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German Pages 38 [52] Year 1952
DER DER
THEOLOGISCHEN
PHILIPPS-UNIVERSITÄT FÜR
EHRENDOKTORS
VERLEIHUNG DER
IN DANKBARKEIT
FAKULTÄT IN M ARB
URG
EINES RELIGIONSWISSENSCHAFT ZUGEEIGNET
L E I B N I Z UND CHINA VON
R. F . M E R K E L Vielleicht verstehen wir erst in unserer Zeit so recht das Ringen eines schöpferischen Geistes wie es Leibniz war, mit all den zermürbenden Mühseligkeiten in der Beschaffung des Quellenmaterials zu seinen ausgedehnten und weltweiten Studien auf fast allen Gebieten des menschheitlichen Kampfes um materielle und geistige Existenz. War doch die Epoche, in die Leibniz hineingestellt wurde und der er in gewissem Sinne den Stempel seiner überragenden Persönlichkeit aufdrückte, — das 17. und 18. Jahrhundert — eine geistesgeschichtlich revolutionierende Epoche der reichlich mißverstandenen „Aufklärung" von internationaler Bedeutung und Auswirkung, unter deren gestaltender Nachwirkung wir heute noch stehen. Es gehörte die geniale Universalität eines Leibniz dazu, in den überall auftauchenden weitschichtigen Problemen sich zurecht zu finden und den geistesgewaltigen Versuch zu machen, die allenthalben spürbaren neuen Erkenntnisse und Gestaltungen der Lebensgebiete seines Zeitalters einer prästabiliert-harmonischen Weltanschauung einzufügen. Nicht ohne tiefe Ehrfurcht wird jeder, der einmal in Leibniz' Arbeitszimmer zu Hannover gestanden ist, an die immense Fülle seiner uns noch erhaltenen 40 000 Briefe denken, die mit theologischen, philosophischen, historischen und praktischen Erörterungen und Auseinandersetzungen gefüllt sind und seine unermüdlichen Beziehungen zu fast allen damals bekannten Ländern und Völkern nebst ihren bedeutendsten Persönlichkeiten erkennen lassen. Und was vielleicht gerade in unserer Zeit als das Staunenswerteste erscheint, war das lebhafte Interesse des Philosophen an dem neu erschlossenen „Fernen Osten" mit seiner einzigartigen Kultur, an China und seinem seit Jahrtausenden dort lebenden Volk1. 1 Den folgenden Ausführungen liegt zugrunde: meine Untersuchung über „Die Anfänge der protestantischen Missionsbewegung, G. W. von Leibniz und die China-Mission" (1920); mein Vortrag für den XVIII. Internationalen Orientalisten-Kongreß in Leiden (1931): „China und das Abendland im 17. und 18. Jahrhdt.", erschienen in „Sinica" VII (1932); meine Studie: „Zur Geschichte der Erforschung chinesischer Religionen" in: „Studi e Materiali di Storia delle Religioni", XV (1939), Bologna, S. 90 ff.; meine Abhandlung: „Deutsche Chinaforscher" in: „Archiv für Kulturgeschichte", XXXIV. Bd. (1951), S. 81 ff. — Ferner O. Franke „Leibniz und China", Z. D. M. G., NF. Bd. VII (Bd. 82), S. 155 ff. — Donald F. Lach, „Leibniz und China", „Journal of the History of Ideas", Vol. VI (1945), S. 436 ff. — Ders. „China and the Era of the Enlightenment" in „The Journal of Modern History", Vol. XIV (1942), S. 209 ff. mit ausführlicher Literaturangabe, daraus: H. Cordier, „ L a Chine en France au XVIII e siècle" (1910). — Henri Bernard, „ L e Père Mathieu Ricci et la société chinoise de son temps", 2 vols. (1937). — Pierre Martino, „L'Orient dans la littérature française au XVII« et"au XVIII e siècle" (1906). — E. H. von Tchamer, „China in der deutschen Dichtung bis zur Klassik" (1939). — V. Pinot, „ L a Chine et la formation de l'esprit philosophieque en France, 1640 —1740", (1932). — Ders. „Documents inédits relatifs à la connaissance de Chine en France de 1685 à 1740" (1932). — Sodann O. Münsterberg „Bayern und Asien im 16., 17. und 18. Jahrhdt." (1895), — Herrmann, „Die alten Seidenstraßen zwischen China und Syrien" (1910). — Frdr. Hirth, „China and the Roman Orient" (1885). — W. Schüler, „Abriß der chinesischen Geschichte" (1912). — Wolfr. Eberhard, „Chinas Geschichte" (1948). — F. T. Cheng, „China. Das Werk des Konfuzius" (1949). — Kurt Huber, „Leibniz" (1951).
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Zweifellos gebührt den französischen Jesuiten das hohe Verdienst, die bisher nur wenig bekannte Kultur Chinas für das Geistesleben des Abendlandes erschlossen und Sprache, Philosophie und Religión der Chinesen einer wissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich gemacht zu haben. Zwar hatte man eine ungenaue Kenntnis der unabsehbar weiten Gebiete Ostasiens seit der Spätantike immer wieder erhalten, und auf Karawanenstraßen gelangte vielbegehrte chinesische Seide in die mediterranen Handelsmetropolen der römischen Kaiserzeit. Auf diesen Spuren zogen dann die ersten christlichen Missionare der syrischnestorianischen Kirche bis an den kaiserlichen Hof der Tang-Dynastie (618 bis 906). Die 1621 (1625) erfolgte Auffindung eines zweisprachigen Gedenksteins in der chinesischen Vorstadt Si-an-fu zur Erinnerung an die Verbreitung der glanzvollen Lehre des Christentums im Mittelreich (781 n. Chr.) erregte Mitte des 17. Jahrhunderts allgemeines Aufsehen2 und veranlaßte den Jesuitenpater Athanasius Kircher 1667 zur Herausgabe seines umfangreichen Werks: „China Monumentis, qua sacris qua profanis, nec non variis naturae et artis spectaculis, aliarumque rerum memorabilium argumentis illustrata", dem trotz vieler Mängel die Beschäftigung mit China in Europa zu verdanken ist8. Erst um die Mitte des 13. Jahrhdts. gelangten bestimmtere Nachrichten über China nach Europa durch die beiden Franziskanermönche: den Italiener Johann von Plane Carpini und den Niederdeutschen Wilhelm Ruysbroek (Rubruk)4, die von ihrer Reise an den Hof des Groß-Khans der Mongolen ausführliche Berichte über Sitten und Kunstfertigkeiten im Wunderlande China darboten. Wenige Jahrzehnte später gelangte der venetianische Kaufmann Marco Polo als erster Europäer bis an den Hof des mongolischen Kaisers Kublai in Kaipingfu und weilte von 1275—1292 im chinesischen Reich. Sein Reisebericht, der nodi heute eine wertvolle Quelle ist, enthält erstmals zuverlässige Mitteilungen über die Lebensweise der Einwohner, ihre kultischen Gebräuche und Tempelanlagen5. Solch kühnen Bahnbrechern folgten zu Anfang des 14. Jahrhunderts die Mönche Johann von Monte Corvino mit seinen Ordensbrüdern und der von Papst Nikolaus IV. im Jahre 1289 nach Peking (Khan Baliq) entsandte Odorich von Pordenone. Aus all diesen Berichten war die hohe Kulturstufe des chinesischen Volks ersichdich; kamen doch damals durch die Vermittlung arabischer und persischer Kaufleute die Erfindungen des Papiers, Buchdrucks, Kompasses und Schießpulvers nach dem Westen und bedingten eine neue Ära in Europa. In Anlehnung 2 Zur Literatur über die Nestorianer-Inschrift von Si-an-fu s. O. Franke, „Geschichte des chinesischen Reichs", Bd. III (1937), S. 434. — H. Hermann, „Chinesische Geschichte" (1912), S. 73 ff. — G. Rosenkranz, „Die älteste Christenheit in China in den Quellenzeugnissen der Nestorianer-Texte der Tang-Dynastie" (1938). — R. Hennig, „Terrae incognitae" II, Leiden, S. 88 ff. 3 Vgl. dazu A. Huonder, „Deutsche Jesuitenmissionäre des 17. und 18. Jahrhunderts", 1899. — J. Dahlmann, „Die Sprachenkunde und die Missionen", 1891. — N. Söderblom, „Werden des Gottesglaubens", 1926. — E. H. von Tschamer, „China in der deutschen Dichtung", 1939. — K. Brischar, „A. Kircher, ein Lebensbild", 1877. * S. dazu A. Batton, „W. von Rubruk", 1921. — Fr. Risdi, „Wilhelm von Rubruk" in: „Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft", Jahrg. 40, S. 357 ff. 5 Vgl. J. Witte, „Das Buch des Marco Polo als Quelle für die Religionsgeschichte", 1916. — Ed. H. von Tschamer, „Der Mitteldeutsche Marco Polo" in: „Deutsche Texte des Mittelalters", Bd. 40, 1935. — L. Olschki, „Manichaeism, Buddhism and Christianity in Marco Polo's China" in: „Asiatische Studien (Études Asiatiques)", Bern, 1951, Heft 1/2.
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an A. Kircher's Werk versuchte der Augsburger Theophil Spizeüus in seinem Büchlein: „De re literaria Sinensium" (1660) Verbindungen zwischen der chinesischen, ägyptischen, griechischen, ja sogar indischen philosophischen Gedankenwelt herzustellen, indem er von einer „Harmonía Philosophiae Confutianae et Platonicae" handelt8. Doch erst die große Wende der Zeiten um 1500 n. Chr. ließ die Sehnsucht nach dem fernen Osten aufs Neue erwachen, galt doch die kühne Fahrt des Kolumbus eigentlich der Wiederentdeckung jenes fabelhaft reichen Landes Cathay — wie man China damals nannte —, bis endlich im Jahre 1514 das erste europäische Schiff, ein portugiesisches, in einen chinesischen Hafen einfuhr. Damit hatte Europa für immer in China festen Fuß gefaßt, und bald folgten auch christliche Sendboten, vor allem die französischen Jesuiten, die in kluger Berechnung mit ihren ausgezeichneten abendländischen Kenntnissen sich vorteilhaft einführten. Zunächst freilich war es schon der Missionseifer, der die ersten Missionare Miguel Ruggiero, Franciscus Pasio und Matteo Ricci um 1582 veranlaßt hatte, in Kanton sich niederzulassen. Riccis langjährige und erfolgreiche Tätigkeit wurde typisch für die Missionsmethode der Folgezeit, da er zuerst sich bei den Gebildeten Eingang zu verschaffen suchte durch Mitteilung wissenschaftlicher Erkenntnisse, vor allem auf dem Gebiet der Mathematik, Astronomie und Physik. Nahe Beziehungen zum kaiserlichen Hof ebneten ihm 1601 den Weg in die Hauptstadt Peking, wo er dem Kaiser Schendsung (Wanli) allerlei Geschenke überreichte und bis zu seinem Tod (1610) zahlreiche Anhänger gewann. Eine vorübergehende feindselige Haltung gegen die fremde Lehre legte sich bald wieder und bereits um 1628 finden wir die P. P. Terenz (Schreck), Langobardi, Kögler, Adam Schall7 u. a. wieder als Berater am Pekinger Hof. Der gelehrte Adam Schall stand in so hohem Ansehen bei dem neuen Kaiser der MandschuDynastie Schun-dschi, daß dieser ihm die Erziehung seines Sohnes und Erben Kanghi (1662—1722) übertrug. Unter Kanghis langjähriger und glänzender Regierung erreichte die Wirksamkeit der Jesuiten ihren Höhepunkt8. Nach P. Buglio's und P. Magallanius' Tod blieb P. Ferd. Verbiest allein in der Umgebung des Kaisers als dessen Berater, bis er in P. Phil. Grimaldi, Thomas Pereira und Antonius Thoma Gehilfen in der Arbeit erhielt. Diese einflußreiche Tätigkeit bestimmte vor allem den ehrgeizigen König Ludwig XIV., von Seiten der Akademie der Wissenschaften zu Paris besonders ausgewählte Jesuiten als „Königliche Mathematiker" 1685 nach China zu senden: darunter die P. P. Fontaney, 6 Uber den Augsburger Diakonus Theoph. Spitzel (1639—1691) weist H. Haas in der ausführlichen Anzeige meines Leibniz-Buches in ZMR 1921, S. 58 ff. auf die Notiz bei Joh. Burch. Mencken in „Historia Philosophiae Sinensis nova methodo tradita" (Braunschweig, 1727) hin: „Theophili Spitzeiii de re literaria Sinensium commentarius Lugduni Bat. 1660.12. Atque hie primus est, qui, quae sparsim extant de re literaria Sinensium, in unum collegit fasciculum. Nec inanem suscepit operam. Multa enim corrogavit peregregia, linguarum exoticarum gnarus, et supellectile libraria non vulgari i n s t r u c t u s . . . " — S. auch Alle. Deutsche Biographie, Bd. X X X V , 221 f. 7 Über Johann Adam Schall von Boll (1592—1666) s. das „Lebens- und Zeitbild" (1933) von Alfons Väth. 8 S. audi die Studie von Eloise Talcott Hibbert, „Jesuit adventure in China during the reign of K'ang Hsi" (1941); sowie Charles Wilfred Allans, „Jesuits at the court of Peking" (1935); C. Wessels, „Early Jesuit travelers in central Asia, 1603—1721" (1921) und Georges Soulie de Morant, „L'épopée des Jésuites français en Chine" (1928).
