Leibliche Authentizität und digitale Mediatisierung: Phänomenologisches und theologisches Leibverständnis als kritische Anfrage an den Wandel der Kommunikation 9783495995440, 9783495995433


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1. Einführung: Der Wettbewerb der Wirklichkeiten
2. Digitale Mediatisierung und Wandel der Kommunikation
2.1 Verständniseinstieg digitaler Wirkmacht
2.1.1 Industrie 4.0
2.1.2 Onlinedating
2.2 Verständnis des Wandels
2.2.1 Mediatisierung
2.2.2 Digitale Mediatisierung
2.3 Kommunikation in digitaler Mediatisierung
2.3.1 Information, Selbstmitteilung und Gemeinschaft
2.3.2 Mediale Kommunikation und das Internet
2.4 Das Verhältnis von Nichtmedialität und Medialität
3. Authentizität als Gegenentwurf zur Medialität
3.1 Annäherung und Begriffsbestimmung
3.2 Echtheit, Aura und Authentizität
3.3 Authentizität als ursprüngliche Originalität
3.4 Die Unmöglichkeit des »Hier und Jetzt« in der digitalen Mediatisierung
4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen
4.1 Maurice Merleau-Ponty: Der Leib als Zur-Welt-sein
4.1.1 Intellektualismus und Empirismus
Empfindung als Impression, Qualität und Reiz
Aufmerksamkeit und Urteil
Vorurteile und Sackgassen
4.1.2 Phänomenologie als Lösung
Von der Gestalttheorie zur Phänomenologie
Die Methodik der Phänomenologie
4.1.3 Der Leib als primordialer Habitus des Zur-Welt-seins
4.1.4 Räumliches »Hier« und zeitliches »Jetzt« des Leibes
»Hier«: Räumliches Zur-Welt-sein
»Jetzt«: Zeitliches Zur-Welt-sein
4.2 Hermann Schmitz: körperliche Leiblichkeit
4.2.1 »Hier« und »Jetzt« als Sichfinden und Gegenwart
Weg!-Impuls, leibliche Regung und vitaler Antrieb
Primitive und entfaltete Gegenwart
4.2.2 Körperlichkeit und Leiblichkeit
4.2.3 Körperliche Leiblichkeit als Einheit des »Hier und Jetzt«
Leibesinseln
Ausdehnung
Reiner Körper, reiner Leib und körperlicher Leib
4.3 Karl Rahner: realsymbolische Leiblichkeit
4.3.1 Theologie des Symbols
Einheit, Pluralität und Trinität
Thomanische Scholastik: Form und Stoff
4.3.2 Leiblichkeit als Realsymbol des Menschen
Die Einheit des Leibes als Symbol der Seele
Realsymbolischer Ausdruck und das Urwort Herz
5. Leibliche Authentizität
5.1 Zur Kompatibilität von Phänomenologie und Theologie
5.1.1 Philosophie, Phänomenologie und Theologie
5.1.2 (Neue) Phänomenologie, Metaphysik und das Seelenproblem
(Neue) Phänomenologie und Metaphysik
Seele und Physiologismus
Seelenprobleme: Schmitz, Platon und der Hylemorphismus
5.1.3 Von widerspruchsloser Kompatibilität zu fruchtbarer Beziehung
5.2 Theologisches Realsymbol und phänomenologischer Leib
5.3. Der körperliche Leib als die transzendentale Bedingung von Authentizität
6. Digitale Mediatisierung und (körperlich-)leibliche Authentizität
6.1 Kommunikation: mehr als Information
6.2 Digitale Mediatisierung: nichts als Zeichen
6.3 Zwischenfazit
7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit
7.1 Christentum: Religion systematischer Körperfeindlichkeit?
7.2 Jüdisch-christlicher Ursprung: Leibbejahung in Schrift und Wort
7.2.1 Altes Testament: semitische Wirkung und griechische Perspektive
7.2.2 Neues Testament: messianisches Drama und körperliches Heil
7.3 Christliches Zentrum: Inkarnation als unüberbietbare Zusage an den ganzen Menschen
7.3.1 Unvermischt und ungetrennt
7.3.2 Höchstes Symbol Gottes in der Welt als körperlich-leibliche Selbstmitteilung
Zusammenfassung
8. Fazit: Das Primat leiblicher Nichtmedialität
Literatur
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Leibliche Authentizität und digitale Mediatisierung: Phänomenologisches und theologisches Leibverständnis als kritische Anfrage an den Wandel der Kommunikation
 9783495995440, 9783495995433

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Neue Phänomenologie

| 36

Richard Ottinger

Leibliche Authentizität und digitale Mediatisierung Phänomenologisches und theologisches Leibverständnis als kritische Anfrage an den Wandel der Kommunikation

https://doi.org/10.5771/9783495995440 .

https://doi.org/10.5771/9783495995440 .

Neue Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie Wissenschaftlicher Beirat Prof. Dr. phil. Michael Großheim Prof. Dr. phil. Hilge Landweer Prof. Dr. rer. nat. Jürgen Hasse Prof. Dr. phil. Barbara Wolf Prof. Dr. disc. pol. Charlotte Uzarewicz Prof. Dr. phil. Robert Gugutzer Prof. Dr. phil. Jens Soentgen Band 36

https://doi.org/10.5771/9783495995440 .

Richard Ottinger

Leibliche Authentizität und digitale Mediatisierung Phänomenologisches und theologisches Leibverständnis als kritische Anfrage an den Wandel der Kommunikation

https://doi.org/10.5771/9783495995440 .

Mit freundlicher Unterstützung der

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Osnarbrück, Univ., Diss., 2021 ISBN 978-3-495-99543-3 (Print) ISBN 978-3-495-99544-0 (ePDF)

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1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495995440 .

Für meine Eltern

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Danksagung

Eine Doktorarbeit wird nur zum Teil mit dem Kopf geschrieben. Von ebenso großer Bedeutung ist ein gänzlich anderes Körperteil. Auf diesem muss der Doktorand – manchmal noch für eine lange Zeit – sitzen bleiben, um die bereits erbrachte (hoffentlich) intellektuelle Leistung in die korrekte Struktur und eine lesbare Form zu bringen. Ob das Denken oder das Sitzenbleiben für mich schwerer war, wird folgend nicht preisgegeben. Vielmehr geht es mir an dieser Stelle um die Menschen und Institutionen, die mich im Prozess der Entstehung des vorliegenden Buches sowohl in der Genese von Innovationen als auch in Krisen der Arbeitsdisziplin unterstützt haben. Allen voran gilt mein tiefer Dank Herrn Professor Dr. Elmar Kos. Ohne ihn wäre weder mein Studienverlauf noch die Zeit der Promotion in Osnabrück derart produktiv, inspirierend und letztlich erfüllend verlaufen. Mit seiner unendlichen Geduld, seinem anste­ ckenden Optimismus und seinen geistreichen Einfällen verdiente er sich den Titel des Doktorvaters, sowohl auf fachlicher als auch menschlicher Ebene. Darüber hinaus danke ich herzlich Frau Profes­ sorin Dr. Margit Eckholt für ihre exzellente Zweitbetreuung, die häufig den entscheidenden Anstoß zu Struktur- und Literaturfragen zum passenden Zeitpunkt lieferte. Die Leichtigkeit, mit der sie sich auch in die größten theologischen und philosophischen Tiefen begab, lassen mich bereuen in meinem Studium nicht an mehr ihrer Lehrver­ anstaltungen teilgenommen zu haben. Jenseits meiner offiziellen Betreuer bin ich meiner ehemaligen Chefin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Profes­ sorin Dr. Monika Bobbert für entscheidende Hinweise im Fazit der vorliegenden Arbeit und Msgr. Professor Dr. Peter Schallenberg von der Theologischen Fakultät Paderborn für seine strengen Anmerkun­ gen hinsichtlich meiner Gliederung zu großem Dank verpflichtet. Beide haben mir durch ihre unterschiedliche Schwerpunktsetzung in der theologischen Ethik die Vielstimmigkeit des Faches neu vor Augen geführt und meine Zuneigung für die Wissenschaft gesteigert.

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Danksagung

Für die finanzielle, aber vor allem ideelle Förderung verdient die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) meinen Dank. In meiner Zeit als Promotionsstipendiat der KAS habe ich akademische Verbündete, geschäftliche Kontakte und tiefe Freundschaften gewinnen dürfen. Ebenso dankbar bin ich meinen Mitgründern der Auratikum GmbH, David Eickhoff (M.Sc.) und Björn Wagner (M.Sc.). Die erfüllende Zeit bei Auratikum war für die Fertigstellung der Dissertation so hilfreich wie hinderlich. Große Dankbarkeit möchte ich den Herausgebern der Reihe »Neue Phänomenologie« für die Aufnahme meiner Arbeit vermitteln. Ganz besonders sei in diesem Zusammenhang dem Präsi­ denten der Gesellschaft für Neue Phänomenologie e.V., Professor Dr. Michael Großheim (Universität Rostock) für seine Freundlichkeit und Flexibilität sowie Lukas Trabert, meinem Ansprechpartner beim Ver­ lag Karl Alber für seine Hilfe bei der Publikation gedankt. Julia Meyer (M.A.) danke ich für ihre Hilfe beim Lektorat und Linos Ottinger (ass. jur.) für seinen kurzfristigen Ratschlag hinsichtlich der Löschung einer Fußnote. Mein aufrichtiger Dank für die großzügige finanzielle Unterstützung hinsichtlich der Druckkosten geht an den Erzbischof des Erzbistums Berlin S.E. Dr. Heiner Koch sowie seinen Generalvikar Manfred Kollig SSCC, an den Bischof des Bistums Münster S.E. Dr. Felix Genn und seinen Generalvikar Dr. Klaus Winterkamp, darüber hinaus an den Diözesanadministrator des Erzbistums Paderborn Msgr. Dr. Michael Bredeck und an den Diözesanadministrator des Bistums Osnabrück S.E. Johannes Wübbe. All diese Bistümer haben mir in verschiedenen Phasen meines Lebens ein geistiges Zuhause gegeben und dafür bin ich ihnen – auch jenseits der finanziellen Unterstützung – zutiefst verbunden. Neben der erhaltenen kirchli­ chen Hilfe danke ich herzlich der »Stiftung Neue Phänomenologie« für ihren großzügigen Druckkostenzuschuss. Ebenso kontinuierlich, wie hilfreich war die Beteiligung von Christopher Knoop (B.A.), Jan-Hendrick Kuntze (M.A.), Julia van der Linde (M.A.) und Dr. Marius Menke. Ohne ihre Unterstützung in Form von langen Telefonaten, viel zu viel Kaffee und nächtlichen Diskussionsrunden wäre ich weder so motiviert noch erfolgreich durch die Zeit meiner Promotion gekommen und dafür möchte ich mich bedanken. Andreas Amerkamp (M.A.), Rebekka Amelung (M.Ed.), Robert Baltes (MBA), Dr. Franziska Niehaus, Sebastian Niehaus (M.Sc.), Gorden Primbs (M.Sc.), Clara Roters (M.Ed.), Christoph Schnelting (M.Sc.), Maximilian Straube (M.Sc., MBA), Moritz Straube (BA),

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Danksagung

Lena Themann (M.Ed.), Johannes Ottinger (M.Sc.) und Philip Quad­ stege (M.Sc.) formten in einer Zeit, in der sich alles um Philosophie und Theologie zu drehen schien, eine Oase der Nicht-Fachlichkeit. Auch dafür bin ich sehr dankbar. Lisa und Stella Ottinger, die nicht nur stets ein offenes Ohr für mich hatten, sondern mir in entscheidenden Momenten juristisch und theologisch weiterhalfen danke ich von ganzem Herzen. Ich könnte mir keine besseren Schwestern wünschen. Meinen lieben Eltern Angelika Milles-Ottinger und Manfred Ottinger ist dieses Buch gewidmet. Ohne ihre unbedingte Unterstüt­ zung meines Lebensweges wäre ich heute nicht der Mann, der ich bin. Von ihnen habe ich die christliche Liebesbotschaft im Sinne von »Ich liebe dich wie du bist und wie du sein könntest« praktisch lernen dürfen. Abschließend gilt mein Dank meiner wundervollen Ehefrau Magda Ottinger. Sie hat nicht nur unvergleichliche Geduld mit mir bewiesen, sondern mir durch ihre pure Form der Erkenntnisgewin­ nung das Motto der Phänomenologie »Zurück zu den Sachen selbst!« besser erklärt als Maurice-Merleau-Ponty, Hermann Schmitz und Karl Rahner zusammen. Dziękuję Ci, że jesteś. Berlin, am Gedenktag des Hl. Oscar Romero 2023 Richard Ottinger

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»Der eigene Leib ist in der Welt wie das Herz im Organismus.« (Maurice Merleau-Ponty) »Caro cardo salutis.« (Tertullian) »Life is what happens when you look up from your smartphone« (Unknown)

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Inhaltsverzeichnis

1. Einführung: Der Wettbewerb der Wirklichkeiten . .

17

2. Digitale Mediatisierung und Wandel der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

2.1 Verständniseinstieg digitaler Wirkmacht . . . . . . . . 2.1.1 Industrie 4.0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Onlinedating . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28 28 32

2.2 Verständnis des Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Mediatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Digitale Mediatisierung . . . . . . . . . . . . . .

34 35 40

2.3 Kommunikation in digitaler Mediatisierung . . . . . . . 2.3.1 Information, Selbstmitteilung und Gemeinschaft . 2.3.2 Mediale Kommunikation und das Internet . . . . .

42 43 55

2.4 Das Verhältnis von Nichtmedialität und Medialität . . .

59

3. Authentizität als Gegenentwurf zur Medialität . . .

63

3.1 Annäherung und Begriffsbestimmung . . . . . . . . . .

63

3.2 Echtheit, Aura und Authentizität . . . . . . . . . . . .

70

3.3 Authentizität als ursprüngliche Originalität . . . . . . .

82

3.4 Die Unmöglichkeit des »Hier und Jetzt« in der digitalen Mediatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen . . .

91

4.1 Maurice Merleau-Ponty: Der Leib als Zur-Welt-sein . 4.1.1 Intellektualismus und Empirismus . . . . . . . . 4.1.2 Phänomenologie als Lösung . . . . . . . . . . . 4.1.3 Der Leib als primordialer Habitus des Zur-Weltseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . .

97 101 114

.

124

13 https://doi.org/10.5771/9783495995440 .

Inhaltsverzeichnis

4.1.4 Räumliches »Hier« und zeitliches »Jetzt« des Leibes

132

4.2 Hermann Schmitz: körperliche Leiblichkeit . . . . . . . 4.2.1 »Hier« und »Jetzt« als Sichfinden und Gegenwart 4.2.2 Körperlichkeit und Leiblichkeit . . . . . . . . . . 4.2.3 Körperliche Leiblichkeit als Einheit des »Hier und Jetzt« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

164

4.3 Karl Rahner: realsymbolische Leiblichkeit . . . . . . . . 4.3.1 Theologie des Symbols . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Leiblichkeit als Realsymbol des Menschen . . . . .

179 180 196

5. Leibliche Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . . .

209

5.1 Zur Kompatibilität von Phänomenologie und Theologie 5.1.1 Philosophie, Phänomenologie und Theologie . . . 5.1.2 (Neue) Phänomenologie, Metaphysik und das Seelenproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Von widerspruchsloser Kompatibilität zu fruchtbarer Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

210 210

235

5.2 Theologisches Realsymbol und phänomenologischer Leib

239

5.3. Der körperliche Leib als die transzendentale Bedingung von Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245

6. Digitale Mediatisierung und (körperlich-)leibliche Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

251

6.1 Kommunikation: mehr als Information . . . . . . . . .

253

6.2 Digitale Mediatisierung: nichts als Zeichen . . . . . . .

257

6.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

264

7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . .

269

7.1 Christentum: Religion systematischer Körperfeindlichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

270

7.2 Jüdisch-christlicher Ursprung: Leibbejahung in Schrift und Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Altes Testament: semitische Wirkung und griechische Perspektive . . . . . . . . . . . . . .

14 https://doi.org/10.5771/9783495995440 .

139 141 158

217

278 279

Inhaltsverzeichnis

7.2.2 Neues Testament: messianisches Drama und körperliches Heil . . . . . . . . . . . . . . . . .

286

7.3 Christliches Zentrum: Inkarnation als unüberbietbare Zusage an den ganzen Menschen . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Unvermischt und ungetrennt . . . . . . . . . . . 7.3.2 Höchstes Symbol Gottes in der Welt als körperlichleibliche Selbstmitteilung . . . . . . . . . . . . .

297

8. Fazit: Das Primat leiblicher Nichtmedialität . . . . .

307

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

321

293 294

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1. Einführung: Der Wettbewerb der Wirklichkeiten

Der Mensch ist empfänglich für das Mediale. Von der Höhlenma­ lerei bis zur Virtual-Reality-Brille scheinen seinem medialen Aus­ drucksvermögen keine Grenzen gesetzt. Die Empfänglichkeit für das Mediale besteht sowohl aus der berechtigten Faszination für schöne, nützliche und unterhaltsame Medien als auch aus der Anfälligkeit dieser Faszination zu erliegen. Beispiele für diese Dualität des Medialen sind in der Mensch­ heitsgeschichte einfach zu finden und wurden bereits kritisiert. Schon Sokrates nahm an dem Medium der Schrift Anstoß, da er angesichts der Möglichkeit der ständigen Verfügbarkeit von Informationen ein Vergessen des vorhandenen Wissens sowie eine falsche Selbstzu­ schreibung von Weisheit befürchtete.1 Ungefähr 2000 Jahre später wurde die Macht des Mediums Film bei der ersten Kinovorführung eines Western sichtbar, die einen Zugüberfall zeigt, und in dessen Finale ein Revolver in die Kamera abgefeuert wird, was zu Panik im Publikum führte. Zu echt wirkte das, was dort auf dem Bildschirm in Schwarz-Weiß passierte.2 Aus heutiger Sicht könnte sowohl die Kritik von Sokrates als auch die Reaktion des Kinopublikums zum Schmunzeln anregen, wenn nicht genau jene Anfälligkeit des Men­ Vgl. Platon, Werke. Phaidros, Parmenides, Epistolai (Briefe), Bd. 5, übersetzt von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 21990, 275a-b. »Denn diese Erfindung wird der Lernenden Seelen vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für das Gedächtnis, sondern nur für die Erinnerung hast du ein Mittel erfunden. Und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst. Denn indem sie nun vieles gehört haben ohne Unterricht, werden sie sich auch vielwissend zu sein dünken, obwohl sie doch unwissend größtenteils sind und schwer zu behandeln, nachdem sie dünkelweise geworden sind statt weise.« (ebd.) Genau genommen ist es Platons Medienkritik, die er Sokrates in den Mund legt und ob diese Gedanken wirklich von Sokrates stammen, ist umstritten. 2 Vgl. Kiefer, Bernd/Grob, Norbert/Stiglegger, Marcus (Hg.): Filmgenres. Western, Stuttgart 2003, 41f. 1

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1. Einführung: Der Wettbewerb der Wirklichkeiten

schen, sich einer medialen Wirklichkeit hinzugeben, aktuell nicht einen Qualitätsschub von historischer Einmaligkeit erhalten würde. Schon 2007 erlag ein Südkoreaner der Faszination für das Mediale, als er fast 50 Stunden nicht von seinem Computerspiel las­ sen konnte und an Herzversagen starb. Wohlgemerkt zu einer Zeit, in der die Grafik von Computerspielen bestenfalls wie ein gut gezeichne­ ter Comic wirkte und von den fotorealistischen Darstellungsmöglich­ keiten aktueller Grafikkarten und Virtual-Reality-Brillen noch weit entfernt war. Der Tod des jungen Südkoreaners könnte als tragisches Einzelbeispiel eingeordnet werden, wenn dieser nicht exemplarisch für den Paradigmenwechsel hinsichtlich der bevorzugten Wirklichkeit menschlicher Existenz wäre. Faktisch ist die Anfälligkeit des Menschen, die eigene Existenz vermehrt medial auszudrücken, omnipräsent. Die durchschnittlich verbrachte Zeit in medialer Wirklichkeit liegt aktuell bei knapp sieben Stunden pro Tag, weltweit vervierfachte sich die Anzahl der Inter­ netnutzer seit 2005 und mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung hat mittlerweile einen Internetzugang – Tendenz steigend.3 Da bei jedem Eintritt in die mediale Welt vor dem jeweiligen Endgerät die Reichweite der unmittelbaren körperlichen Manifestation endet und medial vermittelt innerhalb der (digital-)medialen Wirklichkeit zum Ausdruck gebracht wird, kann die aktuelle Situation somit als ein Trend zur strukturellen Abwendung vom eigenen Körper verstanden werden. Diese Körperabneigung wird ebenso mit Blick auf den Zuwachs des elektronischen Sports (E-Sport) deutlich. Dies­ bezüglich ist festzuhalten, dass E-Sport mittlerweile in Bezug auf sein wirtschaftliches Wachstumspotential traditionelle Platzhalter wie Fußball und Basketball überholt hat und somit potentiell auf dem Weg ist, klassischen Sport vermehrt zu verdrängen.4 Unabhängig von der Universalisierbarkeit solcher Tendenzen darf sicher festgehalten werden, dass mehr und mehr Menschen sich längere Zeit ihres Vgl. Kepios Pte. Ltd./We Are Social Ltd./Hootsuite Inc., »Digital 2020. Global Digital Overview. Essential Insights Into How People Around the World Use the Internet, Mobile Devices, Social Media, And Ecommerce« [https://www.slideshare. net/DataReportal/digital-2020-global-digital-overview-january-2020-v01-22601 7535] Abgerufen am 20.10.2022, 8 und 43. 4 Vgl. PwC, »PwC Sport Survey 2019« [https://www.pwc.de/de/pressemitteilung en/2019/pwc-sport-survey-2019.html] Abgerufen am 20.10.2022. »Zum zweiten Mal in Folge schafft es Esport bei der Frage nach dem Wachstumspotenzial auf den ersten Platz – dicht gefolgt von Fußball und Basketball« (ebd.). 3

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1. Einführung: Der Wettbewerb der Wirklichkeiten

Lebens nicht mehr ganzheitlich-körperlich in der Nichtmedialität, sondern nur noch partiell in der Medialität erfahrbar machen. Diese zunehmende Körperabwendung steht im Zentrum des Wettbewerbes der Wirklichkeiten, der hinsichtlich seiner Intensität aktuell seinen vorläufigen historischen Höhepunkt erreicht hat. Nachweislich ist die Menschheitsgeschichte auch eine Geschichte der Medienentwicklung, welche die ursprüngliche nicht­ mediale Wirklichkeit fortwährend durch stets neue Technik imitie­ rend, erweiternd und modifizierend vermittelt ausdrückt. Eine so verstandene Entwicklungsgeschichte hat folglich grundsätzlich das Moment der Konkurrenz zwischen Nichtmedialität und Medialität inne, die bereits in Sokrates’ Medienkritik anklingt. Trotz des kontinu­ ierlichen Wunsches des Menschen, die eigene Wirklichkeit medial zu vermitteln, ist die Bevorzugung der Nichtmedialität vorerst unbestrit­ ten. Zum Zeitpunkt der Entwicklung des Buchdrucks oder der Etablie­ rung von flächendeckendem Fernsehzugang waren Mediennutzende gleichsam davon überzeugt, dass die wirklichere und bessere Wirk­ lichkeit immer in der nichtmedialen Existenz liegt und der mediale Zugriff lediglich einem Ausflug gleicht, der niemals den Großteil oder gar die Ganzheit der menschlichen Lebenszeit einnehmen soll. An der im 20. Jahrhundert formulierten Kritik von Technik im Allgemeinen5 und der »Kulturindustrie«6 im Speziellen wird weitergehend deutlich, dass diese Überzeugung der Wirklichkeitspräferenz des Nichtmedia­ len – wenigstens theoretisch – auch nicht durch die Etablierung von Telefon, Fernsehen und Radio grundlegend erschüttert wurde. Erst mit dem Anbruch der digitalen Wende, die den technischen Umbruch von analoger zu digitaler Vorherrschaft markiert, wird diese Auffassung angezweifelt. Das Zerbrechen jener – vormals selbstver­ 5 Jünger, Friedrich Georg, Die Perfektion der Technik, Frankfurt am Main 61980, 136. »[…] je mehr die Technik zur Perfektion kommt, desto notwendiger wird sie. Sie wird es schon deshalb, weil Apparatur und Organisation nicht ausreichen, weil sie den Menschen nicht stärken, ihm nicht jenen Trost zu geben vermögen, dessen er immer bedarf. Es ist ja kein Zweifel, dass die Anstrengungen des Technikers den leeren Raum vergrößern, und zwar in dem gleichen Maße, in dem sie den Lebensraum einengen. Deshalb gehören auch der Horror vacui zu seiner Welt und dringt auf mannigfache Weise in das Bewußtsein des Menschen ein, als Depression, Langeweile, Empfindung des Sinnleeren und Sinnlosen, der Unruhe und des mechanischen Gehetztseins« (ebd.). 6 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W., »Dialektik der Aufklärung«, in: Gunzelin Schmid Noerr (Hg.), Max Horkheimer. Gesammelte Schriften. Band 5: Dialektik der Aufklärung und Schriften 1940 – 1950, Frankfurt am Main 41987, 13–290, hier: 144.

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1. Einführung: Der Wettbewerb der Wirklichkeiten

ständlichen – Überzeugung, dass die nichtmediale gegenüber der medialen die wirklichere und bessere Wirklichkeit darstellt, markiert einen Wendepunkt in der Menschheits- und Mediengeschichte. Eine ernstzunehmende Argumentation für einen vollständigen Exodus in die Medialität gab es vor der Einführung digitaler Techniken nicht. Mit der Entwicklung der im späten 20. Jahrhundert aufkom­ menden digitalen Technik erreicht der immer schon vorherrschende Wettbewerb der Wirklichkeiten jedoch eine bis dato unüberbotene Intensität. Diese manifestiert sich nicht nur in der Zunahme media­ ler Ausdrucksformen und Kommunikation mit und über Medien, sondern wird ebenfalls auf theoretischer Ebene diskutiert und voran­ getrieben. So verfolgen Vertreter des sogenannten »technologischen Post­ humanismus« primär die »Erschaffung einer artifiziellen Alterität, die die menschliche Spezies ablösen und damit ›den‹ Menschen überwinden soll«7. Einer der bekanntesten Fürsprecher jener Denkbe­ wegung ist der Erfinder, Futurist und leitende Ingenieur von Google Ray Kurzweil, der sich in seinem Buch »The Singularity Is Near. When Humans Transcend Biology« (2005) seinen Posthumanismus beschreibt. Nach Kurzweil sei mit dem Ereignis der Singularität, der vollständigen Verschmelzung von Technik und Mensch, ungefähr im Jahr 2045 zur rechnen. Mit dem Eintreffen der Singularität überwinde der Mensch seine biologische Begrenzung und werde mithilfe der Technik unsterblich. Bis es zu jener vollständigen Digitalisierung und anschließendem Upload des Geistes komme, werde der Mensch durch verschiedene Stadien der technischen Transformation des Körpers zu einem Cyborg und könne so sein Überleben bis zur Singularität

7 Loh, Janina, Trans- und Posthumanismus. zur Einführung, Hamburg 2018, 12. Somit stellt der technologische Posthumanismus eine Steigerung zu seinem engen Verwandten des »Transhumanismus« dar, der – in weiten Teilen – das abgeschwächte Ziel verfolgt, den Menschen durch Technologie zu modifizieren und zu optimieren und so in ein posthumanes Wesen zu verwandeln (vgl. ebd.). Bezüglich der Verbreitung von post- und transhumanistischem Ideengut in der Wirtschaft sei beispielhaft auf die Firma »Dangerous Things« hingewiesen, die schon jetzt ein »Cyborg Transformation Kit« anbietet, das verschiedene Implantate für z. B. das Öffnen der Haustür, das Starten des Autos oder kontaktloses Bezahlen beinhaltet. Jene Cyborgausrüstung wird mit den Worten »If you’re ready to upgrade your meat sack with next generation implant tech and immediately start building cyber-solutions, you need the cyborg transformation kit!« (»The Cyborg Transformation Kit« [https://dangerousthings.co m/product/cyborg-kit/] Abgerufen am 23.10.2022.) beworben.

20 https://doi.org/10.5771/9783495995440 .

1. Einführung: Der Wettbewerb der Wirklichkeiten

sichern.8 Sowohl innerhalb der faktischen Zunahme des medialen Ausdrucks als auch theoretischen Überlegungen manifestiert sich folglich eine Tendenz fundamentaler Körperabgewandtheit, welche die ursprüngliche Ganzheit des Menschen für strukturell fehlerhaft, überholt und folglich verbesserungswürdig oder zumindest ersatzbe­ dürftig hält.9 Aufgrund dieser Radikalisierung des mediengeschichtlichen Konkurrenzmomentes, stehen wir zum ersten Mal in der Mensch­ heitsgeschichte an dem Punkt, dass das zuvor selbstverständliche Primat der Wirklichkeit der Nichtmedialität einer Begründung bedarf. Eine solche Plausibilität des Vorrangs der Nichtmedialität mensch­ licher Ausdrucks- und Handlungsform soll die vorliegende Arbeit bestimmen. Hinsichtlich dieser Plausibilitätsbegründung lautet die Leitfrage wie folgt: Ist die Chance des Menschen, sich in seiner authentischen Ganzheit mitteilen zu können, in der nichtmedialen Wirklichkeit am höchsten und welche ethischen Schlussfolgerungen erwachsen daraus? Die Frage wird mit moderner moraltheologischer Methode beantwor­ tet, die Alfons Auers Rede von der »Rationalität der Wirklichkeit als Grund des Sittlichen«10 folgt. Dies bedeutet, dass das Sittliche der formulierte Anspruch der Wirklichkeit an den Menschen ist. Aus der Rationalität der Wirklichkeit folgt somit die Autonomie der weltlichen Ordnung. Somit ist gute Ethik autonome Ethik und grundsätzlich auf die humanwissenschaftlichen Erkenntnisse des je behandelten Themas angewiesen. Die normativen Aspekte werden folglich nicht von außen herangetragen, sondern aus den erläuterten Sachmäßigkeiten induktiv abgeleitet.11 Dem so verstandenen Welt­ Vgl. Kurzweil, Ray, The Singularity is Near. When Humans Transcend Biology, New York 2006, 309f. 9 Das Postulat, dass jenes, was von Natur aus vorliegt, fundamental defizitär und somit optimiert werden müsse, ist ebenfalls innerhalb des historisch einmaligen Kör­ perkultes präsent, der ungefähr seit der Jahrtausendwende vorherrscht und besonders über die sozialen Netzwerke im Internet Verbreitung findet. Jener Körperkult, der sich durch extreme Diäten, Sport und der Einordnung des eigenen Körpers als Projekt auszeichnet, kann somit als ein erster Ausdruck posthumanistischer Überzeugungen verstanden werden (Vgl. Wendel, Saskia, »Die Fetischisierung des ›schönen‹ Körpers. Kritische Bemerkungen«, in: Stefan Orth (Hg.): Eros – Körper – Christentum. Provo­ kation für den Glauben?, Freiburg im Breisgau 2009, 112–127, hier: 113f.). 10 Auer, Alfons, Autonome Moral und christlicher Glauben, Darmstadt 22016, 32. 11 Vgl. ebd. 39f. 8

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1. Einführung: Der Wettbewerb der Wirklichkeiten

ethos steht das Heilsethos zur Seite, das die Weisungen Gottes gegen­ über der Beziehung zum Menschen betrifft. Für das sittliche Handeln ist die christliche Botschaft somit als theologischer Sinnhorizont zu verstehen. Die explizit universal-moralphilosophische Begründung der Ethik wird folglich in diesen christlichen Sinnhorizont gestellt, welcher somit stimulierend, kritisierend und integrierend wirkt.12 Dietmar Mieth formuliert diesbezüglich das Verhältnis von Sollen und Sinn: »Sollen setzt Hoffnung auf Sinn voraus. Sollen setzt voraus, daß wir es nicht nur begründen, sondern auch verstehen können. […] Die Moral, für sich gesehen, gibt Antwort auf die Frage, was soll ich tun? Aber diese Frage […] im ganzen gestellt, setzt wiederum voraus, daß die Frage, was darf ich hoffen?, die andere Frage Kants, beantworten wird, und zwar so […], daß sie dem Menschen Sinn geben kann.«13

Neben dem methodischen Verhältnis von Humanwissenschaften, Philosophie und Theologie gilt, dass obige Leitfrage vorrangig stre­ bensethisch beantwortet wird. Die formulierten ethischen Aspekte haben ganz im Sinne der Strebensethik, als »Ethik des guten Lebens« beratenden und empfehlenden Charakter und transportieren keinen kategorischen Anspruch. Normative Fragen nach der moralischen Richtigkeit, welche die Ansprüche und Rechte anderer Menschen in den Blick nehmen, werden erst in Anwendungsbeispielen von individuellen Handlungen deutlich. Für diese Handlungen bildet die vorliegende Arbeit die Grundlage, diese stehen aber nicht explizit im Zentrum der Fragestellung.14 In der Umsetzung der beschriebenen Methodik wird die Leitfrage wie folgt beantwortet: Zunächst muss der Begriff des Mediums, der Kommunikation sowie der strukturelle Unterschied zwischen Medialität und Nichtme­ dialität bestimmt werden. Im Rückgriff auf Sozial- und Kommunikati­ onswissenschaften wird sich zeigen, dass sich gängige Beschreibungs­ versuche – hinsichtlich jüngster technologischer Entwicklungen – wie »Digitalisierung« und »Digitale Revolution« als polarisierend und wenig hilfreich erweisen. Konträr dazu beinhaltet das Konzept Vgl. 63f. Mieth, Dietmar, »Brauchen wir Gott für die Moral?«, in: FZPhTh 29 (1982), 210–222, hier: 217f. 14 Vgl. Bobbert, Monika, Ärztliches Urteilen bei entscheidungsunfähigen Schwerkran­ ken, Münster 2012, 172. 12

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1. Einführung: Der Wettbewerb der Wirklichkeiten

der »Mediatisierung«15 einen Medienbegriff, der es erlaubt, Mensch­ heitsgeschichte als Mediengeschichte zu begreifen, und somit die jüngsten technologischen Entwicklungen einerseits als anschlussfä­ hig an vorangehende Medienentwicklung zu beschreiben und gleich­ zeitig genug Raum zu geben, um die Besonderheit der Situation folgerichtig zu erfassen. Im Detail zeigt das Mediatisierungskonzept, dass hinsichtlich der Bestimmung von Nichtmedialität und Medialität das Verhältnis von Urbild und Abbild entscheidend ist. Jede Form von medialer Wirklichkeit ist immer ein Abbild des Urbildes der Nichtmedialität (s. Kapitel 2). Formal ist somit eine Bestimmung der beiden Wirklichkeiten gefunden, die anschließend inhaltlich gefüllt werden muss. Anhand der Strukturbetrachtung wird deutlich, dass dem nichtmedialen Urbild als ursprüngliches Vorbild eine Wertig­ keit zukommt, die es näher zu verstehen gilt. Hinsichtlich dieser Bestimmung wird auf den Begriff der Authentizität zurückgegriffen, da dieser in seiner breiten Bedeutung von Echtheit, Wahrhaftigkeit und Eigentlichkeit zu dem Verhältnis von unmittelbarem Urbild und vermitteltem Abbild passt. Mithilfe von Walter Benjamins Begriff der Aura und des editionsphilologischen Verständnisses wird der Begriff der Authentizität anschließend näher bestimmt. Diesbezüglich wird aufgezeigt, dass Authentizität aus zwei Momenten besteht, nämlich einem substanzhaften »Hier und Jetzt« und aus dem Akt der Kom­ munikation mit diesem »Hier und Jetzt«. Ersteres konstituiert somit die Bedingung der Möglichkeit des letzteren. Wie authentisch jenes kommunikative Moment letztlich ist, bleibt bewusst unbestimmt, da die Forschungsfrage nicht auf eine finale Definition von »absoluter Authentizität« zielt, sondern explizit nach den Bedingungen der Möglichkeit einer solchen – wie auch immer letztlich definierten – Authentizität fragt (s. Kapitel 3). Konstitutiv für die Möglichkeit von vollständiger Authentizität ist somit die ursprünglich-originale Substanz des »Hier und Jetzt«. Angesichts der Leitfrage stellt sich folglich die Frage nach dem substanzhaften »Hier und Jetzt« des Menschen. Dieses ursprünglich originale »Hier und Jetzt« wird mithilfe phänomenologischer Arbeiten von Maurice Merleau-Ponty und Hermann Schmitz sowie Karl Rahners Theologie mit dem Leib identifiziert. Diesbezüglich steuert jedes der drei Konzepte einen eigenen Aspekt hinsichtlich der Bestimmung des leiblichen »Hier 15 Vgl. Krotz, Friedrich, Mediatisierung. Fallstudien zum Wandel von Kommunikation, Wiesbaden 2007.

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1. Einführung: Der Wettbewerb der Wirklichkeiten

und Jetzt« des Menschen bei. Merleau-Ponty macht das primordiale Vermögen des Leibes deutlich, Schmitz zeigt im Sinne der Neuen Phänomenologie das Verhältnis von Körperlichkeit und Leiblichkeit und Rahner deutet den Leib nicht bloß als Zeichen, sondern als Realsymbol des Menschen, der somit als notwendiger Bestandteil von menschlicher Ganzheit zu verstehen ist (s. Kapitel 4). Bevor die Ergebnisse systematisch zusammengeführt werden können, muss zunächst die strukturelle Vereinbarkeit der verschiede­ nen Denktraditionen geklärt werden. Nachdem die fruchtbare Kom­ patibilität von (Neuer) Phänomenologie, Metaphysik und Theologie aufgewiesen ist, werden die phänomenologischen und theologischen Ergebnisse zusammengeführt, um ein Verständnis von (körperlicher) Leiblichkeit zu erhalten. Jenes Verständnis wird anschließend in die zuvor erarbeitete Bestimmung von Authentizität integriert. Diesbe­ züglich zeigt sich, dass körperliche Leiblichkeit die Bedingung der Möglichkeit für Authentizität ist. Die strukturierte Verknüpfung der Erkenntnisse zu Leiblichkeit und Authentizität kumuliert in dem (titelgebenden) Konzept der leiblichen Authentizität (s. Kapitel 5). Nachdem die authentische Ganzheit des Menschen im Sinne leib­ licher Authentizität ausgedeutet ist, wird dieses Konzept anschlie­ ßend hinsichtlich der Strukturbestimmungen von Nichtmedialität und Medialität angewendet. Diesbezüglich zeigt sich das strukturelle Defizit von Medialität, ausschließlich zeichenhafte Körperlichkeit darstellen zu können und an der Vermittlung von realsymbolischer Leiblichkeit strukturell zu scheitern. Darüber hinaus wird hinsichtlich des in Kapitel zwei erarbeiteten Kommunikationsverständnisses von Informationsvermittlung, Selbstmitteilung und Gemeinschaftsstif­ tung das strukturell gedrosselte Vermögen medialer Technik deutlich. Somit kann die Leitfrage in einem ersten Zwischenfazit dahingehend beantwortet werden, dass die größte Chance des Menschen, sich in seiner authentischen Ganzheit mitteilen zu können, in nichtmedialer Wirklichkeit aufgrund seiner leiblichen Authentizität liegt. Darüber hinaus werden im Sinne einer immanenten Medienethik aufgrund der genannten strukturellen Unzulänglichkeit des Medialen erste strebensethische Aussagen formuliert (s. Kapitel 6). Die Erkenntnisse zu leiblicher Authentizität, digitaler Mediati­ sierung und die diesbezüglich erarbeiteten strebensethischen Ansätze werden abschließend in einen christlichen Sinnhorizont gesetzt und somit ihr kritisches Potential vertiefend stimuliert. Die sich daraus entfaltende ethische Intensität offenbart sich hinsichtlich der Frage

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1. Einführung: Der Wettbewerb der Wirklichkeiten

nach dem Status des Leibes im Christentum. In der genauen Betrach­ tung des Christentums manifestiert sich – entgegen dem gängigen Vorurteil – eine strukturelle Bejahung des Leibes und somit auch der Ganzheit der Person. Jene fundamental-positive Akzentuierung der Leiblichkeit ist sowohl innerhalb des jüdisch-christlichen Ursprungs als auch des theologischen Zentrums des Christentums konstitutiv. Aus christlicher Perspektive ist somit Leiblichkeit nicht nur Bedin­ gung der Möglichkeit für authentische Selbstmitteilung, sondern der Ort, an dem die Chance, die Offenbarung Gottes zu erfahren, am höchsten ist (s. Kapitel 7). Im letzten Teil wird in der Zusammenfüh­ rung der ethischen Orientierung von leiblicher Authentizität mit der genuin theologischen Lesart des Leibes, das Potential christlicher Ideologiekritik angesichts der historischen Zuspitzung des Wettbe­ werbes der Wirklichkeiten deutlich gemacht (s. Kapitel 8).

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»Wir befinden uns mitten in einem Epochenwechsel. Ähnlich wie einst die industrielle Revolution verändert heute die digitale Revolution unsere gesamte Lebens- und Arbeitswelt, das Verhältnis vom Bürger zum Staat, das Bild vom Ich und vom Anderen. Ja, wir können sagen: Unser Bild vom Menschen wird sich ändern.«16

Mit diesen Worten beschreibt der ehemalige Bundespräsident Joa­ chim Gauck im Oktober 2013 die Entwicklung der sogenannten »Digitalen Revolution« und schreibt diesem durchaus reißerisch klin­ genden Begriff eine epochale Wirkung zu. Das vorliegende Kapitel hat zum Ziel, ein grundsätzliches Ver­ ständnis jener technischen Entwicklung zu erarbeiten. Zunächst wird die Wirkungskraft digitaler Technik exemplarisch anhand der Lebens­ bereiche Arbeit und Liebe demonstriert (s. Kapitel 2.1). Konträr zum obig genannten Revolutionsbegriff folgt die Einführung des Terminus der »Digitalen Mediatisierung« welcher den Wandel – so die im Folgenden dargelegte Argumentation – präziser beschreibt (s. Kapitel 2.2). Von da ausgehend wird sowohl ein Grundverständnis des mehrdeutigen Begriffs der nichtmedialen Kommunikation als auch die Struktur (digital-)medialer Kommunikation erarbeitet (s. Kapitel 2.3). Dieses Grundverständnis ermöglicht abschließend die Bestimmung des Verhältnisses von nichtmedialer und medialer Kom­ munikation, was den ersten Schritt auf der Suche nach dem integralen Unterschied beider Formen, der für die einleitende Problemlösung entscheidend ist, darstellt (s. Kapitel 2.4).

Gauck, Joachim, »Festakt zum Tag der Deutschen Einheit 2013« [https://www.b undespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2013/10/13 1003-Tag-deutsche-Einheit.html] Abgerufen am 23.10.2022.

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2.1 Verständniseinstieg digitaler Wirkmacht Mit dem Terminus »Digitale Revolution« oder »Digitalisierung« wird die rapide Zunahme digitaler Technik beschrieben. Durch die vermehrte Digitalisierung wird der Unterschied der Begriffe analog und digital sowie on- und offline eingeführt. Sie findet ihren Ausdruck unter anderem durch Algorithmen, Datenbänke und Netzwerke, die zusammenfassend unseren Begriff des Internets prägen.17 Nachste­ hend soll anhand des Liebes- und Arbeitsbegriffs ein Verständnisim­ puls bezüglich der Transformationskraft digitaler Techniken demons­ triert werden. Diesbezüglich wird der Begriff der sog. Industrie 4.0 und das Phänomen des Onlinedatings näher beleuchtet.

2.1.1 Industrie 4.0 Die Wandlung des Arbeitsverständnisses wird aktuell unter dem Begriff »Industrie 4.0« interdisziplinär diskutiert. Das Bundesminis­ terium für Wirtschaft und Energie definiert es wie folgt: »In der Industrie 4.0 verzahnt sich die Produktion mit modernster Informations- und Kommunikationstechnik. Starre und fest definierte Wertschöpfungsketten werden flexibel und dynamisch. Es entstehen weltweit vernetzte Wertschöpfungsnetzwerke in digitalen Ökosyste­ men, die neue Formen der Kooperation ermöglichen und zugleich zu einer klimafreundlichen und ressourcenschonenden Zukunft bei­ tragen. Es entstehen Datenräume, die Datenhoheit, -sicherheit und -integrität gewährleisten und die Voraussetzungen schaffen für inno­ vative Produkte und Geschäftsmodelle. […] In der Fabrik der Industrie 4.0 koordinieren intelligente Maschinen selbstständig Fertigungspro­ zesse, Service-Roboter unterstützen Menschen in der Montage bei schweren Arbeiten. Vernetzung findet aber nicht nur innerhalb von »intelligenten Fabriken« statt, sondern über Unternehmens- und Bran­ chengrenzen hinweg. […] Industrie 4.0 bestimmt dabei die gesamte

17 Vgl. Deckert, Ronald/Langer, Andreas, »Digitalisierung und Technisierung sozia­ ler Dienstleistungen«, in: Andreas Langer/Klaus Grunwald (Hg.), Sozialwirtschaft. Handbuch für Wissenschaft und Praxis, Baden-Baden 2018, 872–889, hier: 874.

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2.1 Verständniseinstieg digitaler Wirkmacht

Lebensphase eines Produktes: Von der Idee über die Entwicklung, Fertigung, Nutzung und Wartung bis hin zum Recycling«18

Industrie 4.0 zeichnet sich folglich durch strukturelle Digitalisierung und Vernetzung aus, die mit Hilfe sogenannter Cyber-Physischer Sys­ teme (CPS) alle an der Wertschöpfung beteiligten Akteure miteinan­ der dezentral verbindet. CPS wird ebenso unter dem Begriff »Internet of Things«19 zusammengefasst. »Internet der Dinge« bezeichnet eine Vernetzung industrieller, aber auch alltäglicher Gegenstände mit dem Internet. Diese (Teil)-Automatisierung der Gegenstände hat zum Ziel, dass diese entsprechende Dienstleistungen, Bestellungen oder Wartungen über das Internet selbstständig ausführen.20 Denkbar ist beispielsweise ein Kühlschrank, der automatisch fehlende Lebens­ mittel bestellt, eine Beleuchtungsanlage, die je nach Tageszeit ihre Leistung anpasst, oder eine Industrieanlage, die selbstständig techni­ sche Unterstützung ruft. Das Besondere an jener Form technischer Industrialisierung ist, dass nicht nur virtuelle Güter untereinander verbunden werden – dies würde noch unter den Begriff »Industrie/ Web 3.0« fallen – sondern, dass diese darüber hinaus ebenso mit analogen Dingen und den entsprechenden menschlichen Akteuren verknüpft werden.21 Anders formuliert: Die Innovation innerhalb der sogenannten vierten Stufe von Industrialisierung ist die digitale Ver­ bindung von Mensch, Maschine und Produkt. Auf diese Weise ist eine Form von Echtzeitvisualierung der Wertschöpfungskette möglich,

18 Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, »Digitale Transformation in der Industrie«, 2019 [https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Dossier/industrie-40.h tml] Abgerufen am 23.10.2022. 19 Ashton, Kevin, »That ›internet of things‹ thing – In the real world, things mat­ ter more than ideas«, 2009 [http://www.rfidjournal.com/articles/view?4986] Abgerufen am 23.10.2022. 20 Vgl. Kollmann, Tobias/Schmidt, Holger, Deutschland 4.0. Wie die Digitale Trans­ formation gelingt. Wiesbaden 2016, 14. 21 Der Begriffsschärfe der verschiedenen Stufen muss mit großer Zurückhaltung begegnet werden. Der Begriff der »Industrie 4.0« wird als solcher auch als »Mar­ ketingbegriff« (Bendel, Oliver, »Industrie 4.0.«, 2018 [https://wirtschaftslexiko n.gabler.de/definition/industrie-40-54032/version-277087] Abgerufen am 23.10.2022) bezeichnet, mit der Begründung, dass er – ähnlich »wie ›Web 2.0‹ und ›Web 3.0 – [sich] ein Stück weit einer wissenschaftlichen Präzisierung« (ebd.) entzieht. Jener Marketingcharakter ist in der obig genannten Definition des BMWI durchaus wahrnehmbar, was diesen nicht zwingend falsch, allerdings die begleitende Reflexion jener Marketingkonnotation bei der Begriffsnutzung notwendig macht.

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2. Digitale Mediatisierung und Wandel der Kommunikation

welche vorher nicht umsetzbar war.22 Bezüglich der Wirtschaftlichkeit von Industrie 4.0 fasst dies folgende komprimierte Formulierung treffgenau zusammen: »Neu ist, dass heute die Computer- und die Kommunikationstechnik so weit sind, dass große Datenmengen über beliebige Entfernungen schnell, sicher und zu vernachlässigbaren Kosten übertragen wer­ den können.«23

Die sich daraus ergebende Einsatzmöglichkeit autonomer Fabriken und Assistenzsysteme haben eine kontroverse Diskussion bezüglich der Folgen für den Arbeitsmarkt hervorgerufen. Extreme Positionen schwanken zwischen Szenarien von Massenarbeitslosigkeit und öko­ nomischem Wachstum.24 Großes Aufsehen erregte 2013 eine Studie aus Oxford, die vorhersagte, dass ungefähr jeder zweite Beruf (47 %) in den kommenden Jahrzehnten in den USA infolge von digitaler Automatisierung potentiell ersetzt werden könnte.25 Zu einer ähnli­ chen Einschätzung kamen auch McAffee und Brynjolfsson in ihrem Werk »The second machine age«: »Rasche und immer schnellere Digitalisierung dürfte eher wirtschaft­ liche als ökologische Verzerrungen mit sich bringen, die sich aus dem Umstand ergeben, dass Computer leistungsfähiger werden und Unter­ nehmen für bestimmte Tätigkeiten weniger Mitarbeiter brauchen. Der

22 Vgl. Obermaier, Robert, Industrie 4.0 als unternehmerische Gestaltungsauf­ gabe. Betriebswirtschaftliche, technische und rechtliche Herausforderungen, Wiesba­ den 2016,VI. 23 Plenk, Valentin/Ficker, Frank, »Industrie 4.0. Einblicke in technische Aspekte, die Sensorik und daraus entstehende Steuerungsmöglichkeiten mit einem Ausflug in den Textilbereich«, in: Dietmar Wolff/Richard Göbel (Hg.), Digitalisierung: Segen oder Fluch. Wie die Digitalisierung unsere Lebens- und Arbeitswelt verändert, Berlin 2018, 29–53, hier: 20. 24 In diesem Zusammenhang verweisen Andreas König und Lorenz Graf-Vlachy auf die Prognose des Industrieverbands BITKOM von 2014, die ein mögliches Wachstumspotential von 78 Milliarden Euro prognostiziert und auf Stimmen, die vor einer durch Industrie 4.0 verursachten Massenarbeitslosigkeit warnen (vgl. König, Andreas/Graf-Vlachy, Lorenz, »Industrie 4.0: Strategische Innovation durch Strategische Sensitivität«, in, Robert Obermaier (Hg.), Industrie als unternehmerische Gestaltungsaufgabe. Betriebswirtschaftliche, technische und rechtliche Herausforderun­ gen, Wiesbaden 2016,, hier: 54). 25 Vgl. Frey, Carl Benedikt/Osborne, Michal A., »The future of employment. How susceptible are jobs to computerisation?«, in: Technological Forecasting and Social Change 114 (2017), 254–280.

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2.1 Verständniseinstieg digitaler Wirkmacht

technische Fortschritt in seiner rapiden Weiterentwicklung wird den einen oder andern hinter sich lassen – möglicherweise auch viele.«26

Dieser Haltung allgemein und speziell den Ergebnissen widerspricht das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), welches die von Frey/Osborn genutzten beruflichen Perspektiven um fachli­ che Tätigkeiten erweiterten und postuliert, dass sich in den meisten Berufen komplexe und interaktive Tätigkeiten befinden, denen folg­ lich eine geringe Automatisierungswahrscheinlichkeit inhärent ist. Die Forschung der ZEW kommt aufgrund dieser Erweiterungen auf eine sehr viel geringere Automatisierungswahrscheinlichkeit von 12 % in Deutschland und 9 % in den USA.27 Diesbezüglich sicher scheint aktuell, dass die Arbeitsmarkteffekte von Digitalisierung unterschiedlich bewertet werden. Eine gemäßigte Einschätzung findet sich in einer fünfstufigen Szenarioanalyse des Forschungsberichtes des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), welcher im Ergebnis zeigt, dass: »Industrie 4.0 den Strukturwandel hin zu mehr Dienstleistungen beschleunigen wird. Dabei sind Arbeitskräftebewegungen zwischen Branchen und Berufen weitaus größer als die Veränderung der Anzahl der Erwerbstätigen insgesamt. Mit den Umwälzungen auf dem Arbeitsmarkt geht eine zunehmende Wertschöpfung einher, die nicht nur zu mehr volkswirtschaftlichen Gewinnen sondern – aufgrund höherer Anforderungen an die Arbeitskräfte – auch zu höheren Lohn­ summen führt.«28

Jenseits von unterschiedlichen Zukunftsprognosen kann sicher fest­ gehalten werden, dass im Zuge von Industrie 4.0 eine neue Genera­ tion von Maschinen entsteht, die nicht nur besser bohren, sägen und heben können als der Mensch, sondern darüber hinaus mittlerweile selbst komplexe Herausforderungen vollautomatisiert meistern und

26 Brynjolfsson, Erik/McAfee, Andrew, The Second Machine Age. Wie die nächste digitale Revolution unser aller Leben verändern wird, Kulmbach 22015, 20. 27 Vgl. Bonin, Holger u.a., Übertragung der Studie von Frey/Osborne (2013) auf Deutschland, ZEW Kurzexpertise Nr. 57, Mannheim 2015. 28 Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, »IAB-Forschungsbericht 8/2015. Aktuelle Ergebnisse aus der Projektarbeit des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufs­ forschung. Industrie 4.0 und die Folgen für Arbeitsmarkt und Wirtschaft. Szena­ rio-Rechnungen im Rahmen der BIBB-IAB-Qualifikations- und Berufsfeldprojektio­ nen«, [http://doku.iab.de/forschungsbericht/2015/fb0815.pdf] Abgerufen am 20.10.2022, 6.

