, zitiert nach der im Internet zugänglichen Erstausgabe von 1735, URL: http://digital-collections.de. 14 So in genauer Aufnahme der Formulierung aus Mt 28,19. Die heute auch übliche Taufformel „Ich taufe dich im Namen . . .“ erzeugt das Missverständnis, als handle die taufende Person stellvertretend für jemand anderen, der aber nicht anwesend ist. 15 Vgl. 1. Mose 9,9; 2. Sam 7,12; Ps 22,24; 105,6; Lk 1,55; Joh 8,33; Gal 3,16. 16 1. Mose 12,7; 13,15; 17,8 u. ö.; vgl. EG 317,5. 17 Röm 9,8; Gal 3,6–14. 18 Vgl. Paul Graff, Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands, Bd. 1, Göttingen 21937, 358. 19 Röm 8,14–17; Gal 3,26 u. ö.
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die Getauften Anteil haben und woran sie sich singend erinnern, ist der neue Lebenswandel durch die Brechung der Macht des Todes. Rambach weist durch eine Fußnote auf Römer 6,4 hin. Seine Formulierung mir gewährt erläutert er in einer Fußnote durch „mir zu eigen geschenkt“. Noch einmal wird der Geist, die Gabe der Taufe, genannt, diesmal johanneisch als Tröster. Bis hierher formuliert Rambach klassische lutherische Tauftheologie – alles, was an pietistisch motivierten Taufaussagen in den weiteren Strophen folgt, steht auf diesem klaren Fundament. Von der 3. Strophe an wird der spezifisch pietistische Akzent des Liedes deutlich, wonach die Taufe nicht nur eine Gabe ist, sondern auch eine Verpflichtung beinhaltet. Furcht und Liebe erinnern deutlich an die Erklärungen der Zehn Gebote aus Luthers Kleinem Katechismus, die allesamt mit „Wir sollen Gott fürchten und lieben . . .“ einsetzen.20 Nun aber legt Rambach den Akzent auf das Handeln des Menschen, wenn er es als Wagnis bezeichnet, sich darauf einzulassen, Gottes Eigentum zu sein. In der Taufe geht menschlichem Handeln göttliches Handeln voraus (2. Mose 19,5; 5. Mose 7,6; Eph 1,14; Tit 2,14; 1. Petr 2,9). „Reiner Trieb“ und Wagnis setzen dann doch auf den freien Entschluss und damit auf die Taufe als ein gegenseitiges Treueverhältnis.21 Auch an die Absage an den Teufel, die abrenuntiatio diaboli, wird erinnert. Sie ist traditioneller Bestandteil des Bekenntnisaktes bei der Taufe,22 seinerzeit in drei Fragen mit Antworten: „N. Entsagest du dem Teuffel? Antwort: Ja. Und allen seinen Wercken? Antwort: Ja. Und all seinem Wesen? Antwort: Ja.“23 Die 4. Strophe ist ein vorsorgliches Gnadengesuch und spielt den erwartbaren Fall durch, dass der Taufbund seitens des Menschen übertreten wird. Für Rambach ist die Taufe ein Ereignis mit zwei Akteuren: Auf Seiten Gottes steht der Taufbund fest – Rambach weist dazu ausdrücklich auf Jesaja 54,10 hin (Es sollen wohl Berge weichen . . .). Auf Seiten des Menschen ist demgegenüber mit Fehltritten zu rechnen, deshalb bittet der Singende vorsorglich und täglich darum, in Gottes Gemeinschaft bleiben zu können. Mit der 5. Strophe erklären und vollziehen die Singenden die erneute Hingabe an Gott, verstanden als eine Erneuerung des durch die Taufe geschlossenen Bundes im Sinne einer Vergegenwärtigung (Anamnese) der Taufe. In Anlehnung an die Grundlegung der Ethik bei Paulus (Röm 12,1) geht es Rambach um
20 Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Ausgabe für die Gemeinde, hg. vom Amt der VELKD, Gütersloh 62013, 466–469. 21 Diese Sicht der Taufe als einer – modern gesprochen – „gestreckten Handlung“ findet sich bereits in Philipp Jakob Speners Pia desideria: „Aber er [sc. Gott] hat mit dir den Bund gemacht/ welcher auff seiner seiten ein gnaden-bund/ von der deinigen aber ein bund des glaubens und guten gewissens ist: Solches muss nun dein lebenlang wären.“ Zit. nach Bruno Jordahn, Der Taufgottesdienst im Mittelalter bis zur Gegenwart, Leiturgia V, Kassel 1970, 509. 22 Gesprochen von den Paten anstelle des Kindes in Hessen 1657, vgl. Jordahn, aaO., 508. 23 Die abrenuntiatio diaboli war über lange Zeit Bestandteil der Taufordnungen, vgl. z. B. KO Waldeck 1536 bei Paul Graff, Geschichte (s. Anm. 18), 302. Die abrenuntiatio war aber im 17. Jh. umstritten und wurde da und dort weggelassen, vor allem in reformierten Gemeinden. In heutigen Agenden begegnet sie als fakultativer Bestandteil der Taufliturgie.
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Kommentare zu den Liedern
erneute völlige Hingabe an Gott als den menschlichen Part des Taufbundes. Der heute zuweilen unglücklich gebrauchte Begriff der „Tauferneuerung“ geht davon aus, dass das Handeln Gottes in der Taufe und seine Zusage Schaden nehmen könnten. Davon kann, auch bei Rambach, keine Rede sein. Es geht nicht um eine Erneuerung der Taufe, sondern um Taufgedächtnis, also die vergegenwärtigende Erinnerung an sie. Im Original schließt nun jene dem Teufel in direkter Anrede absagende Strophe an, die im EG ausfällt.24 Sie ist die Kehrseite der in der 5. Strophe erneuerten Zusage an Gott: Weich, weich, du Fürst der Finsternissen,/ ich bleibe mit dir unvermengt./ Hier ist zwar ein befleckt Gewissen,/ jedoch mit Jesu Blut besprengt./ Weich, eitle Welt, du Sünde weich!/ Gott hört es, ich entsage euch. Damit wird noch einmal und nach Rambachs Idee täglich vollzogen, was bei der Taufe schon geschah. Diese Absage ist der Vorsatz, an den die 6. Strophe also ursprünglich anschließt. Aber im EG bezieht sie sich auf die Hingabe der 5. Strophe, eine Nivellierung der Ursprungsgestalt, die allerdings die heutige Rezeption des Liedes erleichtert. Dass auch der menschliche Vorsatz göttlichen Ursprungs ist, nimmt Philipper 2,13 auf, wo Paulus das menschliche Wollen als göttliches Tun beschreibt. Dem Vers So leb ich dir, so sterb ich dir fügt Rambach die Fußnote Römer 14,8 an: Leben wir, so leben wir dem Herrn . . . Gleichzeitig scheint ein alter Text mitzuschwingen, der im Pietismus als Gebet weit verbreitet war: „Jesu, dir leb ich; Jesu, dir sterb ich; Jesu, dein bin ich im Leben und im Tod.“25 Rambach selbst weist im „Erbaulichen Handbüchlein für Kinder“ wie im „Geistreichen Hausgesangbuch“ seinem Liedtext die Melodie Wer nur den lieben Gott lässt walten zu.26 In der von Johann Georg Stötzel 1744 herausgegebenen 3. Auflage des „Schlag-, Gesang- und Notenbuchs“ von Johann Georg Christian Störl, dem damals maßgeblichen Orgelbegleitbuch in Württemberg, steht eine weitere Melodie.27 Eine fröhliche Melodie mit der Angabe „Stuttgart 1799“ findet sich bei Konrad Kocher 1855.28 Im 19. Jh. gibt es eine Fülle weiterer Melodiezuweisungen zu Rambachs Text. Seit dem DEG, dann im EKG und schließlich im EG wird Rambachs Lied nach der Melodie O dass ich tausend Zungen hätte gesungen, die in der Liedgeschichte zur Trägerin zahlreicher Liedtexte geworden ist. BERNHARD LEUBE
24 So schon EKG 152 und DEG 131. 25 Reichs-Lieder. Deutsches Gemeinschaftsliederbuch, Neumünster 1982, Nr. 650, mit der Verfasserangabe „Dr. J. Burch“; ohne Verfasserangabe in: Philadelphia-Lieder, hg. vom Altpietistischen Gemeinschaftsverband in Württemberg, Reutlingen 1930, Nr. 992; in GL2 2013, Nr. 367, mit der erstaunlichen Verfasserangabe „1. Str.: Martin Luther nach Röm 14,8“. 26 So z. B. auch im Entwurf eines Gesangbuches für die evangelische Kirche im Königreich Württemberg, Stuttgart und Tübingen 1839, Nr. 258, 177. 27 Z II,2836. 28 Z II,2872a.
215 Jesus Christus, unser Heiland, der von uns den Gotteszorn wandt
Kommentare zu den Liedern
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215 Jesus Christus, unser Heiland, 215 Jesus Christus, unser Heiland, der von uns den Gotteszorn wandt
der von uns den Gotteszorn wandt
Text Verfasser Martin Luther Entstehung Wittenberg 1524 Vorlage Cantio Jesus Christus nostra salus, Johannes Hus (W I,367–369); Akrostichon Johannes, wahrscheinlich von Johann von Jenstein (AHMA I, 31f und AHMA XLVb, 105) Quellen (a) Das lied S. Johannes Hus gebessert. Einblattdruck Augsburg um 1524 (DKL 152402) * (b) Eyn Enchiridion oder Handbüchlein und Enchiridion Oder eyn Handbuchlein (Erfurter Enchiridien zum Färbefaß und Schwarzen Horn), Erfurt 1524 (DKL 152403 und 152405) – das bisher nur in einem nicht ganz zuverlässigen Faks erhaltene Enchiridion zum Schwarzen Horn ist in Irland wieder
aufgetaucht, s. u. Lauterwasser, 172–176 * (c) Geystliche gesangk Buchleyn (Johann Walter), Wittenberg 1524 (DKL 152418) Überschrift (a, b) Das Lied S. Johannes Hus gebessert * (c, Register) Johannis Ausgaben W III,10; WA 35, 435–437 (Nr. 11); WA.A 4, 168–170 (Nr. 6); HahnL 28 (Nr. 16) Strophenbau 8/4a- 8/4a- 7/4b 8/4b vgl. Frank 4.51 Abweichungen (a, b, c) 1,2 zorn Gottis (nur in b); nach 2: 3. Wer sich wil zu dem tisch machen; nach 4: 6. Solch groß gnad und barmhertzigkayt; 6,2 dürfft denn ich für dich Verbindung TM (a) o. N.; (b, c) wie EG * Wittenberg 1533 (Z I,1577; DKL III/1.2, Ee8)
Melodie Incipit 1__5__5_4_5_1_3b__3b__3b_2_1__ Vorlage Cantio Jesus Christus nostra salus (Vyssí Brod [Hohenfurt], Ms. 42; AHMA s. o. Text/Vorlage; Bohn 1897) Quellen s. o. Text/Quelle a [auch in den Erfurter Enchiridien s. Text/Quelle b] Ausgaben Z I,1576 [nach den Erfurter Enchiridien]; DKL III/1.1 B14 Ambitus G: 8; Z: 5538 Abweichungen Tenor eines 2st. Satzes; Oktave tiefer; Z. 1: N. 3–4 punktierte Viertel
mit Achtel, N. 7 Halbton tiefer, N. 9–10 je Halbe; Z. 2: vor N. 1 halbe Pause, letzte N. Ganze; Z. 3 und 4: vor N. 1 halbe Pause; Z.4: N. 3 zwei Achtel c’’h’ Verbindung MT wie EG * Wohl dem, der in Gottes Furcht steht (1525; W III,8); Jesus Christus unser Heiland, den uns ([C. Querhamer?]; 1567; W V,1184); zahlreiche weitere Texte zu verschiedenen Liedfassungen (s. DKL III/1–4 B14A–L)
Literatur HEKG (Nr. 154) I/2, 262–265; III/1, 523.525–528; Sb, 241–243; HEG II, 86f.169.204–208 ** ThustB, 219f; ThustL I, 378–381 ** WA (1883ff) 35, 142– 146.435–437.500f.615.621; B (1886–1911) I, 712–714; EEKM (1888–1895) I, 663f; WA.A 4 (1985) 61.168–170; DKL III (1993– 2010)/1.1–III/4 B14–B14L, s. a. DKL III/1.2 Notenbd., 239 ** BOHN, Peter: Eine Trierer Liederhandschrift aus dem Ende des 15. bis Anfang des 16. Jahrhun-
derts, MfM 29 (1897) 37–43 * SPITTAL, 1905, 199–215 * MÜLLER, Christa: Luthers Tauflied, MGKK 40 (1935) 173–189 * NITSCHE, Herbert: „Jesus Christus, unser Heiland, der von uns den Gotteszorn wandt“, WüBll 26 (1959) 40f * HAHNEV 1981, bes. 221–229 * JENNYG 1983, 92–94 * ASPER, Ulrich: Aspekte zum Werden der deutschen Liedsätze in Johann Walters „Geistlichem Gesangbüchlein“ (1524– 1551), Baden-Baden 1985, 79f.104f.178f. *
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Kommentare zu den Liedern
HEITMEYER, Erika: Das Gesangbuch von Johann Leisentrit 1567, St. Ottilien 1988, 115f * MOESERITZ, Annekathrin: Die Weisen der Böhmischen Brüder von 1531. Eine stil- und quellenkritische Untersuchung [. . .], Bonn 1990 * BLANKENBURG, Walter: Johann Walter. Leben und Werk (aus dem Nachlass hg. v. Friedhelm Brusniak), Tutzing 1991 * MEDING 1998, bes. 123–125.
403–405 * WISSEMANN-GARBE, Daniela: Neue Weisen zu alten Liedern. Die Ersatzmelodien im Klugschen Gesangbuch von 1533, JLH 37 (1998) 118–138 (bes. 126f) * LAUTERWASSER, Helmut: Verschollen geglaubte Gesangbücher der Reformationszeit wiederentdeckt, JLH 53 (2014) 168– 182
Luthers Lied trägt in den frühen Veröffentlichungen die Überschrift Das Lied S[ancti] Johannis Hus gebessert. Die betreffende Cantio Jesus Christus nostra salus mit dem Akrostichon JOHANNES wird heute Johannes von Jenstein/ Jenzenstein (um 1348–1400) zugeschrieben.1 Für Luther und noch lange galt sie als ein Werk des frühen Reformators Hus, der 1415 auf dem Konzil von Konstanz verbrannt wurde. Luther stellt sein Abendmahlslied wie andere seiner Lieder in eine bejahte Tradition. Er will dennoch bessern. Die Richtung hat Spitta so bestimmt: „Das Lied von Hus ist eine Verherrlichung des Altarsakraments [. . .] Luthers Lied dagegen ist eine Anweisung zum würdigen Empfang des Abendmahls.“2 Darauf verweisen besonders die Strophen: orig. 3/ EKG 154,3 (zwischen EG Str. 2 u. 3) orig. 6/ EKG 154,6 (zwischen EG Str. 4 u. 5) Wer sich will zu dem Tisch machen
Solch groß Gnad und Barmherzigkeit
der hab wohl acht auf sein Sachen;
sucht ein Herz in großer Arbeit;
wer unwürdig hinzugeht [hie zu geht]
ist dir wohl, so bleib davon,
für das Leben den Tod empfäht.
daß du nicht kriegest bösen Lohn.
Beide Strophen, im EKG noch erhalten, wurden für das EG ausgeschieden (s. u.). Das Motiv „Anweisung zum würdigen Empfang“ schien in EG Str. 6,3.4 und 7,3.4 hinreichend erhalten. EG Strophe 1: Luther hat die Melodie der Cantio samt der Strophenform übernommen, vom Text aber nur drei Verszeilen der 1. Strophe. Zum einen die Kopfzeile und damit das Erkennungssignal Jesus Christus nostra salus, sie wird zu Jesus Christus, unser Heiland. Dann aber bleibt die übrige Strophe Luthers bei dem, was Heiland bedeutet, und entfaltet es mit der theologischen Systematik, auf die Luther trotz des engen Raums einer Liedstrophe auch hier nicht verzichtet. Der Heiland bringt zum einen Versöhnung mit Gott. Dass die Rede vom Gotteszorn nicht eine emotionale Reaktion meint, sondern markiert, dass vor und gegenüber der höchsten Instanz Unrecht geschehen ist, muss immer wieder betont werden. Versöhnung also (1,2), aber auch Erlösung (1,3.4) aus der Höllenpein des Getrenntseins von Gott. Was es kostete, ist genannt: bitteres Leiden, das den 1 Bischof von Meißen, Erzbischof von Prag, Patriarch von Alexandria, Kanzler König Wenzels IV., geistlicher Schriftsteller, vgl. Neue deutsche Biographie, Bd. 10 (1974) 410f; Text AHMA I, 31f, XLVb, 105; auch WA 35, 142f; SpittaL, 201f; HahnL, 76. 2 SpittaL, 202.
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Kreuzestod einschließt; das „für uns“ ist betont (von uns wandt; half uns). Was für den „würdigen Empfang“ des Sakraments glaubend zu verstehen und anzunehmen ist, beginnt bei der Heilstat Christi, die das Sakrament und seine Wirksamkeit erst begründet. Luthers Darstellung in ihrer Ausführlichkeit und Genauigkeit ist nicht nur der Neudeutung des Sakraments im reformatorischen Umbruch und der Unterstützung des geforderten Umdenkens geschuldet. Sie nimmt, wie die zentralen Einsetzungsworte 1. Korinther 11,23–26, bereits an der Rolle des verkündigten Wortes teil, in das „gefasst“ die Zeichen von Brot und Wein überhaupt erst ihre sakramentale Wirkung entfalten.3 Erst EG Strophe 2 nimmt das Abendmahl selbst in den Blick und dabei zwei weitere Verse der Cantio: nobis in sui memoriam / dedit in panis hostiam (Str. 1,3.4). Hier war Luthers Lehre von der Realpräsenz Christi einzutragen. Christus ist im Abendmahl real gegenwärtig, gibt sich mit Leib und Blut, verborgen in Brot und Wein. Hier war der Brot-Gabe die Kelch-Gabe anzufügen und der Akt des Essens und Trinkens zu benennen, in dem das Sakrament wirksam wird. „Also ists nicht genug, daß das Sakrament gemacht werde (das ist opus operatum), es muß auch braucht werden im Glauben (das ist opus operantis).“4 Auch soll das Gedenken nicht nur die Person Christi betreffen (sui memoriam), sondern, über die Cantio und 1. Korinther 11,25 hinaus, sein Heilswerk „für uns“ insgesamt (nimmer des vergessen), wie es die 1. Strophe ausgefaltet hatte. EG Strophe 3 hat, wie die übersprungene Strophe orig./ EKG 3 und wie auch die nächste Strophe, nun ausdrücklichen und eindringlichen Anweisungscharakter: Du sollst . . . Wer den Zusammenhang von Heilsgeschehen und Sakrament (Str. 1.2) glaubend verstanden hat, für den ist Preis geboten, in den sicher der eucharistische Dank eingeschlossen gedacht ist. Luther gibt hier dem Vater seinen Platz, sowohl im sakramentalen Akt (daß er dich so wohl wollt speisen) wie im begründenden Heilsgeschehen (der Vater hat in den Tod sein’ Sohn gegeben), und zwar ganz ausdrücklich für deine Missetat. EG Strophe 4: Zur würdigen, wohlgeschickten Antwort des Preises tritt die des Glaubens, des festen Vertrauens auf Zusagen,5 die Luther im Gang des Liedes aus zwei Sendungsworten Jesu entwickelt. Beide Stellen beziehen sich im biblischen Kontext nicht auf das Abendmahl. Luther aber hat das Mahl so tief im Heilsgeschehen verankert (Str. 1,3; 4,4), dass er diese Stellen für den Abendmahlsgang ‚aktualisieren‘6 und paraphrasierend dem Versgefüge einordnen kann. In EG Strophe 4 ist es Matthäus 9,12f: Jesus ist nicht gekommen für die Starken, sondern als Arzt der Kranken; er ruft die Sünder, nicht die 3 „. . . das Sakrament ist Brot und Wein, aber nicht schlecht Brot und Wein, so man sonst zu Tisch trägt, sondern Brot und Wein, in Gottes Wort gefasset und daran gebunden“, so später konzentriert im Großen Katechismus (BSLK 101986, 709). 4 Sermon von dem hochwürdigen Sakrament, 1519, WA 2, 751. 5 Pointiert im Kleinen Katechismus zum Abendmahl (BSLK, 521): „aber der ist recht wirdig und wohl geschickt, wer den Glauben hat an diese Wort: ‚Fur Euch gegeben‘ und ‚vergossen zur Vergebung der Sunden‘“. 6 Parallelen dazu aus Luthers Schriften dieser Zeit bei SpittaL, 207.210.
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Kommentare zu den Liedern
Gerechten. In der anschließenden Strophe 6 (orig./ EKG) ist auf den „Heilandsruf“ Matthäus 11,28 angespielt: Er sucht ein Herz in großer Arbeit. Das Reimwort Arbeit gibt im Mittelhochdeutschen und noch in der Lutherzeit, anders als im heutigen Sprachgebrauch, genau das biblische mühselig und beladen wieder. EG Strophe 5: Das „Wort“ hat seine Rolle nicht nur, belehrend und mahnend, in der Vorbereitung auf das Sakrament, sondern ist, verkündet und geglaubt, wesentlicher Bestandteil des sakramentalen Geschehens selbst und seiner Wirksamkeit. Dieser Rolle hat Luther darstellerisch ihren Rang gegeben, indem er Jesus selbst das Wort ergreifen lässt: Er spricht selber . . . Noch einmal werden die beiden Matthäus-Stellen paraphrasierend zitiert, jetzt mit der höchsten Autorität in Auslegung und Zuspruch: Kommt, ihr Armen [. . .] kein Arzt ist dem Starken not. An einem, der sich selbst für stark hält, verpufft ärztliche Kunst, ist sie vergebens, so ist der drastisch zugespitzte Vers 4 wohl zu verstehen. Das Paradoxon der „Würdigkeit des Unwürdigen“, hier des Armen, Kranken, bzw. der „Unwürdigkeit des Würdigen“, hier des vermeintlich Starken, auf das es Luther in seinem Lied ankam, hat auch in dieser Strophe starken darstellerischen Ausdruck gefunden nach Raum und Formulierung. Solch groß Gnad und Barmherzigkeit, das Grundmotiv des Handelns Gottes gemäß der ausgefallenen Strophe orig./ EKG 6, ist in EG Str. 5 bewahrt als lasst mich über euch erbarmen. In EG Strophe 6 hat Luther, wie auch in anderen Liedern (z. B. EG 341,3), es nicht unterlassen, zur stärkeren reformatorischen Konturierung und theologischen Systematisierung Werkgerechtigkeit (hättst dir was ’konnt erwerben) und die Möglichkeit der Selbsthilfe (so du dir selber helfen willt) abzuweisen. EG Strophe 7 fasst konzentriert zusammen (vgl. Str. 4,1), was zu einem wohlgeschickten, erquickenden, das heißt Leben spendenden, ins Leben führenden Empfang des Abendmahls unabdingbar gehört und zugleich Gottes Gnade und Erbarmen in Heilsgeschehen und Sakramentsstiftung entspricht: Glaubst du das von Herzensgrunde . . . Auch dafür ist biblische Autorität bemüht, vielleicht sogar als Rede Christi, wenn man diese nicht mit EG Str. 6, sondern mit EG Str. 8 enden lässt, was die Zeichensetzung der Frühdrucke durchaus zulässt. Paraphrasiert wird die Stelle Römer 10,9, die den Glauben unauflöslich mit dem Bekennen (und bekennest) paart. Der Gang zum Abendmahl ist bereits ein solches Bekenntnis. EG Strophe 8 ist die Schlussstrophe, die wie so oft die applicatio, die „Anwendung“ ins Leben hinein enthält. Würdiger Sakramentsempfang kann und soll Frucht bringen. Luther fasst sie im hohen Gebot der Nächstenliebe zusammen. In ihr kommt dem Nächsten zugute, wie dein Gott hat an dir getan. – Gotteslob (Str. 3), Glaube (Str. 4.7), jetzt noch Liebe (Str. 8) begleiten den Weg zum und vom Sakrament, in dem Gnade und Erbarmen (orig./EKG Str. 6,1; EG Str. 5,2) erfahren und empfangen werden. Nach dem Gottesdienstentwurf der „Formula Missae et Communionis“ Luthers von 1523 sollen die Bewerber für das Abendmahl darüber befragt werden, „ob sie verstehen, was das Sakrament sei, was es nütze und wozu sie es brauchen
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[. . .] daß sie darum zum Tisch des Herrn gehen, daß sie der Sünden halben mit beschwertem Gewissen oder Todesfurcht [. . .] hungern und dürsten nach dem Wort der Gnade und Seligkeit [. . .] daß sie getröstet und gestärkt werden [. . .]“7 1524 verfasst Luther sein Jesus Christus, unser Heiland.8 Es erfüllt alle wesentlichen Anforderungen dafür, dass 1525 in Luthers „Deutscher Messe“9 und dann in der Kirchenordnung von 153310 vorgesehen werden kann, dass dieses Lied bei der Austeilung gesungen wird – wechselnd oder zusammen mit Luthers Deutschem Sanctus Jesaia, dem Propheten, das geschah11 und seinem anderen Abendmahlslied Gott sei gelobet und gebenedeiet (EG 214). Als ab 1529 im Wittenberger Gesangbuch Joseph Klugs innerhalb der Lieder Luthers eine Abteilung zum Katechismus eingerichtet wird,12 kann das Lied, zusammen mit EG 214, als gesungener Beitrag zum katechetischen Geschehen sogleich auch die wesentlichen Aspekte einer Abendmahl-Lehre vertreten. Ein klarer gedanklicher Aufbau mit Hilfe von Strophenaufteilung und Strophenabfolge fördert das Verständnis; der schlichte Vierzeiler stützt die Einprägung und Merkbarkeit. Woran also liegt es, wenn es heute wenig gebraucht wird? An den „derben volkstümlichen Wendungen“, wie beanstandet wurde?13 Tatsächlich ist das Lied nicht arm an Formulierungen, die den Leuten vom „Maul abgeschaut“ scheinen. Sie finden sich konzentriert in den aussortierten originalen Strophen 3 und 6: Sich zu dem Tisch machen; acht haben auf sein Sachen; ist dir wohl, so bleib davon; kriegst bösen Lohn. Aber auch sonst: sein Kunst wird ein Spott (EG Str. 5,4). Oder die populär rhetorische Frage: Hättst du [. . .] was braucht ich (EG Str. 6,1.2). Aber so wollte Luther ja auch die Bibel übersetzen.14 Nicht in eine „derbe“ Unterschichtensprache allerdings, sondern möglichst in eine Sprache, die in bestimmten Lebenssituationen tatsächlich gesprochen wird: um die biblische Botschaft darin zu verankern und lebenswirksam zu machen. Luther wollte in seinem Lied das Sakrament aus dem hochgelobten Mysterium der Vorlage in ein Element geistlichen Lebensvollzugs ‚übersetzen‘, in ein sich zum 7 WA 12, 15; HahnEv, 223, Anm. 183; Übersetzung der Münchner-Lutherausgabe, Bd. 3: Liturgische Schriften, 21950, 20f. 8 Parallelen aus Luthers Predigten der Zeit bei WA 35, 145f; HEKG III/1, 527. 9 Deutsche Messe und Ordnung Gottesdiensts, WA 19, 44–113. 10 Emil Sehling (Hg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, Bd. 1, 1902 (Nachdr. Aalen 1970), 700ff. 11 WA 35, 455, Nr. 25; WA.A, 243, Nr. 26; HahnL, 39, Nr. 25. 12 Christhard Mahrenholz, Auswahl und Einordnung der Katechismuslieder in den Wittenberger Gesangbüchern seit 1529, in: Gestalt und Glaube, FS O. Söhngen, Witten/Berlin 1960, 123–132; Wichmann von Meding, Luthers Katechismuslieder, Kerygma und Dogma 40 (1994) 250–271; Gerhard Hahn, Die Vermittlung christlicher Lehre in den ‚Katechismusliedern‘ Martin Luthers, in: Mediävistische Komparatistik, FS Franz Josef Worstbrock, hg. v. Wolfgang Harms u. a., Stuttgart/Leipzig 1997, 315–323. 13 Ernst Achelis, Die Entstehungszeit von Luthers geistlichen Liedern, Marburger Universitätsprogramm 1883, 15. 14 Konzentriert und differenziert dargelegt v. a. im „Sendbrief vom Dolmetschen“, 1530, WA 30,2, 632–646.
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Tisch machen, in dem es erst wirksam wird. Ist es letztlich die damalige Notwendigkeit und Angemessenheit, so über das Abendmahl „zu singen und zu sagen“, auch in der ganzen argumentierenden Ausführlichkeit, was uns das Lied heute befremdlich erscheinen lässt und historische Erklärung notwendig macht? Eine Fremdheit, die durch das Aussortieren zweier Strophen nicht pragmatischeinfach beseitigt ist? Zur Kürzung mag auch beigetragen haben, dass die ‚Einladung‘ gerade der Unwürdigen zum Sakrament umso deutlicher und dringlicher wird, je mehr die ‚Warnung‘ an die scheinbar Würdigen zurücktritt, die in den ausgeschiedenen Strophen im Anschluss an 1. Korinther 11,29 so drastisch formuliert ist. Muss, schließlich, heute als Verengung angesehen werden, dass Luther so dezidiert auf eine Würdigkeit abzielt, für die der Einzelne (du) in seinem Gewissen im Rahmen der Rechtfertigungslehre einzustehen hat, während 1. Korinther 11 das Abendmahl in den größeren Rahmen des gemeindlich-sozialen Lebens stellt? GERHARD HAHN Wie der Text geht auch die Melodie auf die Cantio Jesus Christus nostra salus zurück. Sie hat in ihren Verbreitungen als deutsches Kirchenlied zahlreiche unterschiedliche Varianten ausgebildet. Oft ist das ein Indiz dafür, dass eine Melodie schon vor ihrem Abdruck in den Gesangbüchern der Reformation über einen längeren Zeitraum hinweg mündlich tradiert wurde. Es gibt Hinweise darauf, dass die heutige Melodie aus einer Form früher Mehrstimmigkeit entstanden ist, möglicherweise unter Verwendung sowohl von Teilen der ursprünglichen Sopran- wie auch der Tenorstimme. Auch die älteste erhaltene Wiedergabe des Liedes in einem deutschen Kirchenlieddruck, einem Augsburger Liedblatt von 1524, erfolgte als zweistimmiger Sopran-Tenor-Satz. Vor diesem Hintergrund erscheint es zunächst schwierig, eine ideale, von Luther ‚gemeinte‘ Fassung zu finden, und doch gibt es eine solche. Und so wie man weiß, dass Luther bei seinen Psalmenübersetzungen jedes Wort genau abwägte, scheint auch hier jeder Ton genau an seinem bestimmten Platz zu stehen. Und hier wie dort lassen sich unterschiedliche Fassungen zeitlich festmachen. Umso bedauerlicher ist, dass das EG wie zuvor schon das EKG an zentraler Stelle eine „verderbte“, konstruierte Fassung bringt: Gleich in der ersten Zeile müsste das Wort unser zwei Viertelnoten bekommen, die erste Silbe von Heiland dagegen zwei Halbe. Tatsache ist, dass in den zahlreichen unterschiedlichen Verbreitungen in den Gesangbüchern des 16. Jh. kein einziges die erste Melodiezeile so wiedergibt wie das EG heute, in keiner einzigen Version stehen bei unser Halbenoten. Und wenn in etlichen Drucken die erste Silbe von Heiland wie im EG als Viertelnoten gesetzt sind, so mag das damit zu tun haben, dass das Wissen um die ursprüngliche Notationsweise dieses Notenpaares mehr und mehr verloren ging. Vermutlich wollten die Gesangbuchredaktionen im 20. Jh. die erste Zeile an die übrigen anpassen; in Wirklichkeit ist sie aber bewusst etwas ganz Besonderes. So steht es jedenfalls in den wichtigsten Gesangbüchern Martin Luthers,
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dem Klugschen, dem Babstschen und ebenso in den Leipziger Gesangbüchern des Valentin Schumann. Nur die Erfurter Enchiridien setzen am Ende der Eingangszeile noch, wie das Augsburger Liedblatt von 1524, fünf aufeinanderfolgende Halbe mit der Tonfolge e-f-f-e-d. Auch in einigen anderen Feinheiten weichen die beiden Druckfassungen von 1524 von den erwähnten späteren Gesangbüchern Luthers ab. Dass die beiden Frühdrucke nahezu vollständig übereinstimmen, deutet darauf hin, dass es möglicherweise einen Vorgängerdruck gab, der heute verschollen ist. Wie bei keinem anderen seiner Lieder können wir hier eine klar greifbare Frühfassung der Melodie15 von der vervollkommneten Spätfassung unterscheiden.
Man sieht in der Faksimile-Wiedergabe aus dem Klugschen Gesangbuch von 1533 (DKL WitK 153302, DKL III/1.1 ee4), dass das Wort Heiland, wie in fast allen mitteldeutschen Drucken der Melodie, im Notenbild überdies auch optisch – „Augenmusik“ – ganz besonders hervorgehoben ist, mit einem Notensymbol, das im Kirchenlieddruck nur äußerst selten vorkommt: Ein kleines Parallelogramm, die sogenannte „ligatura obliqua“,16 mit einem kleinen Abwärtsstrich an der linken Seite, in der Übertragung zwei Halbenoten mit Bindebogen. Somit bekommt die erste Zeile mit ihren Hervorhebungen (in der 15 Man vergleiche hierzu die in den hymnologischen Nachweisen genannten Editionen. 16 Vollständige Bezeichnung: ligatura obliqua cum (proprietate et) sine (perfectione). Von dem komplizierten Ligaturensystem der Weißen Mensuralnotation war im Kirchenlieddruck des 16. Jh. fast nur noch die sog. ligatura cum opposita proprietate (c. o. p.) übriggeblieben mit einem Aufwärtsstrich an der linken Seite (s. Abbildung), die als zwei gebundene Viertelnoten zu übertragen wäre. Wenn in etlichen Drucken des 16. Jh. bei „Heiland“ doch (in der Übertragung) zwei Viertelnoten stehen, so sehr wahrscheinlich deshalb, weil die Drucker nur noch die Ligatur c. o. p. kannten bzw. (bei Typendruck) nur noch dieses Symbol überhaupt zur Verfügung stand.