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Gerbillon, Le Comte, Visdelou. Bei ihrer Ankunft 1688 trafen sie P. Grimaldi nicht mehr an, da er bereits 1687 nach Europa gereist war, wo ihm dann 1689 in Rom Leibniz begegnete und durch Grimaldi entscheidend beeinflußt wurde. Ehe die Pariser Delegation nach Peking kam, starb P. Verbiest, nur den gelehrten P. Intorcetta trafen sie in Hangtscheou an. Durch Vermittlung des P. Pereira kamen die P. P. Franciscus Gerbillon und Joachim Bouvet nach Peking, während Fontaney eine Inlandstation übernahm. Ihre Beziehungen zu dem Kaiser Kanghi wurden immer enger, so daß sie es sogar wagen konnten, gegenüber auftretenden Feindseligkeiten dem Kaiser das berühmte Toleranzedikt (1692) abzuringen, das die Freiheit der missionarischen Tätigkeit feierlich erklärte. In Europa rief die Kunde davon allgemeine Bewunderung und Freude hervor und weckte von neuem sympathisches Interesse — besonders auch bei Leibniz — für den aufgeklärten Monarchen des östlichen-Riesenreiches. Schon P. Du Halde bezeichnet in seiner „Ausführl. Beschreibung des chinesischen Reichs" (1748, II, 419) Kanghi als „einen der größten Regenten, die China jemals gesehen, dessen Name der ganze Orient gescheut und den ganz Europa mit Aufmerksamkeit betrachtet hat" und A. Forke charakterisiert in seiner „Geschichte der neueren chinesischen Philosophie", Bd. III, 459 f., Kanghi mit folgenden Worten: (Er) „war eine der markantesten Persönlichkeiten der chinesischen Geschichte und eine der glänzendsten Herrschergestalben Chinas, den man nicht mit Unrecht mit Ludwig XIV. verglichen hat, ritterlich, hochherzig, milde und gütig gegen seine Untertanen, tapfer im Kriege, ein kluger Staatsmann und Förderer von Literatur und Kunst. Bereits mit 8 Jahren kam er zur Regierung, und mit 14 Jahren machte er sich selbständig"; damit begann eine neue Blüteperiode der chinesischen Kultur. Der Kaiser aus der Mandschu-Dynastie hat das Reich nach innen und außen gefestigt, und der Glanz seiner Regierung versöhnte die Chinesen mit der Fremdherrschaft, zumal er sich völlig das Wesen und die Eigenart seiner Untertanen zu eigen machte. Sein lebhaftes Interesse an der überkommenen nationalchinesischen Kultur bewog ihn, bedeutende Gelehrte an seinen Hof zu ziehen, um orientierende Sammelwerke herauszugeben: so die große geographische Enzyklopädie des Ku Yen-wu und die gewaltige Enzyklopädie der gesamten Literatur in 1628 Bänden, das T'u-shu tsi-ch'eng, die in solcher Gründlichkeit kein anderes Volk besitzt. Das ganze Reich ließ Kang-shi durch die Jesuiten vermessen und kartographisch aufnehmen. Ebenso leiteten sie den Bronzeguß für Kanonen, die sie weihten, lehrten die Uhrmacherei und die Herstellung optischer Instrumente; auch technische und mechanische Werkstätten unterstanden ihnen. Kaiserlicher Gunst erfreuten sich die Malerei und das Kunstgewerbe, vor allem die Porzellanfabrikation. Die vielgestaltigen Anregungen in Wissenschaft, Kunst und Literatur wirkten sich auch noch unter den Nachfolgern Kang-shi's aus, seinem Sohn Yung-tscheng (1723—1736) und besonders unter seinem Enkel Tsch'ien-lung (1736—1796), dessen literarische Begabung allgemein bewundert wurde. Während der Mandschu-Zeit entstanden berühmte literarische Werke auf Gebieten, die von den Chinesen nicht als Literatur betrachtet wurden: Roman, Novelle, Drama. Es entstand der Novellenband „Liao-chai chi-i" von P'u Sung-ling sowie der schönste Roman der chinesischen Literatur: „Der Traum der
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roten Kammer" (Hung-lou-meng) von Ts'ao Hüe-k-in (gest. 1763). In vielen Romanen wird Kritik an sozialen Zuständen geübt, und vor allem ist bemerkenswert, wie selbst die Frauenfrage berührt wird in dem Roman „King-huayüan" von Li Ju-chen, der gleiche Rechte für Männer und Frauen forderte9. Ja, auch das philosophische Denken der Chinesen suchte K'ang-hsi neu zu beleben dadurch, daß er die gesamten Werke des führenden Denkers des elften Jahrhunderts, Tschu Hsi, zu einem System verarbeiten ließ, idem „Tschu-tse tsch'üan-schu". Stand dodi seit dem 12. Jahrhundert das durch Tschu Hsi und seine Schule neu gestaltete konfuzianische Dogma als bestimmend im Mittelpunkt des philosophischen Denkens, und so hatte sich das konfuzianische Literatentum zu einer einflußreichen Kaste entwickelt, mit der jede Regierung rechnen mußte. Die Starrheit dieser Kaste mit ihrer Engstirnigkeit war es auch, die leider den Untergang des alten Staatswesens herbeigeführt hat, wie dies O. Franke eindrucksvoll darlegte. Es war eine Art Konfuzianische Uniformierung des Geistes, die als geistige Erstarrung im 15. und 16. Jahrhundert mehrfach von Sinologen angesehen wird. Das war aber, ähnlich wie im abendländischen Mittelalter, nicht der Fall; sondern es gehörte großer Mut dazu, eigene Gedanken und Ideen durchsetzen zu wollen. „Solch Einzelgänger setzte nicht nur sein Amt und seine gesellschaftliche Stellung aufs Spiel, sondern auch sein Leben"10. Wir kennen aber eine ganze Reihe von Namen, die den Kampf tapfer gewagt haben und man schätzt fast 2700 Werke, die ganz oder teilweise der Vernichtung anheimfielen. Erst die neuere Zeit bringt wieder Teile der verbotenen, aber geretteten Literatur ans Licht. So haben sich aus dem 17. und 18. Jahrhundert Spuren von Schulen und Gruppen erhalten, die im 16. Jahrhundert im Widerspruch zur konfuzianischen Orthodoxie standen, eigentlich aber zurückreichen bis ins 12., ja sogar bis ins 11. Jahrhundert. In den chinesischen Geisteskämpfien des 16. Jahrhunderts nahm gerade der scharfe Gegner Tschu Hsi's der Philosoph Wang Yang-ming (Wang Schou-jen) eine dominierende Stellung ein (von 1472—1528), da er gegenüber dem traditionsgebundenen Realismus Tschu Hsi's die Lehre von der „Intuition" als der einzigen Möglichkeit, alles Seiende zu erkennen, vertrat. Diese Intuition war für Wang Yang-ming das philosophisch entscheidende Erlebnis, wobei nicht zu verkennen ist, daß der Meditationsbuddhismus und die Mystik des Taoismus bedeutsamen Einfluß ausübten11. In der lebhaften philosophischen Diskussion des 16./17. Jahrhunderts machten sich aber auch (ähnlich wie in der belletristischen Literatur) radikal-weltanschauliche und kulturkritische Tendenzen geltend nicht ohne Beeinflussung durch einzelne buddhistische Schulen. O. Franke hat uns in seinem aufschlußreichen „Beitrag zur Geschichte der chinesischen Geisteskämpfe im 16. Jahr9
Wolfr. Eberhard a. a. O. S. 313 ff. In seiner Abhandlung der Preuss. Akademie der Wissenschaften, Jahrg. 1937, Phil. hist. Klasse, Nr. 10: „Li Tschi. Ein Beitrag zur Geschichte der chinesischen Geisteskämpfe im 16. Jahrhundert", Berlin, 1938, S. 3 ff. — Ebenfalls in den Abhandlungen der Preuss. Akademie der Wissenschaften, 1938, Phil. hist. Kl., Nr. 5, erschien die Untersuchung O. Franke's über „Li Tschi und Matteo Ricci". 11 Vgl. dazu Hch. Hackmann, „Chinesische Philosophie", 1927, S. 357 ff. — Alfred Forke, „Geschichte der neueren chinesischen Philosophie", 1938, S. 380 ff. —• Wolfr, Eberhard a. a. O. S. 292 f. 10
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hundert" mit der Gestalt eines solchen radikalen Häretikers, Li Tschi, vertraut gemacht und uns damit einen Einblick gewährt in die bisher wenig bekannte, aber überaus wichtige Epoche der chinesischen Geistesgeschichte12. Es war also damals in China eine sowohl kulturell wie geistig sehr bewegte Zeit, und man kann verstehen, welche umwälzende Wirkung die Berührung mit den europäischen Errungenschaften durch die jesuitischen Sendboten auf die sozialen und kulturellen Strömungen des chinesischen Reiches ausübte. J a auch in Europa bestand durch den dreißigjährigen Krieg eine tiefe innere Zerrissenheit, die über den Friedensschluß von 1648 hinaus in die Zeit des Philosophen Leibniz die religiösen Gegensätze bis zur späteren Aufklärungszeit fortsetzte. Ebenso war der Ausbruch des sog. Nordischen Krieges unter Karl XII. für Europa, wie das auch Leibniz empfand, ein schweres Verhängnis, das „Rußland und der Welt die einzige Chance raubte, ein neues Zeitalter der Bildung und Wissenschaft herbeizuführen und die ganze Welt in den Stand einer allgemeinen christlichen Kultur zu überführen" 13 . Es waren schwere Zeiten für Deutschland um die Wende des 18. Jahrhunderts, wenig günstig besonders für Wissenschaften und Künste. Gegenüber all diesen Wirren seiner Zeit hatte Leibniz wirklich das richtige Gefühl, wie vorbildlich dagegen im Osten, im Reich der Mitte, die Ordnung und die Frieden garantierende Staatsgewalt der Mandschu-Dynastie sei, und es hat wohl diesen letzten deutschen Polyhistor der schmerzliche Gedanke bewegt, er wäre im Fernen Osten viel nützlicher und für die kulturelle Entwicklung der Menschheit weit mehr am Platz als innerhalb der verengten kleinbürgerlichen Atmosphäre der dauernd sich befehdenden deutschen Kleinstaaten. Dies mußte Gottfried Wilhelm Leibniz schon als junger Mann erleben, als er sich in seiner Vaterstadt um die Doktorwürde bewarb, aber wegen seiner Jugend abgewiesen wurde14. Darüber mit Recht erbittert, verließ er seine Heimat und begab sich 1666/67 nach Nürnberg, wo der Prediger Joh. Mich. Dilher sein vertrauter Freund und Gönner wurde. Hier kam Leibniz in protestantische Kreise, die durch den ersten Missionswedcruf des Österreichers Justinianus von Weltz vom Jahre 1664 für Mission gewonnen· worden waren und ist es mehr als wahrscheinlich, daß der junge Leibniz auch von dem die Gemüter heftig bewegenden Streit zwischen den Freunden und Gegnern der Mission erfuhr15. Er mag auch von den schweren Vorwürfen der katholischen Kirche gegen das exklusive Luthertum wegen seiner Untätigkeit auf dem Gebiet der Heidenmission S. O. Franke a. a. O. S. 18 f. Vgl. dazu die Lieferung 2 dieses Bandes: E. Benz, „Leibniz und Peter der Große. Der Beitrag Leibnizens zur russischen Kultur-, Religions- und Wirtschaftspolitik seiner Zeit", 1947, S . l l . 14 Als Baccalaureus der Philosophie verteidigte Leibniz am 30. Mai 1663 unter dem Präsidium seines Lehrers Thomasius eine erste akademische Schrift: „De principio individui" und im Jan./Febr. 1664 folgte eine Disputation über sein „Specimen quaestionum philosophicarum ex jure collectarum". Zwei juristische Schriften verfertigte er 1665, die aus dem Studium des römischen Rechts hervorgingen. Aber trotzdem wurde „der siebzehnjährige Student bei seiner Bewerbung um die juristische Lizentiaten- und Doctorwürde zurückgestellt zugunsten von Candidaten, die wohl an Jahren älter, als Baccalaurei aber jünger waren" (P. Ritter). 1 5 Vgl. dazu mein Leibniz-Buch, 1920, S. 26 ff. — S. audi W. Grössel, „Justinianus von Weltz, der Vorkämpfet der lutherischen Mission", 1891, S. 20. 13
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gehört haben. Wie Leibniz' rastloser Geist stets bemüht war, über die kleinlichen Streitigkeiten von Theologen und Philosophen hinaus die großen Probleme der Menschheitsentwicklung ins Auge zu fassen, so wird er schon damals die Fragen der Heidenmission auch im Sinne einer kulturell-ethisdien Bildung und geistigen Hebung aufgefaßt haben16. Denn Leibniz müßte nicht der mit unermüdlicher Arbeitskraft das gesamte Gebiet seiner Zeit umfassende Geist gewesen sein, hätte nicht in ihm die Vorliebe für die Kulturwelt neu erschlossener fremder Völker gelebt. Er hat in diesen Kreisen schon von Athanasius Kircher's Werk „China Monumentis . . . illustrata" (1667) sowie von dem Büchlein „De re literaria Sinensium" (1660) des Augsburgers Diakonus Th. Spizelius gehört, wie aus dem Brief des Spizelius an Leibniz (22. Februar 1672) sowie dem des Leibniz an Eisholz hervorgeht (24. Juni 1679), worin Leibniz sein Interesse für die von dem Berliner Probst Andr. Müller beabsichtigte Herausgabe einer „Clavis Sinica" kundgibt und durch Eisholz eine Reihe Fragen an Müller über chinesische Sprache und Schrift stellen läßt. In Nürnberg, das zu jener Zeit durch einzelne Verleger (wie z. B. Nerreter) bekannt war, bekam wohl Leibniz audi Einblick in ausländische Literatur und Reiseschilderungen so z. B. in Schriften des italienischen Dichterphilosophen Tommaso Campanella, denn bereits 1669/70 urteilte er sehr nüchtern über dessen Schriften „Utopia", „Civitas solis". In seinem Buch „Thomas Campanella. Ein Reformer der ausgehenden Renaissance" (1900)17 hat J.Kvacala die Vérmutung ausgesprochen, daß für den jungen Leibniz die Bekanntschaft mit den Schriften dieses italienischen Sozialreformers für seine Missionsideen anregend gewesen sei. Wenn auch die von Κ vacala wieder aufgefundene Schrift: „Quod Reminiscentur et convertentur ad Dominum Universi Fines Terrae" (Psal. XXI) — ca. 1615 von Campanella verfaßt — kaum jemals gedruckt worden ist, so scheint sie doch wohl in Abschrift protestantischen Missionskreisen teilweise bekannt geworden zu sein; denn wie ich in meinem Buch, „Leibniz und die Chinamission", 1920, gezeigt habe (S. 175, Anm.), legt die eigentümliche Fassung des „Missionarius Evangelicus" des Hersfelder Rektors Konrad Mel (1711)18 in „Legationes ad Gentiles", deren dritte die Uberschrift trägt: „Ad amplissimum Chinarum Monarcham et Principes et sacerdotes et populos eius gentiliter viventes" die Vermutung einer indirekten Beeinflussung durch eine Abschrift der vatikanischen Handschrift Fra' Tommaso Campanella's nahe. (Jetzt herausgegeben durch P. Romano Amerio in „Pensiero e Civiltà, Biblioteca di Cultura" — Testi inediti e rari, Cedam, 1939 ff.) Der vierjährige Aufenthalt Leibnizens in Paris war ausgefüllt mit ganz anderen Problemen, besonders naturwissenschaftlicher und naturphilosophischer Art, mit der Ausarbeitung von Gutachten, von juristischen und politischen Denkschriften, auch von diplomatischen Plänen, Frankreich nach Ägypten zu locken, um die außenpolitischen Ziele Ludwig XIV. von Deutschland abzulenken. In der gesellschaftlichen Berührung mit den ausgezeichnetsten Gelehrten des damaligen Frankreich lebten in ihm die schon 1670 in Schwalbach und Mainz verfaßten 16
Ebenda a. a. O. S. 175 f, Erschienen in: Neue Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirchen hgb. von N. Bonwetsdi und R. Seeberg, 1900, S. 110 ff.; 126 f. 18 Vgl. darüber des Näheren mein Leibniz-Budi, S. 175 ff. 17
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„Sekuritätsbedenken", das deutsche Volk mit den Franzosen zu einer zivilisatorischen Gemeinschaft zusammenzuschließen, um eine „securitas publica interna et externa" in Europa durchzusetzen zur internationalen Pflege der Wissenschaften und zur kulturellen Hebung der Menschheit19. Mitten in diesen großzügigen, vielgestaltigen Plänen erreichte Leibniz 1676 das erneute Anerbieten des Herzogs Johann Friedrich von Hannover, als Bibliothekar in die Dienste des Weifischen Hauses zu treten; nach langen Verhandlungen reiste er über England und Holland nach Hannover, wo sich sein Schicksal erfüllen sollte. Hier endlich konnte Leibniz' beweglicher Geist durch die Vereinigung von Naturverstehen und Geschichtswissen im 18. Jahrhundert die Bahn brechen und über Descartes hinaus, der die regelmäßige Ordnung und Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens zum Prinzip der Wissenschaft erhoben und damit den Interessenkreis der Gebildeten jener Epoche nach den verschiedensten Seiten (Mineralogie, Physiologie u. a.) wesentlich erweitert hatte, neue kulturschöpferische Ideen entwickeln. Zugleich aber leitete Leibniz eine neue Epoche des historischen Schaffens für die kommende Zeit dadurch ein, daß er quellenkritische Studien in Archiven oder bei religiösen Urkunden (z.B.bei der Geschichte Bileams) begann. Ja gerade der von ihm besonders gepflegte „Exotismus", welcher der Kultur des 18. Jahrhdts. eine so merkwürdige Prägung gegeben hat und für die Einsicht in historisches und gesellschaftliches Geschehen eine vielseitige Orientierung, eine „Befestigung eigener Kulturwerte durch Vergleichung mit dem Fremden bedeutete", verursachte eine neue Wendung der Empfänglichkeit für das Historische. „Die Vergangenheit dient nicht mehr als Exempel, Arsenal, als Rumpelkammer von Kuriositäten" wie bei P. Orban, auch noch bei Voltaire, „sondern umfängt den Geist mit der Sehnsucht nach dem Fernen und Fremden, mit der leise einsetzenden romantischen Sehnsucht nach dem Wiedererleben dessen, was einmal war" 20 . Die große historische Aufgabe, die Leibniz 1685 übernommen hatte, erforderte aber eine umfassende Quellensammlung, die ihn zur urkundlichen Klärung der Abstammung des Weifenhauses zu Reisen in der näheren und weiteren Umgebung Hannovers, ja schließlich auch über Regensburg, München, Augsburg nach Wien führten. Im Januar 1689 faßte er, um den Zusammenhang des Weifenhauses mit dem Hause d'Esté zu klären, den Entschluß, über Venedig nach Rom zu fahren, wo er am 14. April 1689 eintraf, wohl ohne zu ahnen, daß ihm hier eine sein weiteres Leben ausfüllende Erweiterung seiner wissenschaftlichen Arbeiten und engsten Beziehungen zu dem „Fernen Osten", zu der geistigen Kultur der Chinesen, zuteil werden würde. Leibniz weilte vom April 1689 an mehr als ein halbes Jahr in Rom21. Dieser für ihn „an Studien, Bekanntschaften und neuen Erkenntnissen außerordentlich reiche Aufenthalt" 22 führte auch zu engen persönlichen Beziehungen zu dem Je1 9 S. darüber audi Gerh. Hess, „Leibniz korrespondiert mit Paris, Einleitungen und Ubertragungen", Hamburg, 1940. — Gerh. Stammler, „Leibniz", 1930, S. 24 ff. — E. Hochstetten „Zu Leibniz' Gedächtnis. Eine Einleitung", 1948, S. 8. 20 I. Huizinga, „Naturbild und Geschichtsbild im 18. Jahrhundert" in: „Parerga", 1945, S. 147 ff. 3 1 J. Baruzi, „Leibniz et l'organisation religieuse de la terre", 1907. 3 3 Kuno Fischer, „Gottfried Wilh. Leibniz", 1902, S. 200.