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2. Digitale Mediatisierung und Wandel der Kommunikation

daher – unabhängig vom Ausgang jener Entwicklung – einen Struk­ turwandel im Bereich der Arbeit herbeiführen werden.

2.1.2 Onlinedating Wie im Bereich der Arbeit werden aktuell ähnliche Transformations­ potentiale der Digitalisierung ebenso in Bezug auf den Liebesbegriff diskutiert. Als Impuls sei hier auf die US-amerikanische Komikerin Carmen Lynch verwiesen, die in einem ihrer Programme folgende Erfahrung teilt: »So, I stopped online dating; I’m done. Now I just date the old-fash­ ioned way, I just walk outside and hope. That’s it, that’s how people used to date 10 or 15 years ago. You would just put makeup on and walk outside and be like,,Ta-da!’.«29

Wie von einer Komikerin zu erwarten, karikiert diese in ihrer Erzäh­ lung den Unterschied zwischen Onlinedating und der herkömmlichen Form des Kennenlernens. Dennoch offenbart ihr, wenn auch zuge­ spitzter, Erfahrungsbericht einen strukturellen Wandel in Bezug auf die Liebespartnersuche unter dem Einfluss digitaler Technologien. Gab es schon in der prädigitalen Zeit durchaus Orte und Zeiten, an denen aktiv auf Liebespartnersuche gegangen wurde, entfaltet sich aktuell durch die digitale Technik unabhängig von Ort und Zeit ein neuartiges Suchangebot von beispielloser Größe. Spezielle Dating-Apps personalisieren Vorlieben, positionieren sich entspre­ chend der Zielgruppen und werben so beispielsweise für Akademiker (ElitePartner), Christen (Christian Mingle) oder Liebhaber spezieller Musikgenres (BlackFlirt).30 Weniger individualisiert dagegen verfährt die vor allem in Deutschland beliebte App »Tinder«. Tinder, das im Deutschen mit »Zunder« zu übersetzten ist, gibt es seit 2012 und verlangt bis auf die Anmeldung via Facebook lediglich das gesuchte Geschlecht beziehungsweise die Geschlechter und die Angabe des Radius, aus »Carmen Lynch Is Dating The Old-Fashioned Way | CONAN on TBS« [https:// www.youtube.com/watch?v=QmnTfn7bE4M] Abgerufen am 23.10.2022. 30 Vgl. »Elitepartner« [https://www.elitepartner.de] Abgerufen am 23.10.2022. und vgl. »Christian Mingle« [https://www.christianmingle.com/en-us] Abgerufen am 23.10.2022. und vgl. »Blackflirt« [https://black-flirt.de] Abgerufen am 23.10.2022. 29

32 https://doi.org/10.5771/9783495995440 .

2.1 Verständniseinstieg digitaler Wirkmacht

welchem Dating-Interessierte präsentiert werden sollen. Nach diesen Angaben werden andere Tinder-Nutzer aus dem Umkreis durch mindestens ein Foto angezeigt, welche mit einem Wisch nach links oder rechts abgelehnt oder angenommen werden können. Gesetzt den Fall, beide Nutzer haben einander positiv bewertet, schickt die Appli­ kation eine Meldung an das jeweilige Smartphone und informiert über die erfolgreiche Übereinstimmung. In Anbetracht von bereits über 30 Milliarden produzierter sogenannter »Matches« scheint jene schnelle Art des Kennenlernens offensichtlich eine große Anzie­ hungskraft auszuüben.31 Ähnlich wie in Bezug auf den Begriff der Arbeit wird auch hier der Einfluss digitaler Technik kontrovers disku­ tiert. Schon in der beinahe auf psychologischer Basis personalisierten Form des erstgenannten Internetdatings deutet sich eine Wandlung in der Suchhaltung bezüglich potentieller Liebespartner an, welche durch Tinder ihre zugespitzte Erfüllung findet. Hinsichtlich der Ver­ breitung von Tinder & Co. formuliert die israelische Soziologin Eva Illouz ein kritisches Bild. Demnach hat sich schon vor der Entwicklung von digitalen Dating-Hilfen unsere traditionelle Liebesvorstellung, welche die christliche Liebe zum Vorbild hat, radikal verändert. Nach Illouz findet diese Veränderung in den aktuellen technischen Möglich­ keiten einen neuen qualitativ-negativen Höhepunkt. Wohingegen das vom 12. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschende Ideal durch »Hingabe, Selbstaufopferung und Absolutheit«32 konstituiert war, beschreibt die in Jerusalem lehrende Soziologin die aktuelle Situation wie folgt: »Heute ist die Liebe ein gründlich säkularisiertes und entzaubertes Phänomen: Unsere zeitgenössischen Metaphern der Liebe entspringen dem Reich der Wissenschaft. Die Liebe ist das Resultat chemischer, hormoneller, unbewusster Prozesse [...] An die Stelle der Einzigartig­ keit der Liebe ist die unendliche Auswahl auf Internet-Dating-Web­ sites getreten, die es einem ermöglicht, das Quantum an Sex oder Partnerschaft, das man in einer Beziehung sucht, gezielt anzusteuern. Das religiöse Regime der Knappheit, das hinter den Stichworten Monogamie, Einzigartigkeit, ›große Liebe‹ steckte und die vormoderne Liebe und Sexualität charakterisierte, wurde durch die endlosen sexu­ Vgl. »Tinder« [https://tinder.com] Abgerufen am 23.10.2022. Illouz, Eva, »Ist die Liebe tot?«, in: Die Zeit 25 (2013) [https://www.zeit.de/2 013/25/eva-illouz-liebe-tot?page=2] Abgerufen am 20.10.2022. Vgl. für weitere Ausführungen: Illouz, Eva, Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt am Main 2007, 33f. 31

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33 https://doi.org/10.5771/9783495995440 .

2. Digitale Mediatisierung und Wandel der Kommunikation

ellen Wahlmöglichkeiten und den sexuellen Überfluss komplett umge­ modelt.«33

Auch wenn der von ihr postulierte Tod der romantischen Liebe, wie wir sie einige Jahrhunderte in Westeuropa kannten, keineswegs sicher ist, kann angesichts der Omnipräsenz und stetigen Zunahme von Onlinedating, festgehalten werden, dass die Art und Weise der Liebespartnersuche und vielleicht auch der Begriff als solcher, einer digitalen Sinntransformation unterworfen ist. Die gerade beschriebenen Beispiele von Liebe und Arbeit zeigen, dass infolge neuer digitaler Techniken grundverschiedene und gleichzeitig gleichwertig fundamentale Momente menschlicher Lebenswirklichkeit potentieller Umwälzung unterworfen sind. Ob von dieser paradigmatischen Beleuchtung digitaler Veränderung auf eine grundsätzliche Wirkmacht der Digitalisierung zu schließen ist, wird im Folgenden genauer beleuchtet. Ziel ist ein systematischer Deutungsversuch, der die Berechtigung des eingangs zitierten epo­ chalen Vergleichs von Industrialisierung und Digitaler Revolution überprüfen soll.

2.2 Verständnis des Wandels In der Perspektive der zuvor gewonnenen Erkenntnis kann an dieser Stelle unter Vorbehalt festgehalten werden, dass ein Prozess, der unsere Lebenswirklichkeit auf so unterschiedlichen Sinnebenen – wie etwa Liebe, Arbeit, Wissen und Bildung – verändert, nicht allein als technischer Prozess verstanden werden kann. Anders formuliert: Eine Analyse, welche Digitalisierung nicht in ihrer soziokulturellen Gesamtheit betrachtet, greift zu kurz und neigt dazu, sich in obig angedeuteten Beispielen zu verlieren. Gleichzeitig empfiehlt sich für eine strukturelle Analyse nicht die Orientierung an Extrempositio­ nen. Sowohl blinde Begeisterung, die eine unaufhaltsame Verbesse­ rungsutopie propagiert, wie sie häufig aus dem Silicon Valley zu vernehmen ist, als auch technophobe Überzeugungen, die jegliche Form von digitaler Technologie für einen Irrweg halten, begehen den kategorischen Fehler, den Menschen für ein passives Anhängsel des 33

Illouz, »Ist die Liebe tot?«.

34 https://doi.org/10.5771/9783495995440 .

2.2 Verständnis des Wandels

Fortschritts zu halten und übersehen dessen Fähigkeit, die Entwick­ lung mitzugestalten.34 Um die wachsende Zahl digitaler Techniken und ihre transfor­ mierende Kraft auf menschliche Lebenswelt zu verstehen, ist daher eine systematische Einordnung und die Findung eines adäquaten Arbeitsbegriffs unumgänglich.

2.2.1 Mediatisierung Um diesem Mangel notwendiger Struktur zu begegnen, bietet sich das Konzept der sogenannten »Mediatisierung«35 an, welches der Kom­ munikationswissenschaftler und Soziologe Friedrich Krotz besonders 34 Als ein Beispiel für einseitige Technikbegeisterung kann neben dem bereits in der Einleitung genannten Ray Kurzweil noch auf die trans- bzw. posthumanistischer Zukunftsprognose des technischen Wandels des israelischen Historikers Yuval Noah Harari verwiesen werden. Dieser skizziert – ähnlich wie Kurzweil, allerdings mehr als Möglichkeitsbeschreibung – eine Zukunft, die durch ein neues Selbstverständnis des Menschen aufgrund der aktuellen technischen Entwicklung geprägt ist. Dieser »Homo Deus« setzte sich aufgrund seiner neuen technologischen Fähigkeiten zum Ziel, Unsterblichkeit und Gottgleichheit zu erlangen, die im Kern beinhaltet seine kontingente Hülle zu optimieren und letztlich hinter sich zu lassen. Jene potentielle Zukunft der Menschheit münde nach Harari in der Ablösung des homozentrischen Weltbildes des Humanismus durch eine datenzentrische Weltsicht, die menschliches Bewusstsein ersetzt (vgl. Harari, Yuval Noah, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. München 122020). Dass die Möglichkeitsbeschreibung Hararis nicht völlig unrealistisch ist, kann anhand Äußerungen des Informatikers und Elektrotechnikers Marshall Brain deutlich gemacht werden. Dieser formulierte im Rahmen der »Terasem Movement«-Stiftung, die zum Ziel hat, die perfekte Imitation des nicht-medialen Ichs zu erschaffen, das den eigenen Tod überdauern soll, folgend: »Given a choice between being in your virtual body and your real body, you will choose your virtual body every time. Therefore, your biological body will become irrelevant. [...] The Brain Storage Facility will throw your biological body in an incinerator. You will discard your biological body quite happily, and it will not seem like a loss at all. It will be a relief. Discarding your body will be the smart, logical and obvious thing to do.« (Brain, Marshall, »The Day You Discard Your Body. Chapter 14 – The day you discard your body« [https://marshallbrain.com/discard14.htm] Abgerufen am 23.10.2022.). 35 Der Begriff selbst wird bereits seit den 1990er-Jahren innerhalb der Wissenschaft diskutiert und als systematisches theoretisches Konzept entwickelt (vgl. Krotz, Fried­ rich, »Elektronisch mediatisierte Kommunikation«, in: Rundfunk und Fernsehen 43 (1995), 445–462. und vgl. Hepp, Andreas/Hartmann, Maren, »Mediatisierung als Metaprozess, Der analytische Zugang von Friedrich Krotz zur Mediatisierung der Alltagswelt«, in: Dies. (Hg.), Die Mediatisierung der Alltagswelt, Wiesbaden 2010, 9–20, hier: 9f.

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2. Digitale Mediatisierung und Wandel der Kommunikation

ausführlich prägt. Er nennt bezüglich der kontinuierlichen Ausbrei­ tung von Medien eine zeitliche, räumliche sowie soziale Komponente und präzisiert die aktuelle Entwicklung wie folgt: »Zeitlich stehen alle Medien insgesamt, aber auch jedes einzelne in immer größerer Anzahl zu allen Zeitpunkten zur Verfügung und bieten immer dauerhafter Inhalte an. Räumlich finden sich Medien an immer mehr Orten und sie verbinden zu immer mehr Orten – potenziell oder tatsächlich. Und schließlich sozial und in ihrem Sinnbezug entgrenzen sich Medien, weil sie allein oder in Kombination in immer mehr Situationen und Kontexten, mit immer mehr Absichten und Motiven verwendet werden, und zwar sowohl Kommunikator- als auch Rezipi­ entenseitig.«36

Im Fokus der Analyse liegen also nicht einzelne Medien, wie etwa das Fernsehen oder das Smartphone, sondern es geht Krotz um »eine Betrachtung des Wechselverhältnisses von Medien- bzw. Kom­ munikationswandel einerseits und Gesellschafts- bzw. Kulturwandel andererseits in ihrer Gesamtheit«37. Sein Ansatz ist deshalb mehr­ dimensional offen, da jener von ihm beschriebene Wandel nicht durch vorher festgemachte Eigenschaften konstituiert wird, sondern lediglich an seinen flexiblen Medienbegriff gebunden ist. So ver­ standene Medien zeigen ihre konkrete Realisierung erst durch die vermehrte Nutzung der eröffneten Potentiale, welche häufig nicht vorhersehbar sind und somit aufgrund der beweglichen Konzeption grundsätzlich als Teil von Krotz’ Mediatisierungskonzept gelten.38 Eine formalisierte Definition von Mediatisierung ist folglich punktu­ ell schwer zu formulieren, da intrinsische Eigenschaft von Mediati­ sierung immer zeitliche Gebundenheit enthält. Eine Entkontextuali­ sierung der medialen Nutzung darf folglich weder historisch, noch sozial oder kulturell vollzogen werden.39 Konkret beschreibt Krotz Mediatisierung wie folgt: »Die Menschen erfahren diesen [technischen] Wandel insofern nicht nur als eine zunehmende Präsenz und einen zunehmenden Bedeu­ Krotz, Friedrich, Die Mediatisierung kommunikativen Handelns. Der Wandel von Alltag und sozialen Beziehungen, Kultur und Gesellschaft durch die Medien, Wiesbaden 2001, 22. 37 Hepp/Hartmann, »Mediatisierung als Metaprozess«, 11. 38 Vgl. Krotz, Friedrich, Mediatisierung. Fallstudien zum Wandel von Kommunikation, Wiesbaden 2007, 33. 39 Vgl. Krotz, Die Mediatisierung kommunikativen Handelns, 34. 36

36 https://doi.org/10.5771/9783495995440 .

2.2 Verständnis des Wandels

tungszuwachs der Medien, von denen es auch immer mehr gibt, son­ dern auch als deren zunehmendes Eindringen in alle sozialen Bereiche und menschlichen Handlungsfelder, die gleichzeitig medienbezogen umgestaltet werden. Die Ergebnisse dieser Entwicklungen werden häufig als ›mediatisiert‹ bezeichnet.«40

Um den konzeptionellen Charakter zu betonen, nennt Krotz sie­ ben Punkte, die verallgemeinernd die aktuelle Medienentwicklung beschreiben und auf deren Grundlage er sich empirisch dem Konzept der Mediatisierung nähert. Diese komprimierten Medienthesen the­ matisieren die Allgegenwart der Medien, deren Verwobenheit mit dem menschlichen Alltag, die Vermischung der Kommunikationsfor­ men, die zunehmende Alltagsbezogenheit der medial kommunizier­ ten Inhalte, die Veralltäglichung medienvermittelter interpersonaler Kommunikation, die zunehmende Orientierungsfunktion und die Konsequenzen für Alltag, Identität, Kultur und Gesellschaft.41 Allge­ mein umschreibt Krotz sein Konzept als »Theorie der Mediatisierung von Alltag und sozialen Beziehungen, von Kultur und Gesellschaft«42. Entscheidender Vorteil der Herangehensweise von Krotz ist, dass die Zunahme von Kommunikationsmedien im Alltag, sozialen Beziehungen, in Kultur und Gesellschaft als »Metaprozess«43 sozialen und kulturellen Wandels, verstanden wird.44 Charakteristisch für Metaprozesse sind »einzelne Entwicklungen und Veränderungen, die aber auf ganz unterschiedlichen Feldern in ganz verschiedenen Regionen und zu unterschiedlichen Zeiten stattfinden können«45 und deren Abfolge sowie Ende nicht abzusehen sind.46 Metaprozesse sind somit: »begriffliche Konstrukte, unter denen die Wissenschaft ebenso wie die Menschen in ihrem Alltag bestimmte Entwicklungen, ihre Ursachen, Ausdrucksformen und Auswirkungen zusammenfassen

40 Krotz, Friedrich, »Medienwandel und Mediatisierung. Ein Einstieg und Über­ blick«, in: Andreas Kalina u.a. (Hg.), Mediatisierte Gesellschaften Medienkommunika­ tion und Sozialwelten im Wandel, Baden-Baden 2018, 27–54, hier: 28. 41 Vgl. Krotz, Die Mediatisierung kommunikativen Handelns, 34f. 42 Ebd. 39. 43 Vgl. zum Begriff des Metaprozesses: Krotz, Friedrich, »Mediatisierung als Meta­ prozess«, in: Jörg Hagenah/Heiner Meulemann (Hg.), Mediatisierung der Gesell­ schaft?, Münster 2011, 19–41. 44 Vgl. Krotz, Mediatisierung, 14f. 45 Ebd. 15. 46 Vgl. ebd.

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2. Digitale Mediatisierung und Wandel der Kommunikation

und sich damit die Welt handhabbar machen«47. Krotz verweist somit explizit auch auf die Wirkung von digitaler Technik, die sich als Meta­ prozess innerhalb von verschiedenen Bereichen niederschlägt und darin die Bedingungen verändert.48 Mediatisierung beinhaltet neben dieser Wirkungsbeschreibung ebenso das Moment der geschichtli­ chen Offenheit. Diesbezüglich beschreibt Krotz die Geschichte der Menschheit konsequent als eine Geschichte der kontinuierlichen Weiterentwicklung von immer neuen Kommunikationsmedien und letztlich als eine sich ständig weiterentwickelnde Mediengeschichte.49 Demnach standen am Anfang der Geschichte der Menschheit die Sprache als grundlegende Kommunikationsform im Sinne einer Ope­ ration mit Symbolen. Diese kommunikative Handlungsform der Sprache wurde dann kontinuierlich durch neue Symbole erweitert, wie etwa Höhlenbilder, Musik, Schrift, Buchdruck, Radio, Fernsehen bis hin zum Telefon.50 Seine Definition von Medien lautet demnach wie folgt: »Mit Medien meinen wir [...] technische Institutionen, über die bzw. mit denen Menschen kommunizieren. Medien sind in ihrer jeweiligen Form Teil einer spezifischen Kultur und Epoche, insofern sie in Alltag und Gesellschaft integriert sind. Dadurch, durch ihre gesellschaftliche und stabilisierte Form und weil die Menschen in Bezug auf sie soziale und kommunikative Praktiken entwickelt haben, sind sie gesellschaft­ liche Institutionen, die auf Technik beruhen.«51

Die Entwicklung der Medien beschreibt er nicht als sich ablösend beziehungsweise ersetzend, sondern im Ganzen als »Ausdifferen­ zierungsprozess«52, der immer komplexere mediale Kommunikati­ onsformen annimmt und sich über immer größere Lebensbereiche Ebd. 27. Dasselbe Verständnis von Mediatisierung als Metaprozess wird mittlerweile auch in der (theologischen) Ethik rezipiert (vgl. Koska, Christopher/Filipović, Alexander, »Gestaltungsfragen der Digitalität. Zu den sozialethischen Herausforderungen von künstlicher Intelligenz, Big Data und Virtualität«, in:, Ralph Bergold u.a. (Hg.), Dem Wandel eine menschliche Gestalt geben. Sozialethische Perspektiven für die Gesellschaft von morgen, Freiburg in Breisgau 2017, 173–191, hier: 173). 49 Vgl. Krotz, Mediatisierung, 2007, 33. 50 Vgl. Krotz, Friedrich, »Medienwandel und Mediatisierung. Ein Einstieg und Überblick«, in: Andreas Kalina u.a. (Hg.), Mediatisierte Gesellschaften Medienkommu­ nikation und Sozialwelten im Wandel, Baden-Baden 2018, 27–54, hier: 28f. 51 Krotz, »Medienwandel und Mediatisierung«, 37. 52 Ebd. 38. 47

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2.2 Verständnis des Wandels

erstreckt.53 Ein Beispiel für die Nichtablösung, sondern Ausdifferen­ zierung eines Mediums ist das Telefon. Dieses ist mit Aufkommen des Internets nicht verschwunden, sondern seine mediale Funktion wird mittlerweile zusätzlich über verschiedene digitale Applikatio­ nen ausgeführt (Skype, FaceTime, WhatsApp-Telefonie usw.). Krotz ist in der Lage, solche Ausdifferenzierungen in seine Beschreibung präzise mit einzuschließen, da sein Medienbegriff gleichzeitig eng und weit ist: Denn seine Definition erfasst nur Kommunikationsme­ dien, die technische Instrumente menschlicher Kommunikation sind und alle damit in Verbindung stehenden Formen von symbolischen Handlungspraktiken sowie Institutionalisierung beinhalten. Dadurch schließt dieser Begriff in seiner Enge zum Beispiel Geld als Medium aus. Gleichzeitig zeichnet er sich durch die nötige Weite aus, da ihm von der Zeichnung im Sand über das Fernsehen bis hin zu noch nicht entwickelten Medien eine große historische Offenheit inhärent ist.54 In der Perspektive dieses Medienverständnisses formuliert Krotz bezüglich des Medienwandels: »Man darf zumindest heute jedoch nicht dabei stehen bleiben, Medien­ wandel nur als Entstehung einzelner Medien zu begreifen. Vielmehr besteht der aktuelle Medienwandel gerade darin, dass die früher schon 53 Der Gedanke der medialen Ausdifferenzierung stammt nicht originär von Krotz, sondern wurde bereits im Jahr 1913 durch den deutschen Altphilologen Wolfang Riepl in seiner Dissertation als das, was später als »Rieplsches Gesetz« bekannt wurde, formuliert: »Trotz aller solchen Wandlungen ist indessen festzustellen, daß neben den höchstentwickelten Mitteln, Methoden und Formen des Nachrichtenverkehrs in den Kulturstaaten auch die einfachsten Urformen bei verschiedenen Naturvölkern noch heute im Gebrauch sind, und um sie zu finden, braucht man nicht die Südseeinseln oder auch nur das Innere Marokkos aufzusuchen, in Europa selbst, in Gegenden, die sich schon vor den Römern einer verhältnismäßig hoch entwickelten Kultur erfreuten, so bei den Albanesen z. B. ist das Nachrichtenwesen bis heute fast auf der Urstufe geblieben. Andererseits ergibt sich gewissermaßen als ein Grundgesetz der Entwicklung des Nachrichtenwesens, daß die einfachsten Mittel, Formen und Methoden, wenn sie nur einmal eingebürgert und brauchbar befunden worden sind, auch von den vollkommensten und höchst entwickelten niemals wieder gänzlich und dauernd verdrängt und außer Gebrauch gesetzt werden können, sondern sich neben diesen erhalten, nur daß sie genötigt werden können, andere Aufgaben und Verwer­ tungsgebiete aufzusuchen.« (Riepl, Wolfgang, Das Nachrichtenwesen des Altertums. Mit besonderer Rücksicht auf die Römer, Leipzig-Berlin 1913, 4f.). 54 Vgl. Hepp/Hartmann, Mediatisierung als Metaprozess, 11. Krotz versteht selbst Roboter, die noch alles andere als abgeschlossen entwickelt sind, als interaktive Medien. Dies wird in seiner Beschreibung und Bewertung des Roboterhundes WALDI besonders deutlich (vgl. Krotz, Mediatisierung, 130–147).

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2. Digitale Mediatisierung und Wandel der Kommunikation

vorhandenen Medien sich verändern, und gleichzeitig zahlreiche neue Medien und sogar neue Kommunikationsformen wie die sogenannte interaktive Kommunikation als Kommunikation mit Computern, etwa im Computerspiel, entstanden sind und entstehen.«55

Der Begriff der Mediatisierung trägt diesem Ausdifferenzierungspro­ zess Rechnung, indem er die Medienwirkung mehrdimensional und in Bezug auf einen unbestimmten Zeitraum umfasst. Der Wandel von Kultur und Gesellschaft kann auf makrotheoretischer Ebene postuliert und erfasst werden. Die Veränderung von Instituten und Unterneh­ men auf der Mesoebene und innerhalb der mikrotheoretischen Ebene kann das soziale und kommunikative Handeln beschrieben werden.56 Diese Offenheit in Bezug auf die Wirkung und die geschichtliche Kontinuität bei gleichzeitiger terminologischer Klarheit prädestiniert den Mediatisierungsansatz von Krotz für eine Grundeinordnung des, im vorliegenden Text behandelten, digitalen Wandels.

2.2.2 Digitale Mediatisierung Ausgewiesenes Kennzeichen der neuen Potentiale ist, dass die Digi­ talisierung nicht, wie andere technische Paradigmenwechsel, etwa der Buchdruck, ausschließlich die Medien der öffentlichen Kommu­ nikation verändert, sondern bis in die intimste Ebene der zwischen­ menschlichen Kommunikation vordringt.57 Die vermehrte Verarbei­ tung, Verknüpfung, Archivierung und Rezeption digitaler Daten schafft nicht nur ein neues Zeitungswesen, sondern verändert die Art und Weise, zu kommunizieren, ja unsere Art, Gesellschaft und Kultur Ausdruck zu verleihen, fundamental. Sich der Welt der Medi­ enkommunikation zu entziehen, mag in Einzelfällen noch möglich sein, wie es etwa ein Mann aus Niedersachsen versucht, der sich vor über 50 Jahren alleine und nahezu ohne Technik in einen Wald zurückgezogen hat.58 Für den Großteil der Gesellschaft ist diese Alternative schlicht keine, da die Partizipation an der Zivilisation mit Krotz, Medienwandel, 2018, 30. Vgl. Krotz, Mediatisierung, 37f. 57 Vgl. ebd. 32f. 58 Vgl. »Wie ein Mann seit 54 Jahren allein im Wald lebt«, in: Neue Osnabrücker Zeitung 2016, [http://www.noz.de/deutschland-welt/niedersachsen/artikel/735 659/wie-ein-mann-seit-54-jahren-allein-im-wald-lebt#gallery&0&0&735659] Abgerufen am 23.10.2022. 55

56

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2.2 Verständnis des Wandels

der Partizipation an der digitalen Medienwelt untrennbar verwoben ist: Von der digitalen Steuererklärung über Onlineshopping bis hin zur Buchung des Restaurantbesuchs erstreckt sich die Ausbreitung digitaler Medienangebote und -inhalte. Sie durchdringt alle gesell­ schaftlichen Facetten wie Ökonomie, Marketing, Dating, Bildung, Kultur und Politik. Krotz äußert sich bezüglich der jüngsten medialen Entfaltung wie folgt: »Es handelt sich um das Aufkommen einer neuen Basistechnologie, die der Erfindung des Verbrennungsmotor oder der Entdeckung der Elektrizität nicht nachsteht, die sich auf die Freizeit der Menschen ebenso wie auf Arbeit und Reproduktionstätigkeiten auswirkt, die Identität, Formen des Zusammenlebens und der Selbstdefinition der Menschen beeinflusst. Und die meisten Dimensionen des sozialen und kulturellen Wandels von heute, ob Individualisierung oder Globalisie­ rung, sind durch die mediale Entwicklung in ihrer konkreten Form erst möglich geworden.«59

Um die zunehmende Bedeutung jener Medien zu verdeutlichen, weist er darüber hinaus ebenso auf das gesteigerte Interesse von Medienangeboten, die zunehmende Nutzung von verschiedensten Medienarten innerhalb aller Institutionen und Unternehmen, die ökonomisch motivierte Popularität von Medien, um Konsum anzu­ regen, den Ausbau digitaler Werkzeuge an Arbeitsplätzen und der Medienmacht, Gesellschaften Orientierungs- und Lenkungsangebote zu unterbreiten, hin.60 Im Sinne der Mediatisierung als Ausdiffe­ renzierungsprozess von Medien wird jener Prozess des digitalen Wandels, der im vorliegenden Text zuvor als »Digitalisierung« oder »Digitale Revolution« bezeichnet wurde, nach Krotz somit in einen überzeitlichen Kontext verortet. Ähnlich wie Globalisierung und Indi­ vidualisierung wird Digitalisierung, die nun als Teil innerhalb einer andauernden Mediatisierung verstanden wird, methodisch aufgrund ihrer Vielschichtigkeit als Metaprozess behandelt und eingeordnet.61 Um den von Krotz treffend beschriebenen Sinnebenen, der Wirk­ breite des Prozesses und somit den zuvor dargelegten Überlegungen hinsichtlich der Wirkung Rechnung zu tragen, wird im Folgenden vom Terminus der »Digitalen Revolution« abgesehen und dieser durch den der »Digitalen Mediatisierung« ersetzt. Hinter der Entscheidung 59 60 61

Krotz, Mediatisierung, 31. Vgl. ebd. 35. Vgl. ebd. 14f.

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2. Digitale Mediatisierung und Wandel der Kommunikation

im folgenden Text vorrangig von »digitaler Mediatisierung« und gele­ gentlich von Digitalisierung zu sprechen, verbirgt sich der Wunsch nach einem verantwortbaren Arbeitsbegriff, welcher den Status quo in all seinen Facetten bei gleichzeitiger Entwicklungsoffenheit adäquat umfassen kann. Da der vorliegende Text den normativen Anspruch von Authentizität in Bezug auf die Entwicklungen der medialen Kom­ munikationstechniken zu ergründen sucht, erscheint der Zusatz »digital« vor dem von Krotz geprägten Konzept der Mediatisierung in diesem Projektkontext notwendig, um zu verdeutlichen, dass vorran­ gig die technische (digitale) Entwicklung jüngster Zeit im Fokus liegt. Darüber hinaus steht der Begriff für die Hoffnung auf eine Kursän­ derung weg von einer emotional-hysterischen Diskussion hin zu einer unaufgeregten Analyse, die sich jenseits sowohl der träume­ risch-utopischen als auch technikfeindlichen Standpunkte positio­ niert. In der historischen Perspektive, welche im Terminus der Media­ tisierung enthalten ist, kann der aktuelle Prozess der (digitalen) Mediatisierung als eine weitere Folge der kontinuierlichen Mediati­ sierung von Gesellschaft und Alltag verstanden werden, welche qua­ litativ durchaus besonders, aber nicht ohne jeglichen strukturellen Bezug ist. Folglich ist jener Prozess keine »Revolution«, die über die menschliche Lebenswirklichkeit ungebremst hinwegfegt und der sich nur passiv unterworfen werden kann, sondern eine natürliche Fort­ setzung in einem kontinuierlichen Mediatisierungsprozess, welcher seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte – im Sinne einer medialen Ausdifferenzierung – seinen Weg nimmt. Somit unterscheidet sich der aktuelle digitale Wandel hinsichtlich der Gestaltungspotentiale strukturell nicht von der vorangehenden medialen Entwicklung. Nachdem nun eine analytische Perspektive und eben jener Arbeitsbegriff referiert wurde, soll nun im Folgenden der Begriff der Kommunikation allgemein erläutert und ins Verhältnis zu den technischen Möglichkeiten digitaler Technik gesetzt werden.

2.3 Kommunikation in digitaler Mediatisierung Um weiterführend die im Fokus stehende digitalisierte Form der Kommunikation zu verstehen, ist vorerst eine Annäherung an den vielschichtigen Terminus der Kommunikation notwendig. Dass eine allgemeine und abschließende Definition des Kommunikationsbe­

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2.3 Kommunikation in digitaler Mediatisierung

griffs nicht möglich ist, wird bereits anhand der Breite der die Kom­ munikation betreffenden Literatur einsichtig. Bereits 1977 zählte der Kommunikationswissenschaftler Klaus Merten 160 verschiedene Definitionen.62 Seine Liste könnte vermutlich nochmals erweitert werden. Krotz äußert sich diesbezüglich: »Der Versuch, Kommunikation umfassend und abschließend für alle Zeiten zu definieren, ist vermutlich generell zum Scheitern verurteilt. Dies nicht nur, weil sich auch Begriffe als Symbole wandeln (Elias 1989) und auch der Wissenschaftsbegriff von Kultur und Sprache, von Zeit und Gesellschaft abhängig ist (Kuhn 1978), sondern auch deshalb, weil es sich hier um ein Grundkonzept von Alltag, Kultur und Gesellschaft handelt, das sich sinnvoll auf ein einheitliches Konzept nicht reduzieren lässt.«63

Trotzdem soll ein Verständniseinstieg für die Vielschichtigkeit des Begriffs gewagt werden. Das Ziel des Kapitels besteht darin, anhand dieser demonstrierten Vielschichtigkeit die Unzulänglichkeit einer künstlichen Engführung und einseitigen Definition aufzuzeigen.

2.3.1 Information, Selbstmitteilung und Gemeinschaft Der Begriff Kommunikation leitet sich aus dem lateinischen commu­ nicatio ab und bedeutet Mitteilung. Das dazugehörige Verb commu­ nico mit seiner Bedeutung von »gegenseitig mitteilen«, aber auch »gemeinsam machen« lässt bereits die Vieldeutigkeit des Begriffs der Kommunikation, der sowohl informatives Charakteristikum als auch beziehungsstiftende Aspekte umfasst, erahnen.64 Der Kommunikati­ onswissenschaftler Jo Reichertz macht den Krieg und die Wirtschaft als Väter der Kommunikation aus. Für ersteren war die schnelle sowie sichere Kommunikation von Truppen und für letzteren die Verbindung von Waren und Konsumenten durch Werbung und Transport entscheidend. Für beide Bereiche war und ist daher der Wille vorhanden, Kommunikation – nach den eigenen Kriterien – zu optimieren. Nach Reichertz haben diese Verbindungs- und Trans­ 62 Vgl. Merten, Klaus, Kommunikation. Eine Begriffs- und Prozeßanalyse, Opladen 1977, 168f. 63 Krotz, Mediatisierung, 61. 64 Vgl. Georges, Karl Ernst, Der neue Georges: Ausführliches Handwörterbuch Latei­ nisch – Deutsch, Bd. 1, Darmstadt 2013, 1026.

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2. Digitale Mediatisierung und Wandel der Kommunikation

portmetaphorik die Entwicklung der Kommunikationswissenschaft besonders in seiner Entstehung entscheidend dahingehend geprägt, Kommunikation als Informationsweitergabe zu betrachten.65 Die neuzeitliche Vorstellung von Kommunikation wurde in der Perspek­ tive jener Einflüsse besonders von Ferdinand de Saussure und seinem Urmodell geprägt:66

Abb. 1, Urbild der Kommunikation, Quelle: Saussure, Grundfragen Sprachwissenschaft (2001), 14.

Saussures Modell fokussiert Information und Sprache und versteht Kommunikation folglich ausschließlich als Übermittlung der Bot­ schaft.67 Er beschreibt sein Konzept – Reichertz spricht in diesem Zusammenhang von »Mutter aller Kommunikationsmodelle«68– wie folgt: »Wir nehmen also an zwei Personen, A und B, welche sich unterreden. Der Ausgangspunkt des Kreislaufs liegt im Gehirn des Einen, z.B. A, wo die Bewußtseinsvorgänge, die wir Vorstellungen schlechthin nennen wollen, mit den Vorstellungen der sprachlichen Zeichen oder 65 Vgl. Reichertz, Jo, Kommunikationsmacht: Was Ist Kommunikation und was Ver­ mag Sie? Und Weshalb Vermag Sie Das?, Heidelberg 2009, 85. 66 Vgl. De Saussure, Ferdinant, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, herausgegeben von Albert Sechehaye/Charles Bally, Berlin 2001. 67 Ferdinand de Saussures große Leistung ist, dass er deutlich macht, dass nicht Wörter in sich Bedeutung transportieren, sondern Bedeutung sich erst in der Struktur der Sprache – also im System der Zeichen – offenbart. Daher gilt er als der Vater des Strukturalismus, obwohl er den Begriff selbst nicht benutzt. Da es hier ausschließlich um ein Grundverständnis von Kommunikation geht, ist die Debatte rund um den Strukturalismus für die vorliegende Argumentation nicht weiter relevant. 68 Reichertz, Kommunikationsmacht, 86.

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2.3 Kommunikation in digitaler Mediatisierung

akustischen Bilder assoziiert sind, welche zu deren Ausdruck dienen. Stellen wir uns vor, daß eine gegebene Vorstellung im Gehirn ein Lautbild auslöst: das ist ein durchaus psychischer Vorgang, dem seinerseits ein physiologischer Prozeß folgt: das Gehirn übermittelt den Sprechorganen einen Impuls, der dem Lautbild entspricht; dann breiten sich die Schallwellen aus vom Munde des A zum Ohr des B hin: ein rein physikalischer Vorgang. Dann setzt sich der Kreislauf bei B fort in umgekehrter Reihenfolge […].«69

Für Saussure ist der Vorgang des Sprechers A aktiv, der Vorgang des Vernehmens der Person B passiv. Kommunikation beginnt für ihn mit der Intention des Sprechers und endet mit dem Verstehen der gesendeten Intention.70 Dasselbe technische Verständnis von Kommunikation, welches den Fokus auf die Nachrichtenübertragung legt, ist das ebenso einflussreiche Modell von Claude E. Shannon und Warren Weaver. Die Mathematiker haben Kommunikation als mechanistische Informationsübermittlung von einem Sender zu einem Empfänger durch Zeichen beziehungsweise Codes beschrie­ ben:71

Abb. 2, Communication System, Quelle: Shannon/Weaver, Theory of Communication (1998), 7.

Demnach kann die Nachricht zum Beispiel aus Wörtern, Mimik, Gestik, aber auch Bildern, Musik oder Videos bestehen, die durch die Informationsquelle ausgewählt und durch den Transmitter in Signale umgewandelt werden. Die Signale werden über den Übertragungs­ Saussure, Grundfragen Sprachwissenschaft, 13f. Vgl. Reichertz, Kommunikationsmacht, 85f. 71 Shannon, Claude E./Weaver, Warren, The Mathematical Theory of Communication, Illinouis 31998, 7. 69

70

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2. Digitale Mediatisierung und Wandel der Kommunikation

kanal vom Sender zum Empfänger übermittelt. Im Moment oraler Sprache stellt das Gehirn die Informationsquelle dar, der Stimmme­ chanismus den Transmitter, welcher die ausgewählte Nachricht in das Signal der entsprechenden Lautgeräusche verwandelt, und die Luft ist der Übertragungskanal, über den die Nachricht transportiert wird. Das Ohr und die dazugehörigen Nerven des Gegenübers stellen den Empfänger dar.72 Die beschriebene Situation von verbaler Kommuni­ kation lässt sich innerhalb dieses informationstheoretischen Modells auf unterschiedlichste Kommunikationssituationen anwenden und bietet folglich eine Struktur für ein rudimentäres Kommunikations­ verständnis, welches ebenfalls schon bei Saussure zu finden ist (s. Abb. 1). Zu diesem Verständnis gehört die Überzeugung, dass zu einer Kommunikationssituation mindestens zwei Personen oder Entitäten gehören, ein Medium notwendig ist, und dass Sender und Empfänger über die Fähigkeit der Rezeption und der Informationsverarbeitung verfügen. Trotzdem weisen beide Konzepte verschiedene Unzuläng­ lichkeiten auf, denn obwohl sie jenes Grundgerüst und -verständnis bezüglich Kommunikation liefern, sind beide Konzepte ausschließlich physikalisch-technische Modelle, die Kommunikation exklusiv als Informationsübertragung verstehen. Der Kommunikationsprozess verläuft folglich grundsätzlich nach folgendem Muster: Ein Subjekt hat die innere Intention, einen Inhalt A mitzuteilen, erschafft folglich eine wahrnehmbare äußerli­ che Repräsentation Y durch kulturelle Codes C. Da die erschaffene Repräsentation Y notwendig unterschiedlich vom repräsentierten Inhalt A ist, beinhaltet sie folglich Inhalt B. Inhalt A wird also durch Codes C zu Inhalt B transformiert. B durchquert den Kanal zum Emp­ fänger (z. B. Luft/Medien) und wird dort von diesem durch gleiche Codes (C) oder andere Codes (D) in eine innere Repräsentation für sich mit dem Inhalt E erstellt.73 Mit dieser Beschreibung wird die erste grundsätzliche Problematik einer solchen einseitigen Definition deutlich. Angewandt auf den menschlichen Alltag würde dieses ver­ engte Verständnis nicht plausibel sein, da – wenn Kommunikation ausschließlich jener Austausch wäre – ständige Missverständnisse vorprogrammiert wären:

72 73

Vgl. Shannon/Weaver, The Mathematical Theory of Communicatio, 7. Vgl. Reichertz, Kommunikationsmacht, 87.

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2.3 Kommunikation in digitaler Mediatisierung

»Menschliche Kommunikation wäre dann ein schlechtes Werkzeug und Handlungsabstimmung mithilfe von Kommunikation Glück­ sache – was die Überlebenschancen der Gattung drastisch absen­ ken würde.«74

Vertiefend wird die Unzulänglichkeit eines solchen Kommunikati­ onsverständnisses am Beispiel der Kommunikation eines Witzes oder einer Beleidigung, welche als zentralen Inhalt eben nicht nur reine Informationsübermittlung darstellen.75 Ebenso ist es mit jenem restriktiven Verständnis nicht möglich, verschiedene Kommunikati­ onstypen zu unterscheiden, da ihr Sender-Empfänger-Modell jegli­ che Zwecke von Kommunikation ausblendet. Diesbezüglich kann nicht zwischen intentionaler und nichtintentionaler Kommunikation unterschieden werden, da die Frage nach der Intention beziehungs­ weise des Zwecks gar nicht erst gestellt beziehungsweise als immer schon – unausgesprochen – gegeben postuliert wird. Hinsichtlich der Intention von Kommunikation werden die Unzulänglichkeiten eines rein informativen Kommunikationsver­ ständnisses anhand von Überlegungen des Philosophen Georg Sim­ mels zu menschlicher Selbstmitteilung besonders deutlich. Dieser beschreibt – ohne den Begriff der Selbstmitteilung direkt zu nennen – eine Dimension von Kommunikation, welche explizit nichtintentio­ nal verläuft, und in der die Kommunizierenden etwas über sich selbst mitteilen, ohne es bewusst zu wollen. Diese Form von intimer Kenntnis über das Gegenüber, ohne dass dieser jene intime Mitteilung intendiert, benennt Simmel mit dem normalerweise eher negativ konnotierten Begriff der »Indiskretion«76. Dies macht er in Bezug auf verschiedene Grade von Freundschaft deutlich. Ideale Freund­ schaft bedeuten somit für Simmel das Vorherrschen von »absolute[r] Ebd. Vgl. Kannetzky, Frank, »Dilemmata der Kommunikationstheorie«, in: Mark Siebel (Hg.), Kommunikatives Verstehen, Leipzig 2002, 97–137, hier: 98. Die Künstlichkeit der These, dass Kommunikation ausschließlich Informationsübertragung darstellt, macht der Philosoph Frank Kannetzky an dem Beispiel einer geflüsterten Liebeser­ klärung und eines Schmerzensschreis deutlich. Wäre Kommunikation ausschließlich Informationsübertragung, würde erstere Sprechhandlung lediglich die Informierung der Angebeteten über die eigene Zuneigung und letztere die informative Mitteilung der inneren Gefühlslage sein (ebd. 99). 76 Simmel, Georg, »Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft«, in: Ders., Sozio­ logie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Bd. 11, herausgegeben von Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1992, 383–455, hier: 398. 74 75

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2. Digitale Mediatisierung und Wandel der Kommunikation

seelische[r] Vertrautheit«77, bei der die Ganzheit des Gegenübers inklusive aller Gedanken und Stimmungen gewusst würde. In die­ ser Absolutheit kann genau genommen nicht mehr von Vertrauen gesprochen werden, da Vertrauen nach Simmel »als die Hypothese künftigen Verhaltens, die sicher genug ist, um praktisches Handeln daraus zu gründen […]«78 bestimmt ist. Jenseits der Diskussion, ob diese unüberbietbare Form von Kommunikation existiert, hilft dieses von Simmel erhobene und an der Antike orientierte Ideal, um den Blick auf eine reduzierte Form von kommunikativer Klarheit zu werfen. Die »differenzierte Freundschaft«79 ist nach Simmel in der »modernen Zeit«80 die gängigere Form der Freundschaft, da der Mensch – im Gegensatz zur Antike – in seiner ganzen Person als Mitglied an Familie, Gilde oder Genossenschaft gebunden ist. Folglich trete er nur noch als Fragment in der Öffentlichkeit auf und kommuniziere nur einen differenzierten Bereich, der für den jeweiligen Kontext gerade passe.81 Der so individualisierte Mensch trete also auch in seiner Freundschaft nicht als ganze Person auf, sondern nutze »die Möglichkeit, mit rein sachlichen Beiträgen zu rein sachlichen Zwecken mit Andern zusammenzuwirken und dabei die Totalität des Ich zu reservieren […]«82. Diese Reservierung des Ich nennt Simmel »Diskretion«83 und sie konstituiert das Wesen der modernen bzw. differenzierten Freundschaft. Die Kommunizierenden bekommen in dieser Freundschaftsform voneinander nur jenen Teil des Selbst bewusst mitgeteilt, der für den jeweilig gemeinsamen Bereich, etwa das geteilte Interesse, entscheidend ist. Der Rest der Persönlichkeit unterliegt somit der Diskretion. Trotzdem beruht nach Simmel »der ganze Verkehr der Menschen darauf, daß jeder vom Ebd. 400. Ebd. 393. 79 Simmel, Georg, »Psychologie der Diskretion. [Vortrag]«, in: Ders., Soziologie. Aufsätze und Abhandlungen, Bd. 8, herausgegeben von Alessandro Cavalli und Volkhard Krech, Frankfurt am Main 1992, 82–86, hier: 83. 80 Mit modernen Zeiten meint Simmel seine Lebenszeit von 1858 bis 1918. Interes­ sant ist an dieser Beobachtung, dass sie in Bezug auf die technischen Entwicklungen und die damit einhergehenden kommunikativen Praktiken der Jahrtausendwende ebenso zutreffen wie zur Jahrhundertwende. 81 Vgl. Simmel, Georg, »Die Kreuzung sozialer Kreise«, in: Ders., Soziologie. Unter­ suchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Bd. 11, herausgegeben von Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1992, 456–511, hier: 473f. 82 Ebd. 474. 83 Simmel, »Psychologie der Diskretion. [Vortrag]«, 82. 77

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2.3 Kommunikation in digitaler Mediatisierung

andren etwas mehr weiß, als dieser ihm willentlich offenbart«84. Das bedeutet, dass jeder Kommunizierende sich das Recht zuspricht, aktiv nach unbewusst mitgeteilten Inhalten des Gegenübers Ausschau zu halten: »Das gierige, spionierende Auffangen jedes unbedachten Wortes, die bohrende Reflexion: was dieser Tonfall wohl zu bedeuten habe, wozu jene Äußerungen sich kombinieren ließen, was das Erröten bei der Nennung eines bestimmten Namens wohl verrate – alles dies über­ schreitet die Grenze der äußerlichen Diskretion nicht.«85

Indiskretion weist somit auf den nichtintentionalen Aspekt von Kommunikation hin, der gleichzeitig für das Streben nach absoluter Kommunikation – unausgesprochen – vollzogen wird und konstitutiv ist. Durch die Gedanken von Simmel wird die Vielschichtigkeit des Aspektes der Selbstmitteilung und gleichzeitig das Defizitäre an einer Definition von Kommunikation, welche auf einem transparenten Sen­ der-Empfänger-Informationsaustausch besteht, deutlich. Darüber hinaus postulieren solche Konzepte grundsätzlich eine optimale Rah­ mensituation der Kommunikation, in der keine Hindernisse – wie etwa unterschiedliche Sprachen, Stimmungslagen oder Wertevorstel­ lungen – vorherrschen. Sie unterschlagen, dass kommunikatives Handeln häufig explizit das Ziel verfolgt, eben einen solchen Rahmen überhaupt erst herzustellen und zu tradieren.86 Außerdem werden Simmel, »Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft«, 398. Ebd. 399. 86 Vgl. Kannetzky, »Dilemmata der Kommunikationstheorie«, 99f. Jürgen Habermas entwirft konträr zu der Perspektive einer stetigen Gefahr von verzerrter Kommuni­ kation ein Ideal nichtverzerrter Kommunikation. Die Frage, wie Kommunikation gelingen kann, beantwortet er mit der Idee der idealen Sprechsituation: »Ideal nennen wir [...] eine Sprechsituation, in der die Kommunikation nicht nur nicht durch äußere kontingente Einwirkungen, sondern auch nicht durch Zwänge behindert wird, die aus der Struktur der Kommunikation selbst sich ergeben. Die ideale Sprechsituation schließt systematische Verzerrung der Kommunikation aus.« (Habermas, Jürgen, »Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz«, in: Ders./Niklas Luhmann (Hg.), Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie?, Frankfurt am Main 1971, 101–141, hier: 137). Ohne Naivität stellt er fest, dass Kom­ munikationsteilnehmer durchaus lügen, taktieren, bewusst Unklarheiten schaffen, es demnach häufiger zu einer verzerrten Kommunikation als einer idealen Sprechsi­ tuation kommt und Kommunikation mehr als Verständnisorientierung zu verstehen ist. Seine Folgerung, dass jede Aussage den Anspruch inhaltlicher Wahrheit, norma­ tiver Richtigkeit und subjektiver Wahrhaftigkeit erhebt, versteht er trotzdem nicht als utopisches Konzept, sondern vielmehr als »konstitutive Bedingung möglicher 84 85

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2. Digitale Mediatisierung und Wandel der Kommunikation

die Folgen der Intention, also ob das, was kommuniziert wird, auch den intendierten Effekt erzielt, nicht thematisiert oder bewusst nicht in die eigene Erklärungsverantwortung eingeordnet. Kommunikation als reines Medium der Übermittlung von Botschaften endet mit der Übertragung. Daher verwundert es auch nicht, dass innerhalb solcher Modelle die größte Motivation darauf gelegt wird, Fehlerquel­ len in der Übertragung zu beseitigen.87 Entscheidend ist, dass ein Kommunikationsverständnis als ausschließlich sprachliche Informa­ tionsübertragung durchaus nicht inhärent falsch, aber grundlegend unvollständig ist. Nach Reichert gründen die aufgezählten Unzuläng­ lichkeiten daher in anfänglich genannten »väterlichen« Engführun­ gen: Rede« (Habermas, »Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommuni­ kativen Kompetenz«, 141). Gelingende Kommunikation und somit ein Verstehen stellt demnach für Habermas die gemeinsame kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit dar, welche die Voraussetzung für die Konstitution von Gesellschaft ist (vgl. Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Bd. 2, Frankfurt am Main 41987, 84f.). In der fortwähren­ den Beschäftigung mit seiner Theorie und in der anhaltenden Diskussion wendete Habermas dieses Ideal zurückhaltender an (vgl. Habermas, Jürgen, »Entgegnungen«, in: Axel Honneth/Hans Joas (Hg.), Beiträge zu Jürgen Habermas’ »Theorie des kom­ munikativen Handelns«, Frankfurt am Main 32020, 327–405, hier: 347f.). Konträr zu Habermas – anfänglich-kompromissloseren -Position steht der Systemtheoretiker Niklas Luhmann und postuliert eine Unwahrscheinlichkeit zu wissen, was das Gegen­ über wirklich meint, da zwischen den Teilnehmer kaum echter informeller Zugriff möglich sei (vgl. Luhmann, Niklas, Soziologische Aufklärung. 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen 1981, 26). Eben jene »Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation« (ebd. 25) stellt für Luhmann hingegen die Notwendigkeit für Kommunikation dar. Die Unfähigkeit, die Intentionen und Gedanken des anderen klar nachzuvollziehen, erschafft – für ihn – die Voraussetzung für einen kommunikativen Austausch (vgl. ebd. 16). 87 Vgl. Reichertz, Kommunikationsmacht, 88. Um die beschrieben Defizite dieses Kommunikationsverständnisses adäquat einzuordnen: Shannon und Weaver hatten nicht den Anspruch, allumfassend menschliche Kommunikation zu beschreiben, vielmehr wurde das Konzept in den vierziger Jahren, im Kontext des zweiten Weltkrie­ ges entwickelt, um Erkenntnis über die Störungsfreiheit und Verschlüsselung von technischer Kommunikation zu gewinnen (vgl. Shannon/Weaver, The Mathematical Theory of Communication, 2f.). Ebenso hatte auch Saussure keine abschließende und umfassende Definition von Kommunikation als Ziel: »Diese Analyse beansprucht nicht, vollständig zu sein [...] Ich habe nur diejenigen Elemente berücksichtigt, die ich für wesentlich halte; aber unsere Figur gestattet, mit einem Blick die physikalischen Bestandteile (Schallwellen) von den physiologischen (Lautgebung und Gehörwahr­ nehmung) und psychischen (Wortbildern und Vorstellungen) zu unterscheiden.« (De Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft,14f.).