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Kommentare zu den Liedern
ersten Strophe) der Worte Christus und Heiland deutlich größeres Gewicht als die beiden nachfolgenden. Was die Melodie neben der Gestaltung der Eingangszeile vor allem auszeichnet, ist ihre formale Abrundung. Der Parallelismus der beiden Binnenzeilen erschließt sich ganz unmittelbar. Außerdem ist die zweite mit der letzten Zeile dadurch verbunden, dass die letzten sechs Töne übereinstimmen. Die Schlusszeile bildet durch ihren Einsatz auf der siebten Stufe und die Ausweitung des Ambitus zur Oktave gleichzeitig den Höhepunkt der ganzen Weise und ein Gegengewicht zur Eingangszeile. Alles in allem eine so kunstvolle Bearbeitung der mittelalterlichen Cantio, dass man sie auf eine Stufe stellen könnte mit der meisterhaften Weise Sie ist mir lieb, die werte Magd, nur dass hier das ganze Können „in nuce“ auf nur vier Melodiezeilen konzentriert ist. Wie dort kann man auch hier Luther selbst als Schöpfer der Melodie vermuten. Die Veränderungen am Ende der Eingangszeile gegenüber ihrem ersten Erscheinen in Augsburg und Erfurt (s. o.) geschah sicher nicht zufällig, sondern könnte als eine letzte, vollendete Fassung „aus erster Hand“ gelten. Die unterschiedlichen Fassungen der Melodie von ihrem ersten Erscheinen (spätestens) 1524 bis zu ihrer endgültigen Form (spätestens) 153317 sind ein Beleg dafür, dass Luther sich mit dem „Lied Johannes Hus gebessert“ und seiner Melodie wiederholt beschäftigte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Abdruck einer Alternativmelodie ebenfalls bei Joseph Klug, Wittenberg 1533, möglicherweise auch schon in der verschollenen Auflage von 1529. Diese zweite Melodie,18 die ebenfalls auf einen mittelalterlichen Gesang zurückgeht, hat darüber hinaus jedoch keinerlei Verbreitung gefunden. HELMUT LAUTERWASSER
17 Ob dieselbe Fassung auch schon in der verschollenen ersten Auflage des Klugschen Gesangbuchs von 1529 stand, lässt sich naturgemäß nicht sagen. 18 DKL III/1.2, Ee8; Z I,1577; WA.A 4, 168.
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Kommentare zu den Liedern
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Text Verfasser Johann Heermann Vorlage O DV Wechter Israel, ein Gebet wider die Türken, Verfasser unbekannt, abgedruckt in Türckenglocke (Friedrich Roth, Erfurt 1595), Das zwantzigste Gebett Quelle DEVOTI MUSICA CORDIS. Hauß= und Hertz=Musica. (Johann Heermann), Breslau 1630 (DKL 163005) Überschrift 35. Im Thon: Singen wir aus Hertzen grund Ausgaben FT I,351 * Johann Heermanns geistliche Lieder, hg. Philipp Wackernagel, Stuttgart 1856 Strophenbau 7/4a 7/4a 7/4b 7/4b 7/4c 7/4c 7/4c Frank 7.8 Abweichungen
1,3 weissest alles; nach 2: 3. Hoherpriester Jesu Christ; 4. Sitzt auch heut ins Vaters Reich; 5. Kläglich schreyen wir zur dir; 6. Zeig ihm deine Wunden roth; 3,7 und mit; nach 3: 8. Liebster Schatz, Immanuel_; nach 5: 11. Gürte dein Schwerdt an die Seit_; 7,2 Der der Schlangen hat zerknirscht_; 7,3 Ihren Kopff durch seinen Todt Verbindung TM in der Q ohne N, die in der Überschrift genannte Melodie (s. o.) entspricht der im EG * spätere Eigenweise: Z III,4827 (Dresden 1694)
Melodie s. Wunderbarer Gnadenthron (EG 38) Literatur HEKG (Nr. 210) I/2, 335–337; III/2, 89–92; Sb, 323; HEG II, 135–137 ** ThustB, 239f; ThustL I, 434–436 ** KLL (1878–1886) II, 280; EEKM (1888–1895) III, 647f; Nelle (31924/1962) 263f (Nr. 464); Bruppacher (1953) 382f; MöllerQ (2000) 140; Rößler (22001) 369f ** ALTHAUS, Paul: Zur Charakteristik der evangelischen Gebetsliteratur im Reformationsjahrhundert, Leipzig 1914, 2 * NITSCHE, Herbert: Treuer Wächter Israel’, WüBll 21 (1954) 90f * BÜCHNER, Arno:
Das Kirchenlied in Schlesien und der Oberlausitz, Düsseldorf 1971, 88.91f * SCHULZ, Frieder: Die Ordination als Gemeindegottesdienst, JLH 23 (1979) 4 * SAUER-GEPPERT 1984, 67f.130 * GRUBER, Sabine Claudia: Clemens Brentano und das geistliche Lied, Tübingen 2002, 131–133 * DIES.: Ein „schönes Beispiel von Gebetserhörung in der neuen Zeit“ – Die „Gottesmauer“ bei Brentano, Rückert, Fouqué und als geistliches Lied, JLH 44 (2005) 184–198
Treuer Wächter Israel’ ist das zweite der vier „Threnenlieder. Zur zeit der Verfolgung vnd Drangseligkeit frommer Christen“1. Die Lieder besingen eine besondere Not in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Es ist die Not der bedrängten lutherischen Kirche, ihrer Lehre und ihrer Gläubigen. Dem Text liegt ein sogenanntes „Türkengebet“2 zugrunde. Indirekt verweist unser Lied 1 FT I, S. 304. Zwei weitere dieser Lieder stehen im EG: Herr, unser Gott, lass nicht zuschanden werden (247) und O Jesu Christe, wahres Licht (72). 2 Paul Althaus hat 1914 erstmals diese Vorlage erwähnt, die er dem württembergischen Refor-
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damit auch auf die bis in das 18. Jh. verbreitete Furcht vor einer osmanischen Expansion. Nach dem Fall Konstantinopels 1453 und der Belagerung Wiens 1529 war die Zeit geprägt von Kriegen zwischen dem osmanischen Reich und christlichen Staaten. In Predigten, Liedern, Gebeten und mit Anweisungen, wie man sich im Kriegsfalle zu verhalten habe, suchte man den Ängsten zu begegnen. Bereits 1456 hatte Papst Calixtus III. verfügt, mittags die „Türkenglocke“ als Mahnung und Aufruf zum Gebet zu läuten. In diesen Zusammenhang ist auch das erwähnte „Türkengebet“ einzuordnen. Noch 1728 druckt es Michael Cubach in seinem Gebetbuch3 unter der Überschrift „Gebeth bey Läuten der Beth=Glocke wider den Türcken“ ab. Für sein Lied wählt Heermann eine siebenzeilige Strophe. Jeder Vers besteht aus vier Trochäen mit betonter Endung. Die im 16. und 17. Jh. verbreitete Form blieb fast ausschließlich der Kirchenlieddichtung vorbehalten und wurde in Verbindung mit der Weise des Tischliedes Singen wir aus Herzensgrund 4 nicht nur von Johann Heermann übernommen.5 Unter seinen bei FT edierten Dichtungen ist sie nur für Treuer Wächter Israel’ belegt. Strophenbau und Melodie erregten in der Kommentarliteratur Aufmerksamkeit. Wie „Stahl und Erz“ (Nelle, 263), „herb und männlich wie der Inhalt“ seien sie (Rößler, 168). Auch wer dem Gestus dieser Beschreibungen nicht folgen mag, wird bemerken, dass die gleichförmig gebildeten, betont beginnenden und endenden Verse „dem Sprachrhythmus markantes Profil“6 verleihen. Der Liedtext hält sich eng an den Wortlaut des an biblischen Bezügen reichen Gebets. Im Folgenden ist den einzelnen Strophen die jeweilige Passage der Vorlage in der Version der „Türckenglocke“ (Friedrich Roth, Erfurt 1595)7 vorangestellt. Soweit im Text nicht genannt, sind die Bibelstellennachweise ergänzt.
mator Johannes Brenz (1499–1570) zuschreibt. Eine Primärquelle gibt er nicht an. Gebetbücher des 17./18. Jh., die den Text enthalten, nennen Brenz als Autor. Frieder Schulz (1979) unterstützt diese Annahme mit dem Hinweis auf den Codex Suevo-Hallensis 92a–96a in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Diese Angabe hat sich nicht verifizieren lassen. Auch in Brenz’ gedruckten Werken zur Türkenfrage, soweit sie in digitalisierter Form zugänglich sind, lässt sich der Text nicht nachweisen. Möglicherweise geht die Zuschreibung auf „D.Johannis Brentij Zwey vnnd Zwantzig Predigten VOn dem Einfall Des Tuercken in Deutschland“ (Petrus Lemmelius, Leipzig 1595) zurück. Lemmelius übersetzte die ursprünglich in Latein abgefassten Predigten und fügte ihnen einen Gebetsanhang hinzu, URL: http://histbest.ub.uni-leipzig.de. Im selben Jahr wurde der Text in der „Türckenglocke“ abgedruckt, einem Gebetbuch von Friedrich Roth in Erfurt, wiederum ohne Verfasserangabe. Folgt man der Datierung der Vorworte, erschien das Gebet zuerst in der „Türckenglocke“ (18.1.1595), Lemmelius gibt den 6.2.1595 an. 3 Michael Cubach, „Einer gläubigen und andächtigen Seelen tägliches Bet- Buß- Lob- Und Danck-Opffer“, Leipzig 1728; URL: http://digital.staatsbibliothek-berlin.de. 4 EKG 373, W IV,785. 5 EG 38; zu Strophenform und Melodie siehe auch den Kommentar von Christa Reich: HEG III, H. 3, 7–11. 6 Reich, aaO., 8. 7 URL: http://www.digital-collections.de.
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O Du Wechter Israel, der du nicht schleffest noch schlummerst, Psalm 121. Wache auff, vnd siehe ahn mit gnaden das elendt deines Volcks, Herr hilff vns, wir verderben, Matt. 8. Du trewer Hoherpriester.
Treuer Wächter Israel’. Diese drei Worte mit dem inhaltlich starken Attribut an der Spitze drücken ein großes Vertrauen aus. Die Wiederholung der Anrede (1,5), nun in den Worten des „Türkengebets“, verstärkt diesen Eindruck. Die Not, die diese eindringliche Anrufung provoziert, wird in 1,3f als alles Leid deiner armen Christenheit beschrieben. Luther formulierte vergleichbar: beschirm dein arme Christenheit (EG 193,2)8. Aus dieser Perspektive wird der Eingangsvers verständlich. Als Treuer Wächter Israel’ wird Christus angesprochen, der die Kirche bzw. das Christentum (Israel_) beschützen möge. Dem Schlussvers liegt Psalm 42,6 nach der Lutherübersetzung von 1545 zugrunde: das er mir hilfft mit seinem Angesicht. Strophe 2 wird konkreter und lenkt den Blick auf die in der damaligen Kriegszeit jetzt und täglich erlebte Not, Qual und Trübsal (2,1ff). Welche eigentliche Sorge den Dichter umtreibt, ist inhaltlich wie formal die zentrale Aussage dieser Strophe: Hilf, ach hilf, schütz deine Lehr (2,4). Die Bitte um den Schutz der lutherischen Lehre bzw. des Glaubens wie des Luthertums (Christentum 1,4) beschränkt sich nicht auf die „Threnenlieder“, sie ist auch andern Orts zu finden: Man zeucht vns vnsre Kirchen ein/ Verjagt, die dein Wort lehren./ Man zwingt zum Abfall groß vnd klein/ Die deinen Namen ehren.9 Frühzeitig wurde in Vers 4 Lehr zu „Ehr“ verändert (z. B. in der „Praxis pietatis melica“, 1662). Im Zuge der Gesangbuchrestauration im 19. Jh. nahm man diese Änderung wieder zurück. Es folgen vier Strophen, die im EG ausgelassen sind.10 Sie seien hier kurz skizziert. In Anlehnung an Hebräer 9,11 wird Christus, der Hohepriester und Versöhner, besungen. Als Mittler (Röm 8,34) und Fürsprecher wird ihm die Bitte angetragen: Deines Vaters Zorn abwend,/ Der wie lauter Fewr jetzt brennt/ Vnd schier alle Welt durchrennt (Nah 1,6). Der Zorn Gottes auf die sündige Menschheit ist Ursache für den (Dreißigjährigen) Krieg bzw. die „Türkengefahr“ im Gebetstext: HERR Jesu Christ, sey jetzundert [sic!, jetzund] vnser Jesus, vnser Helffer vnd Erretter, vnser Felß vnd Hort, [Mt 1,21] vnser fewrige Maure, Psalm. 18. Zachariae 2. vmb deines hochtröstlichen Namens willen.
In Strophe 3 wird der Menschensohn Jesus angerufen, er möge als ein Jesus, als ein Retter, helfen, wie es sein Name sagt, und mit seiner starken Hand, mit seiner göttlichen Macht, da eingreifen, wo mit Menschenhilf nicht mehr zu 8 Auf Luthers Lied, dessen Anfangszeile ursprünglich Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort / und steur des Papsts und Türken Mord lautete, nimmt Heermann in den „Threnenliedern“ verschiedentlich Bezug. Dem dritten Lied Rett, o Herr Jesu, rett dein Ehr (FT I,352) ist dessen Melodie beigegeben. 9 Str. 2 des Liedes Wir wissen nicht Herr Zebaoth, Devoti musica cordis, Breslau 1630, 132, in FT nicht ediert, URL: http://digital.staatsbibliothek-berlin.de. 10 Im EKG (Nr. 210) standen noch 11 der 13 Strophen: 1–5.7–10.12–13.
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rechnen ist. Ähnlich schließt das in der Erstveröffentlichung und im EG vorhergehende Lied Herr, unser Gott, laß nicht zuschanden werden: Wir schrein in Jesu Namen: Hilf, Helfer! Amen (EG 247,4). Die Strophen 5 und 6 mit dem Bild von der Mauer (Sach 2,9) haben eine beachtliche Rezeptionsgeschichte erlebt.11 Sie werden 1816 in einem Zeitungsartikel über die wundersame Errettung vor feindlichen Truppen zitiert. Diese Begebenheit liegt Clemens Brentanos Gedicht „Drauß bei Schleswig vor der Pforte“ (1816/1832) zugrunde, in dem Eine Mauer um uns bau zum Kehrvers geworden ist.12 Auch Friedrich Rückert und später Friedrich de la Motte Fouqué wandten sich dem Stoff zu. Rückerts Gedicht, das ebenfalls den Titel „Die Gottesmauer“ trägt, wurde von Carl Loewe vertont. Insbesondere Brentanos Gedicht, mit einer Melodie versehen, verbreitete sich rasch und fand Eingang in verschiedene Liedersammlungen, darunter die kleine und die große „Missionsharfe“. Theodor Fontane lässt Effi Briest in seinem gleichnamigen Roman von einer alten Witwe erzählen, die zu Gott betet, „er möge doch ‚eine Mauer um sie bauen‘, um sie vor dem Landesfeinde zu schützen.“13 Warum die folgende Strophe, die Jesus vor dem Hintergrund von Matthäus 1,23 als Immanuel anredet und die Bedeutung des Namens entfaltet, in der EG-Fassung fehlt, erklärt sich womöglich aus dem unerwünschten Sprachgestus der Schlussverse Trutz dem, der vns thue ein Leid,/ Gottes Straff ist jhm bereit. Du starcker Arm deines Vatters, Laß jetzundt sehen deine grosse macht [Jes 51,9], auff daß alle Welt dich für jren HERREN erkennen vnnd alle Völcker jhre Knie vor dir biegen [Phil 2,10], stercke vnd regiere den streittenden Arm deiner gleubigen Christrittern, vn[d] hilff vns du vnüberwindlicher Siegesfürst, glücklich obsiegen.
Aus dieser Passage formt Heermann zwei Strophen seines Liedes, im EG Str. 4 und 5. Laß jetzt sehen deine Macht, . . . dass dich alle Welt erkenn,/ aller Herren Herren nenn (4,3.6f) folgt fast wörtlich dem Text der Vorlage und erinnert zugleich an Luthers Beweis dein Macht, Herr Jesu Christ,/ der du Herr aller Herren bist (EG 193,2). Die Strophe spricht von einem Machtbeweis, der Gewalt einschließt (aller Feinde Rotten trenn 4,5), Gewalt, die sich gegen Menschen richtet. Beeindruckt von diesem Machterweis, soll sich die ganze Welt zu Christus bekennen. HansGeorg Kemper deutet diese Strophe als eine „endliche Demonstration der Allmacht und Allgegenwärtigkeit des Erlösers“, auf welche die Lutheraner „setzten und pochten [. . .] Christus wird flehentlich angerufen, seines Königsamtes in konfessioneller Parteilichkeit zu walten und eben damit die Wahrheit der Lutherischen Kirche zu bezeugen.“14 Davon zeugt auch das ursprünglich nachfol-
11 Die folgenden Ausführungen basieren auf Sabine Grubers Aufsatz, JLH 44 (2005) 184–198. 12 Ohne den Zeitungsartikel zu erwähnen, verweist bereits Paul Althaus (1914, 2) auf diesen Umstand. 13 Gruber, aaO. 2005, 184. 14 Hans-Georg Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 2 Konfessionalismus, Tübingen 1987, 239f.
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gende Lied Heermanns REtt, O Herr Jesu, rett dein Ehr,/ Das Seuffzen deiner Kirchen hör,/ Der Feind Anschläg vnd Macht zerstör,/ Die jetzt verfolgen deine Lehr.15 Texte dieser Art geben große existentielle Not zu erkennen, als zeitgeschichtliches Dokument behalten sie ihre Gültigkeit. Nur, wie singt man eine solche Strophe heute? Im Unterschied zur Vorlage bittet Heermann in Str. 5 nicht darum, dass die „Christritter“ in ihrem Kampf gestärkt werden. Sich auf die eigene Kraft, auf ihr Glück und Ritterschaft (5,1f) zu verlassen, ist für ihn keine Option (vgl. EG 247,4). Christen vertrauen Christus, der ihr Helfer und Beistand ist (5,3–6). Es sind die zentralen Verse 3 und 4 dieser Strophe, die, als synonymer Parallelismus formuliert, das feste Vertrauen zum Ausdruck bringen, das auch die Eingangsworte des Liedes ausstrahlen. Die nächste Strophe der Originalfassung fehlte bereits in DEG und EKG. Sie beschreibt den erbetenen Beistand (5,6) und Machtbeweis (4,3) in drastischen Bildern: zerschmettre deine Feind (Jdt 9,9), Auff die Hälse tritt du jhn (Jos 10,24 nach Luther 1545). Du bist ja der HERR, der den Kriegen steuret in aller Welt, der Bogen zubricht, Spiesse zerschleget, vnnd Wagen mit Fewer verbrennet, Psal. 46. Du wahrer vnd einiger Friedefürst, Esaie.9. Der du mit deinem Leiden vnd Sterben den ewigen Frieden vns erworben hast, gönne vnd erhalte vns auch (wie biß anhero) den lieben Landesfrieden, vnd laß diese liebe Lender nicht zur ewigen Barbarischen Einöde werden. Amen.
Die letzten beiden Strophen der EG-Fassung sind auch die Schlussstrophen in der Originalfassung. Mit den Worten aus Psalm 46,10 beschreibt Strophe 6 den „Krieg gegen den Krieg“16. Im Psalm ist es JHWH, im Lied Christus, der zu diesem Zweck das Kriegsgerät zerstört, und gegenüber der Vorlage fügt Heermann hinzu: der den Sinn der zum Krieg neigenden Menschheit wandelt, dass der Krieg (ein für allemal) gewinnt ein End (6,7). Strophe 7 kontrastiert Strophe 6 und führt sie gedanklich fort. Auf die Kriegsmetaphorik folgt die Rede vom Friedefürst (7,1), wenngleich die Verse 2 und 3 ursprünglich lauteten: Der der Schlangen hat zerknirscht/ Ihren Kopff durch seinen Todt (1. Mose 3,15). Auch hier folgt Herrmann der Vorlage, die Jesus an anderer Stelle „du gebenedeyeter Schlangentreter“ nennt. In seiner Bibelübersetzung von 1545 merkt Luther zu 1. Mose 3,15 an, dass Christus Sünde, Tod und Hölle überwunden hat, damit hat er, wie es im Lied heißt, wiederbracht den Fried bei Gott (7,4). Für das EG hat man sich entschieden, auf dieses Bild zu verzichten. Die in der Vorlage ausführliche Bitte um den irdischen Frieden fasst Heermann in drei Versen zusammen und fügt in Anspielung auf Luthers deutsches „Da pacem“ (EG 421) hinzu: Gib uns Frieden gnädiglich! (7,5) Gewollt oder ungewollt entsteht so auch eine Parallele zur liturgischen Praxis der „Türkengebete“, in der vielfach auf den Gebetstext das „Da pacem“ folgte. 15 FT I,352. 16 HEKG III/2, 91.
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Kommentare zu den Liedern
„Die Verknüpfung von historischem und präsentischem Erlösungshandeln Christi spielte in den Kirchenliedern des 17. Jahrhunderts eine herausragende Rolle. Die Lutheraner beschworen die unmittelbare Gegenwart der omnipotenten Person Christi auf dem irdischen Feld, damit er selbst erneut für sie ‚kämpfte‘ und den Zorn des Vaters hier und jetzt besänftigte.“17 Treuer Wächter Israel’ ist von dieser Sichtweise geprägt und durchdrungen. Es ist ein sprachmächtiges Lied, das die einst erlebte „Drangseligkeit“ ebenso wie ein großes Gottvertrauen noch heute erkennen lässt. Der stark gekürzten EG-Fassung ist der Wunsch anzumerken, dieses in Sprache und Aussage seiner Zeit verhaftete Lied für die Gegenwart zu erhalten. Die Gewalt beschreibenden Bilder sind weitgehend entfernt. Die Vorstellung, der schrecklich erlebte Krieg sei eine Strafe Gottes, Ausdruck seines Zorns über die sündige Menschheit, ist beseitigt. Die zeitliche Distanz erlaubt es, die arme Christenheit (1,3) nicht mehr nur als das bedrängte Luthertum zu sehen. Die am Schluss entfaltete Friedensvision und der Menschen Herzen wend,/ dass der Krieg gewinnt ein End (6,6f), hat nichts von ihrer ursprünglichen Kraft verloren. Und trotzdem wird es nicht leicht sein, das Lied heute zu singen. Wollen wir Israel durch Christenheit bzw. Kirche ersetzen? Ist das Denken in FreundFeind-Kategorien noch zeitgemäß? Sorgen wir uns noch in derart exklusiver Weise um den Erhalt des lutherischen Bekenntnisses? Die Änderung in der „Praxis pietatis melica“ (1662) in 2,4 „Ehr“ statt Lehr zu singen, hatte dem Vers die Zuspitzung genommen. Wie das EKG, dort stand Treuer Wächter Israel’ im Abschnitt „Kirche“, nimmt auch das EG mit seiner Einordnung in die Rubrik „Sammlung und Sendung“ den ekklesiologischen Aspekt des Liedes in den Blick. Johann Crüger hebt einen anderen Gesichtspunkt hervor. In der „Praxis pietatis melica“ (1653 u. ö.) stellt er das Lied unter die Überschrift „Vmb den lieben Frieden“. BARBARA LANGE
17 Kemper, aaO., 238.
255 O dass doch bald dein Feuer brennte
Kommentare zu den Liedern
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255 O dass doch bald dein Feuer brennte
EG 255
RG 816
255 O dass doch bald dein Feuer brennte
CG 824
Text Verfasser George1 Friedrich Fickert Quelle Christliches Wochenblatt für gesammelte und zerstreute Kinder Gottes und alle, die den Herrn von ganzem Herzen suchen (hg. George Friedrich Fickert), Reichenbach (Schlesien), Jg. 7 (1812) 224f Überschrift Ich bin gekommen ein Feuer anzuzünden auf Erden; was wollte ich lieber, denn es brennete schon (Luk. 12,49) Ausgabe Höck 1922, 17f Besonderes Quelle ist bei Höck dokumentiert und wiedergegeben Strophenbau A9/4a- A8/4b A9/4a- A8/4b vgl. Frank 4.67 Abweichungen 1,3 Es bald; 2,1 Zwar
brannt; 2,3 Dir, dem aus Lieb; 4,1 verzehren Stolz; 4,2 schmelzen ab; 4,3 und mehren; 4,4 die nur den großen Einen küsst; 9,2 Jubelharmonie; 9,3–4 Dann strahlt Dein Ruhm in allen Zonen, Und aller Wesen Seelen glühn * RG: 4,4 nur lodert, Jesu; 6,4 Entzünde unsre Herzen; Str. 9 fehlt * CG: ohne Strn. 2–3, 7, 9; 4,4 und 6,4 wie RG Verbindung TM in der Q ohne M * eigene Melodie: Z I,778 (Schicht 1819) * wie EG: Melodieangabe in: Zionsharfe (F.–W. Krummacher) 1827; Text-Melodie-Verbindung in: Elberfelder Gesangbuch 1834
Melodie Incipit 1_123_34_43_2_ Verfasser Guillaume Franc Entstehung Zehn-GeboteLied; wahrscheinlich schon in der verlorenen Ausgabe Genf 1543 Quelle [LA FORME des PRIERES, Straßburg 1545] * PSEAVLMES CINQVANTE, DE DAVID ROY ET PROPHETE, Traduictz en uers francois par Clement Marot & mis en Musique par LOYS BOVRGEOYS [. . .], Lyon 1547 Ausgaben Z I,750; DKL III/2,B81A; Pidoux I,201c Besonderes geht auf die gleiche Melodie zurück wie EG 366 (Wenn wir in höchsten Nöten sein) Ambitus G: 8; Z: 45b84 Abweichungen Q: 4st. Satz; Quinte tiefer; keine Pausen zwischen den Melodiezeilen, dafür letzter Ton jeder Melodiezeile jeweils Ganze * RG: 4st. Satz (nach Claude Goudimel 1564/65); Taktvorzeichnung C * CG: Taktvorzeichnung C * EM: 4st. Satz (nach Claude Goudimel 1564/65); ohne Pausen nach den Melodiezeilen 1 und 3
Verbindung MT Q: Leve le cueur, ouvre l’aureille * deutsche Texte bis 1610: Erheb dein Herz, öffne’s Gehöre (Zehn-GeboteLied; P. Melissus Schede, DKL 157204); Erheb dein Hertz, tu auf dein Ohren (ZehnGebote-Lied; A. Lobwasser, DKL 157303) weitere Texte bis 1610 s. DKL III/2, Textbd., 96 und DKL III/Abschließender Kommentarbd., 126 * weitere Texte vor FickertText: O Jesu, König, hoch zu Ehren (Telemann 1730) * Die Himmel rühmen Gottes Ehre (Becker 1771) * heute auch zu: Der Tag ist um, die Nacht kehrt wieder (EG 490) * Du Glanz aus Gottes Herrlichkeiten (RG 558) * Gott Vater, du hast deinen Namen (RG 179) * Nun sich das Herz von allem löste (EG 532/ RG 777/ EM 664) * Was uns die Erde Gutes spendet (GL2 186/ KG 103) * Wie lange willst du mein’ vergessen (RG 10/ EM 357)
1 „George“ war eine geläufige Namensform in Schlesien, sie ist durch das Taufregister von Striegau für den Dichter selbst ebenso wie für seinen Vater bestätigt (Eberlein, 12f).
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Kommentare zu den Liedern
Literatur HEKG (Nr. 219) I/2, 348f; III/2, 120–122; Sb, 340f; HEG II, 90f.92f ** ThustB, 243; ThustL I, 448–450 ** KLL (1878–1886) II, 137; EEKM (1888–1895) II, 461f; Nelle (31924/1962) Nr. 192; Schlunk (1951) 268; Bruppacher (1953) 369f; DKL III (1993–2010)/2, Textbd., 96 und DKL III/Abschließender Kommentarbd., 126; RößlerL (22001) 827 ** HÖCK, Johann Heinrich: O daß doch bald dein Feuer brennte, du unaussprechlich Liebender. Eine hymnologische Auffindung, Gütersloh 1922 * EBERLEIN, Hellmut: George Friedrich Fickert, Leben und Wirken eines
schlesischen Erweckungspredigers, Liegnitz 1933 * PRATT, Waldo Selden: The Music of the French Psalter of 1562. A Historical Survey and Analysis with the Music in Modern Notation, New York 1939, Nachdruck ebd. 1966, Nr. 140 * AESCHBACHER, Gerhard: Zur Frage der Zeilenendpausen im Genfer Psalter, JLH 29 (1985) 145–151 * RÖSSLER, Martin: Hier stehen wir von nah und fern – Basel, die Theologen aus Württemberg und das Missionslied zwischen 1815 und 1840, in: Martin Rößler, Geistliches Lied und kirchliches Gesangbuch, München 2006, 383–415
Noch vor der Gründung zahlreicher Missionsvereine und -gesellschaften Anfang des 19. Jh. in Süddeutschland und vor der regelmäßigen Veranstaltung der berühmten Basler Missionsfeste (ab 1821) veröffentlichte George Friedrich Fickert 1812 sein Missionslied O dass doch bald dein Feuer brennte. Er übernahm es in das von ihm selbst herausgegebene schlesische „Christliche Wochenblatt“, dessen betreffendes Exemplar allerdings heute in keiner europäischen Bibliothek mehr nachweisbar ist. Der Hamburger Stiftsprediger Johann Heinrich Höck hatte jedoch 1922 den Originaldruck aufgefunden, sorgfältig dokumentiert und veröffentlicht, so dass wir die Quelle aus zweiter Hand zugänglich haben. Das Lied erinnert in Strophe 1 an Karl Heinrich von Bogatzkys mehr als 60 Jahre zuvor entstandenes Lied Wach auf, du Geist der ersten Zeugen (EG 241), dessen Str. 2 mit den Worten beginnt: O dass dein Feuer bald entbrennte. Während v. Bogatzky das Bild vom brennenden Feuer im Verlauf seines Liedes nicht wieder aufnimmt, durchzieht der Gedanke des Feuers das gesamte Lied Fickerts und sämtliche Jahrgänge der „Christlichen Wochenblätter“.2 Im Anschluss an Lukas 12,49 wird in unserem Lied nicht weniger als zwölfmal von Feuer, Feuermeer und Flammen gesprochen. Die sollen erwärmen, [ent]zünden, glühen und abschmelzen. Es ist von Himmelsfunken und vom Leuchten der Flammen die Rede. Am Ende von Str. 9 heißt es in der Originalversion Dann strahlt dein Ruhm in allen Zonen / Und aller Wesen Seelen glühn. Deutlicher konnte der buchstäblich glühende Missionseifer des Dichters nicht zu Tage treten. Das geistliche Feuer führt ihn zum Ziel aller Mission, zum Gewahrwerden, dass Christus König, Gott und Herr ist (1,4; Ps 5,2–3). Strophe 2 beginnt mit einer Erinnerung daran, dass die Mission bereits an vielen Stellen der Welt Früchte getragen hat (2,1: zwar brannt es schon). Dabei ist die Erwähnung der geographischen Ausbreitung in alle Himmelsrichtungen
2 „Durch alle Jahrgänge der Wochenblätter, gleich vom ersten Blatt an, zieht sich der Gedanke vom heiligen Pfingstfeuer“ (Eberlein, 64).
255 O dass doch bald dein Feuer brennte
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ein typischer Gedanke der Missionslieder und ein wichtiges Thema der Erweckungsfrömmigkeit. – Danach ist in Anlehnung an Offenbarung 5,12 von dem für uns erwürgten Lamme die Rede. In der Originalfassung Fickerts lesen wir sogar von dem aus Lieb erwürgten Lamme. Die Deutung des Todes Jesu als Sühnopfer mag im Rahmen der neutestamentlichen Traditionszusammenhänge ihren Platz gehabt haben. Aber das dahinter stehende Gottesbild, das eine Gewalttat wie das Erwürgen oder Schlachten eines Opfers zur Vorbedingung einer Versöhnung mit Gott macht, ist heute nicht mehr vermittelbar.3 – Die Vergebung aller Sünden und eine beglückende Versöhnung mit Gott ohne blutiges Opferritual bezeugt z. B. Psalm 103,2–5. Strophe 3: Das köstlich4 Pfingst- und Freudenfest (2,4) wird von der hellen Flamme (2,1) und den Himmelsfunken (3,1) gespeist. Sie sorgen dafür, dass Mission auch heute noch zündet und heilt. Der Enthusiasmus des Dichters erinnert an die Überschwänglichkeit des jungen Friedrich Schiller in seinem wenige Jahre zuvor neu herausgegebenen Gedicht „An die Freude“.5 Dort finden wir in den einzelnen Strophen und in den eingeschobenen Chören manche Parallelen zu Fickerts Lied. Bei Schiller sind die Menschen vor Freude „feuertrunken“,6 in unserem Lied sind sie freudetrunken (3,3). In Str. 4,4 wird im Original der große Eine geküsst, Schiller gibt „diesen Kuss der ganzen Welt“,7 und die Millionen (9,1) finden wir bei Schiller gleich mehrfach.8 Weitere Gemeinsamkeiten bei Str. 9. Strophe 4 wird im EG in der Fassung wiedergegeben, die bereits im EKG stand. Dabei wurde auch das seit dem Ev. Gesangbuch Elberfeld 1834 überlieferte Missverständnis übernommen, sie enthalte Imperative (verzehre, sondre ab, mehre). Gemeint ist aber: Die Himmelsfunken und ihr Feuer (3,1) verzehren Stolz und Eigenliebe / und schmelzen ab, was unrein ist/, und mehren jener Flamme Triebe,/ die nur den großen Einen küsst. Die erotische Sprache der Jesusmystik (4,4) mit dem Wort „küssen“ wurde offensichtlich als peinlich empfunden. Deshalb kam es zu vielfältigen Umdichtungen. Da heißt es z. B. die aus dem Quell des Lichtes fließt,/9 die nur auf dich gerichtet ist10 oder die dir nur glüht, Herr Jesu Christ.11 3 Vgl. hierzu den Grundlagentext der Kammer für Theologie der EKD „Für uns gestorben“, Gütersloh 2015. 4 In den „Auserlesenen christlichen Liedern“, hg. v. Johann Arnold Kanne, Erlangen 1818, Nr. 124 heißt es statt köstlich erstmals herrlich. Diese Änderung wurde danach allgemein übernommen. 5 Das Lied „An die Freude“ sang sich durch ganz Deutschland fort „wie eine um sich greifende Ekstase“, war „regelrecht Kult“ und wurde vielfach vertont. Bereits im Jahr 1800 erschien eine Sammlung von 14 Vertonungen des Liedes (Dieter Hildebrandt, Schiller, Beethoven und die Geschichte eines musikalischen Welterfolges, München 2005, 98). 6 „. . . wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligthum“ (Str. 1,3). 7 Chor 1,2. 8 „Seid umschlungen, Millionen“ (Chor 1,1), „Ihr stürzt nieder, Millionen“ (Chor 3,1) und „Duldet mutig, Millionen“ (Chor 5,1). 9 Gesangbuch Elberfeld 1834, Nr. 172. 10 EKG 219,4. 11 Ev. Gesangbuch der Provinz Brandenburg 1884, Nr. 233; Schlesisches Provinzialgesangbuch, Breslau 1910, Nr. 189; EG 255,4.