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suitenpater Claudius Philipp Grimaldi23, der dann 1692 seine Reise nach China wieder antrat, um in Peking als Nachfolger des verstorbenen Paters Ferdinand Verbiest, dem Ruf des Kaisers Kang-hi folgend, das Amt eines Präsidenten des mathematischen Tribunals zu übernehmen24. Wiederholt erwähnt Leibniz in späteren Briefen und vor allem in seiner Vorrede zu den 1697 von ihm herausgegebenen „Novissima Sinica", daß ihm der kundige Grimaldi die wertvollsten Mitteilungen über den Kaiser selbst und sein ungewöhnlich fortgeschrittenes Volk gemacht habe. „Memini R. Patrem Claudium Philippum Grimaldum ex eadem Societate insignem Virum, Romae mihi non sine admiratione hujus Principis virtutem et sapientiam praedicasse; nam ut de amore justitiae, de cantate erga populos de moderata vivendi ratione, coeterisque laudibus nil dicam, mirificam sciendi cupiditatem pene fidem superare ajebat". „Hier war eine neue Kulturwelt, wie Leibniz sie ersehnte und von der er doch bisher nichts geahnt, hier war ein wohlgeordneter mächtiger Staat, in dem Wissenschaften und Künste blühten, und hier war vor allem ein Monarch, der selbst Gelehrter und Philosoph war und Zeit genug fand, um mit den Missionaren halbe Tage lang zu arbeiten und Fragen jeglicher Art zu erörtern"25. Gewiß hat Leibniz schon vorher der merkwürdigen Kultur Chinas sein Augenmerk zugewandt, allein erst seit dieser persönlichen Berührung mit einem derart gründlichen Kenner des Landes gilt so recht, was A. von Harnack schreibt26: „Alles, was er irgend über dieses Land hören konnte, sammelte er ein, setzte sich mit den Jesuitenmissionaren in dauernde Beziehung, ermunterte zur Erlernung der chinesischen Sprache, war unablässig bemüht, Expeditionen nach China anzuregen" und hat endlich auch „die Preußische Akademie der Wissenschaften mit zu dem Zweck gestiftet und eine Sozietät in Moskau angeregt, um China zu erschließen, die Kultur Chinas und Europas auszutauschen und das ungeheure Land dem Christentum zuzuführen". Leibniz hat zwar die früher erschienenen Werke von A. Kircher und Th. Spizelius gekannt27, aber es traf sich günstig, daß kurz vor seiner entscheidenden Begegnung mit Grimaldi 1687 zu Paris das geradezu klassische von P. Couplet herausgegebene prächtig ausgestattete Werk „Confucius Sinarum Philosophus sive Scientia Sinensis latine expósita" erschienen war, das Leibniz schon in einem Brief vom 9. Dezember 1687 an den Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels („l'ouvrage de Confucius — Prince des Philosophes Chinois qu'on a publié à Paris cette année") erwähnt und eine genaue Kenntnis davon verrät28. Es ist auch in der Tat eines der wichtigsten Werke der christlichen Missionspublizistik: denn sehr bald erkannten diese französischen Missionare, daß bei einem Kulturvolk ihre Wirksamkeit rasch von ephemerer Bedeutung sein würde, wenn nidit auch die literarisch Gebildeten gewonnen werden könnten. Zwang doch der hohe Stand der chinesischen Bildung unmittelbar zur Auseinandersetzung mit der Geistesart dieses Volks. Solche Tendenzen beobachten wir schon bei dem ™ G. E. Guhrauer, „Gottfr. Wilh. Freiherr von Leibniz", II. Teil, 1842, S. 94 ff. Chr. von Rommel, „Leibniz und Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels", II, S. 212 ff. O. Franke, „Leibniz und China", S. 159. 28 A. von Hamadc, „Gesdiidite der Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften zu Berlin", 1900, Bd. I, 1, S. 30, Anm. 1. 37 O. Franke, a. a. O. S. 160. 3S S. mein Leibniz-Budi, S. 17 f. 24 25
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ersten bedeutenden Missionar Matthäus Ricci29, der eine Reihe von religiösen Schriften in chinesischer Sprache verfaßte, von denen „Tien tsche schi y Caeli Domini vera expositio" sowie ein „Compendium Divinae Legis" öfter genannt wird. Einer der ersten aber, der ein chinesisches kanonisches Buch ins Lateinische übertrug, ist wohl P. Intorcetta gewesen, der die beiden kurzen Traktate, das „Ta-hio" (Die große Lehre) und das „Chung-yung" (Innehalten der Mitte) zuerst in Europa bekanntgemacht hat. Und eine Übersetzung des grundlegenden kanonischen „Buchs der Gespräche" (Lun-yü) des Kung-fu-tse fügte auch P. Couplet seinem Werke ein und betont nachdrücklich, daß bei der ausschließlichen Autorität des Konfuzius in China es zu begrüßen sei, daß „Philosophus ille adeo non adversetur doctrinae lucique Evangelicae, ut e contrario non vane putemus futuros qui favere potius dicant, atque ad illam populares suos quodammodo manuducere, quando in libris eius tot intermicantes rectae rationis scintillas non sine admiratioñe et voluptate observabunt". Und er weist darauf hin, von welch hohem Wert es für den Verkünder des Evangeliums sei, die religiösen Vorstellungen und philosophischen Gedanken des Volkes genau kennen zu lernen, denn nur dadurch könne er sich mit der fremden Religion auseinandersetzen. Es lag nahe, daß Gedanken der altchristlichen Apologeten über die Auseinandersetzung des Christentums mit heidnischen Religionen wieder auftauchten und besonders auf den Apostel der Völker, Paulus, hingewiesen wurde, der kein Bedenken gehabt habe, bei seiner Predigt auf dem Areopag zu Athen heidnische Dichter als Zeugen für die Wahrheit seiner Botschaft anzuführen. Ja, P. Couplet vertritt dann die auch von Leibniz in seinen „Novissima Sinica" mit Nachdruck übernommene Überzeugung, daß das Vorurteil der aus Europa gekommenen Missionare gründlich revidiert werden müsse, als hätten alle Völker, ausgenommen das Volk Israel, die ursprüngliche Kunde von einem wahren göttlichen Wesen verloren. Im Gegenteil sollte es alle Christen mit hoher Freude erfüllen, daß des Schöpfers Güte sich besonders auch ih China nicht unbezeugt gelassen habe. Es sei doch ein merkwürdiger Widerspruch, bei griechischen und römischen Philosophen, bei Ägyptern und Assyrern die richtigen Gedanken über die Gottheit voll Rühmens zusammenzusuchen und apologetisch zu verwerten, hingegen die reineren und tieferen Anschauungen der ''chinesischen Weisen des Altertums über religiöse Dinge mißachtend zu verwerfen. Immer wieder wird an verschiedenen Stellen des Werks betont, wie wichtig gerade eine eindringende Kenntnis von Sprache und Literatur des chinesischen Volkes sei, weil dadurch allein erst eine gerechte, verständnisvolle und selbständige Beurteilung der Licht- und Schattenseiten aller aus alter und neuer Zeit stammender religiöser Vorstellungen ermöglicht werde. Durch die wiederholten Gespräche mit P. Grimaldi ist in Leibniz ein „leidenschaftlicher Hunger" nach immer neuen Kenntnissen über China, dessen geistiges und wirtschaftliches Leben, seine geographischen und physikalischen Verhältnisse, erwacht, was Leibniz auf Grund seiner ausgedehnten Korrespondenz mit China in den folgenden Jahnen immer zu neuen Anfragen und Erörterungen für ihn wichtiger Probleme veranlaßte. Schon bald nach Grimaldis Abreise aus 89 Vgl. dazu die oben S. 6, Anni. 1, genannte Abhandlung von O. Franke „Li Tthi und Matteo Ricci."
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Rom sandte Leibniz ihm am 19. Juli 1689 einen längeren Brief mit dreißig Fragen am Schluß desselben nach, den Grimaldi am 6. Dezember 1693 von Goa aus beantwortete, aber hinsichtlich der von Leibniz gestellten Fragen hinzufügte: „Caeterum quaesüones tuae sunt multae et graves, quibus omnibus ut sätisfiat utar sociorum meorum opera, qui per omnes Sinarum provincias dispersi... Leibniz wollte unter anderem wissen, ob man nicht gewisse nutzbringende Pflanzen in europäische, vor allem christliche Gegenden versetzen könne und welche sich dazu besonders eignen würden; ob gewisse erprobte Heilmittel bekannt seien, die man in Europa nachzuahmen oder zu uns herüberzubringen vermöchte; welche chinesischen Bücher, hauptsächlich historischer und naturgeschichtlicher Art, sidi zur Übersetzung ins Lateinische eignen würden; ob es gewisse Lebensannehmlichkeiten gäbe, welche von China nach Europa eingeführt zu werden verdienten. Wir sehen, auch diese Fragen sind gestellt unter dem Gesichtspunkt einer Organisierung der gesamten wissenschaftlich-praktischen Arbeit und der Sammlung aller geistigen Kräfte im Dienste produktiven Schaffens, wie es immer wieder bei Leibniz in den verschiedenartigen Entwürfen für Gründung von Sozietäten zum Ausdruck kommt. Beinahe aus jedem Jahr der Folgezeit lassen sich Belege namentlich aus Briefstellen beibringen, die ein steigendes Interesse an der Mission und ihren mannigfachen Problemen bekunden. Schon begegnen uns einzelne Gedanken, die sich späterhin zu den großartigen christlich-zivilisatorischen Missionsplänen verdichteten. So schreibt Leibniz noch von Rom aus (12. November 1689) an den Jesuiten Laureatus, der seine Reise nach China bereits angetreten hatte, er möchte seines wichtigen Amtes stets eingedenk sein, „commercia inter duos velut orbes late divisos promovendi. Commercia inquam doctrinae et mutuae lucis". In den besten Mannesjahren stehend und wissenschaftlich vortrefflich vorgebildet, könnte er leicht Vorzügliches leisten; seien doch bei den Chinesen zweifellos viel merkwürdige Dinge im Natur- und Geistesleben von uns bisher unerforscht geblieben, die nach genauer Kenntnis im wechselseitigen Austausch mitzuteilen nur recht und billig wäre; es würde ihrerseits gegen Europa ein Unrecht sein, wenn aller Gewinn lediglich auf seiten der Chinesen verbleiben sollte. Durch solche lebhafte, vielseitige Korrespondenz30 mit bedeutenden Jesuiten erhielt Leibniz einen ungewöhnlich reichhaltigen Einblick in die Wesensart der Jesuitenmission, was nicht ohne Einfluß auf seine späteren Vorschläge zu einer auch von protestantischer Seite ausgehenden kulturellen Missionstätigkeit, namentlich in China, 30 Treffend charakterisiert K. Huber a. a. O. S. 277 die Eigenart der Leibnizkorrespondenz folgendermaßen: „Wir müssen uns zur Leibnizkorrespondenz ganz anders einstellen als zu den wenigen Briefen Kants oder der schönen Jugendkorrespondenz zwischen Hölderlin, Schelling und Hegel. In ihnen liegt der Schwerpunkt des Systems, es entwickelt sich im Umfang der jeweils systematisch gepflegten Korrespondenzen so konsequent und so systematisch wie nur je in einer Reihe von bändereichen Werken" Leibniz will aber auf möglichst viele führende Geister seiner Zeit und in reiferen Jahren auf einen ausgewählten jungen, hoffnungsreichen wissenschaftlichen Nachwuchs unmittelbar wirken. Er bleibt als Philosoph der große, universale Diplomat, erfüllt von einer ganz persönlich aufgefaßten Kulturmission. In soldier Richtung der Auslegung gewährt schon allein das Bild und die Reihe der in einem langen Arbeitsleben an uns vorüberziehenden großen Korrespondenzen Leibnizens einen eigenartig tiefen Einblick in Aufbau und innere Rhythmik seines Schaffens. Man kann in einem beliebigen Zeitpunkt seiner Entwicklung keine einzige dieser Korrespondenzen aus dem Gesamtgefüge seines täglichen Arbeitslaufes lösen."
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blieb. Leibniz' genialer Blick erkannte sofort die zivilisatorisch-kulturelle Bedeutung der Mission und sann sogleich auf Mittel und Wege, um die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Mission möglichst fruchtbar zu gestalten und die bei fremden Kulturvölkern gewonnenen Erfahrungen und Entdeckungen wissenschaftlich zu verwerten. Denn kaum hat er von verschiedenen Seiten vernommen, daß der Kaiser (Kang-hi) eine besondere Vorliebe für die europäischen Wissenschaften an den Tag lege, so taucht in ihm unmittelbar der Gedanke an Gründung einer gelehrten Gesellschaft von seifen der Jesuiten auf: „Quod si hoc ipsum Sinensium Monarchae a vobis persuaderete, multo majora sibi polliceli posset genus humanuni, sive ille colligi juberet infinitam messen» notitiarum imperii sui, sive etiam in peregrinis conquirendis laborari vellet" (Brief an Grimaldi vom 20. Dezember 1696)31. Da Leibniz nun längere Zeit mit dem Missionsproblem sich beschäftigte und von hoher Bewunderung für die Erfolge der Jesuitenmissionare in China erfüllt war, zugleich aber mit Schmerzen erkennen mußte, wie gering gerade in protestantischen Kreisen das Verständnis für den religiös-zivilisatorischen Wert der Mission immer noch war, glaubte er seinen Zeitgenossen durch Veröffentlichung der ihm von Missionaren übermittelten Nachrichten über die durch ihre erfolgreiche Tätigkeit herbeigeführten neuesten Ereignisse in China (Ausbreitung und Duldung des Christentums) einen wirklichen Dienst zu tun. Dieses 1697 in lateinischer Sprache unter dem Titel: „Novissima Sinica" (Neuigkeiten aus China)32 und unter der Signatur G. G. L., was unschwer zu erraten war, veröffentlichte Büchlein beginnt mit einer eindrucksvollen „Praefatio", worin von Leibniz die einzigartige Fügung des Schicksals hervorgehoben wird, daß damals an zwei so entgegengesetzten Erdteilen, wie es Europa und Tschina sind, Höhepunkte menschlicher Kultur in die Erscheinung getreten seien; ja, die göttliche Vorsehung plane wohl, daß infolge der engeren Beziehungen räumlich getrennter, hochgebildeter Völker auch allmählich dazwischen liegende Länder zu höherer Kultur geführt werden. Man dürfe gewiß annehmen* daß gerade Rußland diese Rolle zufalle, zumal ja auch sein gegenwärtiger Beherrscher westliche Kultur einzuführen bestrebt sei. Vor allem aber sei das chinesische Reich, welches an Größe und Bevölkerungsdichte Europa weit übertreffe, schon um seiner Kulturerrungenschaften willen eingehendster Erforschung wert, wenn auch zweifellos ein Vergleich auf dem Gebiet der theoretisch-philosophischen Wissenschaften (Mathematik, Astronomie, Logik und Metaphysik) die Überlegenheit des Westens deutlich ans Licht stellen werde. Und dodi, wer hätte ehedem geglaubt, daß es noch ein Volk auf der Erde gäbe, das an Feinheit der Bildung und sittlicher Höhe uns beinahe übertreffe? Wenn: 31 Nach dem auf der Niedersächsischen Landes-Bibl. zu Hannover befindlichen handsdir.. Nachlaß Leibnizens (Fase. Grimaldi). 32 Vgl. dazu die ausführlichen Belege in meinem Leibniz-Buch, S. 37 ff.: „Entstehung und Bedeutung der Novissima Sinica." — Neuerdings s. auch die Ausführungen von Donald F. Lach über „Leibniz and China" im „Journal of the History of Ideas", Vol. VI, Nr. 4, S. 436 ff.; hier besonders 447 und 453. — Ferner drudet G. Grúa im I. Bd. seiner „Textes inédits de Leibniz d'après les manuscrits de la Bibliothèque provinciale de Hannover", 1948, S. 113 ff., den Brief L.s an A. Morell v. 1. Okt. 1697 ab, worin audi die bereits von mir a. a. OS. 40 zitierte Stelle sich findet (S. 116).