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2.3 Kommunikation in digitaler Mediatisierung

»[…] die Erforschung des Kommunikationsvorgangs nahm ihren Ursprung vor allem von der Idee, Kommunikation sei sprachliche Informationsvermittlung. Deshalb kam es am Anfang der wissen­ schaftlichen Kommunikationsforschung zu einer zweifachen Engfüh­ rung: einerseits bediente man sich sehr stark der Erkenntnisse zur Sprache und zum Sprechen und andererseits bediente man sich der Erkenntnisse über Informationsweitergabe und Codierung. Beide Eng­ führungen nehmen zweifellos etwas Relevantes des Kommunikations­ vorganges in den Blick, lassen aber das Wesentliche außer Acht – nämlich die mittels Kommunikation bewirkte Konstitution von Gesell­ schaft und Identität.«88

Teil von Kommunikation ist das Moment der Welt-, Beziehungs-, Identitäts- und letztlich Gemeinschaftsstiftung. Neben diesem Kom­ munikationsverständnis, welches den Fokus auf die Botschaftsüber­ mittlung und Sprache legt, muss – neben dem über Simmel einge­ führte Kommunikationsverständnis als Selbstmitteilung – folglich eine weitere Dimension mit einbezogen werden, um den Begriff der Kommunikation wenigstens überblicksartig zu verstehen. Jene Dimension beinhaltet das Verständnis von Kommunikation als explizit wirkungsorientiert.89 Diesbezüglich beschreibt Kannetzky die gemeinschaftskonstituierende Wirkung von Kommunikation aus­ führlich in drei Punkten. Demnach wäre ohne Kommunikation keine Form von Absprachen, expliziter Regeln, Koordination oder Orientie­ rung möglich.90 Zusammenfassend formuliert er: »Kommunikation ist der Kitt und die Voraussetzung von Gemeinschaf­ ten, indem sie die Koordination der individuellen Handlungen möglich macht und für den dafür notwendigen Hintergrund gemeinsamer Orientierungen sorgt.«91

Reichertz, Kommunikationsmacht, 85. Mit der Sprachhandlungstheorie nennt Reichertz noch einen dritten Ansatz der Kommunikationswissenschaft, welcher versucht, den nachrichten- und wirkungsori­ entierten Ansatz neu zu kombinieren (vgl. ebd. 92f.). Dieser hat hier geringe Relevanz, da für den vorliegenden Zusammenhang allein das umfassende Verständnis von Kom­ munikation als Informationsvermittlung und Gemeinschaftsstifter entscheidend ist, welches nicht exklusiv von sprachlichen Symbolen und Zeichen abhängig ist. Dieses Verständnis findet – für den Zweck dieser Arbeit – im symbolischen Interaktionismus deutlich genug Ausdruck. 90 Vgl. Kannetzky, »Dilemmata der Kommunikationstheorie«, 101f. 91 Ebd. 105. 88

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2. Digitale Mediatisierung und Wandel der Kommunikation

Nach einem solchen erweiterten Kommunikationsverständnis ist der Akt der Kommunikation nicht mit der Übermittlung der Botschaft abgeschlossen, sondern erst wenn die intendierte Wirkung erzielt wurde. Mit dieser Sicht geht ein breites Zeichenverständnis einher, welches über rein sprachliche Mittel hinausgeht und bewusst offenunbestimmt ist: »Kommunikationsmittel sind in einem solchen Verständnis alle sym­ bolischen Mittel, die Gattungsmitglieder einsetzen, um die ihren oder einen der ihren zu steuern – weshalb dann auch nicht nur die sprachlichen Zeichen Mittel der Kommunikation sind, sondern all die, die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte herausgebildet und bewährt haben.«92

Im Hintergrund steht das Postulat eines sich weiterbildenden »Self«93, welches sich in der kommunikativen Interaktion mit ande­ ren in wachsende Gemeinschaft ausbildet und weiterentwickelt. Die Herausbildung eines Gemeinschaftsverständnisses steht in direktem Zusammenhang mit den obig referierten Überlegungen Simmels hinsichtlich der Vielschichtigkeit von menschlicher Selbstmitteilung. Da das Spiel von Diskretion und Indiskretion von beiden Seiten wechselseitig vollzogen wird und jene sich kontinuierlich beeinflus­ sen, entsteht laut Simmel eine »überpersönliche« Einheit, wie etwa eine Gruppe, ein Kreis oder eine Gesellschaft. Der Soziologe Charles Horton Cooley formuliert diesbezüglich: »[I]t is through communica­ tion that we get our higher development«94. Anschließend an diese Überlegungen entwickelt George Herbert Mead sein Konzept des symbolischen Interaktionismus. Kern des Konzepts ist es, Sprache explizit »in ihrem Kontext der Kooperation, die in einer Gruppe an Hand von Signalen und Gesten stattfindet«95, zu verstehen. Kommu­ nikation macht demnach Menschen erst zu Subjekten mit Identität in der symbolischen Interaktion der Gemeinschaft. Folglich steht zuerst die symbolische Interaktion und anschließend entsteht das Indivi­ duum in seiner Besonderheit. Kommunikation als symbolische Inter­ aktion ist demnach auch mehr als nur Informationsaustausch, son­ Reichertz, Kommunikationsmacht, 90. James, William, The Principles of Psychology, Massachusetts 1980, 304. 94 Cooley, Charles Horton, Social Organization. A Study of the Larger Mind, New York 1909, 63. 95 Mead, Georg Herbert, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbeha­ viorismus, Frankfurt am Main 1973, 44. 92

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2.3 Kommunikation in digitaler Mediatisierung

dern fundamental gemeinschafts- und identitätsstiftend.96 »Zeichen« oder »Symbole« verstehen die Kommunikationswissenschaften als sinnlich wahrnehmbare, künstlich erschaffene Bedeutungsrepräsen­ tationen, die wechselseitig interpretiert werden. Anders formuliert: Zeichen- und Symbolsysteme sind Stellvertreter, welche Informatio­ nen übertragen oder speichern.97 In jene Tradition des Kommunika­ tionsverständnisses als symbolischer Interaktionismus ordnet sich ebenfalls Friedrich Krotz ein: »Die Wirklichkeit des Menschen ist immer symbolische, zeichenver­ mittelte Wirklichkeit. Menschen zeichnen sich durch die Fähigkeit zu symbolisch vermittelter Kommunikation aus, sie leben dementspre­ chend in einer Welt aus gedeuteten Symbolen, die sie als Gesellschafts­ wesen in ihren Interaktionen konstruieren. Weil soziales Geschehen und soziale Strukturen aus dem sozialen Handeln der Menschen und damit aus ihren Interaktionen entstehen, wird damit das Bild einer durch und durch sozialen Welt unterstellt, die auf Kommunikation beruht, die ohne Kommunikation nicht verstanden werden kann und in der man ohne Kommunikation nicht leben kann. Ferner wird hier mit dem Bezug auf den Symbolischen Interaktionismus eine Handlungs­ theorie vertreten, nach der die Welt als kommunikativ konstruiert begriffen wird und die am spezifisch Menschlichen der Menschen und der Gesellschaft, nämlich der Kommunikation als Form symbolischer Interaktion ansetzt.«98

Der Mensch kann somit als ein symbolisches Wesen bezeichnet wer­ den, das eine kommunikativ konstruierte symbolische Welt bewohnt und folglich – im Gegensatz zum Tier – fundamental durch die Stellvertreterfunktion von medienvermittelten Zeichen- und Sym­ Vgl. ebd. 177. Vgl. Misoch, Sabina, Online-Kommunikation, Konstanz 2006, 10). Die Kommu­ nikationswissenschaft unterscheiden zwischen Symbol und Zeichen insofern, dass beide dazu dienen, etwas kenntlich zu machen beziehungsweise etwas anzuzeigen, aber Symbole im Gegensatz zu Zeichen das enthalten, was sie bedeuten. Das heißt, dass Symbole einen Kern der repräsentierten Bedeutung innehaben, wohingegen Zeichen ausschließlich stellvertretend für die Bedeutung stehen. Symbole sind somit Zeichen, die kollektiv festgelegt sind und Bedeutung vermitteln. Der Unterschied bleibt innerhalb der Kommunikationswissenschaften aber graduell und wird deshalb im Folgenden synonym verwendet (vgl. Krotz, Die Mediatisierung kommunikativen Handelns, 45). Im theologischen Teil der vorliegenden Arbeit wird der Unterschied nochmals aufgegriffen und ab dann konsequent in der (möglichen) Trennschärfe verwendet (vgl. Kapitel 4.3). 98 Krotz, Mediatisierung, 56. 96

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2. Digitale Mediatisierung und Wandel der Kommunikation

bolsystemen konstituiert ist.99 Am Beispiel der Sprache wird deutlich, dass der Mensch als Individuum durch Gesellschaft und umgekehrt existiert.100 Diesbezüglich ist zu betonen, dass nach der krotzschen Mediendefinition – die der vorliegenden Argumentation zu Grunde gelegt ist – Sprache kein Medium ist, sondern zeichen-, bzw. symbo­ lisch-, und nicht technisch- (!), vermittelte Kommunikation.101 Diese 99 Passend hierzu sei auf Matthias Rath verwiesen, der ebenfalls Krotz’ Mediatisie­ rungskonzept aufgreift dieses aber anders ausdeutet und die Face-to-Face-Situation nicht als Ursprungssituation, von der aus medialer Kommunikation abzuleiten ist, versteht (vgl. Rath, Matthias, Ethik der mediatisierten Welt. Grundlagen und Perspek­ tiven, Wiesbaden 2014). Vielmehr bestimmt Rath Kommunikation »im Sinne einer anthropologischen Dynamik« (ebd. 8). Er formuliert jene Dynamik ausgehend von Ernst Cassierer, welcher den Menschen – ähnlich wie im symbolischen Interaktio­ nismus – als ein Wesen, das sich seine Welt symbolisch im Sinne eines »animal symbolicum« (Cassirer, Ernst, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philoso­ phie der Kultur, Hamburg 22007, 47f) erschließt, begreift. Für Rath ist somit bereits die »grundsätzliche Symbolhaftigkeit […] anthropologisch begründete Medialität des Menschen in seiner Selbst- und Welterfassung« (Rath, Ethik der mediatisierten Welt, 67). Folglich ist für ihn bereits jede Form von symbolischer Interaktionismus – und damit explizit auch Sprache – eine mediale Verfasstheit (vgl. ebd. 14f.). Der Mensch drückt sich im Sinne eines solchen Medienverständnisses immer medial vermittelt aus. Das heißt konkret, dass nach Rath bereits die ursprüngliche Form von Face-to-Face-Kommunikation immer schon medial vermittelt ist. Somit fällt sein Medienbegriff wesentlich weitgefasster aus, als es die hier entfaltete Argumentation zugrunde legt. Jene Offenheit würde für die Forschungsziele des vorliegenden Beitrags allerdings zu einer Unschärfe führen, die im Bezug auf den angestrebten Erkenntnis­ gewinn nicht vertretbar ist. Konkret wäre mit Raths Ansatz der Unterschied zwischen analoger und digitaler Kommunikation in der hier entfalteten Dualität von medialer und nicht-medialer Kommunikation nicht mehr unterscheidbar, da nach Rath nahezu alles medial ist und somit der Begriff als Erkenntniskategorie an Potential verliert. Diese grundlegende Verständnisdifferenz dieses für diese Arbeit so zentralen Begriffs ist somit der Grund, weshalb sein Beitrag hier nicht weiterverfolgt wird. 100 Vgl. Krotz, »Mediatisierung als Metaprozess«, 44. Und Krotz, Mediatisierung, 52. 101 Vgl. diesbezüglich Kapitel 2.2.1 und das von Krotz beschriebene Verhältnis von Sprache und Medien: »Nach der biologischen Vorgeschichte beginnt die Geschichte der Menschheit deshalb mit der Sprache, die wir von der Perspektive der Mediatisie­ rung aus nicht als Medium, sondern als fundamentales, den Menschen in seiner Art konstituierendes und kollektiv hergestelltes Ausdrucks- und Reflektionsmittel verstehen, über das sich der Mensch definiert und generiert. Sie ›vermittelt‹ nichts, sie ist vielmehr ein unabdingbares Instrument kreativen, reflexiven und sinnbezogenen Handelns. Grundlage jeder Kommunikation ist damit das interpersonale Gespräch auf der einen Seite, die per Gesten vermittelten Kommunikation auf der anderen. (Kom­ munikations-)Medien erweitern und modifizieren dann sogleich diese Basisformen von Kommunikation – deswegen nennen wir unsere Wissenschaft Kommunikationsund Medienwissenschaft.« (Krotz, Mediatisierung, 86).

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2.3 Kommunikation in digitaler Mediatisierung

Kategorienunterscheidung zwischen Zeichen bzw. Symbol und Tech­ nik kombiniert mit dem Unterschied zwischen dem gemeinschafts­ stiftenden Potential und reiner Informationsweitergabe ist später hin­ sichtlich der Unterscheidung von nichtmedialer und medialer Kommunikation zentral und der entscheidende Aspekt um mensch­ liche Leiblichkeit anknüpfend auszuarbeiten. Nachdem nun gezeigt wurde, dass zu einem umfassenden Kom­ munikationsverständnis zwingend die Informationsvermittlung, die Selbstmitteilung und auch die Gemeinschaftsstiftung gehören, und somit ein Verständnisumriss von Kommunikation erarbeitet wurde, wird folgend der Blick auf die mediale Kommunikation gerichtet. Im Zuge dessen soll ein Verständnis für das Internet als Hauptelement digital-medialer Kommunikation erarbeitet werden.

2.3.2 Mediale Kommunikation und das Internet Die Alltagsnutzung von Kommunikationsmedien umfasste bis in die 1990er Jahre vorrangig Bücher, Zeitungen, Fernsehen, Radio und Telefon. Mit dem Vormarsch der digitalen Technik und dem Zusammenschluss von globalen Computernetzwerken zum – heute nicht mehr wegzudenkenden – »Internet« entstand ein neuer media­ ler Kommunikationsraum, welcher der fortlaufenden Mediatisierung weiter Vorschub leistet. (Mediale) Kommunikation erhält durch die Entstehung des Internets einen technischen Träger, der Informationen in zuvor nicht dagewesener Art und Weise allumfassend verbreitet, zur Verfügung stellt und archivieren kann.102 Den sich an dieser Stelle anbietenden traditionellen Begriff der Massenkommunikation auf das Phänomen des Internets zu übertragen, ist laut Krotz unpassend, da Medien noch nie ausschließlich Transportkanäle waren, da diese – wie zuvor demonstriert – mehr als reinen Informationstransport leisten. Des Weiteren trifft für viele Kommunikationsformen im Internet die klassische Vorstellung von Massenkommunikation im Sinne von massenhaftem Informationstransport schlicht nicht zu. Exemplarisch sei hier auf eine Website verwiesen, die trotz breiter Zugänglichkeit nur einmal im Monat aufgerufen wird. Darüber hinaus sind die Vgl. Thye, Iris, Kommunikation und Gesellschaft – systemtheoretisch beobachtet. Sprache, Schrift, einseitige Massen- und digitale Online-Medien, Wiesbaden 2013, 80.

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2. Digitale Mediatisierung und Wandel der Kommunikation

Nutzenden nicht mehr nur passiv, sondern das Internet bietet große Partizipationsmöglichkeiten wie etwa Chats, Spiele oder Kommentar­ spalten an. Nicht grundsätzlich falsch, aber sehr vieldeutig ist der komplexe Begriff der Medienkommunikation, da er eine Vielzahl von Kommunikationsformen in sich vereint. Um den Terminus zu präzisieren, schlägt Krotz vor, zwischen drei Typen medienbezogener Kommunikation zu unterscheiden: erstens die standardisierte und einseitig adressierte Kommunikation via Fernsehen oder das Lesen. Zweitens die Kommunikation durch Medien mit Menschen, wie etwa im Falle des Briefes, Telefons oder Chats, und drittens die interaktive Mensch-Medium-Kommunikation, wie etwa mit einem Computer­ spiel oder einem digitalen Sprachassistenten.103 Medienkommunikation kann dementsprechend sowohl Kom­ munikation mit Medien als auch interpersonale Kommunikation mittels Medien sein.104 In der Perspektive sich entfaltender Media­ tisierung bezeichnet er das Internet als vorläufigen historischen Höhepunkt verdichteter Medienkommunikation, da es alle genann­ ten Formen medial vermittelter Kommunikation vereint. Diese medi­ enkommunikative Verdichtung zeichnet sich durch folgende Merk­ male aus: die digitale Verarbeitung von Inhalten (Digitalität), die universelle Verfügbarkeit unabhängig von Raum und Zeit (Ubiqui­ tät), den Einsatz aller medialer Formen wie etwa Text, Bild, Video und Ton (Multimedialität), die Möglichkeit von Rezipienten, unmittelbar zu Inhalten Stellung zu beziehen (Interaktivität) und die nichtlineare Vernetzung von Quellen sowie Inhalten (Hypertextualität).105 Das besondere Moment des Internets als computervermittelte Kommuni­ kation ist sein integrierender Charakter. Es bettet bisher getrennte Einzelmedien und Kommunikationsformen wie etwa Videotelefonie mit simultaner Chatmöglichkeit oder Fernsehsender, die nun via Streaming verfügbar sind, ein. Darüber hinaus werden neue Märkte und Branchen zusammengeführt, öffentliche sowie private Kommu­ nikation verbunden und die Möglichkeit, Teilnetzwerke global zu nutzen, geschaffen.106 Dieses integrierende Potential führt zu einer Beschleunigung und Dynamisierung des Informationsflusses. Infor­ mationen werden im Internet ubiquitär verfügbar und können mit 103 104 105 106

Vgl. Krotz, Mediatisierung, 16f. Vgl. ebd. 19. Vgl. ebd. 97. Krotz, Die Mediatisierung kommunikativen Handelns, 23f.

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2.3 Kommunikation in digitaler Mediatisierung

nicht zuvor verfügbarer Geschwindigkeit abgerufen sowie geteilt wer­ den.107 Der Medienwissenschaftler Stefan Münker konstatiert, dass das Internet angesichts dieses integrierenden Moments nicht nur nicht ein Massenmedium, sondern überhaupt kein eigenständiges Medium sei und vielmehr die umfassende technische Infrastruktur zur Generierung von Medien darstelle.108 Krotz spricht in diesem Zusammenhang konsequent vom »mediatisierte[n] Kommunikati­ onsraum ›Internet‹«109 und verweist auf die ebenso gebräuchlichen Bezeichnungen des »Hybrid-, oder Metamedium[s]«110. Der entscheidende Schritt, damit dieser mediatisierte Kommuni­ kationsraum jene integrative Qualität entfalten konnte, wird heute mit dem Begriff »Web 2.0« besetzt. Der sich um die Jahrtausend­ wende vollziehende und zeitlich exakt schwer festzulegende Sprung vom »Web 1.0« zum »Web 2.0« kann ohne Übertreibung als die Neuerfindung des Internets bezeichnet werden, da er die Partizipation des Nutzers in den Mittelpunkt rückte. Zuvor war das Internet nicht viel mehr als »eine bessere Litfasssäule«111 und erst durch Angebote wie Wikipedia, Facebook sowie YouTube wurde das partizipatorische Potential deutlich und es emanzipierte sich von simpler Öffentlich­ keitsverlautbarung hin zu der verdichteten Medienkommunikations­ plattform, die heute aus der menschlichen Lebenswirklichkeit kaum mehr wegzudenken ist.112 Diese Form der Partizipation im Sinne der Internetkommunikation kann gemäß Krotz’ Mediatisierungkonzep­ tes in drei Formen unterteilt werden, die sich an den bereits genannten Kategorien der Medienkommunikation orientieren: Interpersonale Kommunikation im Internet bezeichnet die Kommunikation zwi­ schen zwei oder mehreren Menschen, medienbezogene Rezeption meint den Medienkonsum durch einen oder mehrere Menschen und Kommunikation mit intelligenter Software bezeichnet die interaktive Kommunikation zwischen Mensch und Maschine.113 Den Mehrwert Vgl. Thye, Kommunikation, 2013, 84f. Vgl. Münker, Stefan, »Die Sozialen Medien des Web 2.0«, in: Daniel Miche­ lis/Thomas Schildhauer (Hg.), Social Media Handbuch. Theorien, Methoden, Modelle, Baden-Baden 2010, 43–56, hier: 34. 109 Krotz, Die Mediatisierung kommunikativen Handelns, 194. 110 Ebd. 20. 111 Münkler, »Die Sozialen Medien des Web 2.0«, 31. 112 Vgl. ebd. 31f. 113 Vgl. Krotz, Die Mediatisierung kommunikativen Handelns, 24. 107

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2. Digitale Mediatisierung und Wandel der Kommunikation

jener Kommunikationsformen im Verhältnis zur nichtmedialen Kom­ munikation beschreibt der Kommunikationswissenschaftler wie folgt: »Das Internet ermöglicht im Vergleich mit herkömmlichen Ablaufme­ dien die Rezeption einer Vielfalt von Inhalten und Genres. Darüber hinaus bietet der elektronisch mediatisierte Kommunikationsraum ›Internet‹ dem Individuum ein Forum zur Partizipation an Individualund Gruppenkommunikation, die sich nicht auf Rezeption beschränkt. Es ermöglicht dadurch kommunikative Orientierungen, die sich auf sehr viel spezialisiertere Inhalte und Beziehungen konzentrieren kön­ nen, als es mit Face-to-face-Kommunikation [sic!] oder die [sic!] alten Medien bisher möglich war. Überdies entstand durch den Computer eine neue Art der Kommunikation, [...] und alle diese Kommunikati­ onsarten vermischen sich horizontal und vertikal.«114

Horizontale und vertikale Vermischung verweist auf die integrative Funktion des Internets. Vertikal steht für die Nutzung unterschied­ licher Kommunikationsformen nebeneinander und gleichzeitig an demselben Gerät, wohingegen horizontal das Ineinandergreifen von Kommunikationsformen bezeichnet. Ein Beispiel für horizontale Vermischung wäre eine interpersonale Kommunikation, bei der die beteiligten Personen standardisierte (E-Mail/Chat) und gerahmte Kommunikationsangebote (Videospiel) gleichermaßen bedienen.115 Die Möglichkeiten des Internets stellen für die menschliche Lebenswirklichkeit eine starke mediatisierte Vertiefung dar, die eine Vielzahl neuer kommunikativer Ausdrucksmöglichkeiten im Gegen­ satz zur nichtmedialen, aber auch zu vorher existierenden media­ len Kommunikationsformen hervorbringt. Die Bandbreite neuer Möglichkeiten beinhaltet beispielsweise die Fähigkeit, mit wenig Auf­ wand (im Vergleich zur nichtmedialen Kommunikationssituation) anonym zu kommunizieren, zwischen den Geschlechtern zu wech­ seln, seinen möglichen Kontaktkreis nahezu unbegrenzt zu erweitern und ein nicht zuvor dagewesenes Maß an kommunikativer Unver­ bindlichkeit zu pflegen.116 Darüber hinaus muss dem Gegenüber nicht ununterbrochen die eigene Aufmerksamkeit demonstriert werden, um die Kommunikation aufrechtzuerhalten.117 Folglich verändert sich der Mediengebrauch der Menschen insofern, dass sie wesentlich viel­ 114 115 116 117

Ebd. 194. Vgl. ebd. 25. Vgl. ebd. 93f. Vgl. ebd. 206.

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2.4 Das Verhältnis von Nichtmedialität und Medialität

fältiger und aktiver ihre medienvermittelten und medienbezogenen Beziehungen kommunikativ gestalten können. Das Metamedium Internet – mit seinen Eigenschaften der medialen Integration und potentiellen Partizipation – ist somit der entscheidende Ort, an dem sich die immense Wirkung digitaler Mediatisierung entfaltet und ablesen lässt. Da nun die Grundzüge medialer und nichtmedialer Kommuni­ kation erarbeitet wurden, soll im anschließenden Kapitel der für die folgenden Überlegungen entscheidende Unterschied beider Kommu­ nikationsformen aufgezeigt werden.

2.4 Das Verhältnis von Nichtmedialität und Medialität Um den Unterschied zwischen medialer und nichtmedialer Kom­ munikation herauszuarbeiten, muss zuvor die Beziehung, also das Verhältnis beider Kommunikationsformen, in den Fokus der Betrach­ tung rücken. Von dort aus kann dann im Anschluss der strukturelle Unterschied erarbeitet und die einleitend aufgezeigte Problematik behandelt werden. Vergleicht man beide Kategorien mit Blick auf ihre gegenseitige Bezüglichkeit, wird ein inhärentes Abfolgeverhältnis offenbar. Dem­ zufolge stellt die sogenannte Face-to-Face-Kommunikation oder auch »nackte Situation«118 die originale Quelle und somit das ursprüng­ liche und erste Abbild – also Urbild – jeder medial vermittelten Kommunikation dar. Unabhängig davon, ob eine mediale Kommu­ nikationssituation via Telefon, Zeitung, Radio, WhatsApp, SkypeTelefonat oder Videospiel herbeigeführt wird, ist sie im Verhältnis zur nichtmedialen Kommunikationssituation eine erweiternde Modi­ fikation jener kommunikativen ursprünglichen Originalsituation.119 Krotz schreibt diesbezüglich: »Kommunikation findet in der hier eingenommenen Perspektive also in ihrer ursprünglichen Form zwischen Menschen statt. Basis jeder Kommunikation ist die direkte interpersonale, also die Face-to-FaceKommunikation, die dementsprechend ja auch primär genannt wird. Knorr-Cetina, Karin, »The Synthetic Situation: Interactionism for a Global World«, in: Symbolic Interaction 1 (2009), 61–87, hier: 69. 119 Vgl. Linke, Christine, Medien im Alltag von Paaren. Eine Studie zur Mediatisierung der Kommunikation in Paarbeziehungen, Wiesbaden 2010, 13. 118

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2. Digitale Mediatisierung und Wandel der Kommunikation

Weil Kommunikation zwischen Menschen entstanden ist […], verste­ hen wir das unmittelbare Gespräch zwischen Menschen als grundle­ gende und paradigmatische Form von Kommunikation. Alle anderen Kommunikationsweisen wie etwa das Telefonieren oder die Nutzung audiovisueller standardisierter Kommunikationsangebote gehen aus dieser Grundform hervor […].«120

Dieses Verhältnis von mittelbarer Modifikation durch Medialität und ursprünglicher Unmittelbarkeit der Nichtmedialität geht zudem laut Krotz nicht nur auf eine einfache Übereinstimmung zurück, sondern hat darüber hinaus weitreichendere Konsequenzen: »Dies gilt sowohl historisch/individualgenetisch als auch systema­ tisch, und nicht nur als Analogie: Nur weil der Mensch mit anderen sprechen und sie verstehen kann, kann er verstehen, was das Fernsehen vorführt und ist, was er über das Telefon hört oder was ein Roboter ›sagt‹. Das gleiche gilt auch für die ›Kommunikation‹ mit intelligenten, auf Kommunikation ausgerichteten Softwareprogrammen, in der sich Abläufe realisieren, die anders als Kommunikation mit Menschen und anders als Kommunikation mit standardisierten medialen Angeboten wie einem Buch oder einer Fernsehsendung sind.«121

Dieses Verhältnis von Urbild und Abbild ist folglich nicht nur die grundsätzliche Basis des Mediatisierungsprozesses, sondern stellt zugleich dieselbe Dynamik in Bezug auf das mediale Verständnis des Menschen dar. Wie vorangehend referiert, wird die Mensch­ heitsgeschichte im Sinne des Mediatisierungskonzeptes als eine sich immer weiter ausdifferenzierende Mediengeschichte verstanden. Durch diesen Zuwachs medialer Zeichen- und Symboloptionen wach­ sen die mediatisierten Modifizierungsmöglichkeiten jener ursprüng­ lichen Originalsituation kontinuierlich und somit auch die Fähigkeit, ursprüngliche Unmittelbarkeit mittelbar auszudrücken.122 Die Dyna­ mik von medialen und nichtmedialen Kommunikationsformen ist in diese historische Perspektive wie folgt einzuordnen: Unabhängig davon, welche einzelnen medialen Formen jener »Ausdifferenzie­ rungsprozess«123 hervorbringt, entscheidend bleibt, dass jede Form von medialer Kommunikationssituation eine mittelbare Rekonstruk­

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Krotz, Mediatisierung, 58. Ebd. Vgl. ebd. 40. Ebd. 37.

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2.4 Das Verhältnis von Nichtmedialität und Medialität

tion oder Erweiterung der unmittelbaren und ursprünglichen Origi­ nalquelle nichtmedialer Kommunikation darstellt.124 Somit ist das Urbild-Abbild-Verhältnis nachvollzogen und die diesem Verhältnis zugrundeliegende Dynamik beschrieben. Jene Erkenntnis wirft nun die Folgefrage nach der Wertigkeit jenes unmit­ telbaren Urbilds der nichtmedialen Situation auf: In der Betrachtung der Dualität von mittelbar und unmittelbar stellt sich die Frage, wie die zugeschriebene Wertigkeit der nichtme­ dialen Kommunikationssituation genau zu verstehen und begrifflich zu fassen ist. Denn dass dort eine positive Bewertung hinsichtlich der nichtmedialen Situation stattfindet, ist dem historischen Ausdif­ ferenzierungsprozess der Mediatisierung und dem obig beschriebe­ nen Verhältnis beider Formen zu entnehmen. Dieses ist inhärent geprägt von dem Willen der kontinuierlichen Qualitätssteigerung einer besseren Imitation, Erweiterung beziehungsweise Modifizie­ rung der nichtmedialen Kommunikationssituation: Von der ersten Zeichnung im Sand bis hin zur Erstellung eines 3-D-Hologramms hat sich in Bezug auf die Technik der imitierenden Mittelbarkeit viel geändert, die präferierte Urquelle der Replikation – nämlich die der nichtmedialen Wirklichkeit – ist im Laufe von Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte allerdings immer dieselbe geblieben. Aus dieser Beobachtung ist zu schließen, dass jener ursprüng­ lichen Unmittelbarkeit der Nichtmedialität im Prozess der Mediati­ sierung eine höhere Wertigkeit als jeder anderen möglichen Quelle zugeschrieben wird. Um den strukturellen Unterschied zwischen medialer und nichtmedialer Wirklichkeit zu verstehen, ist also vorerst die im Verhältnis beider Kategorien vorausgesetzte zugeschriebene Wertigkeit von Urbild und Abbild beziehungsweise Original und Imitation oder unmittelbar und mittelbar nachzuvollziehen. Die ent­ scheidende Frage für das anschließende Kapitel lautet demzufolge: Wie ist die Wertigkeit jenes ursprünglichen Vorbilds, welchem im Vgl. Hartmann, Maren/Krotz, Friedrich, »Online-Kommunikation als Kultur«, in: Wolfgang Schweiger/Klaus Beck (Hg.), Handbuch Online-Kommunikation, Wies­ baden 2010, 234–256, hier: 252. Ein Beispiel für eine Erweiterung ist die sogenannte »synthetische Situation« (Reichmann, Werner, »Interaktion in mediatisierten Welten. Von Face-to-Face-Kommunikation zur Interaktion in »synthetischen« Situationen«, in: Andreas Kalina u.a. (Hg.), Mediatisierte Gesellschaften, Medienkommunikation und Sozialwelten im Wandel, Baden-Baden 2018, 87–106, hier: 91), welche eine ursprüngliche Face-to-Face-Situation beschreibt, welche medial, zum Beispiel durch Informationsangaben auf einem Bildschirm, angereichert wird (vgl. ebd. 91f.). 124

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2. Digitale Mediatisierung und Wandel der Kommunikation

Laufe der Mediatisierung unterschiedlich Ausdruck verliehen wurde und zu dem das Internet als jüngster Ausdruck jenes Ausdifferenzie­ rungsprozesses gehört, näher zu bestimmen? Im folgenden Kapitel sollen, in Bezug auf diese zugeschriebene Wertigkeit von ursprünglicher Nichtmedialität, die Begriffe von Ursprung, Basis, Urbild, Vorbild, Original und Wirklichkeit in dem Begriff der Authentizität konkretisiert werden. Dabei wird sich zei­ gen, dass bezüglich der Wertung von unmittelbarer Nichtmedialität der Begriff der Authentizität verstanden als ursprüngliche Originali­ tät entscheidend sein wird.

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3. Authentizität als Gegenentwurf zur Medialität

Auf der Suche nach dem strukturellen Unterschied zwischen medialer und nichtmedialer Wirklichkeit besteht das Ziel des vorliegenden Kapitels darin, die – im Mediatisierungsprozess bereits zugrunde gelegte – Bewertung hinsichtlich des nichtmedialen Urbilds mithilfe des Authentizitätsbegriffs verdichtet herauszuarbeiten. Diesbezüglich wird zunächst eine exemplarische Annäherung mit Blick auf die breite Anwendung des Begriffs erarbeitet, worauf der Versuch folgt, das Trendwort Authentizität näher zu bestimmen, indem die vielseitige historische Genese auszugsweise dargelegt wird (s. Kapitel 3.1). Anschließend wird – ausgehend von Walter Benja­ mins Begriff der »Aura« (s. Kapitel 3.2) und Überlegungen zur Editi­ onsphilologie (s. Kapitel 3.3) – eine Begriffsbestimmung erarbeitet, welche die zwei inhärenten Aspekte – nämlich den der physischen Materie und der performativen Kommunikation – von Authentizität aufzeigt. Die Anwendung dieses neugewonnenen Authentizitätsver­ ständnisses auf den Gegensatz von medialer und nichtmedialer Wirk­ lichkeit (vgl. 3.4) eröffnet schließlich den notwendigen folgenden Arbeitsschritt in Kapitel 4, welcher beinhaltet, das »Hier und Jetzt« jener physischen Materie von Authentizität vertiefend zu bestimmen.

3.1 Annäherung und Begriffsbestimmung Es gibt kaum eine existentiellere Frage als die nach der Wahrheit. Was als richtig, gültig und echt gilt, gibt Orientierung und beeinflusst existentielle Lebensentscheidungen. Die Sehnsucht nach Echtheit, Ehrlichkeit und Eigentlichkeit kumuliert in dem, was unter »Kult des

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3. Authentizität als Gegenentwurf zur Medialität

Authentischen«125 oder »Zauberwort der Gegenwart«126 diskutiert wird. Jenes Authentizitätsbedürfnis manifestiert sich in einer histo­ risch einmaligen interdisziplinären Präsenz, wobei die Bedeutungen im Detail stark variieren und die unterschiedlichen Anwendungsge­ biete sich nach Belieben an der reichhaltigen Bedeutungsvarianz des Authentizitätsbegriffs bedienen. Im wirtschaftlichen Kontext verspricht Authentizität als eine Form des Produktbrandings, im Sinne einer bewussten Eigenschaftszuschreibung, dem Kunden ein wahrhaftiges, unverfälschtes sowie originales Erzeugnis und dem Unternehmen folglich einen höheren Gewinn.127 Ein im Marketing tätiger Kreativchef betont: »Unsere Auftraggeber wünschen sich am allermeisten Authentizität«128. Im Bereich der Schauspielerei wird auf »theatralische Authenti­ zität«129 gesetzt. Sie soll die Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit und dem Theater durch »die echte Empfindung echter Gefühle«130 überbrücken. Die Fotografie kämpft hingegen mit einem Authenti­ zitätsproblem in Bezug auf die Ablichtung makelloser Gesichter. Der Mangel an Unvollkommenem brachte den Fotografen Peter Lindbergh dazu, im Pirelli Kalender aus dem Jahr 2017 ausschließ­ lich ungeschminkte Gesichter, anstatt unbekleidete, vermeintlich perfekte Körper, zu fotografieren.131 Ebenfalls ungebrochen stark ist das Bedürfnis nach Authentizität im Gebiet der Politik. Dazu werden Kommunikationsberater und -trainer angestellt, die helfen

125 Bolz, Norbert, »Der Kult des Authentischen im Zeitalter der Fälschung«, in: AnneKathrin Reulecke (Hg.), Fälschungen. Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten, Frankfurt am Main 2006, 408–410, hier: 416. 126 Sabrow, Martin/Saupe, Achim, »Historische Authentizität. zur Kartierung eines Forschungsfeldes«, in: Dies. (Hg.) Historische Authentizität, Göttingen 2016, 7–28, hier: 7. 127 Vgl. Knaller, Susanne, »Original, Kopie, Fälschung. Authentizität als Paradoxie der Moderne«, in: Martin Sabrow, Achim Saupe (Hg.) Historische Authentizität, Göttingen 2016, 44–61, hier: 44. 128 Schnabel, Ulrich, »Mein wahres Gesicht. Heute ist das Echte, Authentische gefragt. Doch was ist das? Und wie findet man es?«, in: Die Zeit 34 (2014) [https://w ww.zeit.de/2014/34/authentizitaet-persoenlichkeit-wahres-gesichtutm_referrer=h ttps%3A%2F%2Fwww.google.com%2F] Abgerufen am 20.10.2022. 129 Schlich, Jutta, Literarische Authentizität. Prinzip und Geschichte, Tübingen 2002, 3. 130 Ebd. 131 Vgl. Violetta, Simon, »Pirelli-Kalender 2017. Die ungeschminkte Nacktheit«, 2016 [http://www.sueddeutsche.de/stil/pirelli-kalender-die-ungeschminkte-nackt heit-1.3273094] Abgerufen am 20.10.2022.

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3.1 Annäherung und Begriffsbestimmung

sollen, nicht etwa naiv-ehrlich, sondern selektiv den Ausdruck von Authentizität zu vermitteln.132 Darüber hinaus steht auch für die Touristik die Erfahrung von Originalität und Unmittelbarkeit, verstanden als Bedürfnisstillung nach authentischen Erfahrungen, im Zentrum.133 Infolgedessen ist es kein Zufall, dass der Taj Mahal in einem Prospekt des Reiseveran­ stalters Kuoni mit den Worten »[d]er Blick auf ein großes Zeugnis der Zeit. Wunder in Stein, Holz, Metall. Mit kleinen Schritten, überwältigt, kommen wir näher«134 beworben wird. Ziel ist es, den interessierten Leser auf die Echtheit, Ursprünglichkeit und Origina­ lität des Zeugnisses für die indo-islamische Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts zu verweisen. Die Beschreibung der Werkstoffe iden­ tifiziert die sinnlich wahrnehmbare Materialität des Beweises für die Existenz der vergangenen Kultur und stellt dem Reiseinteressierten eine authentische Erfahrung von Vergangenem in Aussicht.135 Von einem ähnlichen Authentizitätsverständnis scheint hinge­ gen die Unterhaltungsindustrie auszugehen, wenn sie medial ver­ mittelt mit Reality-Shows, Doku-Soaps, Big-Brother-Formaten oder Kinofilmen wirbt, die auf vermeintlich wahren Geschichten beruhen. Die Prämisse hinter jenen Bemühungen liegt darin, dass es durch Steigerung echter, unmittelbarer und originaler Erlebnisse zu einer höheren Einschaltquote kommt. Ein verändertes Echtheitsbedürfnis wird hingegeben auch von Literaturrezipienten eingefordert. So spricht die ZEIT-Autorin Juli Zeh bezüglich jenem Authentizitätsbe­ dürfnis ein vernichtendes Urteil aus: Sie beklagt in ihrem Artikel »Zur Hölle mit der Authentizität!« diesen Umgang mit Texten. Nach ihrer Analyse werden diese von den Lesern einem Indizienprozess unter­ zogen und detailgenau auf faktische Fehler zwischen dem Geschrie­ benen und der Realität untersucht, wohingegen literarische Kriterien wie Dramaturgie, Sprache oder Darstellungsformen in diesem Pro­ zess der Literaturbewertung vollständig ignoriert werden. Ein Vorge­ hen, das die Autorin mit dem Begriff »Echtheitswahn«136. tituliert und

Vgl. Schnabel, »Mein wahres Gesicht«. Vgl. Schäfer, Robert, Tourismus und Authentizität. Zur gesellschaftlichen Organisa­ tion von Außeralltäglichkeit, Bielefeld 2015, 45. 134 Ebd. 87. 135 Vgl. ebd. 89. 136 Zeh, Juli, »Zur Hölle mit der Authentizität!«, in: Die Zeit 39 (2006) [https://w ww.zeit.de/2006/39/L-Literatur] Abgerufen am 23.10.2022. 132

133

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3. Authentizität als Gegenentwurf zur Medialität

damit das aktuelle Literaturverständnis infrage stellt.137 Ähnlich ver­ nichtend titelt die Süddeutsche Zeitung vom 3. April 2015: »Ohne Maske. Für Topmanager ist authentisches Auftreten heute wichtiger als Fachkompetenz oder Belastbarkeit. Doch wie erreicht man das?«. Der Text beschreibt die Spannung zwischen dem großen Bedürfnis nach authentischen Führungspersönlichkeiten und der Schwierigkeit, diese Eigenschaft herzustellen oder überhaupt zu benennen. Als erste Bestandsaufnahme kann folglich für den vorliegenden Zusammenhang festgehalten werden, dass ein starkes Bedürfnis nach authentischer Erfahrung, authentischen Personen, authentischen Gegenständen und authentischen Produkten – also ganz allgemein nach Authentizität – vorhanden ist. Gleichzeitig wird aufgrund seiner interdisziplinären Verwendung sein oszillierender und uneindeutiger Charakters offenbar, welcher eine inhaltliche Abgrenzung erschwert. Somit ist das Spannungsfeld zwischen Trendbegriff und Definitions­ problematik hinsichtlich der festgelegten Fragestellung ausgemacht und bedarf folglich einer Konkretisierung. Wie vorangehend aufzeigt, ist die Verwendung des Authentizi­ tätsbegriffs aktuell in verschiedensten Bereichen anzutreffen. Diese zeigen – trotz aller großen Unterschiedlichkeit – eine fundamentale Gemeinsamkeit: Alle zuvor erwähnten Authentizitätsbegriffe weisen eine grundlegend positive Konnotation von Authentizität auf. Dies überrascht nicht, wenn die für Authentizität vom Dudenverlag ange­ gebenen Synonyme betrachtet werden: »Echtheit, Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit«138 zeigen alle in den Bereich der Wahrheit, welcher (intuitiv) als begehrenswert erscheint. Des Weiteren unterscheidet das Duden-Fremdwörterbuch zwischen »authentifizieren« (beglaubigen, Echtheit verbürgen), »authentisieren« (glaubwürdig, rechtsgültig machen) und allgemein »Authentizität« (Echtheit, Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit).139 Die Kulturwissenschaftler Wolfgang Funk und Lucia Krämer fassen die Erwartungen an den Begriff wie folgt zusammen: » [...] bestimmendes Merkmal der Authentizität [ist] – zumindest im zeitgenössischen Verständnis – der unmittelbare und unvermit­ telte Ausdruck eines wie auch immer gearteten, unveräußerlichen (im strikt wörtlichen Sinn) Wesensgehalt (einer Sache bzw. eines 137 138 139

Vgl. ebd. Dudenredaktion (Hg.), Duden. Das Fremdwörterbuch. Mannheim 102010, 129. Vgl. ebd.

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3.1 Annäherung und Begriffsbestimmung

Menschen) [...], ein Kerninneres, das seine ästhetische wie ethische Überzeugungskraft eben daraus bezieht, dass es sich weder explizieren noch instrumentalisieren lässt.«140

Folglich steht eine Person, der Authentizität zugesprochen wird, für jemanden, der sich seiner Stärken und Schwächen bewusst ist, nach autonom gesetzten Prioritäten lebt und selbst im Falle negativer Fol­ gen sich selbst treu bleibt. Ein Gegenstand, dem nachgesagt wird, dass er authentisch ist, steht hingegen für ein Objekt, das echt, original und einmalig ist.141 Gerade weil die Vorstellung von Eigentlichkeit, Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit gesellschaftlich bedingt, kommunikativ generiert und innerhalb von Machtbeziehungen verhandelt wird, erscheint Authentizität aktuell als ein Schlüsselbegriff der Gegenwart, dessen Bedeutungsentwick­ lung sich bereits vorab andeutete:142 »Ob in der ›Unmittelbarkeit‹ des Sensualismus, in der ›Natürlich­ keit‹ der Empfindsamkeit, in der ›Ursprünglichkeit‹ der Romantik, im ›Wesen‹ des deutschen Idealismus, im ›Leben‹ der Lebensphilo­ sophie – spätestens seit dem 18. Jahrhundert ist Authentizität ein geheimer Leitstern des kritischen Diskurses.«143 140 Funk, Wolfgang/Krämer, Lucia, Fiktionen von Wirklichkeit. Authentizität zwi­ schen Materialität und Konstruktion, Bielefeld 2011, 8. 141 Vgl. Paganini, Claudia, »Authentizität als Schlüssel zu einer zeitgemäßen Inter­ netethik?«, in: Martin Emmer Martin u.a. (Hg.) Echtheit, Wahrheit, Ehrlichkeit: Authentizität in der Online-Kommunikation, Basel 2013, hier: 51f. 142 Vgl. Rössner, Michael/Uhl, Heidemarie, »Vorwort«, in: Dies. (Hg.), Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, Bielefeld 2012, 9–14, 9f. 143 Schlich, Literarische Authentizität, I. Bezüglich der Wirkmacht von Authentizität im kritischen Diskurs hat der Moraltheologe Jochen Sautermeister in seiner Disser­ tation jenseits seines eigentlichen Forschungsziels eindrücklich deutlich gemacht, wie fruchtbar der Terminus gerade in poststrukturalistischen Ethikkonzepten der Moderne Anwendung gefunden hat (vgl. Sautermeister, Jochen, Identität und Authen­ tizität. Studien zur normativen Logik personaler Orientierung, Freiburg-Wien 2013, 33). In seiner Arbeit werden – ganz im Sinne seines originären Anliegens – »mora­ lisch zu würdigende Implikationen herausgearbeitet […], die das Bemühen um Authentizität im individuellen Lebensvollzug als eine Grundfrage heutiger Ethik zu betrachten erlauben« (ebd. 307). Diese These unterstreicht er, indem er – wie obig erwähnt – anhand verschiedener poststrukturalistischer Ethikkonzepte das Potential von Authentizität hinsichtlich der personalen Identität verdeutlicht. Durch die Einbettung dieses Potentials in einen theologischen Sinnhorizont anhand der Schriften von u.a. Klaus Demmer, Josef Römelt und Eberhard Schockenhoff formuliert Sautermeister einen identitätstheoretisch-personalen Ansatz theologischer Ethik,

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3. Authentizität als Gegenentwurf zur Medialität

Selbst mit einem nur oberflächlichen Blick auf die verfügbare Authen­ tizitätsliteratur wird deutlich, wie stark die Kunstwissenschaft den Authentizitätsdiskurs in den letzten zwei Jahrhunderten geprägt hat. Historisch betrachtet, kam der Begriff zuerst bei der Arbeit von Geistlichen und Rechtsanwälten entscheidend zum Tragen. Abgeleitet von seinem semantischen Ursprung des griechischen »authentés«, was mit »Herr«, »Gewalthaber« oder »Urheber« zu übersetzen ist, stand Authentizität durch die Lateinisierung zu »authenticus« von Anfang an in direkter Verbindung mit normativer Autorität.144 Diese Zuschreibung von Authentizität durch eine Autorität manifestierte sich beispielsweise an der Echtheitsverbürgung von Reliquien durch einen Geistlichen mit dem päpstlichen Gnadenerweis des »facultas authenticandi«145 oder in der Jurisprudenz, in der Handschriften als ein Original mit der Bewertung »authenticum«146 versehen wurden. Eine solche, nach rechtlichen Merkmalen als authentisch bewertete, Handschrift konnte folglich als Beweis einer gerichtlichen Prüfung standhalten.147 Die Verbindung von Schrift und Macht im Begriff des Autors als Urheber spiegelte sich ebenso in dem mittelalterlichen Prinzip authentischer Siegel wieder, die genutzt wurden, um einen autori­ tativen und somit normativen Geltungsanspruch zu postulieren. Die Wichtigkeit, einem Text zweifellos einen Autor zuzuordnen, findet sich beispielsweise in der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts wieder, in dem nur in der sicheren Autorenzuordnung das Produkt der »die Autonomie des Menschen und dessen moralische Verantwortung in der je eigenen Entwicklungsgeschichte und Biografie in den Blick [nimmt], so dass sich ein graduelles Verständnis von praktischer Freiheit ergibt, das an der Identität des Einzelnen Maß nimmt.« (ebd. ebd. 308). Bezüglich der Perspektive der christlichen Heilszusage hält Sautermeister fest, dass diese nicht verallgemeinernd-abstrakt, sondern biografisch-konkret zu verstehen und somit auch in allen damit verbundenen ethischen Fragen entsprechend zu würdigen ist (vgl. ebd. 309). Konkret hält er diesbezüglich zum Ende seiner Ausführungen fest: »Ihn [den Handlungsakteur] in seiner moralisch-sittlichen Kompetenz zu fördern, gelingt aber nur, wenn er in seinen je gegeben Fähigkeiten und biografischen Möglichkeiten erfasst und normativ gewür­ digt wird« (ebd. 315). Somit steht das theoretisch-mögliche, souveräne moralische Subjekt nicht am Anfang, sondern am Ende ethischer Reflexion über authentische sittliche Praxis. Sautermeisters metaethische Überlegungen hinsichtlich Identität und Authentizität sind für die vorliegende Argumentation nicht weiter relevant. 144 Vgl. Schlich, Literarische Authentizität, 13. 145 Ebd. 146 Ebd. 147 Vgl. ebd.

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3.1 Annäherung und Begriffsbestimmung

die Wertung Original erhalten konnte. In einer solchen Authentifizie­ rung entsteht durch die Zuordnung zum Textschöpfer der normative Anspruch der Aufrichtigkeit. Dieser Anspruch wird noch heute in den Rechtswissenschaften in Bezug auf Zeugenaussagen gestellt. Dort gilt eine Aussage nur als authentisch, wenn die Aussage täti­ gende Person als glaubhaft, echt und wahrhaftig erscheint. Autorität wird authentischen Aussagen automatisch zugeschrieben und die Anerkennung der Authentizität ist somit ein Zugeständnis an die Macht der dahinterstehenden Autorität.148 Authentizität kann somit als autoritativer und normativer Begriff im Sinne einer »verbürgten Macht«149 verstanden werden. Wie die Kulturwissenschaftlerin Susanne Knaller detailliert nachgewiesen hat, transportierte der Begriff sprachlich bis in die Moderne selbst in Bezug auf Personen nahezu ausschließlich jenen aufgezeigten Anspruch von autoritativer Normativität. Zum Anbruch der Moderne kam der ästhetische Einfluss durch Kunst und Litera­ tur zum ersten Mal durch den Anspruch der französisch geprägten Ideale von unter anderem »sincère«, »juste«, »naturel« und »vrai« zum Tragen. Die normative Zuschreibung des Authentizitätsbegriffs ging aber nicht verloren, sondern wurde durch die Hinwendung zur Ästhetik erweitert.150 Eine Möglichkeit, Authentizität und Ästhetik in ein produktives Verhältnis zu setzen, ist Walter Benjamins Erar­ beitung des Begriffs der Aura. Dieser wird im folgenden Kapitel näher beleuchtet und wird für die weiterführende Argumentation entscheidend sein.

148 Vgl. Zeller, Christoph, Ästhetik des Authentischen. Literatur und Kunst um 1970, Göttingen 2010, 5f. Als ein weiteres Beispiel sei der zirkuläre Authentifikationspro­ zess der Heiligen Schrift genannt: Der Materialität des Textes wird Authentizität durch die Konstruktion des Glaubens zugeschrieben (vgl. Stimpfle, Alois, »›Ich habe den Herrn gesehen‹ (Joh 20,18) – Zur Authentizität biblischer Wirklichkeitskonstruktion am Beispiel der Auferweckung Jesu«, in: Wolfgang Funk/Lucia Krämer (Hg.), Fiktion von Wirklichkeit. Authentizität zwischen Materialität und Konstruktion, Bielefeld 2011, 157–178, hier: 163f.). Die Problematik jenes Authentizitätsverständnisses wurde zur Zeit der Reformation deutlich, als ein Teil der zirkulären Begründungskette in Form der kollektiven Autorität (Kirche) angezweifelt wurde (ebd. 163f.). 149 Ebd. 163. 150 Vgl. Knaller, Susanne, »Genealogie des ästhetischen Authentizitätsbegriffs«, in: Dies./Harro Müller (Hg.), Authentizität. Diskussion eines Ästhetischen Begriffs, München 2006, 17–35, hier: 18f.