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Kommentare zu den Liedern
In Strophe 5 bittet der Dichter um Erweckung, Läuterung und Vereinigung des gesamten Christenvolkes. Für ihn gilt: „Die Einigkeit der Kinder Gottes ist ein Hauptzeichen dafür, ob die Erweckung echt ist und Frucht bringt“.12 Aber der Blick richtet sich nicht allein auf die Völkerstämme (8,3), die von der Äußeren Mission erreicht werden. Das herrlich Pfingst- und Freudenfest (2,4) lässt an die vielfältigen Missionsfeste für die Gemeinden in der Heimat denken und an des ganzen Christenvolkes Schar (5,2), weil Gottes Heil noch nicht jedem offenbar ist (5,4). In Strophe 6 erinnert der allmächtig starke Gotteshauch an das Brausen vom Himmel und den gewaltigen Wind, der die Pfingstgeschichte einleitet (Apg 2,2). Dass Feuer und Meer miteinander verbunden werden, ist ein Gedanke aus Offenbarung 15,2. Dort ist von einem gläsernen Meer mit Feuer gemengt die Rede. Nicht nur bei den Bewohnern der Missionsgebiete soll das Feuermeer strömen und in den Herzen zünden, sondern auch in der Heimat. Strophe 7 zeigt die Einheitssehnsucht verbunden mit dem Gedanken, dass die Gemeinde der Tempel ist (1. Kor 3,16), der ausgebaut und durch die pfingstlichen Flammen erleuchtet werden soll. Dazu helfen die Missionsfeste, bei denen dieses Lied gesungen wurde. Sie waren vor allem wichtige und hoch geschätzte Erweckungsveranstaltungen für die Gemeinden im Land. Für sie sind solche Lieder bestimmt, nicht in erster Linie für Gottesdienste oder für die Verwendung in den Missionsstationen.13 Strophe 8 fasst noch einmal die Kennworte für die Wirkung des Feuers (8,1) zusammen und redet durch das Wort Völkerstamm zum ersten Mal ausdrücklich von den Menschen in den Missionsgebieten, bei denen sich Jesus als Heiland, Friedefürst und Held zeigen soll (vgl. Jes 9,5). Strophe 9: Die eschatologischen Jubelharmonien14 der ganzen Menschheit vor dem Thron Gottes erinnern an die allumfassende Vergebung und Versöhnung, in die auch Schillers Gedicht einmündet.15 Bei Schiller ist es die Freude, die alle Menschen zu Brüdern macht16 und eine allumfassende Versöhnung stiftet. In unserem Lied geschieht die Versöhnung durch die Flammen des Heiligen Geistes. Bemerkenswert ist hier die emotionale und sprachliche Nähe der Sturmund-Drang-Begeisterung Schillers zu der glühenden Hingabe der durch den Heiligen Geist Erweckten. Das Gemeinsame ist vor allem die Abkehr vom trockenen Rationalismus der Aufklärungszeit. 12 Eberlein, 64. 13 „Das Missionslied, wie es hier dokumentiert wird, ist primär weder für die Arbeit auf dem Missionsfeld noch für die Kirche im sonntäglichen Gottesdienst gedacht; dort dringt es erst in sekundären Abläufen ein“ (Rößler 2006, 413). 14 Der Singular Jubelharmonie in der Fassung von 1812 ist vermutlich ein Druckfehler, da in Vers 1 bereits der Plural vorgegeben ist und der Singular „Harmonie“ den Reim stören würde. 15 „Bettler werden Fürstenbrüder,/ Wo dein sanfter Flügel weilt“ (Str. 1,6–8), „Groll und Rache sei vergessen,/ Unserm Todfeind sei verziehn“ (Str. 6,5–8); „Unser Schuldbuch sei vernichtet!/ Ausgesöhnt die ganze Welt!“ (Chor 6,1–2). 16 In der Neufassung des Schillerschen Gedichtes aus dem Jahr 1806 heißt es statt „Bettler werden Fürstenbrüder“: „Alle Menschen werden Brüder“.
255 O dass doch bald dein Feuer brennte
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Die letzte Strophe erhielt schon vor 1900 eine andere Fassung. Dabei wurde die glühende Begeisterung des Dichters domestiziert und umgewandelt in gewohnte Vorstellungen einer himmlischen Liturgie (Offb 5,6–14): Alle, die auf Erden wohnen,/ knien vor den Thron des Lammes hin. Ursprünglich endete die Strophe mit den hinreißenden Worten: Dann strahlt dein Ruhm in allen Zonen / Und aller Wesen Seelen glühn. Die Melodie aus dem Genfer Psalter ist die einzige, die sich für dieses Lied durchgesetzt hat. Die Pausen am Ende jeder Liedzeile haben vor allem Gliederungsfunktion. Sie zeigen an, dass die Zeilen durch eine Atempause voneinander getrennt werden sollen. Das Metrum endet mit der Zeile und beginnt mit der nächsten neu, so dass die Pause nicht unbedingt mensural-taktmäßige Bedeutung hat.17 Die Melodie gehört ursprünglich zu dem Zehn-Gebote-Lied von Clément Marot Leve le cueur, ouvre l’aureille. Sie stand wahrscheinlich schon im Genfer Psalter von 1543 und wurde später in geringfügig veränderter Form auch für das Lied Wenn wir in höchsten Nöten sein (EG 366) verwendet. Sie passt besonders gut zu dem Text unseres Liedes, weil sie ähnliche Betonungsverhältnisse wie die deutsche Sprache zeigt. Jeder Silbe ist ein Ton zugeordnet, und die Notierung kennt – abgesehen von der Schlussnote – nur zwei verschiedene Notenwerte, was kurzen und langen Silben entspricht. Somit korrespondiert die Melodie mit der in der deutschen Sprache sinnstiftenden Betonung, ohne den Text inhaltlich auszudeuten. WOLFGANG HERBST
17 Vgl. Aeschbacher 1985.
[21] 34 Kommentare zu den Liedern Kommentare zu den Liedern
256 Einer ist’s, an dem wir hangen 256 Einer ist’s, an dem wir ha ngen
EG 256
RG 799
Text Verfasser Albert Knapp Entstehung 1822 Quelle Magazin für die neuste Geschichte der evangelischen Missions- und Bibelgesellschaften. 9. Jg, Basel 1824, 635–637 (ohne Verfasserangabe) Überschrift Missions-Lied Ausgabe Evangelischer Liederschatz für Kirche und Haus (Albert Knapp), Stuttgart/Tübingen 1837, Bd. 1, Nr. 1160 (BSB digital1) – hier wird Knapp ausdrücklich als Verfasser genannt Strophenbau 8/4aA9/4a- A8/4b, 8/4a- A9/4a- A8/4b, A6/3d A6/3d 4/2x- A8/4e+e A8/4e Ab-
weichungen 3,5 Viel frohe Gäste einzuladen; 4,1 Schau auf deine Millionen; 4,10 Zeuch uns; nach 4: 5. Deine Liebe, deine Wunden; 5,8 Wächst endlich ohne Schein; 5,12 Der es mit Segen übergießt * RG: 3,5 Gäste einzuladen; nach 3: 4. Heiland, deine größten Dinge (Str. 4 Sieh auf deine Millionen fehlt); 5,7–8 Senfkorn unscheinbar / wächst endlich wunderbar Verbindung TM in der Q ohne M; Knapp 1837 (s. Ausgabe) Überschrift: Mel. Wachet auf, ruft uns die Stimme
Melodie s. Wachet auf, ruft uns die Stimme (EG 147) Literatur HEKG (Nr. 221) I/2, 349f; III/2, 123f; Sb, 342f; HEG II, 181f ** ThustB, 243f; ThustL I, 450–452 ** KLL (1878–1886) I, 153; NELLE (31924/11962) Nr. 198; Bruppacher (1953) 370f; RößlerL (22001) 831 ** NELLEG 1904/41962, 272 * HEINER, Wolfgang: Bekannte Lieder – wie sie entstanden, Neuhausen/Stuttgart 31985, 302f * SCHÖNBORN, Hans-Bernhard: Der Einfluß Albert Knapps auf das Gesangbuch der evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz seit 1853, JLH 29 (1985) 179–190 (bes. 180) * PARENT, Ulrich: Albert Knapps „Evangelischer Liederschatz“ von 1837, Frankfurt a. Main/ Bern/New York/Paris 1987, 12 * WÜ-
1 Unter: http://digital-collections.de.
STENBERG,
Ulrich: Das 19. Jahrhundert, in: MöllerQ 2000, 214–266 (bes. 243f) * MARTI, Andreas: Singen – Feiern – Glauben. Hymnologisches, Liturgisches und Theologisches zum Gesangbuch der Evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz, Basel 2001, 146 * SCHEFFBUCH, Beate und Winrich: Den Kummer sich vom Herzen singen. So entstanden bekannte Lieder I, Holzgerlingen 8 2003, 101f * RÖSSLER, Martin: Hier stehen wir von nah und fern. Basel, die Theologen aus Württemberg und das Missionslied zwischen 1815 und 1840, in: Ders., Geistliches Lied und kirchliches Gesangbuch, München 2006, 383–415
256 Einer ist’s, an dem wir hangen
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Das Lied entstand in der Zeit, als Knapp Vikar in verschiedenen Gemeinden nahe Stuttgart war. Es waren für ihn Jahre der Neuorientierung, der Hinwendung zu intensivem Glauben, Beten und Bibellesen nach Jahren der Depression und krampfhafter Erlösungssuche, die ihn manchmal in die Verzweiflung trieben. Er erlebte eine Bekehrung und Befreiung. Der gleichaltrige Freund und Kollege Ludwig Hofacker, den er später mit einer Biographie ehrte, wurde für ihn zum wichtigen Begleiter. Weit über 1000 Lieder hat Knapp gedichtet, von denen aber nur fünf Eingang ins EG gefunden haben. Weitere sieben Lieder finden wir in verschiedenen Regionalteilen des EG. Das Lied Einer ist’s, an dem wir hangen gehört zu einer Gruppe von Missionsliedern, die vor allem für die zahlreichen Missionsvereine und ihre Jahresfeste geschaffen wurden. Deswegen bedenkt es einerseits die geistliche Stärkung der Christen in der Heimat und andererseits die missionarische Arbeit in den fernen Missionsgebieten. Wir finden darin noch nicht das Verständnis von Mission, das von ökumenischer Partnerschaft und Dialogbereitschaft geprägt ist. Dennoch haben die Glaubensaussagen des Dichters eine persönliche Note und große Authentizität. Die 1. Strophe unseres Liedes beginnt mit einem Bekenntnis, das an Paul Gerhardts Ich hang und bleib auch hangen (EG 112,6) erinnert und anschließend in ein Gebet übergeht. Bis zum Schluss des Liedes bleibt es bei der Form des Gebetes. Der Anfang mit dem emphatischen Einer ist’s folgt dem Gedanken von Matthäus 23,8f: Einer ist euer Meister. Die Schlusszeile spielt auf den Aaronitischen Segen an, der das Angesicht Gottes leuchten lässt als Zeichen der Gnade (4. Mose 6,25). Trotz dieses Bekenntnisses klingt in dieser Strophe auch eine gewisse Unsicherheit an. Die Leiber und Herzen gehören zwar dem Mann der Schmerzen, aber er hat sie noch nicht zum Eigentum genommen, und es herrscht die Befürchtung, dass Gott sein segnendes Gnadenlicht verbergen könnte. Über Gottes Segen kann der Gläubige nicht verfügen, deswegen hält der Dichter dem Herrn vor, er selbst habe ja die Gnadenwahl getroffen, nicht die Menschen, die dafür zu schwach sind. Knapp beginnt Strophe 2 mit dem Gedanken an Johannes 15,16 (Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt) und übergibt damit die Verantwortung für das Gelingen der Nachfolge Christi an den Herrn selbst. Die Untüchtigkeit und Schwäche der Gläubigen, das Brechen des Eigensinns und die geistliche Armut werden zur Voraussetzung der Nachfolge gemacht. Nur wer in sich schwach ist, kann den Weg der Nachfolge gehen. Die Selbsterniedrigung geht hier bis an die Grenze des Erträglichen. Aber die Strophe endet mit einer Wiederherstellung der Ehre des Glaubenden, denn die Nachfolge Christi wird im Neuen Testament mehrfach als das Tragen seiner Schmach beschrieben (Apg 5,41). Dadurch werden die Gläubigen selbst zu einem Teil des Passionsgeschehens. Sie werden in das Leiden Jesu eingebunden, und das ist ihre Ehre und Würde. Das Gleichnis vom großen Festmahl wird zum Thema in Strophe 3. Die Einladung dazu soll durch die Erntearbeiter geschehen. Aber gerade an denen mangelt es (Mt 9,37f). Dieser Mangel betrifft nicht in erster Linie die Missio-
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Kommentare zu den Liedern
nare in fernen Ländern, denn für die Arbeit auf den Missionsfeldern hat Albert Knapp das Lied nicht geschrieben, sondern für die Gemeinden in der Heimat und für deren evangelistisch geprägte Missionsfeste. Auf diesem Erntefeld gibt es zu wenig Schnitter. Deswegen wird das Gebet sende treue Zeugen aus ins Persönliche gewendet: Send auch uns hinaus in Gnaden, damit wir die Armen zum großen Festmahl einladen (Lk 14,16–24). Der Dichter verbindet die Geschichte vom großen Mahl mit der Geschichte vom eschatologischen Hochzeitsmahl des Lammes und der damit verbundenen Seligpreisung (Offb 19,9). Deshalb hieß es in 3,7 ursprünglich (1822)2: Selig, den deine Wahl / beruft zum Abendmahl. Es dürfte der besseren Anpassung an die Melodie geschuldet sein, dass das Wort selig durch die Worte wohl dem ersetzt wird. Zugleich wirkt die Formulierung nüchterner und sachlicher. Allerdings entfällt dadurch der wörtliche Bezug zu Offenbarung 19,9. Das ist nicht die einzige Stelle, bei der er die mystische oder religiös überhöhte Ausdrucksweise vorsichtig zurücknimmt. So lautet Vers 1,6 in der Handschrift von 1822 An deinen Wunden ruht sichs gut. Für den Abdruck im Magazin 1824 ändert er den Vers: In deiner Liebe ruht sichs gut. Eine relativ moderne und weltläufige Wortwahl finden wir in Strophe 4. Da ist von Millionen und Jahrtausenden die Rede, beides Worte, die in der Bibel nicht vorkommen, die aber einen Bezug zur Weltmission haben und auf deren Länder und Zeiten umspannende Aufgabe hinweisen. Sie zeigen die Offenheit des Dichters gegenüber der Welt und sein Interesse an einer zeitgemäßen Sprache. Die Millionen, die seit Jahrtausenden im Todesschatten (Mt 4,15f) wohnen, weil sie von der Botschaft nicht erreicht worden sind, sollen den Morgenstern, der den Überwindern verheißen ist (Offb 22,16), in Gestalt des Evangeliums geschenkt bekommen. Erst im eschatologischen Komm, Herr Jesu (Offb 22,20) gelangt die Gemeinde und alle ihre Mission ans Ziel: die geöffneten Türen der Ewigkeit. – Str. 4 geht von dem Missionsverständnis des 19. Jh. aus, das noch nicht von Dialog und Partnerschaft geprägt ist, sondern die Menschen anderer Religionen grundsätzlich als im Todesschatten Wohnende versteht. Das mag der Grund dafür gewesen sein, dass diese Strophe 1998 nicht in das Gesangbuch der Evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz aufgenommen wurde. Vor der Schlussstrophe steht in der Handschrift von 1822 und im Erstdruck von 1824 eine zusätzliche Strophe, die in die meisten Gesangbücher nicht übernommen worden ist. Sie lautet: Deine Liebe, deine Wunden, Die uns ein ew’ges Heil erfunden, Dein treues Herz, das für uns fleht, Wollen wir den Seelen preisen3 Und auf dein Kreuz so lange weisen, 2 Eine handschriftliche Liedersammlung Knapps vom November 1822 befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach (Nr. 11630; „Missionslieder“, Nr. VIII) und wird hier zitiert mit „1822“. 3 Gemeint ist: „vor den Seelen [der noch nicht Bekehrten] preisen“.
256 Einer ist’s, an dem wir hangen
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Bis es durch ihre Herzen geht. Denn kräftig ist dein Wort: Es richtet und durchbohrt Geist und Seele; Dein Joch ist süß, Dein Geist gewiß, Und offen steht dein Paradies.
Hier wird der Vorgang des geduldigen Missionierens beschrieben als das ständige lobpreisende Wiederholen der Heilstaten Christi, und zwar so lange, bis es in Geist und Seele der Menschen wie ein Dolch eindringt4. Dieses Bild sowie manche sprachliche Ungeschicklichkeit mögen die Ursache für das Tilgen dieser Strophe gewesen sein. In Strophe 5 wird der Gedanke an die Armut (2,8) wieder aufgenommen und mit dem Gleichnis vom Senfkorn (Mt 13,31f) verbunden. Es ist arm und klein und wächst ohne großen Schein [unscheinbar] doch zum Baume heran. Dass Gott die Gläubigen mit seinen Augen leiten wird, ist ein Gedanke aus Psalm 32,8 (Ich will dich mit meinen Augen leiten). – Der ursprüngliche Schlussvers von Str. 5 (der es mit Segen übergießt) will sagen, dass das Senfkorn als zartes Pflänzchen vom Gärtner (Christus) gegossen wird, damit es wächst. Dieser Gedanke wird von Knapp selbst bereits 1822 handschriftlich geändert in: Dem es von Gott vertrauet ist.5 Damit verlässt der Dichter das Bild von dem die Pflanzen gießenden Gärtner zugunsten einer Formulierung, die in der Lutherbibel seiner Zeit mehrfach vorkommt: „vertrauen“ im Sinne von „anvertrauen“ (Gal 2,7 u. a.). Die Anlehnung an den biblischen Sprachgebrauch war ihm wichtiger als die konsequente Fortsetzung des Bildes vom Gärtner. Wo immer es möglich ist, bringt Knapp Bibelzitate, die fromme Bibelleser kennen, die er aber geschickt in eigene Worte fasst. Trotz der hohen Zahl eigener Lieddichtungen liegt Albert Knapps Bedeutung nicht in erster Linie im Dichten, sondern vor allem im Sammeln von Liedern. Sein „Evangelischer Liederschatz für Kirche und Haus“ aus dem Jahr 1837 enthält mehrere tausend Lieder „nach den Bedürfnissen unserer Zeit bearbeitet“6 und ist noch heute ein unentbehrliches Werk für die hymnologische Forschung. Dass er dabei mit den Vorlagen und Urtexten recht frei umgeht, zeigt seine poetische Fantasie,7 wurde ihm aber auch häufig übel genommen. Umso wichtiger ist, dass wir von ihm auch Lieder haben, die keine Bearbeitungen von Fremdvorlagen sind, sondern eigene Dichtungen.
4 1822: „Es schneidet und durchbohrt / Leib und Seele“. Diese aggressive Formulierung nimmt Knapp zurück und schreibt zwei Jahre später im Magazin (s. Quelle) „Es richtet und durchbohrt / Geist und Seele“ (vgl. Hebr 4,12). 5 In den beiden gleichlautenden Veröffentlichungen des Liedes durch das Magazin (1824 und 1825) findet sich allerdings noch die unkorrigierte Fassung. 6 Untertitel der Sammlung. 7 Man vergleiche Knapps Fassung von Wie schön leuchtet der Morgenstern in EG Wü 544,1+3 mit der Originalfassung Philipp Nicolais in EG 70 (Str. 1) und in RößlerL 2001, 324 (Str. 3).
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Kommentare zu den Liedern
Über die Wahl der Melodien, die der Dichter seinen Liedern zuweist, berichtet sein Enkel, Martin Knapp: „Die Lieder Knapps sind oft auf die Strophenform von bekannten Kirchenliedern gedichtet, um für die Gemeinde singbar zu sein. Die Strophenformen der beiden Nicolai-Lieder Wachet auf! Ruft uns die Stimme und Wie schön leuchtet der Morgenstern sind für Knapp ‚besondere Lieblingsmetren‘.“8 Deswegen wählt er auch die Melodie Wachet auf, ruft uns die Stimme (EG 147) für dieses Lied. WOLFGANG HERBST
8 Martin Knapp, Albert Knapp als Dichter und Schriftsteller, Tübingen 1912, 68.
257 Der du in Todesnächten
Kommentare zu den Liedern
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257 Der du in Todesnächten 257 Der du in Todesnächten
Text Verfasser Christian Gottlob Barth Quelle Magazin für die neueste Geschichte der evangelischen Missions- und Bibelgesellschaften. 12. Jg., Basel 1827, Heft 3, 518f (ohne Verfasserangabe) Überschrift Missionslied. Mel. Der du voll Blut und Wunden Ausgabe Christliche Gedichte von Chr. G. Barth, Stuttgart 1836 Strophenbau A7/3a- A6/3b, A7/3a- A6/3b, A7/3c- A6/3d A7/3cA6/3d Frank 8.7 ‚Hildebrandston‘ Abweichungen 3,8 ins vielbewegte Meer; nach 3: 4. Dann werden die Gebeine; 5. Da wird’s
dem Parsen helle; 6. Und dieses Feu’r verzehre; 7. Und wo im Todesschatten; 8. Fern an der Knechtschaft Strande; 9. Und hoch am starren Norden; 10. So ziehen Deine Flammen; 4,1 So sammle Verbindung TM in der Q ohne N, bei der in der Überschrift genannten Melodie handelt es sich vermutlich um Z III,5534 (Mel. von Anna Amalia v. Preußen, 1782 zu Christ, alles was dich kränket; in Basel 1809 zu: Der du voll Blut und Wunden)
Melodie s. Valet will ich dir geben (EG 523) Literatur HEKG (Nr. 222) I/2, 351; III/2, 125f; Sb, 343; HEG II, 31f ** ThustB, 244; ThustL I, 452f ** KLL (1878–1886) I, 102; Nelle (31924/1962) Nr. 200; Bruppacher (1953) 394f; RößlerL (22001) 831 ** NELLEG 1904/31924, 273 * GERBER, Hermann: Die Missionsuhr, Weg und Wahrheit 7 (1952/53) 421 * EISENHUTH, Heinz Erich: Gelobt sei deine Treue. Lieder der Kirche und ihre Dichter, Jena/Berlin 1953, 125–127 * RAUPP, Werner: Christian Gott-
lob Barth, Studien zu Leben und Werk, Stuttgart 1998 * SCHEFFBUCH, Beate und Winrich: Den Kummer sich vom Herzen singen. So entstanden bekannte Lieder I, Holzgerlingen 82003, 72f * RÖSSLER, Martin: Hier stehen wir von nah und fern. Basel, die Theologen aus Württemberg und das Missionslied zwischen 1815 und 1840, in: Ders., Geistliches Lied und kirchliches Gesangbuch, München 2006, 383–415
Das Lied wurde am 20. Juni 1827 auf dem Missionsfest in Basel erstmalig gesungen.1 Zuvor hatte es Christian Gottlob Barth beim Missionsinspektor Christian Gottlieb Blumhardt (1779–1838) als Festlied eingereicht. Im gleichen Jahr wurde der Text mit seinen elf Strophen im Magazin der Missionsgesellschaft anonym veröffentlicht. Barth war damals Pfarrer in Möttlingen, von wo aus er regen Anteil an den jährlichen Basler Missionsfesten nahm, die von der württembergischen Erweckungsbewegung geprägt waren. Dabei ging es nicht nur um die von Basel ausgehende Mission in fremden Ländern, 1 Quelle: Inhaltsverzeichnis S. 520: „Missionslieder, gesungen am Jahresfeste den 20. Juny 1827 . . . [S.] 518“.
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Kommentare zu den Liedern
sondern auch um die von weither angereisten Festteilnehmer selbst. Missionsfeste waren groß angelegte Evangelisations-Veranstaltungen. Sie wurden zu unverzichtbaren Bestandteilen der Gemeindearbeit. Das Lied zeigt, wie die Äußere Mission in den Missionsgesellschaften und auf deren Jahresfesten damals verstanden worden ist und wie eng sie mit den Gemeinden in Europa verbunden war. Das Lied beginnt in Strophe 1 mit einer Reihe von Christusprädikationen (der du . . .), mit denen sich die versammelte Gemeinde lobpreisend zu ihrem Herrn, dem Heiland der Welt, bekennt. Das Wort Todesnacht kommt in der Bibel nicht vor, wohl aber im Gesangbuch. Im Lied Ich steh an deiner Krippen hier heißt es Ich lag in tiefster Todesnacht (EG 37,3). Und in Jesus, meine Zuversicht singen wir: Was die lange Todesnacht / mir auch für Gedanken macht (EG 526,1). In beiden Fällen geht es aber nicht um das Leiden Jesu wie hier in unserem Lied. Der Plural Todesnächte könnte andeuten, dass Jesus so manche Nacht in Todesängsten verbracht hat (z. B. in Gethsemane), oder er könnte einfach nur dem Reim geschuldet sein. – Mit seinem Leiden hat Jesus als ein Gerechter das Heil der Welt erkämpft und damit wie ein Bürge (Hebr 7,22) die Verantwortung für die Schulden anderer übernommen. – Das Bezwingen des Feindes meint alle widergöttlichen Mächte und zuletzt den Tod (1. Kor 15,24–26). Durch deren Entmachtung ist der Himmel aufgetan, und die Zungen können das Halleluja anstimmen.2 Strophe 2 lenkt die Gedanken zu den Völkern der Welt, womit in christlicher Übernahme des alttestamentlichen Sprachgebrauchs die Heiden gemeint sind, die Menschen, zu denen das Evangelium noch nicht hat kommen können. Aus allen Himmelsrichtungen (Lk 13,29) strömen sie dann zu dem festlichen Mahl und werden als Gäste bei dem eschatologischen Hochzeitsfest (Mt 22,2) einst zu Füßen Christi sitzen. Str. 2 deutet verschiedene Zeitepochen an: Nach dem Sieg über den Feind ist nun alle Macht bei Gott. Dann folgt eine Zwischenperiode, die so lange währt, bis das endzeitliche Hochzeitsfest stattfindet. Der Gedanke eines besonderen Reichs am Ende der Welt- und Menschheitsgeschichte geht auf Offenbarung 20 zurück. In diesem „tausendjährigen“ Zeitabschnitt ist der Teufel gebunden, so dass die Zeit für die Ausbreitung des Evangeliums genutzt werden kann. Am Ende dieser Periode bricht das Gottesreich an. Diese chiliastische Theologie (von griech. cùlioi = 1000) war vor allem im württembergischen Pietismus in unterschiedlichen Ausprägungen weit verbreitet (Johann Albrecht Bengel, Friedrich Christoph Oetinger u. a.). Strophe 3: Der Dichter selbst war als entschiedener Chiliast von endzeitlicher Unruhe geprägt und lebte in der Naherwartung des Herrn. Dadurch bekommt die Strophe etwas Drängendes, indem es heißt: noch wird eingeladen. Der 2 Der Gedanke, dass der Feind bezwungen und der Himmel aufgetan wird, erinnert an die „Höllenfahrt Christi“ im apokryphen Nikodemusevangelium (Teil 3, Kap. XXI). Dort werden Satan und Tod bezwungen, die Tore der Hölle zerschlagen und alle Toten befreit. Der König der Herrlichkeit zieht ein, und alle dunklen Winkel des Hades werden hell. – Diese Szene hat erheblichen Einfluss auf die Ikonographie und Hymnodie gehabt.
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Gedanke lehnt sich an Johannes 9,4 an, wo Jesus spricht: Ich muss wirken [. . .] so lange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Die Ungeduld des einladenden Herrn finden wir auch im Gleichnis (Lk 14,21.23), wenn er seinem Knecht befiehlt, er solle schnell gehen und sie nötigen hereinzukommen, um das Haus zu füllen (3,4). Nicht nur die Eile, sondern auch die Mühsal bei der Verbreitung des Evangeliums wird angesprochen. Für sie ist kein Preis zu teuer (3,5). Schon dem Apostel Paulus war bei seiner Missionstätigkeit kaum eine Qual erspart geblieben (2. Kor 11,24–28). Im Erstdruck 1827 stand am Ende der Strophe: Hinauszustreu’n dein Feuer / ins vielbewegte Meer, also der schwere Weg einer mühevollen Seefahrt bei kräftigem Seegang. 1846 lesen wir erstmalig ins weite Völkermeer,3 die uferlose Unendlichkeit des Meeres und seine Weite. Nicht mehr die Mühe und Beschwernis der Missionsarbeit stehen im Vordergrund, sondern deren universeller Auftrag über den ganzen Erdkreis hinweg.4 Dass man Feuer ins Meer hinausstreuen kann, ist nicht nur eine poetische Ungeschicklichkeit des Dichters, sondern erinnert an Offenbarung 15,2–4, wo alle Völker am Ufer des gläsernen, mit Feuer vermengten Meeres lobsingen und anbeten. Strophe 4 spricht von der Völker Zahl. Der Plural Völker weist auf die Mission hin wie schon in Str. 2. Die Vielen, die selig werden sollen, sind nach Offenbarung 19,9 die zum Abendmahl des Lammes berufen sind. Für sie sollen die hohen Pforten aufgeschlossen werden, denn das heilige Jerusalem hatte eine hohe Mauer und zwölf Tore (Offb 21,12). Str. 4 und damit das ganze Lied endet mit dem Hinweis auf einen beliebten Kernsatz der Missionsfeste aus Lukas 12,49 Ich bin gekommen, dass ich ein Feuer anzünde auf Erden. Ursprünglich war das Lied mehr als doppelt so lang. Sechs Strophen wurden schon im 19. Jh. herausgekürzt. Dabei fällt auf, dass die zahlreichen Missionsliederbücher den Text in der Regel ungekürzt wiedergeben, dass jedoch die Kürzung auf vier oder fünf Strophen dort vorkommt, wo das Lied in den Jahren nach 1880 in offizielle Kirchengesangbücher übernommen wird.5 Die weggefallenen Strophen können uns zur Besinnung darauf führen, wie Mission damals verstanden worden ist und wie wir sie heute verstehen. Nach Str. 3 enthielt das Lied ursprünglich folgende Strophen: 4. Dann werden die Gebeine / Im Knochenfeld erweckt,/ Und von dem lichten Scheine / Ihr Leuchter angesteckt./ Die Strahlen überdunkeln / Des Halbmond’s Schimmerlicht,/ Der Minarette Funkeln / Entschwindet dem Gesicht. 3 Evangelisches Missionsgesangbuch, hg. zum Besten der Rheinischen Missionsgesellschaft, 1846, Nr. 64. 4 Eine Variante findet sich in: Evangelisches Gesangbuch. Nach Zustimmung der Provinzialsynode vom Jahr 1884 zur Einführung in der Provinz Brandenburg, Berlin 1905, Nr. 229 ins große Völkerheer. 5 Evangelisches Gesangbuch für Kirche, Schule und Haus, hg. v. der deutsch-reformierten Gemeinde in St. Petersburg, St. Petersburg 1880, Nr. 156; Gesangbuch für die evangelische Kirche im Großherzogtum Hessen, Darmstadt 1881, Nr. 173; Gesangbuch für die evangelisch-lutherische Landeskirche des Königreichs Sachsen, Leipzig-Dresden 1883, Nr. 20; Evangelisches Gesangbuch Provinz Brandenburg, Berlin 1905, Nr. 229.
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Kommentare zu den Liedern
5. Da wird’s dem Parsen helle,/ Wenn ihm dieß Feuer flammt,/ Das einer lichtern Quelle,/ Als seine Sonn, entstammt./ Auch Abrams Söhne tauchen / Auf aus der Blindheit Nacht,/ Weil hier nicht Berge rauchen,/ Weil hier kein Donner kracht. 6. „Und dieses Feu’r verzehre / Des Hindu stolz Gewand!/ Das Volk im stillen Meere / Werf’ Götzen in den Brand!/ Die finstre Macht der Mohren / Sie weiche diesem Licht!“/ So hat dein Mund geschworen,/ Und siehe! Es geschicht! 7. Und wo im Todesschatten / Der Satan König ist,/ Durch segensvolle Matten / Das Menschenblut ihm fließt;/ Da fällt die heil’ge Flamme / Dem Opf’rer in den Schoos;/ der Mörder wird zum Lamme,/ Das Opfer sein Genoß. 8. Fern an der Knechtschaft Strande / Erwacht ein Durst nach Licht,/ Und aus dem engen Bande / Manch tiefer Seufzer bricht./ Da fahren tausend Funken / In schwarzer Sklaven Herz:/ Wer von dem Licht getrunken, / Ist frey vom Todesschmerz. 9. Und hoch am starren Norden,/ Wo ew’ger Schnee noch ruht,/ Da ist es warm geworden / Durch dieses Feuers Gluth. / Die Herzen sind zerflossen;/ Das Eis ist aufgethaut;/ In knospenreichen Sprossen / Sich mild der Sommer baut. 10. So ziehen deine Flammen / Wie Sonnen um die Welt./ Getrenntes fließt zusammen;/ Das Dunkle wird erhellt./ Und wo dein Name schallet,/ Du König Jesus Christ!/ Ein selig Häuflein wallet / Dahin, wo Friede ist.
In den ausgeschiedenen Strophen begegnet uns ein Missionsverständnis, nach dem das Christentum das Licht ist, und alle anderen Religionen sind das Dunkel. Deswegen brauchen diese die Führung durch die im Licht Stehenden. Barth selbst formulierte: „Sie [die fremdreligiösen Völker] sind wie die Unmündigen, die in [religiöser und kultureller] Hinsicht einen Pfleger und Vormund haben müssen“.6 Mit wachsender Eigenständigkeit der Länder änderte sich auch die Einstellung zur Mission. Ihre Grundlagen wurden Partnerschaft und Begegnung auf gleicher Augenhöhe, das Voneinander-Lernen und der Respekt vor dem Glauben, dem Leben und der Kultur anderer. Deshalb schließt das Bezeugen des eigenen Glaubens das Ernstnehmen anderer Menschen, Religionen, Konfessionen und Kulturen ein. Schließlich lebt auch das Christentum von zahlreichen fremdreligiösen Wurzeln, die wir nicht verleugnen sollten und mit denen wir sorgsam umzugehen haben.7 Zweifellos war es ein Verdienst der Missionsbewegungen des 19. Jh., dass sie sich für die Beendigung des Sklavenhandels und für die sozialen Fragen einsetzten. Deshalb bringt Str. 8 die Not der schwarzen Sklaven zur Sprache. Vor allem die Basler Mission, deren Umfeld das Lied zuzurechnen ist, war in hohem Maße an der Beseitigung menschlichen Elends interessiert, und die Bekehrung der Heiden war nicht ihr oberstes Ziel.8 6 Calwer Missionsblatt 1 (1828), 1, zitiert nach Raupp, 45. – Noch deutlicher finden wir den Gedanken in einer Strophe von Carl August Döring (1783–1844): Noch irren viele Nationen,/ o Quell des Lichts, in Dunkelheit!/ Uns, die in deinem Licht wir wohnen,/ umzieht die Wolke sündger Zeit, in: Kern des deutschen Liederschatzes, Dinkelsbühl 1828, Nr. 131 (BSB digital). 7 Vgl. hierzu Christine Lienemann-Perrin: Mission und interreligiöser Dialog, Göttingen 1999; Hanns Walter Huppenbauer: Menschenliebe und Wiedergutmachung. Missionsmotive und Theologie in den Anfängen der Evangelischen Missionsgesellschaft in Basel, Frankfurt a. M. 2010. 8 Charakteristisch dafür ist die Tatsache, dass für die Basler Mission der Missionsbefehl von Mt 28,19 kaum eine Rolle spielte (Huppenbauer, 117). Ihr Missionsmotiv war die brüderliche Liebe zu den Menschen in fernen Ländern, vgl. Werner Raupp: Mission in Quellentexten, Erlangen/Bad Liebenzell 1990, 243–250 (bes. 246).