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wir daher audi an Kunstfertigkeit gleich, ja an philosophischer Kenntnis überlegen seien, so übertreffen sie uns dodi an praktischer Philosophie — was man beinahe zu gestehen sich scheut —, d. h. an Vorschriften staatlicher Moral, die auf Lebensführung und Ahnenkult sich beziehen. Geradezu bewundernswert sei es, welche Ruhe und Ordnung im öffentlichen und privaten Leben durch diese (konfuzianischen) Lebensregeln allenthalben herrsche, wie sie kaum bei uns auf Grund religiöser Ordnungen zu finden sind. „Tanta est obedientia erga superiores, tanta erga seniores reverentia, tam religiosus propemodum liberorum in parentes cultus, ut violentum aliquid vel verbo in eos parare, inauditum propemodum illis, et pene ut parricidium inter nos facinus piaculare videatur". Eine so reine Tugendübung, wie man sie kaum bei christlicher Unterweisung erwarten könne, sei ohne himmlische Gnadenwirkung an den Chinesen unerkärlich. Von gleicher Bewunderung ist Leibniz für den unumschränkten Herrscher dieses Weltstaates erfüllt, der, wie eine Gottheit verehrt, über Menschenmaß hinausragend, ein so gewaltiges Reich besser zu regieren versteht als viele Potentaten des Abendlands. Gerade jetzt stehe Kanghi, ein „Princeps pene sine exemplo egregius", an der Spitze, dessen Vorliebe für europäische Wissenschaften und dessen Toleranz gegen das Christentum („libertatem tarnen Religionis Christianae lege publica indulgere") Leibniz nicht genug rühmen kann. Habe ihm doch P. Grimaldi selbst erzählt, daß der Kaiser, dem höchste Würdenträger tiefste Verehrung darbringen, „cum Verbiestio in interiore conclavi per tres quatuorque horas quotidie Mathematicis instrumentis librisque operam dabat, ut discipulus cum Magistro". Ein so eindringendes Verständnis mathematisch-philosophischer Fragen bestärkt Leibniz in der Hoffnung, daß der Monarch auch seiner „Ars combinatoria"33 besonderes Interesse entgegenbringen werde. Damit wir in Europa aber nicht allmählich unsere kulturelle Überlegenheit einbüßen, sollten wir mit doppeltem Eifer danach trachten, unsere Erkenntnisse zu einer moralischen Hebung der Lebensführung, d. h. zur Übung einer praktischen Philosophie zu verwerten. Hier folgt nun die schon von C. H. Chr. Plath34 zitierte charakteristische Stelle: „Der Art scheint mir die Lage unserer Verhältnisse zu sein, daß ich, da die Sittenverderbnis ins Unermeßliche anschwillt, es fast für notwendig halte, daß chinesische Missionare zu uns gesandt werden, welche uns den Zweck und die Übung der natürlichen Theologie lehren, wie wir Missionare zu ihnen schicken, um sie in der geoffenbarten Theologie zu unterrichten. Daher glaube ich, daß, wenn ein weiser Mann zum Richter bestellt würde, nicht über die Gestalt der Göttinnen, sondern über die Vorzüglichkeit der Völker, er den goldenen Apfel den Chinesen reichen würde, wenn wir dieselben nicht vornehmlich durch ein allerdings übermenschliches Gut überragten, nämlich durch das göttliche Geschenk der christlichen Religion." In kurzen Zügen entwickelt sodann Leibniz seine missionsmethodischen 33 Uber die „Ars combinatoria", vgl. dazu Jak. Bernoulli, „De arte combinatoria", eine mathematische Disziplin als Wahrscheinlidikeits-Redinung; dazu audi G. Cantor, „Gesammelte Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts", 1932. 34 In: „Dip Missionsgedanken des Freiherrn von Leibnitz", 1869, S. 27.
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Richtlinien, deren Motiv unverkennbar mit den kirchenpolitischen Reunionsbestrebungen zusammenhängt. Die Missionsgemeinden sollten nach seiner Meinung die Möglichkeit einer überkonfessionellen allgemeinen Kirche erweisen. Deshalb geht sein Wunsch dahin, daß die zu missionierenden Völker die konfessionellen Unterschiede der Christenheit nicht einmal merken dürften. Beim Missionswerk muß „nach dem Beispiel der alten Kirche in der Weise klug verfahren werden, daß weder alle Geheimnisse unbedacht den nicht vorbereiteten Gemütern zugeführt werden, dennoch aber àuch nicht unter der Absicht, den Heiden zu gefallen, die christliche Wahrheit Schaden leide". Rom sei schlecht beraten, wenn es, trotz des Widerspruchs Kundigerer (d. h. der Jesuiten), den aus fremden Völkern gewonnenen Christen die Glaubensformeln der abendländischen Christenheit aufdrängen wolle; sei doch zu hoffen, daß künftig christlicher Klugheit gemäß vorsichtiger gehandelt werde und man sich bemühe, die durch göttliche Fügung gebotene Gelegenheit in gerechter Weise auszunützen, zumal ja der Beherrscher Chinas durch öffentliches Gesetz den christlichen Glauben nunmehr zugelassen habe. Um die wissenschaftliche Tätigkeit der Missionare näher zu charakterisieren, bietet Leibniz eine gedrängte „Relatio de libro SinicoLatino R. P. Verbiesti: Astronomia Europaea sub Imperatore Tartaro Sinico Cam Hy appellato in lucem revocata a P. Ferdinando Verbiesto Flandro-Belga Brugensi e Societate Jesu, Academiae Astronomicae in Regia Pekinensi praefecto, Anno salutis 1687 fol. cum figuris Observationum et Organorum" und schließt seinen Bericht mit den bemerkenswerten Worten: „Et ut olim Reges Magos stella traxit ad adorandum verum Deum, sie etiam hos Prinòipes extremi orientis astrorum notitia potest paulatim ducere ad Astrorum Dominum colendum atque adorandum"35. Der als Politiker unermüdliche Leibniz, der zahlreiche diplomatische Missionen mit genialem Geschick durchgeführt hat, sah gerade auch in solcher missionarischen Tätigkeit einen gangbaren Weg, um damit europäische Bildung und ihre Grundlage, das Christentum, den fremden Völkern zu empfehlen. Schließlich erinnert Leibniz noch daran, daß schon sehr frühe den Chinesen Gelegenheit geboten worden sei, von Christus zu hören. Denn wenn der Name „Serer" Römern und Griechen schon bekannt gewesen sei, vermutet er, daß gerade durch den Seidenhandel zu den Zeiten des großen Justinian eine genauere Kenntnis Chinas ins Abendland gedrungen sei, was auch die Wahrscheinlichkeit eines Austauschs geistiger Güter nahelege36. Ferner gehe aus der von Athanasius Kircher veröffentlichten Inschrift am Stein von Si-an-fu (781), den man 1621 im Erdboden einer der Vorstädte des alten Tschang-an-fu entdeckte, hervor, daß um jene Zeit syrische Christen zu den Chinesen vorgedrungen seien und eine christliche Kirche gegründet hätten. Und mit einer Leibniz eigenen Weitherzigkeit schließt er sein bedeutsames Vorwort: „Mehr und mehr möge die Frömmigkeit Europas zur Ausführung dieser hehren Missions-Aufgabe sich 38 Vgl. dazu auch die Ausführungen Leibnizens in der Denkschrift in Bezug auf die Einrichtung einer Societas Scientiarum et Artium in Berlin vom 26. März 1700 (A. von Harnadc a. a. O. II, 1900, S. 80 f.). 36 S. darüber H. Herrmann, „Die alten Seidenstraßen zwischen China und Syrien", 1910, sowie Frdr. Hirth, „China and the Roman Orient", München, 1885.
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begeistern lassen. Denn die Macht und Größe des chinesischen Kaiserreichs ist an sich so gewaltig, das Ansehen der überaus klugen Nation im Orient so bedeutend und ihre Autorität für die übrigen so vorbildlich für die Zukunft, daß kaum seit der Apostel Zeiten etwas Größeres ins Werk gesetzt zu sein scheint. Gebe Gott, daß unsere Freude echt und dauerhaft sei und nicht durch unklugen Eifer oder innere Zwistigkeiten derer, welche apostolische Pflichten übernehmen, oder durch schlechte Beispiele der Unsrigen getrübt werde." Das schlichte Büchlein fand weitgreifende Beachtung, so daß bereits Ende 1698 eine Secunda Editio mit einem ausführlichen Lebensbild des Kaisers Kanghi: „Jcon Regia Monarchae sinarum nunc regnantis. Ex Gallico versa" erscheinen konnte. Wie Leibniz schon, bei der Veröffentlichung dieser Gelegenheitsschrift in Briefen an E. von Spanheim, Th. Burnett, H. W. Ludolf, V. Placcius, A. Morell einzelne darin behandelte Fragen erörterte, so war nach ihrem Erscheinen das Echo gerade auch in protestantischen Kreisen besonders stark, so daß am 3. Dezember 1697 der brandenburgische Justizrat J. G. Rabener u. a. schrieb: „Novissima Sinica Evangelium mihi fuerunt, avide lectum. Faxit Deus, ut solida sint et durabilia gaudia nostral" und der bekannte Stifter des Halleschen Waisenhauses August Hermann Francke am 9. Juli 1697 einen von begeisterter Zustimmung erfüllten Brief an Leibniz richtete: „Novissima Sinica, quae cum eximia ac elegantissima praefatione edidisti, ea me affecerunt voluptate, ut temperare mihi non potuerim, quin gratias tibi privatas pro hac praestita opera ocyssime persolverem..." Die „Novissima Sinica" sollten ein Weckruf zur Sammlung all derjenigen sein, die ein lebhaftes Interesse für China hegten und denen ebenso wie Leibniz christlich-zivilisatorische Missionspläne am Herzen lagen. „Die Ausbreitung des Christentums war ihm nicht irgendeine beiläufige Nebenabsicht in dem weitmaschigen Bereich seiner Reform- und Erziehungspläne, sondern bedeuteten für ihn das zentrale Anliegen einer Bildimg des Menschengeschlechts überhaupt. Seine Bildüngsidee gründet sich auf einen christlichen Humanismus und nur in dem christlichen Menschenbilde erblickt er die Grundlage einer wahren Vollendung aller Anlagen und Fähigkeiten der menschlichen Natur. Auf die Ausgestaltung dieses christlichen Menschenbildes, auf die Verbreitung einer christlichen Bildung zielte seiner Ansicht nach der Heilswille Gottes... Das Zukunftsbild einer geeinten, befriedeten Menschheit, das ihm vorschwebte, einer Menschheit, die sich durch Wissenschaft und Bildung zum höchsten Stand des Menschseins entwickelt hat, setzte für ihn selbstverständlich die Verbreitung der christlichen Religion über den ganzen Erdball voraus"87. Und mit bewundernswerter Zähigkeit verfolgte Leibniz sein Ziel, und der dauernd lebhafte Briefwechsel mit einer Reihe von Chinamissionaren bestärkte ihn immer von neuem in seinen Ideen. Von rastlosem Wissensdrang erfüllt, freute er sich über jede Bereicherung seiner Kenntnis über China, so daß er scherzend in einem Brief an die Kurfürstin Sophie Charlotte vom 14. Dezember 1697 bemerkt: „Je feray donc mettre une affiche à ma porte avec ces mots: bureau d'adresse pour la Chine, à fin que chacun sçache qu'on n'a qu'à s'adresser à moy pour en apprendre des nouST
Emst Benz, Leibniz und Peter der Große, 1947, S. 62.
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velles." Ja, man muß immer wieder staunen, was Leibniz aus diesem reichen Gedankenaustausch mit den in der Bildung ihrer Zeit trefflich geschulten Chinamissionaren an fremden Kulturerrungenschaften herauszuholen sucht38. Selbst für die Geschichte des biblischen Kanons erhofft sich Leibniz neue Aufschlüsse, da er von einer sehr frühen Einwanderung der Juden nach China Kunde erhalten hatte und nun vermutete, daß sich dort ältere hebräische Handschriften finden könnten, die bei einer textkritischen Ausgabe des Alten Testaments von Nutzen wären. Vor allem aber erwartete Leibniz eine reiche Ausbeute für die linguistische und ethnologische Forschuñg von dem Erscheinen des in Briefen häufig erwähnten „Dictionnaire Tartaro-Chinois", „que l'Empereur de la Chine fait faire". Derartige Hilfsmittel scheinen ihm vor allem wertvoll für die Mission und die Sprachforschung; denn einen lebensvollen gegenseitigen Austausch der europäischen und chinesischen Kultur und eine genauere Kenntnis von Sprache und Literatur der Chinesen hält Leibniz nicht allein dadurch für erreichbar, daß europäische Missionare nach China gehen, sondern er schlägt in seinen Briefen wederholt vor, „ut Sinenses homines doctos in Europam accersamus, qui adolescentes Europaeos sermone et literatura Sinensium imbuant" (Brief an den Landshuter Jesuiten F. Orban39 v. 28. Okt. 1707) — ein Gedanke, der sich eigentlich erst in unseren Tagen zu verwirklichen begonnen hat. So eilten manche Ideen des Polyhistors der Entwicklung von Jahrhunderten voraus, während andere wieder das Gepräge seines Zeitalters unverkennbar an sich tragen und mit den wissenschaftlichen Interessen des damaligen Geisteslebens eng verflochten sind. Auch in späteren Jahren noch beschäftigte Leibniz ernsthaft das Problem, wie religiöse Wahrheiten durch mathematische und syllogistische Schlußfolgerungen evident erwiesen werden könnten, da er dem rationalen Vemunftprinzip entsprechend die Uberzeugung hegte, daß religiöse Werte ebenso universale Geltung hätten wie logische und mathematische Axiome. Schreibt doch Leibniz am 15. Febr. 1701 von Braunschweig aus an P. Bouvet: „Le nouueau calcul numerique que j'ay inventé... donne une representation admirable de la creation . . . Mon principal b u t . . . fournir une nouvelle confirmation de la Religion Chrestienne à l'égard du sublime article de la Creation par un fonde3 8 Zu dem Plan Leibnizens, Missionare nach China (und Indien) auszusenden, bemerkte die hannoversche Kurfürstin in ironischer Weise (26. Juni 1700) in: O. Klopp, „Die Werke von Leibniz", Bd. 8, S. 189: „Ce sera une belle entreprise d'envoyer des Missionnaires aux Indes. Il me semble qu'il faudrait premièrement faire de bons Chrétiens en Allemagne, sans aller si loin pour en former" (s. dazu auch A. von Harnack a. a. O., I, 1, S. 96, Anm. 3). — Ja in einem im Konzept vorhandenen, undatierten Brief Leibnizens an Grimaldi Bl. 39 bittet er um „besondere Techniken der Chinesen beim Bergbau, die in Europa dienen könnten, femer in Chemie, Jagd, Viehzucht, Ackerbau, Gartenbau; wünscht Beschreibungen von Pflanzen und von allerlei Fertigkeiten, einschl. Medizin und Astronomie, ferner Samen, Modelle von Instrumenten." 3 9 P. Ferdinand Orban, geb. ca. 1657, lebte längere Zeit als Hofprediger in Innsbruck, dann als Beichtvater am Hof des Kurfürsten der Pfalz, Johann Wilhelm, hernach in Landshut und dann wie als Gefangener im Jesuiten-Kolleg zu Ingolstadt, woselbst er am 30. Dez. 1732 starb. Er war der Gründer der sog. „Orban'sdien Sammlung", eines Raritätenkabinetts, das er aus aller Welt zusammentrug, in „dem polyhistorischen Trieb jener Epoche, um möglichst viel Material zu vereinigen und dem neuerwachten Forschungsgeist dienstbar zu machen" (C. Prantl, „Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München", Bd. I, S. 544 f.).