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3. Authentizität als Gegenentwurf zur Medialität

3.2 Echtheit, Aura und Authentizität Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts manifestiert sich eine große Sehnsucht nach dem Reinen und Ursprünglichen. Infolgedessen wurde der Begriff der Authentizität zum Leitbegriff der Moderne.151 151 Als Beispiele für die anhaltende Popularität und potentielle Deutungskraft des Authentizitätsbegriffs sei auf die Arbeiten des kanadischen Philosophen Charles Taylor und seines italienischen Kollegen Alessandro Ferrara verwiesen. Als einer der jüngsten Beiträge zur Authentizität sieht Ferrara den Begriff als den Schlüssel, um zwischen dem spannungsgeladenen Verhältnis der postmodernen Ablehnung von normativem Universalismus und der gleichzeitigen Sehnsucht nach Klarheit zu vermitteln (vgl. Ferrara, Alessandro, Reflective Authenticity. Rethinking the Project of Modernity, New York 1998). Ferrara, ein Schüler Habermas’, kombiniert Aristoteles Klugheitslehre »phronêsis« (vgl. ebd. 22f), Immanuel Kants »Ästhetische Urteils­ kraft« (vgl. ebd. 37f.) und Georg Simmels »Individuelle Gesetz« (vgl. ebd. 50f.). Aus dieser Kombination erarbeitet er vier Dimensionen »postmoderner Eudaimonie« (ebd. 71), die fortan das theoretische Herzstück seiner Philosphie bilden. Diese vier Dimensionen lauten »Kohärenz« (ebd. 112f), »Vitalität« (ebd. 118f), »Tiefe« (ebd. 121f) und »Reife« (ebd. 123f.). Anschließend wendet er diese vier Dimensionen auf verschiedene Beispiele von kollektiven Identitäten an. Kollektive Identität bes­ timmt er wie folgt: »Collective identities, just like individual identities, are basically representations or symbolic constructs.« (ebd. 108). Folglich ist eine authentische Identität für Ferrara eine konstruierte Identität. Seine vier Dimensionen fungieren somit als eine Art Leitfaden für die kritische Reflexion hinsichtlich der Konstruie­ rung einer so verstandenen guten bzw. authentischen Identität (vgl. 127f.). Seiner Konzeption folgend leiten die Dimensionen zu einer postmodernen Konzeption des gelingenden Lebens und erfüllen – in diesem Sinne – authentische Identität (vgl. ebd. 126). Ferraras Verständnis von Authentitzität ist somit genuin performativ. Es geht ihm hinsichtlich der Frage nach einer authentischen Identität exklusiv um die Behauptung – nicht universale Begründung – von Wertigkeit (vgl. 162f.) und er positioniert sich diesbezüglich – ganz im Sinne des Postmodernismus – gegen naturhafte bzw. substanzhafte Implikationen (z.B. vgl. ebd. 76). Charles Taylor, der die mit Abstand umfassendste Authentizitätskonzeption vorgelegt hat, diagnostiziert hingegen die Entfaltung eines moralischen Ideals von Authentizität ausgehend von Rousseau und Herders Überlegungen ab dem 18. Jahrhundert in der Moderne. Das Ideal der Authentizität heißt nach Taylor sich selbst treu zu sein, was »nichts anderes [bedeutet] als: der eigenen Originalität treu sein, und diese ist etwas, was nur ich selbst artikulieren und ausfindig machen kann. Indem ich sie artikuliere, definiere ich zugleich mich selbst.« (Taylor, Charles, Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt am Main 82014, 39). Nach Taylor prägt jene Ethik der Authentizität die Breite der westlichen Gesellschaft mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges (vgl. Taylor, Charles, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt am Main 22020, 792). Er stellt klar, dass die Kritiker schon das vorgebliche passivistische und narzisstische Modell des inneren Kerns falsch verstanden haben, da diese Authentizität mit Egoismus und Relativismus assoziieren (vgl. ebd. 797). Ein so verstandenes Ethos kritisiert auch Taylor, da

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3.2 Echtheit, Aura und Authentizität

Im Jahre 1935 macht der deutsche Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin mit dem Begriff der Aura auf die Folgen technischer Reproduzierbarkeit aufmerksam. Seine Arbeit steht damit am Anfang einer großen Sehnsuchtsbewegung nach der Überwindung von Unge­ wissheit und Entfremdung.152 Benjamins Kunstwerkaufsatz gehört heute zu seinen berühmtesten sowie meistrezipierten Arbeiten und bietet trotz seiner prädigitalen Entstehungszeit (1935–1939) Einsich­ ten, die für die technischen Entwicklungen der digitalen Mediatisie­ rung (vgl. Kapitel 2.2.2) aufschlussreich sind. Zwar können seit der Antike Kunstwerke mit der Technik der Fotografie technisch reproduziert werden, jedoch kommt es laut Ben­ jamin zum »ersten wirklich revolutionären Reproduktionsmittel«153 überhaupt und somit zu einem Paradigmenwechsel: »Mit der Photographie war die Hand im Prozeß bildlicher Reproduk­ tion zum ersten Mal von den wichtigsten künstlerischen Obliegenhei­ durch eine solche Selbstobjektivierung das Selbst sich letztlich hindert, praktische Orientierung zu finden (vgl. ebd.). Vielmehr muss das Authentische und damit eine sinnvolle Selbstdefinition nach Taylor vor einem »Horizont, vor dem die Dinge für uns Bedeutsamkeit gewinnen« (Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, 47) entstehen. Ein solcher Horizont meint, dass Sinn nicht einfach zugeschrieben wird, weil es beliebig gefühlt wird, sondern weil dieser Sinn nachvollziehbar in Bezug auf die eigene oder gesellschaftliche Geschichte und Kultur begründet werden muss (vgl.ebd. 46f): »Ich kann nicht einfach beschließen, daß die bedeutungsvollste Handlung darin besteht, in warmem Schlamm mit den Zehen zu wakkeln« (ebd.). Authentizität im Sinne einer nichttrivialen Identität setzt somit horizontbezogene Forderungen des eigene Selbst voraus (vgl. ebd. 51). Ein so verstandenes Authentizitätsverständnis widersetzt sich der Gefahr eines postmodernen Relativismus und kann nach Taylor zum Verständnis der Entwicklung und der drängendsten gesellschaftlichen Probleme der Moderne bei­ tragen. Taylor positioniert sich gegenüber dem Individualismus der Moderne kritisch, aber nicht kulturpessimistisch. Da es im vorliegenden Kapitel darum geht, mithilfe des Authentizitätsbegriffs den grundsätzlichen Unterschied zwischen medialer und nichtmedialer Wirklichkeit zu verstehen, sind jene Gesellschaftsdeutungen von Taylor und Ferrara nicht unmittelbar relevant, zeigen aber nochmals eindrücklich, wie universal anwendbar und wirkmächtig das Deutungspotential des hier titelgebenden Terminus ist. Auffällig ist auch, dass bei keiner von beiden Authentizitätskonzepten Leiblichkeit eine (zentrale) Rolle spielt. 152 Vgl. Lindner, Burkhardt, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro­ duzierbarkeit«, in: Ders. (Hg.), Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2011, 229–584, hier: 229. 153 Benjamin, Walter, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier­ barkeit. Dritte Fassung«, in: Ders., Walter Benjamin – Gesammelte Schriften, Bd. I, Teil 2, herausgegeben von Rolf Tiedemann, Rolf/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1980, 471–508, hier: 481.

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3. Authentizität als Gegenentwurf zur Medialität

ten entlastet, welche nunmehr dem ins Objektiv blickenden Auge allein zufielen. Da das Auge schneller erfaßt, als die Hand zeichnet, so wurde der Prozeß bildlicher Reproduktion so ungeheuer beschleunigt, daß er mit dem Sprechen Schritt halten konnte. Der Filmoperateur fixiert im Atelier kurbelnd die Bilder mit der gleichen Schnelligkeit, mit der der Darsteller spricht.«154

Seine Prämisse ist also, dass sich in großen historischen Abständen der gesamtmenschliche Seinszustand und damit auch die Art und Weise seiner Wahrnehmung verändert.155 Explizit greifbar wird diese Veränderung an der Analyse des Kunstwerkes, welches als Schnitt­ stelle zwischen Reproduzierbarkeit und tradierter Echtheit fungiert. Laut Benjamin ist selbst die perfekte Reproduktion bezüglich der Nachahmung der Echtheit eines Kunstwerkes inhärent defizitär. Die Echtheit ist untrennbar mit dem »Hier und Jetzt des Kunstwerks«156 verbunden. Benjamin konkretisiert: »[…] das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet. An diesem einmaligen Dasein aber und an nichts sonst vollzog sich die Geschichte, der es im Laufe seines Bestehens unterworfen gewesen ist. Dahin rechnen sowohl die Veränderungen, die es im Laufe der Zeit in seiner physischen Struktur erlitten hat, wie die wechselnden Besitzverhältnisse, in die es eingetreten sein mag.«157

Das »Hier und Jetzt«, also die raumzeitlichen Eigenschaften der phy­ sischen Materie konstituiert folglich die originale Echtheit des Kunst­ werkes. Weiter betont er, dass technische Untersuchungsmethoden an der physischen Materie, wie etwa die Analyse einer Handschrift oder Legierung, durchaus nähere Informationen über die Entstehung eines Kunstwerk zutage bringen können, aber eben der »gesamte Bereich der Echtheit […] sich der technischen – und natürlich nicht nur der technischen – Reproduzierbarkeit«158 entzieht. Im Falle der manuellen Reproduktion, wie zum Beispiel der händischen Imitation eines Gemäldes, behält das originale Kunstwerk seine vollständige Autorität der Echtheit, da die manuell reproduzierten Entitäten als Fälschungen diskreditiert werden. Anders ist dies laut Benjamin 154 155 156 157 158

Ebd. 474f. Vgl. ebd. 478f. Ebd. 475. Ebd. 475f. Ebd. 476.

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3.2 Echtheit, Aura und Authentizität

im Fall der technischen Reproduktion: Jene Imitationen sind im Gegensatz zu dem Original selbstständiger, da technische Ansichten hervorgehoben werden können, welche am Originalwerk mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind und sind darüber hinaus mobiler, da sie nicht ausschließlich im »Hier und Jetzt« rezipiert werden können, sondern, wie im Falle eines mit Tonband aufgenommenen Liveauf­ tritts, potentiell überall konsumiert werden können.159 Durch diese Vorteile bezüglich der Rezeption, im Sinne der erhöhten Selbststän­ digkeit und Mobilität, kommt es zur Entwertung des »Hier und Jetzt« und zur Verletzung der Echtheit des Kunstwerkes:160 »Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. Da die letztere auf der ersteren fundiert ist, so gerät in der Reproduktion, wo die erstere sich dem Menschen entzogen hat, auch die letztere: die geschichtliche Zeugenschaft der Sache ins Wanken. Freilich nur diese; was aber dergestalt ins Wanken gerät, das ist die Autorität der Sache.«161

Diesen autoritären Anspruch der Echtheit, welcher durch die physi­ sche Materie162 des »Hier und Jetzt« des Kunstwerkes konstituiert wird, kumuliert bei Benjamin in dem Begriff der »Aura«163. Gleichzei­ tig ist die physische Originalgestalt des Kunstwerkes aber auch nicht mit seiner Echtheit gleichzusetzen. Sie ist für die Bestimmung der Echtheit notwendig, aber nicht hinreichend. Somit ist die Definition von Echtheit – ähnlich wie das Kunstwerk selbst – historischem Wandel unterworfen.164 Benjamin spricht in diesem Zusammenhang Vgl. ebd. 476f. Vgl. ebd. 477. 161 Ebd. 162 In Anlehnung an Benjamins Formulierung von »materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft« (ebd.) wird folgend von Materie (des »Hier und Jetzt«) gesprochen. Der Materiebegriff ist seit Seneca in Verbundenheit mit dem Begriff der »Substanz« Teil eines höchst komplexen Deutungsdiskurses (vgl. Halfwassen, Jens, »Substanz I. Transzendenz. Transzendieren I«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 10 (1999), 495–507). Da Benjamin keine Systematik in Bezug auf den Substanz- bzw. Materiebegriff legt, wird die Debatte insofern berücksichtigt, als das bis zur Thematisierung der thomanischen Substanzontologie in Kapitel 4.3.1 der Sub­ stanzbegriff bewusst gemieden und erst anschließend hinsichtlich der Bestimmung des menschlichen »Hier und Jetzt« angewendet wird. 163 Ebd. 164 Vgl. Lindner, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­ keit«, 236f. 159

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3. Authentizität als Gegenentwurf zur Medialität

davon, dass ein mittelalterliches Madonnenbild bei der Entstehung noch nicht echt gewesen sei, sondern dies erst geworden ist.165 Es handelt sich beim Begriff der Echtheit nach Benjamins Definition also nicht um eine wahrnehmungstheoretische, sondern um eine dis­ kurstheoretische Kategorie, dessen Echtheitsanspruch an die originale Materie gebunden ist. Diesem Gedankengang folgend haben die oben genannten physikalischen Analysen zwar die Anzahl der »echten« Rembrandts reduziert, nicht aber die der religiösen Reliquien. Und dies aus dem Grund, weil jeweils unterschiedliche Echtheitskonzepte angewendet werden (manuelle vs. technische Reproduktion). Jene gleichzeitige Offenheit und Widersprüchlichkeit des Echtheitsbegriffs führt Benjamin zu der neuen und explizit wahrnehmungstheoreti­ schen Kategorie des bereits genannten Begriffs der Aura.166 Benjamin macht den Begriff der Aura in Bezug auf das Geschichtliche an der Aura von natürlichen Gegenständen deutlich und definiert ihn als »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.«167 Aura ist demnach ein durch Unnahbarkeit definiertes atmosphä­ risches Wahrnehmungsgeschehen, das seine Wirksamkeit durch das paradoxe Zusammenspiel von Entzug und Präsenz einerseits sowie Unantastbarkeit und Berührtheit andererseits entfaltet.168 Inspiriert von Rainer Maria Rilkes Gedicht »Spaziergang«169 setzt Benjamin seine Auradefinition folgendermaßen fort:

165 Vgl. Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­ keit«, 476. 166 Vgl. Lindner, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­ keit«, 236f. 167 Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­ keit«, 479. 168 Vgl. Lindner, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­ keit«, 237. 169 Rainer Maria Rilke formulierte als eine seiner letzten Gedichte: »Schon ist mein Blick am Hügel, dem besonnten, // dem Wege, den ich kaum begann, voran. // So faßt uns das, was wir nicht fassen konnten, // voller Erscheinung, aus der Ferne an – // und wandelt uns, auch wenn wirs nicht erreichen, // in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind; // ein Zeichen weht, erwidernd unserm Zeichen… // Wir aber spüren nur den Gegenwind.« (Rilke, Rainer Maria, »Spaziergang« [http://picture-poems.co m/week6/spaziergang.html] Abgerufen am 20.10.2022).

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3.2 Echtheit, Aura und Authentizität

»An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Hori­ zont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.«170

In der Erfahrung der Aura ist die Ferne von Raum und Zeit im »Hier und Jetzt« präsent. Benjamins referenzierter Spaziergang steht somit nicht für eine naturästhetische Erfahrung, sondern zeigt – in Bezug auf die geschichtliche Aura – die Überschreitung und somit Erfahrung der raum-zeitlichen Entfernung des Ritus.171 Vertiefend spricht Benjamin als Beispiel für kultische Ausprägung der Aura von einer antiken Venusstatur, die erst von den Griechen verehrt und dann von mittelalterlichen Mönchen dämonisiert wurde. Trotz der unterschiedlichen Bewertungen erkannten beide Rezipienten ihre Einbettung in den Traditionszusammenhang – und somit ihre Echt­ heit oder anders gesagt: ihre Aura. Ritus oder der Kult kann folglich als sinnhafte Kommunikation mit der originalen Materie des Kunstwerks verstanden werden. Die ursprüngliche Funktion des in Tradition eingebetteten Kunstwerkes liegt also im Kult und damit ist die Aura­ erfahrung grundsätzlich rituell fundiert.172 Mit anderen Worten: »Der einzigartige Wert des ›echten‹ Kunstwerks hat seine Fundie­ rung im Ritual, in dem es seinen originären und ersten Gebrauchs­ wert hatte.«173

Im »Hier und Jetzt« des Kunstwerkes erscheint also die unnahbare Ferne des tradierten Kultes, welche im Ritual fundiert ist, die Echtheit darstellt und somit als Aura erfahrbar ist. Die Aura verbindet somit 170 Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­ keit«, 479. 171 Vgl. Lindner, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­ keit«, 237. 172 Vgl. Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­ keit«, 480. Auf das hier auftretende Problem macht der Literaturwissenschaftler Burk­ hard Lindner aufmerksam: Obwohl laut Benjamin die Auraerfahrung grundsätzlich rituell fundiert ist, nutzt er die Beschreibung eines einzigartigen Naturerlebnisses als Beispiel für Aura. Dies macht seine begriffliche Unschärfe deutlich: Er vermischt die Definition von Aura der natürlichen Gegenstände mit der Aura des Kunstwerkes (vgl. Lindner, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, 238). Jene Problematik ist für den hier vorliegenden Gedankengang bezüglich Nichtmedia­ lität und Medialität zwar nicht relevant, soll aber trotzdem erwähnt sein, um auf die Unschärfe des Aurabegriffs und die gezogene Konsequenz in Bezug auf die Nutzung des Begriffs in der folgenden (eigenen) Argumentation aufmerksam zu machen. 173 Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­ keit«, 480.

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3. Authentizität als Gegenentwurf zur Medialität

das »Hier und Jetzt« des Kunstwerkes mit seinem rituellen Ursprung im Kult und zeigt so seinen einzigartigen Wert. Mit diesem formuliert Benjamin die Kernaussage seines Aufsatzes: »[…] was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunst­ werks verkümmert, das ist seine Aura. Der Vorgang ist symptoma­ tisch; seine Bedeutung weist über den Bereich der Kunst hinaus. Die Reproduktionstechnik, so ließe sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises.«174

Laut Benjamin kommt es folglich durch die Möglichkeiten der tech­ nischen Reproduktion zu einem Paradigmenwechsel, welcher dazu führt, dass die Aura zertrümmert wird, was bedeutet, dass es zu einer »gewaltigen Erschütterung des Tradierten«175 durch die »Liquidierung des Traditionswerkes am Kulturerbe«176 kommt. Dies hat die bereits angesprochene Veränderung der Sinneswahrnehmung zur Folge: »Die Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle, die Zertrümme­ rung der Aura, ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren »Sinn für das Gleichartige in der Welt« so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt.«177

Der »Sinn für das Gleichartige in der Welt« definiert die gewandelte Wahrnehmung des Subjekts insofern, dass es dieses nun auch vom einzigartigen Kunstwerk verlangt. Diesem Verlangen der Echtheit habhaft zu werden, mündet folglich in der massenhaften Reproduk­ tion, welches schlussendlich jene Echtheit entwertet. Somit kollidiert der Wunsch, jener »einmalige[n] Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«178, unmittelbar zu begegnen, mit der Unmöglichkeit, die Aura sozusagen ohne Zertrümmerung zu reproduzieren. Unmöglich ist die Reproduzierung der Aura, da diese an das »Hier und Jetzt« gebunden ist, nur Urbild ist und daher kein Abbild hat. Das vollzogene Kunstwerk des Schauspielers auf der Bühne ist in seiner Einzigartigkeit nicht reproduzierbar. Durch die Entwertung des »Hier und Jetzt« und damit der Einzigkeit wird das Kunstwerk aus 174 175 176 177 178

Ebd. 477. Ebd. 479. Ebd. 480. Ebd. 479f. Ebd. 479.

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3.2 Echtheit, Aura und Authentizität

seiner originären Verortung des Rituals gerissen.179 Erst im Prozess jener Verkümmerung ist für Benjamin die Aura kategorial greifbar.180 Infolge dieses Prozesses büßt das Kunstwerk inhärente Eigenschaften ein und es kommt zu einer Verschiebung seiner Funktionsfundierung weg von der des Kultus hin zu jener der Politik.181 Von der Umwälzung der Funktion der Kunst deutet Benjamin dann das Verhältnis von Aura und Gesellschaftsentwicklung.182 Wichtig zu beachten ist, dass Benjamin von Authentizität direkt nur in einer Fußnote spricht. Für ihn beschreibt Authentizität die Zuschreibung des Echtheitswerts, ist aber mit dem umfassenden Begriff der Echtheit nicht identisch, sondern lediglich ein Aspekt des­ sen. Im Falle der Verkümmerung der Aura und damit der Entwertung des »Hier und Jetzt« des Kunstwerkes wird die Einmaligkeit und somit der Echtheit zwar unklarer, verschwindet aber nie vollkommen. Was konkret zerstört wird, ist die umfassende Fundierung der Echtheit im Kult, also in der geschichtlich-eingebetteten Tradition. Das, was

Vgl. ebd. 477. Vgl. Stoessel, Marleen, Aura, das vergessene Menschliche. Zu Sprache und Erfah­ rung bei Walter Benjamin, Regensburg 1983,15. 181 Vgl. Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­ keit«, 481f. 182 Benjamin versteht seinen Kunstwerkaufsatz als Denkschrift gegen Faschismus und gegen seine Instrumentalisierung der Ästhetik. Bevor es zu jenem Paradigmen­ wechsel kam, waren laut Benjamin Kunst und Politik klar getrennt. Nun nähern sich diese einander an. Durch den Verlust der Aura verliert das Kunstwerk seinen sakralen Kultwert, der bis dato selbst in Zeiten steigender Säkularisierung durch die Werte Echtheit und Authentizität überlebt hat. Zudem gerät seine Autonomie und Autorität als geschichtlich tradierte Zeugenschaft ins Wanken. Die Aurakrise umfasst die gesamte Bedeutung des Begriffs. Das heißt: Nicht nur die Eigentlichkeit des Werkes, sondern auch der wahrnehmende Prozess in der Beziehung zwischen Subjekt und Kunstobjekt verändert sich bedingt durch jene gesellschaftlichen Bedingungen (vgl. Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, 481f und Stoessel, Aura, das vergessene Menschliche, 24f.). Somit weist diese veränderte Kunstwerkrezeption über sich selbst hinaus. Benjamin plädiert explizit für nichtaurati­ sche Kunst, da sie frei von jeglicher Zwangsfunktion und nicht instrumentalisierbar ist, aber für den politischen Widerstand und für eine Erneuerung der Menschheit gegen den wachsenden Faschismus genutzt werden kann (vgl. Müller, Harro, »Theodor W. Adornos Theorie des Authentischen Kunstwerks. Rekonstruktion und Diskussion des Authentizitätsbegriffs«, in: Susanne Knaller/Ders. (Hg.), Authentizität. Diskussion eines Ästhetischen Begriffs, München 2006, 55–67, hier. 58.). 179

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3. Authentizität als Gegenentwurf zur Medialität

dann noch von der Echtheit bleibt, ist ausschließlich die authentische Zuschreibung der Echtheit aufgrund der empirischen Einmaligkeit:183 »In dem Maße, in dem der Kultwert des Bildes sich säkularisiert, wer­ den die Vorstellungen vom Substrat seiner Einmaligkeit unbestimm­ ter. Immer mehr wird die Einmaligkeit der im Kultbilde waltenden Erscheinung von der empirischen Einmaligkeit des Bildners oder seiner bildenden Leistung in der Vorstellung des Aufnehmenden verdrängt. Freilich niemals ganz ohne Rest; der Begriff der Echtheit hört niemals auf, über den der authentischen Zuschreibung hinauszutendieren. […] mit der Säkularisierung der Kunst tritt die Authentizität an die Stelle des Kultwerts.«184

Im Prozess der »Säkularisierung der Kunst« ist auch die ungebrochene Begeisterung für berühmte Gemälde, trotz der Möglichkeit zur tech­ nischen Reproduktion, erklärbar. Mit Benjamin gesprochen, wird ausschließlich die authentische Zuschreibung der zum Beispiel ein­ maligen Mona Lisa im Kontrast zu den technisch reproduzierten und somit unechten »Mona Lisas« verehrt. Diese Verehrung konkretisiert sich nach Benjamin nicht in einer Huldigung des Kultwertes und der damit einhergehenden Möglichkeit einer Auraerfahrung, sondern lediglich in der Besichtigung der authentischen Einmaligkeit. Jene »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«185, also jene Einmaligkeit, deren Unmittelbarkeit nur im Ritus fundierten Kunstwerk vermittelt werden kann, ist im Prozess der technischen Reproduzierbarkeit in ihrer Ganzheitlichkeit der Echtheit inhärent beschnitten worden. Weiter ist für den vorliegenden Zusammenhang zentral, dass Benjamin die umfassende Echtheit einer Sache an sowohl die his­ torische Dauer der Materie und die geschichtliche Zeugenschaft knüpft. Für ihn ist die authentische Zuschreibung notwendiger, aber nicht hinreichender Teil der Echtheit. Er verbindet den normativen Anspruch der Echtheit des Kunstwerkes mit seiner physischen Mate­ rie, da nur innerhalb jener historischen Materie die Zeugenschaft erfahren werden und sich die Wahrnehmung der Aura entzünden kann.186 Die Bedingung der Möglichkeit der Echtheit und somit der Aurawahrnehmung ist demnach inhärent mit der originalen – 183 Vgl. Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­ keit«, 481. 184 Ebd. 185 Ebd. 479.

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3.2 Echtheit, Aura und Authentizität

also in der geschichtlichen Tradition eingebetteten – Materie des Kunstwerkes verbunden. Das Moment der autoritativen Normativität ergibt sich ganz selbstverständlich aus seiner Kumulation jener origi­ nalen Materie, Authentizität und Echtheit, welche in der potentiellen Erfahrung der Aura gipfelt. Die Möglichkeit der massenhaften Reproduzierbarkeit stellt nach Benjamin somit die Entwertung und Verkümmerung der Aura und somit eine qualitative Minderung von Echtheit sowie Aura dar. Folglich positioniert er – ähnlich wie später Adorno187 – den Wert Der Begriff der Normativität ist hier aus methodischer Sicht mit Zurückhaltung zu begegnen. Er ist in vorangehender Formulierung nicht als Teil der obig erläu­ terten klassischen Gegenüberstellung von normativer Sollensethik und evaluativer Strebensethik einzuordnen, wobei erstere »für alle geltende, verbindliche Normen« (Bobbert, Ärztliches Urteilen bei entscheidungsunfähigen Schwerkranken, 169) formu­ liert und letztere eine empfehlende Ethik für eine gelingende Lebensführung darstellt (vgl. ebd.). Vielmehr schreibt Benjamin der Aura und Echtheit – ohne dies systema­ tisch-transparent zu machen – eine Form von Sollensforderung zu. Nur so ist zu erklären, dass er den gesellschaftlichen Wandel überhaupt beklagt und wertend von »Verkümmerung der Aura«, »Entwertung des Hier und Jetzt« und »Erschütterung der Tradition« spricht (vgl. Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, 477f.). Dies ist aufgrund Benjamins Denkform – der keiner transparenten Methodik inhärent ist – nicht überraschend, muss allerdings hier in Bezug auf die Klarheit der Begrifflichkeit erläutert werden: Der Begriff wurde obig bewusst gewählt, da es aufgrund Benjamins Argumentation richtig ist, von Normativität im Sinne von normativen Sinngehalten im weltlichen Sachbereich zu sprechen, wie dies bereits in der Einleitung hinsichtlich der immanenten Ethik nach Auer formuliert wurde (vgl. Auer, Autonome Moral und christlicher Glauben, 12f.). Für ihn gewinnt das Kunstwerk seinen Sollensanspruch und seine Wirkung aus der Einbettung in die Tradition und aus dem Ritus, die sich an der originalen Materialität vollzogen haben. Kern seiner Kritik ist die Loslösung des Kunstwerkes aus der Fundie­ rung des Ritus und die damit zusammenhängenden potenziellen Gefahren durch den Faschismus auf die Gesellschaft. Mit Auer zu sprechen, verändert sich für Benjamin in der Reproduktion der weltlichen Sachbereiche deren normative Sinngehalte und dies kritisiert er in Bezug auf die mögliche gesellschaftliche Wirkung. Um jenen induktiv formulierten ethischen Anspruch – man könnte von indirekter Sozialethik sprechen – zu markieren, wird obig der Begriff der Normativität verwendet. 187 Auch Theodor W. Adorno beschäftigte sich eingehend mit dem Verhältnis von Authentizität und Kunst. Für Adorno ist Kunst »gesellschaftliche Antithesis zur Gesellschaft« (Adorno, Theodor W., Gesammelte Schriften. Ästhetische Theorie, Bd. 7, herausgegeben von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1970, 19) und muss nach seiner Überzeugung »nicht nur der Statthalter einer besseren Praxis als der bis heute herrschenden, sondern ebenso Kritik von Praxis als der Herrschaft brutaler Selbsterhaltung inmitten des Bestehenden und um seinetwillen […]« (vgl. ebd. 26) sein. Zwar unterscheidet sich sein Kunstbegriff von dem von Benjamin – er kritisiert seinen Aurabegriff als zu vage –, gleichzeitig positioniert aber auch Adorno 186

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3. Authentizität als Gegenentwurf zur Medialität

der Echtheit und Authentizität, der durch die ursprüngliche Origi­ den Begriff der Authentizität konträr zur medialen Welt, die aus seiner Sicht Teil einer bedenkenswerten Kulturentwicklung ist. Adorno kritisiert Benjamin für seine zu eng gefasste Kritik zwischen auratischem und massenproduziertem Werk, da dieser zu einfach sei und nicht genug Variationsmöglichkeiten des Auratischen biete. Folglich reichen die dualen Kategorien Benjamins nicht aus, um entideologisierte Kunst und den Missbrauch ästhetischer Rationalisierung zur Massenbeherrschung adäquat zu unterscheiden (vgl. Müller, »Theodor W. Adornos Theorie des Authentischen Kunst­ werks«, 58f.). Er proklamiert für Kunst und Literatur, konträr zum Aufkommen der Massenmedien, Authentizität und erklärt den Begriff zum Kennzeichen der ästheti­ schen Moderne (vgl. Müller, Harro/Knaller, Susanne, »Einleitung. Authentizität und kein Ende«, in: Dies. (Hg.), Authentizität. Diskussion eines Ästhetischen Begriffs, Mün­ chen 2006, 7–16, hier: 7): »Mit fortschreitender Aufklärung haben es nur die authen­ tischen Kunstwerke vermocht, der bloßen Imitation dessen, was ohnehin schon ist, sich zu entziehen« (Horkheimer/Adorno, »Dialektik der Aufklärung«, 40). In seiner Ästhetischen Theorie benennt er erstmals die ästhetischen Prämissen und erklärt den Einfluss des Kunstavantgardismus und der damit einhergehenden Kunstautonomie zur Grundlage der ästhetischen Operationen der 1960er-Jahre (vgl. Zeller, Ästhetik des Authentischen, 16). Eine wertfreie Ästhetik ist für ihn sinnlos. Gleichzeitig fordert er eine Kunst, die das Gegenteil von Ideologie und Ware sein sowie gesellschaftliche Utopie symbolisieren muss (vgl. 1974, 52). Wo Benjamin sein zentrales Anliegen in der Reproduktionstechnik der Fotografie und dem Medium Film proklamierte, kriti­ siert Adorno das Phänomen der sogenannten Massenmedien, welches eine Kultur erzeugt, die im Kern auf Entfremdung beruht (vgl. Horkheimer/Adorno, »Dialektik der Aufklärung«, 145f.). Diese Form des von Adorno und Max Horkheimer geprägten Begriffs der »Kulturindustrie« (ebd. 144) steht stellvertretend für seine Kritik an der sich gewandelten Funktion und Produktion von Kultur im Kapitalismus (vgl. ebd. 145f.). Die Entfremdung hervorbringende Dynamik der Kulturindustrie wird gerade in Bezug auf die Demokratiepartizipation hin kritisiert und im Gegensatz dazu wird ihr eine Naturvorstellung, der die Werte Reinheit, Ursprünglichkeit und Wahrheit zugeschrieben werden, entgegengesetzt. Somit werden die Größen Kultur und Natur antagonistisch zueinander positioniert. Dem medientechnischen Fortschritt wird somit eine Abstandsvergrößerung zu den naturgegebenen Werten und der Bestärkung des Untergangs der abendländischen Kultur vorgeworfen. Die mediale Technologie­ entwicklung bedingt letztlich die Sehnsucht nach Reinheit, Ursprünglichkeit sowie Ganzheitlichkeit und konstituiert die Geburt einer Idee von amedialer Unberührtheit und Unmittelbarkeit (vgl. Zeller, Ästhetik des Authentischen, 9f.). Motiviert durch ihre Orientierung an der Wirklichkeit betonen Kunst und Literatur folglich das Ideal jener Unmittelbarkeit. Damit zielen sie auf einen direkten gesellschaftlichen Einfluss, der eine Veränderung der sozialen Verhältnisse und einen allgemeinen Bewusstseins­ wechsel zur Folge haben soll (vgl. ebd. 1). »Unmittelbarkeit war der Leitgedanke künstlerischer Produktion. Sie fördere, wie man meinte, den gesellschaftlichen Wan­ del, ermögliche innere Bekehrung und befreie von ökonomischen und politischen Zwängen« (ebd.). Dieser Leitgedanke führte somit zu einer Zuspitzung von Authen­ tizität, indem durch literarische Produktionen der 1960er- und 1970er-Jahre authen­ tisch zum Synonym für realistisch wird (vgl. Schlich, Literarische Authentizität, 25). Adorno weist in seinen Ästhetischen Schriften auf das sich nun offenbarende Para­ doxon hin: Einerseits wird mit Authentizität Unmittelbarkeit postuliert, andererseits

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3.2 Echtheit, Aura und Authentizität

nalität der physischen Materie konstituiert wird, konträr zu einer medial vermittelten Imitation jener auramöglichmachenden Materie. Ursprüngliche Originalität bezeichnet somit die Eigentlichkeit des Anfangs, welche kontinuierlich-konstitutiv für die gesamte Entwick­ lung des Originals ist. Medial vermittelte Imitation, die Benjamin als die Ergebnisse von technischen Reproduktionen, wie etwa Foto­ grafien, Filmen usw., beschreibt, erinnert unweigerlich an Friedrich Krotz’ Mediatisierungskonzept (s. Kapitel 2.2) und beschreibt – trotz der methodischen und fachlichen Unterschiede beider Konzepte – dieselbe mediale Wirklichkeit. Dass sich die Überlegungen zur Reproduktion über den Kunst­ begriff hinaus weiterdenken lassen und dass sie anschlussfähig sind, darauf weist Benjamin bereits in seinem Aufsatz hin: »[…] was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunst­ werks verkümmert, das ist seine Aura. Der Vorgang ist symptomatisch; seine Bedeutung weist über den Bereich der Kunst hinaus. «188

Für die vorliegende Kapitelfrage nach dem Verhältnis von Authenti­ zität und Mediatisierung sind Benjamins Einsichten hinsichtlich der Verbindung des materiellen »Hier und Jetzt« mit dem der Echtheit, der Vermittlung der Unmittelbarkeit, seinem Konzept der Aura sowie diesbezüglichen normativen Zuschreibungen höchst dienlich. Anknüpfend an die hier referierten Erkenntnisse wird das Authentizitätsverständnis der Editionsphilologie referiert. Das Ziel besteht darin, die genannten Aspekte durch die Konzeptstruktur jener Wissenschaft in eine Ordnung zu bringen und somit ihr Verhältnis im medialen Kontext zu begreifen und letztlich den umfassenden Begriff der Authentizität für die vorliegende Fragestellung fruchtbar zu machen. kann dieser Effekt ausschließlich durch künstlerische Vermittlung erzeugt werden (vgl. Adorno 1970: 28f. und Zeller, Ästhetik des Authentischen, 8). Dieser schwelende Widerspruch der »vermittelten Unmittelbarkeit« (ebd. 16), also wie Kunst Reinheit und Ursprünglichkeit und damit jene proklamierte unmittelbare Realität darstellen soll, ohne sich den Kategorien der medialen Kulturindustrie unterzuordnen, wird in den 1970er-Jahren zugunsten der ästhetischen Vermittlung gelöst. Demnach kodieren Kunst und Literatur das Authentische als vermittelte Unmittelbarkeit. Authentizität wird folglich – ähnlich wie bei Benjamin – als Effekt von Ästhetik verstanden und ist mithilfe künstlerischer Methodik erschließbar und als gesellschaftliche Wirkung neu fruchtbar (vgl. ebd. 17). 188 Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­ keit«, 477.

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3. Authentizität als Gegenentwurf zur Medialität

3.3 Authentizität als ursprüngliche Originalität Die Editionsphilologie der historisch-kritischen Herausgabe – oder auch Herausgeberwissenschaft – versteht Authentizität als Zertifi­ kationsmerkmal. Diese im 19. Jahrhundert entstandene Form der Edition steht auch heute für ihr kulturpolitisches Anliegen, zum Bei­ spiel besondere Texte in ihrer Gesamtheit erschließen und bewahren zu wollen:189 »Die Rekonstruktion der Entstehung eines literarischen Textes von der ersten Notiz über Entwürfe und Reinschriften bis zur endgültigen Veröffentlichung gehört zu den grundlegenden Aufgaben eines Edi­ tors. Aber seine allererste Arbeitsaufgabe ist es, einem Leser einen authentischen Text in seiner originalen historischen Gestalt zu präsen­ tieren.«190

Die Aufgabe der Editionsphilologie ist folglich, die Rekonstruktion der Entstehung, Überarbeitung und Veröffentlichung bis hin zu ihrer Herausgabe, also in ihrer ursprünglichen historischen Gestalt im Sinne der spezifisch-fachlichen Qualitätsregeln, herauszuarbeiten.191 Die Arbeit der Editoren bleibt für den Leser meist unbemerkt und wird lediglich in Sonderfällen thematisiert. Ein Beispiel für einen solchen Sonderfall markierte das Erscheinen der historisch-kritischen Neu­ ausgabe von Adolf Hitlers Buch »Mein Kampf«, welches eine große Debatte über Wirkung und Edition von Literatur nach sich zog.192 Solche Momente sind aber nicht die Regel, da der Herausgeber ganz im Sinne seiner Philologenherkunft vorrangig mit dem Rücken zum Rezipienten, also tendenziell unsichtbar, arbeitet.193 Am Prozess der Editionsgenese, welcher die Bewertung, Transparentmachung und Selektion verschiedener Handschriften, Notizen und Textbruchstücke beinhaltet, sind folglich unterschiedlichste Instanzen beteiligt, deren Vgl. Plachta, Bodo, Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte, Stuttgart 1997, 12f. 190 Ebd. 8. 191 Vgl. ebd. 192 Vgl. Markwardt, Nils, »Wer hat Angst vor einem Buch?. Adolf Hitlers ›Mein Kampf‹ erscheint in einer kritischen Ausgabe, die Debatte darüber ist im Gange«, 2016 [http://www.zeit.de/kultur/literatur/2016-01/hitler-mein-kampf-kommentar] Abgerufen am 23.10.2022. 193 Vgl. Kanzog, Klaus, Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur, Berlin 1991, 9. 189

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3.3 Authentizität als ursprüngliche Originalität

Einflussnahme und Einordnung hochkomplex sowie fachintern breit diskutiert werden.194 Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft gibt dies­ bezüglich an, dass ein überlieferter Text nach editionsphilologischen Kriterien nur dann das Qualitätsmerkmal der Authentizität erhält, wenn dieser in allen Einzelheiten sicher von seinem Autor stammt. Folglich gelten beispielsweise Autographen und Diktate grundsätzlich als authentisch, Texte, die nur im weiteren Sinne, zum Beispiel juristisch, autorisiert wurden, gelten als unsicher authentisch und nichtautorisierte Texte mit unbekanntem Autor prinzipiell als nicht­ authentisch.195 Folglich wird das gesamte begriffliche Spektrum von Authentizität in der Editionsphilologie auf die Bedeutung von Origi­ nalität und Ursprünglichkeit reduziert. Entscheidend für die Leitfrage des vorliegenden Kapitels ist die Erkenntnis, dass Authentizität im Rahmen der Editionsphilologie ausschließlich auf jenes Moment der authentischen Zertifikation begrenzt wird. Dieser Umstand lässt einerseits die Dimension der Zwiesprache zwischen Text und Leser, also das performativ-kommu­ nikative Moment von Authentizität, außen vor, schafft andererseits aber erst die Bedingung für eben jenes Moment aktiv-performati­ ver Authentizität196. In diesem Zusammenhang wird auch das Ver­ hältnis zu Benjamins Aurabegriff offenbar: »Die Zertifikation einer Ursprungsrelation allein erfüllt noch nicht den ganzen Begriff. Die Zertifikation eines Gemäldes als ›echter Picasso‹, die Zertifikation einer Handschrift als ›von Goethes eigener Hand‹ allein stiftet noch nicht jene magische ›Authentizität‹. Erst die pro­ duktive Spannung zwischen der materialen Präsenz des Gemäldes, der Handschrift (als Bedeutungsträger) einerseits und ihrer zertifika­ torischen Zuschreibung zu einer bedeutungsstiftenden Referenz, dem empirischen Genie (als Bedeutungsspender) andererseits schafft die

194 Vgl. Bein, Thomas, »Zum Verhältnis von Autor-Text und Redaktor-(bzw. Schrei­ ber-)Text in mittelhochdeutschen Lyrikhandschriften«, in: Jochen Golz/Manfred Kol­ tes (Hg.), Autoren und Redaktoren als Editoren, Berlin/Boston 2008, 3–17, hier: 16f. 195 Vgl. Grubmüller, Klaus/Weimar, Klaus, »Authentizität«, in: Klaus Weimar, (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin 1997, 168–169, hier: 168. 196 Vgl. Blume, Hermann, »Erfindung der Authentizität – Eine literarische Paradoxie als Herausforderung der Editionswissenschaft«, in: Michel Rössner/Heidemarie Uhl (Hg.), Renaissance der Authentizität?: Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprüngli­ chen, Bielefeld 2012, 143–158, hier: 148.

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3. Authentizität als Gegenentwurf zur Medialität

Voraussetzung, dafür, dass sich der ganze Begriff von Authentizität einlöst als Erlebnis von Aura.«197

In der Verantwortung des Herausgebers steht also die Schaffung des edierten Textes, welcher »jeweils nur auf eine bestimmte zugrunde gelegte historische Textvorlage«198 referenziert. Mit Benja­ min gesprochen, ist dieser Ort, an dem es zu einem Erlebnis von Aura kommen kann, das »Hier und Jetzt«, also die originale Materie, welche in ihre historische Tradition eingebettet und dadurch einmalig ist. Durch die Arbeit der Herausgeberwissenschaft wird eben jene Materie und damit die Bedingung der Möglichkeit für die Kommunikation zwischen Rezipienten und Werk, welche in ein Auraerlebnis münden kann, konstituiert. Entscheidend ist an dieser Stelle, dass der hier auf die Editionsphilologie angewendete Begriff der Aura im Verhält­ nis zu Benjamins Verständnis bereits abgeschwächt wurde. Nach strenger Benjaminauslegung würde sich nämlich Aura ausschließlich am Original des Goethetexts entzünden, nicht aber an der reprodu­ zierten oder zusammengestellten Version des Herausgebers. Für die Leitfrage ist folglich das performativ-kommunikative Moment des Auramoments, der für eine absolute Form von Authentizität steht – wie immer diese sich konkret manifestiert – entscheidend. Jenen – inhaltlich explizit offenen – auratischen Moment zu erzeugen, liegt aber nicht in der Verantwortung des Herausgebers. Sein alleiniges Ziel besteht darin, durch die wissenschaftliche Zertifikation der Prädi­ kate Ursprünglichkeit und Originalität über die Rahmenbedingungen des Kunstwerk-Rezipienten-Gesprächs zu wachen und somit eine störungsfreie Gesprächssituation zu schaffen. Das auratische Erlebnis kann als geglückte ästhetische Kommu­ nikation zwischen wahrnehmendem Subjekt und dem Kunstwerk, als »Epiphanie«199 oder »Aufleuchten eines Sinnes«200 bezeichnet werden. Diese ästhetische Wirkung, welche das auratische Erlebnis determiniert, ist nicht alleine an substantiellen Eigenschaften des Kunstobjektes festzumachen, noch kann die »ästhetisch performierte Bedeutung in diskursive Botschaften übersetzt werden«201, und ist somit nicht vollkommen nachvollziehbar auf seine Ursachen mecha­ 197 198 199 200 201

Ebd. 150. Ebd. 145. Ebd. 148. Ebd. Ebd.

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3.3 Authentizität als ursprüngliche Originalität

nistisch zurückzuführen.202 In diesem Zusammenhang ist nochmals die Rolle der Editionsphilologie zu betonen: Diese muss und kann nicht für das Eintreten des Erlebnisses von höchster Authentizität, im Sinne eines auratischen Erlebnisses, garantieren.203 Das Authentizitätsverständnis der Editionsphilologie eröffnet somit Klarheit in Bezug auf die duale Gesamtbedeutung des bis dato schwer fassbaren Authentizitätsterminus. Mit den durch die Herausgeberwissenschaft festgelegten Prädikaten Originalität und Ursprünglichkeit wird die substantielle Komponente des Begriffs konkret verständlich: Der Herausgeber legitimiert den begriffslo­ gisch transportierten Wahrheitsanspruch von Authentizität durch die Bestimmung seiner Ursprungsreferenz auf die Erfahrungswelt. Erst mit der empirisch-relationalen Bestimmung des »Woher« und »Worauf« des Kunstwerkes werden die transportierten Ansprüche von Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Ursprünglichkeit und Originalität konkret. Somit schafft der Herausgeber durch seinen Akt der authen­ tischen Zertifikation die transzendentalen Bedingungen der Möglich­ keit eines performativen auratischen Erlebnisses zwischen Rezipient und Kunstwerk. Erst beide Momente, sowohl das der Zertifikation der Materie als auch das der performativ-auratischen Kommunikation erfüllen gemeinsam den umfassenden Begriff der Authentizität.204 Authentizität ist also stufenartig zu verstehen. Ein von der Editions­ philologie herausgegebenes Werk ist durchaus in Bezug auf seine ursprüngliche Originalität im »Hier und Jetzt« »authentisch«. Diese Zertifikation ist aber gleichzeitig die Schaffung der Möglichkeit zu einem auratischen Erlebnis von nicht festgelegter Intensität. Wie weit steigerbar jenes Erlebnis ist und wie ein absolutes, also unüberbietba­ res authentisches Erleben von Aura aussieht, und ob es ein solches überhaupt gibt, kann nicht final sicher bestimmt werden. Deshalb ist der Arbeitsbegriff Aura, den Adorno zu Recht als vage kritisierte, in seiner Offenheit für dieses Erleben »der einmalige[n] Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«205, prädestiniert.

202 Vgl. ebd. Zu einem genaueren Verständnis der Entstehung von Aura und Authen­ tizität, der für den weiteren Verlauf der vorliegenden Argumentation nicht relevant ist, sei auf das performative Modell von Hermann Blume verwiesen (ebd. 155). 203 Vgl. ebd. 204 Vgl. ebd. 149f. 205 Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­ keit«, 479.

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3. Authentizität als Gegenentwurf zur Medialität

Die im aktuellen Kapitel dargelegten Erkenntnisse von Authen­ tizität können wie folgt zusammengefasst werden: Der Begriff der Authentizität transportiert die Wahrheitsansprüche von Echtheit, Ursprünglichkeit und Wahrhaftigkeit. Authentizität manifestiert sich in zwei sich bedingenden Momenten: Diese Momente sind die ursprünglich-originale Materialität und ein performatives Erlebnis von Aura. Die Funktion des substantiellen empirischen Authentizi­ tätsanteils ist die Legitimation der proklamierten Ursprünglichkeit, Originalität sowie Eigentlichkeit. Nur wenn sichergestellt ist, dass der Rezipient wirklich mit dem originalen Text, der ursprünglichen Statur oder der juristisch zertifizierten Urkunde in Kommunikation treten kann, entsteht überhaupt die Chance, dass es zu einer sich wie auch immer darstellenden glückenden Erfahrung von Authentizität, also einem auratischen Erlebnis zwischen Werk und Rezipient kommen kann. Welche Instanz die Zertifikation der Ursprünglichkeit, Origina­ lität und Eigentlichkeit der Materie vornimmt, ist unterschiedlich, aber die Zertifikationshandlung hat immer dieselbe normativ-autori­ tative Zielsetzung in Bezug auf ursprüngliche Originalität im Sinne von Echtheit. Ob der Editionsphilologe, welcher mit verschiedenen Handschriften von Shakespeare arbeitet oder der Kunstexperte, der ein Gemälde restauriert: Das Ziel besteht stets darin, sicherzustellen, dass die Materie wirklich mit der Ursprünglichkeit des Originals übereinstimmt und somit das Werk seine normativen Ansprüche von Authentizität erfüllt. Durch das Zusammenspiel der ursprünglich originalen Materie und der dadurch vollziehbaren Zuschreibung von Authentizität entsteht die normative Kraft der Echtheit, welche in einem Erfahrungsmoment von Aura kumulieren kann. Kompakt formuliert lautet das hier erarbeitete Verständnis von Authentizität wie folgt: Authentizität setzt sich erstens aus der zertifizierten ursprüng­ lichen Originalität des »Hier und Jetzt« und der daraus freigesetz­ ten Autorität der Echtheit, die somit einen normativen Anspruch transportiert, zusammen (ursprünglich-originale Materie). Darüber hinaus ist diese normativ-substantielle Zusammensetzung die Bedin­ gung der Möglichkeit für das zweite Moment von Authentizität, wel­ ches sich in der Kommunikation mit dieser Materie als ein wie auch immer konkret manifestierendes performativ-auratisches Erlebnis zwischen dem authentischen Werk und seinem Rezipienten darstellt. Im zweiten, kommunikativen Moment der Authentizität wird also der normative Anspruch der Echtheit entfaltet und sichtbar gemacht, die­

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3.4 Die Unmöglichkeit des »Hier und Jetzt« in der digitalen Mediatisierung

ser ist aber bereits im ersten Moment der ursprünglichen-originalen Materie seiner Möglichkeit nach enthalten. Das Werk ist somit bereits durch die materiale Normativität authentisch, ob es zu einem Erlebnis von (absoluter) Aura kommt, wird durch jene Materie potentiell zwar möglich gemacht, ist aber durch diese nicht notwendig festgelegt.206 Im Anschluss werden die hier erarbeiteten Erkenntnisse bezüg­ lich der Authentizität auf die zuvor aufgeworfenen Fragen zur digita­ len Mediatisierung angewandt.

3.4 Die Unmöglichkeit des »Hier und Jetzt« in der digitalen Mediatisierung Für die Beantwortung der im vorangehenden Kapitel aufgeworfenen Frage nach dem Verständnis der unterschiedlichen Wertungen, die mit der nichtmedialen und medialen Wirklichkeit assoziiert werden – beziehungsweise die Wertungen, welche diesen Wirklichkeiten zuge­ schrieben werden – ist das zuvor referierte Authentizitätsverständnis entscheidend. Wir erinnern uns an Krotz Aussage bezüglich der ursprünglichen Kommunikationssituation innerhalb der nichtmedia­ len Wirklichkeit, welche für jene Form vom mediatisierten Abbild das Urbild darstellt: »Kommunikation findet in der hier eingenommenen Perspektive also in ihrer ursprünglichen Form zwischen Menschen statt. […] Weil Kommunikation zwischen Menschen entstanden ist […], verstehen wir das unmittelbare Gespräch zwischen Menschen als grundlegende und paradigmatische Form von Kommunikation. Alle anderen Kom­ munikationsweisen wie etwa das Telefonieren oder die Nutzung audio­ 206 Unabhängig davon wie hilfreich das Authentizitätsverständnis der Editionsphi­ lologie in Kombination mit Benjamins Aurabegriff für die Erarbeitung des hier verwendeten Authentizitätsbegriffs ist, dürfen jene Echtheitsvorstellungen nicht gleichgesetzt werden. Entscheidender Unterschied ist, dass editionsphilologische Texte ohne Verlust von Echtheit reproduzierbar sind und demgegenüber nach Benja­ min ausschließlich nicht-reproduzierte, also nur originale Kunstwerke Bedingung der Möglichkeit für Auraerlebnisse sein können. Trotzdem ist die Kombination beider Vorstellungen folgerichtig, da das herausgeberwissenschaftliche Verständnis nicht puristisch verstanden, sondern vorrangig das Verhältnis von physischer Materie und der performativen Kommunikation von der Editionsphilologie gelernt und übernom­ men wird.

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3. Authentizität als Gegenentwurf zur Medialität

visueller standardisierter Kommunikationsangebote gehen aus dieser Grundform hervor […].«207

In der Anwendung der vorangehend referierten Erkenntnisse bezüg­ lich Authentizität kann jetzt festgehalten werden, dass die nicht­ mediale Kommunikationssituation ihre zugeschriebene Wertigkeit von Echtheit, Eigentlichkeit und Wirklichkeit, also kurz Authenti­ zität, erhält, weil sie – ganz im Sinne des editionsphilologischen Verständnisses – die ursprünglich originale Situation und somit das vorgängige Urbild jeder medialen Erweiterung, Modifizierung oder Imitation darstellt. Die nichtmediale Wirklichkeit ist als solche authentisch, da ihr »Hier und Jetzt« ursprüngliche Originalität auf­ weist, welche erst die Bedingung der Möglichkeit für eine Form von authentischem Erlebnis als Aura eröffnet. Die bereits erwähnte Frage nach dem absoluten Erlebnis von Authentizität nun im Sinne einer »perfekten Kommunikation« zu verstehen, darf dann mit Benja­ mins offenem Begriff der Aura umschrieben werden. »Perfekte« oder »unüberbietbar authentische Kommunikation« als auratisches Erleb­ nis oder Aura zu bezeichnen und es somit inhaltlich bewusst offen zu lassen, ist folgerichtig, da es nicht in der Forschungsverantwortung des vorliegenden Textes liegt, einen absoluten Moment authentischer Kommunikation final zu definieren oder überhaupt nachzuweisen. Vielmehr führt die Suche nach dem integralen Unterschied zwischen nichtmedialer und medialer Kommunikationssituation zu der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeiten, die unhintergehbar gege­ ben sein müssen, um eine möglichst hohe Chance für das Eintreten eines möglichst authentischen Erlebnisses zu gewährleisten. Wie obig referiert, findet sich die Antwort auf die Frage nach den transzendentalen Bedingungen für ein auratisches Erleben im »Hier und Jetzt«. Das »Hier und Jetzt«, also die Materie der nichtme­ dialen Kommunikationssituation, ist diejenige Materie, in welcher die Bedingungen der Möglichkeit für ein Kommunikationserlebnis erst möglich werden. Mit Benjamin gesprochen, stellt die Konkretisie­ rung im »Hier und Jetzt« der Nichtmedialität die Möglichkeit einer Erfahrung des Kommunikationsteilnehmers im Sinne seiner Einma­ ligkeit als »[…] sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige

207

Krotz, Mediatisierung, 58.

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3.4 Die Unmöglichkeit des »Hier und Jetzt« in der digitalen Mediatisierung

Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«208, dar, weil nur jenes urbildliche Original in die historische Tradition eingebettet ist.209 Die Wertigkeit des ursprünglichen Vorbildes ist folglich als Authentizität und zwar als Authentizität in zuvor dargelegter dualer Form zu verstehen. Die Kommunikationssituation der Nichtmediali­ tät ist im Sinne der Echtheit, Eigentlichkeit und Wahrhaftigkeit – so die inhärente Dynamik der Mediatisierung – der (digitalen) Medialität voraus, da ausschließlich die nichtmediale Wirklichkeit die ursprüngliche Originalität des »Hier und Jetzt« aufweist. Das »Hier und Jetzt« in (digital-)medialer Form kann intrinsisch kein ursprüng­ liches Original im Sinne Benjamins und der Editionsphilologie sein, da es grundsätzlich ein Abbild des Urbildes und weniger ursprünglich in die historische Tradition des Kommunizierenden eingebettet ist. Diese Abbild-Urbild-Dynamik ist unabhängig von der Fortschritt­ lichkeit der Technik: Jeder – noch so technisch beeindruckende – mediale Ausdruck ist strukturell eine Erweiterung, Modifizierung und Imitation, kurz: Die Vermittlung der Unmittelbarkeit des »Hier und Jetzt«. Nun ist aber genauer nach jenem »Hier und Jetzt«, also »sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet«210 zu fragen. Wenn das »Hier und Jetzt des Originals […] den Begriff seiner Echtheit aus[macht]«211, dann muss die Materie jener Echtheit, die zwar nicht hinreichend für den umfassenden Authentizitätsbegriff, wohl aber notwendig ist, nähere Bestimmung finden. Da das Ziel die strukturelle Bestimmung von nichtmedialer und medialer (Kom­ munikations-)Wirklichkeit ist, stellt sich also die Frage, was genau die physische Materie des »Hier und Jetzt« des Menschen in seiner ursprünglichsten Form konstituiert. Die Frage nach dem »Hier und Jetzt« des Menschen führt zu dem phänomenologischen Begriff des Leibes. Im folgenden Kapitel wird die physische Materie von ursprünglicher Originalität, welche die Bedingung der Möglichkeit für authentische Kommunikation ist, 208 Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­ keit«, 479. 209 Vgl. ebd. 480. Benjamin spricht in diesem Zusammenhang von Vollzug des einmaligen Daseins in der Geschichte, welches er als »Veränderungen, die es im Laufe der Zeit in seiner physischen Struktur erlitten hat« (ebd. 475) und als »wechselnden Besitzverhältnissen, in die es eingetreten sein mag« (ebd. 475f) umschreibt (vgl. ebd.). 210 Ebd. 475. 211 Ebd. 476.