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In der Kurzfassung, die das EG wiedergibt, fehlt jede Erwähnung fremder und abzulehnender Religionen. Dadurch verliert das Lied seine kontroverstheologische Schärfe, und es wird die Möglichkeit für seine liturgische Verwendung eröffnet, ohne dass der Gedanke an die Mission aufgegeben wird. WOLFGANG HERBST
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258 Zieht in Frieden eure Pfade 258 Zieht in Frieden eure Pfade
Text Verfasser Gustav Knak Entstehung 1843 Quelle Zionsharfe. Geistliche Lieder und Sonette von Gustav Knak, Prediger zu Wusterwitz, Berlin 31843, 135 (Nr. 86) Überschrift Abschiedsgruß an die scheidenden Brüder. Mel. Wachet auf ruft uns die Stimme. Stro-
phenbau 8/4a- A9/4a- A8/4b, 8/4cA9/4c- A8/4b, A6/3d A6/3d 4/2xA8/4e+e A8/4e Abweichungen s. Kommentar Verbindung TM in der Q ohne N, aber mit Hinweis auf die Melodie (s. Überschrift)
Melodie s. Wachet auf, ruft uns die Stimme (EG 147) Literatur HEG II, 180 ** ThustB, 244; ThustL I, 453f ** Koch (31866–1877) VII, 197; RösslerL (22001) 167 ** WANGEMANN, Hermann Theodor: Gustav Knak. Ein Prediger der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Ein Lebensbild
aus dem ewigen Leben und ein Spiegelbild für das zeitliche, Berlin 1879 * SCHEFFBUCH, Beate und Winrich: Den Kummer sich vom Herzen singen. So entstanden bekannte Lieder I, Holzgerlingen 82003, 50–56 (bes. 53)
Der lutherische Pfarrer Gustav Knak war 1834 nach Wusterwitz (Hinterpommern; poln. Ostrowiec) berufen worden. Deshalb musste er sich von seinem geliebten Vetter Carl Straube1 trennen. Mit ihm hatte er seine Kindheit, die Schulzeit und das Studium der Theologie gemeinsam erlebt, und die Trennung von seinem „Herzenskarl“ fiel ihm schwer. Nur durch regen Schriftverkehr und gelegentliche Besuche wurde die Verbindung aufrecht erhalten. Anlässlich eines der Besuche Straubes in Wusterwitz dichtete Knak für ihn zum Abschied die folgende Strophe:2 Zieh in Frieden deine Pfade Mit dir des großen Gottes Gnade Und seiner heilgen Engel Wacht!
Gehe hin mit Frieden (2. Mose 4,18) Der Herr hat Gnade zu meiner Reise gegeben (1. Mose 24,56) Er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen (Ps 91,11)
Wenn dich Jesu Hände schirmen, Geht’s unter Sonnenschein und Stürmen Getrost und froh bei Tag und Nacht! Leb wohl! Leb wohl im Herrn! Ich lasse dich nicht gern Aus den Armen, Vergiß mich nicht in Seinem Licht In deinem Licht sehen wir das Licht (Ps 36,10) Und wenn du suchst Sein Angesicht. Suchet sein Angesicht allezeit! (1. Chr 16,11)
1 (1807–1881); Urgroßvater des Leipziger Thomaskantors Karl Straube (1873–1950). 2 Wangemann 192. – Knak hatte schon 1829 ein Sonett für seinen „getreuen Freund Carl Straube“ veröffentlicht (in: G. Knak, Simon Johanna, hast du Mich lieb?, Berlin 1829, 161).
258 Zieht in Frieden eure Pfade
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Der Dichter verabschiedet seinen Freund mit einer Art liturgischer Entlassungsformel und überantwortet ihn der Gnade und dem Schutz Gottes. Das alles hat noch keinerlei Beziehung zur Mission. Gustav Knak hatte sich aber als Prediger einen Namen gemacht und die in der Erweckungsbewegung besonders verankerte Verbindung zur Mission gepflegt. Er gehörte zu den Begründern und Förderern der regelmäßigen Missionsfeste, die überall im Land stattfanden. Dabei handelte es sich um geistliche Volksfeste, in deren Verlauf es auch zur Verabschiedung von Missionaren vor der Reise in ihre Missionsstationen kommen konnte. Die Gemeinde sang ihnen zum Abschied ein „Missionslied“. Knak dichtete für diesen Zweck das Abschiedslied für seinen Freund so um, dass es als Gemeindelied verwendbar war und für Missionsfeste eingesetzt werden konnte. Die persönliche Ansprache eines Einzelnen setzte er in den Plural, so dass eine Gruppe verabschiedet werden konnte. Auf diese Weise entstand ein Aussendungslied für Missionare. Davon zeugt bereits die Überschrift, die der Dichter dem Lied gegeben hat. Sie spricht von den „scheidenden Brüdern“, denen der Abschiedsgruß gelten soll und den die Festgemeinde ihnen zusingt. Man spürt hier etwas vom Abschiedsschmerz der Zurückbleibenden, die offen gestehen, dass sie die Brüder ungern gehen lassen und die Umarmung mit ihnen am liebsten gar nicht lösen möchten. Allerdings schränkt genau dieser Gedanke die Verwendbarkeit der Strophe erheblich ein, weil die Verabschiedung von Missionaren nicht bei jedem Missionsfest vorkam. Deshalb ersetzte Knak die Verse 8 und 9 durch einen allgemeiner gehaltenen Gedanken. Auch eine versammelte Gottesdienstgemeinde kann jetzt mit diesem Lied verabschiedet werden. Gottes schützende Nähe wird auch für sie erbeten: Er sei euch nimmer fern, spät und frühe. Dadurch bekommt das Lied den Charakter eines Schlusssegens. Das Suchen nach Gottes Angesicht weist auf das Gebet und den Gottesdienst hin, in dem das Gedenken stattfinden soll. In der ursprünglichen Fassung sprach Knak selbst zu seinem abreisenden Freund. Später wendet sich die aussendende Gemeinde an die „scheidenden Brüder“. In der Fassung des EG könnte der Liturg gemeint sein, der die Gemeinde entlässt. Allerdings will das vergesst uns nicht dazu nicht mehr so recht passen, weil es durch das Gegenüber von ihr und wir noch an die Situation des Abreisens und Zurückbleibens erinnert. In der Form, die wir heute im EG finden, hat das Lied noch zu Lebzeiten Knaks Eingang in offizielle Gesangbücher gefunden, erstmals 1867.3 Die Melodiezuweisung folgt volksmissionarischen Absichten. Der Biograph Knaks schreibt dazu ein Jahr nach dessen Tod: „Es wurde damals besonders Werth darauf gelegt, auch auf die Weisen der Volksmelodien geistliche Lieder zu dichten.“4 Aus diesem Grund hat der Dichter von Anfang an für diese 3 Oels’er evangelisches Gesangbuch / Auf Veranlassung und mit Genehmigung der Königlichen Kirchenbehörden von Neuem herausgegeben / Nebst einem Titelkupfer, Verl. Ludwig, Oels (poln. Oletnica, Niederschlesien), 1867, 381, Nr. 513. 4 Wangemann, 191.
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Kommentare zu den Liedern
Strophe die im Volk bekannte Melodie Wachet auf, ruft uns die Stimme vorgesehen und keine eigene Melodie in Betracht gezogen. WOLFGANG HERBST
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Kommentare zu den Liedern
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259 Kommt her, des Königs Aufgebot
EG 259
259 Ko mmt her, des Königs Aufgebot
RG 817 (T)
Text Verfasser Friedrich Spitta Quelle MGKK 3 (1898) 312 Überschrift Notenbeigabe. Reformationsfest und Feiern des Evang. Bundes. Feurig, energisch. Heinrich Schütz, Werke XVI,84 Strophenbau A8/4a A7/3b-, A8/4a
A7/3b-, A8/4c A7/3d- A8/4c A7/3dA7/3d- vgl. Frank 9.2 Abweichungen RG: nur 3. Strophe; 3,1 Gott mache Verbindung TM wie EG
Melodie Incipit +1_+1_+3b_+2_.+17b_+1_6_6_7b_.65_ Verfasser Heinrich Schütz Quelle Psalmen Davids (Heinrich Schütz), Dresden 1661 (DKL 166112) Ausgaben Heinrich Schütz, Sämmtliche Werke (hg. Philipp Spitta), Bd. XVI (1894); 84; Heinrich Schütz, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 6 (1957; hg. von Walter Blankenburg) Ambitus G: 10; Z: 65(65)77646 Abweichungen Q: mit 4st
Satz; Ton höher; Taktvorschrift 3/4 C; keine Takt-, nur Zeilentrennstriche; letzte Note jeder Zeile punktiert, daher ohne nachfolgende Pause * Q des Textes: wie Q, aber 3/4-Takt mit Taktstrichen; ausführliche dynamische Vorschriften (s. Kommentar) Verbindung MT in der Q zu Der Herr ist König überall (Ps 97) * RG: Gott mache uns im Glauben kühn (= 3. Str. von EG 259)
Literatur HEKG (Nr. 224) I/2, 352f; III/2, 128– 131; Sb, 344f; HEG II, 283–286. 306–308 ** ThustB, 244f; ThustL I, 454–456 ** Bruppacher (1953) 207–211; RößlerL (22001) 889.932 ** LAUTERBURG, Otto: Nun danket alle Gott. Betrachtungen zu Liedern des deutschsprachigen Gesangbuches der evangelisch-reformierten Kirchen
der deutschsprachigen Schweiz, Bern 1953, 207–211 * GERBER, Hermann: Monatslieder der Kirche und ihre Geschichte, Darmstadt 1956, 111–113 * RIEHM, Heinrich: Nationale Töne im evangelischen Kirchenlied von Ernst Moritz Arndt bis zum Nationalsozialismus, IAHB 28 (2002) 127– 151, bes. 130f.146
Zunächst ist die Melodie zu besprechen, denn sie war die Inspirationsquelle für den Liedtext. Friedrich Spitta war seit etwa 1880 ein engagierter Vorkämpfer für die Chormusik von Heinrich Schütz, die durch die Gesamtausgabe seines Bruders Philipp Spitta (seit 1885) erstmalig erschlossen wurde. Bei den vierstimmigen Sätzen zum Reimpsalter von CorneliusBecker(1628/1661) faszinierteihnderSatzzuPsalm 97, während ihn die Dichtung als „ziemlich geistlose Versifizierung des Bibeltextes“ abstieß. So kam er auf die Idee, mit einer neuen Textunterlegung „die feurige energische Weise unseres Meisters wieder unter die Sänger zu bringen.“1 1 Friedrich Spitta, Zur Notenbeigabe, MGKK 3 (1898) 312.
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Kommentare zu den Liedern
Die dorische Melodie, Oberstimme eines homophonen Satzes, besticht zunächst durch die durchgehend (fast) identische rhythmische Struktur aller Zeilen. Drei auftaktige Viertel führen zwingend zur Hauptbetonung. Diese, eigentlich als punktierte Halbe zu denken, ist jeweils als melismatische Verzierung (Terzdurchgang) mit punktierter Viertel als Hauptnote gestaltet und wird hemiolisch abkadenziert (sofern man die drei Anfangs-Viertel als Dreier-Takt deutet). Die stete Wiederholung dieses prägnanten Schemas garantiert fortwährenden „Biss“. Bei der Melodieführung ist der Einstieg auf der oberen Oktave signifikant, mit Terzschritt nach oben sogleich noch überboten, ein energetisch hoch aufgeladener Beginn, der am Satzende wieder eingeholt wird. Der Stollen bringt mit einer Art Sequenzierung nach unten allerdings auch schon die Erdung, mündet in den Grundton, der bei der Wiederholung als Basis dann deutlich markiert ist. Der Abgesang bietet zunächst zweimal einen Aufschwung mit dominantischer Kadenzierung, dann ein Zeilenpaar Abschwung/ Aufschwung mit schwacher harmonischer Schlussbildung, ehe die Schlusszeile – bei Schütz deutlich abgesetzt mit Querstand F-Dur gegen A-Dur am vorigen Zeilenende – den Bogen zum Anfang schlägt. Spitta hat diesen Verlauf stark dynamisch empfunden. In seiner Chorsatzversion notiert er forte zu Beginn, mezzoforte bei der zweiten Zeile und decrescendo zu piano. Das erste Zeilenpaar im Abgesang bleibt piano, das zweite beginnt mezzoforte, die vorletzte Zeile ist dann zu crescendieren, die letzte Zeile beginnt forte und crescendiert weiter zu fortissimo bei den Kadenztönen. Das rhythmisch „Energische“ der Melodie wird so durch die Dynamik ins „Feurige“ gesteigert. Man sollte Spittas Text mit dieser Dynamik lesen. Psalm 97 ist einer der JHWH-Königspsalmen. Spitta übernimmt von der ursprünglichen Dichtung die Königs-Metapher, schafft aber kein Lied zur Verherrlichung Gottes als König, sondern einen Gesang zur Steigerung des Zusammenhalts und Selbstbewusstseins in der protestantischen Christenheit. Dem entsprechend steht das Lied nun in der Rubrik „Sammlung und Sendung“. Das Leitbild für die Dichtung ist kein biblisches, sondern die zeitgenössisch relevante Szenerie vom Truppenaufmarsch (Aufgebot) bei Militärparaden auf dem Platz. Souverän trägt Spitta Sprachformen ein, die zeittypisch sind, aber ebenso Bibelwortanklang aufweisen. Die Fahne fassen die Standartenträger, aber auch das Volk Israel „wirft Panier auf“ vor dem König (Ps 20,6). Die nationalen Gesänge bei Aufmärschen sind hier Loblieder auf Gott, und „die Augen geradeaus“ wird zum König aufgeschauet (vgl. Hebr 12,2). Im Wilhelminischen Kaiserreich (1888–1918) gab es einen nationalen Kult mit Paraden, speziell auch am Wirkungsort Spittas, Straßburg, beim alljährlichen Staatsbesuch des Kaisers. Anders als bei der christlichen Kampfesmetaphorik früherer Zeiten geht es mit der Aufnahme dieser Szenerie nun nicht um den Kampf gegen das Widergöttliche auf dem Schlachtfeld des irdischen Lebens, sondern um die rein darstellende Demonstration von Stärke und Geschlossenheit. Als Sitz im Leben hat Spitta das Reformationsfest und öffentlichkeitswirksame Feiern des „Evangelischen Bundes zur Wahrung deutsch-protestantischer Interessen“ (seit 1886) im Blick. Da ist Selbstvergewisserung der Gemeinde gefragt, Stärkung der Moral in der eigenen Truppe durch imposante Inszenierung.
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Die militaristische Szenerie impliziert ein Feindbild. Bei Spitta ist das der Katholizismus, der als von Rom gesteuerter Ultramontanismus mobil macht und die deutsche, wesentlich protestantische Kultur bedroht. Für Drang und Not in der ersten Strophe gäbe es also konkrete Anhaltspunkte ebenso wie für manche List und den feigen Rat des Feindes in Str. 2. Die Diktion des Liedes mit solcher Feindbeschwörung und solchem Wahrheitspathos erinnert gezielt an Luthers Ein feste Burg (EG 362), das in dieser Zeit Hochkonjunktur hatte als Hymne protestantischer Überlegenheitsdemonstration. Mit dem Reimpaar Stürmen/ Schirmen ist zudem die zweite Strophe von Jesu, meine Freude (EG 396) aufgegriffen. Die Bitte des Salomo im Tempelweihgebet (1. Kön 8,57) Der Herr, unser Gott, sei mit uns, wie er mit unsern Vätern gewesen ist ist umgewandelt in die affirmative Zusage Wie Gott zu unsern Vätern trat,/ wird er . . . uns durch die Fluten tragen. Spitta hat die drei Strophen klar disponiert. Str. 1: Appell zum Aufmarsch – das initiale Kommt her spielt an auf den „Heilandsruf“ Matthäus 11,28; Str. 2: Vergewisserung des Beistandes Gottes; Str. 3: Adhortatio, Aufmunterung der Gemeinde zum Leben in Glaube, Liebe, Hoffnung. In Str. 1 dominiert im Dienste des Appellativen das Aufmarschbild, Str. 2 agiert vergewissernd mit sprachlichen Wendungen aus Bibel und Liedtradition, in Str. 3 schafft Spitta neue Wortverbindungen mit Anklängen an modernere Redewendungen und stellt so auch sprachlich Gegenwartsbezug her. Die dritte Strophe formuliert im Stollen zunächst zwei Gebetsbitten der Gemeinde, um dann ab dem Abgesang mit der von Str. 2 her bekannten Widerlegungsfigur ob auch-Gegendarstellung entschieden eine heilvolle Zukunft vor Augen zu stellen. Glauben und Liebe als Signa der christlichen Gemeinde werden explizit benannt, Platzhalter für die Hoffnung ist die Gewissheit von Gottes siegreichem Plan für uns, ein Begriff ohne Bezug zur christlichen Sprachtradition, dafür zum militärischen Leitbild des Liedes: Der König als Heerführer hat siegorientierte Schlachtpläne. Im Glauben kühn parodiert wohl „kühn im Kampfe“, in der Liebe reine dagegen wird auf die Ausführungen zur vollkommenen, furchtlosen Liebe in 1. Johannes 4,17f anspielen. Das pathetische Herz und Zunge glühn hat Spitta – wie andere Prediger seiner Zeit – beim im 19. Jh. viel rezipierten Jean Paul entlehnt.2 Mit einer Variante der seit der Aufklärung zentralen Formel „durch Dunkel zum Licht“ rekurriert er schließlich auf allgemeines säkulares Zukunftspathos. Schloß und Riegel springen spielt mit dem umgangssprachlichen „hinter Schloss und Riegel“, meint aber auch konkret die Einlösung der Bitte im Adventslied EG 7,1: reiß ab, wo Schloß und Riegel für. So zeigt sich auch in dieser Strophe das souveräne Agieren Spittas mit sprachlich starken Wendungen verschiedenster Herkunft, deren Arrangement zu einer neuen Prägnanz führt, die als sprachschöpferische Leistung zu würdigen ist. Spittas Strophen prägen sich unmittelbar ein. Dem Ziel der Gemeindeermunterung analog zu heutiger Parteitagsagitation dient auch die spezielle Gestaltung der Strophen-Schlusszeilen. Jede ist als 2 Das Zitat stammt aus dessen Roman: Hesperus oder 45 Hundsposttage. Eine Biographie, Berlin 1795.
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Kommentare zu den Liedern
Appell formuliert und in Spittas Sinne forte mit crescendo zum Fortissimo zu singen: zum König aufgeschauet. – Mit ihm wir wollen’s wagen. – Des wolln wir fröhlich singen! Pointe ist wohlgemerkt nicht ein politischer Aktionismus, sondern das Singen als die spezifische Form evangelischer Demonstration von Freiheit und Überlegenheit über die gottfeindlichen Mächte. In eben dieser Stoßrichtung bekam Spittas Lied seinen Kairos in der Kirchenkampfsituation während der nationalsozialistischen Herrschaft, sogar in beiden Konfessionen. Evangelische wie katholische, namentlich junge Christen ließen sich damit motivieren, zum König Christus aufzuschauen anstatt zum Führer Adolf Hitler, um mit solch fröhlichem Singen das Dunkel der Zeit zu überstehen. Im katholischen Bereich wurde das Lied geradezu zur Hymne für die dem Führerkult entgegengesetzte Christkönig-Feierpraxis (wozu auch Fahnen gehörten). Mit der Überschrift Kommt her, des Königs Aufgebot markierte es eine eigene Rubrik im 1938 erschienenen Jugendgesangbuch „Kirchenlied“. Allerdings war die Schütz-Melodie für katholische Feierpraxis wohl zu „feurig“ und wurde durch eine neue ersetzt. Ähnlich wie bei Luthers Ein feste Burg sind auch gegenüber Spittas Sprachfeuerwerk Bedenken angebracht. Sind das angemessene Metaphern für die Motivation der Gemeinden heute in den Auseinandersetzungen mit kirchenfeindlichen Strömungen? Es wäre ganz in Spittas Sinne, wenn aufs Neue, wie von ihm im Jahre 1898 praktiziert, „in genauem Anschluss an den Charakter der Musik neue Verse unterlegt“ würden, welche „Sammlung und Sendung“ der Gemeinde als Gemeinde Christi befördern und mit der Musik von Heinrich Schütz „feurig, energisch“ Begeisterung wecken. KONRAD KLEK
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262/263 Sonne der Gerechtigkeit
Kommentare zu den Liedern
262/263 Sonne der Gerechtigkeit
EG 262ö/263 GL2 481ö EM 401ö/402
262/263 Son ne der Gerechtigkeit
RG 795ö+(T)
KG 509ö+(T)
CG 822ö+(T)
Text Verfasser zusammengestellt aus Texten der brüderischen Tradition von Otto Riethmüller, s. Rubrik Vorlage und ausführlich den Kommentar Vorlagen Str. 3 und 263,7 aus: Sieh, wie lieblich und wie fein (Johann Christian Nehring, 1704), Str. 1, 6 und 262,7 aus: Seyd gegrüßt, zu tausendmahl (Christian David, 1728), Str. 2, 4 und 5 aus: Jesu, bittend kommen wir (Christian Gottlob Barth [?], [1827]/1837) Quelle Ein neues Lied. Ein Liederbuch für die deutsche evangelische Jugend [Otto Riethmüller], Berlin-
Dahlem 1932 Überschrift Kirche Strophenbau 7/4a 7/4a 7/4b 7/4b R: A4/2K vgl. Frank 4.42 Abweichungen keine Abweichungen zwischen Quelle und EG 263; Abweichungen zu EG 262 bei 2,3–4; 3,2; 5,2–4; 6,2+4; 7,1–4 * GL2 nur Fassung EG 262ö; RG, KG und CG nur Fassung EG 262ö: Str. 1–7 ohne Erbarm dich, Herr. Verbindung TM wie EG * RG, KG, CG: Z I,1176/ DKL III/1.3 Eg55 (Freuen wir uns all in ein; in GL2 523/ KG 767/ CG 709 zu O Maria sei gegrüßt)
Melodie Incipit 1__1__5__8__7_656_6_5___ Entstehung weltliches Bettlerlied, seit dem 15. Jh. verbreitet; die Jahresangabe 1467 zur Melodie im EG ist überholt Vorlagen O „lowfce powstaniz (Gesangbuch der Böhmischen Brüder 1561); Der reich Mann war geritten aus (Jobst vom Brant bei Georg Forster 1556) s. Melodiekommentar Quelle Kirchengeseng, darinnen die Heubtartickel des Christlichen glaubens kurtz gefasset vnd
ausgeleget sind, [Ivanèice] 1566 (DKL 156604–05) Ausgaben Z I,1974; DKL III/1.3 Eg228 Ambitus G: 9; Z: 85544 Abweichungen Sexte tiefer (F-Dur); Taktvorzeichnung: C * GL2: Taktvorschrift: 2 * EM: mit 4st. Satz (Karl-Heinz Hecke, 2000); mit halben Taktstrichen (zwei Ganze pro Takt) * Verbindung MT Q: Mensch, erheb dein Herz zu Gott
Literatur HEKG (Nr. 218) I/2,346–348; III/2,116– 120; Sb, 338–340; HEG II,31f.45–47.72f. 225.253–255 ** WGL1, VII, 265–268; RGL1, 779f; ÖLK Lfg. 2; ThustB, 246f; ThustL I, 458–461 ** Bruppacher (1953) 366f; NSKA (1971ff) 3, Nr. 11; DKL III (1993–2010)/1.3 Textbd., 123f; RösslerL (22001) bes. 926–928 ** TUCHER, Gottlieb von: Melodien des evangelischen Kirchengesangs im ersten Jahrhundert der Reformation mit dazu vorh. Harmonisierungen dieser Periode, Leipzig 1848, Nr. 160 *
KOCHER, Conrad: Zionsharfe. Ein Choralschatz aus allen Jahrhunderten und von allen Confessionen der christlichen Kirche. Zur Erbauung in der Familie wie in der Gemeine gesammelt und für Singchöre, Orgelund Klavierspiele vierstimmig bearbeitet von Conrad Kocher, Bd. 1, Stuttgart 1855, Nr. 445 * LÜTZEL, Johann Heinrich (Hg.): Choralbuch zum evangelisch-protestantischen Gesangbuche für Kirche und Haus, Speyer 1859, Nr. 134 * FORNAÇON, Siegfried/ JENNY, Markus/ STEBLER, Vinzenz:
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Kommentare zu den Liedern
Weg und Wert eines Liedes, Der Evangelische Kirchenchor 72 (1967) 34–44 * THURMAIR-MUMELTER, Maria Luise/ QUACK, Erhard in: Gerhard Trenkler (Hg.), Arbeitsbuch zum EGB. Eine Einführung für Seelsorger, Katecheten und Chorleiter, Graz 1975, 226–228 * PAURITSCH, Karl: „Sonne der Gerechtigkeit“ in: Walter Nordhues/ Alois Wagner (Hg.), Predigten zum Gotteslob, Bd. 2, Graz u.a 1977, 173–179 * KOEPPEN, Wolfhart: „Sonne der Gerechtigkeit“ in: Nitschke, Horst (Hg.),
Aus dem Gesangbuch gepredigt. Predigten, Meditationen, Gottesdienste, Gütersloh 1981, 49–55 * LÄHNEMANN, Johannes: Liedpredigten. Mit Kunstwerken von Rika Unger, Nürnberg 1996, 68–74 * HENKYS, Jürgen: Singender und gesungener Glaube. Hymnologische Beiträge in neuer Folge, Göttingen 1999, 18–20 * WALTER, Meinrad: Sing, bet und geh auf Gottes Wegen. 40 neue und bekannte geistliche Lieder erschlossen, Freiburg i. Br. 2014, 125–128
Das Lied Sonne der Gerechtigkeit, wie es heute bei EG 263 (und in der überarbeiteten ö-Fassung 262) bekannt ist, entstand 1932 durch Otto Riethmüller1. Doch handelt es sich nicht um eine Neudichtung, sondern um die Zusammenstellung von Strophen verschiedener Lieder aus unterschiedlichen Traditionen, denen Riethmüller den einheitlichen Strophenschluss Erbarm dich, Herr hinzufügte. Entsprechend komplex ist die Vorgeschichte dieses Liedes. In einigen Liedbeschreibungen wird davon ausgegangen, dass der gebürtige Schwabe Riethmüller bei der Zusammenstellung der Strophen wohl aus der 1. Auflage von Albert Knapps „Liederschatz“ (Stuttgart 1837) schöpfte, die über drei Lieder verteilt das Material zu seinen Strophen 1–5.7 und sogar ein Lied mit dem Initium Sonne der Gerechtigkeit enthält. Knapp bietet am Ende seines Werkes eine Zusammenstellung der enthaltenen Lieder nach Versmaß und Strophenform, sodass sich leicht ‚kombinierbare‘ Lieder ermitteln lassen. Allerdings wurden in die späteren Auflagen des „Liederschatzes“ die Lieder, auf die Riethmüller zurückgriff, nicht mehr aufgenommen. Das gleiche Strophenmaterial wie in Knapp 1837 findet sich – verteilt auf nur zwei Lieder, Jesu, bittend kommen wir (7 Str.) und Sieh, wie lieblich und wie fein, beide auf die gleiche Melodie zu singen – auch im Evangelischen Gesangbuch für Brandenburg (Erstdruck: Berlin 1886), das 1931 durch ein neues Gesangbuch für Brandenburg und Pommern abgelöst wurde. Da Riethmüller 1928 als Leiter des Burckhardthauses nach Berlin gerufen wurde, dürfte ihm das ‚alte‘ Brandenburgische Gesangbuch bekannt gewesen sein2. Darauf, dass ihm dieses (auch) als Quelle für seine Sonne der Gerechtigkeit diente, weisen zwei Indizien hin: Die ursprüngliche Schlussstrophe des Liedes (EG 263,7) stimmt im GB Berlin 1886 wortwörtlich mit Riethmüller überein, während bei Knapp die letzten beiden Zeilen stark variieren. Zweitens lässt sich auch die Nennung J[onathan] F[riedrich] Bahnmaiers (1774–1862)3 als einer der Text1 Zu Riethmüller vgl. HEG II, 253–255. 2 Auch Jürgen Henkys nimmt das Brandenburgische Gesangbuch als unmittelbare Vorlage an (vgl. Henkys 1999). 3 Vgl. Martin Leube, Bahnmaier, Jonathan Friedrich, in: Neue deutsche Biographie, Bd. 1 (1953) 539f.
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dichter bei Riethmüller mit GB Berlin 1886 erklären. Denn Jesu, bittend kommen wir wird in diesem Gesangbuch Bahnmaier zugeschrieben. Die beiden Vorlagen-Lieder haben selbst eine längere Genese und Fassungsgeschichte hinter sich, auch GB Berlin 1886 bringt sie in einer eigenen Version. Sieh, wie lieblich und wie fein / ist, wenn Brüder friedlich sein ist eine ursprünglich vierstrophige Paraphrase des 133. Psalms, die Michael Müller4 für seine „Psalmen Davids“ (Stuttgart 1700) geschaffen hat. Johann Athanasius Freylinghausen nimmt es dem Psalmthema entsprechend in die Rubrik „Von der brüderlichen und allgemeinen Liebe“ seines Gesangbuchs von 1704 auf – allerdings in einer um 10 Strophen erweiterten Fassung. Die Zusatzstrophen stammen aus der Feder Johann Christian Nehrings5, der als Inspektor an Franckes Waisenhaus bei Halle tätig war. An das Thema des Psalms anknüpfend, beklagt Nehring die oft so wenig friedlich-brüderliche Realität und wendet sich mit entsprechenden Bitten an Gott. Sieh wie lieblich und wie fein wurde schon bald von Christian David6 in einer eigenen Neudichtung verarbeitet: Seyd gegrüßt zu tausendmahl / allerliebste Brüderzahl greift Elemente aus dem alten Psalmlied auf; eigene Zugaben Davids sind u. a. die fünfte (263,1) und achte Strophe (263,6). Erstmals gedruckt erschien es in dem laut Vorbericht auf 1737 datierten neunten Anhang bzw. zweiten Teil des Herrnhuter Gesangbuchs von 1741. Laut den Synodalprotokollen von 17437 ist Davids Dichtung bereits 1728 entstanden. – Bei Sieh, wie lieblich und wie fein in GB Berlin 1886 handelt es sich um eine bunte Zusammenstellung von acht Strophen aus den beiden Liedern Davids und Müllers/Nehrings. Es enthält jedoch das Material für EG 263,1.3.7. – Die 6. Strophe von EG 263 ist nicht im GB Berlin 1886 enthalten (allerdings auch nicht bei Knapp), sodass Riethmüller hierfür auf eine andere Quelle zurückgegriffen haben muss. Da Seyd gegrüßt zu tausendmal ein kaum rezipiertes Lied ist und er an der Brüderischen Tradition interessiert war, könnte Str. 6 ihm sogar direkt in einem der Zinzendorfschen Gesangbücher begegnet sein. In Herrnhuter Kreisen war der Verfasser des Liedtextes bekannt und wird auch von Riethmüller zutreffend angegeben. Auch das zweite Lied im GB Berlin 1886, aus dem Riethmüller EG 263,2.4–5 übernimmt, Jesu, bittend kommen wir, ist zu diesem Zeitpunkt bereits ein Lied mit Geschichte. Es findet sich erstmals in der bereits genannten 1. Auflage von Knapps Liederschatz (1837), besteht aber zu weiten Teilen aus Material eines nur wenig älteren Liedes: Jesu, ziehe bei uns ein (erstmals in der „Zionsharfe“ des reformierten Theologen F. W. Krummacher, Elberfeld 1827; leicht verändert auch bei Knapp 1837). Beide Lieder sind bis Ende des 19. Jh. ohne Verfasserangaben abgedruckt. Jesu, bittend kommen wir (gekürzt auf fünf Strophen) wird Zu Müller vgl. HEG II, 219. Zu Nehring vgl. HEG II, 225. Zu David vgl. HEG II, 72f. L. v. Zinzendorff, Herrnhuter Gesangbuch (Materialien und Dokumente Reihe 4 Bd. 3/3), 2f.21.
4 5 6 7
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Kommentare zu den Liedern
im Missionsliederbuch von J. Josenhans (Basel 1879) dem württembergischen Missionsschriftsteller, Lieddichter und Verleger Christian Gottlob Barth8 zugeschrieben, im GB Berlin 1886 dagegen dem bereits erwähnten ebenfalls württembergischen Theologen und Prediger Bahnmaier, der auch als Verfasser einiger Missionslieder in Erscheinung trat und mit Knapp in Verbindung stand. Jesu, ziehe bei uns ein wird dagegen durchweg anonym überliefert. Die von Riethmüller übernommenen Strophen finden sich mit abweichendem Wortlaut bereits in Jesu, ziehe bei uns ein, wörtlich dann in Jesu, bittend kommen wir; aus wessen Feder sie tatsächlich stammen, ist kaum mehr ermittelbar. Sonne der Gerechtigkeit als Liedinitium begegnet erstmals in der oben erwähnten „Zionsharfe“ 1827 (und nicht, wie teilweise behauptet, bereits im Brüdergesangbuch Barby 1778). Hierbei handelt es sich zwar um eine textlich leicht veränderte Zusammenstellung von Strophen aus Seyd gegrüßt, zu tausendmahl und Sieh, wie lieblich und wie fein, mit EG 263 hat dieses Lied allerdings nicht viel gemeinsam. Knapp übernimmt es mit einigen Änderungen in die 1. Auflage seines Liederschatzes, jedoch bleibt es in Deutschland weitgehend unbekannt. Eine gewisse Verbreitung erfährt es in der Schweiz, wo es noch 1920/21 sogar als Musik-Beilage der Zeitschrift „Der Evangelische Kirchenchor“ des Schweizerischen Kirchengesangsbundes erschien9. Wie diese lange Vorgeschichte zeigt, sind die in EG 262/263 verarbeiteten Lieder bereits früher verschiedene Verbindungen eingegangen – allerdings keine nur annähernd so erfolgreich wie die, die Otto Riethmüller für sein Jugendgesangbuch „Ein neues Lied“ von 1932 schuf. Einer der Gründe dafür ist sicher in der Melodie zu sehen. Den oben genannten Vorlagen-Liedern war keine eigene Weise beigegeben, sie wurden zumeist auf Gott sei Dank durch alle Welt oder Nun komm der Heiden Heiland gesungen. Riethmüller dagegen greift auf eine seinerzeit völlig in Vergessenheit geratene Weise aus dem Gesangbuch der Böhmischen Brüder zurück – damit hat Sonne der Gerechtigkeit sozusagen eine eigene, markante Melodie (s. u.). Da diese um die letzte Halbzeile zu lang ist, fügt Riethmüller als Refrain den Ruf Erbarm dich, Herr hinzu, der an die alte Tradition der Leisen erinnert und gut zum durchgehenden Bittcharakter des Liedes passt. Dieser ist zugleich ein wichtiges Element, das die Liedbausteine so unterschiedlicher Herkunft zusammenzuhält: Str. 1 beginnt mit der Anrufung (s. u.); an den hier Angerufenen richten sich in jeder Strophe – mit Ausnahme von Str. 7 – zwei im Imperativ formulierte Bittrufe; immer zwei Zeilen umfassen ein Anliegen. Verbunden mit dem Refrain erinnert es fast an eine Bitt-Litanei. – In Str. 7 mündet diese in eine trinitarisch geprägte ‚Schlussdoxologie‘; eine alte Tradition, an die Riethmüller, der auch zahlreiche altkirchliche Hymnen ins Deutsche übertrug, hier anknüpft. Durch diesen insgesamt gut strukturierten, klaren Aufbau gewinnt das Lied große formale Geschlossenheit. 8 Zu Barth vgl. HEG II, 31f. 9 Vgl. Bruppacher, 367; Musik-Beilage zu „Der Evangelische Kirchenchor“ 1920/21, Zürich o. J. [1921], 26.