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ment qui sera à mon avis d'un grand poids chez les philosophes de la Chine et peutestre chez l'Empereur même, qui aime et entend la science des nombres. A dire simplement que tous les nombres se forment par les combinaisons de l'unité avec du rien et que le rien suffit pour le diversifier, cela paroist aussi croyable que de dire que Dieu a; fait toutes choses de rien, sans se servir d'aucune matiere primitive; et qu'il n'y a que ces deux premiers principes Dieu et le Rien; Dieu des perfections, et le Rien des imperfections ou vuides d'essence." In dieser Erhebung des Zahlbegriffs zu metaphysischer Geltung vermeinte Leibniz ein Prinzip gefunden zu haben, um auch den Grundwahrheiten des Christentums zu vernunftgemäßer Erkenntnis zu verhelfen. Schon seine früheste Schrift „De principio individui" (1663) enthält die These, daß die Wesenheiten der Dinge sich wie Zahlen verhalten40, und verrät Leibniz damit deutlich den Einfluß seines Jenenser Lehrers, des Mathematikers Erhard Weigel, der eine moralische Arithmetik (sittliche Zahlenlehre) aufzustellen suchte und als Grundlage seines Beweises für das Dasein Gottes den Anfang der pythagoreischen Tafel: 1X1 = 1 verwendete 41 . In diesen metaphysisch-mathematischen Ideen wurde Leibniz nunmehr von P. Bouvet, der die binarische Arithmetik wohl aus dem ausführlichen Brief Leibnizens an P. Grimaldi vom 20. Dezember 1696 näher kennen gelernt hatte und die ihn zu den eigenartigsten Kombinationen veranlaßte, bestärkt. So hat Bouvet in. einem längeren, von Leibniz selbst veröffentlichten Schreiben vom 4. November 1701 aus Peking die Vermutung ausgesprochen, „daß die im Kanonischen Buch Yih-King überlieferten Tri- und Hexagramme (die Pa Kuas) durch die dyadische Zahlenschreibung eine wissenschaftlich tragbare Deutung erhalten würden. Mit hoher Begeisterung kommt Leibniz in seinen Briefen immer wieder darauf zurück : „0 ist ihm die Leere, die der Schöpfung vorangeht, 1 ist Gott, zwei Eins Himmel und Erde usw. Nach seiner Uberzeugung muß diese Methode auf die Chinesen wie eine Erleuchtung wirken, denn durch sie erst würde ihnen ihre alte Philosophie wieder verständlich werden, deren Sinn ihnen verloren gegangen sei" 42 . Und in einem Briefe an Verjus vom 2. Dezember 1697 spricht Leibniz die Hoffnung aus, daß er mit dieser Methode die Grundwahrheiten der natürlichen Religion entdeckt habe „ . . . un merveilleux secours pour faire gouster meme aur peuples les plus éloignés dont les langues diffèrent tant des nostres comme sont les Chinois et semblables, les plus importantes et abstraites vérités de la religion naturelle, sur les quelles la révélée est comme entée". Am 28. Februar 1698 hatte P. Bouvet dann aus La Rochelle Leibniz mitgeteilt, daß vermutlich die chinesischen Schriftzeichen auf ägyptische Hieroglyphen zurückzuführen s e i e n . . . (was ja schon Th. Spitzelius und A. Kircher vermutet hatten) . . . „je ne doute point que nous ne parvenions à en faire un jour l'analyse parfaite, et à les réduire peut estre aux caracteres Jeroglyphiques des Egyptiens; et qu'on ne démontre que les uns et les autres estaient l'écriture usitée 4 0 Eine zu Beginn des 17. Jahrhunderts allgemein anerkannte These, die auf nodi frühere Zeiten zurückgeht. 4 1 Über E. Weigel s. jetzt audi G. Grúa, „Textes inédits de Leibniz", Tom.1,1948, S. 329 ff. 4 2 O. Franke a. a. O. S. 162 f.
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parmi les savans avant le déluge". Die kua des Fo-hi, meint weiterhin P. Bouvet, „représentent d'une maniere tres simple et tres naturelle les principes de toutes les sciences, ou pour mieux dire c'est le systeme achevé d'une métaphysique parfaite, dont les Chinois ont perdu, ce semble, la connoissance des long temps avant Confucius". Durch diese Entdeckung hoffte Bouvet den apologetisch wertvollen Beweis zu erbringen, daß die wahre Gotteserkenntnis bei den chinesischen Weisen der Vorzeit ebenso vorhanden gewesen sei wie bei den biblischen Urvätern, späterhin aber auch in China die allen Völkern gemeinsame uralte Vätertradition von Aber- und Irrglauben überwuchert wurde, ohne daß dabei in Abrede gestellt werden soll, „que les Chinois ont conservée (la tradition) plus soigneusement que les autres"43. Mit seinem einfühlenden Verständnis der psychologischen Wesensmomente der einzelnen Sprachgebilde konnte sich Leibniz diesen Hypothesen P. Bouvets nicht anschließen, sondern bemerkte u a. in einem Brief aus dem Jahre 1703: „Je ne say dire des Hiéroglyphes des Egyptiens, et j'ay de la peine à croire qu'ils ayent quelque convenance avec ceux des Chinois. Car il me semble que les caracteres Egyptiens sont plus populaires et vont trop à la ressemblance des choses sensibles, comme animaux et autres; et par consequent aux allegories; au lieu que les caracteres Chinois sont peut estre plus philosophiques et paroissent bastís sur des considerations plus intellectuelles, telles que donnent les nombres, l'ordre, et les relations." Zeitlebens hegte Leibniz die Hoffnung, daß diese wichtige und bedeutsame Entdeckung einer universell-logischen Charakteristik der Wissenschaften zur normativen Grundlage ihrer einzelnen Gebiete werden könnte. Vor allem aber sah er in ihr ein wertvolles Hilfsmittel der philosophischen Propädeutik, das die auf die vernunftgemäßen Denkgesetze sich gründende natürliche Religion widerspruchslos darzulegen ermögliche, woran dann die missionarische Unterweisung in den geoffenbarten Lehren des Christentums anknüpfen und die Mysterien des Glaubens wohl als übervernünftig, aber nicht als der Vernunft widersprechend erweisen könne. Infolge seiner engen persönlichen und literarischen Beziehungen zu den Jesuiten wurde Leibniz auch in den die damalige katholische Welt heftig bewegenden Ritenstreit hineingezogen44. Der Riten- oder Akkomodationsstreit drehte sich vor allem um die Frage, ob die bei den Chinesen von altersher zur Bezeichnung des höchsten Wesens gebräuchlichen Ausdrücke „Tien" und „Schangti" für die christliche Verkündigung beizubehalten oder durch andere Wendungen zu ersetzen seien; femer ob dem Ahnendienst und der Verehrung des Kung-fu-tse religiöse Bedeutung zukomme und daher den Neubekehrten streng verboten werden müsse oder ob in ihm lediglich die volkstümliche Zeremonie eines die Verstorbenen ehrenden Andenkens zum Ausdruck komme und somit innerhalb der christlichen Gemeinde weiterhin geduldet werden könne. Leibniz nun war von der wissenschafdichen Solidität der jesuitischen Begründungen fest überzeugt, 43 Vgl. dazu auch: Deux Lettres du Rev. Père Bouvet à M. G. G. Leibniz aus Peking v. 8. Nov. 1702 in Dutens, „Leibnitii opera omnia", IV, 1768, p. 152 ff., worin auf die „Conformité du nouveau calcul numérique de Leibniz avec le systeme de Fohi" hingewiesen wird. 44 Eingehender darüber s. mein Leibniz-Buch, S. 95 ff.
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so daß er auf ihre Seite trat und in kürzeren oder längeren Ausführungen ihre methodischen Grundsätze und religionshistorischen Erklärungen gegenüber den Kundgebungen der anderen Orden (der Dominikaner und Franziskaner) sowie des Vatikans zu verteidigen übernahm. Dieser Absicht verdankt auch das bisher unveröffentlichte Schriftstück: „De cultu Confucii civili" seine Entstehung, das die Stellung Leibnizens zu den viel verhandelten Fragen um 1700 im wesentlichen wiedergibt. Unter einem religiösen Kult verstehe man, so führt Leibniz aus, die Verehrung eines übermenschlichen Wesens, das die Macht hat, Gnadengaben zu spenden und Strafen abzuwenden. Davon aber sei im Konfuziuskult und bei der Ahnenverehrung nichts zu beobachten, vielmehr seien viele Anzeichen dafür vorhanden, daß es sich um eine Art Staatskult handle, wie ihn selbst christliche Herrscher nicht verabscheuten. Hätten doch gerade die Chinesen die Riten fast im Ubermaß ausgebildet und vertrügen derartige Übertreibungen keine allzu peinliche Auslegung. So bezeichneten sie ja auch die Ahnentafel in gewisser poetischer Anrede als Thron und Sitz der Seele, ohne der Meinung zu sein, daß hier wirklich die Seele zugegen sei und an den Gaben Freude empfinde. Der Ahnendienst sei eigentlich als ein Akt der Pietät nicht ohne ethischen Wert anzusehen; denn jede Tugendübung trage zum menschlichen Glück bei, ob sie nun rein immanent oder transzendent bedingt sei. Doch könne man allenthalben beobachten, daß bei den Chinesen abergläubische Vorstellungen sich mit den Riten verbanden, was vielleicht die ungünstige Beurteilung von seiten der anderen Orden verursacht habe. Denn mit divinatorischem Blick ahnte Leibniz, daß zwischen der Religion des alten China und der gegenwärtigen Volksreligion zu unterscheiden sei, und daß der Grund des Streites in der Nichtbeachtung der religionsgeschichtlichen Entwicklungsphasen liege; erst eine gründliche Erforschung der chinesischen Literatur werde die Möglichkeit eröffnen, eine zuverlässige Entscheidung dieser Streitfragen herbeizuführen. Und endlich gibt er bezüglich der brennenden Frage: „an liceat Christiano Sinensi dicere Tien coelum pro deo (quod in Europa saepe fit) aut deum appellare Xangti supremum imperatorem, quo nomine Sinenses literati utuntur" den von echt wissenschaftlichem Geist getragenen Bescheid: „putem accuratiore inquisiüone opus esse." In zahlreichen Briefen der nächsten Jahre begegnen wir immer wieder den eben ausgesprochenen Gedanken, woraus nicht nur seine lebhafte Anteilnahme an dem weiteren Verlauf des Ritenstreites hervorgeht, sondern auch erkennbar ist, wie sehr Leibniz in der Beurteilung der Ereignisse mit den Jesuiten und ihrem Verhalten gegenüber den päpstlichen Entscheidungen übereinstimmt. Trotz vereinzelter Kritik (so z. B. von seiten P. Papebroch's) blieb Leibniz doch stets in engen brieflichen Beziehungen zu anderen Jesuiten wie P. Verjus und weist wiederholt auf seine langjährigen Bemühungen um eine wissenschaftlich brauchbare Pasigraphie, eine internationale „lingua characteristica", hin. Und kaum hat Leibniz erfahren, daß Zar Peter der Große bei seinem Aufenthalt in Wien katholischen Missionaren wertvolle Zugeständnisse gemacht habe bei der Durchreise durch Rußland nach dem fernen Osten, so sieht er darin sofort neue Möglichkeiten für die christliche Mission (propagado fidei per scientias). Gerade mit der Begründung der Sozietät der Wissenschaften zu Berlin im
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Jahre 1700 glaubte Leibniz endlich der Realisierung seiner Wünsche und Gedanken einer evangelischen Mission, für die sich Wissenschaft und Religion die Hand reichen sollen, nahe zu sein. Aus A. von Harnades Darstellung der „Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften" geht unmittelbar hervor, wie Leibniz der geistige Urheber beinahe aller Pläne, Entwürfe und Instruktionen war. Und da hier alle Unternehmungen letztlich dem „allgemeinen Wohl", dem „Besten der Menschheit" und damit zum „Ruhme Gottes" dienen sollten, so ist es wohl verständlich, daß auch unter den besonderen Aufgaben der zu stiftenden Sozietät das Projekt einer protestantischen Mission nach China aufgenommen wurde. In gleicher Weise tritt er in einer „Denkschrift in Bezug auf die Einrichtung einer Societas Scientiarum et Artium in Berlin vom 24.—26. März 1700" mit besonderer Wärme für eine evangelische Mission nach China ein mit den Worten: „ . . . Es scheint, als ob Gott sich Churf. Durchlaucht zu einem großen Instrument auch hierin auserwehlet und vorher ausgerüstet habe. Massen ja bei Protestierenden nirgends ein solcher Grund als zu Berlin zu der chinesischen Literatura et propaganda fide geleget worden. Wozu nunmehr vermittelst sonderbarer Schickung der Providenz das so ungemein gute persönliche Vernehmen mit dem Czaar, in die große Tarta^ey und das herrliche China ein weites Thor öffnet. Dadurch ein Commercium nicht nur von Waren und Manufacturen, sondern auch von Licht und Weisheit mit dieser gleichsam anderen civilisierten Welt und Anti-Europa einen Eingang finden dürfte, so auch viele anlocken würde,.. . zumahlen auch bekannt, daß unter allen europäischen Naturalien fast nichts in China mehr gesuchet und geschätzt wird als der Agtstein (Bernstein)"45. Vor allem die Erhebung des Kurfürsten von Brandenburg zum König von Preußen am 18. Januar 1701 weckte in Leibniz neue Hoffnungen für seine weltweiten Pläne. Und in einem neuen Entwurf: „Bedencken, wie bei der neuen Königl. Societät der Wissenschaften, der allergnädigsten Instruktion gemäß Propagatio fidei per Scientias förderlichst zu veranstalten. Erster Entwurf. Berlin, November 1701", weist er nachdrücklich darauf hin: „In China ist ein vortrefflicher die Europäer und die Scienzen liebender Monarch und weise Leute. Man braucht auch, bis dahin zu kommen, keine andere als die slavonische Sprache, und dann an der Stelle die Mantchou-Tatarische zu Anfangs, als welche in China dominiret und ungleich leichter ist als die chinesische s e l b s t . . . So ist auch in China ein Großes zu erlernen, und gleichsam ein Tausch von Wissenschaften zu treffen, mehr als bey andern Völckern, und überdiess würde ein überauss vorteilhaftes Commercium von dannen anhero angestellet werden können, wozu der aida so beliebte Bernstein selbst ein Grosses thun müßte". Leibniz meint ferner, es werde allernächstem in sprachlicher Hinsicht insofern eine wesentliche Erleichterung für die Mission eintreten, als man gegenwärtig an einem „Dictionario slavonico literali" arbeite und vor allem (laut eines aus China an den Praesidem dieser Königlichen Societät eingelaufenen Schreibens) der Monarch daselbst ein Mantchou-Tartarisches sehr ausführliches Dictionarium ver4 5 Vgl. dazu mein Leibniz-Budi, S. 64 f. sowie L. Richter, Leibniz und sein Rußlandbild, 1946, und E. Benz, „Leibniz und Peter der Große. Der Beitrag Leibnizens zur russischen Kultur-, Religions- und Wirtschaftspolitik seiner Zeit", 1947.