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3. Authentizität als Gegenentwurf zur Medialität

im Sinne aktueller Forschungsergebnisse der Phänomenologie, der Neuen Phänomenologie und der Katholischen Theologie im Rahmen der Verhältnisklärung von Körper und Leib bestimmt.

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

Was sind die Bedingungen der Möglichkeit authentischer Kommuni­ kation im – explizit nichtmedialen – »Hier und Jetzt« des Menschen? Diese Frage erwächst aus den vorangehenden Überlegungen, welche zum Ziel haben, die strukturelle Differenz von nichtmedialer und medialer Wirklichkeit zu bestimmen. Diesbezüglich darf konkreti­ siert gefragt werden: Was konstituiert die ursprüngliche Originalität des »Hier und Jetzt« des Menschen als notwendiger – nicht hinrei­ chender Teil – von Authentizität? Da – wie aufgezeigt – (digitale) Medialität immer eine Vermittlung via Imitation, Erweiterung oder Modifizierung der Nichtmedialität vollzieht, muss gefragt werden, in welcher Verfassung menschliches Sein in seiner ursprünglichsten Originalität des Urbildes besteht. Die Antwort darauf lautet, dass der Mensch nicht als Avatar, Algorithmus oder sonst eine mediale Entität geboren wird, sondern seine originäre Nichtmedialität durch seine Leiblichkeit konstituiert ist. Aufgrund dieser Überlegungen wird im vorliegenden Kapitel folgende These geprüft: Die ursprüngliche Originalität des nichtmedialen »Hier und Jetzt« des Menschen als notwendiger Teil von Authentizität ist sein Leib. Im Gegensatz zum Begriff der Authentizität ist die Verortung der Kernkompetenz innerhalb der Philosophie in Bezug auf den Leib schnell vollzogen. Die Frage nach dem Leib (und damit auch nach der Seele) beschäftigt die abendländische Philosophie bereits seit den Orphikern – also schon vor den Vorsokratikern. Als Expertin für alle Fragen, die explizit den Leib betreffen, gilt spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts die Phänomenologie, welche vor allem in Frankreich und Deutschland stark vertreten ist. Folglich werden in den ersten zwei Teilen des vorliegenden Kapitels (s. Kapitel 4.1 und 4.2) die leibesphänomenologischen Erkenntnisse von Maurice MerleauPonty (1908–1961) und Hermann Schmitz (1928–2021) referiert, bevor im dritten und letzten Teil eine genuin theologische Perspektive

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

mit Überlegungen von Karl Rahner (1904–1984) hinsichtlich der Realsymbolik des Leibes dargelegt wird (s. Kapitel 4.3). Merleau-Ponty und Schmitz sind bezüglich der Ausgangsfrage nach dem »Hier und Jetzt« des Menschen dahingehend prädestiniert, da beide Denker den Begriff des Leibes mit herausragender Konse­ quenz in die Mitte ihres Denkens platzieren und trotzdem unter­ schiedliche Schwerpunkte diesbezüglich legen. Dieser Fokus auf den Leib unterscheidet Merleau-Ponty und Schmitz von anderen Größen der Phänomenologie und begründet die Auswahl ihrer Arbeiten für die Beantwortung der vorliegenden Fragestellung. Vor diesem Hinter­ grund werden beide Phänomenologen bezüglich der Behandlungsin­ tensität von Leiblichkeit in der phänomenologischen Tradition, deren verschiedene Strömungen Edmund Husserl und Martin Heidegger mustergültig vertreten, folgend knapp ins Verhältnis gesetzt.212 Edmund Husserl gilt als der Begründer der Phänomenologie213 und reagiert – ähnlich wie die auf ihn folgenden Phänomenologen – mit seinen philosophischen Bemühungen auf die Subjekt-ObjektSpaltung, welche er dem Werk und Wirken des »urstiftenden Genius der gesamten neuzeitlichen Philosophie«214 René Descartes zu Lasten

212 Das 20. Jahrhundert ist ein herausragendes Jahrhundert für die Philosophie, aber auch explizit für die Phänomenologie. Nennenswert wären neben Husserl und Heidegger noch etliche weitere, wie etwa Max Scheler (1874–1928), Helmut Plessner (1892–1985), Jean Paul Sartre (1905–1980), Emanuel Lewinas (1906–1995), Paul Ricœur (1913–2005) oder Michel Henry (1922–2002), die sich z. T. auch ausführlich mit dem Leib auseinandergesetzt haben. Zur Erweiterung und Vertiefung der hier aufgeführten Argumentation könnten deren Werke durchaus ebenfalls herangezogen werden. Da aber im Rahmen dieses Buches eine Auswahl getroffen werden muss, ist diese letztlich auf Merleau-Ponty und Schmitz gefallen, da mithilfe jener Phä­ nomenologien des Leibes das Konzept der »Leiblichen Authentizität« hinreichend dargelegt werden kann. Der Rückgriff auf erwähnte Denker und deren Arbeiten kann zukünftig sicher zu vertiefenden Einsichten führen, ist aber an dieser Stelle nicht zwingend notwendig. 213 Die Erstverwendung des Wortes Phänomenologie ist Johann Heinrich Lambert zuzuschreiben, der das Wort 1764 als Titel für den 4. Teil seiner Wissenschaftlichen Lehre verwendet, dessen Thema das erkenntnistheoretische Scheinproblem darstellt. Vor Husserl haben zudem sowohl Kant als auch Fichte und Hegel den Begriff genutzt, allerdings mit einer anderen Bedeutung und ohne damit ein grundlegendes philoso­ phisches Programm zu bezeichnen (vgl. Janssen, Paul, »Phänomenologie«, in: LThK3 8 (2009), 200–202, hier: 200). 214 Husserl, Edmund, Husserliana: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philoso­ phie, Bd. 6, herausgegeben von Walter Biemel, Köln 21954, 75.

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

legt.215 Dieser hatte mit seinem epochalen Werk des 17. Jahrhunderts die Welt in die strikt getrennten Substanzen des denkenden Bewusst­ seins (»res cogitans«) und der ausgedehnten Substanz des Physischen (»res extensa«) eingeteilt und somit den später nach ihm benannten cartesianischen Dualismus begründet.216 Husserl begegnet dieser – seiner Auffassung nach – verhängnisvollen Wende der Philosophie hin zum Zwiespalt des »physikalistischem Objektivismus und trans­ zendentalen Subjektivismus«217 mit seiner transzendentalen Phäno­ menologie, die er als »Neustiftung der Philosophie mit einer neuen universalen Aufgabe und zugleich mit dem Sinn einer Renaissance der alten Philosophie«218 bezeichnet. Für Husserl ist diesbezüglich der Leib lediglich Teil unseres transzendentalen Egos.219 Somit ist Leiblichkeit für ihn in Bezug auf die Selbstgewissheit des Menschen von Ich und Welt lediglich von untergeordneter Bedeutung und stellt bezüglich der immanenten Selbstgewissheit keine »letzte apriorische Apodiktizität«220 dar.221 215 Vgl. ebd. Einerseits bewundert er diesen, andererseits macht er an seiner Philoso­ phie einen durch Galilei vorbereiteten Dualismus aus, der eine »völlig[e] Verwandlung der Idee der Welt überhaupt« (61) mit sich bringt, die sich in »Zerspaltung« (ebd.) durch die unvermeidliche »Vorbildlichkeit der naturwissenschaftlichen Methode oder anders gesagt, der naturwissenschaftlichen Rationalität« (ebd.) manifestiert. 216 Descartes, René, Meditationes de prima philosophia. Meditationen über die erste Philosophie. Lateinisch/Deutsch, Stuttgart 2012. 217 Biemel, Walter, »Einleitung des Herausgebers«, in: Ders. (Hg.), Edmund, Husserl, Husserliana: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phä­ nomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Bd. 6, Köln 1954, XIII-XXII, hier: XIX. 218 Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 12. 219 Vgl. Husserl, Edmund, Husserliana: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Bd. 1, herausgegeben von Stephan Strasser, Den Haag 21963, 128. 220 Kühn, Rolf, »Phänomenologischer Leibbegriff und christologische Inkarnation«, in: Münchener Theologische Zeitschrift 59 (2008), 239–255, hier: 242. 221 Vgl. ebd. 242. Hierzu vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, 61f. Zwar akzeptiert Husserl das transzendentale Ego als letzte Selbstverge­ wisserung, verwehrt sich aber der Einbettung dieses Egos in eine physische Welt: »Dieses mir vermöge solcher ἐποχή notwendig verbleibende Ich und sein ich-Leben ist nicht ein Stück der Welt, und sagt es: ›Ich bin, ego cogito‹, so heißt das nicht mehr: Ich, dieser Mensch, bin. Nicht mehr bin ich der sich in der natürlichen Selbsterfahrung als Mensch vorfindende und in der abstraktiven Einschränkung auf die puren Bestände der inneren, der rein psychologischen Selbsterfahrung, der seinen eigenen reinen mens sive animus sive intellectus vorfindende Mensch, bzw. die für sich herausgefaßte Seele selbst« (ebd. 64) und weiter: »Aber die phänomenologische ἐποχή die der Gang der gereinigten Cartesianischen Meditationen von dem Philosophierenden fordert,

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

Ähnlich wie bei Husserl setzt auch der von ihm beeinflusste Heidegger den Leib nicht epistemologisch-absolut. Wo Husserl auf die philosophischen Herausforderungen ausgehend von Descar­ tes mit seiner Transzendentalphänomenologie antwortet, versteht Heidegger seine Phänomenologie explizit als Ontologie.222 Dem cartesianischen Subjekt-Objekt-Dualismus begegnet er folglich fun­ damentalontologisch mit der Analyse, welche am Begriff des Seins beginnt, zum Dasein führt und über die Eigentlichkeits- und Todes­ analyse zum Begriff der Zeit gelangt.223 Durch diese Transformation der Phänomenologie wird er zum »wichtigsten Initiator der Entwick­ lung von Ph[änomenologie] und Hermeneutik im 20. Jh.«224. Mit dieser philosophischen Ausrichtung Heideggers geht von Anfang an eine »Abdrängung bzw. ein Überspringen von Leiblichkeit und Natur«225 einher, die letztlich – wie bei Husserl – dazu führt, dass der Leib eine zutiefst untergeordnete Rolle innerhalb seines Werkes ein­ nimmt.226 inhibiert die Seinsgeltung der objektiven Welt und schaltet sie damit ganz und gar aus dem Urteilsfelde aus, und somit auch die Seinsgeltung, wie aller objektiv apperzpierten Tatsachen so auch derjenigen der inneren Erfahrung« (ebd.). 222 Heidegger beklagt, dass Descartes durch die Übernahme der »überkommenen antiken Ontologie« (Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 2006, 25) den Fehler mache, den Begriff des Daseins mit dem Sein fälschlicherweise gleichzusetzen und verwandelt so den vermeintlich-radikalen Neuanfang in eine »Pflanzung eines verhängnisvollen Vorurteils« (ebd.). 223 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 231f. Obwohl Heideggers Hauptwerk noch Husserl in Freundschaft gewidmet ist und er sich durchaus zur phänomenologischen Methode bekennt, kann seine fundamentalontologische Vorgehensweise nur als ein Bruch mit der Philosophie seines Mentors gedeutet werden (vgl. Rentsch, Thomas, »›Sein und Zeit‹. Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit«, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 22013, 48–74, hier: 51): »Von seiner destruktiv-kritischen Wendung gegen Descartes, gegen die traditionelle Erkenntnistheorie und Bewusstseinsphilosophie (§ 21) ist auch die bewusstseinsbzw. transzendentalphilosophisch denkende Husserlsche Phänomenologie indirekt deutlich mitbetroffen« (ebd.). 224 Gander, Hans-Helmuth, »Phänomenologie “, in: RGG4 6 (2003), 1253–1255, hier: 1254. 225 Rentsch, »Sein und Zeit«, 72. 226 Zu jener Kritik bezüglich der unterentwickelten Dimension des Leibes innerhalb der Philosophie von Heidegger – welche schon zu seinen Lebzeiten von verschiedenen Größen der Philosophie formuliert wurde – äußert er sich 1959 in einem Seminar mit dem Schweizer Psychiater Medard Boss und betonte – nur bedingt überzeugend, aber innerhalb seiner Ontologielogik konsequent –, dass die Vergegenwärtigung des Daseins immer schon leiblich vollzogen sei (vgl. Emrich, Hinderk M./Schlimme,

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

Hinsichtlich der in Husserls und Heideggers Arbeiten vorlie­ genden Abstinenz von Leiblichkeit können sowohl Maurice Mer­ leau-Pontys als auch Hermann Schmitz’ Werke als produktive Gegen­ entwürfe betrachtet werden, da auch sie – wie viele von Husserls Schüler – seine transzendental-idealistische Wende nicht mitvollzo­ gen haben. Besonders Merleau-Ponty ist fundamental durch Husserls Schriften beeinflusst, hat aber – besonders in der Spätphase seines Wirkens – die Schriften von Heidegger eingehend studiert.227 Die Frage nach der einfachsten Grundstruktur der Erfahrung teilt er mit Heidegger, kritisiert dagegen die Phänomenologie von Husserl als zu stark dem Intellektualismus zugeneigt und übernimmt aber gleichzeitig viel von seinen Vorgehen und Begriffen. Schon in seiner Anfangsphase »vertiefte er Husserl’sche ›Kategorien‹ mit Heidegger­ schen Gesichtspunkten«228. Wo ersterer das transzendentale Subjekt und letzterer das Sein zu seinem primären Fokus macht, tritt für Merleau-Ponty der Leib in den Mittelpunkt.229 Somit ist MerleauPontys Philosophie die erste, welche derart konsequent den Begriff des Leibes behandelt. Sein Vermächtnis ist demnach »den in unserem Leib gegründeten Bezug zum Sein und den sich durch unseren Leib hindurch vollziehenden Austausch mit ihm als das fundamentale anthropologische Faktum schlechthin herausgearbeitet zu haben«230. Man könnte pointiert formulieren, Merleau-Ponty »mischt« sowohl ontologische Elemente von Heidegger als auch epistemologische Momente von Husserl und lässt somit – im Gegensatz zu Husserl und Heidegger – die Möglichkeit eines direkten Weltzugangs des wahrnehmenden Subjekts wieder zu (vgl. hierzu Kapitel 4.1).231 Jann E., »Psychiatrie, Psychoanalyse und Psychotherapie. Wider das ›Gestell‹ des Psychologischen«, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben, Werk, Wir­ kung, Stuttgart 22013, 502–519, hier: 505f.). Eine weiterführende Ausführung oder Bearbeitung dieser Ebene bleibt er allerdings zeitlebens schuldig. 227 Fopp, David, »Maurice Merleau-Ponty. Anwesen und Gestalt«, in: Dieter Thomä, (Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 22013, 437–443, hier: 437. 228 Good, Paul, Maurice Merleau-Ponty. Eine Einführung, Düsseldorf und Bonn 1998, 258. 229 Vgl. ebd. 260f. 230 Maier, Willi, Das Problem der Leiblichkeit bei J.-P. Sartre und M. Merleau-Ponty, Tübingen 1964,73. 231 Bezüglich des Veränderten apriori vgl. Merleau-Ponty, Maurice, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 61966, 259f. und ebenfalls die prägnante Zusammenfassung von Paul Good vgl. Ders., Maurice Merleau-Ponty, 90–98.

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

Hermann Schmitz wiederum gilt als Gründer der Neuen Phäno­ menologie (s. Kapitel 5.1.2) und fokussiert ähnlich konsequent wie Merleau-Ponty den Begriff des Leibes, versteht diesen aber nochmals radikal anders vom Körper unterschieden als Merleau-Ponty (vgl. 4.3). Seine Phänomenologie wirkt, wie der selbstgegebene Name der »Neuen Phänomenologie« bereits andeutet, am – vermeintlich – weitesten distanziert von den klassischen Ansätzen von Husserl, Heidegger und Merleau-Ponty. Husserl und Heidegger widmet er eine alleinstehende Monographie, in welcher er beide kritisiert, wobei er Heidegger zugute hält, dass dieser – im Gegensatz zu Husserl – nicht das vorherrschende Paradigma der »psychologistisch-reduktio­ nistisch-introjektionistische[n] Denkweise«232 – dazu in Kapitel 5.1.2 mehr – weiter vertieft. Diesbezüglich versteht sich Schmitz als indi­ rekter Nachfolger beziehungsweise Vollender Heideggers ablehnen­ der Haltung gegenüber jener erkenntnistheoretischer Introjektion.233 Dennoch steht Schmitz Heideggers Ontologie im Ganzen skeptisch gegenüber und kritisiert diesen für die Ungenauigkeit seines Seins­ begriffes.234 Auch Husserl kritisiert er, da ihm dessen Erarbeitung des Leibes nicht weit genug geht, und auch er kritisiert – ähnlich wie Merleau-Ponty – Husserls Bearbeitung als zu verhaftet in dem »traditionelle[n] Schema des (noch gesteigerten) Körper-Seele-Dua­ lismus«235. Auch Merleau-Ponty kritisiert Schmitz ausführlich, unter anderem dafür, dass bei ihm der Leib nicht unterschieden genug vom Körper sei und wirft diesem – ganz ähnliche wie dieser zuvor Husserl – eine zu große Nähe zu klassischer Bewusstseinsphilosophie vor, in deren Zentrum die Überzeugung steht, dass ausschließlich das Bewusstsein Wirklichkeit schafft.236 Ob diese Kritik berechtigt ist und wie kompatibel die Erkenntnisse von Merleau-Ponty und Schmitz bezüglich des Leibes sind, wird das vorliegende Kapitel im Folgenden beantworten. Der Vollständigkeit halber sei in dieser Verhältnissetzung ebenso auf Karl Rahner verwiesen, der römisch-katholischer Theologe ist und folglich den Leib genuin theologisch deutet, aber selbstverständlich

232 233 234 235 236

Schmitz, Hermann, Husserl und Heidegger, Bonn 1996, 75. Vgl. ebd. 193. Vgl. ebd. 555. Schmitz, Hermann, Der Leib, Berlin/Boston 2011, 161. Ebd. 162f.

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4.1 Maurice Merleau-Ponty: Der Leib als Zur-Welt-sein

philosophisch und auch explizit phänomenologisch gebildet ist.237 In seiner Transzendentaltheologie werden die Einflüsse von Husserl, aber auch besonders von Heidegger, dessen Vorlesungen er besuchte, deutlich.238 Obwohl sich Rahner in seinen Studien z. T. anderer Begriffe und Methoden als die Philosophen bedient, gelangt er eben­ falls zu einem inklusiven Begriff des Leibes, der untrennbar zum Menschen gehört und diesen realsymbolisch erst vervollständigt (vgl. Kapitel 4.3). Jene theologische Deutung Rahners eröffnet eine ein­ zigartige Perspektive, welche neben den phänomenologischen Erkenntnissen von Merleau-Ponty und Schmitz für alle Fragen bezüg­ lich des Verhältnisses von Nichtmedialität und Medialität später noch entscheidend sein wird. Im folgenden Kapitel soll nun zuerst die Phänomenologie von Merleau-Ponty und Schmitz sowie die Theologie des Symbols von Rahner hinsichtlich der Frage, inwiefern der Körper des Menschen sein »Hier und Jetzt« als notwendiger Teil von Authentizität konstitu­ iert, dargestellt werden.

4.1 Maurice Merleau-Ponty: Der Leib als Zur-Welt-sein Es kann nicht überschätzt werden, wie dicht der Begriff des Leibes in das Denken des französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty eingewoben ist. Als Herzstück seiner Bemühungen stellt der Leib keine frei gewählte – oder zufällige – Nuance dar, vielmehr betrachtet Merleau-Ponty den Leib als grundlegende Gegebenheit, als trans­ zendentalen Gesichtspunkt und somit wesentliches Erkenntnismo­ ment menschlicher Existenz. Demzufolge ist seine Erforschung des Leibphänomens nicht Reflexion einer einzelnen menschlichen Eigen­ schaft, sondern sie manifestiert sich als Notwendigkeit in der Frage nach dem fundamentalen Gesichtspunkt zur Welt, der »Gesichts­ Rahner geht von einer Verschränkung von Theologie und Philosophie aus, da es – für seine Zeit – gar nicht möglich sei, theologiefreie Philosophie zu betreiben, da die Geschichte des Christentums immer und auch z. T. unthematisch, also unbewusst, präsent wäre (vgl. Rahner, Karl, Sämtliche Werke. Grundkurs des Glaubens, Bd. 26, Freiburg in Breisgau 1999, 36). 238 Vgl. Schöndorf SJ, Harald, »Die Bedeutung der Philosophie bei Karl Rahner«, in: Ders. (Hg.), Die philosophischen Quellen der Theologie Karl Rahners, Freiburg in Breisgau 2005, 13–29, hier: 16. 237

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punkt aller Gesichtspunkte«239 sein soll. Der Philosoph Christian Bermes beschreibt das Motiv, welches Merleau-Ponty zum Begriff des Leibes führt, als wie folgt: »Das Grundthema, den Knotenpunkt der Überlegungen [MerleauPontys], bildet die Frage nach dem Sinn: In welchem Medium läßt sich Sinn fassen, wie entsteht Sinn, wer ist der Träger von Sinn, und was wird durch eine Auslegung des Sinns zum Ausdruck gebracht?«240

Im Gegensatz zu Martin Heidegger, den – wie angedeutet – ähnliche Fragen beschäftigen, fokussiert Merleau-Ponty dabei aber weniger das allgemeine Sein, sondern er geht immer von der menschlichen Existenz aus.241 Auf der Suche nach dem Medium beziehungsweise Träger des Sinns zeigt sich, dass der Leib von ihm nicht willkürlich am Anfang als Thema gesetzt ist, sondern notwendig zu diesem wird. Seine – für unseren Zusammenhang entscheidende – Denkarbeit setzt im Spannungsfeld der aus der – bereits angesprochenen – car­ tesianischen Scheidung von Subjekt und Objekt erwachsenen episte­ mologischen Strömungen des Empirismus und des Intellektualismus (bzw. Rationalismus) an: »Wir müssen die Alternative, nichts vom Subjekt, oder aber nichts vom Objekt verstehen zu können, zu durchbrechen suchen. Wir müssen den Ursprungsort des Gegenstandes im Innersten unserer Erfahrung selbst aufsuchen, das Erscheinen des Seins zu beschreiben und das Paradox zu verstehen suchen, wie für uns etwas an sich zu sein vermag.«242

Mit dieser Problembeschreibung ist Maurice Merleau-Ponty im 20. Jahrhundert nicht alleine. Vielmehr stellen nahezu alle Phänome­ nologen zu jener Zeit eine solche erkenntnistheoretische Diagnose und reagieren darauf – mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen – mit 239 Boehm, Rudolf, »Vorrede des Übersetzers«, in: Maurice Merleau-Ponty, Phäno­ menologie der Wahrnehmung, Berlin 61966, V-XX, hier: V. 240 Bermes, Christian, Maurice Merleau-Ponty zur Einführung, Hamburg 1998, 30f. 241 »Der Leib und die Wahrnehmung finden bei letzterem kaum Erwähnung. Heidegger verbleibt im Immanenzraum des denkenden Denkens, auch wo es sich seinsgeschichtlich versteht.« (Good, Maurice Merleau-Ponty, 257) […] »Denn seine [Merleau-Pontys] Hauptsorge blieb der Mensch, während Heideggers einzige Sorge das Sein ist.« (ebd. 260). Trotzdem ist Merleau-Ponty nicht einfach als Anthropologe zu bezeichnen, da es ihm weniger um das Wesen des Menschen an sich geht, als um die ursprüngliche Form der Wahrnehmung, welche sich vom Erlebnis seiner menschlichen Gattung aus entfaltet. 242 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 96.

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4.1 Maurice Merleau-Ponty: Der Leib als Zur-Welt-sein

dem Begriff des Phänomens. Das heißt konkret, anstatt sich auf die Dualität von Subjekt- oder Objekthaftigkeit einzulassen, nimmt eine phänomenologische Perspektive die Erscheinung in den Blick und versucht in der Analyse des Phänomens, die cartesianische SubjektObjekt-Spaltung produktiv zu lösen. Wie vorangehend angedeutet beantwortet Husserl jene Entzweiung mit einer Aufwertung des menschlichen Bewusstseins: »In allen ihren Ausgestaltungen ist die Erkenntnis ein psychisches Erlebnis: Erkenntnis des erkennenden Subjekts.«243

Jene Deutung der Erkenntnis als genuin psychische Erkenntnis hat immense Folgen für die Mensch-Welt-Wahrnehmung. Für Husserl ist das erkennende Subjekt und sein transzendentales Ego die unüber­ bietbare Entität der Erkenntnis. Das transzendentale Ego ist nicht als »in der Welt«, sondern streng als ein »für sich« zu verstehen.244 Folglich ist die Welt dem Menschen nur vermeintlich gegenwärtig. Aufgrund dieser Vermeintlichkeit leitet Husserl die Notwendigkeit der Methode der Epoché (griech. ἐποχή »Zurückhaltung«) her, welche sich durch strenge Vorurteilslosigkeit auszeichnet. Über die Beschäf­ tigung mit den Phänomenen versucht er folglich den Dualismus von Descartes zu überwinden. Dies gelingt ihm letztlich, führt aber dazu, dass er durch seine Hinwendung zum Psychischen in große inhaltliche Nähe zur Bewusstseinsphilosophie gelangt, die er initial für ihre Einseitigkeit kritisierte. Für Merleau-Ponty hat Husserl somit durchaus das richtige Problem erkannt, formuliert allerdings dann eine Lösung, welche die eigenen Versprechen nicht einlöst. Letztlich bleibt Husserls Subjektund Erkenntnisbegriff von der Welt distanziert: »Gerade weil Husserl in den Wegen traditionellen Philosophierens dieses zu seinem eigentlichen Ende, und d. h. zum eigentlichen Anfang führen wollte, bleibt seine Phänomenologie unvollendet; denn sie

Husserl, Edmund, Husserliana: Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, Bd. 2, herausgegeben von Walter Biemel, Köln 21973, 20. 244 Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, 69. Hier wird deutlich, dass Husserl trotz aller Betonung des Psychischen, Erkenntnis nicht genuin psychologisch versteht und er folglich unverändert philosophisch arbeitet. Sein Erkenntnisverständnis steht somit weiterhin – trotz obig genannter Bestimmung – in Abgrenzung zum Psychologismus. 243

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steigert das metaphysische Privileg des Bewußtseins in ungekanntem Maße und bestreitet es – wenn auch eher ›unterirdisch‹ – in eins.«245

Auch wenn Merleau-Pontys Werk durch die Begriffe und Metho­ den von Husserl stark geprägt ist, orientiert er sich bezüglich des »menschlichen Verflochtenseins in ›faktische‹, nicht vollständig konstituierbare, räumliche, zeitliche, intersubjektiv-sprachliche und pragmatische Strukturen«246 stärker an Heidegger, der mit seinem fundamentalontologischen Ansatz den menschlichen Weltbezug kon­ sequenter integriert. Deutlich wird dies besonders in Merleau-Pon­ tys Begrifflichkeit des »être-au-monde«247, welches an Heideggers »in-der-Welt-Sein«248 angelegt ist. Merleau-Ponty benutzt auf diese Weise Aspekte von Heideggers Ontologie, um Husserls Transzenden­ talphilosophie in seinem Sinne zu korrigieren.249 Jene menschliche Verflochtenheit mit der Welt, die Merleau-Ponty in Abgrenzung zu Husserl anstrebt, ist für die vorliegende Fragestellung entscheidend. Diese Verflochtenheit (s. Kapitel 4.1.3) ist schließlich der Grund, wes­ halb letztlich die Ganzheit des Menschen eine vertiefende Bedeutung gewinnt und somit die Frage nach dem »Hier und Jetzt« des Menschen in Nichtmedialität in einem ersten Schritt beantwortet wird. Eine Phi­ losophie, die als Ergebnis ursprüngliche Originalität des Menschen als intellektualistisch und somit als von der Welt distanziert versteht, würde wieder Gefahr laufen, in erkenntnistheoretischer Einseitigkeit 245 Meyer-Drawe, Käte, »Welt-Rätsel. Merleau-Pontys Kritik an Husserls Konzep­ tion des Bewußtseins«, in: Phänomenologische Forschungen 30 (1996), 194–221, hier: 198. Käte Meyer Drawe fasst in ihrem Aufsatz die Kritikpunkte Merleau-Pontys an Husserl pointiert zusammen und macht deutlich, weshalb Husserl an der von ihm aufgezeigten immensen Problematik und den damit zusammenhängenden Aufgaben für sein eigenes philosophisches Programm nur scheitern konnte: »Sie will von der Zeitlichkeit unberührbare Wesensbestimmungen erzielen. Gleichzeitig soll die Betei­ ligung des Faktischen an diesen Bestimmungen kenntlich werden. Sie formiert sich als Transzendentalphilosophie, die sich aus der Inhibierung der Weltthesis gewinnt. Zugleich rehabilitiert sie die Lebenswelt als Boden aller Erkenntnis. Schließlich soll Philosophie als strenge Wissenschaft betrieben werden, die ihre Herkunft aus den konkreten Erfahrungen nicht berschweigt. Diese Paradoxien, die Husserl vor allem in seiner Krisis-Schrift mit transzendentalphänomenologischen Mitteln lösen wollte, sind nicht zu überwinden. Sie sind vielmehr eindrucksvolles Dokument einer radikalen Philosophie, die ein letztes Mal beides vereinen will: die Homogenität der Vernunft und die Vielheit der Erfahrungen.« (ebd. 198). 246 Fopp, »Maurice Merleau-Ponty«, 438. 247 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 7. 248 Heidegger, Sein und Zeit, 104. 249 Vgl. Fopp, »Maurice Merleau-Ponty«, 438.

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zu münden. Aus diesem Grund ist Husserls Ansatz für die vorliegende Frage genauso wenig geeignet, wie es konträr dazu beispielsweise die empiristische Philosophie von John Locke wäre.250 Angesichts jener epistemologischen Unzulänglichkeiten einer rein objektiven oder subjektiven Erkenntnissuche bemüht sich dem­ gegenüber Merleau-Ponty um die Findung eines dritten Weges, wel­ cher die Verwobenheit des Menschen mit der Welt ernst nimmt, ohne in eine einseitige physikalistische Perspektive zu verfallen. Im Prozess dieser »Wegfindung« manifestiert sich eine Phänomenologie, deren entscheidender transzendentaler Gesichtspunkt der menschlichen Leib ist. Um jene Leibphänomenologie und somit auch die Leitfrage nach dem »Hier und Jetzt« des Menschen verstehen zu können, ist folglich zwingend der Nachvollzug der Unzulänglichkeiten des Empirismus und Intellektualismus notwendig.

4.1.1 Intellektualismus und Empirismus »Als Enthüllung der Welt beruht die Phänomenologie in ihr selbst oder begründet sich selbst. Alle Erkenntnis stützt sich auf einen ›Boden‹ von Postulaten, und letztlich auf die Kommunikation mit der Welt als erster Stiftung einer Rationalität.«251

So formuliert Maurice Merleau-Ponty im Vorwort seines Hauptwer­ kes252 »Phänomenologie der Wahrnehmung« (1945) seine Vorstel­ Vgl. Locke, John, An Essay Concerning Human Understanding/Ein Versuch über den menschlichen Verstand: Englisch/Deutsch, Ditzingen 2020. 251 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 18. 252 Die Einteilung Merleau-Pontys Wirken in Früh- und Spätwerk ist – wie häufig in der Philosophie – nur ungenau möglich. Bernhard Waldenfels hält fest, dass man von einem klassischen Frühwerk bei ihm eigentlich nicht sprechen könne, da MerleauPonty in dieser Phase bereits phänomenologischen Positionen bezog, die für seine folgende Arbeit prägend seien (vgl. Waldenfels, Bernhard, Phänomenologie in Frank­ reich, Frankfurt am Main 1983, 147). Folglich ist festzuhalten, dass jene Anfangsphase mit der Fertigstellung seiner zwei großen Werke »Struktur des Verhaltens« (1942) und »Phänomenologie der Wahrnehmung« (1945) vollzogen war. In beiden Werken durchdenkt er die Grenzen von Empirismus und Intellektualismus und hat zum Ziel, »das Ungedachte der Phänomenologie, insbesondere das Ungedachte der Phänome­ nologie Husserls zuerst am Leib ausfindig zu machen und dann im Ausdruck zu markieren« (Bermes, Maurice Merleau-Ponty zur Einführung, 67). »Phänomenologie der Wahrnehmung« gilt dabei als Hauptwerk, in dem Merleau-Ponty zu einer sicheren philosophischen Haltung findet, die seine Methode und seinen Begriffsapparat festigt 250

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lung von Phänomenologie. Für ihn muss diese also ganz unten in der Welt anfangen, in der allerersten Wahrnehmung, noch vor jegli­ chen Denkprozessen. Diesbezüglich kritisiert er die vorherrschenden Modelle der Erkenntnistheorie. Dabei macht seine Analyse in beiden Modellen eklatante Selbstwidersprüche sichtbar, die letztlich zu einer Reduzierung und Unschärfe in der Bestimmung von Wahrnehmung führen. Mit der Bearbeitung des Phänomens der Wahrnehmung entfernt er sich in aller Klarheit von Husserl. Dieser diagnostizierte eine ähnliche Krise, indem er einerseits der Psychologie vorwarf, aufgrund ihres selbstauferlegten Zwangs des physikalistischen Natu­ ralismus unfähig zu sein Subjektsein zu erklären und andererseits die Philosophie dafür kritisierte, dass diese sich ebenfalls angesichts des Drucks von empirischer Seite sprachlos gebäre:253 »Immer mehr wird die Vernunft selbst und ihr ›Seiendes‹ rätselhaft, oder die Vernunft – als die der seienden Welt von sich aus Sinn gebende, und, von der Gegenseite gesehen, Welt – als aus der Ver­ nunft her seiende; bis schließlich das bewußt zutage gekommene Weltproblem der tiefsten Wesensverbundenheit von Vernunft und Seiendem überhaupt, das Rätsel aller Rätsel, zum eigentlichen Thema werden mußte.«254

Anderseits setzte Husserl nicht bei der Wahrnehmung selbst an, sondern verstand sich in der Tradition des cartesianischen Zweifelns, den er bei Descartes nicht als radikal genug vollzogen betrachtete. Dieser löse in seinem »Cogito ergo sum«255 das Cogito nicht radikal genug von der Welt und verfehlte somit den letzten Schritt philoso­ (vgl. ebd. 29). In seinen späteren Arbeiten bemüht sich Merleau-Ponty um eine gänzlich neue Ontologie, indem er die Erkenntnisse aus seinem Frühwerk über den Leib und den Menschen auf die Welt überträgt. In diesem Zusammenhang spielt dann auch der Begriff des Fleisches (chair) eine herausgehobene Rolle. Jenes späte Werk (vgl. Merleau-Ponty, Maurice, Das Sichtbare und das Unsichtbare. Gefolgt von Arbeitsnotizen. München 1986) hat für die Fragestellungen der vorliegenden Arbeit keine Relevanz. Der primäre Fokus liegt daher mit wenigen Ausnahmen, vornehmlich auf seinem Hauptwerk »Phänomenologie der Wahrnehmung« sowie auf »Struktur des Verhaltens«. 253 Vgl. Husserl, Edmund, Husserliana: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Bd. 6, herausgegeben von Walter Biemel, Köln 21954, 11f. 254 Ebd. 255 Vgl. Das oft ungenau wiedergegebene Zitat lautete auf lateinisch eigentlich »Ego sum, ego existo« (vgl. Descartes, Meditationes de prima philosophia, 78) bzw. »Je pense, donc je suis« (Descartes, René, Philosophische Schriften in einem Band. Mit

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phischer Radikalität.256 Merleau-Pontys Kritik am Intellektualismus muss daher auch immer als Kritik an dem phänomenologischen Programm von Husserl gelesen werden, da er – im Gegensatz zu Husserl – nicht der radikalen Entweltlichung des Subjektes folgt, sondern die Verwobenheit von Ich und Welt in all ihrer Unklarheit und Rätselhaftigkeit ernst nimmt und daher am Moment der Wahr­ nehmung ansetzt. Zugespitzt könnte man sagen, dass Merleau-Ponty das aufgezeigte Rätsel der »tiefsten Wesensverbundenheit von Ver­ nunft und Seiendem überhaupt, das Rätsel aller Rätsel«257, nun mit seinem Werk – ganz wie es Husserl intendiert – »zum eigentlichen Thema«258 macht.259 Diesbezüglich prüft er die Bestimmung der Wahrnehmung anhand von Intellektualismus und Empirismus und problematisiert folgend deren Radikalität und Inkonsistenz. Es wird offensichtlich, dass er die Ansätze der philosophischen Erkenntnistheorien nicht einseitig ablehnt. Vielmehr formuliert er zum Teil sogar Verständnis für deren Motive. Grundsätzlich stößt er sich aber an der radikalen Einseitigkeit, mit der jene Konzepte verabsolutiert werden: »Hat ein Modell in einem bestimmten Problembereich Erfolg gehabt, so wendet man es überall an«260. Zugespitzt kann der Empirismus als ein szientistisch fundierter Naturalismus und der Intellektualismus als kritizistische Bewusst­ seinsphilosophie oder skeptizistischer Rationalismus beschrieben einer Einführung von Rainer Specht und ›Descartes’ Wahrheitsbegriff‹ von Ernst Cassirer, Hamburg 1996, 55). 256 Vgl. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 83 f. 257 Ebd. 258 Ebd. 259 Auch Heidegger bearbeitet jene Rätselhaftigkeit im Kern, bricht ebenfalls mit Husserls Vorgehen und setzt nochmals anders als Merleau-Ponty nicht an dem Phänomen der Wahrnehmung, sondern beim Sein selbst an. Dieses unterschiedliche Phänomeninteresse der Philosophen hat direkte Auswirkungen auf deren jeweili­ ges Vorgehen. Wo Merleau-Ponty auf aktuelle Ergebnisse der Naturwissenschaften zurückgreift und bis dato kaum bearbeitete Erkenntnisse aus den Neurowissenschaf­ ten und der Gestalttheorie heranzieht, detailliert bearbeitet und in seine Phänomeno­ logie integriert, belegt Heidegger die Human- und Naturwissenschaften mit einem gewissen Positivismusverdacht und betrachtet diese eher skeptisch. Dieser greift in seiner Fundamentalontologie auf die frühgriechische Denktradition zurück und nähert sich folglich seinen präferierten Phänomenen eher distanzierter und entfernter (vgl. Fopp, »Maurice Merleau-Ponty«, 439). 260 Merleau-Ponty, Maurice, Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, heraus­ gegeben und übersetzt von Hans Werner Arndt, Hamburg 21984, 276.

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werden.261 Ersterer zielt auf die rein äußerliche Betrachtung der Phä­ nomene und hat in seiner objektivistischen Perspektive ausschließlich die Natur an sich im Fokus. Letzterer zeichnet sich dadurch aus, dass er die Welt und seine Phänomene grundsätzlich aus der mentalen Perspektive und damit aus der Bewusstseinsperspektive von innen betrachtet. Die Aufdeckung dieser verkürzten Erkenntnisbestimmung von reinem An-sich und reinem Für-sich anhand der Analyse des Erkenntnisphänomens der Wahrnehmung stellt den Ausgangspunkt der Bemühungen von Maurice Merleau-Pontys dar. Aus heutiger Sicht ist diesbezüglich zweierlei zu beachten. Ers­ tens sind die, in »Phänomenologie der Wahrnehmung«, dargelegten epistemologischen Details hinsichtlich des aktuellen Wissenstandes von Empirismus und Intellektualismus zum Teil nicht mehr aktuell. Nichtsdestotrotz ist zweitens die philosophische Argumentation in ihrer Quintessenz nach wie vor gültig, da – zeitlich unabhängig – selbst gemäßigte Formen beider Erkenntnistheorien Grundannah­ men beinhalten, welche – konsequent vollzogen – einerseits diesel­ ben Inkonsistenzen aufzeigen und andererseits in jener dualistischen Problematik münden. Vor dieser Problematik warnt Merleau-Ponty und beantwortet sie mit seiner phänomenologischen Lösung. Der Philosoph und Merleau-Ponty-Kenner Christian Bermes weist dies­ bezüglich darauf hin, dass das Anliegen von Merleau-Ponty keine Psychologiekritik, sondern die Etablierung einer neuen Philosophie sei.262 Die Etablierung jener neuen Philosophie erarbeitet sich Mer­ leau-Ponty angesichts der Spannung von Empirismus und Intellek­ tualismus bezüglich des Wahrnehmungsbegriffs. Wahrnehmung, das ist für den französischen Philosophen mehr als nur ein Phänomen unter vielen, denn: »Wahrnehmung ist nicht Wissenschaft von der Welt, ist nicht einmal ein Akt, wohlerwogene Stellungnahme, doch ist sie der Untergrund, von dem überhaupt erst Akte sich abzuheben vermögen und den sie beständig voraussetzen.«263

Wahrnehmung ist somit ein Wissen, das immer schon da ist. Doch was bedeutet das konkret?

261 262 263

Vgl. Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, 142. Vgl. Bermes, Maurice Merleau-Ponty zur Einführung, 40. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 7.

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Empfindung als Impression, Qualität und Reiz In empiristischer Perspektive wird, nach Merleau-Ponty, Wahrneh­ mung zuallererst mit Empfindung in Verbindung gesetzt. Empfin­ dung wird in diesem Sinne als ein »undifferenzierte[r], punktuellaugenblickliche[r] Anstoß«264 verstanden. Dies sei deshalb eine fehlerhafte Annahme, weil wir grundsätzlich im Kontext wahrneh­ men und nicht punktuell Gesondertes. Wahrgenommenes werde automatisch in Relation zu seinem Feld bestimmt und offenbare somit immer schon einen Sinn. Daher sei eine rein isolierte Impression nicht innerhalb der Wahrnehmung denkbar. Ähnlich unzureichend sei die empiristische Überlegung, dass sich Wahrnehmung als Emp­ findung von Qualitäten definieren lasse. Merleau-Ponty gibt an, dass innerhalb dieser Bestimmung Wahrgenommenes mit Wahrnehmung verwechselt wird. Beispielsweise erschließe sich durch die Sichtung der Farbe Gelb kein neues Bewusstseinselement, sondern lediglich die Eigenschaft eines Objektes. Und selbst diese Eigenschaft sei nur wieder als Teil einer räumlichen Konfiguration und somit innerhalb eines Kontextes zu identifizieren.265 Er referiert, dass Wahrnehmung also mehr als das Erfassen von Qualitäten außerhalb und der Pro­ zess der Impressionserfahrung innerhalb unseres Bewusstseins zu sein scheint. Neben Impression und Qualität sei die dritte mögliche empiristische Einordnung, Empfindung als Ergebnis von Reizen zu verstehen. Demzufolge würde die Wahrnehmung eines Objektes immer die gleiche Qualität von Empfindung hervorrufen und unser Nervensystem in seiner sensorischen und motorischen Komplexität wäre auf ein mechanistisches Nachrichtenübermittlungsgefüge redu­ ziert. Merleau-Ponty verweist auf den Widerspruch der alltäglichen Erfahrung, mit dem sich jene Prämissen nicht decken. Außerdem zeigt er, dass sich diese Theorie induktiv-experimentell nicht belegen lässt, da grundsätzlich schon vorausgesetzt wird, was bewiesen wer­ den soll.266 Weitergehend diagnostiziert er als strukturellen Fehler des empi­ ristischen Ansatzes das Vorurteil, dass die Welt komplett transpa­ rent, durchschaubar und ohne jegliche Schatten sichtbar zu machen sei. Er wendet ein, dass die Hypothese einer objektiven Welt sich 264 265 266

Ebd. 21. Vgl. ebd. 23. Vgl. ebd. 26f. und vgl. Good, Maurice Merleau-Ponty, 37.

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als falsch offenbare, wenn man anerkenne, dass die tägliche Wahr­ nehmungserfahrung der angeblichen Klarheit von Geometrie und Optik widerspreche. Demnach müsse jeder Mensch innerhalb sei­ nes Gesichtsfeldes einen fehlerfreien und lückenlosen Blick auf den fokussierten Weltausschnitt und – dagegen scharf abgegrenzt – eine schwarze Zone der Nichtwahrnehmung haben. Aber weder seien die Bereiche klar abgetrennt, noch sei die Zone außerhalb des Gesichts­ feldes schwarz oder völlig unwahrnehmbar.267 Somit formuliert er die Problematik wie folgt: »Die das Gesichtsfeld umgebende Region ist nicht leicht zu beschrei­ ben, doch ist sie sicher weder schwarz noch grau. Sie steht in einer unbestimmten Sicht, der Sicht eines Je ne sais quoi, und am Ende ist sogar das in meinem Rücken Gelegene nicht gänzlich ohne visu­ elle Gegenwart.«268

Merleau-Ponty geht also davon aus, dass die Welt nicht als reine Welt wahrgenommen wird. Dies macht er an der optischen »MüllerLyerschen Täuschung«269 deutlich, bei der die Linien »weder gleich noch ungleich lang«270 erscheinen. Dieses Phänomen zeigt jenen obig genannten Bereich des »Je ne sais quoi«. Dieser Widerspruch stelle nur dar. In jenem Phänomen der »unbestimmten Sicht« begegne uns zwar Sinn, aber dieser Sinn sei nicht empirisch-kausal greifbar. Daher stelle die Müller-Lyerschen Täuschung nur innerhalb der Welt des empiristischen Objektivismus ein Problem dar.271 Nach Merleau-Ponty wird das Faktum der Unbestimmtheit des Gesichts­ feldes in den Definitionsversuchen des Empirismus ignoriert. Durch den naturalistischen Akt der Gleichsetzung von Empfindung und Wahrnehmung werde jegliche Bewusstseinsaktivität auf das Sortie­ ren von Impressionen reduziert. Innerhalb dieser Binnenlogik wird alles unbestimmt Wahrgenommene schlicht unbestimmbar und muss zwangsläufig ignoriert werden, wenn die Schlüssigkeit des eigenen Systems nicht aufgegeben werden soll. Wenn aber Wahrnehmung auf Empfindung reduziert wird, kann Denken nur noch das Ordnen von Impressionen sein, was wiederum auf andere Impressionen verweist. Folglich werde der Körper zu einer Ansammlung von Zahnrädern 267 268 269 270 271

Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 24. Ebd. Ebd. 24. Ebd. Vgl. ebd.

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und Philosophie zu Nominalismus.272 Ziel des Empirismus ist – nach Merleau-Pontys Demonstration – eine umfassende Konstruktion der Welt aus naturalistischer Perspektive ohne jegliche Intransparenz, in der der Akt des Denkens zu reiner Chemie wird und Wahrheit nicht aus Erfahrung entsteht, sondern konstruiert wird. Der so beschnittene Wahrnehmungsbegriff führe in letzter Konsequenz dazu, dass das wahrnehmende Subjekt273 seiner Welt wie der Wissenschaftler seinen Experimenten gegenüberstehe. Trotz fundierter Kritik zeigt sich Merleau-Ponty verständnisvoll für den Impuls, die Natur als erste Analysethematik zu wählen, da jedes Kulturobjekt auf einen Naturgegenstand verweise. Aufgrund der referierten Unzulänglichkeiten jener radikalen Reduktion des Empirismus, der die Welt auf eine Ansammlung von Impressionen, Qualitäten und Reizen zusammenschrumpft und sie anschließend zum ersten menschlichen Wahrnehmungsgegenstand postuliert, bezeichnet Merleau-Ponty jene einseitige Form der Epistemologie als »verarmte Wahrnehmung«274.275

Aufmerksamkeit und Urteil Eine solche »verarmte Wahrnehmung« ist nach Merleau-Ponty auch im Intellektualismus aufzufinden, der für sich genommen ebenfalls keine abschließende Antwort auf die Herausforderung des Erkennt­ Vgl. Good, Maurice Merleau-Ponty, 39f. Rudolph Boehm, der Übersetzer der deutschen »Phänomenologie der Wahrneh­ mung«-Ausgabe, verweist auf den philosophisch stark traditionsgeladenen Begriff des deutschen Wortes »Subjekt« im Gegensatz zum französischen »sujet« und stellt klar, »daß sich das Wort ›sujet‹ im französischen Sprachgebrauch nie dem ›Substanz‹Begriff assimiliert, vielmehr stets seinen ursprünglichen, diesem gerade entgegen­ gesetzten Sinn vornehmlich bewahrt hat; […] so heißt ›sujet‹ im Französischen grundsätzlich ›ausgesetzt‹, ›abhängig‹, ›unterworfen‹, abstrakter dann etwas, was einer ›Bestimmung‹, unterliegt, eine ›Gestaltung‹ ›erfährt – und dessen erst bedarf. Nur in der kantianisierten französischen Philosophie des XIX und XX. Jahrhunderts hat sich ein dem heute im Deutschen geläufiger ähnlicher Sinn des Wortes einge­ führt.« (Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 7 Anmerkung »e«). Im Zuge der Lektüre von Merleau-Pontys Schriften muss folglich jene Unterschei­ dung und letztlich Abschwächung des Begriffs notwendig mitreflektiert werden. Diese Abschwächung erscheint besonders sinnvoll angesichts der Tatsache, dass Merleau-Pontys Arbeit sich vorrangig auf den Zustand des primordialen, also vor dem Selbstbewusstsein bezieht. 274 Vgl. ebd. 44. 275 Vgl. ebd. 44f. 272

273

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nisgewinns darstellt. Dies demonstriert er am Phänomen der Auf­ merksamkeit und des Urteils. Wie Merleau-Ponty anschließend zeigt, werden jene Phänomene bereits innerhalb des Empirismus ohne Erfolg aufgegriffen und der Intellektualismus reagiert auf die unzu­ reichende Lösung des Empirismus und versucht – letztlich ebenfalls ohne Erfolg –, diese innerhalb der eigenen rationalistischen Methode zu lösen. Folgend werden die unzureichenden Bemühungen hinsicht­ lich der Phänomene der Aufmerksamkeit und des Urteils dargestellt. Innerhalb des Empirismus kommt der Aufmerksamkeit die Funktion der Hervorhebung einzelner Empfindungen zu. Dabei werden die Empfindungen innerhalb der Wahrnehmung fokussiert, welche die jeweiligen Antworten auf die Fragen zur Wirklichkeit geben. Die Aufmerksamkeitsfunktion werde nach Merleau-Ponty dabei durch Vertreter des Empirismus explizit als allgemeines und unbedingtes Vermögen klassifiziert. Die Angabe der genauen Gründe für die so exakte »Beleuchtungsarbeit« der Aufmerksamkeit von jenen Ideen und Wahrnehmungen, die die eigenen Wirklichkeitsfragen beantworten, bleibe der Empirismus aber schuldig. Merleau-Ponty gibt an, dass sich bei genauerer Betrachtung zeigt, dass der Empiris­ mus innerhalb seiner Methodik schlicht nicht in der Lage ist, eine Antwort für jene exakte Fokussierung der Inhalte zu formulieren, da er nur äußere Verbindungen von Bewusstseinszuständen in ihrer erscheinenden Abfolge beschreiben, nicht aber in Relation zueinander bestimmen kann. Logische Folge der Theorie der Aufmerksamkeit wäre ein Zugeständnis an Eigeninitiative an das wahrnehmende Wesen, und konsequent zu Ende gedacht würde es damit in den Rang eines freien Subjektes aufsteigen. Dies widerspreche aber der natu­ ralistisch-mechanistischen Perspektive des Empirismus und daher verharre er an dieser Stelle in einem offensichtlichen Widerspruch. Dieses Paradoxon greift der Intellektualismus auf und postuliert die Aufmerksamkeit als produktiven und damit aktiven Akt. Die Aufmerksamkeit habe demnach eine befreiende und aufweckende Wirkung auf die unaufmerksame Wahrnehmung. Wenn das wahr­ nehmende Subjekt innerhalb des Gegenstandes eine geometrische Form erkenne – so Merleau-Ponty über den Intellektualismus –, dann werde dieses geometrische Wissen bereits durch das Bewusstsein in den Gegenstand gelegt und müsse lediglich durch die Aufmerk­ samkeit reanimiert werden. Ähnlich eines Bewusstlosen, der aus seiner Ohnmacht geweckt wird, hilft die Aufmerksamkeit der Wahr­ nehmung, auf bereits vorliegendes Wissen zuzugreifen. Die Welt sei

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auch hier ohne Ablenkung und Schattenhaftigkeit vollkommen klar sichtbar.276 Merleau-Ponty weist bei dieser Argumentation darauf hin, dass bei genauem Hinsehen die Aufmerksamkeit im Intellektua­ lismus folglich so unproduktiv wie innerhalb seiner empiristischen Antithese sei. Jede Leistung, die sie angeblich erbringe, läge eigentlich schon im Bewusstsein vor. Im Falle des Empirismus konstituiere das Bewusstsein absolut nichts und es werden ausschließlich externe Verbindungen aufgezeigt. Konträr dazu sei das Bewusstsein im Intellektualismus in seiner Funktion, alle Gegenstände konstituieren zu können, geradezu übermächtig, da es die jeweilige intelligible Struktur schon innehabe. Die Aufmerksamkeit aber ende als leerer Terminus, da sie keinerlei Verbindung schaffe, die nicht sowieso schon da gewesen wäre und auch sonst keine konkrete Leistung vorweise. Warum die Wahrnehmung eben diese oder jene Gegenstände als besonders herausgehoben empfindet, was also der Grund für die Intention des Subjektes ist, bleibt weiterhin ungeklärt. In der Logik des Empirismus sei das Bewusstsein zu arm, innerhalb des Intellek­ tualismus sei es zu reich, um ihm verständlich zu machen, warum es von einem bestimmten Gegenstand erregt werde. Mit der naturalisti­ schen Perspektive sei der Zusammenhang zwischen Gegenstand und ausgelöster Subjektreaktion unerklärbar; mit der intellektualistischen hingegen sei der Anlass zum Denken nicht verständlich.277 Maurice Merleau-Ponty formuliert dies in einem pointierten Zwischenfazit wie folgt: »Der Empirismus sieht nicht, daß wir nichts suchten, wüßten wir nicht, was wir suchen; der Intellektualismus hingegen sieht nicht, daß wir gleichfalls nichts suchten, wüßten wir, was wir suchen. Für beide gilt, daß sie nicht das zu erfahren im Begriff befindliche Bewußtsein zu erfassen vermögen, das wissende Nichtwissen einer noch ›leeren‹ und gleichwohl schon bestimmten Intention, welches das Wesen der Aufmerksamkeit ist.«278

Daher kommt Merleau-Ponty zu dem Schluss, dass beide Theorien den für sie nicht fassbaren Mittelteil des Wahrnehmungsprozesses ignorieren und sich dadurch in Widersprüche begeben:

276 277 278

Vgl. ebd. 47f. Vgl. ebd. 49. Ebd.