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Die Sonne der Gerechtigkeit, an die sich das ganze Lied wendet, ist in christlicher Tradition Jesus Christus. Ursprünglich ist diese Wendung Maleachi 3,20 entnommen, einem prophetischen Gerichtswort über den kommenden Tag. Es verheißt denjenigen, die den Namen des Herrn fürchten, den Aufgang der Sonne der Gerechtigkeit und Heil unter ihren Flügeln. Spätestens seit dem 4. Jh. wird – angeregt durch Lukas 1,78 u. a. – dieses Bild auf Christus übertragen10: Er ist die verheißene Sonne, die der Welt Gerechtigkeit und Heil bringt. Wenn in Str. 1 nun um den Aufgang dieser Sonne zu unserer Zeit gebetet wird, ist damit nicht so sehr eine baldige Wiederkunft Christi im Blick, sondern vielmehr, dass Christus, dass sein Reich schon jetzt (wenn auch in vorläufiger Gestalt) für die Welt sichtbar wird – und zwar in [s]einer Kirche. Kirche hat sich so zu präsentieren, dass sie der Welt zeigt, wie Christus, wie das Reich Gottes ist. Für diese nicht ganz einfache Aufgabe bittet das Lied um göttlichen Beistand. Str. 2 führt einen Teilschritt zu diesem großen Ziel aus: Die tote Christenheit muss von der aufgehenden Sonne aus dem Schlaf der Sicherheit (der Selbstsicherheit?) geweckt werden, um ihrem missionarischen Auftrag nachzukommen und den Ruhm des Herrn überall bekannt zu machen; denn dazu ist sie da. Für die „Gemeinsamen Kirchenlieder“ nahm die Arbeitsgemeinschaft für ökumenisches Liedgut 1970/73 hier einige gravierende Änderungen vor. Diese Fassung liegt unter EG 262 vor. Die neue Str. 2 lässt den missionarischen Aspekt unter den Tisch fallen und nimmt eine rein binnenchristliche Perspektive ein: Die Christenheit soll v. a. selbst auf die Stimme des Herrn hören und sich zu [s]einem Wort bekehren. So wichtig eine immer wieder neue Besinnung auf und Hinwendung zu Gottes Wort sein mag – nicht weniger wichtig ist es, diese Botschaft auch nach außen zu tragen, für die Welt sichtbar zu machen. – Auch formal durchbricht die Neufassung von Str. 2 die Struktur des Liedes: In Z. 3–4 bringt sie nämlich keine zweite Bitte ein, sondern expliziert die bereits zu Strophenbeginn genannte durch einen Finalsatz (dass sie deine Stimme hört). Die 3. Strophe ist mit ausschlaggebend dafür, dass das Lied in den meisten gegenwärtigen Gesangbüchern seinen Platz in der Rubrik „Ökumene“ hat. Sie benennt die beklagenswerte Zertrennung. Diese offene Formulierung ist für viele präzisierende Füllungen offen; so denkt man natürlich an die in verschiedenen Kirchen und Konfessionen getrennte Christenheit. Doch auch im bald nach Entstehung des Liedes beginnenden Kirchenkampf mit seiner Zertrennung in Bekennende Kirche (deren Zuständiger für die Jugendarbeit Riethmüller ab 1935 war) und Deutsche Christen bot diese Strophe Wirkpotential. – Die Trennung der christlichen Herde in verschiedene Gruppierungen und Konfessionen ist ein Zustand, dem nur Christus selbst und kein Mensch Abhilfe schaffen kann. Er, der große Menschenhirt, wird seine in verschiedene Richtungen zerstreute Herde letztendlich sammeln – auch dies ein alttestamentliches Bild (v. a. Hes 34,11f.), das bereits von den neutestamentlichen Autoren auf Christus übertragen wird (Mt 18,13–14; Joh 10,1–5 u. ö.). 10 Vgl. u. a.: Martin Wallraff, Christus verus sol. Sonnenverehrung und Christentum in der Spätantike, Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsband, Münster 2001, 32.
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Kommentare zu den Liedern
Str. 4 stellt klar den außenwirksamen, missionarischen Impetus des Liedes heraus: Das Reich Gottes (hier: Himmelreich) soll sich unter den Völkern ausbreiten. Es möge dort auf offene Türen und nicht auf Widerstände (List und Macht; so auch in Luthers Ein feste Burg, EG 362,1) stoßen. Die abschließende Bitte schaffe Licht in dunkler Nacht greift die Licht-Metaphorik der 1. Strophe auf, ist aber sehr allgemein formuliert und bietet daher Raum, von den Singenden auf die dunkle Nacht ihrer jeweiligen Zeit hin gesungen zu werden. Str. 5 ist eine Fürbitte für die Boten, die Verkünder des Reiches Gottes (wozu jeder Christ durch die Taufe befähigt und bestellt ist): Sie sollen vierfach gestärkt werden durch Kraft, Mut, Glaubenshoffnung und Liebesglut. Die letzten beiden Komposita lassen an die paulinische Trias von „Glaube, Hoffnung, Liebe“ (1. Kor 13,13) denken, sodass die AÖL sie entsprechend auflöst (EG 262,5). – Die zweite Strophenhälfte kombiniert auf wunderbare Weise Motive aus Psalm 126 (Tränensaat) mit dem Bild vom Fruchtbringen in Johannes 15,4–8. Die Mühen und das Leid der Boten werden nicht beschönigt, jedoch in eine Hoffnungsperspektive gestellt, nämlich die aus der Tränensaat hervorgehenden Früchte. – Die ö-Fassung formuliert auch hier um und ersetzt die Frucht der Gnad durch die näher an Psalm 126 orientierte reiche Frucht. Str. 6 schließt den Kreis zur ersten Strophe: Wenn die Sonne der Gerechtigkeit aufgeht, wird auch ihre Herrlichkeit für uns sichtbar; beides soll zu unsrer / dieser Zeit (zumindest anfanghaft) geschehen. Das Sehen der Herrlichkeit führt auf Seiten der Menschen, soweit es in ihrer kleinen Kraft steht, zum Handeln bzw. zu einer bestimmten Haltung: gute Ritterschaft zu üben. Diese Formulierung ist 1. Timotheus 1,18 der Lutherbibel (bis zur Revision 1984!) entnommen. Auf den ersten Blick mag dieses Bild archaisch wirken; allerdings dürfte jedem, der die ‚Ritter der Tafelrunde‘ o. Ä. kennt, vor Augen stehen, welche Ideale und Verhaltensweisen mit gute[r] Ritterschaft verbunden sind. Hierzu gehören neben Mut und Treue auch der Einsatz für Schwache und Benachteiligte, Streben nach Gerechtigkeit usw. – An dieser Stelle sah man ökumenischen Änderungsbedarf; für Singende anderer Konfessionen sprang der Bezug zu 1. Timotheus 1 nicht sofort ins Ohr, da in anderen Bibelübersetzungen (und in Luther 1984) in V. 18 meist von Kampf statt von Ritterschaft die Rede ist. In den 1970er Jahren war man ‚friedensbewegt‘, daher änderte man Z. 3f in Anlehnung an Matthäus 5,9 entsprechend ab (= EG 262,6). Str. 7 schließt die bisherigen Bittstrophen mit einem an den Höchsten gerichteten Lobpreis ab. Es ist keine klassische Doxologie („Ehre sei dem Vater . . .“), doch greift sie die Trinität passend zu einem wichtigen Inhalt des Liedes auf, nämlich als Vorbild und Grund der Einheit unter den Christen: So, wie Gott drei in ein, dreifaltig-einer ist, so lässt er auch uns eines sein – und zwar in ihm. Er ist letztendlich der Garant der Einheit und Einheitspunkt aller (jetzt noch) Getrennten. Dieser theologisch dichte Gedanke ist in einem syntaktisch komplizierten Relativsatz ausgedrückt; das mag einer der Gründe gewesen sein, weshalb man sich in der ö-Fassung EG 262 für eine andere Schlussstrophe entschied. Die Vorlage für 262,7 fand sich in dem oben genannten Seyd gegrüßt zu tausendmahl von Christian David, also in einem der Lieder, aus denen sich Riethmüllers Zusam-
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menstellung ohnehin speist. Hierbei handelt es sich allerdings nicht um eine Doxologie, sondern um eine weitere imperativische Bitt-Strophe (Lass uns . . .). 262,7 ist auch nicht an den dreieinen Höchsten, sondern an Jesus Christ gerichtet. Während EG 263 nur in Bildern spricht, löst EG 262 also eindeutig auf, wer die zu Beginn angerufene Sonne der Gerechtigkeit ist. Entsprechend wird die Einheit nun anders begründet: nicht mit Verweis auf die Trinität, sondern mit Bezug auf Christi Eins-Sein mit dem Vater (Joh 10,13; 17,21), die ‚Vorbild‘ für die (noch ausstehende) Einheit der Christen untereinander ist. Auch die folgenden beiden Zeilen sind johanneisch geprägt: Der jesuanische Imperativ aus Johannes 15,4, bleibt in mir, wird als Bitte um die bleibende Gemeinschaft mit und in Christus formuliert. Diese Strophe schließt den Bogen zu Str. 3: Christus ist derjenige, der die Einheit der Christen untereinander und mit ihm letztlich schenkt. Riethmüllers Sonne der Gerechtigkeit wurde 1950 ins EKG aufgenommen; etwa zeitgleich begann auch die Rezeption in katholischen Liederbüchern. In der Schweiz war es bereits seit 1938 bekannt, sodass die AÖL beschied, es in die „Gemeinsamen Kirchenlieder“ von 1973 aufzunehmen – allerdings in einer überarbeiteten Fassung (= EG 262), die dann auch ins 1975 erschienene katholische Einheitsgesangbuch „Gotteslob“ (und dessen Neubearbeitung 2013) aufgenommen wurde. Im evangelischen Bereich wollte man auf die Originalfassung Riethmüllers allerdings nicht verzichten und hat beide Versionen ins EG aufgenommen. Sonne der Gerechtigkeit ist also in verschiedenen Fassungen in Gebrauch, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und wird in der Schweiz auf eine andere Melodie (Z I,1176 / DKL III/1.3 Eg55) gesungen. Somit ist die Rezeptionsgeschichte des Liedes selbst ein Beispiel dafür, dass Einheit auch Verschiedenheit aushält und nicht Gleichheit bedeuten muss, sondern dass Ökumene den eigenen, lieb gewonnenen Traditionen Raum bietet und ihnen ggf. – wie im Falle dieses Liedes – eine ö-Variante zur Seite stellt. Als Eröffnungslied der Rubrik „Ökumene“ ist es sehr geeignet. ANDREA ACKERMANN Es ist eine seltene und glückliche Fügung, wenn eine Melodie rund vier- bis fünfhundert Jahre nach ihrem Entstehen eine so enge Symbiose mit einem Text eingeht, dass man sich den einen ohne die andere kaum mehr vorstellen kann. Zugleich ist das Lied ein Beispiel dafür, welche Früchte hymnologische Forschung für die Praxis geistlichen Singens hervorbringen kann, denn ohne Johannes Zahns Melodienedition hätte Otto Riethmüller diese Melodie wohl nie gefunden.11 Dass er nach der elaborierten Textkomposition (s. o.) auch noch die geeigneten Töne gefunden hat, die die Botschaft des Liedes so passend und mitreißend transportieren, ist ein genialischer Glücksgriff. Vielleicht war es aber 11 Der Fall zeigt auch den Vorteil von Zahns Anordnung nach Strophenformen gegenüber einer quellenorientierten Gliederung, wie sie DKL verfolgte. Außer bei Zahn war die Melodie in drei weiteren Melodiesammlungen des 19. Jh. enthalten: 1848 bei Gottlieb von Tucher in originalen Notenwerten sowie rhythmisch egalisiert bei Kocher (1855) und Lützel (1859), vgl. die Literaturangaben oben.
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Kommentare zu den Liedern
auch schlichtweg die einzige passende Melodie, denn bei Zahn steht unter dem Versmaß „Trochäisch-jambisch 7.7.7.7.4“ nur diese eine. Die Melodie geht auf ein weltliches Bettlerlied zurück, das mindestens seit dem 15. Jh. verbreitet war, wahrscheinlich aber noch älter ist.12 Gedruckt wurde es zum ersten Mal als fünfstimmiger polyphoner Satz Jobst vom Brandts (1517–1570) im fünften Teil von Georg Forsters Sammlung „Schöner fröhlicher frischer alter und neuer deutscher Liedlein“ (Nürnberg 1556). Die Melodie ist dort als Kanon zwischen Sopran- und Tenorstimme angelegt. Wie die Abbildung der Tenorstimme zeigt,13 sind die einzelnen Liedzeilen durch Pausen getrennt und werden teilweise wiederholt. In dem Druck ist nur die Strophe Der reich’ Mann war geritten aus unterlegt, die in handschriftlichen Quellen als zweite Strophe des Liedes Wöll wir aber heben an erscheint.14 Wir wissen nicht, welche Form die weltliche Melodie ursprünglich genau hatte; auch ist zu vermuten, dass verschiedene Varianten im Umlauf waren; doch gibt es Elemente der Vorlage, die auch in unserem Kirchenlied noch spürbar sind. Das ist zum Einen der viersilbige Kehrreim („das heijaho“ bzw. Riethmüllers Zusatz Erbarm dich Herr) in allen Strophen, zum Anderen die Verdoppelung des Rezitationstempos in der zweiten Strophenhälfte. Gerade dieser Wechsel von der Halbe- zur Vierteldeklamation sorgt bei jedem Singen des Liedes heute für einen kleinen Überraschungsmoment und damit (hoffentlich) zu erhöhter Aufmerksamkeit. Der Musiktheoretiker Johannes Tinctoris (um 1435–ca.1511) schreibt zu einem sol12 Die Angabe „Böhmen 1467“ im EG ist gegenstandslos, vgl. DKL III/1/3, Textbd., 123f. (Melodie Eg228). 13 Abdruck einer Seite aus dem Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek, Signatur 4 Mus.pr. 99#Beibd.4, mit freundlicher Erlaubnis der Bibliothek. 14 Böhme, 127–130 (Nr. 46).
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chen erwünschten und bewusst einzusetzenden Prinzip in Anlehnung an die Rhetorik „varietas delectat“ (Abwechslung erfreut). Wenn im EG als erste geistliche Verwendung der Weise das Gesangbuch der Böhmischen Brüder von 1566 genannt ist, so bedarf diese Angabe einer Differenzierung: Sie bezieht sich auf den ersten Abdruck in einem deutschsprachigen Gesangbuch; bereits fünf Jahre früher war sie jedoch in dem tschechischen Brüdergesangbuch „Piesnì Chval Bozskych“ (Leitmeritz [= Litom¾mice] 1561) enthalten. Und auch das war streng genommen nicht der erste geistliche Gebrauch: Schon Heinrich Isaac (um 1450–1517) legte in seiner „Missa carminum“ die Melodie dem Credo-Satz zugrunde; sie erklingt dort am Anfang der Altstimme auf den Text „Patrem omnipotentem“.15 Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf die Umgestaltung durch die Böhmischen Brüder zu werfen, die übrigens, abgesehen von der Transposition von F nach D, exakt der Lesart im EG entspricht. Im Gegensatz zur weltlichen Vorlage benutzt der Verfasser des Textes Mensch, erheb dein Herz zu Gott, Centurio Sirutschko, ein trochäisches Versmaß. Die Melodiezeilen beginnen also nicht mehr wie beim Bettlerlied auftaktig, sondern auf betonter Taktzeit. Die betonten Versenden bleiben dagegen erhalten. Und wieder einmal zeigt sich, dass die Versform (mit den Endreimen aabbx) auch die musikalische Form bestimmt: Die Ähnlichkeit und damit Zusammengehörigkeit jeweils der beiden Zeilen 1 und 2 (a) bzw. 3 und 4 (b) ist ebenso offenkundig wie die Verschiedenartigkeit der beiden Reimpaare. Bemerkenswert ist ferner die Abkehr von der syllabischen Deklamation in der ersten und zweiten Zeile; auch dies ein subtiler aber wirkungsvoller Eingriff in die vorgegebene Melodie, wo der Eingangsvers streng syllabisch gesungen wurde und das kleine Melisma in Zeile 2 auf die erste betonte Silbe fiel.16 Strukturell entspricht die Melodie zunächst der sogenannten authentischen FTonalität:17 Oktavambitus über dem Grundton, Betonung der Dreiklangstöne, z. B. als Zeilenanfangs- und -endtöne, und auch die Hervorhebung der Sexte h passt zu diesem Schema. Gleich der Anfang erinnert an die typischen „F-Melodien“ Mit Freuden zart zu dieser Fahrt (EG 108) oder, damit verwandt, Mein ganzes Herz erhebet dich (GL2 143, RG 92). Dann jedoch erfährt die Gestalt eine Erweiterung, die heutigen Hörern und Sängern möglicherweise banal und peripher erscheint, in der Zeit, als die Melodie in die Gesangbücher aufgenommen wurde, aber durchaus als Besonderheit wahrgenommen wurde: In der vorletzten Zeile erklingt die Untersekunde, der sogenannte Leitton zum Grundton, gleichzeitig schließt diese Zeile auf der zweiten Stufe e. Und in der Tat, wenn man bewusst darauf achtet, wirkt diese Ausweitung nach unten als Gegenpol zur hohen Eingangszeile, und das cis fällt in den verschiedenen Strophen meist auf bedeutsame Textsilben. HELMUT LAUTERWASSER
15 Heinrich Isaac, Missa carminum, hg.v. Reinhold Heyden, Wolfenbüttel/Berlin 1930 (= Das Chorwerk, Bd. 7). 16 Vgl. hierzu wiederum die Abbildung. 17 Vgl. hierzu z. B. DKL III/1/3, Textbd., 97 (zu Melodie Eg152).
[21] 60 Kommentare zu den Liedern Kommentare zu den Liedern
286 Singt, singt dem Herren neue Lieder 286 Singt, singt dem Herren neue Lieder
EG 286
RG 55
EM 8
Text Verfasser Matthias Jorissen Entstehung 1793 Vorlage Psalm 98 Quelle Neue Bereimung der Psalmen (M. Jorissen), Wesel 1798 (DKL 179806) Überschrift Psalm 98 Strophenbau A9/4a- A8/4b, A9/4a- A8/4b, A9/4c- A8/4d A9/4c- A8/4d vgl. Frank 8.37 Abweichungen 1,1 Singt, singt Jehova;
2,6 Gottes heil erfreut * RG: 1,7 frohlocket ihm mit Dank und Freuden; 1,8 die ihr durch ihn erlöset seid; 2,6 Gottes Heil erfreut; nach 3: 4. Preist ihn, ihr Länder und ihr Meer anstelle von 4. Das Weltmeer brause aller Enden Verbindung TM wie EG
Melodie s. Nun saget Dank und lobt den Herren (EG 294) Literatur HEKG (Nr. 186) I/2,306; III/2, 25f; Sb, 289; HEG II, 170–172 ** ThustB, 260 ** Schlunk (1951) 317; NSKA (1978) 25, Nr. 124 ** EGLIN, Artur: Vom neuen Lied, NSK 1996/2, 10f * SEIBT, Ilsabe: Singt,
singt dem Herren neue Lieder, in: Arnold/ Bresgott 2011, 126f * MARTI, Andreas: Singt, singt dem Herren neue Lieder (Psalm 86), MGD 66 (2012) 102–105
„Ein neues Lied“ – eines, das in den letzten zwanzig Jahren oder in der letzten Woche entstanden ist, oder noch besser: das aus dem Moment heraus, vom Heiligen Geist gewirkt, erklingt? Eines, das die Sprache und die Klänge der Gegenwart zur Geltung bringt – oder was man dafür hält? Martin Luther hat in der Vorrede zum Babstschen Gesangbuch 1545 vom Singen im „Neuen Bund“ geschrieben, und auch wenn er dieses in einer für uns nicht mehr zulässigen Weise dem Singen Israels im „Alten Bund“ entgegensetzt, liegt doch hier der Ansatz, wie er in Psalm 98 zu finden ist: Das neue Lied ist das neue Singen in einer durch Gott – durch ihn allein – neu geschaffenen Situation. Für den Dichter des Psalms ist es wohl, ebenso wie für den Propheten im zweiten Teil des Jesajabuches, die Befreiung des Volkes Israel aus der babylonischen Gefangenschaft. Mit dieser Erfahrung verbindet sich die Hoffnung, dass Gott mit seiner Gerechtigkeit vor allen Völkern und vor der ganzen Schöpfung offenbar werde – darum der Aufruf zum Lob an Berge, Meer und Ströme. Gott kommt, und eine neue Zeit, eine neue Welt bricht an: Nicht umsonst ist Psalm 98 mit Weihnachten verbunden. Einzelne Verse stehen im Introitus, im Graduale und im Offertorium der lateinischen Liturgie für die Messe am Weihnachtstag, und die neue römische Leseordnung sieht den ganzen Psalm für diesen Gottesdienst vor.
286 Singt, singt dem Herren neue Lieder
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Als Lied der christlichen Gemeinde gesungen, setzt Psalm 98 Gottes Kommen in die Völkerwelt schon voraus, ist nicht mehr so direkt auf eine geschichtliche Situation zu beziehen und wirkt dadurch etwas allgemeiner: umfassender, aber auch weniger konkret. Jedoch erwartet auch das Lied sein endgültiges Kommen, den Anbruch seiner Herrschaft mit Gerechtigkeit und Recht, wie Str. 4 es ausdrückt. Es geht also um mehr als um einen unspezifischen Aufruf zum Gotteslob, auch wenn dieser Aufruf schon die ganze erste Hälfte des Liedes durchzieht, während er im Psalm – nach dem eröffnenden Satz – erst wieder in der zweiten Hälfte, ab V. 4, erklingt. Vom Kommen Gottes, von seinem „Reich“, einer neuen Welt, einer neuen Zeit zu sprechen, mag freilich problematisch erscheinen. Abschreckende Beispiele von Endzeitschwärmerei und Weltuntergangsfantasien gibt es genügend. Aber diese Zukunftsdimension auszublenden, kann auch nicht angehen, sonst degeneriert christlicher Glaube zu oberflächlicher Lebens-„Weisheit“, harmlosem Wellnessangebot. Es darf und muss die Rede sein von Gottes verborgener und Zukunft eröffnender Gegenwart, davon, dass er unter uns schon sein Haus gebaut hat,1 dort, wo Gerechtigkeit wächst. Es soll die Rede davon sein, dass wir aufgerufen sind, seine Spuren zu sehen2 und ihnen zu folgen, dass wir Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind am „Projekt des Reiches Gottes“.3 Solche Zukunftsausrichtung mag im Lied durch den Ausbau von Str. 2 (s. u.) vielleicht etwas weniger deutlich sein als im Psalm, aber sie ist vor allem in der vierten Strophe immer noch deutlich genug und soll entsprechend zur Geltung gebracht werden, wenn man das Lied singt. Nur so wird klar, was das „neue Lied“ ist: das Singen aus der neuen Erfahrung und aus der Hoffnung auf Gottes Zukunft. Das kann und soll durchaus mit „neuen Worten“4 und neuen Tönen geschehen, aber ebenso kann das zeitlich ‚alte‘ Lied zum ‚neuen‘ werden, ist aktuell in dem Moment seines Erklingens, wenn dieser Moment selber aus der Erfahrung und der Erwartung des Neuen lebt, das von Gott kommt. Jedenfalls steckt im Reden vom „neuen Lied“ etwas ganz Anderes als die leider allzu verbreitete oberflächliche Argumentation für unterhaltsame „moderne“ Klänge, in denen man vorgestrige Theologie verpackt. Die Autoren des Genfer Reimpsalters – erst Calvin selbst, dann Clément Marot und Théodore de Bèze – suchten gemäß der humanistischen Quellentreue eine möglichst große Nähe zum hebräischen Psalmtext. Ihr Prinzip war die „veritas hebraica“, die „vérité hébraïque“, und ihm folgten auch die späteren Überarbeiter und Übersetzer bis hin zu Matthias Jorissen mit seiner 1798 für die deutsche reformierte Gemeinde in Amsterdam publizierten Neubereimung auf die Genfer Melodien, welche zu erheblichen Teilen bis heute im EG im Gebrauch steht. 1 Claus-Peter März/ Kurt Grahl, Wenn das Brot, das wir teilen, als Rose blüht (EG HE 632; RWLR 667). 2 Jo Akepsimas/ Diethard Zils, Wir haben Gottes Spuren festgestellt (EG BEP 665, RWLR 648, Wü 656). 3 Deutschschweizerische Liturgiekommission, Das Profil des reformierten Gottesdienstes. http://www.gottesdienst-ref.ch. 4 Singt dem Herrn, alle Völker und Rassen (Hans Bernhard Meyer/ Peter Janssens).
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Kommentare zu den Liedern
Man mag sich nun noch so bemühen: Schon jede bloße Übersetzung stellt bekanntlich eine Interpretation dar, weil Wörter meist nicht ein in beiden Sprachen deckungsgleiches Bedeutungs- und Assoziationsfeld haben und auch Syntax und Wortstellung nicht genau übernommen werden können. Noch mehr gilt das für eine Bereimung, die dazu noch auf eine vorgegebene Silbenzahl, auf Akzente und Reimwörter achten muss. Zeilen und Strophen müssen oft mit zusätzlichem Material aufgefüllt werden. Bei unserem Lied fällt die ungleiche Verteilung der Psalmverse auf die Strophen auf. Die erste, dritte und vierte Strophe enthalten zwei bzw. drei Psalmverse (1–2 / 4–6 / 7–9), während die zweite nur aus dem Vers 3 gebildet und darum stark aufgefüllt ist. Zunächst wird das Heil des Psalms durch das Wort Erbarmen in eine bestimmte Richtung konkretisiert, und die Zeilen 2–4 entfalten diese Akzentverschiebung, indem sie Gottes Wirken explizit auf das menschliche Leben, auf Leiden und Zuversicht beziehen. Eine entsprechende Verschiebung gibt es schon in der ersten Strophe. Kraft und Mut sind Begriffe auf der menschlichen Ebene, die so im Psalm nicht vorkommen. Sie stellen die Auswirkung, die Ausstrahlung der auf Gott bezogenen Begriffe des Psalms und des Liedanfangs dar. Hier hat das Lied mit den Wörtern allein und sieget die monarchische, hoheitliche Seite des Gottesbildes zwar gegenüber dem Psalm noch verstärkt, sie dann aber durch die erwähnten existenzbezogenen Begriffe und ihre Entfaltung in den Zeilen 5 und 6 wieder aufgewogen. Einen deutlichen Akzent setzt die gegenüber dem Psalm zusätzliche Zeile 7 dieser Strophe: Gott will, dass sie ein Eden werde. Die Zukunftshoffnung ist dadurch explizit auf diese Erde bezogen; Eden als Sprachsymbol für einen paradiesischen, vollkommenen Zustand benennt nicht ein unbestimmtes Jenseits, sondern lässt sich – durchaus im Sinne vieler alttestamentlicher Texte – diesseitig verstehen. Die letzte Zeile von Str. 2 bildet dann eine Brücke zur dritten Strophe, welche recht eng dem Psalmtext folgt, mit einer freien Fortführung von V. 6 in den letzten beiden Zeilen. Die vierte Strophe endlich bringt in ihrer letzten Zeile nochmals eine Texterweiterung, die strukturell auf die Akzentuierungen in der ersten und zweiten Strophe verweist, indem sie nämlich die Auswirkung von Gottes Handeln auf der irdischen, menschlichen Ebene benennt: des sich die Unschuld ewig freut. ANDREAS MARTI
314 Jesus zieht in Jerusalem ein
Kommentare zu den Liedern
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314 Jesus zieht in Jerusalem ein
EG 314ö
314 Jesus zieht in Jerusalem ein
CG 638
Text Verfasser Gottfried Neubert Entstehung 1968 Vorlage Mt 21,1–11 Quelle 111 Kinderlieder zur Bibel. Neue Lieder für Schule, Kirche und Haus (hg. Gerd Watkinson), Lahr/Freiburg i. Br. 1968 Überschrift Unter dem Text: „Hosianna“ auch gruppenweise im Wechsel singen! (I/II) Strophenbau rhythmi-
sierte Prosa mit Hosanna-Akklamation Abweichungen CG: Z. 1 und Strn. werden einem Vorsänger zugeordnet; 6,3 Kommt und lasst uns bitten: „Zieh, Herr Jesu, bei uns ein“; 6,4–9 Komm, Herr Jesu Verbindung TM wie EG
Melodie Incipit 5_3_5_43 212_3_ Verfasser Gottfried Neubert Entstehung s. o. Quelle s. o. Ambitus G: 8; Z: 5256b6b7b6b6b8 Abwei-
chung Q, CG: 2/2-Takt Verbindung MT wie EG
Literatur HEG II, 225f ** ThustB, 279 ** NSKA (1971ff) 20, Nr. 98 ** HARZ, Frieder: Mit Kindern singen. Zugänge und Anregungen
zu Liedern aus dem Evangelischen Gesangbuch, Nürnberg/Bayreuth 1995, 84
Ursprünglich als „Kinderlied zur Bibel“ beabsichtigt, findet sich dieses Lied nun im EG als allgemeines „biblisches Erzähllied“, also für alle Generationen bestimmt. Die „responsoriale“ Struktur folgt einem Jahrtausende alten Typus: Eine(r) rezitiert eine Begebenheit, Zuhörende reagieren – per Akklamation („Zuruf“) – gruppenweise oder alle zusammen. Das lateinische Verb respondere kann „antworten“, „zusagen“, aber auch „widersprechen“ bedeuten – in jedem Fall: „Stellung nehmen“. So haben es Kantoren aus der Synagoge in den christlichen Kultgesang seit der Alten Kirche eingebracht. Die Strophenzeilen sind bewusst in erzählender Prosa, doch so gleich gestaltet, dass sie sich auf ein und dieselbe Melodie singen lassen. Die Akklamationen Hosianna und Benedictus sollen wohl wirklich als Antwortrufe der Gemeinde auf den Vorsänger ausgeführt werden. Vorgetragen wird die Geschichte vom Einzug Jesu in Jerusalem als Kurzfassung in sechs Strophen, mit jeweils nur einer Teilaussage. Jede wiederholt zunächst die Überschrift: Jesus zieht in Jerusalem ein. Schon diese Nachricht provoziert den Ausruf: Hosianna! –„Hilf uns, Herr!“ – eine Bitte, die zum Jubelruf wurde: „Endlich – der Retter naht!“ Es folgt dann jeweils eine Zeile biblischer Bericht, zweimal erzählend (Str. 1 und 5), dreimal als Aufruf zur kognitiven (Str. 2) oder aktiven (Str. 3 und 4) Teilnahme am Geschehen. Die
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Kommentare zu den Liedern
Schlussstrophe zieht dann hinter der Szene gleichsam einen Schleier beiseite und enthüllt das Dort und Damals aktuell in unserm Hier und Heute. Die Bitte aus dem hebräischen Psalter, „Hosianna!“ (O HERR, hilf! O HERR, lass wohl gelingen, Ps 118,25), manifestiert sich am Ende als adventliche Bitte: Komm, Herr Jesu, auch zu uns! In jeder Strophe erklingt dieser Hosianna-Ruf siebenmal, insgesamt also zweiundvierzigmal! Er fehlt in den vier Evangelien nur bei Lukas. Die Fortsetzung Gelobt sei, der da kommt im Namen des HERRN! (Ps 118,26) zitiert auch Lukas. Die Schlussstrophe unseres Liedes formt den Lobpreis des nahenden Messias um zur Bitte um sein Kommen auch zu uns und lässt diese Bitte die Stelle des Hosianna-Rufes einnehmen. Beide begegnen uns ja auch in der Abendmahlsliturgie, in der Liturgik als „Hosanna“ und „Benedictus“ bezeichnet. Beide haben im liturgischen Kontext zweifachen Charakter: das Hosanna1 als Hilfe- und Jubelruf, das Benedictus als Lobpreis der Ankunft des Erwarteten und Bitte um sein baldiges Kommen. (Das hat eine Parallele im Doppelsinn des Kyrie eleison, vgl. Mt 9,27.) Verfolgen wir jetzt noch einmal den Gedankengang des Liedes: 1. Alle Leute fangen auf der Straße an zu schrein – Was sie schreien, das wissen die Zuhörenden schon, singen es nun selbst: Hosianna! 2. Seht, er kommt geritten, auf dem Esel sitzt der Herr – Unser Herr kommt auf uns zu, anders als erwartet – seht nur! 3. Kommt und legt ihm Zweige von den Bäumen auf den Weg! – Jubelt nicht nur, tut was – wie die damals! 4. Kommt und breitet Kleider auf der Straße vor ihm aus! – Eine Art Teppich gehört ja auch zur Geschichte! 5. Alle Leute rufen laut und loben Gott den Herrn – Rufen und Loben dürfen bei aller Aktion nicht aufhören! 6. Kommt und lasst uns bitten, statt das „Kreuzige“ zu schrein! – Wenn der Jubel am Karfreitag ins Gegenteil umschlagen wird, dann bitten wir unsrerseits um Jesu Ankunft bei uns.
Gottfried Neubert (1926–1983) schuf als Kantor in Frankfurt/M. nicht nur diesen Text, sondern auch seine D-Dur-Melodie, beides zunächst für seine eigene Praxis. Der ursprünglichen Intention als Kinderlied mag die Dreitonstruktur der Melodie (a fis a h a) geschuldet sein. Auch die „sprechenden“ Tonrepetitionen (Z. 2) sind bei Kinder- und Jugendliedern des Öfteren anzutreffen. Zu Anfang schöpft die Melodie aber den ganzen Quintraum bis zum Grundton aus, überhöht ihn bis zur Sexte (h) und verweilt auf der Quinte a. Die folgende Zeile mit den variierenden Ansage-Ausrufen setzt das Ausrufezeichen wiederum auf der Quinte. Hierauf entfaltet sich der Hosianna-Ruf sechsfach in zwei Dreiergruppen, wobei jedes dritte Hosianna das in der Höh vom Schluss der synoptischen Berichte einbezieht. Musikalisch werden die Hosianna-Rufe jeweils mit zwei vom oberen Grundton (Spitzenton!) absteigenden (Ruf)-Terzen 1 „Hosianna“ leitet sich von dem hebräischen Urwort her. „Osanna“ ist die griechische bzw. lateinische Version.