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fertigen lasse. Daneben plante Leibniz ein Privilegium auf den Druck slavischer Erbauuagsbüdier beim Zaren für die Societät zu erbitten, von dem er sich für die Mission und für den Fundus der Gesellschaft viel versprach. Durch die in verschiedenen Ländern bis nach Persien, Indien und China anzustellenden „observationes magneticae" erwartet er auch eine bedeutsame Förderung der Schifffahrt, „wodurch vor allem der Zar gewonnen werden könnte, da nehmlich bekand, daß der Zar die Schiffahrtssachen überaus liebe... Den seiner Zeit weit vorauseilenden Ideen und produktiven Plänen konnte Leibniz' Mitwelt nur zögernd folgen, und die von ihm immer wieder geforderte Energie in der Durchführung seiner Vorschläge wurde kaum verstanden. Und besonders nach dem frühen Tod der edlen Königin Sophie Charlotte (1. Februar 1705), der treuen Mutter der Societät, kam es immer mehr zu wachsenden Konflikten zwischen dem geistigen Stifter und seiner Stiftung. Allmählich schwanden alle Hoffnungen auf eine Verwirklichung seiner weltumspannenden Missionspläne einer „Propagatio fidei per Scientias". Die protestantischen Fürsten waren zu sehr mit ihren dynastischen Angelegenheiten beschäftigt, und die Geistlichen Wieben zumeist an dogmatisch-theologische Vorstellungen gebunden, um neuartig-zukunftsreiche Gedanken in ernstere Erwägung zu ziehen. Schmerzlich mag damals Leibniz den augenfälligen Unterschied zwischen der intensiv-expansiven Organisationskraft der katholischen Kirche und ihrer Orden und dem engherzig-kleinbürgerlichen Geist, der in den deutsch-protestantischen Landeskirchen herrschte, empfunden haben. Unter diesen Umständen mußte er schweren Herzens auf ein von Seiten der Societät ins Werk gesetztes protestantisches Missionsuntemehmen in China zunächst verzichten, obwohl er bis zuletzt die Hoffnung darauf nicht aufgab und mit den Jesuitenmissionaren in regstem Gedankenaustausch, namentlich auf wissenschaftlichem Gebiet, blieb. Auch legte die nach langwierigen Verhandlungen durch den Kurfürsten von Brandenburg ins Leben gerufene große wissenschaftliche Schöpfimg einer Societät Leibniz den Gedanken einer ähnlichen Stiftung in China nahe, da ja der Kaiser Kang-hi selbst ein so warmer Freund der europäischen Wissenschaften sei. Leibniz schreibt in diesem Sinne in einem undatierten Brief (vielleicht an J. de Fontaney): „N'y at-il point d'apparence que le Monarque de la China puisse estre porté luy même à la fondation de quelques Colleges ou Academies qui servent à cultiver les sciences et doctrines à la façon d'Europe, dont Tartares, Chinois et Européens pourraient estre? L'exemple du Roy y pourrait contribuer" (Fase. Bouvet, Bl. 38/39). Es war die schicksalhafte Tragik des genialen Denkers Leibniz, daß beinahe alle seine Pläne, Vorschläge und weltweiten Ideen uns anmuten wie wundersame Steinchen eines gewaltigen „Lebensmosaiks", wie es E. Hochstetter in seiner feinsinnigen Einleitung „Zu Leibniz' Gedächtnis" bezeichnet hat (S. 81); doch blieb ein farbiger Stein bis an sein Lebensende, nämlich China und seine Kultur, ein leuchtender Mittelpunkt, um den immer wieder seine Studien kreisten. So war denn auch eine der letzten größeren Abhandlungen seines von unermüdlicher Arbeit erfüllten Lebens der Untersuchung religions-philosophischer Probleme auf dem Gebiet der chinesischen Philosophiegeschichte geweiht, die uns seine enorme Einfühlungskunst in völlig fremdes Geistesleben bei gänzlich
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unzureichenden Hilfsmitteln doppelt eindringlich empfinden lassen. Mit schwierigen politischen Aktionen betraut, von neuen Plänen und Entwürfen für eine zu begründende Akademie der Wissenschaften zu Wien erfüllt, verbittert durch mannigfache Kränkungen nicht bloß von Seiten seiner eigentlichen Schöpfung, der Berliner Societät, sondern auch von Seiten seines Landesherrn, fand der rastlos tätige Mann noch Zeit, dem brieflich ausgesprochenen Wunsch Nie. Remonds vom 1. April 1715 aus Paris: „Je souhaitais de savoir là dessus (i. e. sur la philosophie des Chinois) vos pensées pour regier les miennes" zu entsprechen. Im selben Brief macht Remond Leibniz noch, besonders auf zwei hier einschlägige Schriften aufmerksam, den „Traité sur quelques points de la Religion des Chinois. Par le R. Pere Nicolas Longobardi, ancien Supérieur des Missions de la Comp, de Jesus à la Chine"46 sowie den Dialog „Entretien d'un Philosophe chretien et d'un Philosophe chinois sur l'existence et la nature de Dieu" von P. Malebranche, und drückt sein Bedauern darüber aus, daß Leibniz in der Vorrede zu den „Novissima Sinica" das philosophische System der chinesischen Gelehrten nicht berührt habe, das ihn in mancher Hinsicht an das System des Plato erinnere. Noch am 22. Juni 1715 schreibt Leibniz von Hannover aus: „Je n'ay pas encore veu ce que les Peres Lombardi et Malebranche ont donné sur la Philosophie des Chinois; et je serois bien aise d'en avoir plus d'information, puisque vous y trouvés, Monsieur, quelque chose de considerable, et de ressemblant aux sentimene du divin Plato." Inzwischen hat er von Remond das Gewünschte erhalten; denn in einem Brief vom 4. November 1715 lesen wir: „II resteroit maintenant de vous parler, Monsieur, de la Theologie Naturelle des Lettrés Chinois, selon ce que le Pere Longobardi Jesuite et le P. Antoine de S. Marie de l'ordre des Mineurs nous en rapportent dans les Traités que vous m'avés envoyés pour en avoir mon sentiment, aussi bien que sur la maniere dont le R. P. de Malebranche s'est pris pour donner à un Chinois lettré quelque entrée dans notre Theologie, mais cela demande ime lettre à part." Und schon am 17. Januar 1716 teilt Leibniz Remond mit: „Bien loin d'avoir oublié les Chinois, j'ay fait un discours entier sur leur Theologie, touchant Dieu, les Esprits et l'Ame. Et il me semble qu'on peut donner un sens tres raisonable à leur auteurs anciens." In wenigen Monaten hatte also Leibniz den umfangreichen „Discours (Lettre) sur la Philosophie Chinoise" à Möns, de Remond* Conseiller du Duc Regent et Introducteur des Ambassadeurs fast vollständig fertiggestellt und damit den ersten europäischen Versuch gewagt, ein Wissenschaftsgebiet zu bearbeiten, das erst zu Beginn unseres Jahrhunderts die sinologische Forschung auf Grund neuerschlossener Quellen in Angriff nahm47. In dieser Abhandlung, die eigentlich nur stilistisch in Briefform abgefaßt ist, betont Leibniz unter Hinweis auf die ihm von Remond übersandten AbhandS. darüber auch Don. F. Lach, „Leibniz and China", a. a. O. S. 449. Vgl. dazu Näheres D. F. Lach, „Leibniz and China", S. 449 ff., deren sorgfältige Interpretation der Verfasser mit den Worten schließt: „In his analysis of Chinese philosophy Leibniz develops a system agreeable to his own precepts and to those of the Christian tradition. The concept of Li as an entelediy is a reminder of that definition of the Leibnizian monad which asserts „that all simple substances or created monads may be called entelechies" . . . it is remarkable that Leibniz's interpretation of Chii Hsi's philosophy is in its essentials so similar to that accepted by scholars today." — S. dazu auch H. Bernard, „Chu Hhsi's philosophy and its interpretation by Leibniz", in „T'ien Hsia monthly", V, 1937, S. 9 ff. 46
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hingen der beiden Chinamissionare sogleich seine von ihnen abweichende Anschauung, daß nämlich die chinesischen Klassiker auch ohne die Interpretation späterer oder modemer Schulen verständlich seien. Es scheint ihm kein Anlaß vorzuliegen, die Deutungen der ersten Chinamissionare trotz der Angriffe ihrer Gegner, der Jesuiten Em. und Nie. Longobardi sowie des Franziskaners Ant. de Sainte Marie, preiszugeben. Im Gegenteil haben Ricci und seine Anhänger nur getan, was man den scholastischen Vätern nièmals verübelt hatte, wenn sie die Lehre des Aristoteles von den Sphärengeistern mit der christlichen Engellehre in Beziehung setzten. In ähnlicher Weise könne man doch auch den Glauben der Chinesen, daß ihre Heroen und Ahnen Geister seien, in christlichem Sinne umdeuten, dem Ausspruch des Herrn gemäß: „Die Seligen werden sein wie die Engel Gottes." Von hoher Bewunderung für Chinas uralte Kultur erfüllt, die lange vor der griechischen Philosophie eine natürliche Theologie hervorgèbracht habe, hält Leibniz es für recht unklugen Eigendünkel von uns kaum der Barbarei entwachsenen Neulingen, eine so alte Lehre nur aus dem Grunde verdammen zu wollen, weil sie nicht mit unseren landläufigen scholastischen Begriffen vereinbar erscheint. Es sei eben notwendig, den chinesischen Lehrsätzen eine vernunftgemäße Deutung zu geben. Nach diesen Richtlinien nimmt Leibniz in den folgenden Abschnitten über das göttliche Wesen, über Materie und Geisteswelt, über die menschliche Seele und ihr Fortleben nach dem Tode vielfach kritisch Stellung zu den Ausführungen der beiden Chinamissionare in den beiden erwähnten Abhandlungen. In eindringender Weise sucht Leibniz aus den verschiedenen Klassikerzitaten und sonstigen Angaben seiner Vorlagen die Gottesvorstellung der Chinesen zu ermitteln. Freilich konnten ihm diese bruchstückartigen Mitteilungen kein klares Bild der metaphysischen Anschauungen der chinesischen Philosophenschulen geben, zumal ja das polemische Interesse die Objektivität der missionarischen Darstellung wesentlich beeinflußt hat („Je soubçonne encor que le P. de S. Marie a mal pris le sens de Confucius", II, 43). Diese Vermutung bringt Leibniz wiederholt zum Ausdruck und bedauert es an einer Stelle („II faudrait avoir ime traduction bien exacte de ce passage pour voir si Confucius y parle du premier principe [Li], ou s'il ne parle pas de la Loy ou regle in abstracto [Tao] . . [ I , 16]), daß infolge des Fehlens einer genauen Übersetzung die Nachprüfung des ursprünglichen Sinns einer Belegstelle nicht möglich sei. Angesichts all /dieser Schwierigkeiten bewährt sich Leibniz' geniales Einfühlungsvermögen darin, daß er einzelne charakteristische Momente des philosophischen Denkens der Chinesen zu ermitteln vermochte48. Bei genauerer Kenntnis der Quellen wäre ihm die Entwicklung der chinesischen Philosophie vom Dualismus (Yin und Yang) über den Positivismus (Confucius), Monismus (Laotse) und Transzendentalismus (Chuang-tse) zum mystischen Pantheismus (Kuan-yin-tse) noch deutlicher entgegentreten. Immerhin arbeitete er die Hauptgedanken der Sing-li-Schule über die zwei Grundprinzipien alles Existierenden 4 8 In mehreren Briefen an La Croze aus den Jahren 1720 und 1721 beschäftigt sidi Seb. Kortholt, der Vater von Chr. Kortholt, dem späteren Herausgeber der „Epistolae Leibnitii", mit diesem als Manuskript von Leibniz hinterlassenen Traktat und ersucht La Croze um Aufsdiluß über einzelne Fragen („Thesaurus epistolicus Lacrozianus" ed. J. L. Uhlius Lips. 1742. Tom. I, p. 218). Näheres darüber in meinem Leibniz-Buch, S. 109 ff.
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„Ii" und „ch'i" (ki) verständnisvoll heraus, indem er den Begriff „Ii" als Urgrund deutet, dem als höchster Vernunft die Materie (ki) ihre Entstehung verdanke. Auf Grund der vieldeutigen Aussagen der Missionare über die oberste Norm aller Dinge wagt er schließlich die Frage (I, 9): „Ne dirait on pas, que le Li des Chinois est la souveraine substance que nous adorons sous le nom de Dieu." Da aber dieses gestaltlose An-Sich alles Seins, diese reine Vernunft zur praktischen Selbstverwirklichung in der Welt der Erscheinungen kraft geistiger Energien hinstrebt, so wendet Leibniz, der stets die großen Linien im philosophischen Denken der Menschheit verfolgte, hier mit vollem Redit den aristotelischen Begriff der „Entelechie" an49, um die mit dem Terminus „Ii" verbundenen Ideen allseitig zu erfassen. Ist „Ii" nach den metaphysischen Lehren der Sung-Philosophen gleichsam letzte Daseinssubstanz, so bedeutet das andere ergänzende Prinzip „ki" den Weltstoff, wobei wohl zu beachten ist, daß schon Chu Hi einen Unterschied zwischen Materie und Stoff macht. Da aber „ki" (eigentlich Odem, Hauch) „in der philosophischen Terminologie der Chinesen durchaus im Sinne unserer modernen Philosophie die Materie als wirkende Kraft oder Energie bedeutet" (W. Grube), so bilden „Ii" und „ki" gleichsam die unzertrennlichen Modi, die präformativen Attribute einer letzten höchsten Substanz. Wiederholt erwähnt Leibniz in seinen Darlegungen „die durch taoistische und buddhistische Ideen beeinflußte Hsingli-Philosophie", in der „die Begriffe ,Urprinzip', .Vernunft', .Fluidum', ,Geist', ,Menschennatur' nadi allen Seiten hin untersucht wurden; es ist die Philosophie, welche besonders von der Natur (hsing) und von der Vernunft (Ii) handelt"50. Bewunderswert ist es, wie Leibniz immer von neuem ansetzt, um den zu behandelnden Problemen gerecht zu werden und besonders die eigenartig-orientalischen Ideenkomplexe mit dem abendländischen Denken in Beziehung zu bringen. Ahnend spürte er durch das tiefere Eindringen in die Philosophie Chinas, daß die östlichen Denkkategorien von den abendländischen verschieden seien, wie das jüngst L. Abegg in ihrem „Versuch einer Analyse des west-östlichen Gegensatzes" „Ostasien denkt anders" (1949) so aufschlußreich gezeigt hat. Im weiteren Verlauf-der Abhandlung gibt dann Leibniz selbst diesem Empfinden Ausdruck bei der Analyse des Begriffs „Tai-kie" mit den Worten: „II semble qu'après le Li et le Ki vient le Tai-kie. Le Père Longobardi n'en dit pas assés pour en donner une idée distincte. On diroit quasi que Taikie n'est autre chose que le Li, travaillant sur le Ki. Spiritus domini qui ferebatur super aquas." Dadurch aber, daß die näheren Bestimmungen von „Tai-kie" denen des Begriffs „Li" fast völlig homogen sind, und Leibniz bereits die Definitionen desselben als synonym den von christlicher Seite zur Bestimmimg des göttlichen Wesens festgelegten Attributen erkannt hatte, sieht er sich in logischer Schlußfolgerung zu der Gleichung genötigt, daß „Li", „Ki" und „Taikie" nur Modalitäten des letzten Daseinsgrundes darstellen, welchem in der offiziellen Religion der Name „Schangü", „c'est-à-dire le Roy d'enhaut, ou bien l'Esprit qui gouverne le Ciel" (II, 28) beigelegt wird. Und er kommt zu dem weiteren Schluß: „Ainsi si le Xangti et le Li sont la même chose, on a tout sujet de donner à Dieu le nom de Xangti. Et le Pere Mathieu Ricci n'a pas eu * ' S. dazu D. F. Ladi, a. a. O. S. 452 f. 50 Vgl. dazu A. Forke, „Geschichte der neueren chinesischen Philosophie", 1938, S. β f.