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»Im Intellektualismus bleibt stets etwas zurück von dem Empirismus, über den er sich erhebt, – gleichsam ein verdrängter Empirismus.«279

Beide Modelle verfehlen, das Verhältnis von Bewusstsein und Erfah­ rung schlüssig zu klären. Nach Merleau-Ponty wird im Intellektualis­ mus das Bewusstsein auf das, was es sucht, jedes Mal wie durch ein Wunder aufmerksam und im Empirismus hat es das, was es sucht, immer schon besessen. Doch wird von beiden Thesen der konkrete Prozess der Gegenstandskonstitution übergangen, also das Moment des »zu erfahren im Begriff befindliche Bewusstsein[s]«280 nicht geklärt. Merleau-Ponty konkludiert, dass die fundamentale Erfah­ rung, dass Gegenstände im alltäglichen Bewusstsein vorwiegend unklar, verwischt, unvollendet und als nur temporärer Wahrheits­ moment wahrgenommen werden, von beiden Erkenntnistheorien gänzlich ignoriert werde.281 Merleau-Ponty zeigt, dass daran ebenfalls die vom Intellektualismus angenommene Allianz aus Empfindung und Urteil nichts ändert. Es sei eine intellektualistische Vorstellung, dass durch Urteile die Empfindungen geordnet werden und so Wahrnehmung entstehe. Mit zwei Augen müssten wir eigentlich zwei getrennte Bilder wahr­ nehmen. Dies sei aber offenkundig nicht unser alltäglicher Wahr­ nehmungsprozess, vielmehr konstituieren wir aus diesen beiden Bildern die Idee eines Gegenstandes. Durch die Kraft des Urteils inter­ pretieren wir die Empfindungen, welche für den Intellektualismus ausschließlich Reize seien und ordnen so die vorhandenen Zeichen. Diese Funktion, überschüssige Wahrnehmung zu erläutern, sei nicht transzendental, sondern ein mechanistischer Akt logischer Kombina­ tion, der lediglich die Unfähigkeit des Körpers, seine empfangenen Reize zu interpretieren, ersetzte. Nach Merleau-Ponty beschreibt der Intellektualismus ein Wahrnehmungssystem, ohne auf dessen konkrete Reflexion einzugehen und übergehe damit die Frage, woher das Sinnliche eigentlich Sinn zugewiesen bekommen habe. Logische Folge sei dann, dass der Akt des Urteils nicht wahrnehmungskonsti­ tutiv sei, sondern eine bloße Erläuterungsfunktion habe. Darüber hinaus verlören Empfindungen ihr Alleinstellungsmerkmal. Etwas zu hören oder zu sehen sei durch die intellektualistische Vorstellung Merleau-Ponty, Maurice, Die Struktur des Verhaltens, übersetzt von Bernhard Waldenfels. Berlin/New York 1976, 217. 280 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 49. 281 Vgl. ebd.

279

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des Urteils dann immer schon mehr als nur die isolierte Impression. Konsequent zu Ende gedacht falle sie dann schon unter das Genre des Urteils. Dies widerspräche aber – nach Merleau-Ponty – unserer alltäglichen Erfahrung, in der wir sehr wohl zwischen Empfindung und Urteil unterscheiden. Die Tatsache, dass das wahrnehmende Subjekt sich einer Empfindung urteilsfrei hingeben oder ganz bewusst eine Stellungnahme zu jener Erkenntnis beziehen könne, sei nicht von der Hand zu weisen und stehe konträr zu den Wahrnehmungspostu­ laten des Intellektualismus. Zudem weist er darauf hin, dass – wenn Urteilen und Empfinden gleichgesetzt wären – der Akt der sinnlichen Empfindung durch den des Urteils fundamental bestimmt würde. Infolgedessen sei aber der Unterschied zwischen wahrer und falscher Wahrnehmung nicht zu erklären. Wenn das wahrnehmende Subjekt aufgrund von Zeichen und Materie sein Urteil fälle, welches dann richtig oder falsch sei, geschehe diese Einschätzung – nach MerleauPonty – bereits vor der Ebene des »Sinnlichen eigenen Sinnes«282. Das Urteil selbst sei dann nur noch der darauf folgende Ausdruck dieses Wahrnehmungsphänomens. Irrtum oder Täuschung in der Wahrnehmung sei für den Intellektualismus dementsprechend nicht zu verstehen, genauso wenig wie die Existenz von wahrgenommenen Gegenständen unabhängig vom Wahrnehmenden erklärbar sei.283 Des Weiteren halte der Intellektualismus daran fest, dass alles Empfundene in den konstituierten und nicht in den konstituierenden Bereich gehöre. Natürlich erlebe man perzeptive Empfindungen, diese seien aber laut Intellektualismus lediglich Ergebnis der Wahr­

Ebd. 57. Vgl. ebd. Merleau-Ponty macht jene Problematik nochmals an dem Beispiel eines auf ein Blatt Papier gezeichneten Würfels deutlich: Es sei dem Wahrnehmenden klar, dass es zwei Arten gebe, den Würfel anzuschauen. Trotz dieses Wissens stehe das wahrnehmende Subjekt der Wandlung des Würfelphänomens ohnmächtig gegenüber und sei auf die intuitive Strukturveränderung der Zeichnung angewiesen. Logische Folge wäre nun, die Begriffe Wahrnehmung und Urteil separat voneinander zu definieren. Der Intellektualismus müsse aber seiner Logik der Gleichsetzung von Empfindung und Urteil folgen und geriete in einen weiteren Widerspruch. Da die sinnliche Empfindung des Würfels gleich bleibe, sei für ihn die Wahrnehmung der verschiedenen Würfelarten ausschließlich von einer veränderten Interpretation abhängig. Nach Merleau-Ponty wird also innerhalb dieser Binnenlogik ausschließlich so gesehen wie geurteilt wird. Auf das Würfelbeispiel bezogen bedeutet dies, dass die Erscheinungsformen sich auf Befehl verändern und somit das Urteil die Wahrneh­ mung direkt beeinflusst (vgl. ebd. 55f.). 282

283

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nehmung in Form von Interpretation.284 Merleau-Ponty fasst seine Überlegungen zugespitzt in Bezug auf die Situiertheit in der Welt zusammen und fragt: »Wüßte ich, daß ich in der Welt befangen und situiert bin, wäre ich wahrhaft in ihr befangen und situiert? Wäre ich dies, so würde ich lediglich sein, wo ich bin, wie ein Ding; da ich aber weiß, wo ich bin, und mich selbst in der Umgebung der Dinge sehe, bin ich eben Bewußtsein, ein einzigartiges Seiendes, das nirgendwo seinen Ort hat und intentional überall zu sein vermag.«285

Vorurteile und Sackgassen Durch diesen Dualismus, der entweder Objekt oder Bewusstsein pro­ klamiert, macht Merleau-Ponty deutlich, dass der Intellektualismus keine vermittelnde Entität kenne und dies notwendig zur Folge habe, dass Wahrnehmung zwangsläufig auf einen reinen Akt des Denkens reduziert werde. Über die räumlichen und zeitlichen Faktoren der Erkenntnis habe sich das Subjekt dieser Denkweise folgend also intel­ lektuell erhoben und entledigt. Er gibt an, dass diese Annahme auf­ grund alltäglicher Wahrnehmungsphänomene nicht nachvollziehbar sei, da sonst beispielsweise eine wahrgenommene Landschaft, die ein auf dem Kopf stehendes Subjekt darstellt, sofort von dessen Verstand richtig herumgedreht werden müsste. Dies passiere aber genauso wenig wie die korrekte Wahrnehmung von geometrisch-verschach­ telten Figuren. Obwohl dem Verstand die geometrische Figur bekannt sei, könne er sie nicht direkt wahrnehmen und sei somit außer Stande, sich über die körperliche Unzulänglichkeit hinwegzusetzen, so wie es nach der Theorie des Intellektualismus proklamiert werde.286 Merleau-Ponty konfrontiert sie mit der Endlichkeit und örtlichen Gebundenheit der Wahrnehmung an einen Gesichtspunkt.287 Um der Konfrontation mit der eigenen Unfähigkeit der Selbstreflexion zu ent­ gehen, müssen diese Wahrnehmungsphänomene ignoriert werden. Vgl. ebd. 59f. Ebd. 60. 286 Vgl. Good, Maurice Merleau-Ponty, 46f. 287 Für Merleau-Ponty ist Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas. Daraus ergibt sich – im späteren Verlauf detailliert referiert – seine Proklamation der Subjekt­ eigenschaft des »Zur-Welt-seins« (Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrneh­ mung, 419). 284

285

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Diese erkenntnistheoretische Unzulänglichkeit einfach zu akzeptieren, ohne seine fachliche Integrität aufzugeben, ist nach Mer­ leau-Ponty nicht möglich. Das stark angepriesene intellektualistische »Highlight« in Form des unendlichen Denkens des Bewusstseins ent­ puppe sich somit ganz im Gegenteil als ein Unbewusstsein von Nicht­ wissen und manifestiere so die Unfähigkeit des Intellektualismus, die gesamte Wirklichkeit der Wahrnehmung zu durchdringen:288 »Die intellektualistische Reflexion vermag in dieses lebendige Dickicht der Wahrnehmung niemals einzudringen, da sie stets nur die Bedin­ gungen ihrer Möglichkeit, ohne welche sie nicht sein könnte, aufsucht, nicht aber dahin gelangt, die Tätigkeit zu entdecken, die ihr Wirklich­ keit erst ausmacht, durch die sie sich konstituiert.«289

Wo der Empirismus dem Vorurteil einer absoluten Weltgläubigkeit verfallen sei, indem das Bewusstsein ein reduzierter, geradezu uner­ heblicher Teil jener Welt werde, positioniere sich der Intellektualis­ mus mit einer These der absoluten Konstitution der Welt durch das Bewusstsein. Zur Krise der Wissenschaft führe also, nach MerleauPonty, dass der Mensch einerseits zum rein mechanistischen Objekt und andererseits zu einer unbedingten, zeitlosen Entität erklärt werde. Bernhard Waldenfels kommentiert die von Merleau-Ponty thematisierte Problematik von empirischer und intellektualistischer Radikalität wie folgt: »Auf der einen Seite steht eine objektivistische und naturalistische Sichtweise, die an alle menschlichen Phänomene von außen heran­ tritt und bei einer Natur an sich endet, auf der anderen Seite eine subjektivistische und kritizistische Sichtweise, die alle Phänomene von innen her erschließen will und bei einem reinen Bewußtsein endet. Der lebendige Bezug zwischen Bewußtsein und Natur wird zerrieben zwischen äußerer wissenschaftlicher Explikation und innerer philoso­ phischer Reflexion.«290

Um aus der vorurteilsbehafteten Sackgasse dieser »Zerreibung« zu entkommen, benennt Merleau-Ponty als explizit falsche Wege einen verstärkten Rückzug in die Extrempositionen des rationalistischen Intellektualismus oder des naturalistischen Empirismus. Vielmehr sei es notwendig, den epistemologischen Status quo aufzubrechen 288 289 290

Vgl. ebd. 60f. Ebd. 61. Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, 149.

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und den Begriff der Wahrnehmung neu und in sich konsistent zu ver­ orten.291 Als einzige Möglichkeit der Befreiung von radikalem Empi­ rismus und Intellektualismus begreift Merleau-Ponty die Methode der Phänomenologie.

4.1.2 Phänomenologie als Lösung Beide beschriebenen Gedankenkonstrukte haben es nicht vermocht, das Phänomen der Wahrnehmung in seiner gesamten Vielschich­ tigkeit zu durchdringen. Maurice Merleau-Ponty plädiert für eine positive Bewertung der offensichtlichen Undurchschaubarkeit der Welt.292 Um eine Theorie der Erkenntnis aus den verkeilten Extrem­ perspektiven zu lösen, muss ein grundlegender Neuansatz gefunden werden, der weder die physische Verankerung des Menschen in der Welt unter- noch seine mentalen Konstituierungsfähigkeiten überbe­ wertet.

Von der Gestalttheorie zur Phänomenologie Diesbezüglich orientiert er sich an der Gestalttheorie, die der Haupt­ begründer Max Wertheimer wie folgt zusammenfasst: »Man könnte das Grundproblem der Gestalttheorie etwa so zu for­ mulieren suchen: Es gibt Zusammenhänge, bei denen nicht, was im Ganzen geschieht, sich daraus herleitet, wie die einzelnen Stücke sind und sich zusammensetzen, sondern umgekehrt, wo – im prägnanten Fall – sich das, was an einem Teil dieses Ganzen geschieht, bestimmt von inneren Strukturgesetzen dieses seines Ganzen.«293

Diese Beschreibung ist nicht mit dem Aristoteles zugeschriebenen Zitat »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«294 gleichzu­ 291 Trotzdem spricht Merleau-Ponty von einer »tiefen Verwandtschaft« beider Theo­ rien, da beide von einem dogmatischen Urteil der Welt ausgehen, wonach diese klar zu erkennen sei und allen Wahrnehmungsschatten die Existenz abgesprochen wird (vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 61f.). 292 Vgl. ebd. 25. 293 Wertheimer, Max, Über Gestalttheorie. Drei Abhandlungen zur Gestalttheorie, Erlangen 1925, 43. 294 »Da nun alles, was aus Bestandteilen so zusammengesetzt ist, daß eine Einheit und ein Ganzes daraus wird, nicht wie ein Haufen, sondern wie eine Silbe: die Silbe

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setzen, sondern steht vielmehr für die Auffassung, dass das Ganze »etwas anderes [ist] als die Summe seiner Teile. Es kommen nicht etwa nur zu den – unveränderten -Teilen Gestaltqualitäten hinzu, sondern, alles was zu einem Teil eines Ganzen wird, nimmt selbst neue Eigenschaften an«295. Merleau-Ponty deutet dies bereits in »Struktur des Verhaltens« wie folgt aus: »Denn diese ›Gestalten‹ und besonders die physikalischen Systeme lassen sich definieren als ganzheitliche Prozesse, deren Eigenschaften nicht die Summe jener Eigenschaften sind, die den isolierten Teilen zukämen – genauer noch: als ganzheitliche Prozesse, die voneinander ununterscheidbar sein können, obwohl ihre ›Teile‹, einzeln miteinan­ der verglichen, sich in ihrer absoluten Größe unterscheiden, anders gesagt: Sie lassen sich definieren als transponierbare Ganzheiten.«296

Ausgehend vom Beispiel einer Person, die an einer Lähmung des oku­ lomotorischen Muskels leidet, macht Merleau-Ponty das entfaltete Potential der Gestalttheorie deutlich. Angenommen, der Erkrankte versucht seine Augen nach links zu bewegen, dann scheint es für ihn – entgegen seiner physischen Situation – so, als würden sich die Gegenstände tatsächlich für einen Augenblick nach links bewegen. Die klassische Psychologie würde angeben, dass die Wahrnehmung aufgrund des unveränderten Netzhautbildes zum Schluss kommt, dass sich die Umwelt für einen Moment nach links bewegt hat und es ihm folglich so darstellt. Die Gestalttheorie zeigt dagegen aber auf, dass die Wahrnehmung nicht durch das Körperbewusstsein geht, um die Stellung der Gegenstände zu bestimmen, da der Erkrankte ja gar nicht weiß, dass seine Netzhaut unbeweglich geblieben ist. Was er dagegen direkt für einen Moment wahrnimmt, ist die Ver­ schiebung der Umwelt nach links. Entscheidend für Merleau-Pontys Argumentation ist, dass das Bewusstsein nicht einfach naiv die fertige Illusion unabhängig der physischen Konstitution hinnimmt, sondern dieses Wahrnehmungsphänomen auftritt, weil der Wahrnehmende besteht ja nicht nur aus ihren Buchstaben (»ba« ist nicht dasselbe wie »b« und »a«) und das Fleisch ist nicht Feuer und Erde (nach der Auflösung bleibt ja das eine nicht mehr als Fleisch, das andere nicht mehr als Silbe, während die Buchstaben noch bestehen und das Feuer und die Erde. Folglich ist die Silbe nicht nur die Summe ihrer Buchstaben, der Mit- und Selbstlaute, sondern auch noch etwas anderes.« (Met. VI 17, 1041b 15–29). 295 Metzger, Wolfgang, »Was ist Gestalttheorie?«, in: Kurt Guss (Hg.), Gestalttheorie und Erziehung, Darmstadt 1975, 1–17, hier: 6. 296 Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens, 53.

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sich mit einer bestimmten Intention bewegt hat.297 Die Gestalttheorie kann also einen schon in der leiblichen Bewegung befindlichen Sinn aufzeigen, der ohne »den Umweg über ein explizites Bewußtsein des Körpers«298 existiert. Entscheidend ist die Motivation bzw. Intention des sich bewegenden Subjekts: »Jeder Bewegung des eigenen Leibes ist aufs selbstverständlichste eine gewisse perzeptive Bedeutung zugewiesen, der Leib und die äußeren Phänomene verknüpfen sich so eng zu einem einzigen System, daß die äußere Wahrnehmung der Bewegung der Wahrnehmungsorgane unmittelbar ›Rechnung trägt‹ und ihnen, zwar nicht eine explizite Erklärung, wohl aber das Motiv des sich wandelnden Schauspiels entnimmt und daher dieses unmittelbar zu verstehen imstande ist.«299

Natürlich bleiben die Gegenstände für sich an ihrem Ort, geraten aber in der Wahrnehmung für einen Moment ins Zittern. Ursache und Grund des Zitterns ist, nach Merleau-Ponty, also nicht die Lähmung des Wahrnehmungsorgans und die damit einhergehende Starre der Netzhautbilder, sondern die Bewegungsmotivation des wahrnehmenden Subjekts. Ausschließlich durch die Intention der Bewegung sei für den Augenerkrankten ein momentanes Schwanken des Gesichtsfeldes wahrzunehmen. Dieses Phänomen des Wahrneh­ mungszitterns ist nach Merleau-Ponty Teil einer stummen Sprache der Wahrnehmung, die nicht erlernt, sondern Teil der Struktur eines jeden psychophysischen Subjekts ist:300

Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 71. Ebd. 299 Ebd. 300 Vgl. ebd. Als ein weiteres Beispiel für jene immanente Bedeutungen der leibli­ chen Bewegungen im Sinne der stummen Mitteilung der Wahrnehmung verweist Merleau-Ponty auf die Fixierung eines weit entfernten Gegenstandes, wie etwa eines Kirchturms. Die Dächer, Fenster und Giebel der dazwischenliegenden Häuser werden nicht für sich wahrgenommen, sondern sind lediglich Randerscheinungen. Sie haben eine explizite Bedeutung für die eigene Abstandswahrnehmung. Wenn die Randerscheinungen bewusst ausgeblendet werden, erscheint der fixierte Kirchturm wesentlich näher. Die ausgeblendeten Gegenstände des eigenen Gesichtsfeldes beein­ flussen somit die erscheinende Abstandswahrnehmung nicht direkt kausal, sondern können dieses Wahrnehmungsphänomen aus den nichtfokussierten Randgegenstän­ den erwachsen sehen, sobald der Wahrnehmende sie wieder in seinem Gesichtsfeld existieren lässt. Merleau-Ponty betont, dass es sich bei jener stummen Sprache der Wahrnehmung nicht um eine objektiv-notwendige Logik handelt, da es keinen guten Grund gibt, warum dem wahrnehmenden Subjekt der Kirchturm kleiner und ferner 297

298

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»Darauf eben hat die Gestalttheorie aufmerksam zu machen vermocht: daß das Gesichtsfeld, daß das System Eigenleib-Welt gleichsam von Kraftlinien eines Spannungsfeldes durchzogen ist, die es auf magische und verschwiegene Weise beleben, hier Drehungen, da Kontraktionen, dort Erweiterungen in ihm hervorrufend.«301

Nach Merleau-Ponty sind jene Erkenntnisse der Gestalttheorie aber erst der Anfang einer epistemologischen Emanzipationsbewegung. Er konstatiert, dass die Gestalttheorie weit hinter ihren Möglichkeiten bleibe. So mutet es ihm zufolge geradezu tragisch an, dass obwohl die Gestalttheorie jene stumme Rede der Wahrnehmung entdeckt hat, die weder Empirismus und Intellektualismus beschreiben noch postulie­ ren können, ihr die Begriffe fehlen, jene Neuentdeckung sprachlich adäquat greifbar zu machen. Dafür sei die Gestalttheorie noch zu sehr in den Termini der Psychologie gefangen, als dass sie die perzep­ tiven Verhältnisse, die eine immanente Bedeutung innehaben, her­ vorheben könne, noch hat sie den tiefgreifenden epistemologischen Paradigmenwechsel, den ihre Entdeckung nach sich ziehen sollte, wirklich verstanden. Ihr Verdienst in Bezug auf die beschriebene epistemologische Problematik besteht nach Merleau-Ponty darin, dass die Gestalttheorie das Vorurteil einer objektiven Welt überwin­ det, somit einer wirklichen phänomenologischen Reduktion erst den Weg bereitet und damit die Möglichkeit eröffnet, dem Phänomenen endlich in vollem Maße gerecht zu werden.302 Ausgehend von dem holistischen Ansatz der Gestalttheorie, entwickelt Merleau-Ponty seine Philosophie als dritten Weg und Ausgang aus den epistemologischen Sackgassen der Radikalität von Intellektualismus und Empirismus. Merleau-Ponty gesteht beiden Erkenntnistheorien durchaus zu, dass sie Einsicht in das Verhältnis zwischen Welt und wahrnehmendem Subjekt aufzeigen, aber letztlich konkludiert er, dass beide Ansätze es nicht vermögen, die Ganzheit­ lichkeit des menschlichen Wesens und seines Welterlebens adäquat zu erfassen. Diesbezüglich orientiert er sich am umfassenden Selbstund Welterleben der Romantik. In dieser Perspektive wird Empfin­ dung explizit nicht als Registrieren von leblosen Qualitäten, sondern als eine Erfahrung von lebendigen Eigenschaften verstanden. Deutlich erscheinen sollte, sobald es die Randgegenstände in sein Wahrnehmungsfeld mit aufnimmt, sondern es vielmehr sein Motiv ist (vgl. ebd. 71f.). 301 Ebd. 72. 302 Vgl. ebd. 72f und vgl. Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens, 150f.

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wird dies anhand folgenden Beispiels: Ein Kind wird dem Phäno­ men der Kerzenflamme anfangs mit kindlicher Neugierde gegenüber­ stehen und sich von diesem angezogen fühlen. In dem Moment, in dem es sich aber an der Kerze verbrennt verändert sich seine Wahrnehmung grundsätzlich. Wo zuvor eine positive Grundhaltung bestand, wird nun die geschichtliche Komponente des schmerzhaften Verbrennungsmoments mit einbezogen. Darauf folgend verändert sich die Sicht des Kindes auf den zuvor so anziehenden Gegenstand hin zu einem, dem man mit Zurückhaltung und Vorsicht begegnet.303 Innerhalb des Sehprozesses – so Merleau-Ponty – sei also schon ein Sinn zugrundegelegt, der »ihm seine Funktion im Anblick der Welt wie in unserer Existenz zuweist«304 und der aufzeigt, dass Empfinden mehr als mechanisches Aufzählen von Qualitäten ist. Vielmehr verleihe die Empfindung jeder Qualität einen expliziten Lebenswert und weist damit auf eine direkte Beteiligung des Geistes und Leibes hin. Daraus folgert Merleau-Ponty, dass eine Erkenntnistheorie, die dem menschlichen Wahrnehmungsphänomen gerecht werden möchte, die Verbindungsprozesse zwischen den wahrgenommen Momenten der Umgebung und dem Wahrnehmenden als »inkar­ niert«305 verstehen lernen müsse. Nur so könne erklärt werden, wie und warum der einzelne Wahrnehmungsgegenstand ein solches Maß an Sinn vereint.306 In diesem Zusammenhang nennt er das Empfin­ den »die lebendige Kommunikation mit der Welt« und »das intentio­ nale Geflecht, das zu entflechten Sache aller Erkenntnis bleibt«307. Angesichts der bereits genannten erkenntnistheoretischen Defizite konstatiert Merleau-Ponty die Unhaltbarkeit des Vorurteils einer absolut durchschaubaren Welt.308 Um dieses phänomenale Feld der Wahrnehmung richtig erforschen zu können, muss ein entsprechen­ der philosophischer Ansatz sich auf die unmittelbare menschliche Erfahrung beziehen und kann daher gar nicht anders als interdiszi­ plinär zu arbeiten, und im Zuge dessen auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Psychologie und Physiologie zuzugreifen.309 In der 303 304 305 306 307 308 309

Vgl. ebd. 75f. Ebd. 75. Ebd. 76. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. 77.

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Phänomenologie findet Merleau-Ponty jene Anforderungen erfüllt. Die Phänomenologie stellt keine unsystematische Notlösung dar, sondern dringt in eine Tiefe des Wahrnehmungsphänomens vor, wel­ che Empirismus und Intellektualismus – wie aufgezeigt – aufgrund ihrer inhärenten Methodik weder beschreiben noch erklären können.

Die Methodik der Phänomenologie Phänomenologie ist keine einheitliche philosophische Schule im Sinne einer Sammlung und Festlegung von Inhalten, sondern bezeichnet einen Methodenbegriff. Merleau-Ponty bestimmt das phi­ losophische Spezialgebiet am Anfang seines Hauptwerkes wie folgt: »Phänomenologie ist Wesensforschung – alle Probleme, so lehrt sie, wollen gelöst sein durch Wesensbestimmungen: Bestimmung des Wesens der Wahrnehmung etwa, des Wesens des Bewußtseins. Doch ebensosehr ist Phänomenologie eine Philosophie, die alles Wesen zurückversetzt in die Existenz und ein Verstehen von Mensch und Welt in der ›Faktizität‹ fordert. Phänomenologie ist Transzendental­ philosophie, die die Thesen der natürlichen Einstellung, um sie zu verstehen, außer Geltung setzt – und doch eine Philosophie, die lehrt, daß Welt vor aller Reflexion in unveräußerlicher Gegenwart ›je schon da‹ ist, eine Philosophie, die auf nichts anderes abzielt, als diesem naiven Weltbezug nachzugehen, um ihm endlich eine philosophische Satzung zu geben. Sie hat es abgesehen auf Philosophie als ›strenge Wissenschaft‹ – doch gleichwohl ist sie Besinnung auf Raum, Zeit und Welt des ›Lebens‹.«310

Mit dieser dichten Zusammenfassung sind alle zentralen Eigenschaf­ ten der Phänomenologie dargelegt. Im Kern geht es um Wesensbe­ stimmung, die sich im Sinne einer Erkenntnistheorie weder in der Einseitigkeit des mentalen noch in der des physischen verliert, son­ dern an der ursprünglichen Gegenwart orientiert, die immer schon – selbst vor der Reflexion – da ist. Diese »Reflexion auf ein Unreflek­ tiertes«311 soll die Welt ohne Künstlichkeit aufdecken. Die Welt ist ähnlich eines unthematisierten Horizonts nicht Gegenstand, »dessen Konstitutionsgesetz sich zum voraus in meinem Besitz befände«312, 310 311 312

Ebd. 3. Ebd. 6. Ebd. 7.

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sondern »natürliche[s] Feld und Milieu all meines Denkens und aller ausdrücklichen Wahrnehmung«313. Dieser unmittelbaren Gegenwart ursprünglicher Konstitution, die sich bereits bei Husserl in dem Begriff der »Lebenswelt«314 findet, begegnet die phänomenologische Reflexion als strenge Wissenschaft, also klaren Methode, die zum Ziel hat, die Gegenwart im Sinne transzendentaler Faktizität sichtbar zu machen: »Die phänomenologische Welt ist nicht Auslegung eines vorgängigen Seins, sondern Gründung des Seins; die Philosophie nicht Reflex einer vorgängigen Wahrheit, sondern, der Kunst gleich, Realisierung von Wahrheit. Man wird fragen, wie solche Verwirklichung einer Wahrheit denn möglich sei und ob ihr nicht doch in den Dingen präexistente Vernunft schon begegnen muß. Der einzig präexistente Logos jedoch ist die Welt nur selbst, und die sie zur offenbaren Existenz bringende Philosophie ist nicht zuvörderst erst möglich: sie ist so wirklich oder real wie die Welt, der sie zugehört, und keine erklärende Hypothese kann klarer sein als der Akt selbst, in dem wir die unvollendete Welt erfassen, um sie denkend zur Ganzheit zu bringen.«315

Hiermit zielt die Grundfrage von Merleau-Pontys Phänomenologie auf die Problematik, welche – wie obig bereits beschrieben – seit dem Dualismus von Descartes zur zentralen Herausforderung geworden ist: Wie kann das menschliche Subjekt den Ursprung seiner Weltbe­ zogenheit freilegen? In diese Tiefe dringt die phänomenologische Methode vor. Als Lehre von den Erscheinungen – eben den Phänomenen – wird sie voll­ zogen, indem diese Phänomene akribisch beschrieben werden. Ziel ist es, sich auf die unreflektierte Wahrnehmung zurückzubesinnen und von hier aus eine Fundamentalanalyse des Erkenntnissubjektes zu vollziehen. Dieses Erkenntnissubjekt ist aber nicht frei schwebend sondern immer schon wie Heidegger sagt »In-der-Welt«316, also im »Dasein«317. Merleau-Ponty sieht diesen Aspekt – wie obig deutlich gemacht – bei Husserl vernachlässigt und fokussiert folglich jenen in Ebd. Vgl. Husserl, Edmund, Husserliana: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und Phänomenologischen Philosophie, Bd. 4 II, herausgegeben von Marly Biemel, Köln 1952. Husserl beschreibt diesbezüglich die Existenz einer Welt, die vor aller Reflexion mitvollzogen wird. 315 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 17. 316 Heidegger, Sein und Zeit, 18. 317 Ebd. 17. 313

314

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seiner Arbeit konsequent. Da die Welt – nach phänomenologischer Erkenntnis – weder primär Objekt der Wissenschaft noch Produkt des Bewusstseins ist, schafft seine – und programmatisch Husserls – Phänomenologie einen fundamentalen Neuansatz, der mit seinem phänomenologischen Schlachtruf zurück zu den »Sachen selbst«318 in die Welt der Erscheinungen eindringt. Merleau-Ponty formuliert wie folgt: »Zurückgehen auf die ›Sachen selbst‹ heißt zurückgehen auf diese aller Erkenntnis vorausliegende Welt, von der alle Erkenntnis spricht und bezüglich deren alle Bestimmung der Wissenschaft notwendig abstrakt, signitiv, sekundär bleibt, so wie Geographie gegenüber der Landschaft, in der wir allererst lernten, was dergleichen wie Wald, Wiese und Fluß überhaupt ist.«319

Und bezüglich Reduktion: »Die eidetische Reduktion […] zielt auf nichts anderes ab, als die Welt so zur Erscheinung zu bringen, wie allem Rückgang auf uns selbst zuvor sie je schon ist, nichts anderes will sie, als reflektierend dem unreflektierten Bewußtseinsleben nahekommen.«320

Eidetische Reduktion bezeichnet folglich – ausgehend vom erkennen­ den Subjekt – einen deskriptiven Rückgang auf die Sachen selbst und hat zum Ziel, den ursprünglichen Kontakt mit der Welt offenzu­ legen. Die Phänomenologie von Merleau-Ponty entfaltet somit den Weltbezug – im Gegensatz zu Husserl und Heidegger – vom erlebten Innenstandpunkt der Wahrnehmung aus. Die Überlegungen bezüglich des ursprünglichen Kontakts führen Merleau-Ponty zum »Problem der Anderen«321, an deren Lösung besonders deutlich wird, inwiefern er über Husserls Ansatz mit dem Einfluss Heideggers hinausgeht: »Phänomenologische Reduktion ist nicht, wie man geglaubt hat, For­ mel eines philosophischen Idealismus, sondern die einer Existenzphi­

Husserl, Edmund, Husserliana: Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersu­ chungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, Bd. 19 I, herausgegeben von Ursula Panzer, Den Haag 21984,10. 319 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 5. 320 Ebd. 13. 321 Ebd. 9. 318

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losophie: auf dem Grunde der phänomenologischen Reduktion tritt Heideggers ›In-der-Welt-sein‹ erst in die Erscheinung.«322

In der Begegnung mit dem Anderen werde deutlich, dass eine Schnitt­ stelle des Menschen zur Welt gedacht werden müsse, da sonst die Begegnung zum Problem werde. Würde nämlich die Welt im Sinne einer intellektualistischen Lesart – auf die Husserl tendenziell ver­ fällt – als ein unteilbarer Geltungsbereich gedacht, wären die wahr­ nehmenden Bewusstseine von meiner selbst und dem Gegenüber nicht voneinander zu unterscheiden. Solange für das Subjekt etwas Sinn habe, partizipiere es an einem transzendentalen, vorpersonalen Bewusstsein, sei dadurch unmittelbar an der Welt zugegen und nehme diese bewusst und ohne transzendenten Schatten wahr.323 Eine Reduktion in dieser intellektualistischen Form stoße erst gar nicht auf das Problem des anderen Bewusstseins, da es keinen Unterschied mache, ob Bewusstsein A oder B wahrnehme, da deren Bewusstseine miteinander kommunizieren und die eigentliche Leistung der Wahr­ nehmung durch die Teilhabe an jenem alles durchschauenden Vermö­ gen des vorpersonalen Bewusstseins vollzogen werde. Ob es mein oder sein wahrnehmendes Bewusstsein sei, spiele somit – zugespitzt gesagt – keine Rolle, da es »mein« und »sein« genau genommen gar nicht gebe und es auch nicht »meine« oder »seine« Wahrnehmungs­ leistung sei. Da die Welt in intellektualistischer Perspektive auf ein transzendentales Bewusstsein reduziert werde und sich damit faktisch auf das Bewusstseins-Ich zurückgezogen habe, definiere es Wahrneh­ mung demnach unabhängig von jeglicher Raum-Zeit-Determination und eliminiere somit die gesamte Faktizität des »in-der-Welt-Seins« aus der Analyse. Dies habe zur Folge, dass sich hinter den Gesten und Ausdrücken des Anderen nichts Unverständliches, Unerreichtes oder Transzendentes mehr verberge. Beide bewegten sich innerhalb einer unteilbaren Welt, die als ein Wahrheitssystem vordefiniert sei. Die Welt entspreche dann exakt unseren Vorstellungen, da wir selbst Teil des einen und unteilbaren Weltlichts und das Ich und der Andere mehr geltend als existierend präsent seien. Paradox werde die Gegebenheit, wenn der Andere über meine Perspektive des »Für-Mich« hinausgehe Ebd. 11. Vgl. ebd. 7f. Der Übersetzter Rudolf Boehm weist darauf hin, dass Merleau-Ponty in der Originalfassung von présence au monde spricht und diese französische For­ mulierung die Vorstellung eines direkt-bei-etwas-seiendes Subjekts präziser als die deutsche Übersetzung fasst. 322

323

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und ein wirkliches »Für-Sich« sei, dann wäre eine logische Folge, dass er auch die Möglichkeit haben müsste, mir und anderen erschei­ nen zu können. Erscheinung setzt – so Merleau-Ponty – aber eine äußere Form, einen Ausdruck und eine klare raum-zeitliche Verortung voraus. Demnach könne sich die »Für-Mich«-Wahrnehmung des Anderen unmöglich mit der seinen »Für-Sich«-Perspektive decken. Um dieses Problem zu lösen, muss das Verhältnis von Bewusstsein und Welt anders gewichtet werden. Innerhalb des vorangehend skizzierten intellektualistischen Weltbildes, welches sich so in der Phänomenologie Husserls findet, sei die Fremderfahrung gegenüber der Selbsterfahrung stark abgewertet. Ich selbst und meine Welt seien durch mein eigenes Bewusstsein und ausschließlich mein eigenes Bewusstsein konstituiert. Um aber dem offensichtlichen Perspekti­ ven-Paradoxon zu entgehen, müsse anerkannt werden, dass ein Teil meiner Existenz durchaus durch meinen äußeren Ausdruck, also mein Vermögen dem Anderen erscheinen zu können, bestimmt sei.324 Merleau-Ponty formuliert hierzu: »Ich muß mein Äußeres sein, und der Leib des Anderen muß er selbst sein. [...] Reduziert mein Existieren sich auf mein Bewußtsein zu existieren, so bleibt der Andere ein leeres Wort; es muß aber dieses mein Existieren auch das Bewußtsein umfassen, das man von ihm haben kann, und damit seine Inkarnation in eine Natur und die Möglichkeit mindestens einer geschichtlichen Situation.«325

Somit hat Merleau-Ponty einerseits den Begriff der Empfindung in einer Breite aufgezeigt, die nicht von Empirismus und Intellektua­ lismus ausreichend behandelt werden kann, und andererseits die Notwendigkeit der Bezogenheit von Subjekt und Welt demonstriert. Gleichzeitig verweist die »Inkarnation in eine Natur und die Möglich­ keit […] einer geschichtlichen Situation«326 auf ein erstes Verständnis bezüglich der anfangs gestellten Fragen nach dem »Hier und Jetzt« des Menschen im Verhältnis zu seiner ursprünglichen Originalität. Diese Frage wird folgend ausgehend vom ursprünglichen Kontakt zur Welt auf der Suche nach einem dritten Terminus, der sich nicht im Für-Sich und Für-Mich erschöpft, mit dem Begriff des Leibes beantwortet. Die phänomenologische Herleitung und deren Implikationen werden anschließend erläutert. 324 325 326

Vgl. ebd. 8f. Ebd. 9. Ebd.

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4.1.3 Der Leib als primordialer Habitus des Zur-Welt-seins Die vorangehenden ausführlichen Darlegungen der Defizite intel­ lektualistischer, sowie empiristischer Bestimmungen von Wahrneh­ mung sind deshalb notwendig, da die Entstehung Merleau-Pontys Leibesphänomenologie nur in Abgrenzung jener Theorien nachvoll­ zogen werden kann. Erst in der Abgrenzung eines empiristischen An-sich-Seins und intellektualistischen Für-sich-Seins wird die zen­ trale Stelle des Leibes offenbar. Diesbezüglich zeigt er zuerst die exklusive Nichtgegenständlich­ keit des Leibes im Gegensatz zu der empiristischen Perspektive auf. Der Denkweise der Nervenphysiologie folgend werde der Organis­ mus des Leibes exklusiv als Gegenstand im Sinne eines An-Sich-Seins betrachtet, der geradlinig und kausal-abschließend nachvollziehbar sei. Innerhalb jener Binnenlogik sendet die Welt einen Reiz aus, den der Empfänger entgegennimmt und dadurch Empfindung registriert. Die Erfahrungsstrukturen Sehen, Fühlen und Hören werden somit als kompakte Qualitäten definiert, die klar auf die jeweiligen Organe zurückzuführen sind. Um eine solche reine Objekthaftigkeit des Leibes zu widerlegen, führt Merleau-Ponty folgendes Beispiel an: Wird z. B. mit einem Haar dieselbe Hautstelle wiederholt gereizt, sei der Reiz anfangs klar lokalisierbar, anschließend breite sich die Empfindung räumlich aus und verliere bald darauf ihren spezifischen Charakter. Letztlich beginne ein Gefühl des Brennens, dem nicht mal mehr die Attribute kalt oder warm klar zuzuordnen seien, und anschließend scheine die Erregung Kreise zu ziehen, bevor sie völ­ lig erlösche.327 Hiermit möchte Merleau-Ponty darauf hinweisen, dass die wahr­ genomme Sinnesqualität, die räumliche Zuordnung des Gegebenen und sogar die An- oder Abwesenheit von Wahrgenommenem nicht in erster Linie von der außerhalb des Organismus gelegenen, fakti­ schen Situation bewirkt werden. Vielmehr stehe über dieser externen Gegebenheit die innere Organisation und damit die Art und Weise, wie auf diese Reize reagiert und Bezug genommen werde. Die Erre­ gung werde nicht in Form einer mundanen Kausalkette einfach und stets gleichbleibend vom Sinnesorgan zum Empfänger weitergereicht, sondern jedes Mal aufs Neue begriffen und zu anderen elementaren Reizen so reorganisiert, dass diese der folgenden Wahrnehmung 327

Vgl. ebd. 97f.

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bereits ähnele. Dies äußert sich nach Merleau-Ponty sehr konkret im leiblichen Greifvorgang eines Gegenstandes. Hierbei formt die Hand, den Reizen zuvorkommend, die Gestalt des in naher Zukunft wahrnehmenden Gegenstandes vor. Die Quintessenz dieses geradezu nichtkausalen Phänomens sei, dass diese vorausschauende Formge­ bung des Nervensystems aus externer Perspektive und im klassischen Rahmen des Wissenschaftlersubjektes auf der einen und Wissen­ schaftsobjektes auf der anderen Seite nicht begreifbar sei.328 Dieses Vermögen des Leibes, sich die Gegenstände habhaft zu machen, nennt Merleau-Ponty den »habituellen Leib«329 und er wird in Bezug auf das Phantomgliedphänomen nochmals wichtig. Komplementär zur Physiologie sei ebenfalls innerhalb der psy­ chologischen Betrachtung – nach Merleau-Ponty – die Gegenstands­ these des Leibes nicht aufrechtzuerhalten. Er erläutert diesbezüglich die fundamentale Andersheit des Leibes im Verhältnis zu anderen Gegenständen – schon deshalb, weil es unmöglich sei, sich vom eigenen Leib zu entfernen. Er sei immer nur teilweise sezier- bzw. beobachtbar. Das zeige schon der Versuch, ihn mithilfe eines Spiegels einzufangen, da er auch hier nie eigentlich zu sehen sei.330 Des Weiteren sei er dem Subjekt grundsätzlich explizit als sein Leib in einer festen und unabänderlichen Perspektive gegeben. Alle anderen Gegenstände eröffnen sich mir vorerst ebenso in nur einer Perspektive, diese könne ich aber jederzeit wechseln, um die zuvor versteckte Gegenstandsseite zu betrachten.331 Er argumentiert weiter, dass der Leib bei jeder dieser Wahrnehmungen mitschwinge und gleichzeitig mehr als nur ein allzeit bereites Werkzeug sei, dessen sich das Subjekt in der persönlichen Handlung bedienen könne. Jene Weise des Leibes nennt er den »aktuellen«332 Leib. Umgekehrt werden in der gewohnten Handlung die genutzten Gegenstände intui­ Vgl. ebd. 98f. Ebd. 107. 330 Dieser eröffne keinen objektiven Blick auf den wahren Leib, sondern lasse mich nur ein Abbild meines Leibes schauen. So folge mein Spiegelbild lediglich einem leib­ lichen Wesen, dessen Intention es ist sich zu erkennen. Dieses abgebildete, suchende Wesen zeige aber nicht meinen lebendigen Leib. Selbst wenn mein Spiegelbild mich überrasche, könne ich nur für einen kurzen Moment einen lebendigen-unreflektierten Blick meiner selbst erhaschen. Aber selbst dieser sei schon getrübt und zeige lediglich die äußere Hülle, nämlich den sichtbaren Leib (vgl. ebd. 116). 331 Vgl. ebd. 116f. 332 Ebd. 107. 328

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tiv einverleibt und können so ganz automatisch an der »originalen Struktur des Eigenleibes teilhaben«333. Daher stellt der Leib nach Merleau-Ponty den »primordinale[n] [sic!] Habitus«334, also die ursprüngliche Gewohnheit – vor jeg­ licher Form des Reflektierens dar. Diese »Ständigkeit«335 des Lei­ bes vergleicht Merleau-Ponty mit dem Blick durch ein Fenster auf einen Gegenstand. Dieser offenbare nur eine Seite, verspreche aber gleichzeitig weitere Perspektiven bei Veränderung des Standortes. Diese eingeschränkte Fensterperspektive mit der Aussicht auf weitere Wahrnehmungen werden mir nur eröffnet, weil zuvor schon der Leib in seiner dauerhaften Ständigkeit mir meine Eigenleibperspektive auf die Welt aufgezwungen habe. Der Leib nimmt folglich immer schon wahr, ohne dass es denkend ausformuliert sei:336 »Dieser [Eigenleib] selbst ist die Urgewohnheit, der primordinale [sic!] Habitus, der jeden anderen bedingt und durch den jeder andere sich versteht. Seine ständige Nähe zu mir und invariable Perspektive ist nicht bloß faktische Notwendigkeit, vielmehr in jeder solchen ständig vorausgesetzt«.337

Die Mehrdeutigkeit und somit die Nichtgegenständlichkeit des Leibes verdeutlicht Merleau-Ponty über dessen ständige Gegenwart hinaus auf der Ebene des Tastsinns. Wenn die eine Hand einen Stift greife, so stoße nicht einfach ein Objekt aus Holz und Blei auf ein Objekt aus Fleisch und Knochen. Vielmehr trete die eigene Hand als Berührer und tastender Leib mit der Welt und damit eben mit jenem Gegenstand des Stiftes in Kontakt. Genauso wie er nicht direkt gesehen werden könne (s. Spiegelbeispiel), kann der Leib – nach Merleau-Ponty – auch nicht auf dieselbe Art wie der Stift ertastet werden. Wenn die eigene rechte die linke Hand greife, wechsele das Verhältnis von Berührer und Berührtem. Beide Hände nähmen wechselseitig ein Objekt aus Ebd. 116. Der Begriff der »Einleibung« wird ebenfalls von Hermann Schmitz genutzt, allerdings anders, als von Merleau-Ponty, verstanden (vgl. Kapitel 4.2.1). 334 Ebd. 335 Ebd. 115. 336 Vgl. ebd. 116. 337 Ebd. 116. Die Einzigartigkeit der eigenen Perspektive beschrieb Thomas Nagel in seinem berühmten Essay »What is it Like to be a Bat?«, der sich gegen den Physikalis­ mus positionierte und anhand eines Fledermaus-Beispiels die Begriffe Wahrnehmung und Erfahrung innerhalb des Leib-Seele-Problems einflussreich positionierte (vgl. Nagel, Thomas, What Is It Like to Be a Bat?/Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? Englisch/Deutsch; herausgegeben und übersetzt von Ulrich Diehl, Ditzingen 2016). 333

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Fleisch, Knochen und Muskeln wahr und darüber hinaus noch viel mehr: Beide seien ebenso ertastetes Objekt, wie tastender Leib.338 Der Leib zeichne sich folglich gegenüber der Objektwelt durch eben jene Fähigkeit der »doppelten Empfindung«339 als »affektiver Gegen­ stand«340 aus, welche die Doppeldeutigkeit des Funktionswechsels zwischen Berührtem und Berührendem umfasse. Somit ist der Leib mehr als nur Objekt unter Objekten und ständig darüber hinaus nicht nur bei jeder Wahrnehmung gegenwärtig, sondern transzendentale Bedingung von Wahrnehmung überhaupt:341 »Als die Welt sehender oder berührender ist so mein Leib niemals imstande, selber gesehen oder berührt zu werden. Weil er das ist, wodurch es Gegenstände überhaupt erst gibt, vermag er selbst nie Gegenstand, niemals ›völlig konstituiert‹ zu sein.«342

Um den Ort zwischen rein Physischem und rein Psychischem zu ergründen, greift Merleau-Ponty auf das Phänomen des Phantom­ gliedes zurück, welches bei Menschen auftreten kann, denen ein Körperteil amputiert wurde. Hierbei erleben zum Beispiel Kriegsver­ wundete noch lange die Granatsplitter oder nehmen das nicht mehr vorhandene Glied in verschiedenen Größen wahr. Merleau-Ponty betont, dass sich intuitiv eine rein psychologische Erklärung für diese Form von krankhaftem Nichterkennen-Wollen aufdränge. Jene aber aufgrund der Tatsache, dass bei Entfernung der sensitiven Leiter zum Hirn das Phantomglied verschwände, nicht haltbar sei. Gleichzeitig spiele aber durchaus die individuelle Erfahrung und der Wille des Betroffenen für seine Leibwahrnehmung eine wichtige Rolle. Da also weder eine rein psychologische noch eine absolut physiologische Lösung für das Phänomen existiere, müsse es einen gemeinsamen Boden geben, auf dem beide Elemente in Verbindung träten.343 Mer­ leau-Ponty vergleicht dies mit dem Phänomen der Organvertretung

Bezüglich jener Wechselseitigkeit und der motorischen Intentionalität gibt es interessante Überlegungen hinsichtlich menschlicher Autonomie und der körperli­ chen Unabhängigkeit vom subjektiven Willen (vgl. Kelly, Sean Dorrance, »Seeing Things in Merleau-Ponty«, in: Taylor Carman/Mark B.N. Hansen (Hg.), Cambridge Companion to Merleau-Ponty, Cambridge 2005, 74–110). 339 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 118. 340 Ebd. 341 Vgl. ebd. 117f. 342 Ebd. 117. 343 Vgl. ebd. 100f. 338

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von Insekten. Wenn diese ein Bein verlieren, übernimmt sofort ein anderes dessen Funktion.344 Dieser spontane Ersetzungsprozess habe nichts mit einer personalen oder bewussten Entscheidung zu tun, sondern finde durch »leibliches Rechnungtragen«345 auf die Welt hin seine Begründung. Jene leibliche Reaktion geschehe nicht durch blinde automatisierte Reflexe, sondern das Bewusstsein sei aktiv in sie engagiert. Erst der Reflex gebe den Reizen ihre Bedeutung. Schon aus der Entfernung forme der Reflex den Gegenstand oder die Situation vor, ohne auf den individuellen Reiz zu warten (habitueller Leib). Erst durch seine Sinnstiftung sei er oder sie für das wahrnehmende Individuum existent. Reflexe entstehen somit nicht passiv durch physische Reize, sondern gehen auf diese aktiv zu und formen sie passend zur Gesamtgegenwart. Somit sei der Leib nicht einfach nur in der Welt, sondern zu der Welt:346 »Der Reflex, insofern er dem Sinn einer Situation sich öffnet, die Wahr­ nehmung, insofern sie jeder erkenntnismäßigen Gegenstandssetzung zuvor eine Intention unseres ganzen Seins verkörpert, sind Weisen der präobjektiven Sicht, die wir als das Zur-Welt-sein bezeichnen.«347

Dieses Zur-Welt-sein stellt den zentralen Erkenntnisgewinn der Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty dar. Konkret bedeutet es, dass es schon vor allen objektiven Reizen und sinnlichen Inhalten eine Ebene gibt, die eben nicht ausschließlich durch externe Fakto­ ren der Welt, aber auch nicht nur durch interne des Bewusstseins geformt ist. Das präobjektive Zur-Welt-sein zeigt sich im Phäno­ men der Anosognosie des Phantomgliedes besonders deutlich, da für den Verstümmelten das Körperteil genauso gegenwärtig ist wie beispielsweise die Gegenwart eines nicht anwesenden Freundes.348 Diese Vorstellung sei so lebhaft, dass sie – nach Merleau-Ponty – zur »ambivalenten Gegenwart«349 des Gliedes werde. Das in der physischen Welt engagierte Subjekt kollidiere folglich mit den Beein­ trächtigungsgegebenheiten der Amputation. Die Folge sei eine Ver­ weigerung der körperlichen Situation. Dies geschehe explizit nicht als intellektuelle Entscheidung nach der bewussten Abwägung aller 344 345 346 347 348 349

Vgl. ebd. 102. Ebd. Vgl. ebd. 104. Ebd. Vgl. ebd. 105. Ebd. 106.