314 Jesus zieht in Jerusalem ein
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(d’ h a fis) sangbar gemacht; nur der letzte Ruf fällt bis zum Grundton ab und endet da unten (etwas paradox!) auf in der Höh! Wie sollen die Refrains aufgeteilt werden? Das EG schlägt vor, nur die zweite Strophenhälfte als Refrain zu praktizieren, und zwar abwechselnd in zwei Gruppen, jedes dritte Mal mit beiden Gruppen zusammen. Man könnte auch dafür eintreten, schon den ersten „spontanen“ Hosianna-Ruf als „Zwischenruf“ (von beiden Gruppen) zu singen. JOACHIM STALMANN
Kommentare zu den Liedern [21] 66 Kommentare zu den Liedern
323 Man lobt dich in der Stille 323 Man lobt dich in der Stille
Text Verfasser Johann Rist Vorlage Ich will den Herren loben, Sein Lob soll immerdar (FT II,231, Str. 10–12; DKL 165105) Quellen (a) Frommer und Gottseliger Christen Alltägliche Hauszmusik (Johann Rist), Lüneburg 1654 (Str. 4–6; Str. 1–3: s. u. Abweichungen; DKL 165404)1 * (b) Geistliche Lieder und Lobgesänge. [o. O.] 1695 (Str. 4–6 als selbstständiges Lied, vgl. Kommentar) Überschrift (a) LXIV. Hertzliches Lob= und Danklied, In welchem Gott von gantzer Seele wird gepriesen, daß Er unser Gebeht so gnädig hat erhöret. Welches kan gesungen werden auff die Melodei des bekanten Dankliedes: Nun lob’, Mein’ Seel, den HErren, u.s.w.
Ausgabe FT II,269 Strophenbau A7/3aA8/4b A7/3a- A8/4b, A7/3c- A8/4d A7/3c- A8/4d, A7/3e- A8/4f A7/3eA8/4f Frank 12.2 Abweichungen (a) vor 1: 1. ICh wil den HErren loben; 2. Als Ich den HErren suchte; 3. Der HErr hat nicht verschmähet; 1,4 Für dir, du starker Zebaoth; 1,10 für jedermann; 2,2 jauchzen schnell; 2,3 Welch’ unaufhörlich; 2,10 Daß Ich an Ihm stets kleb’; 2,11 Und niemahln von Ihm scheide; 2,12 So lang ich leb’ und schweb’ Verbindung TM (a) Michael Jacobi (Z V,8253), alternativ (s. o. Überschrift): wie EG
Melodie s. Nun lob, mein Seel, den Herren (EG 289) Literatur HEKG (Nr. 229) III/2, 143f; Sb, 251–353; HEG II, 257–259 ** ThustB, 286 ** KLL (1878–1886) II, 47; Nelle (1918) Nr. 7; NelleG (41962) 128; RößlerL (22001) 491
** KOSKI, Suvi-Päivi: Der Buchhändler Andreas Luppius und die von ihm verlegten Gesangbücher, JLH 35 (1994/1995) 216– 232 (bes. 229)
Der in die lutherische Orthodoxie gehörende Paul-Gerhardt-Zeitgenosse Johann Rist2 zählt zu den produktivsten Dichtern seiner Zeit. Sechs seiner über sechshundert Lieder finden sich im Evangelischen Gesangbuch. Das Lied Man lobt dich in der Stille hat indes – wie auch sein im EG auf Brich an, du schönes Morgenlicht3 reduziertes Lied Ermuntre dich, mein schwacher Geist –4 nur in gekürzter Fassung die Jahrhunderte überdauert. Kürzungen bei Rist werden allerdings ausdrücklich gelobt. Wilhelm Nelle hebt hervor: „Die Krone seiner Digitalisierte Quelle unter: http://digital-collections.de. Vgl. HEG II, 257–259. Nr. 33. Vgl. Johann Anselm Steiger, Carmina spiritualia Ristiana. Bibliographie sämtlicher geistlicher Lieder Johann Rists (1606–1667), JLH 52 (2013) 171–204; Hermann Kurzke, Ermuntre dich, mein schwacher Geist (Johann Rist 1641). Ein erbauliches Lied und seine Rezeption, in: Ders., Kirchenlied und Kultur, Tübingen 2010, 117–137.
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323 Man lobt dich in der Stille
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Gesänge scheint uns [. . .] ‚Man lobt dich in der Stille‘ [zu sein], ein Loblied so festlichen Tones, wie wir von Paul Gerhardt keines haben. Aber dies Lied ist erst etwas Vollkommenes, seit man seine drei ersten Strophen der Vergessenheit hat verfallen lassen und sich auf die drei letzten beschränkt. Das ist typisch für Rists Kirchenpoesie überhaupt. Ihre Bedeutung haben diese Lieder erst, wenn sie auf etwa die Hälfte oder ein Drittel ihrer ursprünglichen Ausdehnung gekürzt sind.“5 Bereits 1695 wird Rists Lied in der von Nelle beschriebenen Kürzung gedruckt!6 Es lässt sich mit einem Buchtitel von Erhard Eppler als ein „komplettes Stückwerk“7 bezeichnen. Im EG wird die traditionelle Kurzfassung des ursprünglich sechsstrophigen Liedes Ich will den Herren loben,/ sein herrlichs Lob soll immerdar8 weitertradiert. Dieses Lied ist aber seinerseits schon die Umarbeitung eines zwölfstrophigen Ristschen Liedes mit demselben Titel.9 Bereits im zwölfstrophigen Lied beginnt die zehnte Strophe mit Man lobt dich in der Stille,/ Du Sions Schutz und Heil. Das sechsstrophige Lied hebt als Bereimung von Psalm 34,2–5 an, um sich dann aber mit der 3. Strophe von der biblischen Vorlage zu entfernen. Die ursprüngliche Str. 3 enthält einen allgemeinen Dank für die Zuwendung Gottes zu den Elenden und Waisen.10 Die ursprünglich 4. Strophe bildet nun den heutigen Liedanfang in fast wörtlicher Übertragung von Psalm 65,2. Die drei Strophen des Liedes beziehen sich eng auf einige Psalmen, sie bilden jedoch kein Psalmlied im klassischen Sinn. Alle Strophen beginnen gleichermaßen mit einem bekenntnisartigen Lobpreis und der Bekundung der Freude an Gott; im jeweils zweiten Teil der Strophe wird dieses Bekenntnis angeeignet und verinnerlicht. Den vielfältig erfahrenen Beweisen der Nähe und Hilfe Gottes entspricht eine differenzierte persönliche Antwort. Alle drei Strophen bewegen sich in intimer Zwiesprache des singenden und betenden Ich mit Gott. Die Zahl der Pronomina der 1. Person Singular steigert sich von Strophe zu Strophe.11 Dabei überwiegt die direkte Anrede Gottes die Rede über Gott (Str. 2,4–8). Rist repräsentiert damit ein bis heute weit verbreitetes Verständnis von „Erbauung“ als „individuelle Erbauung des inneren Menschen [. . .], der zu einer Wohnstätte Christi werden soll [. . .] (Sie)
5 NelleG, 128. 6 In: Geistliche Lieder und Lobgesänge, ohne Druckort (Halle?) 1695, vgl. Koski, 229. In den wichtigen Gesangbüchern des 20. Jh. (DEG 247; Ein neues Lied [1932] 229; EKG 229) steht das Lied in eben dieser Gestalt. In Württemberg rückte es überhaupt erst mit dem EKG ins Blickfeld. 7 Vgl. Erhard Eppler, Komplettes Stückwerk. Erfahrungen aus fünfzig Jahren Politik, Frankfurt/M. 1996. 8 FT II,269, erstmals erschienen 1654 in der Sammlung „Frommer und gottseliger Christen alltägliche Hausmusik oder musikalische Andachten“. 9 FT II,231; vgl. Steiger, Carmina, 182. Dieses Lied findet sich erstmals in der 1651 erschienen Sammlung „Neuer himmlischer Lieder sonderbares Buch“. 10 Vgl. etwa Ps 146,5–9. 11 Str. 1: einmal mein; Str. 2: zweimal mir, einmal mein, einmal ich; Str. 3: zweimal mir, zweimal ich, einmal mein.
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Kommentare zu den Liedern
zielt auf die innerliche Aneignung des Glaubens, auf eine religiöse Kultur des Herzens und eine Belehrung des Verstandes.“12 Entgegen der Annahme, die Formulierung Man lobt dich in der Stille beziehe sich auf den Kreis der Stillen im Lande,13 ist davon auszugehen, dass hier eine direkte Bereimung von Psalm 65,2 vorliegt. Dieser Textzusammenhang erklärt auch die ungewöhnliche Formulierung hocherhabner Zionsgott. Die Nähe zum Hebräischen ist auffällig.14 Über den markanten Strophenbeginn hinaus findet sich ein Netz enger Bezüge zum Psalter. In Str. 1 klingt neben Psalm 65,2 – Gott, man lobt dich in der Stille zu Zion – und paraphrasierend Psalm 34,2f.7 – Ich will den HERRN loben allezeit; sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein [. . .] Als einer im Elend rief, hörte der HERR und half ihm aus allen seinen Nöten – auch Psalm 73,26.28 an: Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil. Gott ist der Frommen Zuversicht – dieses in den Psalmen und gesamtbiblisch häufig belegte Motiv taucht explizit in Psalm 65,6 auf, dort allerdings universal verstanden über den Kreis der Frommen hinaus. Gott lässt die Seinen in Trübsal und Beschwerden nicht.15 Gott stündlich zu ehren, könnte noch einmal an Psalm 34,2 erinnern, das dem Beginn des sechsstrophigen Liedes zugrunde lag. Die persönliche Aneignung mündet in die Selbstaufforderung, unermüdlich Gott vor anderen zu loben. Auch in Str. 2 bedient sich Rist breit gestreuter Psalmenanklänge: Psalm 40,17 (vgl. 70,5): Lass deiner sich freuen und fröhlich sein [. . .] und die dein Heil lieben, lass allewege sagen: Der HERR sei hoch gelobt. Der Ausruf Gelobt sei der Gott Israel findet sich fast wörtlich bei Psalm 41,14; 72,18; er verweist außerdem auf das Benedictus, das Canticum des Morgengebets (Lk 1,68).16 – Gott tut große Wunder und erweist, was für den Beter nütz(lich) und gut ist.17 Noch einmal rekurriert Rist damit auf Psalm 73,28a: das ist meine Freude, dass ich mich zu Gott halte und meine Zuversicht setze auf Gott, den HERRN, dass ich verkündige all dein Tun und verbindet die Formulierung mit Römer 8,38f. Nun mündet die persönliche Aneignung in die Freude darüber, an Gott zu hangen (Str. 2)18 und ungeschieden von Gott zu sein. Im Beginn von Str. 3 klingt Psalm 8,2 an: Gott gedenkt der Schwachen und erzeiget Gnad. Die Frage, wie Gott seine Wohltaten vergolten werden können, entnimmt Rist Psalm 116,12. In der applikativen 2. Hälfte wird das im Psalm
12 Kurzke, Ermuntre dich, 117. Vgl. aber die soziale Dimension des Begriffs „Erbauung“ bei Paulus selbst, 1. Kor 14. 13 So HEKG III/2, 143; dagegen FT II,269 und die Belegstellenangabe im EG. 14 Str. 1: Zionsgott, Herre Zebaoth; Str. 2: der Gott Israels. 15 Vgl. eine fast gleichklingende Wendung in EG 247,1. 16 Vgl. ferner 2. Kor 1,3; Eph 1,3; 1. Petr 1,3. 17 Vgl. EG 365,4; 369,4. 18 Vgl. EG 112,6; 295,3.
323 Man lobt dich in der Stille
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V. 13 unmittelbar folgende Gelübde übernommen, den Kelch des Heils zu erheben und Gott zeitlich und in Ewigkeit zu preisen. Es ist psychologisch bemerkenswert, dass zwischen der Frage nun, wie vergelt ich’s dir? und dem Gelübde die Bitte um Gottes bleibende Zuneigung eingeschoben wird. Alle menschliche Absichtserklärung bedarf der Stärkung durch Gottes Zuneigung. Mehrere Motive aus Psalm 116,12–14.17–18 schwingen an dieser Stelle mit. Die persönliche Aneignung ist hier die abschließende Aufforderung zum Lobpreis, in der Psalm 138,2b und v. a. m. mitschwingen. So innig die individuelle Zwiesprache des frommen Ich mit Gott auch ist – immer wieder klingt der größere Zusammenhang mit anderen Menschen an, die ebenfalls beglückende Erfahrungen der Nähe und Hilfe Gottes gemacht haben. Mit diesen weiß sich das fromme Ich in einer Erfahrungs-, Schicksalsund Glaubensgemeinschaft verbunden (vgl. Str. 1 man; der Frommen Zuversicht; lässt die Deinen nicht; Str. 2: jene, die sich freuen und unaufhörlich schreien; Str. 3: als die Schwachen kamen). In einem feinen Geflecht verknüpft Rist Gottesprädikation und Anrede als Herr mit dem schlichten Du. Dass die 3. Strophe mit Herr einsetzt und im Unterschied zu den vorangehenden Strophen Gottes Handeln an den Anfang stellt (du hast deinen Namen / sehr herrlich in der Welt gemacht), ist Bekenntnis und Intensivierung der bisherigen Gebets-Beziehung. Die ursprüngliche Melodie des mit Rist befreundeten Lüneburger Kantors Michael Jacobi19 (1618–1663) in der Lüneburger Erstveröffentlichung von 1654 findet sich bei Zahn V,8253. Die bei Jacobi vorgeschlagene Alternativemelodie Nun lob, mein Seel, den Herren verleiht Rists Worten einen weitausgreifenden Bogen, den sie sonst wohl nicht hätten. Sie ist dem Lied im EG unterlegt. ERNST-DIETRICH EGERER / BERNHARD LEUBE
19 Vgl. Hans Hattenhauer, Wie die Deutschen den Westfälischen Frieden feierten, Daphnis. Zeitschrift für Mittlere deutsche Literatur und Kultur der frühen Neuzeit (1400–1750), hg. v. Barbara Becker-Cantarino u. a., 36 (2007) H. 3–4, 532.
[21] 70 Kommentare zu den Liedern Kommentare zu den Liedern
345 Auf meinen lieben Gott 345 Auf meinen lieben Gott
EG 345(ö)
RG 674(ö)
EM 386(ö)
Text Vorlagen Str. 3: Phil 1,21 Quellen (a) Veer schoene nye Geistlike Leder [. . .] Dat Drüdde Vp mynen leuen Godt, Lübeck 15901 * (b) 766 Geistliche Psalmen/ Hymnen/ Lieder vnd Gebet, Nürnberg 1607 (DKL 160710)2 * (c) Ein schön geistlich Gesangbuch (Melchior Vulpius), Jena 1609 (DKL 160912) Überschrift (a) Dat Drüdde Ledt Jm Thone Venus du vnd dyn Kindt * (b) Ein ander schoen Geistlich Lied. Im Thon: Venus du vnd dein Kind/cc * (c) Auf meinen lieben Gott trau ich in Angst und Noth. In der Melodey und Composition, Man spricht wen Gott erfreud etc.. Ausgabe W V,659 Strophenbau A6/3a A6/3a A7/3b- A7/3b- A7/3c- A7/3c-
Frank 6.5 Abweichungen (a) Niederdeutsche Fassung, die dem EG-Text sinngemäß sehr genau entspricht * (b) 1,2 Er kann; 3,2 sterben ist; 3,6 Seel thut; 4,1 Auch mein; 4,2 so gdultig bist; 5,3 du woellest vns thun * (c) 4,2 so gdültig bist; 5,3 du wollest uns thun * RG: 4,6 in deinem Reich das Leben; 5,6 ohn Ende preisen * EM: 4,6 in deinem Reich das Leben; 5,6 ohn Ende preisen Verbindung TM (a+b) ohne N., zur Tonangabe s. u. Melodie/Vorlage * (c) Z II,2162 (deutlich erkennbar als Vorlage zu EG 345) * weitere: Z II,2163 (Chr. Demantius; DKL 162004); Z II,2165 (DKL 172712); Z II,2166 (DKL 173103)
Melodie Incipit 1_ 1_2_3b_4_ 5__ Vorlagen Kurzweilige teutsche Lieder zu dreyen Stimmen [. . .], Jacob Regnart, Nürnberg 1574 (Z II,2160; Erk-Böhme II,304) zum Text Venus, du und dein Kind * danach geistlich: Hilf Gott, wie ist so groß (DKL 157811; DKL III/2, B83) und Ach Vater unser all, der Du ins Himmels Saal (1590 in der Hs. Lüneburg, Ratsbibliothek, KN 44, V, Nr. 14; Hartmann 1960, 16) und Man spricht, wen Gott erfreut (B. Gesius; DKL 160505; Z II,2161; DKL III/4, B83A) * immer noch eine Vorlagefassung bereits zum Text Auf meinen lieben Gott bei Vulpius (DKL 160912; Z II,2162; zu DKL III/4, B83A) Quelle CANTIONAL, Oder Gesangbuch Augspurgischer Confession [. . .] (Jo-
hann Hermann Schein), Leipzig 1627 (DKL 162710) Ausgaben Z II,2164; B IV,326; Johann Hermann Schein, Cantional oder Gesangbuch Augsburgischer Konfession 1627/1645, Teil 2, hg. von Adam Adrio, Kassel u. a. 1965/1967 (= Johann Hermann Schein: Neue Ausgabe sämtlicher Werke 2), Nr. 226 Ambitus G: 7; Z: 544455 Abweichungen Q: mit 4st. Satz; Ton tiefer; C, Zeilentrennstriche statt Taktstriche; vor Z. 1 Viertelpause * RG: 4st. Satz (nach Johann Hermann Schein 1627); Taktvorzeichnung c * EM: 4st. Satz (nach Johann Hermann Schein 1627) Verbindung MT in der Q wie EG * weitere: Des Lebens kurze Zeit (Z II,2164; Stobäus 1638)
1 Digitalisat der Quelle unter: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de. Unter dem Eintrag Titeldaten wird dort die Quelle auf das Jahr 1590 datiert. 2 Digitalisat der Quelle unter: http://digital-collections.de.
345 Auf meinen lieben Gott
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Literatur HEKG (Nr. 289) I/2, 439f; III/2, 274– 276; Sb, 448f; HEG II, 250f.272f ** ThustB, 306f ** Koch (31866–1877) VIII, 375–378; KLL (1878–1886/1967) I, 52f; EEKM (1888–1895) I, 58f; Schlunk (1951) 28; Bruppacher (1953) 296f ** NIEMEYER, H. G. Emil: Über das Lied „Auf meinen lieben Gott“, MGKK 24 (1919) 132f * WEISMANN, Eberhard: Auf meinen lieben Gott, WüBll 20 (1953), 60–62 * WEISS, Ewald: Die Choralsingstunde, GuK 1955, 84f * HARTMANN, Karl Günther: Die Handschrift KN 144 der Ratsbücherei zu Lüneburg, Mf 13 (1960) 16 * FORNAÇON, Siegfried: „Venus, du und dein Kind“, JLH 6
(1961) 122 * RÖSSLER, Martin: Bibliographie der deutschen Liedpredigt, Nieuwkoop 1976, 241 * KALDEN, Reinhold: Auf meinen lieben Gott (Liedpredigt) in: Bengt Seeberg (Hg.), Singen und Sagen. Eine Sammlung von Predigten [. . .] über Lieder des Evangelischen Gesangbuches, Kassel 2000, 178–180 * WISSEMANN-GARBE, Daniela: Melodien des frühen 17. Jahrhunderts und ihr Weiterleben in den Gesangbüchern von heute, in: Wolfgang Hirschmann/ Hans-Otto Korth (Hg.), Das deutsche Kirchenlied. Bilanz und Perspektiven einer Edition, Kassel 2010, 195–197
Das Lied Auf meinen lieben Gott verfasste ein unbekannter Lieddichter in niederdeutscher Sprache. Ein Druck kann erstmals 1590 in dem Büchlein „Veer schoene nye Geistlike Leder“ nachgewiesen werden, das in der Lübecker Druckerei Balhorn hergestellt wurde. Schon einige Jahre später (1607) ist das Lied in hochdeutscher Sprache in Gesangbüchern in Wittenberg und Nürnberg zu finden. Es verbreitete sich schnell und hatte bald (1620) zusätzliche Strophen, die vor der letzten eingefügt wurden.3 Der Text ist von einem tiefen Vertrauen auf Gott getragen und erinnert in dieser Grundhaltung an die Vertrauenspsalmen. Die Strophen 1–4 sind ein individuelles Vertrauensbekenntnis zu Gott und zu Christus. Angst und Not, Trübsal und Unglück – mit diesen Worten umreißt der Sänger seine Situation in der ersten Strophe (Z. 2–5). Ob es sich hier um innere Anfechtungen oder äußere Bedrohungen handelt, gibt der Text nicht zu erkennen. Dem Dichter kommt es allein darauf an, sich mit allen Nöten Gott anzuvertrauen. Dabei bleibt Gottes Freiheit gewahrt. Er kann retten, das steht fest. Aber Menschen können ihn nicht zwingen. Darum gehört zum tiefsten Vertrauen auf Gott auch die Einsicht, dass seine Wege abgründig anders verlaufen können, als Menschen es sich wünschen. Es steht eben alls in seinen Händen. In der 2. Strophe tritt als weiterer Aspekt die eigene Sünde hinzu als eine Lebensrealität, von der Anfechtung ausgeht. Hier scheint die reformatorische Rechtfertigungsbotschaft in vertrauensvoller Aneignung hindurch. Das Gesetz offenbart die Sünde, bringt aber keine Entlastung, sondern lässt nur verzagen. Allein das Evangelium, das Bauen auf Christus, führt zum Leben. Wer in diesem Vertrauen lebt, wird auch im Tod nicht ohne Trost sein (vgl. Frage 1 des Heidelberger Katechismus). Hier schließt die dritte Strophe an und nimmt dabei wörtlich Bezug auf Philipper 1,21. Dem Sündersein des Menschen (Str. 2) korrespondiert seine 3 Vgl. hierzu: HEKG Sb, 448f.
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Kommentare zu den Liedern
Sterblichkeit, die ganz mit hineingezogen wird in das Vertrauen auf Christus. Ihm, nicht dem Tod, ergibt sich der Fromme. Niemand weiß, wann er sterben wird – heut oder morgen, plötzlich oder nach langer Bereitung, bald oder in fernerer Zukunft. Die Frage, wann und wie jemand stirbt, tritt zurück hinter der Gewissheit, mit Christus das Leben zu gewinnen. Mein Seel wird er versorgen ist ein offener Ausdruck, der Raum lässt für individuelle Bilder und positive Assoziationen. Bis hierhin ist das Lied eine meditative Bekundung des Vertrauens zu Gott und Christus, mit der ein Einzelner sich selbst und andere ermutigt. Mit der vierten Strophe wandelt sich das Lied zu einem Gebet mit der Anrede O mein Herr Jesu Christ. Der Grund des Vertrauens, das Heilswerk Christi, wird nicht als Lehre formuliert, sondern kommt in direkter Anrede, als Ausdruck einer pesonalen Beziehung zwischen dem Sänger und Christus zur Sprache: hast mir das Heil erworben, auch uns allen zugleiche. Das Heil kommt zu jedem Menschen, der sich Christus anvertraut, persönlich. Aber das ist keine individuelle Angelegenheit, die Zusage gilt der ganzen Gemeinde: „mir samt allen Gläubigen“, wie es im Kleinen Katechismus heißt. Die Schlussstrophe mit dem einleitenden und abschließenden Amen bekräftigt alles zuvor Gesagte, Erbetene, Gesungene. Der einzelne Sänger bekennt und betet zugleich für sich und die Gemeinde, der er angehört. Mit der Bitte um Geleit zu allen Zeiten ist jede heutige Gemeinde einbezogen. Am Ende des Liedes steht der Lobpreis. Im Überblick zeigen die Strophen 1–4 eine klare Gedankenführung. Mehrfach klingen zentrale Motive einer Strophe in der vorhergehenden bereits an bzw. in der folgenden nach: Vertrauen in Str. 1 und 2; Ergeben in Str. 2 und 3; mein Sterben und Christi Sterben in Str. 3 und 4. Bemerkenswert ist auch die zunehmende Konzentration auf Christus: Er ist der Heiland, der die menschliche Not, zutiefst Sünde und Tod, wenden kann. Bei der Übertragung vom Niederdeutschen ins Hochdeutsche wurden offenbar ausschließlich die Buchstaben A & O als Strophenanfänge verwendet, auch wenn es einige Textfassungen gibt, die davon abweichen. Bei Wackernagel ist eine solche Variante aus dem Jahre 1611 abgedruckt.4 In „766 Geistliche Psalmen/Hymnen/Lieder und Gebet“ (Nürnberg 1607) beginnt die vierte Strophe mit Ach mein Herr Jesu Christ. In Johann Crügers „Praxis pietatis melica“, Berlin 1653 wurde eine zusätzliche Strophe vor der letzten eingeschoben, die mit dem Buchstaben E beginnt. Durchgesetzt hat sich aber die Ordnung, dass erste und fünfte Strophe mit A und die mittleren mit O beginnen. Gerade die Zusammengehörigkeit der mittleren Strophen mit ihrer knapp entfalteten Christologie wird so unterstrichen. Die Melodie ist die Bearbeitung eines deutschen weltlichen Liedes im Stil einer Villanella (von it. villano = Bauer), komponiert von Jacob Regnart (1574) mit dem Text Venus, du und dein Kind.5 Bis zur Melodiefassung des EG sind 4 Vgl. W V,660. 5 Vgl. Z II,2160 und DKL III/2, Textbd., 99 (zu Melodie B83).
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mehrere Umbildungen nachweisbar. Die Entwicklung sei kurz skizziert: Regnarts Melodie wurde erstmals 1578 mit einem geistlichen Text (Hilf Gott, wie ist so groß) verbunden. Schon etwas variiert erscheint die Melodie 1605 im Kantional des Bartholomäus Gesius und schließlich 1609 bei Melchior Vulpius in der Fassung von Gesius mit unserem Liedtext6. Im „Cantional, Oder Gesangbuch Augspurgischer Confession“ von Johann Hermann Schein (Leipzig 1627) ist die Melodie in der uns bekannten Fassung zu finden. Aus aktueller Sicht sollen einige Hinweise zur engen Beziehung von Text und Melodie folgen. Die fünf Strophen des EG sind, was Gedankenführung und emotionalen Affekt betrifft, in den einzelnen Zeilen erkennbar parallel gedichtet. Daraus ergibt sich ein durchgehender Einklang von Text und Melodie. Der Anfang des Liedes zeigt einen markanten Unterschied zur Villanella, die gattungstypisch mit der Terz (also dem Ton g) beginnt. Die Melodiefassungen von Gesius und Vulpius beginnen zwar mit dem Grundton, haben dann aber einen Quintsprung von der zweiten zur dritten Note. Der Choral in der Fassung von Schein7 geht vom Grundton e aus. Die erste Zeile entwickelt einen Aufgang in Tonschritten bis zur Quinte h. Der Melodieverlauf könnte somit unseren Aufblick zu Gott abbilden. Die zweite Zeile führt wieder abwärts zum fis, Angst und Not (in Str. 2 verzagen und in Str. 3 Sterben) ausdrückend. Am Übergang von der vierten zur fünften Zeile fallen die drei Halbenoten auf. Diese Dehnung wirkt wie eine Beruhigung, eine mediatio. Zudem bereiten die drei Halben den höchsten Ton des Liedes vor: Die fünfte Zeile bringt mein Unglück vor Gott. Musikalisch erfolgt auch sofort die Wende, denn die Melodie geht wieder abwärts und dies in einem Dur-Dreiklang. Die letzte Zeile führt zum Grundton e zurück. Ihre Besonderheit hat sie in der Punktierung (in der Villanella-Vorlage gibt es drei punktierte Noten, in den Melodien auf dem Weg zum EG entweder keine oder zwei), die Belebung bringt und gleichzeitig auf den Schluss hinführt. Die textliche und die musikalische Conclusio steht alls in seinen Händen stimmen zusammen. Dies wird z. B. auch in der 3. Strophe deutlich: mein Seel wird er versorgen. In der letzten Strophe geraten Text und Melodie nach unserem Empfinden in eine leichte Verschiebung des Zeitmaßes, wenn es heißt: ewíglich preisen. Amen. Doch wenn wir einmal so weit sind, ewiglich Gottes Namen zu preisen, dann gibt es kein Zeitmaß mehr. JOCHEN KAISER
6 DKL III/4, B83A. 7 Vgl. DKL III/4, 195f. Allerdings gibt Z II,2163 eine Fassung von Demantius 1620 an, die auch schon diesen schrittweisen Aufgang zur Quinte kennt.
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370 Warum sollt ich mich denn grämen 370 Warum sollt ich mich denn grämen
EG 370
RG 678
EM 344
Text Verfasser Paul Gerhardt Vorlagen Hiob 1,21; Hiob 2,10 Quelle PRAXIS PIETATIS MELICA. Das ist: Vbung der Gottseligkeit [. . .] EDITIO V. (Johann Crüger), Berlin 1653 (DKL 165304) Überschrift 308. Christliches Freudenlied Ausgabe FT III,426 Strophenbau A8/4a- 3/2x1 3/2x1 6/3a- 8/4b3/2x2 3/2x2 6/3b- Abweichungen 5,3 Auch nicht * RG, EM: 2,1 Nackt und bloß kam
ich ins Leben; 2,2 da du mir, Herr, von dir; 2,3 Odem hast gegeben; 2,4 nackt und bloß werd ich; 5,4 Treu ist Gott und übt; ohne Str. 9 * Verbindung TM in der Q mit eigener Melodie (Z IV,6455a) * weitere eigene Melodien: Z IV,6455b–6480 (1666–1876), weitere Lehnmelodien Z IV,6482–6484. 6493 (1667–1790)
Melodie Incipit 1_2_ 3_.235 6_5_ Verfasser Johann Georg Ebeling Quelle PAULI GERHARDI Geistliche Andachten Bestehend in hundert und zwantzig Liedern (Johann Georg Ebeling), Berlin 1666/1667 (DKL 166603–04/ 166705; Faks hg. von Friedhelm Kemp, Bern 1975; Mikrofilm-Ausgabe: New Haven 1969) Ausgaben Z IV,6456a; Johann Georg Ebeling, Zwölf geistliche Lieder Paul Ger-
hardts für vierstimmigen gemischten Chor, zwei Violinen und Generalbaß (Konrad Ameln, Hg.), Kassel 1956 Ambitus G: 9; Z: 645844 Abweichungen mit C ; Ton höher; Z. 1 und 4, je N 8: ganze Note * RG: mit c; mit 4st. Satz (Ebeling 1666/1667) * EM: mit 4st. Satz (Klaus-Dieter Köhler 2000) Verbindung MT wie EG
Literatur HEKG (Nr. 297) I/2,449–451; III/2,294– 296; Sb 466; HEG II,79f.110–112 ** ThustB, 330f ** Bruppacher (1953) 301–303; RößlerL (22001) 457f ** SAUERGEPPERT, Waldtraut Ingeborg: Motivationen textlicher Varianten im Kirchenlied, JHL 21 (1977) 68–82 (bes. 72, 80f) * SCHÖNHERR, Albrecht: Predigt über das Lied „Warum sollt ich mich denn grämen“, in: Heinz Hoffmann (Hg.), Paul Gerhardt. Dichter – Theologe – Seelsorger. 1607– 1676, Berlin 1978, 107–112 (nachgedruckt in: Böttler, Winfried (Hg.), Paul Gerhardt in Kirche, Kultur und Lebensalltag. Beispiele für die Praxis, Berlin 2007, 133–140 * BUNNERS, Christian: „Kann uns doch kein Tod nicht töten . . .“ Paul Gerhardts
letzte Worte, MuK 59 (1989) 1–11 * GROSven: Gott und das Leid in den Liedern Paul Gerhardts, Göttingen 2001 * DEICHGRÄBER, Reinhard: Nichts nimmt mir meinen Mut. Paul Gerhardt als Meister christlicher Lebenskunst, Göttingen 2006, 115–120 * MUNTANJOHL, Felizitas: Warum sollt ich mich denn grämen. Liedpredigt, in: Dies./ Michael Heymel, Auf, auf, mein Herz, mit Freuden. Gottesdienste, Gemeindearbeit und Seelsorge mit Liedern von Paul Gerhardt, Gütersloh 2006, 173–180 * BUNNERS 42007 * LIEBIG, Elke: Johann Georg Ebeling und Paul Gerhardt: Liedkomposition im Konfessionskonflikt. Die „Geistlichen Andachten“ Berlin 1666/67, Frankfurt 2008, bes. 303f.313f.347f (Ed.)
SSE,
370 Warum sollt ich mich denn grämen
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Warum sollt ich mich denn grämen ist ein über Jahrhunderte bekanntes und beliebtes Trostlied. Nach einer Überlieferung hat sich Paul Gerhardt selbst mit diesem Lied getröstet, als er im Sterben lag; das berichtet Johann Daniel Arcularius (1650–1710) in seiner Vorrede zur Frankfurter Ausgabe der Praxis Pietatis Melica von 1693.1 Johann Sebastian Bachs doppelchörige Motette „Fürchte dich nicht, ich bin bei dir“ (BWV 228) schließt mit den letzten beiden Strophen.2 Dietrich Bonhoeffer ließ sein „Gebet in besonderer Not“, das er zu Weihnachten 1943 für seine Mitgefangenen schrieb, mit der siebten und achten Strophe dieses Liedes enden: Unverzagt und ohne Grauen . . .3 Seine Strophenform teilt das Lied mit Gerhardts Weihnachtslied EG 36 Fröhlich soll mein Herze springen. Sie besteht aus zwei metrisch identischen Hälften, bei denen jeweils zwei Kurzzeilen von nur drei Silben von zwei längeren Zeilen eingerahmt werden. Jedes Kurzzeilenpaar lässt sich auch als eine einzige Zeile auffassen, so im EG. Thema ist das unbedingte Gottvertrauen im Leid. Anders als etwa Luthers Lied Ein feste Burg (EG 362) hat es den einzelnen Menschen im Blick. Als inhaltliche Grundlage des ganzen Liedes lassen sich mehrere Bibelstellen ausmachen. So erinnert schon die eröffnende Frage an den 27. Psalm: Der HERR ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Der HERR ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen? (Ps 27,1) Daneben sind Römer 8,31–39 und Psalm 73,23.25f zu nennen sowie das Hiobbuch. Paul Gerhardt eröffnet das Lied mit drei rhetorischen Fragen, die alle auf die Heilsgewissheit in der Christusverbundenheit zielen. Der Sänger kann keine irdische Situation wirklich beklagenswert finden, da er Christus hat und mit ihm den Himmel; beides kann ihm nichts und niemand nehmen.4 Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn (Röm 8,38f). Wie noch häufiger im Verlauf des Liedes steckt der Kernsatz in den gereimten Kurzzeilen: hab ich doch / Christus noch (1,2). Schon die erste Strophe zeigt die kunstvolle Rhetorik der Dichtung Gerhardts. In die drei rhetorischen Fragen sind Grundaussagen des Glaubens eingeflochten: die Christusverbundenheit und die Zusage des Himmels. Dem „schon jetzt“ der Verbundenheit steht das „noch nicht“ der künftigen Seligkeit gegenüber. Noch befindet sich der Sänger in einer Situation, die auf den ersten Blick Anlass zum Gram bieten würde; nur im Glauben ist bereits das künftige Heil sein Eigen. Um diesen Glauben zu stärken, setzt Gerhardt seine ganze 1 Vgl. Bunners 1989, 3f. Weitere Hinweise auf Verwendung des Liedes zum Trost am Sterbebett bei Bunners 1989, 7f. 2 Vgl. Bunners 1989, 8. 3 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Eberhard Bethge, Gütersloh 172002, 81f. 4 Im 17. Jh. ist der Bedeutungswandel des Wortes „grämen“ vom ursprünglichen „erzürnen“ zum späteren „betrüben“ bereits vollzogen, vgl. Art. „grämen“ in DWb 8, Sp. 1778–1785, hier 1778.