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tort de soutenir que les anciens Philosophes de la Chine ont reconnu et honoré un Etre supreme appellé Xangti, Roy d'enhaut, et des Esprits inférieurs, ses ministres, et qu'ainsi ils ont eu la connaissance du vray Dieu" (II, 28). Wenn ferner auch Confucius für die Bezeichnung des göttlichen Wesens sich des Wortes „tien" bedient, so legt das Leibniz die Vermutung nahe, er habe sich damit den überkommenen Religionsvorstellungen akkommodiert: „Ce semble, que Confucius, comme Platon, étoit pour l'unité de Dieu, mais qu'il s'accommodoit aux preventions populaires comme l'autre" (II, 34). Mit solchen Erörterungen verfolgte Leibniz im letzten Grunde die aus seinen früheren Missionsbestrebungen hervorgehende apologetische Tendenz, die chinesische Philosophie in ihrer von ethischen Momenten geläuterten rationalen Ausprägung der christlichen Theologie möglichst anzunähern („La Philosophie Chinoise approche plus de la Theologie Chrestienne, que la Philosophie des anciens Grecs", II, 23), ausgehend von der Voraussetzung, daß die natürliche Religion eine allgemein menschliche Erscheinung sei. Um aber die einem monistischen Positivismus huldigenden Gebildeten des damaligen China zu einer reineren supranaturalen Gotteserkenntnis, wie sie in der christlichen Religion ihre vollendete Ausprägung gefunden hat, emporführen zu können, müsse man jene Literaten besonders aufklären über die neuesten europäischen Entdeckungen einer providientiellen Harmonie zwischen den Naturgesetzen des Weltalls und den Denkgesetzen des Individuums. „Et on les (Chinois modernes) éclairera d'avantage là dessus en leur faissant connoitre les nouvelles découvertes de l'Europe, qui rendent des raisons presque mathématiques de plusieurs grandes merveilles de la nature, et font connoitre les véritables systèmes du Macrocosmo et du Microcosme. Mais il faut leur faire reconnoitre en même temps, comme la raison le demande, que ces causes naturelles, qui font leur office si exactement a point nommé pour produire tant de merveilles, ne le sauraient faire, si elles n'estoient des Maschines préparées pour cela et formées par la sagesse et par la puissance de la substance supreme, qu'on peut appeller Li avec eux" (II, 48). Bei dem unverkennbaren Einfluß des buddhistischen Denkens der Sung-Zeit auf das chinesische Geistesleben ist es selbstverständlich, daß auch die Gewährsmänner des Philosophen, die Missionare, diesen Ideen mannigfach begegneten, besonders in den Vorstellungen der Literaten von der menschlichen Seele und ihrem Fortleben nach dem Tode. Der Struktur der chinesischen Mentalität entsprechend stand der altchinesische Seelenkult im Ahnendienst neben der Lehre von der Seelenwanderung und den Wiedergeburten (Samsara) und fand nicht selten die gleichen Anhänger. Den daraus sich ergebenden widerspruchsvollen Synkretismus sucht Leibniz in transigenter Weise zu erläutern, wobei freilich eine völlig unzureichende Kenntnis des Buddhismus, der sogenannten FoeSekte, ein historisches Verständnis der vorliegenden religionsphilosophischen Fragen unmöglich machte. So möchte er den autogenen Animismus mit Hilfe seiner ihm eigentümlichen Substanzlehre erweichen, um einerseits der menschlichen Seele die geistige Potenz zu wahren und sie doch andererseits in kontinuierliche Verbindung mit dem schöpferischen Allgeist zu setzen. Von diesem Gesichtspunkte aus bestreitet Leibniz die allzu realistische, abendländische Interpretation klassischer Stellen als Atheismus durch die beiden Missionare und be-
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fürwortet einen mehr spiritualistischen Monismus, weldier gegenüber einem dem primitiven Denken eigenen Dualismus dem tieferen Erkennen die Einheit des Universums erschließt. Da in den kanonischen Schriften (Shu und Shih) eigentlich nur von einem Fortleben der erlauchten Glieder des Herrscherhauses nach dem Tode die Rede ist, so wagt sich auch Leibniz in der Frage nach der Unsterblichkeit der Seele im allgemeinen über Vermutungen nicht hinaus (L'immortalité de l'Ame, sera encor plus éclaircie, quand on réconnoitra, que vraisemblablement, selon l'ancienne doctrine Chinoise, les Ames reçoivent des recompenses et des chatimens après cette vie, III, 65). Doch hält er hinsichtlich des Ahnenkults an seiner bereits wiederholt ausgesprochenen Ansicht fest: „Le Culte des Ancêtres et des grands hommes institué par les anciens Chinois, peut bien avoir pour but de marquer la gratitude des vivans, vertu cherie et recompensée du Ciel, et pour exciter les hommes à faire des actions, qui les rendent dignes de la reconnoissance de la postérité" (III, 66). Eine nochmalige kürzere Darlegung über die auffallenden Beziehungen zwischen den „Charakteren des Fohi" und seiner eigenen binarischen Arithmetik (IV) beschließt diese letzte größere Abhandlung des hervorragenden Philosophen. In dem schon oben S. 21 erwähnten Brief an P. Orban weist Leibniz nachdrücklich darauf hin, daß gerade die gegenwärtige, vielleicht nicht mehr wiederkehrende günstige Gelegenheit zu gegenseitigem Geistesaustausch verwertet werden sollte, und wiederholt seinen Vorschlag, Lektorate für Chinesisch mit gebildeten Eingeborenen als Lehrern zu errichten, um die Missionare erst nach gründlicher wissenschaftlicher Ausbildung und allseitiger Einführung in Sprache und Kultur des Landes hinauszusenden, was nicht allein der Ausbreitung des Glaubens, sondern auch den mit der Mission verbundenen kulturellen Bestrebungen förderlich sein würde51. Schon dadurch, daß der Missionar um der „propagatio fidei" willen genötigt sei, die christlichen Vorstellungsinhalte in Wort und Schrift in eine fremde Sprache und fremdes Denken zu übertragen, hoffte Leibniz überdies auf eine wesentliche Förderung der Linguistik. Zugleich erwartete ei von einer wissenschaftlichen Erforschung der uralten östlichen Kulturen eine bedeutende Erweiterung unserer Kenntnis der antiken Geschichte und Chronologie, der Geographie und Ethnologie jener Länder52. Sogar für die damals sehr im Argen liegende Heilkunde versprach er sich eine Vermehrung der Medikamente („Item si les Chinois n'ont pas des remedes aussi seurs contre quelques maux que le Quinquina l'est contre la fieuure et l'Ipecacuanha contre la dysenterie", undatierter Brief an Bouvet v. J. 1703), wie Leibniz überhaupt auf eine Bereicherung des abendländischen Wissens durch fremde Kulturerrungenschaften in jeder Weise bedacht war. Und so heißt es denn in der zweiten kürzeren Fassung der oben genannten Denkschrift vom November 1701: „Zu diesem Zweck der Missionen . . . wäre nöthig Anstalt zu machen, daß an Tugend und Verstand bewehrte, mit ohngemeiner Fähigkeit begabte, mit dem Geist Gottes ausgerüstete junge Leute nächst der Gottesgelehrtheit, in der Mathematic, sonderlich arte observandi astra, und Medico-Chirurgicis, als vor welchen B1 S. darüber meine akademische Antrittsvorlesung (Halle-Wittenberg) über „Mission und Wissenschaft", Hermhut, 1921. 53 Vgl. mein Leibniz-Buch, S. 140 f.
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Wissenschaften ganz Orient sidi neiget, gründlich unterwiesen, und zu etwas Vortrefflichem angefiihret, danebenst auch in den erforderten Sprachen in etwas geübet würden." Die hier gemäß der humanistischen Struktur seines Lebensideals ausgesprochenen Bildungsgrundsätze will Leibniz auch im Gegensatz zu den allermeisten seiner Zeitgenossen auf die Träger einer christlich-kulturellen Missionstätiglceit übertragen, zumal ihn seine persönlichen Beziehungen zu den wissenschaftlich tüchtigen Jesuitenmissionaren von dem Wert und Erfolg einer rational-zivilisatorischen Mission, besonders unter den östlichen Kulturvölkern, überzeugt hatten. Ja, er spricht die Erwartunng aus, daß derart durch tüchtige Lehrer in den weltlichen Wissenschaften ausgebildete protestantische Missionare „es den Jesuiten und anderen römischen Missionarüs bevorthun" würden, da diese, nicht durch ein kirchliches Dogma irgendwie gebunden, die mit den Vernunftprinzipien übereinstimmende reine evangelische Wahrheit vorurteilsfrei zu verkündigen vermöchten. Diese kultursynthetisch-wissenschaftlichen Neigungen des Universalgenies Leibniz konnten leider damals einem nur diristlich-orientierten Standpunkt gegenüber auf wenig Verständnis rechnen und haben daher auch seine methodisch-praktischen Grundsätze nicht unwesentlich beeinflußt. Besonders dadurch, daß Leibniz im Sinn der beginnenden Aufklärung das Charakteristische der religiösen Erscheinungsformen gegenüber dem Natürlich-Rationalen zurücktreten ließ53, erschien ihm eine Annäherung der einzelnen Religionen und Konfessionen bei steter Vervollkommnung historischkritischer Erkenntnisse nicht unerreichbar54. „Man müßte China bekehren, nicht dadurch, daß man den Chinesen nachweist, sie irren, sondern indem man die Analogien, die zwischen ihrer und unserer Religion bestehen, und welche auf die im Wesen des menschlichen Geistes begründete Einheit zurückzuführen sind, hervorhebt"55. War Leibniz doch der Überzeugung, daß Jesus Christus Lehren und Grundsätze verkündet habe, die Philosophen und Propheten vor ihm schon vereinzelt ausgesagt hätten, ohne daß es gelang, die Religion der Weisen zur Religion der Völker zu machen („II [Jesus Christ] fit luy seul ce que tant de Philosophes avoient en vain taché de faire . . . la religion des sages devint celle des peuples" [„Essais de Théodicée", Préf.] )5e. So legte sich ihm der Gedanke nahe, daß auch die Lebensweisheit chinesischer Philosophen religiös-pädagogische Bedeutung habe. Auch begrüßte er lebhaft die Sammlung von sog.Logoi spermatikoi (zerstreute Offenbarungsworte) aus der klassischen Literatur aller Völker („Idem sentio de laudabili studio eorum qui veritatís scintillas in veterum scriptis 53 Wenn nadi den von G. Grua, „Textes inédits de Leibniz" (Tom. I, 1948, S. 165 ff.), veröffentlichten „Declarations doctrinales" Leibniz einen positiv-konfessionellen Standpunkt einnahm: „Si natus essem in Ecclesia Romana, profecto ab ea non recederem etsi omnia crederem, quaei nunc credo" (S. 178) — so ist diese Äußerung mit den von P. Hazard, „Die Krise des europäischen Geistes 1680—1715 (La Crise de la Conscience Européenne), 1939, S. 266, angeführten Worten über die katholischen Ordensregeln zu vergleichen. M Zu Leibniz' Zeit erschien (1685) nämlich „das für eine historisch-kritische biblische Einleitungswissenschaft grundlegende Werk" des Oratorianers Richard Simon, „Histoire Critique du Vieux Testament", vgl. dazu F. Stummer, „Die Bedeutung R. Simons für die Pentateuchkritik", 1912; sowie meinen Aufsatz, „Zur Geschichte der Bibelkritik" in „Nieuw Theolog. Tjidschr", 1937, S. 27 f. 68 P. Hazard a. a. O., S. 277. 58 Zu den bei G. Grua a. a. O. S. 204 f. wiedergegebenen Texten: „Chine et Missions anglaises" s. mein Leibniz-Buch, S. 195 ff.
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quaerunt, non latinorum tantum et Graecorum, sed etiam Orientalium. Itaque vellem Bradimanum et Persarum veteres libri apud nos extarent", Brief an den Mathematiker L. Bourguet v. 15. Dez. 1707). Dabei erscheint es ihm ein Gebot der Klugheit zu sein, bei der Mitteilung religiöser Wahrheiten erzieherisch zu verfahren und nach Art der Arkandisziplin in der alten Kirche mit den übernatürlichen Geheimnissen des Glaubens vor unvorbereiteten Gemütern möglichst zurückzuhalten, um zunächst durch Unterweisunng in der natürlichen Theologie sowie in den wichtigsten philosophischen Wahrheiten den Weg zum Verständnis der Offenbarung zu ebnen. Bei Leibniz' optimistischem Vertrauen auf Vernunftbeweise und wissenschaftliche Deduktionen blieben ihm freilich die tiefsten seelischen Probleme religiöser Verkündung verborgen. In solcher erschlaffenden Nivellierung aller starken religiösen Motive liegt mit ein Hauptgrund, warum seine weitschauenden, kühnen Missionspläne erst durch die Initiative des glaubenseifrigen Pietismus in die Tat umgesetzt wurden. Gerade die in China tätige Jesuitenmission war für Leibniz ein Anlaß, um durch dieses kulturell-christliche Glaubenswerk seine immer wieder vereitelten Reunionsbestrebungen auf einer höheren Ebene endlich doch noch verwirklicht zu sehen57. Hält es Leibniz doch für „nicht thunlich, daß in entfernten Landen die ausgesandten Missionare in einer zertheilten Ecclesia stehen und das Schisma hervorblicke"; vielmehr „würde in diesem Negotio Missionum ein trefflicher Cuneus sich finden, auch das Negotium pacificum zu treiben". Es lag ihm eben vor allem daran, die mannigfaltigen religiösen Erscheinungen auf die zentralen Wahrheitsinhalte der Religion überhaupt zu reduzieren. Leibniz „fragt nicht nur nach dem Wesentlichen im Christentum, sondern nach dem Wesentlichen in der Religion überhaupt, und findet deshalb dieses Wesentliche nicht im Positiven, sondern im Allgemeinmenschlichen, in der natürlichen Religion"58. Nahe liegt es, daß Leibniz lebhaft berührt von der inneren und äußeren Not, welche Religionsstreitigkeiten und Religionskriege damals in Deutschland heraufgeführt hatten, es verhindern wollte, daß ähnliche Zwistigkeiten die fernen Völker zerrütten würden. „Ich möchte die Sache so betrieben haben, daß die Völker, deren allgemeines Wohl uns am Herzen liegt, von den konfessionellen Unterschieden der Christen keine Kenntnis erhalten, zumal ja in den Hauptpunkten des christlichen Glaubens eine derart weitgehende Ubereinstimmung (Katholizität) besteht, daß das verständnisvolle Ergreifen derselben zum Heil jener Völker völlig genügt" (Novissima Sinica, Praef.). Und wie er in den historischen Religionen nach der mehr oder weniger verhüllten natürlichen Religion suchte, so sah er auch in den christlichen Konfessionen nur die zeitgeschichtlichen Gestaltungen des wahren vernunftgemäßen Christentums. Durch die kosmopolitische Tendenz seiner Zeit beeinflußt galt sein kirchenpolitisches Streben 57 P. Hazard, „Die Krise des europäischen Geistes (La Crise de la Conscience Européenne) 1680—1715", 1939, S. 258 ff.: Leibniz und das Mißlingen einer Einigung der Kirchen. — J. Baruzi, „Leibniz et l'organisation religieuse de la terre", 1907. — G. J. Jordan, „The Reunion of the Churches: A Study of G. W. Leibniz and His Great Attempt", 1927; zitiert bei D. F. Lach a. a. O., S. 448, Anm. 42. 6 8 Vgl. dazu H. Hoffmann, „Die Leibnizsche Religionsphilosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung", 1903. — Sowie G. Ch. Β. Pünjer, „Geschichte der christlichen Religionsphilosophie seit der Reformation", I. Bd., S. 357 ff.