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Optionen, sondern in Form eines Modus des Zur-Welt-seins, welches den theoretischen Möglichkeiten des Gliedes weiterhin offen begegne und sich dieselbe Haltung auf die Welt, wie vor der Verstümmelung, bewahre. Diese leibliche Weise des Vermögens, der Gegenstände der Welt habhaft zu werden, geht nach Merleau-Ponty auf den »habituellen Leib«350 zurück. Dieser trägt – wie obig beschrieben – das Vermögen des Zur-Welt-seins in sich und konstituiert somit die Möglichkeit zum »aktuellen Leib«351 zu werden, der sich im konkreten Akt der Handhabung des Gegenstandes manifestiert und in der Welt verankert. Im Moment des Phantomgliedphänomens sei genau jene Form des habituellen Leibes nach wie vor gegeben, während das Vermögen des aktiven nicht mehr möglich sei, da die objektive Dinglichkeit des Leibes abgetrennt ist.352 Der Leib sei somit für den Lebenden viel mehr als Begegnungswerkzeug mit der Welt, sondern er konstituiere die Qualität des Engagements, mit dem sich das Subjekt in seinem Weltmilieu beheimatet findet.353 Aufbauend auf vorausgehender Analyse formuliert Merleau-Ponty, dass »mein Leib der Angelpunkt der Welt ist: ich weiß, dass die Gegenstände viele Gesichter haben, da ich um sie herumgehen könnte, und insofern bin ich der Welt bewusst durch das Mittel des Leibes.«354. Merleau-Ponty antwortet somit auf die von Husserl unvollstän­ dig beantwortete Frage nach dem Weltbezug mit der Ursprünglichkeit des Leibes. Diesen Weltbezug – obig bereits als Verflochtenheit bezeichnet – stellt er der defizitären Einordnung des Leibes durch die mechanistische Physiologie und intellektualistische Psycholo­ gie gegenüber. Der Leib ist nach Merleau-Pontys phänomenologischer Bestim­ mung also zweifach gegeben, einerseits als Objekt unter Objekten und andererseits als Zugang zu der Welt.355 Nach Merleau-Ponty nivelliert die Reduzierung des Leibes auf ein reines An-sich oder FürEbd. 107. Ebd. 352 Vgl. ebd. 353 Vgl. ebd. 106. 354 Ebd. 355 Die deutsche Sprache lässt den – schon von Husserl benutzten – Unterschied zwischen den Begriffen ›Leib‹ und ›Körper‹ zu. ›Leib‹ steht in Ponty’schen Logik dann für phänomenaler Leib bzw Eigenleib (corps phénoménal, corps propre) und ›Körper‹ für den objektiven Leib, also den Leib als Leibding (vgl. Waldenfels, Bern­ hard, »Das Problem der Leiblichkeit bei Merleau-Ponty«, in: Philosophisches Jahrbuch 75 (1991), 347–365, hier: 353). Diese Unterscheidung wird besonders deutlich in der 350 351

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sich gleichermaßen seine inner-phänomenale Weise von habituellem bzw. aktivem Leib: »Begnügen wir uns hier mit der Feststellung, daß die Wahrnehmung eines lebendigen Leibes oder, wie wir von jetzt ab sagen werden, eines ›phänomenalen Leibes‹ kein Mosaik aus irgendwelchen optischen und taktilen Empfindungen ist […]. Wir müssen also notwendig annehmen, daß die Bewegungen und Haltungen des phänomenalen Leibes eine Eigenstruktur, eine immanente Bedeutung aufweisen, daß der Leib von vornherein ein Aktionszentrum ist […].«356

Folglich stellt der »lebendige Leib«, der als »Aktionszentrum« zugleich wahrnehmend und schaffend agiert, das Zur-Welt-sein und den modus operandi des wahrnehmenden Subjektes dar. »Existenz« bedeutet für Merleau-Ponty das Zur-Welt-sein, also dort, wo alle Weisen des Leibes ineinandergreifen: »[Wir müssen] dem objektiven Körper den phänomenalen Leib zur Seite stellen, ihn als erkennenden Leib begreifen, und als Subjekt der Wahrnehmung an die Stelle des Bewußtseins die Existenz, d. h. das Zur-Welt-sein-durch-einen-Leib setzen.«357

Der erkennende Leib eröffnet dann auch die volle Bedeutung von Wahrnehmung. Wahrnehmung ist grundsätzlich als Bewusstseinvon-etwas zu verstehen. Nach Merleau-Ponty existiert es nur, indem es sich auf eine immer vorliegende Welt bezieht, sich die Gegenstände einprägt – anders formuliert: sich in den Dingen inkarniert. Bewusst­ sein sei somit kein abstraktes Vermögen, sondern ein immer auf Gegenstände bezogener, engagierter Geist und somit weniger ein »Ich denke«358, als ein »Ich kann«359. Das leibliche Subjekt agiert somit nicht frei schwebend, sondern innerhalb eines Raumes, zu dem es in enger Beziehung steht. Motorik ist demnach ursprünglich intentional und Bewusstsein immer »Bewusstsein-von-etwas«. Die Vorformung des Leibes in der Greifsituation geschehe nicht auf eine abstrakte Vorstellung des Objektes, sondern auf den konkreten Gegenstand in der Welt hin. Das Subjekt entwirft sich demnach auf die Welt und ist Phänomenologie von Schmitz ausgearbeitet, in Kapitel 4.2 aufgegriffen und sei hier der Vollständigkeit halber erwähnt. 356 Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens, 179. 357 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 358. 358 Ebd. 166. 359 Ebd.

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vorgreifend schon bei ihr.360 Insofern nehme ich nicht primär denkend z. B. die Abstraktion der Idee einer Tasse wahr, sondern etwas, aus dem ich trinken kann. Merleau-Ponty macht hier auch eine grundlegende Fähigkeit des Menschen aus, da der Mensch – im Gegensatz zum Tier – grundsätzlich in der Lage ist, »dasselbe ›Ding‹ in zwei verschiedenen [oder einer Vielzahl von möglichen] Funktionen«361 wahrzunehmen. Jenseits dieser Fähigkeit gilt fundamental und zuerst: »Bewußtsein ist Sein beim Ding durch das Mittel des Leibes«362. Das bedeutet, dass die Motorik nicht als Werkzeug des Bewusstseins fungiert und der Aufgabe nachkommt den Leib im Raum an den gewünschten Punkt zu befördern, sondern seinen Leib bewegen bedeutet, durch ihn hindurch auf die Welt zielen. Eine Bewegung gelte dann als erlernt, wenn der Leib sie seiner Welt entsprechen lässt.363 Um sich auf einen Gegenstand zuzubewegen, müsse dieser zuerst für den Leib existieren, und um dies zu gewährleisten, sei es für die Leibexistenz unmöglich, sich im Status des »An-sich« zu erschöpfen. Folglich sei somit unsere Erkenntniswelt uns nur gegeben, weil sie bereits unserem Leib gegenwärtig sei und dieser sich mit der Welt vereint habe. Bezugnehmend auf das genannte Tassenbeispiel nimmt der Leib die Intention des Gegenstandes des »Etwas-zum-Trinken« auf und vollendet diese im Sinne seines Zur-Welt-seins. Ausschließlich in dieser sinnhaften Umarmung wird die Wahrnehmung beidseitig vollendet. Als Zwischenergebnis lässt sich im Sinne Merleau-Pontys festhalten: Der Leib ist das Vermögen zur-Welt. Das heißt, der Leib ist Vermögen der Intentionalität und folglich des Bewusstseins, da dieses grundsätzlich Bewusstsein-von-etwas und damit intentional ist. Die ursprüngliche Intentionalität gründet also nicht im Bewusstsein oder Denken, sondern im Leib selbst. Er ist Ort der Begegnung von Geist und Materie und somit die Antwort auf die Frage nach der Verwo­ benheit von Mensch und Welt. Er vermittelt zwischen der Existenz und der Vielfalt der Dinge. Durch die Inkarnation des Bewusstseins Vgl. ebd. 166f. Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens, 201. 362 Ebd. 167f. 363 Jene Überlegungen bauen bereits in Merleau-Pontys erstem Werk auf. Dort referiert er zu verschiedenen Tierversuchen, die verschiedene Verhaltensmuster beob­ achten und hält fest: »Lernen bedeutet also niemals, daß man die Fähigkeit annimmt, dieselbe Bewegung zu wiederholen, sondern daß man die Fähigkeit gewinnt, auf die Situation mit Hilfe verschiedener Mittel eine passende Antwort zu geben« (ebd. 112). 360 361

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im Leib ist die Welt – im Gegensatz zu der idealistischen Variante Husserls – dem Leib erschlossen.364 Leiblichkeit in seiner umfassenden Form – also ohne defizitäre Reduzierung seitens einseitiger Deutung durch den Intellektualismus und Empirismus – und Existenz sind somit für Merleau-Ponty iden­ tisch: »Die ohne meine Teilnahme mich durchströmende leibliche Existenz zeichnet eine wahrhaftige Gegenwart bei der Welt nur vor. Sie begrün­ det aber doch zum wenigsten deren Möglichkeit, sie stiftet unseren ersten Bund mit der Welt. Wohl kann ich mich aus der menschlichen Welt zurückziehen und die persönlichen Existenz aufgegeben, doch nur, um in meinem Leib, aber nun mehr als ein namenloses, das gleiche Vermögen wiederzufinden, durch das ich zum Sein verurteilt bin. So kann man sagen, daß der Leib […] die persönliche Existenz Übernahme und Bekunden eines schon gegeben Seins in Situation ist.«365

Somit zeigt sich, dass Leiblichkeit die Seinsweise ist, die auf unüber­ bietbare Art und Weise sich der »wahrhaftigen Gegenwart bei der Welt« nähert und somit die Frage nach dem »Hier und Jetzt« des Menschen dahingehend beantwortet, dass nur durch die leibliche Existenz des Zur-Welt-seins die Bedingung der Möglichkeit gegeben ist, überhaupt eine Welt, also ein »Hier und Jetzt« zu haben. Die leibliche Konkretisierung jenes »Hier und Jetzt« wird im folgenden Kapitel – bevor die Phänomenologie von Hermann Schmitz themati­ siert wird – abschließend vertieft.

4.1.4 Räumliches »Hier« und zeitliches »Jetzt« des Leibes In seinem Hauptwerk stützt Merleau-Ponty seine Forschungen der leiblichen Existenz auf sexuelles Verhalten, Geschlechtlichkeit und Sprache.366 Für die vorliegende Fragestellung nach dem »Hier und Jetzt« des Menschen sind jene Ausführungen wenig relevant. Ent­ scheidend ist vielmehr die Rolle des Leibes hinsichtlich der Konstitu­ ierung und Einwohnung von Raum und Zeit.367 364 365 366 367

Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 168f. Ebd. 198. Vgl. ebd. 185–234. Vgl. ebd. 169.

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»Hier«: Räumliches Zur-Welt-sein Merleau-Ponty gibt an, dass die eigenen Leibglieder durch ihre ursprüngliche Beziehung zueinander eine Grenze zur sonstigen Raumbeziehung bilden. Die auf dem Tisch liegende Hand habe eine andere Räumlichkeit als der daneben stehende Gegenstand. Die Hand werde nicht durch einzelne Reizpunkte wahrgenommen, welche anschließend bewusst-mental zu einer »Handwahrnehmung« zusammengerechnet würden, vielmehr werden die Stellung der Glie­ der ganz natürlich als ein System wahrgenommen und stellen somit mehr als zusammengesetzte Organteile in einem räumlichen Körper­ komplex dar.368 Dieses natürliche System habe jeder »inne in einem unteilbaren Besitz, und die Lage eines jeden meiner Glieder weiß ich durch ein sie alle umfassendes Körperschema«369. Der eigene Leib sei im Raum situativ offen positioniert und lege seine Position in der Bewegung der einzelnen Aufgabe intentional fest. Daher greife der Begriff »Positionsräumlichkeit«370 von äußeren Gegenständen in Bezug auf den Leib zu kurz und Merleau-Ponty präzisiert die räumliche Haltung des Leibes durch den Begriff der »Situationsräum­ lichkeit«371. Im Moment des Aufstützens auf einem Schreibtisch sei eben nicht jedes Körperglied explizit und bewusst ausgerichtet, sondern der Druck auf den eigenen Händen bestimme die restliche Körperhaltung ganz automatisch. Der Leib richte sich situativ im Raum im Verhältnis zur aktuellen Aufgabe aus und bilde somit die Verankerung und die Ursprungsko­ ordinaten in jeder Situation.372 Innerhalb der Bewegung-zur-Welt müssen die visuellen Gegebenheiten nicht schrittweise mit denen der taktilen zusammengebracht werden bzw. in diese übersetzt werden, sondern »eine solche Übertragung und Versammlung ist vielmehr in mir immer schon vollzogen, ein für allemal: sie ist überhaupt mein Leib selbst«373. Somit sei jenes Körperschema »letztlich nur ein Vgl. ebd. 123. Ebd. 123. Das Körperschema hat wie jeder mehrdeutige Begriff der Wissenschaft eine Reihe von Bedeutungstransformationen durchgemacht, die im Detail für die Ziele der vorliegenden Arbeit unerheblich sind. Merleau-Ponty beschreibt diese in seiner Phänomenologie (vgl. ebd. 123–125). 370 Ebd. 125. 371 Ebd. 125. 372 Vgl. ebd. 125f. 373 Ebd. 180. 368

369

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anderes Wort für das Zur-Welt-sein meines Leibes.«374 und somit das bereits beschriebene Zusammenfallen von habitueller und aktiver Leib. Der Leib eröffne im »Außenraum«375 einen »Körperraum«376, der nur »allein uns angehende Räumlichkeit«377 darstelle. Obwohl der Leib in der Welt substantiell verankert sei, werde er doch erst im Kör­ perraum sichtbar, der sich durch seinen individuellen Stil, der Welt zu begegnen, ausdrückt.378 Der Leib sei somit »Knotenpunkt lebendiger Bedeutungen, nicht das Gesetz einer bestimmten Anzahl miteinander variabler Koeffizienten«379. Entscheidend ist nach Merleau-Ponty dabei, dass der eigene Körperraum zwar Teil des objektiven Außen­ raumes, aber nicht mit diesem identisch sei. Ausschließlich mittels des Leibes werden Inhalte im Raum vollzogen. Ohne die Setzung des Verhältnisses von Außen- und Körperraum sei keine Räumlichkeit als Wahrnehmung von Hintergrund und Figuren möglich.380 Für die raumkonstituierende Fähigkeit des Leibes spreche zusätz­ lich die gängige Beschreibung von z.B. »oben«, »unten«, »neben«, und »unter«. Diese sprachlichen Ausdrücke ergäben ausschließlich Sinn, wenn sie bereits in dem räumlichen Verhältnis von Eigenleib zur Welt beinhaltet seien. Anders formuliert: Nur durch die leibliche Konstitution der Perspektive eines Zur-Welt-seins sei die Möglich­ keit gegeben, einen Unterschied zwischen Horizont und Figuren, Vordergrund und Hintergrund wahrzunehmen. Leiblichkeit ermög­ liche somit eine konkrete Raumbeschreibung, während die Situati­ onsräumlichkeit und das Körperschema die Vielschichtigkeit und Bedeutung von Räumlichkeit sowie die Möglichkeit der Bewegung zum Raum eröffnen.381 Wiederholt betont Merleau-Ponty diesbezüglich, dass die Eröff­ nung von Räumlichkeit kein rein intellektualistisches oder empiristi­ sches Geschehen sei, da vielmehr der Leib Räumlichkeit durch seine

Ebd. 126. Ebd. 126. 376 Ebd. 377 Ebd. 378 Vgl. ebd. 180f. 379 Ebd. 182. 380 Vgl. ebd. 126. 381 Vgl. ebd. 126. Merleau-Ponty unterscheidet genauer zwischen »abstrakter« und »konkreter Bewegung«, die für unseren Zusammenhang aber wenig relevant sind (vgl. ebd. 128f.). 374

375

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4.1 Maurice Merleau-Ponty: Der Leib als Zur-Welt-sein

Einrichtung im Raum eröffne. Diese Einrichtung oder Einwohnung im Raum bestimmt er durch den Begriff der »Gewohnheit«382: »Die Gewohnheit ist der Ausdruck unseres Vermögens, unser Sein zur Welt zu erweitern oder unsere Existenz durch Einbeziehung neuer Werkzeuge in sie zu verwandeln«383

Nach Merleau-Ponty sei die Gewohnheit allein der körperlichen Bewegung zugänglich und der Leib verlängere durch jenes Wissen die Existenz im Gegenstand. Wenn er sich selbst an sein Knie fasse, erfahre er in der gesamten Bewegung die Realisation der Intention des »An-das-Knie-Fassens«, nicht aber das Knie als intellektuelle Idee oder empirischen Gegenstand, sondern als realen und gegen­ wärtigen Teil des eigenen lebendigen Leibes. Das Knie werde zum Durchgangspunkt der vollzogenen Bewegung auf die Welt hin.384 Ähnliches geschehe, wenn eine Person, die gewohnheitsmäßig auf einer Tastatur schreibt, ihre Hände auf die Tastatur lege. Dabei werden nicht die Positionen der einzelnen Tasten im objektiven Raum veror­ tet, sondern die notwendige Schreibbewegung intentional ausgeführt und der Raum der Tastatur dem Körperraum integriert. Analog dazu benötige ein Organist keine lange Vorbereitungszeit, um sich auf eine ungewohnt arrangierte Orgel einzulassen. Er könne sich auf die neue Dimension der Modulation einstellen und vollziehe dies ebenfalls, ohne die objektiven Positionen der Tasten zu ermitteln, sondern richte sich leiblich im neuen Raumverhältnis ein und schafft so einen neuen Ausdrucksraum. Merleau-Ponty betont, dass der Leib keineswegs mit anderen Ausdrucksräumen gleichzusetzen sei. Vielmehr wirke er kon­ stituierend und eröffne ursprünglich die Möglichkeit der Ausdrucks­ varianz. Bloß weil der Leib des Musikers bereits einen Ausdrucksraum geschaffen habe, könne der Ausdrucksraum der Musik sich entfalten. Der Organist spiele nicht im objektivierten Raum, sondern sein Leib schaffe körperlich-räumlich den Durchgang zwischen theoretischer Notengebung und der um die Orgel erklingenden Musik.385 Als weiteres Beispiel gibt Merleau-Ponty die Nutzung eines Spazierstocks an. An jenen gewöhnt zu sein, dessen Länge zu kennen und damit die am Boden befindlichen Gegenstände abzutasten führe dazu, dass 382 383 384 385

Ebd. 172. Ebd. 173. Vgl. ebd. 174f. Vgl. ebd. 175f.

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

nicht mehr die objektive Verortung der Dinge im Raum im Verhältnis zur objektiven Stelle des Leibes bestimmt würde, sondern der Leib sich im Stock einrichte, diesen an sich teilhaben lasse, und durch die motorische Gewohnheit die wechselhafte Reichweite der leiblichen Gesten im Umfeld bestimme.386 Im Gegensatz zum Tier sei der Mensch der Natur nicht vollstän­ dig durch Instinkte unterworfen, sondern durch den Leib befähigt, sich aus dieser Verankerung zu lösen. Der Mensch könne sich zwar durchaus ausschließlich in rein biologischer Form zeigen, die entspre­ che jedoch lediglich den überlebensnotwendigen Gesten des Leibes. Zum Beispiel wenn der Leib durch einen Chirurgen ausschließlich als Gegenstand wahrgenommen wird. Darüber hinaus könne der Leib aber auch neuen Sinn in Form einer kulturellen Welt, etwa durch erlernte Tanzbewegungen oder mithilfe eines Werkzeuges beim Orgelspiel manifestieren. Die Gewohnheit sei – nach MerleauPonty – dann erlangt, wenn der Leib sich einen neuen Bedeutungs­ kern angeeignet habe. Infolgedessen verleihe er den Augenblicksbe­ wegungen einen eigenen Raum. Im Gegensatz zur Sinnstiftung eines intellektualistischen Bewusstseins sei der Sinn, den der Leib stiftet, nicht von dem Inhalt zu trennen, an dem er sich zeige, und von dem konstituierenden Leib selbst.387 Der Leib ist somit nicht etwa im-Raum, sondern zum-Raum und gleichzeitig raumstiftend. Jeder Räumlichkeit geht nach MerleauPonty eine primordiale Räumlichkeit voraus, deren Ursprung im Leib selbst liegt. Diese sei die Erweiterung der Einheit der Körperteile, also der Räumlichkeit des Leibes. Der Leib ist damit für unsere Räum­ lichkeit konstitutiv. Leibliche Raumstiftung und Raumeinwohnung führen zu einer sich bedingenden Wechselbeziehung von Leiblichkeit und Räumlichkeit, da Letzteres Ersteres konstituiert, Letzteres jedoch die Entfaltung von Ersterem darstellt. In der Einheit des Leibes zeigt sich die gleiche Struktur wie schon in Bezug auf den Raum. Zusam­ menfassend lässt sich bezüglich der vorliegenden Forschungsfrage formulieren: Ohne Leib gibt es für das wahrnehmende Subjekt keinen Raum und somit auch kein »Hier«.

Vgl. ebd. 173. Hermann Schmitz spricht in diesem Zusammenhang nahezu deckungsgleich von Einleibung und Inleibung (vgl. Kapitel 4.2.1). 387 Vgl. ebd. 176f.

386

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4.1 Maurice Merleau-Ponty: Der Leib als Zur-Welt-sein

»Jetzt«: Zeitliches Zur-Welt-sein Die Konstituierung der Zeit sei als Verlängerung der räumlichen Leiblichkeit gedacht. Merleau-Ponty formuliert diese Verbindung von räumlicher und zeitlicher Leiblichkeit durch die Fixierung eines Gegenstandes. Durch eine solche Fixierung wird in der unspezifischen Aufsaugung von Farben und Reflexen der »virtuelle«388 zu einem »aktuellen«389 Gegenstand gemacht. Durch diese fixierende Aktua­ lisierung werde der Gegenstand, welcher soeben noch Teil jenes »Schauspiel[s] noch von nichts«390 war, zur nächsten Zukunft des Wahrnehmenden. Der fixierende Blick erfüllt nach Merleau-Ponty eine zeitliche Doppeldeutigkeit. Einerseits zukünftig-vorausblickend, da er Ziel des Fixierungsaktes ist, aber gleichzeitig auch vergangen­ heits-rückblickend, da er den bereits unfixiert-wahrgenommenen Motiven entspringt. Folglich verweist nicht nur die Konstitution des Raumes zur Konstitution der Zeitlichkeit, sondern diese weist ebenso zurück. Somit gründe sowohl die Synthese des Raumes als auch der Gegenstände gleichermaßen in jener leiblichen Entfaltung der Zeit.391 Merleau-Ponty formuliert darauf aufbauend: »In jeder Fixierungsbewegung verschlingt mein Leib eine Gegenwart, eine Vergangenheit und eine Zukunft zu einem einzigen Knoten, scheidet Zeit gleichsam aus, oder vielmehr wird zu dem Ort der Natur, an dem Geschehnisse erst, statt nur einander ins Sein stoßen, die Gegenwart mit dem doppelten Horizont von Vergangenheit und Zukunft umgeben und selber geschichtliche Orientierung gewinnen. Hier geschieht so etwas wie eine Beschwörung, nicht aber Erfahrung eines ewigen naturans. Mein Leib ergreift Besitz von der Zeit und läßt für eine Gegenwart Vergangenheit und Zukunft dasein; er ist kein Ding, denn er vollbringt die Zeit, statt ihr bloß zu unterliegen.«392

Der leibliche Wahrnehmungsakt vollzieht durch die Fixierung des Unbestimmten die Synthese der Zeit und lässt die Gegenstände erst durch jene Synthese in Einheit erscheinen. Vergangene Erfahrungen sind nach Merleau-Ponty in die folgenden bereits eingefügt, wobei

388 389 390 391 392

Ebd. Ebd. Ebd. 279. Vgl. ebd. 279f. Ebd. 280.

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

hierbei entscheidend ist, dass es keine absolute Wahrnehmung gebe, sondern diese je situativ gegeben sei.393 Zusammenführend lässt sich im Sinne Merleau-Pontys formu­ lieren, dass der Leib nicht einfach im Raum, genauso wenig wie er einfach in der Zeit existiert. Zwar ist er den natürlichen Gesetz­ mäßigkeiten innerhalb des Raumes als Körper untergeordnet, aber übersteigt gleichzeitig diese, indem er Räumlichkeit und Zeitlichkeit überhaupt erst ermöglicht. Dieses Verhältnis zu Raum und Zeit grenzt die Art der Verortung im Gegensatz zu allen anderen Gegenstän­ den ab. Merleau-Ponty umschreibt dies mit der Feststellung: »Leib wohnt Raum und Zeit ein«394. Dem leiblichen Subjekt seien somit komplizierte Bewegungen ohne die Reflexion der Endposition des Leibes durch indirekte Präsenz von vorausgehenden und vergange­ nen Leibstellungen direkt zugänglich. Raum und Zeit seien somit nicht einzelne Momente, die erst aneinandergereiht ein Kontinuum ergeben, sondern die schon vorher dem Subjekt in seiner Horizont­ haftigkeit durch den Leib gegeben seien. Ich bin nicht einfach in Raum und Zeit, sondern vielmehr bin ich »zum Raum und zur Zeit, mein Leib heftet sich ihnen an und umfängt sie«395. Diese sich immer wiederholende Synthese des Raumes und der Zeit, wobei der Raum aus der Summe von Raummomenten zu einem Raumfeld und die Zeit aus Zeitmomenten in der Gegenwart mit dem Horizont aus Vergangenheit und Zukunft bestehe, sei demnach der Verdienst des Leibes. Anders formuliert: Der Leib eröffnet den existentiellen Zugang zur Welt und seinen Gegenständen.396 Das heißt, selbst auf der ursprünglichen Ebene der Motorik geschehe bereits eine Form von Sinngebung und in der Gewohnheit des Körperschemas: Die Bewegung tritt demnach nicht durch einen Denkakt in einem objektivierten oder vorgestellten Raum auf, son­ dern in einem Raum, der bereits durch den Leib vorweggenommen, und dessen Struktur ihm eingelassen ist. Damit ist der Leib Verlän­ gerung des Körperraumes und eröffnet uns ursprünglich räumliches »Hier« und zeitliches »Jetzt«.397 Der französische Philosoph formu­ liert diesbezüglich treffend: »Der Leib ist unser Mittel überhaupt eine 393 394 395 396 397

Vgl. ebd. 281. Ebd. 169. Ebd. 170. Vgl. ebd. 169f. Vgl. ebd. 171f.

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4.2 Hermann Schmitz: körperliche Leiblichkeit

Welt zu haben.«398 Als erste Annäherung durch die vorangehend for­ mulierten Erkenntnisse im Anschluss an Merleau-Pontys Philosophie darf hinsichtlich der Leitfrage wie folgt festgehalten werden: Die ursprüngliche Originalität des nichtmedialen »Hier und Jetzt« des Menschen, als notwendiger Teil von Authentizität, ist sein Leib, der sein »Zur-Welt-sein« konstituiert.399

4.2 Hermann Schmitz: körperliche Leiblichkeit Nachdem nun die Eckpunkte der Leibphilosophie von Maurice Mer­ leau-Ponty nachvollzogen und ein Grundverständnis für die Bedeu­ tung des Leibes bezüglich der Leitfrage referiert wurde, behandelt der aktuelle Abschnitt die Arbeiten des deutschen Philosophen Her­ mann Schmitz. Folgend wird sich zeigen, wie seine Philosophie die Verständnissuche nach dem »Hier und Jetzt« des Menschen in Nicht­ medialität entscheidend bereichert. Am Ende des Kapitels werden die phänomenologischen Ergebnisse von Maurice Merleau-Ponty und Hermann Schmitz hinsichtlich des Forschungsinteresses gebündelt zusammengefasst, bevor dieses durch Karl Rahners Leibverständnis im dritten Teil abschließend vertieft wird. Doch zuerst zu Hermann Schmitz: Wie die meisten Phänome­ nologen des 20. Jahrhunderts beschäftigt auch ihn die durch den car­ tesianischen Dualismus bewirkte Subjekt-Objekt-Problematik und diesbezüglich die Frage nach dem Weltbezug des Menschen: »Alle solche philosophischen Systeme beschränken sich darauf, auf einem homogenen Schlachtfeld [...] die Fronten zu verrücken, bald dem Subjekt, bald dem Objekt mehr Raum zu geben, bald dieses von jenem, bald jenes von diesem einkreisen oder gar aufreiben zu lassen. Das Schlachtfeld ist, ohne Vergleich, der homogene Boden der objektiven oder neutralen Tatsachen, das heißt derjenigen, die jeder aussagen kann, sofern er genug weiß und genug sprechen kann. [...] In allen Subjekt- oder Objektphilosophien teilen sich das Subjekt und das Objekt in den großen Kuchen der Welt [...], nämlich das Bestehen

398 399

Ebd. 176. Die Änderung zu vorangehender These wurde unterstrichen.

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

der (objektiven oder neutralen) Tatsachen. Mit dieser Voraussetzung breche ich.«400

Nach Schmitz besteht das Subjektive nicht in einer Position, die auf dem Boden von objektiven Tatsachen besteht, vielmehr fundiert Subjektivität auf Tatsachen, die nur die betroffene Person selbst aussagen kann, die also »höchstens einer – sehr oft keiner – aussagen kann, egal, wie viel die anderen wissen und wie gut sie sprechen können«401. Den diesbezüglichen Nachweis erbringt er am affekti­ ven und somit leiblichen Betroffensein, der im vorliegenden Kapitel hergeleitet und dargelegt wird. Den Ursprung seiner Philosophie beschreibt Hermann Schmitz anhand einer Anekdote des Jahres 1959: »Ich saß in der Bibliothek der Psychiatrischen Klinik in Kiel und las dort in einer psychiatrischen Zeitschrift, der französische Psychiater Eugène Minkowski habe den Begriff ›moi ici maintenant‹ eingeführt. Das war alles.«402

Da nach dieser Selbstbeschreibung Schmitz’ gesamtes Schaffen auf jenem »Ich Hier Jetzt« fußt, zeigt sich die Anschlussfähigkeit der zugrundeliegenden Frage unmittelbar. Seine Ergründung jenes »Ich Hier Jetzt« führt ihn folgend zu einer Bestimmung von Leiblichkeit, welche einerseits von Merleau-Pontys Auffassung deutlich zu unter­ scheiden ist, andererseits aber eine differenzierte Perspektive kompa­ tibel zu dieser darstellt. Er übernimmt eine Vielzahl von Husserls und Merleau-Pontys bereits bearbeiteten Begriffen – nicht immer, indem er direkt auf diese Bezug nimmt – und fügt sie schärfend in sein philosophisches Programm ein. Erst durch diese Konkretisie­ rung wird eine gewinnbringende Konfrontation des Leibbegriffes mit den Herausforderungen der körperlosen Kommunikation digitaler Mediatisierung möglich.

400 Schmitz, Hermann/Sohst, Wolfgang, Hermann Schmitz im Dialog. Neun neugie­ rige und kritische Fragen an die Neue Phänomenologie, Berlin 2005, 5f. 401 Ebd. 6. 402 Schmitz, Hermann/Brenner, Andreas, »Die neue Phänomenologie. Ein Gespräch mit Hermann Schmitz«, in: Information Philosophie 5 (2009), 20–29, hier: 21.

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4.2 Hermann Schmitz: körperliche Leiblichkeit

4.2.1 »Hier« und »Jetzt« als Sichfinden und Gegenwart Auch die Genese von Schmitz’ Philosophie wird ausschließlich in der Behandlung der cartesianischen Subjekt-Objekt-Spaltung verständ­ lich. Sein System der Philosophie beginnt mit der Feststellung, dass jeder Mensch sich in einer Umgebung findet. Diese vermeintlich triviale Aussage des Sichfindens wirft allerdings die Frage auf, was es denn überhaupt heißt »Sich zu finden«. Hermann Schmitz’ erster Schritt besteht darin, – wie schon Merleau-Ponty und Heidegger vor ihm – eine Emanzipation von René Descartes Antwort auf diese Frage. Dessen Antwort des »cogito«, also dem denkenden Wesen erscheine nicht befriedigend, wie Schmitz durch die Argumente von Johann Gottlieb Fichte und Georg Christoph Lichtenberg deutlich macht.403 Diese weisen – so Schmitz – darauf hin, dass das »cogito« im Sinne von »Ich denke« schon einen Schritt zu weit gehe und vielmehr eine Hypothese sei. Alles was sicher sei, sei, dass gedacht werde, also ein Gedanke erscheine. Die Aussage, dass ich es sei, der denke, sei allerdings eine ungeprüfte Behauptung. Dass es sich wirklich um das eigene »Ich« handele, das denkt, empfindet und anschaut, sei somit keineswegs gesichert. Streng phänomenologisch über die Beschreibung sei die Sicherheit der Identifizierung des »Ich« mit der Erscheinung der Gedanken auf Descartes Weise nicht nachweislich gegeben. Schmitz konkludiert somit, dass Descartes Aussage, dass man sich im Denken als denkendes Wesen finde und diese Sicherheit des Sichfindens alle Zweifel ausräume, nicht haltbar sei. Sich weiter von Descartes distanzierend zieht er die Alltagserfahrung als Quelle heran, welche das Subjekt lehre, dass es Objekte, Vorgänge usw. finden könne, aber die wirkliche Sicherheit, dass es sich dabei um das eigene »Ich« handele, das fündig wird, sei erst und ausschließ­ lich innerhalb des Momentes der Sichfindung verbürgt. In diesem Zusammenhang verweist Schmitz auf die Problematik, in wie weit das findende Subjekt gleichzeitig das gefundene Objekt sein könne. Die sich aufdrängende Lösung, das eigene Wesen strikt in Subjekt und Objekt zu trennen, sei demnach ebenso widerspruchsbehaftet:404 »Wer sinnvoll ›ich‹ sagt oder wenigstens denkt, meint ein Objekt, das mit ihm, dem Meinenden als dem Subjekt, identisch ist [...].Wer Vgl. Schmitz, Hermann, Die Gegenwart. System der Philosophie. Studienausgabe, Bd. 1, Bonn 2005, 1f. 404 Vgl. ebd. 1f. 403

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

in Sätzen, die das Wort ›ich‹ enthalten, das Selbstbewußtsein im strikten Sinne bestreitet, widerlegt sich also entweder selbst oder spricht Sinnloses.«405

Das Wort »Ich« beinhaltet somit die Identität von Subjekt und Objekt, allerdings ausschließlich im inhaltslosen »Sichmeinen«, welches noch kein »Sichfinden« ist, da unklar bleibt, was das gemeinte SubjektObjekt sei.406 Schmitz kommt zu dem Schluss, dass es sich bei dem eigentlichen Subjekt unseres Selbstbewusstseins um einen unvoll­ ständigen Gegenstand handeln müsse, da sonst nicht einmal die Frage »Wer bin ich?« Sinn ergeben würde. Sowohl im Falle vollständiger Unbekanntheit meiner Selbst, als auch, wenn ich mir als vollständiger Gegenstand vollständig bekannt wäre, sei die Frage nach dem eigenen »Ich« unsinnig. Ausschließlich das partielle Wissen meiner Selbst könne die Antwortquelle auf die gestellte Frage sein. Demnach müsse die Bekanntschaft meiner Selbst bereits in der Frage mitschwingen. Hinzugelernte Fakten können folglich lediglich aufzeigen, wer die eigene Person sei, aber nicht ob »Ich« es bin. Vor diesem Hintergrund könne ich mich lediglich als unvollständiger, nicht aber als vollständi­ ger Gegenstand kennen. Durch diese Einsicht erlaubt Schmitz einen vertieften Einblick in die sprachliche Bedeutung des »Ich«. Diesem komme in der alltäglichen Sprache eine vage Bedeutung zu, da er einerseits das sprechende oder meinende Subjekt als Objekt tituliere, andererseits werde es ebenso für die Bezeichnung von Gegenständen, die nicht sprechen oder meinen, verwendet. Als Beispiel führt Schmitz unter anderem eine Person an, die mit einem Stock die Wand berührt und dies mit dem Satz »Ich berühre die Wand« kommentiert. Wo hier innerhalb des Wortes »Ich« das Subjekt anfängt und aufhört, ist unklar, da bei einer detaillierteren Analyse genau genommen nicht »Ich«, sondern der Stock die Wand berührt. So zeigt Schmitz paradig­ matisch die Unschärfe des eigenen Ichs. Schmitz postuliert, dass der Begriff »Ich«, der den Gegenstand des Selbstbewusstseins im stren­ gen Sinn bezeichnet, nicht vollständig zugänglich ist, weil er grund­ sätzlich unvollständig ist. Objektives, das nicht mehr dem Subjekt des Selbstbewusstseins zugerechnet sei, werde von diesem angezogen und durch das Ich so geprägt, dass in diesem Verbund der Unterschied nicht mehr auszumachen sei. Der Versuch, ausschließlich das Subjekt 405 406

Ebd. 3. Vgl. ebd. 3.

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4.2 Hermann Schmitz: körperliche Leiblichkeit

sichtbar zu machen, sei demnach zum Scheitern verurteilt, da es für sich alleine kein bestimmtes »Sosein«407 habe.408 Zusammenfassend ist demnach festzuhalten, dass es – nach Schmitz – unmöglich ist, den Vorgang des Sichfindens gegen das Finden der äußeren Umgebung abzugrenzen, da das eigene Subjekt notwendig mit dieser immer bereits verbunden sei. Mit dieser Haltung positioniert er sich wie Merleau-Ponty bezüglich der Mensch-Welt-Verwobenheit bejahend und demonstriert eine antiintellektualistische Haltung. Der Satz »Jeder Mensch findet sich in einer Umgebung«409 verliert dadurch an Trivialität und offenbart die Verwobenheit des menschlichen Subjektes mit seinem Milieu und die Problematik, den Moment des Sichfindens greifbar zu machen.410 Diese Unsicherheit des Sichfindens in der Umgebung beantwor­ tet Schmitz mit der Größe der Gegenwart. Die Gegenwart halte jeglichem Zweifel, sich unverwechselbar und unumstößlich zu fin­ den, stand. Jenes Phänomen gehe dabei über ausschließlich zeitliche Zuschreibungen des »Jetzt« hinaus und umfasse ebenso räumliche Eigenschaften des »Hier«. Schon in der Alltagssprache werde dies deutlich, wenn beispielsweise davon gesprochen werde, dass eine Person in Gegenwart einer anderen sei. Darüber hinaus sei die Zusammengehörigkeit von Gegenwart und »Dasein« offensichtlich, da wir selbstverständlich davon ausgehen, dass nur das Gegenwärtige wirklich da oder überhaupt sei.411 Gegenwart präsentiere sich somit nicht als isolierter Inhalt, der durch Abstraktion sichtbar werde, sondern manifestiere sich durch affektive Erlebnisse. Als Beispiele für affektive Erlebnisse nennt Schmitz Schmerz, da an diesem das Sichfinden besonders gut demonstriert werden könne.412 Anhand des Schmerzerlebnisses wird folglich das unumstößliche Sichfinden in der Gegenwart demonstriert, welches folgend für die Ergründung des »Hier und Jetzt« des Menschen entscheidend ist.

407 408 409 410 411 412

Ebd. 12. Vgl. ebd. 12f. Ebd. 14. Vgl. ebd. 14. Vgl. ebd. 149f. Vgl. ebd. 167.

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

Weg!-Impuls, leibliche Regung und vitaler Antrieb Im Moment des Schmerzes oder der panischen Angst manifestiert sich laut Schmitz ein sogenannter Impuls des »Weg!«413. Besonders deutlich werde dies innerhalb eines typischen Angsttraumes, in dem der Träumende von einem bedrohlichen Wesen verfolgt werde, aber nicht von der Stelle komme und somit nicht fliehen könne. Die zuvor lediglich bedrohliche Situation, in der noch jegliche Mobilität bestand, ist demnach ausschließlich von Furcht geprägt. In dem Moment, wenn das Unvermögen zu fliehen hinzukommt, werde die Situation gera­ dezu entsetzlich und es offenbare sich Angst. Ein ähnliches Beispiel, das nicht in einem Traum stattfindet, lautet wie folgt: Eine Person schwimmt bei Ebbe im Meer weit hinaus, empfindet plötzlich Furcht und möchte umkehren. Unversehens wird der Schwimmer vom Sog des Meeres weiter nach draußen gezogen und dieser empfindet nun wahrhaftig Angst. Wieder offenbart sich die Angst erst mit dem Auftreten des Weg!-Impulses. Dieser beziehe sich, wie aufgezeigt, nicht nur auf Träume, sondern sei im Moment der Hinderung Teil allgemeiner Angst. Typisches Angstverhalten entspringe eben jener Hinderung des Weg!-Impulses und das unabhängig davon, ob es sich dabei um einen fliehenden Bewegungsdrang, völlige Mobilitätsauf­ gabe im Sinne eines Sich-Totstellens oder den Zwang, sich panisch zu ducken, handele.414 Schmitz beschreibt alle leiblichen Regungen – zu denen jene des Weg!-Impulses gehört – als einen »Spielraum von Enge und Weite«415. Beispielsweise folgt auf das Phänomen des Erschreckens ein heftiges Anspannen in Enge. Durch diese heftige Spannung in Enge reiße »das Band«416 und nach der Realisierung des Erschreckens löse sich diese Enge hin zu einer Weite. Demgegenüber gebe es das gleiche Übermaß an Weite z. B. im Moment des Wegdösens und sobald der Versunkene wieder zu sich kommt und realisiert, dass er »weit weg gewesen«417 ist. In dem Zusammenspiel beider Größen von Enge und Weite macht Schmitz den »vitalen Antrieb aus«418: 413 414 415 416 417 418

Ebd. 179. Folgend als »Weg!-Impuls« bezeichnet. Vgl. ebd. 179f. Schmitz, Der Leib,15. Ebd. Ebd. Ebd.

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4.2 Hermann Schmitz: körperliche Leiblichkeit

»In diesem entgegengesetzt gerichteten Zusammenwirken bezeichne ich die Engung als Spannung, die Weitung als Schwellung und ihren Verband – die Spannung gegen Schwellung zusammen mit der Schwellung gegen Spannung – als den vitalen Antrieb.«419 Der vitale Antrieb im Wechselspiel zwischen Schwellung und Spannung ist – nach Schmitz – besonders gut am Schmerz aufzeigbar. Das affektive Erlebnis des Schmerzes als gehemmter Drang und nicht als ein ruhiges Erlebnis beinhalte immer eine bewegliche Dynamik, die gegen einen Widerstand drückt und in dieser Spannungssituation einen gehemmten Drang entstehen lässt. Ob der Schmerz drückt, bohrt, sticht, reißt, zieht, hämmert, kneift oder schneidet: Alle diese Schmerzattribute offenbaren – nach Schmitz – Spannung, die der Ent­ ladung bedarf, aber daran gehindert wird. Der Weg!-Impuls sei somit ebenso Wesenszug von Angst als auch der des Schmerzes.420 Der Schmerz sei ein Beispiel für eine sogenannte »interne Einleibung«421, die sich als leibliche Regung zwiespältig im eigenen Leib bemerkbar macht, indem im Schmerz eine Schwellung und Spannung aneinander zerrt (vitaler Antrieb). Der Schmerz – besonders der chronische Schmerz – ist nach Schmitz somit ein »Halbding«422, welches sich von einem Vollding insofern unterscheidet, als dass seine Dauer unterbro­ chen ist und seine verursachte Wirkung mit seinem Auftreten unmit­ telbar zusammenfällt.423 Durch jene unmittelbare Kausalität bringt Ebd. Vgl. Schmitz, Die Gegenwart, 185f. 421 Schmitz, Der Leib, 29. 422 Ebd. 423 Vgl. ebd. 29f. Schmitz unterscheidet zwischen der hier genannten »internen Einleibung« (ebd. 29) und der »externen Einleibung« (ebd. 30). Letztere trete ebenfalls in Form von Halbdingen auf und zeichne sich dadurch aus, dass sie sich nicht als »eigene Zustände« (ebd. 30) oder »leibliche Regungen« (ebd. 30) manifestieren, sondern als extern in den Leib »eingreifende Mächte« auftreten. Als Beispiel für externe Einleibungen nennt er unter anderen das Moment eines Elektroschocks, »der zum bloßen Zurückzucken die Erfahrung des kausalen Eingriffs einer sonst in keiner Weise merklichen Macht, gegen die der Betroffenen wehrlos ist« (ebd. 30) führt und stechende Blicke anderer Menschen, die einen treffen (vgl. 30f.). Neben interner und externer Einleibung beschreibt Schmitz ebenfalls das Phänomen der »Ausleibung« (ebd. 50). Ausleibung ist »leibliche Kommunikation […] aus der Schwellung im vitalen Antrieb, wobei die Spannung und die von ihr vorgehaltene Enge des Leibes […] sich in die Weite hinein auflösen: ein Zustand des Versinkens und der Versunkenheit.« (ebd. 50). Demnach manifestiert sich Ausleibung z. B. im Moment des Auf-dem-Rücken-Liegens und gleichzeitigen Starrens-in-den-Himmel, in dem sich die Erfahrung der Einheit mit dem Kosmos zeigt oder mit »Autobahntrance« 419

420

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

jedes Halbding eine gewisse Aufdringlichkeit mit sich, die zu einer Unfähigkeit führt, sich dem Weg!-Impuls zu entziehen. Dies sei ein entscheidender Unterschied zwischen der Angst und dem Schmerz, da der Geängstigte durch die Flucht dem Weg!-Impuls eingeschränkt nachgeben kann, wohingegen der Schmerzleidende – aufgrund der beschriebenen Gründen – diesem nicht nachkommen kann.424 Sowohl Angst als auch Schmerz seien Weisen des Weg!-Impul­ ses, hinsichtlich dessen Schmitz auf die Frage aufmerksam macht: Wovon »Weg!« überhaupt? Er führt aus, dass der Schmerz- oder Angstgepeinigte nämlich mehr verlassen möchte als nur den räum­ lichen Ort oder den zeitlichen Punkt, an dem er sich befindet. Der Weg!-Impuls dränge ihn, einen Platz zu verlassen, der viel primitiver, ja viel grundlegender sei, als der auf ausschließlich räumlicher oder zeitlicher Ebene. Der Betroffene fühle sich genötigt, der Enge, die er empfindet, zu entfliehen. Vielmehr dränge die panische Angst oder der erdrückende Schmerz den Empfindenden, jenen Platz hinter sich zu lassen, an dem dieser sich befindet. Dieser Ort, der explizit nicht ausschließlich Räumlichkeit bezeichne, sei seine Gegenwart. Die Gegenwart manifestiert sich im Moment der Angst und des Schmerzes, die durch den Weg!-Impuls zum Wegstreben vor dieser antreibt und werde so auf eindringliche Art präsent.425 Dabei könne sie verschiedene Nuancen aufweisen. Mal könne sich das Angst­ moment durch den Weg!-Impuls explizit auf ein zeitliches »Jetzt« beziehen und ein andermal könne derselbe Impuls im Falle heftigen Schmerzes ausschließlich auf die Flucht vor dem räumlichen »Hier« verweisen. Je heftiger Angst oder Schmerz empfunden werden, desto weniger klar können die Tendenzen des »Weg!«426 auseinandergehal­ ten werden.427 Dieses Phänomen, das umgangssprachlich mit »aus der Haut fahren wollen« beschrieben wird, bezeichnet Schmitz als (ebd. 52), die den Fahrer dazu bringt, auf einer konfliktarmen und meist geraden Strecke in Einheit mit der Weite zu versinken (vgl. ebd. 51f.). In einem gewagten Vergleich verweist er auf die Erfahrungsbeschreibung von Mystikern und vergleicht Ausleibung mit dem Erlebnis der Vereinigung mit dem Göttlichen (vgl. ebd. 51). In der Ausleibung laufe durch vollständig entspannte Gelöstheit und Nichtaktivität eine »ununterbrochene Masse von Empfindungen wie in ein uferloses Meer« (ebd. 51) in die Welt aus (vgl. ebd.). 424 Ebd. 31. 425 Vgl. Schmitz, Die Gegenwart, 192 und 198. 426 Ebd. 179. 427 Vgl. ebd. 195f.

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4.2 Hermann Schmitz: körperliche Leiblichkeit

»Primitive Gegenwart«428. Jene Gegenwartsform stellt hinsichtlich der Leitfrage einen weiteren Schritt in Richtung der Identifizierung des ursprünglichen »Hier und Jetzt« des Menschen dar.

Primitive und entfaltete Gegenwart Der Zustand primitiver Gegenwart wird von Schmitz als der Moment beschrieben, in dem beispielsweise Schmerz, Angst oder Wollust in einer solch heftigen Intensität auftritt, dass sie die Individualität und Persönlichkeit des Erlebenden vollständig negiert. Die Augen des vom Schmerzerfüllten werden glasig, seine sprachliche Ausdrucksform schrumpft zu einem Stöhnen zusammen und willentliche Kontrolle über seine Gesichtsmuskeln ist schwer auszumachen. Der Begriff des »primitiven« enthält für Schmitz aber explizit keine Abwertung, sondern verweist auf die Ursprünglichkeit des »Hier und Jetzt«.429 Schmitz proklamiert neben dem »Hier und Jetzt« weitere drei Formen der Gegenwart. Die fünf Grundformen, welche die Gegenwart konstituieren, lauten:430 »Hier, Jetzt, Dasein, Dieses, Ich«431. Das »Hier« im Sinne des räumlichen Explikats der Gegenwart hat für seine Philosophie eine entscheidende Bedeutung. Hinter der alltägli­ che Beschreibung des räumlichen Ortes des Angst- oder Schmerzbe­ troffenen im Sinne eines »Platzes im Raum«, den dieser verlassen möchte, verbirgt sich ein doppelter Sinn. Räumliche Orte werden gewöhnlich in Lage- und Abstandsbeziehungen bestimmt, sodass diese innerhalb eines Koordinatensystems bestimmbar sind.432 Diese Form von Örtlichkeit bezeichnet er als »relative Orte«433. Relative Örtlichkeit zeichnet sich durch die Bestimmbarkeit von Breiten- und Längengraden, also der sogenannten »räumliche Orientierung«434 aus. Konträr zu relativer Örtlichkeit manifestiert sich im Moment der räumlichen beispielsweise Schmerz- oder Angstausbreitung eine Ebd. 196. Vgl. Soentgen, Jens, Die verdeckte Wirklichkeit. Einführung in die Neue Phänome­ nologie von Hermann Schmitz, Bonn 1998, 50. 430 Vgl. Schmitz, Die Gegenwart, 197. 431 Schmitz, Hermann, Der leibliche Raum. System der Philosophie Teil 1. Studienaus­ gabe, Bd. 3, Bonn 2005, 10. 432 Vgl. Schmitz, Die Gegenwart, 207. 433 Ebd. 207. 434 Ebd. 207. 428

429

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

weitere Form von Örtlichkeit. Wie bereits einleitend beschrieben geht innerhalb eines Anfalls von panischer Angst oder Schmerz in Schmitz’ Beschreibung die eigene Besonnenheit und räumliche Orientierung und somit das System der relativen Örtlichkeit verloren. Entscheidend ist, dass nicht jede Bestimmbarkeit von Örtlichkeit verloren geht. Im Moment affektiven Erlebens werde der Betroffene durch den »Weg!«-Impuls angewiesen, einen tieferliegenden Ort zu verlassen. Den Ort der eigenen Enge. Dieser sei ohne räumliche Orientierung auszumachen und wird von Schmitz wie folgt beschrieben:435 »Im Zusammenbruch des Bewusstseins dieser räumlichen Orientie­ rung in Angst und Schmerz meldet sich ein Bewusstsein von einem Ort, der nicht im beschriebenen Sinn relativ ist. Ich nenne ihn den absoluten Ort.«436

Der absolute Ort ist somit Ausdruck primitiver Gegenwart im »Hier«. Er wird insofern mit den Termini »räumlich« und »Ort« assoziiert, als dass er sich aus einer Weite, die seinen Hintergrund bildet, betont abhebt. Er beinhaltet aber keinerlei räumliche Orientierung im Sinne der »relativen Örtlichkeit«, da er sich auf einer primitiveren, also fun­ damentaleren Ebene befindet. Der Bezugsort, von dem der Geängs­ tigte entkommen will, ist demnach also nicht seine relative Örtlichkeit im Sinne seiner geographischen Position innerhalb eines Koordina­ tensystems, sondern sein Bezugsort im »Hier«. Dieser bezeichnet den absoluten Ort, der durch das eigene Erleben gekennzeichnet ist.437 Der absolute Ort ist ebenso Ausdruck primitiver Gegenwart im »Jetzt«. Nach Schmitz ist das »Jetzt« der primitiven Gegenwart als ein »Einbruch des Neuen«438 zu verstehen, der die selbstlose Weite, die man zum Beispiel im Dösen nachvollziehen kann, unterbricht und das Vergangene mit dem Status des »Vorbeisein«439 markiert und somit nicht nur den Startpunkt von Neuem, sondern den Ursprung der Zeit darstellt. Die leibliche Dynamik – dazu später mehr – ahme somit durch Enge (Richtung des Vergangenen) und Weite (Richtung des

Vgl. ebd. 207. Ebd. 208. 437 Vgl. ebd. 208f. 438 Schmitz, Hermann, Wie der Mensch zur Welt kommt. Beiträge zur Geschichte der Selbstwerdung, München 2019, 91. 439 Ebd. 83. 435

436

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4.2 Hermann Schmitz: körperliche Leiblichkeit

Zukünftigen) die Zeit nach.440 Im Moment der primitiven Gegenwart sei keine umständliche Reflexion der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nötig um das eigene »Jetzt« unverwechselbar festzustellen. Die Eindeutigkeit von »Jetzt« und »Hier« seien aber jeweils nur gesichert, wenn diese sich aufeinander bezögen. Ebenso verhalte es sich mit dem »Dieses« und dem »Dasein«, welche ebenso – nach Schmitz – in direkter Abhängigkeit von der primitiven Gegenwart stehen. Demnach müsse das »Dieses« als die Darstellung unverwechselbarer Selbigkeit, also explizit »Dieses« und nicht »Jenes«, diesbezüglich konstituierende Kennzeichen innehaben, welches es nur in Verbindung mit dem »Hier«, und »Jetzt« und somit auch »Ich« aufweisen könne – hierzu im folgenden Kapitel mehr.441 Um ein konkret bestimmtes »Ich« sein zu können, sei es auf inhaltliche Füllung angewiesen. Die Orientierung und der Anhalt werde durch das »Hier« und »Jetzt« gegeben, auf die es zwingend angewiesen sei:442 »[...] zur Vereindeutigung seines Soseins, bedarf der Mensch also des Hier und Jetzt als der Enge, worin er leiblich betroffen werden kann. [...] Das Ich kann daher nie völlig frei werden vom Hier und Jetzt.«443

Da das »Hier« für den absoluten Ort, also der Ort, an dem jeder sich jeweils unmittelbar spüre, stehe, sei das »Hier« eindeutig und unabhängig von sonstigen Lagen und Abständen direkt bestimmbar, im Gegensatz zu allen anderen Orten, die sich explizit im vieldeutigen Irgendwo befänden. Diese unmittelbare Bestimmbarkeit trage auch das »Jetzt« in sich.444 Somit löst Schmitz die anfangs aufgeworfene Problematik des Sichfindens mit Hilfe von eben jenem elementaren und unmittelbaren Spüren im »Hier und Jetzt«:445

440 Vgl. ebd. Schmitz unterscheidet ebenso zwischen Modal- und Lagezeit (vgl. ebd. 89f.). Jene Unterscheidung ist für philosophische Spezialfragen nach dem Wesen der Zeit spannend, für den vorliegenden Sachverhalt aber nicht relevant. 441 Vgl. Schmitz, Der leibliche Raum, 15f. Somit positioniert sich Schmitz im Anschluss – an den bereits zitierten – Thomas Nagel gegen einen »Blick von Nirgendwo« (Schmitz, Wie der Mensch zur Welt kommt, 20) und schließt folglich einen absolut objektiven Blick auf die Welt oder den Mensch grundsätzlich aus (vgl. ebd.). 442 Vgl. Schmitz, Der leibliche Raum, 12f. 443 Ebd. 13. 444 Vgl. ebd. 15f. 445 Vgl. ebd.