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Kommentare zu den Liedern
sprachliche und rhetorische Überzeugungskraft ein.5 Auch der weitere Verlauf des Liedes ist von rhetorischen Fragen durchsetzt. Nachdem das Thema mit der ersten Strophe gestellt ist, bedenkt der Sänger verschiedene christliche Trostgründe: Alles, auch das Leid, kommt von Gott (Str. 2–5). Gott wird ihn beschützen vor allen Feinden (Str. 6–7). Der Tod ist kein Übel, sondern der Übergang aus der Vergänglichkeit in die Ewigkeit (Str. 8–10). Schließlich wendet sich der Sänger mit seinem Glauben und Hoffen im Gebet an Gott (Str. 11–12). Weiten Teilen des Liedes liegt das Hiobbuch zugrunde. In der zweiten Strophe wird die Grundsituation des Menschen beschrieben: Er bringt nichts in diese Welt mit und kann auch nichts aus ihr mitnehmen. Hier paraphrasiert Gerhardt ein Wort aus dem Hiob-Buch: Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren. Der HERR hat’s gegeben, der HERR hat’s genommen; der Name des HERRN sei gelobt! (Hiob 1,21) Die Wortwiederholung des biblischen Textes übernimmt Gerhardt und verstärkt sie durch die Positionierung: Beide Strophenhälften beginnen mit dem Wort nackend. Die dritte Strophe setzt die Hiob-Paraphrase fort. Alles, so wird betont, ist Gottes Gabe – nicht nur der Leib und der irdische Besitz, sondern auch die Seele und das Leben. Wie Hiob will auch der Sänger fröhlich loben und nicht nur den Verlust akzeptieren. Sven Grosse hat gezeigt, dass Gerhardt hier und öfter auf die lutherische Providenzlehre zurückgreift, wie sie zum Beispiel bei Philipp Melanchthon und Leonhard Hutter zu finden ist.6 Das Leid kommt nicht von einer Macht außerhalb von Gott, sondern von ihm selbst. Es ist jedoch kein Beweis gegen die Ordnung der Schöpfung; vielmehr ist in der scheinbaren Unordnung des Leids die letzte Ordnung verborgen.7 Für den Gläubigen dient das Leid zur Züchtigung, die letztlich zum Heil führt. Der Erwählte kann sich der Fürsorge Gottes gewiss sein.8 Dementsprechend liegt der dritten und vierten Strophe 1. Korinther 10,13 zugrunde: Aber Gott ist treu, der euch nicht versuchen lässt über eure Kraft, sondern macht, dass die Versuchung so ein Ende nimmt, dass ihr’s ertragen könnt. Die fünfte Strophe greift wieder auf Hiobs Rede zurück. Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? (Hiob 2,10) Neu gegenüber Hiob ist die Rede vom Leid als dem Gericht Gottes (die freilich von Hiobs Freunden aufgegriffen wird, als er anfängt, mit Gott zu streiten). Dabei vertraut der Sänger darauf, dass Gott als Richter sowohl gerecht als auch maßvoll ist. Fromm ist Gott hier in der alten Bedeutung von „rechtschaffen“. Da alles in Gottes Hand liegt, können die Feinde dem Sänger nichts anhaben. Die sechste Strophe stellt dabei Satan und Welt auf eine Stufe. Deren Spotten 5 Eine ausführliche Auflistung von rhetorischen Stilmitteln in Gerhardts Liedern bietet Rainer Hillenbrand, Paul Gerhardts deutsche Gedichte: rhetorische und poetische Gestaltungsmittel zwischen traditioneller Gattungsbindung und barocker Modernität, Frankfurt am Main u. a., 1992. 6 Vgl. Grosse. 7 Vgl. Grosse, 43f. 8 Vgl. Grosse, 62 und 157.
370 Warum sollt ich mich denn grämen
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(6,3.4) wird durch die quasi chiastische Anordnung am Ende der ersten Strophenhälfte und am Beginn der zweiten hervorgehoben. Doch trotz dieser furchterregenden Koalition gegen sich (Satan, Welt und ihre Rotten 6,1) sieht der Sänger keinen Grund zur Sorge, denn Gott kann ihnen schnell ein Ende machen. Und er wird es auch tun, denn er ist des Sängers Heil (vgl. Ps 27,1). Der Beginn der siebten Strophe Unverzagt und ohne Grauen (7,1) stammt aus dem Josuabuch: Siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist. Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst (Jos 1,9). Einerseits entspringt der Mahncharakter aus dem zugrundeliegenden Bibelvers; andererseits ist dies ein für Gerhardt typischer Zug: die Überwindung der eigenen Zweifel, die Selbstüberzeugung zur Heilsgewissheit in meditierender Rede und im Gebet. Wie schon die rhetorische Frage in der ersten Strophe ist dies ein Mittel zur Selbstermunterung. Deshalb sind Gerhardts Lieder meist lang – in ihnen vollzieht sich das Ringen um den Glauben, um das innere ‚Realisieren‘ des Gewussten. Dies ist es, was seinen Texten immer wieder Aktualität verliehen hat für Menschen in Situationen äußerer und innerer Anfechtung. Vom Verlassen der Welt als Schatten war schon in der zweiten Strophe die Rede. In der achten Strophe wendet sich das Lied dem Tod als vermeintlichem Übel zu. Kann uns doch kein Tod nicht töten (8,1) ist als Aussage eigentlich paradox – was sollte der Tod anders tun als töten? Aber aus christlicher Perspektive ist der Tod das Tor zu Gott. Anstatt das größte Übel zu sein, ist er das Ende des Leids, die Befreiung des Geistes. Die doppelte Verneinung dient hier als Verstärkung der befreienden Aussage. Somit ist auch der letzte Schrecken überwunden. Das Leid ist nur eine Durchgangsstation zu den ewigen Himmelsfreuden. Irdisches Glück ist ohnehin vergänglich, eine Hand voller Sand, wie die beiden folgenden Strophen ausführen. Auch hier fasst Gerhardt eine zentrale Aussage rhetorisch ausdrucksvoll in den Kurzzeilen zusammen, wobei er zugleich ein eindringliches Sprachbild verwendet. In der neunten und zehnten Strophe prägt sich der Gegensatz von irdischer Vergänglichkeit und Ewigkeit aus: Hier . . . verschwinden (9,4.6) – Dort . . . ohn Ende laben (10,4.6). Der Beginn der elften und vorletzten Strophe markiert den Übergang zum Gebet mit einem Anklang an Psalm 23. Erst durch die Hinwendung zu Gott kann der Zweifel völlig aufgelöst werden; in der Bitte um seinen Beistand versichert sich der Sänger seiner göttlichen Bewahrung in der Anfechtung.9 Der Vers aus dem Hohenlied Mein Freund ist mein und ich bin sein (Hld 2,16 und 6,3) wird zum Kernsatz: Du bist mein, ich bin dein (11,2). Diese Verlobungsformel greift auch Martin Luther in Nun freut euch lieben Christen g’mein auf: Denn ich bin dein und du bist mein,/ und wo ich bleib, da sollst du sein;/ uns soll der Feind nicht scheiden. (EG 341,7,5–7). Dort ist es Christus, der spricht. Durch diese Sätze sind die beiden abschließenden Strophen untrennbar verbunden – erst erklingen sie in den Kurzzeilen, dann mit der jeweiligen Begrün9 Vgl. Grosse, 66.
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Kommentare zu den Liedern
dung in den Langzeilen: Die Seinsgemeinschaft ist doppelseitig begründet im Heilswerk Christi und in der glaubenden Annahme des Heils durch den Menschen.10 Dem entspricht der sprachliche Parallelismus Ich bin dein, weil . . . (11,4) – Du bist mein, weil . . . (12,1). Trotz aller vorher geäußerten oder angemahnten Gewissheit schließt das Lied mit einer inständigen, durch die Wortwiederholung intensivierten Bitte: Lass mich, lass mich hingelangen,/ da du mich und ich dich / leiblich werd umfangen (12,4–6). Die leibliche Auferstehung (vgl. 1. Kor 15) ist hier die Grundlage, doch verursachte das Bild von der körperlichen Umarmung so manchem Herausgeber Unbehagen: Schon im Erstdruck erscheint lieblich statt leiblich, was in den Erratis korrigiert wird; auch in vielen späteren Drucken heißt es lieblich umfangen, mancherorts auch ewig werd umfangen.11 Durch seine Konzentration auf die Unauflöslichkeit der Christusbeziehung in allem irdischen Leid konnte das Lied in seiner Rezeptionsgeschichte den Eindruck erwecken, einer passiven Haltung das Wort zu reden. Albrecht Schönherr mahnt in seiner Liedpredigt aus dem Jahre 1976 denn auch an, dass diese nur legitim sei gegenüber dem Unabänderlichen.12 Allerdings war Paul Gerhardt selbst durchaus nicht passiv. Im Berliner Kirchenstreit trat er gegen die Anordnungen des Großen Kurfürsten für seine Überzeugungen ein und nahm dabei auch seine Amtsenthebung in Kauf. Auch später wehrte er sich gegen das ihm persönlich drohende Leid, indem er die Beseitigung von Missständen im Lübbener Pfarrhaus forderte, bevor er die ihm angebotene dortige Stelle annahm. Es geht ihm nicht um eine Alternative ‚Handeln oder Dulden‘, sondern um den grundsätzlichen Umgang mit dem irdischen Leid im Hinblick auf die Güte und Allmacht Gottes und um die Stärkung des eigenen Glaubens in Anbetracht des Leids in der Welt. Die heute bekannte Melodie13 des Liedes erschien im Erstdruck noch nicht, sondern wurde erst später von Johann Georg Ebeling komponiert und 1666 im Zuge seiner Gerhardt-Gesamtausgabe veröffentlicht. Obwohl auch Johann Crüger eine Melodie zum Text schuf, hat sich Ebelings Weise durchgesetzt. Der Grund dafür liegt wohl im unterschiedlichen Umgang mit dem Inhalt des Textes. Crüger orientierte sich an dem Wort grämen und schuf eine a-Moll-Melodie mit klagendem Beginn in kleinen Sekunden und einer melodischen verminderten Quarte (Z IV,6455). Ebeling jedoch unterstützte den Aufruf zur Fröhlichkeit mit seiner Musik – nicht umsonst lautet die ursprüngliche Überschrift dieses Liedes „Christliches Freudenlied“. Rhythmisch lehnte er sich dabei eng an Crügers bekannte Melodie zu Fröhlich soll mein Herze springen (EG 36) an; auch die ersten drei Töne der beiden Melodien stimmen überein. 10 Eine ähnliche Aussage findet sich z. B. bei Johann Hülsemann, Extensio breviarii theologici, cap. XIV, 241; vgl. dazu Grosse, 163. 11 Vgl. Sauer-Geppert 1977, 80. 12 Vgl. Schönherr 1978, 111f. 13 Zur Melodie und zu Ebelings Vertonungen insgesamt vgl. Liebig 2008; hier vor allem 314f.
370 Warum sollt ich mich denn grämen
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Ebelings Vertonung (ursprünglich für vierstimmigen Chor, Generalbass und zwei Violinen) ist für ihn und seine Zeit ziemlich modern und für uns heute eingängig. Die Melodie besteht aus zwei rhythmisch identischen Teilen, die melodisch teils gegenläufig, teils identisch verlaufen; der Bass unterscheidet sich gar nur in der zweiten bis fünften Note eines jeden Teils. Wie viele andere Melodien Ebelings weist sie eine Viertaktperiodik auf: Beide Strophenhälften gliedern sich in zwei viertaktige Abschnitte. Zudem zeigt die Harmonik eine klare Tonikaorientierung; es gibt nur Kadenzen auf der I. und V. Stufe. Im deutschen und im englischen Sprachraum wurde und wird diese Melodie auch für den Text Fröhlich soll mein Herze springen verwendet, da sie in ihrem fröhlichen Charakter dazu passt. Allerdings wurde sie im Lauf der Zeit mannigfaltigen Veränderungen unterworfen. So herrscht z. B. in der Literatur keine Einigkeit darüber, ob sich Johann Sebastian Bach für den Choral Ich will dich mit Fleiß bewahren im Weihnachtsoratorium einer Variante der Melodie Ebelings bedient oder nicht; der Text ist die letzte Strophe des Liedes Fröhlich soll mein Herze springen. In deutlich wiedererkennbarer Form hat sich die Melodie Ebelings im englischsprachigen Raum verbreitet, wo sie für die englische Übersetzung All my heart this night rejoices verwendet wird. ELKE LIEBIG
[21] 80 Kommentare zu den Liedern Kommentare zu den Liedern
480 Nun schläfet man 480 Nun schläfet man
RG 623 (T) Text Verfasser Gerhard Tersteegen Vorlage s. Kommentar Quelle Geistliches BlumenGärtlein Jnniger Seelen. Vierte und vermehrte Edition, Frankfurt und Leipzig 17451 Überschrift Andacht bey nächtlichem Wachen. Melod Sie schläffet schon. Ausgaben G. Tersteegens geistliche Lieder. Mit einer Lebensgeschichte des Dichters und seiner Dichtung, hg. v. Wilhelm Nelle, Gütersloh 1897; Gerhard Tersteegens Geistliches Blumengärtlein mit der Frommen Lotterie und einem kurzen Lebenslauf des Verfassers, Neue Ausgabe, Stuttgart 151956; Johannes Schmidlin, Ein hundert Geistliche Lieder aus dem Blumengärtlein Gerhard Tersteegens, Zürich 1764 (Faks Köln 1997) Stro-
phenbau A4/2a A6/3a A6/3a A5/2bA4/2c A6/3c A6/3c A5/2b- Verbindung TM in der Q ohne N, aber mit Angabe der Melodie wie im EG * Lehnmelodien: Von Jugend auf sie mich geängstet han (Psalm 129, Ambrosius Lobwasser; DKL III/2 A219A; angegeben in: Joachim Neander, Gottgeheiligtes Harfenspiel, Solingen 1760); Derselbe Mann ist selig um und an (1681; Z III,5036; Brandenburg 1859 zu Nun schläfet man) * weitere eigene Melodie: Johannes Schmidlin (Ein Hundert Geistliche Lieder, Zürich 1764; Edition: Christian Bunners, Lieder des Pietismus aus dem 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 2003, Nr. 33)
Melodie Incipit 1_3_4_ 5__. Vorlage Sie schläfet schon (Liederhandschrift des Christian Clodius: Hymnorium studiosorum pars prima, 1669; D-B Ms Germ. oct. 231; s. u. Kommentar) Quelle s. o. Ausgabe Nelle 1897 (s. u. Literatur), 434 * (spätere Fassungen Z III,5040a+b) Ambitus G: 8; Z: 54434446 Abweichungen s. Kommentar, Abb. 2 * RG: ohne Noten Verbindung MT wie EG (s. a.
Kommentar) * weitere geistliche Texte zu verwandten Melodien: Mein Bräutigam! Du wahres Gotteslamm (1712; Niessen 1891) * Zu dieser Nacht (Düsseldorf 1759; Bäumker III,161) * Mein Auge wacht (Gütersloh 1844; Z III,5040b) * Derselbe Mann (Kocher 1855; ebd.) * Herr Jesu Christ, der du allmächtig bist (Z III,5041; vgl. dazu und Weiteres: Nelle 1897, 411)
Literatur HEG II, 320–322 ** ThustB, 396f ** KLL (1878ff) II, 127; EEKM (1888) II, 431f; Bruppacher (1953) 99f; RößlerL (22001) 596–637 (bes. 625) ** NIESSEN, Wilhelm: Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius vom Jahre 1669. Ein Beitrag zur
Geschichte des deutschen Liedes im 17. Jahrhundert, Diss. Berlin, Leipzig 1891, bes. 46f.; mit Wiedergabe der Melodien auch in: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 7 (1891) 579–658 * NELLE, Wilhelm: G. Tersteegens Geistliche Lieder. Mit
1 Diese Ausgabe ist nicht nachweisbar. Greifbar ist: Geistliches Blumen-Gärtlein Jnniger Seelen. [. . .] Teutschland zum 4ten Mahl gedruckt und nun in America das erste Mahl, Germantown 1747: http://gdz.sub.uni-goettingen.de.
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einer Lebensgeschichte des Dichters und seiner Dichtung, Gütersloh 1897, bes. 409–412 * ZWETZ, Rudolf: Die dichterische Persönlichkeit Gerhard Tersteegens, Diss. Jena, Halle a. S. 1915, bes. 94f * PFEIFFER, Johannes: Dichtkunst und Kirchenlied. Über das geistliche Lied im Zeitalter der Säkularisation, Hamburg 1961, bes. 22–24 * GOES, Albrecht: Gerhard Tersteegen. Andacht bei nächtlichem Wachen (1966), in: Christus in uns. Mystische Strömungen von Angelus Silesius bis Tersteegen, Herrenalber Texte 46, hg. v. W. Böhme, Karlsruhe 1983, 94–98 * HORKEL, Wilhelm: „Andacht bei nächtlichem Wachen“. Gerhard
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Tersteegens Abendlied, meditation 10 (1984) 126–128 * DEICHGRÄBER, Reinhard: „Gott ist genug“. Liedmeditationen nach Gerhard Tersteegen, Göttingen 2 1997, bes. 89–96 * BUNNERS, Christian: Gerhard Tersteegens Lieder im Gesangbuch. Ein rezeptionsgeschichtlicher Beitrag, in: Manfred Kock/ Jürgen Thiesbonenkamp (Hg.), Gerhard Tersteegen – Evangelische Mystik inmitten der Aufklärung, Köln 1997, 77–100, bes. 91.93 * SCHRADER, Hans-Jürgen: Hortulus mystico-poeticus – Erbschaft der Formeln und Zauber der Form in Tersteegens ‚Blumengärtlein‘, ebd., bes. 47.49–51
Das einzige dezidierte Nachtlied im EG Nun schläfet man von Gerhard Tersteegen stand nicht im Stammteil des EKG. Im EG nimmt es gewissermaßen den Platz des ausgeschiedenen Tersteegen-Liedes Der Abend kommt, die Sonne sich verdecket (EKG 366) ein. Die „Andacht bei nächtlichem Wachen“, wie Tersteegen Nun schläfet man überschrieb, erschien erstmals 1745 in der vierten Ausgabe seines Geistlichen Blumengärtleins. Der Autor stellte es hier unmittelbar vor die fünf „HerzensSeufzer“ bzw. „Herzens-Gedanken“, die von der ersten Ausgabe 1729 an bis zur endgültigen siebenten Ausgabe 1769 am Schluss der „Geistlichen Lieder und Andachten“ stehen. Diese zwei- bis dreistrophigen Lieder bilden einen kleinen Zyklus persönlicher Tagzeitengebete: „beim Aufwachen des Morgens“, „bei der äußern Arbeit“, „wann die Glocke schlägt“, „bei dem Genuß der Kreaturen“ und „beim Einschlafen“. Die „Andacht bei nächtlichem Wachen“ eröffnet seit 1745 diesen geistlichen Tageslauf. In der Liedersammlung „Gottgeheiligtes Harfenspiel der Kinder Zion“, dem so genannten „Großen Neander“, erschien das Lied von der vierten Ausgabe 1760 an unter den Abendliedern. Als Melodie ist in beiden Sammlungen angegeben: „Sie schläfet schon“, im „Großen Neander“ mit der Alternative: „Oder: Psalm 129. Lobwassers.“2 Die Überschrift „Andacht bei nächtlichem Wachen“ gibt die Situation an, in der bzw. für die das Lied geschrieben ist. 1,2 legt nahe, dass es kein freiwilliges Wachen ist: wer nicht schlafen kann. Der Fromme lässt sich die Not der Schlaflosigkeit zum Besten dienen, nämlich zur Nachtwache und ihrem Gebet: zur Vigil. Die Nachtregel Nun schläfet man (1,1) kennt Ausnahmen, deren Gründe hier nicht reflektiert werden. Mit und wer nicht schlafen kann (1,2) redet der 2 DKL III/2 A219A, Pidoux 129a. Die Melodie geht auf den Hymnus Te lucis ante terminum zurück, der zur weihnachtlichen Komplet gehört. Die Alternativmelodie ist also insofern kenntnisreich gewählt, als sie aus dem Repertoire der nächtlichen Gebetszeiten der Kirche stammt.
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Dichter betroffene Menschen an und lädt sie ein, sich gemeinsam mit ihm von sich selbst und allem anderen weg (vgl. Str. 2) Gott zuzuwenden: der bete mit mir an / den großen Namen,/ dem Tag und Nacht / wird von der Himmelswacht / Preis, Lob und Ehr gebracht (1,3–7). Der „große Name“ ist der Jesus-Name (1,8), in dem die Fülle des Jesus verliehenen Namen[s], der über alle Namen ist (Phil 2,9–11), erklingt (vgl. EG 140,5,1.5 im ursprünglichen Wortlaut: Jehova, Vater, Sohn und Geist . . . Amen). Tag und Nacht (vgl. Offb 4,8) erweist ihm das himmlische Heer, die Himmelswacht, die Reverenz (vgl. Offb 5,13f). In das himmlische Gotteslob einzustimmen, das auch nachts nicht verstummt (vgl. EG 165,2,2), ruft der Dichter die Schlaflosen auf. Die Anrufung des Jesus-Namens und ihre Bekräftigung durch Amen ist Inbegriff der Anbetung. In seiner sprachlichen Fassung kann o Jesu, Amen einerseits als Abbreviatur, andererseits als eine authentische Gestalt der Anbetung gelesen werden: als nicht endendes Jesus- bzw. Herzensgebet. Kraft des Jesus-Namens werden auch Dämonen ausgetrieben (vgl. Mk 16,17 u. ö.). Weg, Phantasie (2,1): Mit exorzistischer Gebärde (vgl. Mt 4,10) verscheucht der Dichter die Traum- und Trugbilder der Nacht, Begierden und Gedanken,/ die noch so leicht aus Schwachheit von dir wanken (EKG 366,3,1f; vgl. dort ähnlich herrisch 8,3: Begierden, schweigt! Vernunft und Sinnen, still! ). Die Zurückweisung der Phantasie gehört einerseits zur Tradition des christlichen Abend- und Nachtgebets. Der Komplet-Hymnus Te lucis ante terminum lautet in seiner zweiten Strophe: Procul recedant somnia / et noctium phantasmata;/ hostemque nostrum comprime,/ ne polluantur corpora („Fern sollen weichen die Traumgebilde / und die Trugbilder der Nächte;/ halt unsern Feind in Schranken,/ damit die Leiber nicht befleckt werden“). Konkret hat Tersteegen aber das Lied Sie schläfet schon im Blick, dessen Melodie er übernimmt und dessen Text er geistlich parodiert. Sie schläfet schon ist ein aus der Mitte des 17. Jh. stammendes, seinerzeit offenbar recht verbreitetes Lied, das der nächtlichen Sehnsucht nach der Geliebten Ausdruck gibt3: Sie schläffet schon / die andere Dion4/ in ihrer GötterThron / und ich erwache / sie liegt in Ruh / und thut ihr Äuglein zu / ich weiß nicht was ich thu / und was ich mache (1,1–8). Die Sehnsucht nach der Geliebten lässt den Sänger erwachen und nicht wieder einschlafen. Detailliert imaginiert er die heimliche Annäherung (2,1–3,4) und den entzückenden Anblick der schlafenden Geliebten (4,1–5,4) – und seufzt verhalten: Ach daß du must / erwachen meine lust / dir ist ja wohl bewust / mein sehnlichs hoffen (3,5–8). Die beiden Schlussstrophen wechseln von der Ebene individuellen Träumens auf die Ebene der Gruppe, die davon singt: Ihr Sänger singt / und die ihr Seiten zwingt / verschaffet dass es klingt / und sie erwecket / doch fein gelind / man möchte zugeschwind / im Schlaff das liebe Kind / gar leicht erschrecken (6,1–8) – und dies so, dass die Mitsingenden in den Zauber der Szene mit hineingezogen werden: Du
3 Text in: Neuvermehrtes vollständiges Bergliederbüchlein. Eine buntgemischte Singgut-Sammlung aus Mitteldeutschland um 1700. Mit einer Einleitung neu hg. v. G. Heilfurth, (Leipzig 1936) Nachdruck Hildesheim u. a. 1988, 148–150 (Nr. 107). 4 Dion ist in der griechischen Mythologie die Mutter der Aphrodite bzw. diese selbst; in der römischen Mythologie wird sie mit Venus gleichgesetzt.
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Cyprobor5/ komm du im Schlaff ihr vor / und träum ihr sanfft ins Ohr / was wir hier singen / sprich Kind zu ihr / sind welche vor der Thür / sie wollen mir und dir / ein Ständgen bringen (7,1–8). Sie schläfet schon: das ist eine bezaubernde, durchaus gebildete Phantasie, die Deutlichkeit und Verhaltenheit, Melancholie und Ironie in der Schwebe hält.
Wenn Tersteegen die Melodie dieses Liedes ausdrücklich vorschreibt, kannte er auch den Text. Die Bezugnahme, explizit parodistisch in der ersten Zeile, durchzieht in impliziter Antithese sein ganzes Lied und macht es zu einer geistlich-asketischen Kontrafaktur. Den Gebilden der nächtlichen Phantasie setzt Tersteegen Gott entgegen: Mein Herr und Gott ist hie (2,2) – und wendet sich ihm direkt zu: du schläfst, mein Wächter, nie (2,3). Wieder fließen biblische Aussagen über Gott und Jesus ineinander: Mein Herr und mein Gott ist das österliche Bekenntnis des Thomas zum Auferstandenen (Joh 20,28); siehe, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht heißt es von Gott in Psalm 121,4. Wächter gibt das Stichwort, die Schlaflosigkeit ausdrücklich zur persönlichen Vigil umzuprägen: dir will ich wachen (2,4). Der Dichter – nun und bis zum Schluss er allein (so auch EG 165 von Str. 4 an) – gesellt sich der Gott lobenden Himmelswacht (1,6) zu. Dabei klingt auch die Gethsemane-Geschichte mit hinein: Was die Jünger im nächtlichen Garten nicht vermochten, das will der Beter tun: Wache-Halten als Dienst für Jesus bzw. Gott (vgl. Mt 26,41 par. Mk 14,38: Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung [Versuchung] fallt! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach). Mein Wächter – dir will ich wachen: Diese Redefigur, nach der der Fromme eine Tätigkeit oder Eigenschaft Gottes quasi erwidert, begegnet in Tersteegens Dichtung und Reflexion häufig – besonders charakteristisch etwa in seinem Katechismus „Unpartheiischer Abriß christlicher Grundwahrheiten“6, wo im Kapitel über „Gottes Vollkommenheiten“ (Teil I, Kap. II) auf die Erörterung einer göttlichen Eigenschaft hin in aller Regel danach gefragt wird, was das denn für den Gläubigen bedeute. Das sei – im Vorblick auf Ich liebe dich (2,5) – am Beispiel der Liebe gezeigt. Frage: „Was ist das gesagt, daß Gott schön, und die Liebe selbst sey?“ Antwort: „Daß er alle Schönheit, Süßigkeit und Lieblichkeit auf die allervollkommenste Weise in sich selbst besitze, und er sich darum auch als das erquickende, entzückende und verliebtmachende Liebes-Wesen offenbare in Zeit und Ewigkeit, denen, die ihn lieben; und daß alles, was schön und lieblich in seinen Geschöpfen ist, von ihm allein seinen Ursprung habe.“ – Frage: „Welche Wirkungen müßte die Betrachtung dieser Vollkommenheit billig in unserer Seele zuwege bringen?“ Antwort: „1) Alle sichtbare Schönheit, Süßigkeit und Lieblichkeit, außer Gott angemerket, gar gering zu achten, und, aus Liebe zu diesem Liebenswürdigen, unser Herz davon abzuziehen, und hingegen diesen Gott zu lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem
5 Eine Traumgestalt, die als Bringer des wohlriechenden, aus dem Cyprus, d. h. dem HennaStrauch, gewonnenen Öls vorgestellt wird. 6 Gerhard Tersteegen’s unpartheiischer Abriß christlicher Grundwahrheiten, von Freunden des Verfassers dem Druck übergeben, 2., unveränd. Auflage, Essen 1842.
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Gemüth, und aus allen Kräften. 2) Uns zu gewöhnen Gott zu sehen, zu lieben, zu bewundern und zu preisen, in aller Schönheit, Süßigkeit, Lieblichkeit und Liebe aller Geschöpfe, [. . .] 3) Sollen wir dabei beherzigen und gedenken: Wie [. . .] die Seligkeit dessen nicht auszusprechen ist, der diesen Gott zu seinem Gott hat; der ihn hier in diesem Leben kennet, liebet, und von ihm geliebet wird, und nach diesem Leben wird gewürdiget werden, ihn ewiglich zu lieben, sich gleichsam in diesem Liebesmeer zu baden, in dem Anschauen seines Angesichts sich zu belustigen, und in alle Ewigkeiten ein Vorwurf seiner unendlichen, göttlichen Liebe zu seyn“ (34–36).
In diesen Sachzusammenhang gehört, wiederum antithetisch zur parodierten Vorlage, die Fortsetzung des Liedes: Ich liebe dich,/ ich geb zum Opfer mich / und lasse ewiglich / dich mit mir machen (2,5–8). Aus Liebe zu Gott (vgl. 5. Mose 6,4) überlässt sich der Dichter ganz und gar seiner Verfügung (vgl. Röm 6,13; 12,1f). Parallel zu dir will ich wachen (2,4) ist die Eröffnung der 3. Strophe auffordernd zu verstehen: Es leuchte dir / der Himmelslichter Zier (3,1f). Die Aufforderung bezieht sich natürlich darauf, es in dieser Weise zu deuten: So auf Gott hin ausgerichtet, sollen die Gestirne am Nachthimmel als sichtbarer Abglanz der unsichtbaren Himmelswacht erscheinen (3,1f). Auch der Dichter von Sie schläfet schon redet von einem Stern, aber anders: Ich wollte gern,/ daß dieser Venus-Stern / mir heute noch von fern / die Strahlen schencket (5,5–8). Dagegen gesellt sich der wachende Beter selbst als ein kleines Himmelslicht zu den Sternen: ich sei dein Sternlein, hier / und dort zu funkeln (3,3f). Ein origineller Gedanke: Der Dichter – gerade auch dieses kleinen Liedes – ist ein Stern in der Nacht, der im Dienst Gottes hier und dort funkelt, also kraft seiner exklusiven Hinwendung zu Gott anderen orientierend, tröstend usw. zugute kommt (vgl. Phil 2,15). In dieser Weise hat Tersteegen in der Vorrede zum ersten Band der „Auserlesenen Lebensbeschreibungen heiliger Seelen“ die von ihm Portraitierten charakterisiert: „Ich hätte den Einfluß dieser Sterne des Himmels gern jederman gegönnet, den ich bey mir selbst so lieblich und heilsam befunden hatte.“7 Hier und dort kann allerdings in mehrfacher Reichweite verstanden werden: Man denkt an Tersteegens verstreut wohnende Anhängerschaft, der er sich verpflichtet wusste, konkreter an die Schlaflosen, denen seine „Andacht bei nächtlichem Wachen“ zur Sprachhilfe wurde. Man kann aber bei und dort auch an jene andere Welt denken, die im Adverb ewiglich (2,7) bereits anklang. Am Ende gelangt der Beter über sein Dichten, das in der Hinkehr zu Gott zugleich anderen Menschen dient, hinaus ins Schweigen vor Gott: Nun kehr ich ein,/ Herr, rede du allein / beim tiefsten Stillesein / zu mir im Dunkeln (3,5–8). Er deutet an, wozu alle Worte, die vor, zu und von Gott gesprochen oder gesungen werden, nur eine Vorbereitung sein können: die mystische Begegnung mit und Berührung durch Gott. Du allein (vgl. EG 165,3,7) – die Exklusivität ist dafür das sprechendste Kennzeichen. Das Einstimmen ins 7 G. Tersteegen, Auserlesene Lebensbeschreibungen Heiliger Seelen . . . Erster Band. Dritte Edition, Essen 1784, S. IX. Tersteegen nennt sie auch „himmlische Lichter“ (S. X).
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unaufhörliche Gotteslob, das Wortemachen hört auf – Gott allein redet. Tiefstes Stillesein, Dunkel bezeichnet den Nullpunkt eigener Aktivität, die „Einkehr“ den Gegensatz zu jeglicher Äußerung. Wie der Dichter ewiglich / dich mit mir machen lässt (2,7f), so lässt er hier nur noch Gott allein zu sich reden (vgl. 1. Sam 3,9f). Zu dem immer vorläufigen, immer über sich hinaus weisenden Charakter allen Gott zugewandten Singens und Betens hat sich Tersteegen grundsätzlich im 20. Abschnitt seiner Vorrede zum „Großen Neander“ geäußert: „Wenn es also z.E. etwa geschähe, daß eine Seele vor oder unter dem äußerlichen Bäten, Singen, oder einigen andern gottseligen Uebungen, von GOtt und dessen Gegenwart, oder von einigen seiner Vollkommenheiten, Wercken oder Wahrheiten, auf eine lebendige und kräftige Weise gerühret, einwärts gezogen, und im Geist damit beschäfftiget gehalten würde, so ist es ihr alsdann nicht nur erlaubet, sondern sie ist auch verpflichtet, Mund und alle Sinne stille zu halten, und vor die Zeit alles Äussere, in so weit es das Innere hindern mögte, dran zu geben, um dem innern Zug und den Wirckungen des Geistes GOttes Raum zu lassen, und GOtt selber ihre Andacht zu leihen, als welcher dergestalt im Grunde der Seelen, auch in der grössesten Stille, aufs herrlichste und beste gelobet und ihm gedienet wird. So lobe man GOtt in der Stille zu Zion [Psalm 65,1]; so kann man dem HErrn singen und psalliren in seinem Herzen [Eph 5,19]. Und ein Viertelstündgen in einer solchen Veneration und Stilleschweigen vor GOttes Gegenwart sich eingekehret halten, ist GOtt wohlgefälliger, und uns heylsamer, als tausend andere gut gemeynte Wercke und Uebungen, die wir je vornehmen können, und ist der eigentliche Endzweck alles äussern so genannten Gottesdienstes.“
Aufgrund seiner geistlichen Tiefe und seiner poetischen Dichte hat Tersteegens Nachtlied häufig große Wertschätzung erfahren, ganz besonders bei Wilhelm Nelle: „Eine der wunderbarsten Blüten lyrischer Betrachtung, welche die deutsche Dichtung besitzt! Welche Erhabenheit der Sprache in schlichten Worten! Welche Vollendung der Form! Welche Einheitlichkeit der Stimmung, der Anschauung, der äußeren wie der inneren Anschauung!“ (Nelle 1897; vgl. Zwetz 1915). Albrecht Goes (1983) und Reinhard Deichgräber (1997) haben das Lied kongenial interpretiert. Sie teilen mit, dass es in Eduard Mörike einen besonderen Verehrer hatte. Im Gottesdienst der versammelten Gemeinde kommt das Lied kaum je vor – aber warum eigentlich nicht? Ob im Abendgottesdienst gesungen, ob in der Seelsorge gelesen, ob in der kirchlichen Bildungsarbeit betrachtet: Tersteegens „Andacht bei nächtlichem Wachen“ kann nicht nur von Menschen, die unter Schlaflosigkeit leiden, als eine kostbare Perle entdeckt werden. MARTIN EVANG Das Lied Nun schläfet man, wie es heute im Gesangbuch steht, ist das Ergebnis einer Kontrafaktur, d. h. einem bekannten Lied wurde ein geistlicher Text unterlegt, der in diesem Fall sogar wie oben dargelegt seinerseits auf den weltlichen Bezug nimmt. Die Melodie war offensichtlich so bekannt, dass sie selten schriftlich fixiert wurde und bei verschiedenen Texten als Tonangabe „Sie schläfet
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schon“ mitgeteilt wurde.8 Nun ist es aufschlussreich, gedruckte Fassungen des geistlichen Liedes mit der handschriftlichen Vorlage auf der einen und der heutigen Melodie auf der anderen Seite zu vergleichen. Dazu sind alle Fassungen in die Tonart des EG transponiert wiedergegeben. Terminologisch, das sei hier vorausgeschickt, wird davon ausgegangen, dass der achtzeilige Text auch eine achtzeilige Melodie hat, auch wenn im EG die dritte und vierte Zeile (der bete mit mir an / den großen Namen) nicht durch einen Zeilentrennstrich („Atemzeichen“) getrennt sind – offenbar weil sie musikalisch und textlich eng miteinander verbunden sind. Allen hier vorgelegten Melodiefassungen ist der Kadenzplan der Gesamtweise gemeinsam sowie der Ambitus (Tonumfang) der einzelnen Zeilen – nur in den Zeilen 1 und 8 gibt es nennenswerte Abweichungen. Ausgangspunkt des Melodievergleichs ist „Ein Nachtliedt vor der Liebsten Thür“ mit dem Text Sie schläfet schon / die andere Dion aus einer Handschrift mit Studentenliedern des Christian Clodius aus dem Jahre 1669 (s. o. Melodie/Vorlage).