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zeitlebens dem oekumenisdien Bemühen, die infolge der Reformation in verschiedene Konfessionen zerfallene christliche Kirche in eine die ganze Menschheit umfassende universale religiöse Gemeinschaft zu erheben. Bei der Ungunst der Zeiten und dem Unverständnis seiner Zeitgenossen ist es nur zu verständlich, daß die meisten seiner großen divinatorischen Pläne zu seinem tiefen Schmerz sich nicht erfüllen ließen. „Aber was er im Reiche des Gedankens geschaffen hat, ist unvergänglich geblieben, und darüber hinaus, fast alle seine großen Projekte sind doch im Laufe der Zeiten allmählich verwirklicht worden", hat treffend A. von Harnack als Resultat dieses tragischen Gelehrtendaseins bezeichnet. Denn es hat sich schließlich doch noch erfüllt, was der einsame, mit einem widrigen Schicksal ringende Denker zu hoffen wagte: „Quod si irrita sunt vota mea nunc quidem, saltern optimae voluntati meae feci satis, et fieri potest, ut quae nunc spargo semina aliquando meliori tempestate habitùque animorum adolescant" (Brief an Phil. Müller vom 15. August 1698). Und in der Tat war der Einfluß des in Verbitterung am 14. November 1716 aus einem mühevollen Leben geschiedenen größten deutschen Denkers zweier Jahrhunderte ein selten nachhaltiger gewesen — gerade auch auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Erforschung des Fernen Ostens, der Kultur des chinesischen Volks. Noch ein letzter Lichtblick war es in Leibniz'Leben, daß sein Lieblings gedanke einer protestantischen Missionstätigkeit in einem fernen Kulturvolk sich zu verwirklichen begann und seine vielfachen Anregungen auf guten Boden gefallen zu sein schienen — freilich nicht in der Weise, wie es Leibniz gehofft hatte, denn der einflußreiche Gründer des Halleschen Waisenhauses August Hermann Francke hatte es zunächst auf die Erschließung Rußlands für die westliche Kultur abgesehen. Immerhin schreibt er hocherfreut in einem Brief an A. t í . Francke die schönen Worte 59 : „Wenn ich auch keine andere Frucht aus meinem Büchlein über das .Neueste aus China' erzielt hätte, als daß es Sie mehr und mehr zu ähnlichen Gedanken wie den meinigen angeregt hätte, glaube ich genug und übergenug erreicht und nicht vergebens gearbeitet zu haben." Nicht nur daß der inHannover weilende Philantrop Franz Mercur van Helmont60 derselben Meinung sei, sondern „es beginne sich im Osten und Westen, ja auch im Süden (in Abessinien) Neues zu regen, die Ernte sei bereit und Gott rufe zu den schönsten Gelegenheiten; da sei es eine Schande, ja geradezu ein Verbrechen für die Protestanten, zu fehlen, während inzwischen die Päpstlichen alle Hebel in Bewegung setzen und die Kinder dieser Welt klüger sind als die Kinder des Lichts". Schmerzlich berührt durch die verständnislose, nicht selten sarkastische Gleichgültigkeit besonders der Gebildeten solch weltweiten, drängenden Aufgaben gegenüber, fährt Leibniz fort: „Und was das Betrüblichste ist, bei den Protestanten wird oft nicht nur das die Gegenwart Fördernde unterlassen, sondern auch noch verlacht und gehindert, so daß man kaum über derartige Dinge mit anderen in Gedankeni e Im Original noch vorhanden in der Hauptbibliothek des Waisenhauses zu Halle/Saale vom 7. August 1697. Vgl. dazu den unveröffentlichten „Briefwechsel zwischen Leibniz und A. H. Francke aus den Jahren 1697—1699" in meinem Leibniz-Budi, S. 214 ff. 6 0 Über Franz Mercur van Helmont s. Broedcx, „Le baron F. M. van Helmont", 1870.
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austausch zu treten wagt, ohne gleich als Urheber von Chimären, ähnlich wie Columbus, gehalten zu werden." Und sehr bald kam Α. H. Francke unter den Einfluß des Orientalisten H. W. Ludolph, der als Sekretär des Prinzen Georg von Dänemark Reisen in den vorderen Orient unternommen hatte und daher neben Rußland vor allem den Orient als Missionsgebiet ins Auge faßte und in seinem um Ostern 1701 verfaßten „Project zu einem Seminario universali" auf „alle Nationes" Bezug nimmt und für das in Halle zu gründende „Collegium orientale" neben dem gründlichen Studium der heiligen Schrift eingehenden Unterricht in den orientalischen Sprachen (Chaldäisch, Syrisch, Arabisch, Äthiopisch, Armenisch, Persisch, Türkisch und Sinisch) auch für Missionszwecke verlangt. Aus Gründen einer gewissen kirchlichen Gegensätzlichkeit konnte der Einfluß von Leibniz' Ideen auf A. H. Francke kein nachhaltiger sein; umso mehr haben jene aber bei dem Königsberger Hofprediger und späteren Rektor zu Hersfeld D. Konrad Mei nachgewirkt61. Gehörte doch Konrad Mei zu den damals nicht seltenen Theologen, welche vielfach in recht dilettantischer Weise sich mit einzelnen wissenschaftlichen Gebieten befaßten — so z. B. der Berliner Propst Andreas Müller mit Sinologie und der Augsbuger Diakonus Theophil Spizelius mit Kultur- und Völkergeschichte. Es kann ihnen aber das Verdienst nicht abgesprochen werden, daß sie (ähnlich wie ein Jahrhundert später die Romantiker) mit vielem Eifer Nachrichten aus aller Welt sammelten und dadurch den Umkreis wissenschaftlicher Studien wesentlich erweiterten. Ja, verschiedene allzu kühn und kritiklos aufgestellte Kombinationen haben vereinzelt auf die spätere Forschung anregend eingewirkt. Schon gleich die erste Schrift Mels läßt solche krause Gelehrsamkeit in merkwürdigem Licht erscheinen. Nach devot-höfischer Zeitsitte verfaßte er anläßlich der im Jahre 1700 stattfindenden Vermählung des Landgrafen Friedrich von Hessen mit der brandenburgischen Prinzessin Luise Dorothea Sophie ein Gratulationsschreiben, das den Titel trägt: „Legatio orientalis, Sinensium Samaritanorum Chaldaeorum et Hebraeorum, cum interpretaüonibus et ephinonemate germanico; quae ad thronum serenissimorum neonymphorum . . . defert obsequium et gaudia offert; carminibus gratulaíoriis proposita, a Conrado M e l . . . Regiomonti, typis Friderici Reussneri etc. MDCC." Es ist eine Art Glückwunschadresse der im Titel genannten Völker, und derVerfasser wollte dartun, mit welchen Sprachen er sich beschäftige, und seine Gelehrsamkeit im schönsten Lichte zeigen. Den Reigen der Gratulanten eröffnete der Gesandte des großen Kanghi, der in Mandarinen-Sprache vorträgt, was „sein Herr, ein Sohn der Sonne und Beherrscher vieler Lande, aus recht großer Herzens-Wonne wünscht zumEhe- undLiebesbunde". Ja auch bedeutende englische Gelehrte wie der Bischof von Salisbury, Gilbert Burnet, der Oxforder Mathematiker J. Wallis und der schottische Edelmann Thomas Burnet de Kemney sprachen in Briefen ihren Dank für die Zusendung der „Novissima Sinica" aus. Und Prof. J. Wallis kann Leibniz am 29. März 1700 sogar davon in Kenntnis setzen, daß bereits Ende des vergangenen Jahres auf Veranlassung der Kaufmannschaft und unter 6 1 S. darüber mein Leibniz-Budi, S. 179 ff. ·— S. dazu audi D. F. Lach, „Leibniz and China", S. 454. Ferner P. Tschackert, „Leibniz' Stellung zur Heidenmission" in: Allg. Miss. Ztsdir., 1905, S. 269 ff.
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Förderung des Erzbisdiofs eine missionsärztlidie wissenschaftliche Expedition von England aus nach China abgegangen sei, über deren Schicksal man bisher Genaueres nicht wisse. Derartige Unternehmungen, die den holländischen ähnlich zunächst handelspolitischen Interessen dienten — verdanken wir doch den holländischen Kolonialpredigern Abraham Roger und Phil. Baldaeus die ersten zuverlässigen Nachrichten über die indische Religionswelt62 — führten in den kolonialen Niederlassungen zu steten Berührungen mit fremden Religionen und haben dadurch auch den Missionsgedanken lebendig erhalten. Besonders aber hat der bedeutende Linguist und Gelehrte Mathurin Veyssière La Croze, mit dem Leibniz bis zu seinem Tode eifrig korrespondierte, für die vielseitigen Probleme der Mission sich ein dauerndes Interesse bewahrt. Aus seinen Studien ging die erste europäische, für lange Zeit grundlegende Missionsgeschichte hervor: „Histoire du Christianisme des Indes par M.V. La Croze, Bibliothécaire et Antiquaire du Roi de Prasse. A la Haye. MDCCXXIV" 68 . Im 6. Kap. („De l'Idolatrie des Indes") des damals in gebildeten Kreisen Aufsehen erregenden Buchs hat La Croze neben früher erschienenen Schriften holländischer und katholischer Prediger als Quellen die religionsgeschichtlich wertvollen Manuskripte der beiden deutschen Missionare B. Ziegenbalg, „Genealogie der malabarischen Götter" (1713) und J. E. Gründler, „Le Médecin Malabare", ausgiebig herangezogen. Und ganz im Sinne von Leibniz hebt er aus den Berichten den Gedanken hervor, daß auch die Inder „nonobstant la plus grossière Idolatrie" doch von Anfang an den Glauben an ein höchstes, vollkommenstes Wesen besessen hätten (S. 425; 457). In verschiedenen Briefen (z. B. an Hugony in Paris vom 17. Juni 1715 sowie an La Croze selbst vom 29. Juni 1715) erwähnt Leibniz dessen sinologischen Studien („Comme il a quelque entrée dans la connaissance des Characteres Chinois, je luy conseille d'y aller plus avant") und in einem seiner letzten Briefe an Leibniz vom 6. April 1715 spricht La Croze sogar sein Bedauern aus über die Nachricht von der Vertreibung der Jesuiten aus China, was er nicht bloß als schweren Verlust für die Religion, sondern auch für die Wissenschaft ansehen würde. Das ist umso merkwürdiger, als La Croze das lebhafte Eintreten Leibnizens für die jesuitische Missionspraxis noch in einem Brief vom Dezember 1720 an S. Kortholt scharf kritisierte. Unter den Gelehrten, die von tiefer Bewunderung für den universalen Denker erfüllt waren, ist besonders der Orientalist Gottlieb Siegfried B a y e r zu nennen64; denn von Begeisterung erfüllt, schrieb der 22jährige Bayer von Leipzig aus am 15. November 1716 an La Croze, dem er gleichfalls viel zu danken 6 3 Vgl. dazu meine Studie: „Anfänge der Erforschung indischer Religionen im 18. Jahrhundert" in: Rudolf-Otto-Ehrung, hgb. von Hch. Frick, 1940, S . 3 9 f f . ; 41 ff. 6 3 L a Croze, „ursprünglich- Katholik und Mönch im Benediktinerkloster St. Germain zu Paris, Mitarbeiter an der großen Kirchenväterausgabe, entfloh im Jahre 1696, trat in Basel aus Überzeugung zur reformierten Kirche über und wurde 1697 Bibliothekar zu Berlin. Als Sprachgenie und Polyhister hatte er seines Gleichen nicht unter den Zeitgenossen" (A. von Harnack a. a. O. I, S. 108 f.). — Über M. V. L a Croze s. Frdr. Wiegand, „Mathurin Veyssière L a Croze als Verfasser der ersten deutschen Missionsgeschichte", 1902 (ersch. in „Beiträge z. Förd. christl. Theologie", VI, 3, S . 8 4 f f . ) . 6 4 Der Titel der von dem Indologen E. Kuhn angeregten Münchner Dissertation von Frz. Babinger lautet: „Gottfried Siegfried Bayer (1694—1738). Ein Beitrag zur Geschichte der niorgenlandischén Studien im 18. Jahrhundert", München, 1915.
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hatte, — nicht ahnend, daß am Tage vorher Leibniz bereits verschieden war — die Worte: „De Leibnitio quam te amo! Quam ego scelestus sim, ni ista velimi Scripsi ad eum observantiae testandae causa, eamque epistolam ad te mitto nondum obsignatam, ut, sine probes, ad virum illustrem una cum tua commendatione mittas..." Den Spuren Leibnizens folgend suchte er durch einen Briefwechsel mit einzelnen in China arbeitenden Jesuiten sichere Kunde über die dortige Kultur zu erhalten, ebenso wie er sich seine Kenntnisse der indischen Sprache und Literatur von Missionaren der dänisch-halleschen Mission in Ostindien verschafft hat. Und noch einmal hat Bayer in'seinem sinologischen Hauptwerk: „Museum Sinicum, in quo sinicae Linguae et Litteraturae ratio explicatur", Tom. I, Petersburg, 1730, der Verdienste Leibnizens um die Förderung chinesischer Studien rühmend gedacht. In der 145 Seiten langen Vorrede gibt Bayer eine Ubersicht über alle bisherigen sinologisdien Bestrebungen sowie über den Gang seiner eigenen chinesischen Studien. Der zweite Band enthält den Versuch eines chinesischen Wörterbuchs sowie eine Diatribe über das Leben des Confucius in chinesischen Schriftzeichen, ferner das Buch „Da Hio" in Chinesisch und in lateinischer Ubersetzung. Bayer erinnert auch daran, wie Leibniz die wenigen einheimischen Sinologen (A. Müller und Chr. Mentzel) in ihren Studien ermuntert und im ersten Band der Abhandlungen der Berliner Societät (1710) einen Aufsatz über das „chinesische Spiel" veröffentlicht habe65. Unter Hinweis auf Bayers eben genannte eingehende Ubersicht gedenkt auch der Pariser Sinologe Stephan Fourmont in der Praefatio (S. XIII) seiner 1738 erschienenen „Meditaüones Sinicae" der sprachphilosophischen Ideen Leibnizens und schreibt: „A Leibnitio Linguam Sinicam amatam potius quam cultam, requisitam potius quam cognitam, ex Bayero praesertim variisque ipsius Leibnitii Epistolis discimus." Zwar konnte die schon erwähnte von dem Großen Kurfürsten 1678 in Auftrag gegebene „Clavis Literaturae Sinicae" des Berliner Propstes Andreas Müller aus Greifenhagen (Pommern) aus verschiedenen Gründen nicht erscheinen, während der Leibarzt des Großen Kurfürsten Christian Mentzel (1622—1701)ββ seine Bemühungen fortsetzte, literarische Hilfsmittel fyir den Unterricht in der chinesischen Sprache zu beschaffen. Gerade der auch in politischer Hinsicht für den Femen Osten interessierte Kurfürst hatte den alternden Mentzel bewogen, diese sinologischen Studien zu beginnen und als Ergebnis derselben konnte er 1685 ein kurzes lateinisch-chinesisches Lexikon, die „Sylloge Minutiarum Lexici Latino-Sinico characteristic!" erscheinen lassen. Diese damals erwachende lebhafte Anteilnahme verschiedener gebildeter Kreise in Deutschland an sinologisdien Studien rief einen regen Briefwechsel unter den Beteiligten hervor; auch 65
S. dazu mein Leibniz-Budi, S. 209. Über Christ. Mentzel s. jetzt die Monographie von W. Artelt, „Christian Mentzel, Leibarzt des Großen Kurfürsten, Botaniker und Sinologe", 1940. Der größte Teil von Mentzels chinesischen Studien ist nie veröffentlicht worden, sondern liegt — teils in fertigen Manuskripten teils in fragmentarischer Form — unter den sinologisdien Handschriften der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek. Es sind dies: eine abgeschlossene „Clavis Sinica", datiert Berlin 1698, sowie die handschriftlichen Fragmente einer chinesischen Grammatik und eines chinesis