Abb. 1: Oberstimme eines dreistimmigen Satzes (Quarte höher in F-Dur; die Unterstimme ist beziffert), mit freundlicher Genehmigung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz.
Im Vergleich mit der heutigen Melodie fällt auf, dass die Vorlage durch Achtelpausen in einzelne Zeilen zerlegt ist, dadurch wird der Schweifreim aaabcccb deutlich hörbar. Die letzte Melodiezeile ist deutlich länger als die anderen, da ihr Text einmal wiederholt wird. Die Zeilen 2 und 3 werden musikalisch in den Zeilen 6 und 7, nur um Punktierungen variiert, wiederholt. In der Notenbeilage zu Tersteegens Blumengärtlein von 1745 liegt die Melodie in folgender Form vor:
8 Niessen 1891, 46, führt als weiteren weltlichen Text an: Mein Abend-Stern, bestrahle weit und fern.
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Abb. 2: Wiedergegeben nach Nelle 1897, 434 (das Gesangbuch selbst ist zurzeit nicht nachweisbar; Quinte höher in G-Dur)
Die Zeilentrennstriche (nach Z. 2, 3, 6 und 7) sowie der Doppelstrich auf der Liedmitte weisen zunächst rein äußerlich darauf hin, dass die Melodie trotz des gleichen Reimschemas wie in der Vorlage als sechszeilig aufgefasst wird, indem die erste und zweite sowie die fünfte und sechste Zeile zusammengefasst sind. Dies geschieht im ersten Zeilenpaar nicht nur dadurch, dass die Achtelpause zugunsten einer punktierten Note ausgeschieden wird, sondern auch dadurch, dass der Quintaufgang nicht wie bei Clodius in der ersten Zeile zur Terz zurückgeführt wird. Was Johannes Zahn für die bei ihm (Z III,5040a) wiedergegebene etwas abweichende Fassung aus dem Jahr 1766 gesagt hat, nämlich dass es eine „in Beziehung auf den Rhythmus mangelhafte Aufzeichnung“ sei, gilt schon für die Ausgabe 1745. Erst wenn man alle Zeilenendnoten als punktierte Halbe denkt, die Auftakte berücksichtigt und die jeweils letzte Notengruppe in den Zeilen vier und acht im Wert verdoppelt, ist die Melodie rhythmisch völlig verständlich. Allerdings wirkt die vierte Zeile durch ihre Kürze, den geringen Ambitus von einer Terz und die grammatische Unselbstständigkeit des Textes ein wenig „verloren“. Die heute – und schon zu Wilhelm Nelles Zeit9 – gebräuchliche Zusammenfassung der dritten und vierten Textzeile zu einer gemeinsamen Melodiezeile geschieht durch die Verkürzung der halben Note über „an“ zu einer Viertelnote. Dadurch wird nicht nur die genannte Unzulänglichkeit der vierten Text-/Melodiezeile aufgehoben, sondern auch die Zweiteilung der Strophe hervorgehoben (Namen – Amen). Analog werden heute die siebte und achte Melodiezeile eng miteinander verbunden. Die Zweiteilung des Textes ist 1745 – äußerlich durch einen Doppelstrich gekennzeichnet – auch der Melodie zu eigen: Wie schon bei Clodius sind die Zeilen 2 und 3 identisch mit den Zeilen 6 und 7. Der Aufschwung vom Grundton zur Quinte in Z. 1 wird wie gehabt in Z. 5 von der Quinte zur Oktave fortgeführt. Während nun Z. 4 wie gehabt dominantisch endet, wird Z. 8 zum Grundton zurückgeführt. Die Wiederholung der letzten Textzeile bei Clodius greift Tersteegen nicht auf, 9 Nelle 1897, 434f.
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Kommentare zu den Liedern
der Vers wird bei ihm auf die einfache Melodiezeile verteilt. Indem diese dreimal zwei Noten über einer Silbe enthält, wird eine zusätzliche Schlusswirkung erzielt. Bereits in der achten Auflage des Blumengärtleins 177910 hat die Melodie eine – zeittypische – rhythmische Planierung erfahren, nur noch zwei Notenwerte werden gebraucht, alle Punktierungen ausgeschieden.
Abb. 3: Wiedergegeben nach Zahn III,5040b (Terz höher in Es-Dur).
Damit geht die bis heute gebräuchliche Schwerpunktverlagerung in der ersten Zeile einher: Während 1669 und 1745 in Zeile eins die Betonung auf schläfet fällt, liegt der metrische Schwerpunkt 1779 und heute auf man; analog verschieben sich die Betonungen in den Zeilen 4, 5 und 8. Des Weiteren ist 1779 der Ambitus von Z. 3 um einen Ton nach oben erweitert, wodurch die Identität mit Z. 7 aufgehoben wird. Während sich diese Änderung nicht durchgesetzt hat, ist die Ausweitung des Ambitus in Z. 8 bis heute zu finden. Ausgeschieden wurde nur die Durchgangsnote g bei Je(su) – die Akklamation wird dadurch noch verstärkt. Man sieht also, dass sich die heutige Liedfassung aus Elementen verschiedener Vorlagen zusammensetzt. Auf wen die Melodiefassung des EG ganz genau zurückgeht, entzieht sich dem Kenntnisstand der Verfasserin. Weitgehend war sie aber schon zu Nelles Zeit gebräuchlich11 – nur zwei Abweichungen sind zu nennen. Erstens sind bei ihm zwischen allen Zeilen Pausen notiert (und die punktierten Halben auf glatte Halbe verkürzt). Zweitens ist die Schlusszeile bei ihm ein einfacher Quintabstieg g f e (o Jesu, jeweils Viertelnoten) d c (Amen, jeweils Halbenoten). Tonal und rhythmisch identisch mit dem EG, aber auf Es notiert, findet sich die Melodie im Jugendgesangbuch „Ein neues Lied“ (Berlin 1932). DANIELA WISSEMANN-GARBE 10 Des geistlichen Blumengärtleins drittes Büchlein oder, geistliche Lieder und Andachten mit Noten versehen. Achte Auflage. Frankfurt und Leipzig, bei Pet. Dan. Schmitz, Buchh. in Solingen 1779 (Z VI,989). 11 Nelle 1891, 434f.
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Kommentare zu den Liedern
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504 Himmel, Erde, Luft und Meer
EG 504(ö)
RG 530ö(T)
504 Himmel, Erde, Luft und Meer
CG 915ö(T)
EM 52ö(T)
Text Verfasser Joachim Neander Quelle A & O. JOACHIMI NEANDRI Glaub- und Liebes-Übung: Auffgemuntert durch Einfältige Bundes-Lieder und Danck-Psalmen, Bremen 1680 (DKL 168009) Überschrift Der in GOttesGeschöpffen sich Erlustigende. Act. XIV. 17. O«k àmârturon Åautín åfœken ågahapoiÂn ú heí™. GOtt hat sich nicht unbezeugt gelassen/ durch Ghut thun. Mel. Ps. 136. Lobt den Herren inniglich/ etc. Ausgaben Joachim Neander. Bundeslieder und Dankpsalmen von 1680. Historisch-praktische Ausgabe mit ausgesetztem Generalbaß von Oskar Gottlieb Blarr, Köln 1984, 102 * Joachim Neander. Einfältige Bundeslieder und Dankpsalmen, hg. von Rudolf Mohr, Leipzig 2002, 74f Besonderes Unter dem Text steht: (Ist auch ein Reise=Lied zu Land
und Wasser.) Strophenbau 7/4a 7/4a 7/4b 7/4b Frank 4.42 Abweichungen 2,2 An dem Tag’ die Wolcken; 2,3 Mond und Sternen=Pracht; 3,1 der Erden runden Ball; 3,2 GOtt gezier’t hat; 3,3 Felder mit dem Vieh; 3,4 Finger hie!; 4,1 fleugt der Vogelschaar; 4,3 Donner/ Blitz/ Dampff/ Hagel; 5,3 Durch ihr Rauschen sie auch noch; 5,4 Preisen ihren Herren hoch; 6,1 wie wunderlich; 6,2 Spüret meine Seele dich! * RG, CG, EM: 1,4 und bring auch dein; 4,3 Donner, Blitz, Schnee, Regen, Wind; 6,2 nimmt dich meine Seele wahr Verbindung TM in der Q ohne N, die Melodieangabe (s. o. Überschrift) verweist auf Z I,1181 * RG, CG, EM: Melodie von Johann Georg Stö(t)zel (?) 1659/1704/1744 * weitere s. Kommentar
Melodie Incipit 1_11_12343_. Verfasser Georg Christoph Strattner Quelle JOACHIMI NEANDRI Vermehrte Glaub= und Liebes=Ubung (Georg Christoph Strattner), Frankfurt/Leipzig 1691 (DKL 169107) Ausgabe Z I,1228 Ambitus G: 8; Z: 4465 Abweichungen Taktangabe: c12/8 (in Vier-
teln/Achteln notiert); Quarte höher; mit Bc Verbindung MT wie EG * weitere eigene Melodien: Z I,1229 (1785); Z VI,8683 (Neander 1689) * weitere Verbindung: Z I,1230 (1704/1744; heute zu Gott sei Dank durch alle Welt [EG 12])
Literatur HEG II, 223–225.316 ** ThustB, 415f ** KLL (1878–1886) I, 305; Bruppacher (1953) 52f; RößlerL (22001) 575.593 ** SCHARR, Hansjörg: Himmel, Erde, Luft und Meer – Sind ganz grau und stinken sehr und zeugen von des Schöpfers Ehr. Klagend und lobend von der Schöpfung singen, entwurf. Konzepte, Ideen und Materialien für den Religionsunterricht (3/1989) 78–82 * ACKERMANN, Helmut:
Joachim Neander. Sein Leben, seine Lieder, sein Tal, Düsseldorf 32005, bes. 84f * MARTI, Andreas: Die neue Erde, den neuen Himmel besingen. Elemente von Schöpfungsspiritualität in Liedern der reformierten Tradition, in: Brigitte Enzer-Probst/ Elisabeth Moltmann-Wendel (Hg.), Im Einklang mit dem Kosmos. Schöpfungsspiritualität lehren, lernen und leben, Ostfildern 2013, 166–174 * MARTI, Andreas:
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Kommentare zu den Liedern
„Himmel, Erde, Luft und Meer“ (RG 530). Ein Lied der Kernliederliste, MGD 67 (2013) 108–112 (Im Internet abrufbar unter: http://www.rkv.ch/files/zeitschrift/1303_Himmel_Erde_Luft_und_Me
er.pdf) * SEIBT, Ilsabe/ EVANG, Martin: Monatslieder. Liturgische Anregungen für das Kirchenjahr 2012/2013 II, Thema: Gottesdienst, Wuppertal/Berlin, 37 (2013) 48–59, bes. 49–51
Das Lied ist im EG in die Rubrik „Natur und Jahreszeiten“ eingeordnet. Die meisten anderen neueren Gesangbücher, die das Lied enthalten, ordnen es unter „Schöpfung“ ein.1 Was ist der Unterschied? „Natur“ ist ein gegebener Zusammenhang, der in Eigengesetzlichkeit eingebunden, ja, eingeschlossen ist. Der Mensch kann die Natur beobachten, wissenschaftlich erforschen, beeinflussen, verändern. Er kann die Welt der Natur bewundern und bestaunen, von ihrer Schönheit und ihrer Vielfalt singen oder auch vor ihren Schrecken verstummen. Aber dieses Lied singt nicht von der Natur in diesem Sinne. Kein Lied Neanders singt von der „Natur“, alle singen von etwas anderem: Über der Sammlung, die der erst 30jährige Dichter kurz vor seinem Tod im Jahre 1680 veröffentlicht hat,2 stehen als Allererstes die griechischen Buchstaben A und Ω (Anfang und Ende), und dann beginnt der Titel: „JOACHIMI NEANDRI / Glaub- und Liebes=übung: /Auffgemuntert / durch / Einfältige / Bundes=Lieder / und / Danck=Psalmen“. Diese Lieder besingen eine Welt, die nicht in sich geschlossen ist als „Natur“, sie besingen eine Welt, die über sich hinausweist, die geöffnet ist auf Den hin, der mit ihr „im Bunde“3 ist: Das ist der Schöpfer, der A und Ω ist. Die Welt öffnet sich den Singenden als Schöpfung, in der sie dem Schöpfer begegnen, ihm Danklieder singen und sich durch ihre Lieder und Psalmen zu Glauben und Liebe ermuntern lassen. Aber das ist noch nicht das Ganze: Der Titel der Sammlung sagt noch mehr: „. . . Einfältige / Bundes=Lieder / und / Danck=Psalmen: [. . .] Gegründet / Auff dem / zwischen GOTT und dem / Sünder im Bluht JEsu befestigtem / Friedensschluss [. . .]“. Die Wahrnehmung der Welt als Schöpfung und der Zugang zum Schöpfer selbst, ja, die ganze durch Singen aufgemunterte Glaub- und Liebesübung hängen an Jesus Christus. Denn diese Welt der Menschen ist in der Sünde gefangen. So erscheint denn auch der Jesus-Name in vielen Liedern der Sammlung, und das letzte Lied trägt die Überschrift: „JEsus Christus der Anfang und das Ende“. Es steht unter dem Vers „Ich bin das A und das O / der Anfang und das Ende“ (Offb 1,8), ist zu singen auf die Melodie Wie schön leuchtet der Morgenstern und lautet in der ersten Zeile: Am Anfang warest du das Wort.4 1 RG (1998) unter Schöpfung, Jahreszeiten, Erntedank; EM (2002) und Brüdergemeine (2007) ordnen unter Gottes Schöpfung; viele alte Gesangbücher, aber auch EKG Rheinland (1969) ordnen unter Lob und Dank, Mennoniten (2004) unter Lob, Dank, Anbetung. 2 Rudolf Mohr (Hg.), Joachim Neander. Einfältige Bundeslieder und Dankpsalmen, Leipzig 2002. 3 Wie es der für die Reformierten so wichtige Föderal- oder Bundestheologe Johannes Cocceius (1603–1669) z. B. in seiner Summa doctrinae de foedere et testamento Dei (1648 und öfter) im Einzelnen dargelegt hat. 4 Insofern ist es völlig unverständlich, dass in HEG II, 224 im Artikel zu Neander behauptet
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Der letzte Teil des umfänglichen Titels der Liedersammlung gibt an, wo und von wem die folgenden Gesänge zu singen sind: „Zu lesen und zu singen auff Reisen / zu Hauß /o=der bey Christen-Ergetzungen im Grünen / durch ein geheiligtes / Hertzens=Halleluja! / Cant.II.14. / Meine Taube / in den Felßlöchern / in dem Verborgenen der Steinritzen / laß mich hören deine Stimme“. Hiermit ist klar: Ursprünglich sind die Lieder nicht gedacht für den Sonntagsgottesdienst in der Kirche, sondern für die pietistischen Versammlungen im Haus oder – wie wir es von Joachim Neander und den Gruppen, die er sammelte, wissen – auch im Freien, z. B. in jenem Tal bei Düsseldorf, das er oft besucht hat, allein oder mit anderen, und das bis heute nach ihm genannt ist. Das „Herzens-Halleluja“ ist jenes gemeinsame Singen, das durch die Jesusliebe gestiftet wird und das im biblischen Buch des Hohenliedes diese Liebe schon vorgezeichnet findet. In Neanders Sammlung hat jedes Lied eine Überschrift, die den jeweils vorgestellten Sänger des Liedes in seiner Gestimmtheit und Haltung charakterisiert. Über dem Text von Himmel, Erde, Luft und Meer steht „Der in Gottes Geschöpfen sich Erlustigende“5, und dann folgt, wie bei allen Liedern, ein Bibelwort im Urtext (in diesem Falle griechisch) und in Übersetzung, hier das Wort aus Apostelgeschichte 14,17 „GOtt hat sich nicht unbezeugt gelassen / durch Guht thun“. Dazu kommt ein Hinweis auf die Melodie zu Psalm 136 aus dem Lobwasserpsalter,6 dem Liedpsalter der Reformierten. Unter dem Lied folgt die Angabe: „(Ist auch ein Reise=Lied zu Land und Wasser)“. Wenn man die sechs Strophen des Liedes7 hörbar liest, so wirkt die Sprache einfach und leicht verständlich. Allerdings braucht sie Zeit, denn sie lebt von einer Vielfalt aufeinanderfolgender Bilder. Hört man ihr genau zu, erfasst man, welch ein Sprachkünstler hier in scheinbarer Einfachheit am Werk ist: Er spielt z. B. mit sich wiederholenden Vokal- oder Konsonantklängen (z. B. in der 1. Strophe mit e, in der 2. mit o, in der 4. mit f und a), und er erzeugt durch die Vielzahl der Bilder und der Erscheinungen in jeder Strophe den Eindruck überquellender Lebendigkeit. Weit ist der Bogen, den die erste Strophe spannt: weit für das Auge, das Himmel, Erde, Luft und Meer wahrnimmt, weit aber auch für das sprechende bzw. singende Ich, dem zugleich mit der sinnenhaften Wahrnehmung des Auges die Erkenntnis vermittelt wird: Was ich sehe, bezeugt die Ehre des Schöpfers – weist auf Ihn hin, lobt Ihn. Der von dem Dichter über das Gedicht gesetzte Bibelvers macht deutlich, dass dieses „Zeugnis“ nicht quasi selbsttätig von Himmel, Erde, Luft und Meer ausgeht: Der Schöpfer selbst bezeugt sich hierin. wird, er betone den ersten Glaubensartikel so stark, dass man Aussagen des zweiten Artikels oftmals vergeblich suche: In den Liedtexten selbst ist in mehr als der Hälfte von Jesus Christus die Rede. 5 Neander ist Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft, die sich der Pflege der deutschen Sprache besonders verpflichtet weiß. In den Überschriften über seinen Liedern fällt auf, wie häufig er sich der Partizipien bedient. 6 Sie findet sich heute in EG 301. 7 Selten haben Neanders Lieder mehr als fünf oder sechs Strophen – lange Wege wie bei Paul Gerhardt gibt es nicht.
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Deswegen wird auch nicht einfach „der Mensch“ oder das eigene „Ich“ zur Antwort aufgerufen, sondern meine Seele. Die Seele ist jener Innenraum des Menschen, der seine Bestimmung darin hat, auf Gott ausgerichtet zu sein8. Und so antwortet der Wendung des Auges nach außen die Wendung des Ich nach innen, zur eigenen Seele: Sie wird zum Einstimmen (du . . . auch) in das Zeugnis der Elemente aufgefordert – und dieses Einstimmen geschieht als Singen und Loben. Wie in allen seinen Liedern, so hat Neander auch hier vielfältig biblische Bezüge eingespielt: aus dem schon für die Melodie empfohlenen Psalm 136 die Verse 1–9, aber auch Psalm 19,2: Die Himmel erzählen die Ehre Gottes – oder die Ermunterung der eigenen Seele zum Lob aus Psalm 146,2. In den vier folgenden Strophen wandelt sich die Sprechform in eine Aufforderung an alle, die mitsingen oder zuhören. Das ganze Lied wird zur Seh-Schule: Seht! Während in der ersten Strophe die eigene Seele angeredet wird, bleibt in Str. 2–5 offen, wer die in Pluralform Angeredeten sind, die zum Sehen aufgefordert werden – ein sprachlicher Kunstgriff, dessen stete Wiederholung dazu beiträgt, dass die Singenden dazu angeleitet werden, sich von Strophe zu Strophe bewusst auf ein neues Bild einzustellen. Nacheinander werden die vier Bereiche der geschaffenen Welt, die in der ersten Zeile der ersten Strophe genannt wurden, in den Blick genommen: der Himmel mit Sonne, Wolken, Mond und Sternen (und wie schön spricht das Bild von ihrem Jauchzen in der stillen Nacht9); dann die Erde, von Gott selbst geziert und Spuren seines Fingers zeigend (Ps 8,4); die Luft, Raum der Vögel, die paarweise fliegen (1. Mose 7,3), aber auch Raum der gewaltigen Wetterkräfte, die Ihm zu Willen sind (Ps 148,8; Hiob 38,22f); und die Wasserwellen (Ps 42,8) – spätestens hier wird deutlich, dass es gar nicht nur ums „Sehen“ geht, sondern dass sich dieses Sehen unversehens immer wieder ins Hören wandelt: Jauchzen, Donner, Hagel, Rauschen – und auch Tiere auf der Erde und Vögel in der Luft sind nie stumm,10 und alles, was in den vier Bereichen zu sehen und zu hören ist, hat eine Richtung auf den Schöpfer hin: im Jauchzen, im Zeigen, im Tun Seines Willens, im Preisen. Und so führt die sehend-hörende Wanderung durch die Schöpfung die Sprache in der letzten Strophe zum Gebet. Jetzt darf der Schöpfer als mein Gott angeredet werden – und als Einer, der sich der Seele wunderbar, unvergleichlich, darstellt. Es ist verständlich, zugleich aber auch ein wenig schade, dass die EG-Fassung gerade an dieser Stelle, die beschreibt, wohin das Sehen führt, vom Original abweicht. Ursprünglich heißt es: Ach mein Gott, wie wunderlich / spüret meine Seele dich. Man hat wohl geändert – auch manche früheren Gesangbücher11 8 Vgl. Sauer-Geppert, 91–95. 9 In der Luther-Bibel, die zu Neanders Zeiten noch unrevidiert in Erstgestalt im Gebrauch war: Nun ruhet doch alle Welt und ist stille und jauchzend fröhlich (Jes 14,7). 10 40 Jahre später (!) wird Barthold Heinrich Brockes seinen berühmten Text schreiben: Meine Seele hört im Sehen,/ wie den Schöpfer zu erhöhen,/ alles jauchzet, alles lacht und spricht von der Sprache der Natur,/ die sie deutlich durchs Gesicht / allenthalben mit uns spricht. Reclam Universalbibliothek Nr. 2015, Stuttgart 1999, 94. 11 U.a. Basel 1859; Berlin 1886.
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haben das schon getan –, weil das Wort wunderlich einen Bedeutungswandel durchlaufen hat und zumindest missverständlich klingt. Aber nun entsteht durch die Änderung im Liedtext eine entscheidende Veränderung gegenüber der Aussage des Originals: In der heutigen Fassung stellt Gott sich der Seele dar: Letztere ist also quasi passiv – und zudem weist „sich darstellen“ auf eine gewisse Distanz.12 Bei Neander spürt die Seele auf wunderliche/wundersame Weise das Du dessen, den sie mein Gott nennt. Es ist eine Erfahrung, in der sich die Empfindung (spüren) von Nähe und Ferne miteinander verbinden – die meditative Erfahrung des ganz Anderen, die immer wieder gesucht wird und die zugleich auch zur Selbsterkenntnis führt: Drücke stets in meinen Sinn,/ was du bist und was ich bin. Das erinnert an die Frage: Was ist der Mensch, dass du sein gedenkst? (Ps 8,5) – und es macht zugleich deutlich, dass der Mensch die Antwort auf diese Frage immer wieder vergisst – und dass er sie sich nie selbst geben kann. Der Mensch, der bei dieser Bitte bleibt, wird am Ende das tun, was Himmel, Erde, Luft und Meer auch tun: durch sein Dasein von des Schöpfers Ehre zeugen, – und dies so, wie es dem Menschen aufgetragen ist: im Tun Seines Willens, im Üben von Glauben und Liebe. Im Sinne von Joachim Neander wird er durch Singen von Bundesliedern und Dankpsalmen dazu ermuntert. Der Dichter ist auch als begabter Musiker bekannt gewesen,13 der auf der Höhe der Zeit steht und sich für seine Lieder der neuen Kompositionstechnik bedient: Er schreibt im Typ der Aria Generalbasslieder – und dies ist auch im Hinblick auf seine Texte sinnvoll, denn für das oben erwähnte „Singen auf Reisen, zu Haus oder bei Christen=Ergötzungen im Grünen“ ist eine Begleitung durch Cembalo bzw. Laute (im Freien) angebracht. Allerdings sind Neanders Lieder ganz und gar nicht auf die ebengenannten Orte beschränkt geblieben. Im Gegenteil: Sie traten einen wahren Siegeszug an – in reformierte und, was neu war, ebenso in lutherische Gottesdienste und Gesangbücher. Da brauchte man dann aber Melodien und Musizierweisen, die für den gottesdienstlichen Gebrauch geeignet waren. Für die Reformierten öffneten Melodien des seit Generationen gesungenen Lobwasserpsalters die Tür zu den Texten der neuen Lieder. Hier folgte man gern den Melodiehinweisen, die Neander selbst in seiner Liedersammlung gegeben hatte.14 Man ging dazu über, Gesangbücher herauszugeben, die neben dem kompletten Lobwasserpsalter und einem zweiten Teil des Gesangbuchs, der Lieder von „D. Martin Luther und anderer gottseliger Lehrer“ enthielt, noch „Hrn. JOACHIM NEANDRI 12 Nicht alle neueren Gesangbücher machen diese Änderung mit: Das mennonitische GB 2004 bleibt beim Urtext; RG 1998 formuliert: wie wunderbar nimmt dich meine Seele wahr; dem schließen sich einige freikirchliche Gesangbücher an (z. B. EM 2002; Brüdergemeine 2007). Eine andere Lösung gefunden hatte 1810 die Brüdergemeine Barby, die nicht auf das spüret verzichten wollte: Ach, mein Gott, wie mächtiglich / spüret meine Seele dich. 13 Vgl. dazu im Einzelnen RößlerL, 579–581. Oskar Gottlieb Blarr hat eine historisch-praktische Ausgabe mit ausgesetztem Generalbass herausgegeben: Joachim Neander, Bundeslieder und Dankpsalmen von 1680, Köln 1984. 14 S. o. Anm. 6 und den dazu gehörenden Absatz.
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Geistreiche Bundes-Lieder und Dank-Psalmen“ hinzuzufügen.15 Oder man hängte an den Lobwasserpsalter einen zweiten Teil an, in dem als Verfasser von Liedern sowohl D. Martin Luther als auch Joachim Neander namentlich nebeneinander genannt, ihre Lieder aber je nach Rubrik im Buch verteilt wurden.16 In den beiden Ausgaben des lutherischen Freylinghausenschen Gesangbuchs17 finden sich insgesamt 24 Lieder von Neander. Und der reformierte Pietist Gerhard Tersteegen gibt 1768 unter dem Titel „Gott-geheiligtes Harfen-Spiel der Kinder Zion“ eine Sammlung heraus, in welcher die komplette Sammlung Neanders am Anfang steht, gefolgt von 680 „anderen auserlesenen alten und neuen Bundes-Liedern und Dank-Psalmen“. Immer gehört Himmel, Erde, Luft und Meer dazu – wenn auch mit unterschiedlichen Melodiezuweisungen (sehr häufig mit Gott sei Dank durch alle Welt18 oder mit der oben erwähnten Weise des 136. Psalms, manchmal auch mit Nun komm, der Heiden Heiland 19), immer wieder aber auch mit jener Melodie, die sich dann allmählich als „eigene“ Weise herausbildete und heute im EG und in verschiedenen anderen neueren Gesangbüchern20 steht. Sie wurde von dem Frankfurter Kapellmeister Georg Friedrich Strattner geschaffen und erschien erstmals 169121 in einem Gesangbuch in Frankfurt und in Leipzig, später in Halle (ab 1704) und an anderen Orten. Wichtig ist, dass Strattner die Melodie seines Generalbassliedes im 12/8-Takt schrieb. In Halle setzte man sie schon 1704 in eine 4/4-Taktweise um, und in dieser Form wurde sie jahrhundertelang in Gesangbüchern weitergetragen: Sie ist so noch im 20. Jh. in der 25. Auflage der „Großen Missionsharfe“ (1919) zu finden. Heute schließt die Melodiefassung im EG wieder an Strattner an, verlässt also den „geraden Takt“, notiert dabei allerdings nicht wie Strattner im 12/8-, sondern im 6/4Takt. Woher dieser Neuanfang? Entstand er über das von Otto Riethmüller seit 1932 in zahlreichen Auflagen herausgegebene Jugendliederbuch „Ein neues Lied“? Riethmüller hatte das von ihm geschriebene Herr, wir stehen Hand in Hand mit der alten Melodie Himmel, Erde, Luft und Meer verbunden. Das Lied wurde im Kirchenkampf weit verbreitet, und „Ein Neues Lied“ erlebte bis in die Nachkriegszeit zahlreiche Auflagen – die Melodie war also jetzt wieder bekannt und verbreitet. Aber vielleicht lag auch der Ansatz bei dem Gesangbuch der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins von 1930, das 1949 noch einmal unverändert nachgedruckt wurde? Darin findet sich das Lied mit seiner eigenen Weise, allerdings noch im 3/4-Takt. Im EG also steht die Melodie im 6/4-Takt, und das tut dem Lied außerordentlich gut. Wenn man der in großer Ruhe halbtaktig schwingenden Melodie Z. B. Marburg 1722. Cleve/Jülich/Mark/Berg 1738. In einem Band zusammengestellt 1741. EG 12. EG 4. Feiern und Loben. Die Gemeindelieder. Bund Freier evangelischer Gemeinden und Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden 2003; GB der Evangelischen Brüdergemeine 2007. 21 Z I,1228 – im 12/8-Takt.
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folgt, nimmt man wahr, wie selbstverständlich durch diese rhythmische Fassung dem steten Wechsel von betonten und leichten Silben der Sprache entsprochen wird – und auch, wie sinnvoll der Aufstieg zum Hochton in der zweiten Zeile jeweils dem Text entspricht. Zugleich entsteht formal nicht der Eindruck von Kleinteiligkeit, da die melodische Gestalt so bezwingend die vier Zeilen miteinander verknüpft zu einem großen Ganzen: durch wörtliche Sequenzierung in den ersten beiden Zeilen, am Ende der zweiten durch das Stehenbleiben ausgerechnet auf dem hohen Leitton, der natürlich dann in die Oberoktav hinübergehen muss – und am Ende der dritten Zeile, weil man schon hört, dass die durch allmähliches Hinabgehen erreichte Terz im Folgenden den Grundton anstreben wird. Der Eindruck einer großen Ruhe zu Beginn wird auch melodisch erreicht: je viermal derselbe Ton am Anfang der Zeilen 1 und 222 (der in den Strophen 2–5 die Aufforderung zum aufmerksamen Sehen unterstützt), danach dann der stufenweise Aufstieg; kontrastierend dagegen je zu Beginn der Zeilen 3 und 4 unvermittelte Abwärtssprünge, die im Folgenden erlauben, im Unterschied zum ersten Teil selbst auf kleinem Raum noch eine Gegenbewegung zuzulassen. Große Kunst ist diese kleine Melodie – und ist (zumal in ihrer deutlichen Zweiteiligkeit) tatsächlich maßgeschneidert für diesen Text, dem sie ursprünglich zugedacht ist. Gegenüber der auch heute noch weit verbreiteten Lehnmelodie23, die eigentlich zu Gott sei Dank durch alle Welt24 gehört, ist sie zweifellos die profiliertere, die glücklichere Lösung. Und heute? In der Schweiz ist das Lied offensichtlich durch die Jahrhunderte in Gesangbüchern weiter überliefert worden25 – immer mit der Melodie Gott sei Dank durch alle Welt. Heute gehört es dort zu den neuen 30 Kernliedern (2010), „Liedern aus der älteren Tradition, die Generationen verbinden und Kontinuität sichern sollen“.26 In Deutschland gehört es nicht zu den Kernliedern. Es hat nicht im EKG gestanden, und im EG ist es in der Rubrik „Natur und Jahreszeiten“ zu finden. Es gibt ein Nachdenken darüber, ob es heute vielleicht zu den Liedern gehört, „die es mehr oder weniger zum Volksliedstatus gebracht haben“, das heißt also, die „theologisch eher wenig profiliert sind, aber für viele Menschen [. . .] eine Möglichkeit, ein Stück ihrer Lebensauffassung und Religiosität zum Ausdruck zu bringen“27. Das mag so sein. Vielleicht gibt es aber auch noch andere Fragen – weniger Fragen an das Lied als Fragen an uns: ob in unserer Welt noch Zeit und Ort sind, jenes „Sehen“ einzuüben, von dem Joachim Neander gesungen hat – ein Sehen, das nicht von der Jahreszeit abhängig ist und nicht nur „Natur“ sieht, sondern das uns etwas „eindrückt“ und uns dann weiterführen kann ins Hören und ins Üben und in die 22 Das erinnert an die Neandersche Melodie EG 372. 23 Sie ist mit dem Text verbunden in RG, in EM und im mennonitischen GB (2004), die beide auch für die Schweizer Gemeinden gelten. 24 EG 12 25 Man findet es z. B. in: GB Basel 1754; Basel 1859; Deutsche Schweiz 1891. 26 Andreas Marti, Eine weitere „Kernliederliste“, JLH 49 (2010) 213–216. 27 Andreas Marti, Christliche Identität und religiöser Ausdruck im „geistlichen Volkslied“, JLH 47 (2008) 193–100, ebd., 198.
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Kommentare zu den Liedern
Bitte, zu erkennen, was du bist und was ich bin. Vielleicht brauchte es, um jenes „Sehen“ zu wecken, nur das wiederholte aufmerksame Singen dieses kleinen Liedes, jenes Stückchens großer Theo-Poesie, das in eine maßgeschneiderte Melodie gekleidet ist. CHRISTA REICH
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