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

»Primär ist vielmehr das Dasein gegeben, in Form des leiblichen Betroffenseins, das auf die Enge des Leibes, die primitive Gegenwart als Quelle der Daseinsgewißheit, hinzielt«446

Die Daseinsgewissheit offenbare sich also ausschließlich anhand des primären »Daseins«, nicht aber anhand des einfachen Soseins des »Daseins«. Etwas extern ausschließlich Gemeintes könne also nie abschließende Sicherheit über dessen wirkliches »Dasein« geben. Daseinsgewissheit ergebe sich aus der Prüfung, ob aus dem »Dasein«, das aus der Enge des Leibes hervorgeht, sich etwas manifestiere, das mit dem Gemeinten übereinstimme. Mit diesem Gedankengang zeigt Schmitz, dass das »Dasein« nicht einfach als Attribut von Gegenstän­ den proklamiert werden kann, um zu beweisen, dass es sie wirklich gibt. Vielmehr haftet es unvollständig an die primitive Gegenwart und somit an die restlichen vier Momente der Gegenwart an und verschmelze mit diesen beinahe zu Unkenntlichkeit. Die Anhaftung des »Daseins« zeige folglich ebenso die Bindung des »Dieses« an die primitive Gegenwart, da das »Dasein« die einzige Instanz des »Dieses« sei, welches zur korrekten Unterscheidung von Wirklichem und Fiktiven führe.447 Somit positioniert sich Schmitz im Anschluss an den bereits zitierten Thomas Nagel gegen einen »Blick von Nir­ gendwo«448 und schließt folglich einen absolut objektiven Blick auf die Welt oder den Mensch grundsätzlich aus.449 Anders formuliert: Ob etwas wirklich da ist oder nicht, könne mit absoluter Sicherheit erst festgestellt werden, wenn es sich in leiblicher Betroffenheit des absoluten Ortes manifestiere.450 Jener absolute Ort sei nach Schmitz bereits innerhalb der Psy­ chopathologie bekannt und dort durch den eingangs genannten Psychiater Eugène Minkowski durch einen Ort fern des geometri­ schen Raumes mit dem Satz des »Moi-ici-maintenant« (»Ich-HierJetzt«) umschrieben.451 Auch Merleau-Ponty bespricht das Phäno­ men bereits, ohne es explizit mit dem Gegensatz von relativer und absoluter Örtlichkeit zu benennen. Hierbei beschreibt er die Unfähig­ keit eines Hirnkranken, die Bewegungen einer gegenüberstehenden 446 447 448 449 450 451

Ebd. 16. Vgl. ebd. 13. Schmitz, Der leibliche Raum, 20. Vgl. ebd. Vgl. ebd. 15f. Vgl. Schmitz, Die Gegenwart, 208f.

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4.2 Hermann Schmitz: körperliche Leiblichkeit

Person nachzuahmen. Erst wenn der Erkrankte neben dem Nachzuah­ menden steht, kann dieser die Haltung seiner Glieder entsprechend ausrichten. Seine ursprüngliche Ebene der Motorik zum Raum ist gestört und somit ist er auf eine Nachahmung durch penibel genaue visuelle Affirmation gezwungen. Jene Störung zwingt ihn, den eige­ nen Körper exakt wie den der nachzuahmenden Person zu positionie­ ren. Der Betroffene greift also auf die räumliche Orientierung der Stellung der Glieder zurück, da ihm das eigene »Hier« im Sinne des absoluten Ortes im Leib nicht oder nur teilweise zugänglich ist.452 Der aus der Not geborene Zugriff auf die ausschließlich relative Örtlich­ keit beschreibt Merleau-Ponty mit der Nachahmung der Berührung zwischen rechter Hand und rechtem Ohr wie folgt: »M[it] a[nderen] W[orten], rechte und linke Hand, Auge und Ohr sind ihnen [den Erkrankten] ihrem absoluten Ort nach noch gegeben, doch nicht mehr eingelassen in ein System von Entsprechungen […]. Um jemandes Gesten nachahmen zu können, der mir gegenübersteht, bedarf ich nicht des expliziten Wissens, daß ›die Hand, die auf der rechten Seite meines Gesichtsfeldes erscheint, für mein Gegenüber die linke Hand ist‹. Es ist vielmehr gerade nur der Kranke, der auf eine solche Zurechtlegung zurückgreift.«453

Ein weiteres Mal deckt Merleau-Ponty, wie nun auch im aktuellen Fall der Örtlichkeitsformen, ein Detail menschlicher Existenz anhand pathologischer Phänomene auf. Die von ihm beschriebene Anomalie unterstreicht zudem Schmitz’ Feststellung, dass relative Örtlichkeit sich ausschließlich taktil und visuell und absolute Örtlichkeit sich nur durch das eigene Erleben identifizieren lasse.454 Die Unfähigkeit des Hirnkranken zur Nachahmung offenbart somit die Präsenz von absoluter und relativer Örtlichkeit, wovon nur erstere durch Schmitz’ Gegenwartsform des »Hier« repräsentiert wird. Sowohl der von Schmerz Betroffene als auch der von panischer Angst Befallende erleben – nach Schmitz – einen Impuls, jener absoluten Örtlichkeit (Hier) und Zeit (Jetzt) – zu letzterem später mehr – zu entkommen. Infolgedessen fallen beide Formen zusammen, er fühlt sich in die Enge getrieben und es tritt der bereits beschriebene Weg!-Impuls auf, in dem der Geängstigte oder Schmerzerfüllte nicht speziell das »Hier« oder das »Jetzt« verlassen, sondern ganz allgemein aus der zusam­ 452 453 454

Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 170. Ebd. 171. Vgl. Schmitz, Die Gegenwart, 208.

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

menfallenden Enge des Angstmomentes entkommen möchte.455 Das eigene »Ich«, das von Schmitz als »das reine Ich-Moment dessen, was wir sind«456, beschrieben wird, verliert jegliche intellektuelle Besonnenheit und die Überlegenheit über Raum und Zeit. Es fin­ det sich selbst eingeschmolzen in der Orientierungslosigkeit eines zusammengefallenen »Hier« und »Jetzt«. Schmitz beschreibt diese Angst als etwas Absurdes, da der Betroffene vor der Enge flüchten möchte, die er selbst darstellt.457 Das Verschmelzen von »Ich«, »Hier« und »Jetzt« ergibt das »Dieses«, das »reine Tatsächlichkeit«458 dar­ stellt und die Beschreibung von etwas Eindeutigem, das sich in unverwechselbarer Selbstständigkeit präsentiert, ist.459 Das »Dieses« hebt sich von allem ab, lässt den Betroffenen selbst zum Schmerz oder der Angst werden und versetzt ihn in den Zustand verschwommener Gleichgültigkeit.460 In der Zuspitzung des Erlebten und der durch die entwickelte Enge negierten Distanz des »Ich« zum »Hier« und »Jetzt«, das im unverwechselbaren »Dieses« kulminiert, drängt – so Schmitz – sich dem Betroffenen das unmittelbare »Dasein« auf. Wie referiert, wird die Verschmelzung des »Dasein« mit dem »Hier«, »Jetzt«, »Ich«, und »Dieses« umso stärker und somit weniger vonein­ ander unterscheidbar, desto mächtiger sich der Impuls des »Weg!« offenbart. Diese Steigerung der Ununterscheidbarkeit führt folglich zu einer immer schlichteren Enge. Explizit jene Enge, die den Zusam­ menfall von »Hier«, »Jetzt«, »Ich«, »Dieses« und »Dasein« umfasst, bezeichnet Schmitz mit dem Begriff der primitiven Gegenwart.461 Zu diesem Zustand führen aber nicht ausschließlich leibliche Regungen. Ebenso seien existentielle Erlebnisse, wie etwa der Verlust des eigenen Arbeitsplatzes, der Heimat oder die unbedingte Begeis­ terung für einen anderen Menschen zutreffend. Gemeinsames Merk­ mal dieser Momente sei das elementare Gefühl der unmittelbaren Gegenwärtigkeit des Menschen. In Schmitz’ Philosophieverständnis macht das Moment der primitiven Gegenwart dem Menschen auf fundamentaler Ebene deutlich, dass es sich zu diesem Zeitpunkt um ihn selbst handelt und er selbst gegenwärtig betroffen ist. Somit ist die 455 456 457 458 459 460 461

Vgl. Schmitz, Der leibliche Raum, 11. Vgl. Schmitz, Die Gegenwart, 197. Vgl. Schmitz, Der leibliche Raum, 11. Schmitz, Die Gegenwart, 225. Vgl. ebd. 199. Vgl. Schmitz, Der leibliche Raum, 11. Vgl. ebd. 11f.

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4.2 Hermann Schmitz: körperliche Leiblichkeit

betroffene Person im Moment der primitiven Gegenwart auf dichteste Weise gegenwärtig.462 Konträr zur primitiven Gegenwart positioniert Schmitz die »ent­ faltete Gegenwart«463. Um den Unterschied zwischen primitiver und entfalteter Gegenwart zu verdeutlichen, vergleicht er Tiere und Men­ schen in einer Gefahrensituation. Gesetzt den Fall, eine Scheune würde brennen, in der sich sowohl Tiere als auch Menschen aufhalten, seien die Tiere in ihrer primitiven Gegenwart gefangen. Ihnen ist es nur möglich, panisch zu brüllen und sich unkontrolliert auf und ab zu bewegen. Der Mensch sei dazu ebenso in der Lage, könne sich aber darüber hinaus aus der gegebenen Situation lösen und besonnen nach einer Lösung zu suchen.464 Er könne in jener Situation in die entfaltete Gegenwart wechseln und sei somit in der Lage, die primitive Gegenwart zu überschreiten. Dies eröffne ihm eine größere Anzahl an Verhaltensmöglichkeiten und somit potentielle Rettung.465 Die Enge der primitiven Gegenwart ist die ursprünglichste, aber auch einfachste Form der Subjektivität und des Ichs. Nirgendwo ist nach Schmitz somit klarer, dass man selbst betroffen ist. Dies beschreibt er mit der Verschmelzung aller fünf Gegenwartsbezüge des »Hier«, »Jetzt«, »Ich«, »Dieses« und »Dasein«. Diese Grundform ist aber ohne jegliche Form von Reflexion Vernunft, kurz: Sie ist ein Selbstbe­ wusstsein ohne Selbstzuschreibung. Selbstzuschreibung hieße, sich – also das »Ich« – als ein »Dieses« im Gegensatz zu einem »Jenen« zu verstehen. Der Begriff der Person ist nach Schmitz durch die »Fähig­ keit zur Selbstzuschreibung«466 konstituiert. Selbstzuschreibung ist nach Schmitz gleichbedeutend mit einer Identifizierung seiner Selbst mit einer oder mehreren Gattungen. Gattung ist »im hier gemeinten Sinn […] alles, wovon etwas ein Fall sein kann«467. In der Lage 462 Dieser Logik folgend spricht Schmitz sogar Tieren eine Form von primitivem Selbstbewusstsein zu. Eine Auffassung, die für die traditionelle Philosophie anstößig ist, da sowohl Selbstbewusstsein als auch Subjektivität als exklusiv-menschliche Eigenschaften abgrenzend zur Tierwelt benutzt werden. Wenn Schmitz nun aber von Subjektivität oder Selbstbewusstsein spricht, dann sind dies keine Merkmale, die im Dienst der Aufwertung des Menschen stehen. Im Moment der primitiven Gegenwart wird der Mensch zum Tier. Für Schmitz ist diese Feststellung unanstößig (vgl. Schmitz, Hermann, Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz, München 2016, 21). 463 Schmitz, Der leibliche Raum, 12. 464 Vgl. Soentgen, Die verdeckte Wirklichkeit, 50f. 465 Vgl. ebd. 51. 466 Schmitz, Der Leib, 71. 467 Ebd.

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

zu sein, sich selbst als einen Fall einer oder mehrerer Gattungen zu begreifen bzw. darüber zu reflektieren, konstituiert somit nach Schmitz das eigene Personsein. Dieses »Selbstbewusstsein«468 bzw. »Sichbewussthaben«469 wird im affektiven Betroffensein besonders deutlich – wie vorangehend in Bezug auf die fünf Gegenwartsformen beschrieben. Dieses Betroffensein geht dabei aber über ein einfaches Sichfinden der primitiven Gegenwart hinaus, indem es das »Ich« mit dem »Dieses« in entfalteter Gegenwart besonders verschränkt und sich selbst zuschreibt, nicht ein »Jenes« zu sein. Im bereits erwähnten Schmerzempfinden wird besonders klar, dass man es selbst ist, der Schmerzen empfindet.470 Erst im Einschnitt des bereits beschriebenen »Einbruch des Neuen«471 von primitiver Gegenwart manifestiert sich Daseinsgewissheit als primäres Dasein im Gegensatz zum nur extern zugeschriebenen Sosein.472 Diesen Moment des Einschnitts bezeich­ net Schmitz als »absolute Identität«473, da sich in dem Moment der absoluten Gegenwart eine klare Zuschreibung des eigenen Selbst offenbart. Im Zusammenfall der absoluten Identität mit der Subjekti­ vität in der primitiven Gegenwart manifestiert sich jenes genannte Sichbewussthaben, welches aber noch identifizierungsfrei ist, da »relative Identität«474 fehle.475 Erst durch die relative Identität, also wenn Gattungen zur Verfü­ gung stehen, als deren Fall man sich verstehen könne – also wenn sich Gegenwart entfalte – sei eine Identifizierung möglich. Diese Selbstzu­ schreibung, also jene relative Identität, erwachse zwar der absoluten Identität im Sinne des bloßen Sichspürens, aber übersteige diese somit durch die Erweiterung des Selbstbewusstseins durch den Akt der Zuschreibung des eigenen Selbst als ein Fall von mehreren Gat­ Ebd. 72. Ebd. 72. 470 Vgl. ebd. 72. 471 Ebd. 74. 472 Vgl. Schmitz, Der leibliche Raum, 16. 473 Schmitz, Der Leib, 76. 474 Ebd. 75. 475 Vgl. ebd. Nach Schmitz ist Subjektivität als subjektive Tatsache zu verstehen. Subjektive Tatsachen sind solche, die nicht neutral sind. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie »höchstens durch ihren Inhalt, nicht aber durch ihre Tatsächlichkeit auf jemand besonders bezogen sind« (ebd. 73). Subjektive Tatsachen sind dann Tatsachen, die »schon durch ihre bloße Tatsächlichkeit jemand besonders angehen« (ebd. 73). Zwar können andere über subjektive Tatsachen extern spekulieren oder diese kennzeichnen, aber nur der Betroffen könne sie aussagen (vgl. ebd.). 468

469

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4.2 Hermann Schmitz: körperliche Leiblichkeit

tungen.476 Relative und absolute Identität erfassen also gemeinsam die fünf Gegenwartsformen: »Hier und Jetzt« als »Ich« im »Dasein« zu sein, seien demnach Gestalten absoluter Identität. Die relative Identi­ tät baue auf der absoluten Identität auf und identifiziere die genannten Gegenwartsformen als ein Fall von Gattungen als »Dieses«, welches dadurch verschieden von anderen erkannt werde.477 Schmitz unter­ scheidet folglich zwischen der absoluten Identität, die feststellt, dass man es selbst sei und der relativen Identität, die jenes Selbst von anderen dezidiert identifizierend unterscheidet. Letzteres geschehe in der entfalteten Gegenwart aufbauend auf der primitiven Gegenwart: »Die absolute Identität bereichert sich durch die Vielzahl von Gattun­ gen, die jeweils für das Fallsein zur Verfügung stehen, zur relativen Identität. Der absolut identische Bewussthaber des Lebens aus primi­ tiver Gegenwart wird durch Selbstzuschreibung als Fall von Gattungen zum einzelnen.«478

Da die entfaltete Gegenwart vorangehend als Gegenteil der primiti­ ven Gegenwart bezeichnet wurde und bei der primitiven Gegenwart die fünf Gegenwartsmomente zusammenfallen bzw. verschmelzen, liegt die Vermutung nahe, dass die Konstellation der Formen in der entfalteten Gegenwart in absoluter Unabhängigkeit zueinander stehen würde. Genau das Gegenteil ist aber Schmitz zufolge der Fall: Die Struktur der entfalteten Gegenwart stellt sich als eine komplexe und intensive Verschränkung jener fünf Momente der Gegenwart dar.479 Die Momente sind folglich wechselseitig aufeinander ange­ wiesen und drücken ausschließlich in dieser Bezugnahme und des ineinander Übergehens ihre Eigenständigkeit aus, da das »Ich« nie ohne Bezugspunkt bestehen kann.480 Wie im obigen Beispiel des brennenden Stalls deutlich gemacht, besitzt der Mensch die Fähigkeit, sich aus dem Zusammenfall der gegenwartsbezogenen Momente hin zu der Verschränkung jener Momente zu lösen. Der Alltag des Menschen bestehe nach Schmitz folglich aus dem Wechsel von primitiver hin zu entfalteter Gegenwart.

476 477 478 479 480

Vgl. ebd. 75. Vgl. ebd. 3. Ebd. 76. Vgl. Schmitz, Der leibliche Raum, 16f. Vgl. ebd. 12f.

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

Schmitz beschreibt diese Fähigkeit der Loslösung aus der primitiven Gegenwart als »personale Emanzipation«481. Diese Überlegungen Schmitz’ haben hohe Anschlussfähigkeit an Merleau-Pontys Überlegungen. Wie vorangehend beschrieben, bezeichnet Merleau-Ponty die Fähigkeit des Menschen, sich aus der leiblichen Verankerung in der Welt zu lösen, als das Eingraben einer »hohle[n] Zone der Reflexion und Subjektivität«482. MerleauPonty umschreibt leibliche Verankerung als »primordialer Habitus des Zur-Welt-seins« (s. Kapitel 4.3.1), welcher eine vorintellektuelle Erfahrung im vorprädikativen Milieu darstellt, in der die Welt vor jeder Reflexion und Analyse dem leiblichen Subjekt bereits gegenwär­ tig ist. Gerade wegen jener vorreflexiven Gegenwärtigkeit ist der Leib für jegliche nachfolgende Wahrnehmung und Ausdruckform demnach konstitutiv.483 In welchem Maße und in welchem Stil sich der Mensch von dieser ursprünglichsten Form löst, ist unterschied­ lich. Eine vollkommene Loslösung aus der primitiven Gegenwart (Schmitz) bzw. des primordialen Habitus (Merleau-Ponty) ist in der Welt unmöglich und nicht erstrebenswert, da jene Leibeigenschaften jeweils für die Eigentlichkeit des Menschen konstitutiv ist. Für beide Phänomenologen ist die Fähigkeit der partiellen Emanzipation aus – mit Schmitz gesprochen – »primitiver Gegenwart« und der somit folgenden Eröffnung eines Raumes, in dem sich Individualität und Persönlichkeit entfalten können, konstitutiv für explizit menschliche Existenz und somit entscheidender Unterschied zur Tierwelt.484 Diesbezüglich wird nochmals klar, dass »primitiv« in diesem Zusammenhang explizit nicht barbarisch oder unterentwickelt bedeu­ tet, sondern ursprünglichen und natürlichen Bestandteil menschli­ chen Daseins beschreibt.485 Entscheidend ist, dass für Schmitz die Bewegungsrichtung der personalen Emanzipation keinesfalls unum­ kehrbar ist. Seinen Gedanken folgend sei es ebenso möglich, aus der entfalteten in die primitive Gegenwart, also im Gegensatz zu der »personalen Emanzipation« in eine »personale Regression«486 und somit von einem identifizierend-abgrenzenden Modus zurück Soentgen, Die verdeckte Wirklichkeit, 51. Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 137. 483 Vgl. ebd. 220. und vgl. Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, 167. 484 Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 136f. und Vgl. Soentgen, Die verdeckte Wirklichkeit, 51. 485 Vgl. ebd. 52. 486 Ebd. 481

482

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4.2 Hermann Schmitz: körperliche Leiblichkeit

in eine bloß sich selbst bewusste Form des Erlebens, ohne dediziert abgrenzendes »Dieses«, zu wechseln. Auch wenn die fünf Momente der Gegenwart nie so stark auseinandertreten, dass es zur einer dauerhaft absolut entfalteten Gegenwart komme und sie ebenso selten so eng verschmolzen, dass sich die primitive Gegenwart in ihrer extremsten Form offenbare, sei dieser Zustandswechsel nach Schmitz für das menschliche Leben fundamental, da das Durchleben von Höhen und Tiefen, der Wechsel zwischen den beiden Polen der primitiven und entfalteten Gegenwart erst die gesamte Fülle menschlicher Existenz ausmache:487 »Von der einen Seite droht ihm [dem Menschen] Erschütterung, Überwältigung, ja Erlöschen als Person, von der anderen Zersetzung in der Entfremdung […].«488

Durch die Bewegung zwischen Überwältigung und Entfremdung, in der sich der Mensch befindet, macht Schmitz somit nochmals deutlich, wie untrennbar die Umgebung und das »Dasein« des eigenen »Ich« miteinander verwoben sind. Folglich zeigt sich, dass die Frage nach dem »Hier« und »Jetzt« des Menschen mit Schmitz’ Philosophie mit dem Begriff der Gegenwart – primitiv und entfaltet – sowie drei weiteren Grundformen der Gegenwart beantwortet wird. Gleichzeitig wird deutlich, dass jene Antwort nur eine erste Teilantwort sein kann und dass eine hinreichende Antwort nach dem Sichfinden im »Hier« und »Jetzt« des Menschen nur in der Ergrün­ dung des Momentes der leiblichen Betroffenheit zu finden ist.489 Wie obig aufgezeigt ergibt sich die Gewissheit über das eigene »Dasein« ausschließlich im Moment leiblicher Betroffenheit. Dieses Gefühl des »auf den eigenen Leib rücken« erwächst – nach Schmitz – aus der leiblichen Enge der primitiven Gegenwart als absolute Identität des Sichspürens. Darin offenbare sich eine Daseinsgewissheit, die nicht übersteigbar sei. Durch das Zusammenfallen der Gegenwarts­ momente in primitiver Gegenwart werde sich der Mensch am eigenen Leib durch entsprechende leibliche Regungen, wie etwa panische Angst, in höchstem Maße seiner Gegenwärtigkeit im »Hier und

Vgl. ebd. 52. und Vgl. Schmitz, Der leibliche Raum, 18. Schmitz, Hermann, Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, 158. 489 Vgl. Schmitz, Der leibliche Raum, 16. 487

488

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

Jetzt« und als »Dieses«, »Dasein« und »Ich«« gewiss490. Aus dieser ursprünglichsten Form des Selbstbewusstseins kann sich dann als relative Identität der Selbstzuschreibung Persönlichkeit entwickeln: »Auf jeden Fall ist es Sache der leiblichen Dynamik, primitive Gegen­ wart zu präsentieren und dadurch Selbstbewusstsein in jeder Form, einschließlich personaler Selbstzuschreibung, zu ermöglichen. Diese ist überdies durch das affektive Betroffensein, das stets leiblich spürbar ist, vermittelt. Damit ist der unabdingbare Zusammenhang der Person mit dem Leib besiegelt. Eine leib- und zeitlose Person – zeitlos, d. h. nicht angewiesen auf plötzliche Ankunft des Neuen – kann es nicht geben. Ihr würde für die Selbstzuschreibung das Relat fehlen, womit sie das, was sie für sich selber hält, identifiziert.«491

Da der Leib nun als der entscheidende Faktor bezüglich des »Hier und Jetzt« des Menschen ausgewiesen wurde, ist es hinsichtlich der Beantwortung der Leitfrage des vorliegenden Kapitels somit folgerichtig zu klären, wie genau Leiblichkeit zu verstehen, wie das Verhältnis zur Körperlichkeit und was mit jener leiblichen Betrof­ fenheit genau gemeint ist. Gleichzeitig gilt es, weiterhin auf die Potentiale der Zusammenführung von Schmitz’ und Merleau-Pontys Erkenntnisse hinzuweisen.

4.2.2 Körperlichkeit und Leiblichkeit »Leiblich ist das, dessen Örtlichkeit absolut ist. Körperlich ist das, dessen Örtlichkeit relativ ist. Seelisch ist, was ortlos ist.«492

Vgl. ebd. Schmitz, Der Leib, 75. 492 Schmitz, Hermann, Der Leib. System der Philosophie Teil 1, Studienausgabe, Bd. 2, Bonn 2005, 6. In diesem frühen Stadium seiner Arbeit ist noch eine große Offenheit hinsichtlich des Begriffs der Seele und dem Willen, diesen Terminus fest in die eigene Phänomenologie zu integrieren, zu erkennen. Jenes produktive Erkenntnisinteresse wird sich aber immer weiter in eine Nichtbehandlung weiterentwickeln und schließlich in offener Abneigung (Stichwort: Ideologievorwurf) münden. Die für die Leitfrage zentrale Bestimmung des Seelischen und Schmitz’ diesbezüglicher Haltungsentwick­ lung werden in Kapitel 5.1 im Detail behandelt. Die hier zitierte Definition darf trotzdem in der genannten offenen Bestimmtheit angenommen werden, da für die vorliegende Analyse jener zitierte »frühe Schmitz« entscheidend ist. 490 491

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4.2 Hermann Schmitz: körperliche Leiblichkeit

So lautet die Grunddefinition von Hermann Schmitz, mit der er jene drei Größen seiner Phänomenologie zu Anfang seines zehnbändigen Systems der Philosophie festhält. Bei der Betrachtung jener Beschrei­ bung wird deutlich, dass die bereits beschriebenen Örtlichkeitsformen für Schmitz entscheidendes Kriterium für die Bestimmung von Körper und Leib darstellen. Logische Folge der obigen Definition ist die Unmöglichkeit, etwas gleichzeitig als seelisch und körperlich oder per se leiblich und seelisch zu bezeichnen, da die konstituierende Eigenschaft von Seelischem, nämlich die Ortlosigkeit, jegliche Form von Örtlichkeit ausschließt. Nach Schmitz können die Eigenschaften Leiblichkeit und Körperlichkeit gemeinsam auftreten, da relative und absolute Örtlichkeit nicht zwingend konträr zueinanderstehen.493 Er macht zwei zentrale Vorteile seiner Definition aus: Erstens garantiere sie methodische Reinheit und umgehe somit die Gefahr einer Kollision mit den empirischen Wissenschaften. Da diese ihren Erkenntnisgewinn ausschließlich durch Messungen an relativen Orten, also im Bereich der Körperlichkeit, sichern, könne es maximal zu einer unproblematischen Überschneidung im Falle der Leiblich­ keit, die zufällig Körperlichkeit innehabe, kommen. Darüber hinaus umfasse zweitens die Definition ebenso leibliche (objektive) Tatsa­ chen, also solche Phänomene, die nicht vom eigenen Erleben erfasst werden, wie etwa den traumlosen Schlaf. Absolute Örtlichkeit ist nach Schmitz nicht durch zwingend bewusstes Erleben bestimmt, sondern kann ebenso ein nichtbewusstes Erlebnis bezeichnen. Bezüglich der näheren Bestimmung des absoluten Ortes im Leib verweist er auf Merleau-Ponty, der diesen bereits andeutete, allerdings – wie bereits aufgezeigt – ohne ihn explizit gegen den relativen Ort des Körpers zu positionieren:494 »Auf meinen Leib angewandt, bezeichnet das Wort ›hier‹ nicht eine im Verhältnis zu anderen Positionen oder zu äußeren Koordi­ naten bestimmte Ortslage, sondern vielmehr die Festlegung der ers­ ten Koordinaten überhaupt, die Verankerung des aktiven Leibes in einem Gegenstand, die Situation des Körpers seinen Aufgaben gegen­ über.«495 Vgl. ebd. 6f. Vgl. ebd. 10f. In diesem Zusammenhang verweist er ebenso auf eine Äußerung Helmut Plessners, die ähnlich wie Merleau-Ponty den Begriff des absoluten Orts bereits vor Schmitz’ Schriften andeutend vorwegnimmt. 495 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 125f. 493

494

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Merleau-Ponty beschreibt einen Ort der Unmittelbarkeit und Innig­ keit leiblicher Erstwahrnehmung in Bezug auf die Welt. Schmitz selbstauferlegtes Ziel ist es, den – bei Merleau-Ponty bereits ange­ deuteten – Schlüssel des »absoluten Ortes« zur Öffnung aller Phä­ nomene grundlegend zu prüfen. Für diese Prüfung werden Phäno­ mene gewählt, bei denen die Gewissheit vorherrscht, dass diese dem eigenen Leib inniger und unmittelbarer zugehören als Phänomene, die nur durch visuelle und tastende Absicherung nachweisbar sind. Anders gesagt: Schmitz prüft den absoluten Ort als Bestimmungska­ tegorie des Leibes anhand von Phänomenen, die über die Tatsache der Erfahrung einer relativen Örtlichkeit hinausgehen. Dazu muss anhand einer möglichst großen Klasse von Phänomenen absolut-ört­ liche Bestimmtheit nachgewiesen werden.496 Als erstes Beispiel nennt Schmitz den Fall eines Fieberkranken, dem zwei entgegengesetzte Qualitäten aus derselben Skala gegeben sind. Die Stirn des Betroffenen fühlt sich heiß an, sobald er diese aber anfasst, registriert er einen kühlen Ort. Nach Schmitz ergründet seine tastende Hand den relativen Ort zu sich selbst, wohingegen die heiß gespürte Stirn auf den absoluten Ort hinweise. Der relative Ort sei durch Lage- und Abstandsbeziehungen der eigenen Körper­ teile gekennzeichnet, die durch Beschauen und Betasten verifiziert werden können. Im Fall der Fiebererkrankung seien uns die eigenen Körperteile in einer seltenen Unmittelbarkeit und somit zusätzlich zum relativen auch als absoluter Ort gegeben. Gewöhnlich machen wir bei der Wahrnehmung zwischen absolutem und relativem Ort keinen Unterschied und können diesen auch nur bei genauer Betrach­ tung separat benennen.497 Das berührte Objekt werde über seine Temperatur durch das Tasten an einem relativen Ort lokalisiert, wohingegen das tastende Objekt – also Glied – mit seiner Temperatur an einem absoluten Ort gespürt werde. Dies zeige, dass wir in der Lage sind, mithilfe der Unterscheidungseigenschaft des absoluten und relativen Ortes die Eigentemperatur und betastete Temperatur zu unterscheiden.498 Ähnlich wie Maurice Merleau-Ponty nutzt Schmitz das Phäno­ men des Phantomgliedes zur Verdeutlichung von explizit leiblichen

496 497 498

Vgl. Schmitz, Der Leib. Studienausgabe, 12. Vgl. ebd. 13f. Vgl. ebd. 15.

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4.2 Hermann Schmitz: körperliche Leiblichkeit

Eigenschaften.499 Wie in Kapitel 4.1.3 beschrieben, wird in MerleauPontys Deutung kein neues Glied erfunden, sondern das bereits mate­ riell nicht mehr existierende sei dem Leib immer noch präsent, gleich einer verdrängten Vergangenheitserfahrung, der nicht erlaubt werde, Gegenwart zu werden. Das Phantomglied halte den Betroffenen also in einer Spannung gefangen, zwischen dem Impuls sich zur-Welt leiblich zu positionieren, bei gleichzeitiger Nichtanerkennung des Gliedverlusts. Schmitz differenziert die von Merleau-Ponty genannte Erfahrung und stellt fest, dass genanntes Phänomen nicht ertastet oder beschaut werden kann und demnach der relative Ort – also Körperlichkeit – nicht aufgewiesen werden könne. Der Nachweis absoluter Örtlichkeit dränge sich am genannten Beispiel geradezu auf, da konstitutive Eigenschaft des Phantomgliedphänomens eben jene leiblich-gespürte Präsenz eines vom Körper getrennten Gliedes sei. Somit kann Schmitz Leiblichkeit als absoluten Ort hier aufweisen. Darüber hinaus sei die Transferleistung der Aufweisung von Leib­ lichkeit anhand jenes Sonderfalls auf den gesunden Gliederzustand legitim, da die Wahrnehmung des Phantomgliedphänomens bis auf das Fehlen des relativen Ortes mit der Wahrnehmung der herkömm­ lichen Glieder identisch sei. In der Analyse des Phantomgliedphänomens werden Schmitz zufolge zwei Anomalien offenbar, welche die Erkenntnis der relati­ ven Örtlichkeit des Körpers und absoluten Örtlichkeit des Leibes weiterführend vertiefen: Einerseits weise das Phantomgliedphäno­ men sogenannte Doppelorte auf: Hierbei besetzten zwei als Körper erlebte Objekte denselben relativen Ort, wovon allerdings ein erlebter Körper, nämlich das Phantomglied, dem eigenen Leib zugerechnet werde. Dies sei nach der Definition eines Körpers unmöglich, da dieser als undurchdringlich bestimmt sei und für sich grundsätzlich allein einen relativen Ort besetzte.500 Andererseits werde die Paradoxie der Anomalie noch deutlicher, wenn nicht nur einer der beiden als Körper 499 Auch wenn Schmitz nicht mit Merleau-Pontys Deutung des Phantomgliedphäno­ mens einverstanden ist und diese abwertend als »psychoanalytisch« (Schmitz, Der Leib, 163) beurteilt, haben beide für die jeweilige Phänomenologie große Erkenntnisse aus jenem Phänomen gezogen. Die Unterschiede in ihren Erkenntnissen sind bezüg­ lich der hier behandelten Leitfrage auch nicht unvereinbar, wie dies nach den z. T. scharfen Äußerungen von Schmitz anzunehmen wäre. 500 Von einer vergleichbaren Doppeldeutigkeit im Sinne vom Leib als Objekt unter Objekten spricht ebenfalls Merleau-Ponty (vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 117f.).

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erlebte Objekte dem eigenen Leib als zugehörig bestimmt werde, sondern dies bei beiden der Fall sei. Die erste Anomalie der Undurchdringlichkeit komme insofern zustande, als dass ein Phantomglied so nah an eine Wand geführt werde, bis beide Objekte physikalisch kollidieren müssten. Stattdes­ sen werden beide Objekte als ineinanderfallend wahrgenommen. Das Objekt der Wand, welches visuell verifiziert werden könne, falle auf denselben relativen Ort wie das empfundene Glied. Dessen physikalische Präsenz könne infolge der Amputation dem eigenen Leib nicht mehr visuell oder tastbar zugehörig nachgewiesen wer­ den. Das gleiche Phänomen könne mit einem auf einer Matratze liegenden Beinamputierten reproduziert werden, indem dieser seine Knie anwinkelt und infolgedessen ein Durchbrechen der Matratzen­ oberfläche wahrnehme.501 Nach Schmitz stellt diese Anomalie kein physikalisches, sehr wohl aber ein phänomenologisches Problem dar. Denn: Wie soll das Phantomglied und dessen Wirtskörper, also der Körper in dessen Örtlichkeit das Phantom eingetreten sei, auseinan­ dergehalten werden? Der einfachste Weg wäre, das Phantomglied im Wirtskörper oder umgekehrt den Wirtskörper im Phantomglied und somit im eigenen Leib aufgehen zu lassen. Beides sei aber nicht der Fall, denn egal wie sehr der Betroffene sich anstrenge: Das Phantomglied und seinen Wirtskörper könne er nicht als ein und dasselbe, sondern ausschließlich als zwei verschiedene Objekte wahrnehmen. Dies ist Schmitz zufolge dem Fakt geschuldet, dass die Undurchdringlichkeit von Körpern keine beliebige Konvention und somit die Vervielfachung der relativen Örtlichkeit keine Willkür ist. Wenn die Wahrnehmungsanomalie nun aber weder beliebig noch willkürlich sei, dann könne es auch die dazugehörige Erklärung nicht sein. Das Phänomen bleibe somit unerklärlich, wenn davon ausgegangen werde, dass jeder Körper in demselben Sinn denselben Ort innehaben solle. Folglich ändert Schmitz die Prämisse bezüglich der Körperform und formuliert:502

501 Vgl. Schmitz, Der Leib. Studienausgabe, 17f. Laut Schmitz wurde das hier beschrie­ bene Phänomen zum ersten Mal durch den deutschen Psychologen David Katz 1921 dokumentiert. Dementsprechend nennt er es in seinem Werk das »Katz´sche Phäno­ men«. 502 Vgl. ebd. 19f.

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»Wo immer Doppelorte im angegebenen Sinn auftreten, muß mindes­ tens einer der beiden (wirklich oder scheinbar vorhandenen) Körper am Doppelort außer seinem relativen Ort noch einen absoluten haben.«503

Dies bedeutet, dass sowohl dem Phantomglied, als auch der Wand oder Matratze derselbe relative Ort zugerechnet wird. Für den Betrof­ fenen besitze sein Phantomglied zusätzlich einen absoluten Ort, der dem Wirtskörper des Phantomgliedes nicht gegeben ist. Daher sei der Träger des Phantomgliedes gezwungen, beide Körper als in der Sache zu unterscheiden, nicht aber in der Örtlichkeit.504 Jene Steigerung der Merkwürdigkeit des gerade beschriebenen Phänomens finde dann statt, wenn nicht nur einer, sondern beide am selben relativen Ort wahrgenommenen Körper dem eigenen Leib zugeordnet werden. Diese zweite Anomalie trete auf, indem ein Armamputierter das Phantomglied durch den eigenen Körper führe und daraufhin das gespürte Glied im selben wahrgenommenen Raum innerhalb des eigenen Körpers ein eigenes Dasein aufweise.505 Wo im vorangehenden Beispiel der Wirtskörper klar als Fremdkörper bestimmt werden konnte, werden nun beide konkurrierenden leibhaf­ tig gespürten Körper bzw. Scheinkörper als Teil der eigenen Existenz betrachtet. Auch hier macht Schmitz deutlich, wie erkenntnisbringend der Hinweis auf den absoluten Ort ist: Beide wahrgenommenen Entitäten besitzen einen eigenen absoluten Ort, der es dem Betroffe­ nen möglich mache, diese trotz derselben zugeschriebenen relativen Örtlichkeit getrennt wahrzunehmen. Wichtig sei diesbezüglich, dass offensichtlich nicht nur der gesamte eigene Leib einen absoluten Ort als Ganzes besitze, sondern seine einzelnen unmittelbar erspürten Teile ebenso. Diese von Schmitz als »Leibesinseln«506 bezeichneten Teile, – dazu im folgenden Kapitel mehr – können nämlich trotz des Zusammenfallens der relativen Örtlichkeit, dank ihrer Eigenschaft des absoluten Ortes, trotzdem getrennt wahrgenommen werden. Der Leib nehme den Unterschied sogar dann wahr, wenn die körperliche, also visuelle und tastende Wahrnehmung diesem widerspreche.

Ebd. 20. Vgl. ebd. 20. 505 Vgl. ebd. 21. Schmitz zufolge wurde die zweite Anomalie zum ersten Mal durch den österreichischen Psychiater Paul Schilder 1923 beschrieben. Folglich tauft er sie in seinem Werk passenderweise das »Schilder´sche Phänomen« (vgl. ebd.). 506 Ebd. 28. 503

504

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Schmitz Analyse des Phantomgliedphänomens zeigt zusam­ menfassend Folgendes: Anhand der ersten Anomalie macht er deut­ lich, dass die eigenen Glieder durch absolute Örtlichkeit bestimmt sind. Die Ergebnisse der zweiten Reflexion spezifiziert bereits Her­ ausgefundenes. Nach Schmitz weist jedes zu unserem Leib gehörige Glied seine eigene absolute Örtlichkeit auf, die deren Verschieden­ heiten konstituiert. Zusammengenommen darf festgehalten werden, dass jene Wahrnehmung, die am eigenen Körper unmittelbar und unabhängig von visueller und taktiler Affirmation gespürt wird, durch absolute Örtlichkeit gekennzeichnet und somit leiblich ist.507

4.2.3 Körperliche Leiblichkeit als Einheit des »Hier und Jetzt« Vorangehend wurde Leiberleben mit absoluter Örtlichkeit identifi­ ziert. Mit Leiberleben ist demnach das unmittelbare, nicht durch äußere Sinne zu vermittelnde Spüren des eigenen Daseins gemeint. Nun soll der Zusammenhang zwischen Leiblichkeit und dem absolu­ ten Ort weiter vertieft, die Einheit des Eigenleibes verstanden und begleitend zentrale Begriffe der Leibphänomenologie von Schmitz erläutert werden. Nach diesem wird ohne hinzuschauen oder zu tasten das leibliche Erleben, beispielsweise das Jucken am Fuß, im ersten Erlebnis in relativer Örtlichkeit unterhalb der Stirn lokalisiert. Darüberhinaus könne festgestellt werden, dass es tiefer, nämlich unterhalb der Knie und dass die Distanz zwischen Knie und Fuß kleiner als die zwischen Fuß und Stirn sei. Das leibliche Erleben sei somit streng nach der aufgestellten Definition als ebenso körperlich zu bezeichnen. Das Erleben sei zwar einerseits unmittelbar und ohne visuelle oder taktile Affirmation gegeben, aber gleichzeitig sei das leiblich Gegebene in relativ-örtlicher und so durch räumliche Orientierung festgelegt. Dies gelte ebenso für das Phantomglied, welches zwar nicht berühr- oder beschaubar, aber trotzdem in relativen Orten der Orientierung gege­ ben sei. Aufgrund dieser wahrnehmbaren Mixtur von körperlichen und leiblichen, von relativen und absoluten Orten spricht Hermann Schmitz konsequent vom »körperlichen Leib«.508 507 508

Vgl. ebd. 23f. Ebd. 35.

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4.2 Hermann Schmitz: körperliche Leiblichkeit

Dass etwas körperlich und trotzdem leiblich sein könne, wurde bereits im Anschluss an die dargebotene Definition festgehalten. Hier findet also kein Widerspruch statt: Wo der eigene Leib ausschließlich das unmittelbar Gespürte umfasse, könne der eigene Körper vielerlei überspannen, wovon andere sich und wir selbst uns durch Ertasten und Betrachten überzeugen können. Von diesem Akt der Unterschei­ dung sei darüber hinaus auf die Differenzierung des körperlichen Leibes und der Vorstellung des eigenen Körpers hinzuweisen. Das Raumbild, welches jeder von sich selbst habe, werde als »Körper­ schema«509 bezeichnet und berge die einzelnen Körperteile und deren räumliche Beziehung zueinander in sich. Diesbezüglich äußert sich bereits Merleau-Ponty: »[Jener] Raum meiner Hand ist kein Mosaik von Raumwertigkeiten. In gleicher Weise ist auch mein ganzer Körper für mich kein Gerüst räumlich zusammengestellter Organe. Ich habe ihn inne in einem unteilbaren Besitz, und die Lage eines jeden meiner Glieder weiß ich durch ein sie alle umfassendes Körperschema.«510

Schmitz geht über Merleau-Pontys Beschreibung noch hinaus und betont die Unterschiedenheit von Körperschema und Körpererleben. Jene Unterschiedenheit macht er durch die Beschreibung der inhären­ ten Struktur des körperlichen Leibes deutlich.

Leibesinseln Nach Schmitz ist der körperliche Leib im Gegensatz zum Körper­ schema geradezu unstetig. Jeder gesunde Mensch könne den eigenen Körper von oben bis unten abtasten oder mithilfe eines Spiegels betrachten und einen ununterbrochenen räumlichen Zusammenhang feststellen. Der Versuch, den eigenen Leib von Kopf bis Fuß zu erspü­ ren, offenbare jedoch eine grundlegend andere Erfahrung. Der Leib sei uns nicht als festes Bild gegeben, sondern zerfalle in einzelne Inseln, die ohne festen räumlichen Zusammenhang unstetig existieren.511 Die Anzahl der erlebten Inseln könne variieren, grob manifestieren sich aber Bereiche im Schlund, der Brustwarzengegend, in der Höhe der Magengrube, anale und genitale Inseln, sowie bei den Ober­ 509 510 511

Ebd. 30. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 123. Vgl. Schmitz, Der Leib. Studienausgabe, 24f.

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schenkeln, Knien, Fußknöcheln und Sohlen. Darüber hinaus weisen sie unscharfe Umrisse auf, manche seien immer, andere nur manch­ mal anzutreffen, verschmelzen und offenbaren sich verschwommen. Das Verhältnis der Inseln und ihre Binnengliederung untereinander konstituieren den Erlebniswandel des körperlichen Leibes. Schmitz beschreibt sie als am besten vergleichbar mit der flüssigen Masse in lebendigen Zellen, dem sogenannten Protoplasma. Leibesinseln könne man sich demnach als ständig wandelnde Protoplasmaklümp­ chen vorstellen, die zwar klar getrennt auftreten können und eine grobe Struktur aufweisen, aber im Feinsten immer in Bewegung seien. Demnach fange jenes Bild den Unterschied zwischen Körper­ schema und dem körperlichen Leib überzeugend ein, da letzterer nicht gewohnheitsmäßig festgefahren und starr visuell-taktil bestätigt, sondern in stetiger Bewegung und letztlich unscharf ist.512 Diese Unschärfe dient Schmitz als Lösungsansatz auf die Frage wie jene Fälle von Phantomgliedphänomenen zu erklären seien, bei denen nur Teile des abgetrennten Gliedes gespürt werden. Es könne nämlich durchaus passieren, dass ein amputierter Arm dem Betroffenen nur als isoliertes Ellenbogengelenk erscheine, der Ober­ arm hingegen aber nicht mehr spürbar sei. Zu dieser »Anomalie innerhalb der Anomalie« komme es, da das Phantomgliedphänomen, anders als in älterer Literatur behauptet – so Schmitz –, weder eine Illusion noch eine Halluzination sei, sondern eine Leibesinsel bzw. eine Ansammlung vieler Leibesinseln. Das Phänomen manifestiere sich, wenn das Phantomglied den Erwartungen des Körperschemas unterworfen werde und den taktilen und visuellen Anforderungen des Körpers nicht entsprochen werden könne.513 Schmitz kritisiert Merleau-Ponty für sein defizitäres Wissen um die verschiedenen Örtlichkeiten scharf.514 Festzuhalten ist aber auch, dass die Problema­ tik der Nichtentsprechung von Erwartungen bereits von jenem im Zusammenhang mit der Anosognosie thematisiert wurde. Wie zuvor beschrieben, deutet Merleau-Ponty das Phantomgliedphänomen in der Perspektive der Kollision der Erwartungen des in-der-Welt enga­ gierten Ichs mit seinen körperlichen Beeinträchtigungen. Demnach finde das Subjekt zu einer Form des Zur-Welt-seins, welche der theoretischen Möglichkeit aller Glieder im gesunden Zustand zur 512 513 514

Vgl. ebd., 26f. Vgl. ebd. 29f. Vgl. ebd. 163f.

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Welt weiterhin annehmend begegnet und gleichzeitig das Ereignis der Amputation verdränge. Dieses spannungsgeladene Verhältnis führe somit zu verschiedenen Formen von Phantomgliedphänomenen. Er schlussfolgert, dass der Leib viel mehr als nur Begegnungswerkzeug mit der Welt sei, sondern die Qualität des Engagements in der Welt konstituiere und somit für die Verankerung des Subjektes in seinem Weltmilieu unersetzlich sei.515 Schmitz Aussagen sind mit jenen Schlussfolgerungen und auch Merleau-Pontys Verständnis des Kör­ perschemas grundsätzlich komplementär, allein den Einfluss, zu dem Merleau-Ponty dem Begriff des Körperschemas in der Philosophie verholfen hat, kritisiert Schmitz, da für ihn weniger die Vorstellung des körperlichen Leibes als Erleben desselben im Mittelpunkt steht.516 Daher erwachsen auch seine Bemühungen, die Analyse des Phan­ tomgliedphänomens mit solcher Akribie voranzutreiben, da er zum Ziel hat, die diskrete und insuläre Struktur des körperlichen Leibes sichtbar zu machen, welche das leibliche Erleben konstituiert. Jene sei mit Hilfe des Phantomgliedphänomens so gut nachweisbar, da die körperlich-materielle Ebene und damit die relative Örtlichkeit weder dem Betroffenen zugehörig noch von dauerhafter Stetigkeit sei. Dies belegt somit seine an Merleau-Ponty formulierte Kritik und entmachtet die Wichtigkeit des Körperschemabegriffs und dessen inflationäre sowie unpassende Verwendung in der Philosophie. Nach Schmitz lässt die nun durch die Amputation gebrochene Stetigkeit, welche unter normalen Umständen durch das Körperschema verant­ wortet wurde, die bereits genannte Inselstruktur des körperlichen Leibes deutlich werden.517 Durch jene Konkretisierung des eigenen Erlebens durch das Inselkonzept von Schmitz wird der Unterschied zu Merleau-Pontys Leibesphänomenologie vertiefend deutlich. Schmitz beschreibt Merleau-Pontys Leibvorstellung als den physischen Kör­ per, der mit Haut und Haaren und der zusätzlichen Fähigkeit eines »gewissen Lebendigseins gegenüber dem bloßen naturwissenschaft­ lichen Abstraktionsprodukt des menschlichen Körpers«518 ausgestat­ tet sei. Schmitz hingegen orientiert sich zwar an jenen Grundideen,

515 516 517 518

Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 105f. Vgl. ebd. 123. und Vgl. Schmitz, Der Leib. Studienausgabe, 35. Vgl. ebd. 30f. Schmitz/Brenner, »Die neue Phänomenologie«.

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kritisiert aber auch jene Ungenauigkeit und stellt erweiternd den Leib als eine vom Körper fundamental andere Entität vor:519 »Der Menschenkörper ist ein Ding mit steter Dauer und festem Umriss und nach Lagen und Abständen überall bestimmt durch relative Orte. Der spürbare Leib ist dagegen alles das, was man in den Grenzen des eigenen Körpers von sich selbst als zu sich selbst gehörig spürt und zwar ohne sich der Sinne zu bedienen.«520

Die gespürte Inselstruktur des körperlichen Leibes korrigiert die kritisierte Ungenauigkeit des französischen Philosophen und sorgt folglich für eine Konkretisierung der phänomenologischen Unter­ suchung hinsichtlich der Frage nach dem »Hier« und »Jetzt« des Menschen. Schmitz verdeutlicht die Unzuverlässigkeit des Körper­ schemabegriffs als alleinige Erklärung bezüglich des Körpererlebens und unterstreicht die Notwendigkeit der Begrifflichkeit des körper­ lichen Leibes mit seinen Merkmalen »der diskreten Struktur, der flutenden Wandlung und unscharfen Umgrenzung der diskreten Lei­ besinseln«521. Angesichts dieser unscharfen Umgrenzung der »diskreten Lei­ besinseln« stellt Schmitz die Frage, wie es gleichzeitig zu der Wahr­ nehmung einer unmittelbaren Einheit des körperlichen Leibes kom­ men kann. Wie also funktioniert die diskrete Organisation der Leibesinseln als eine – ohne visuelle oder taktile Affirmation – erlebbare Entität innerhalb des körperlichen Leibes? Wie bereits referiert zerfällt nach Schmitz’ Phänomenologie der körperliche Leib in der räumlichen Orientierung in mehrere inselhafte Bereiche. Trotz aller Beweglichkeit der Leibesinseln sei ihr Lokal ein absoluter Ort, der sie als eine »unzersplitterte Einheit«522 erscheinen lasse. Demnach reiche der absolute Ort des Leibes im Ganzen so weit, wie sich die eigenen Leibesinseln erstrecken und konstituiere so die Einheitswahrnehmung. Zur Veranschaulichung des einheitlichen absoluten Ortes des Leibes verweist Schmitz auf das Erlebnis von Druck. Der Leib sei meist mit einem gewissen dumpfen Druck, einer Art gespürter Spannung, gegeben.523 Dort wo Druck mit Spannung auftritt, herrsche automatisch auch eine Form von Enge, im Sinne 519 520 521 522 523

Vgl. ebd. Ebd. Schmitz, Der Leib. Studienausgabe, 35. Ebd. 37. Vgl. ebd. 37f.

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4.2 Hermann Schmitz: körperliche Leiblichkeit

eines »Zusammen- und Ineinander-gedrängt-Seins«524, das einer »ursprünglichen Punktualität«525 ähnele und ganz unabhängig von räumlichen Lageverhältnissen sei. Diese Enge des stumpfen Drucks, die das Erleben der Struktur des körperlichen Leibes durchzieht, negiere die Leibesinseln nicht, aber kompensiert sie insofern, dass sie nicht zusammenhaltslos, sondern als eine Einheit erlebt werden. Diese Enge sei eben jene bereits beschriebene primitive Gegenwart, die sich ins Räumliche zum absoluten Ort entfaltet, und sonst nur dis­ kret erlebbar und im Falle des Schmerzes oder der Angst offensichtlich erfahrbar sei. Der absolute Ort des körperlichen Leibes im Ganzen werde aber nicht nur durch jene Enge repräsentiert, sondern auch durch andere Regungen, beispielsweise Behagen oder Müdigkeit. Der Nachweis des absoluten Ortes im körperlichen Leib als Ganzes manifestiert sich somit nach Schmitz wie folgt: Der eigene Leib werde von uns unmittelbar gespürt. Dieses Spüren sei einerseits leiblich im Sinne der in Kapitel 4.2.2 genannten Definition, durch seine absolute Örtlichkeit im Ganzen, also seine Einheit, welche uns unzersplittert gegeben sei. Andererseits sei jenes unmittelbare Erleben des Leibes nach derselben Definition ebenfalls körperlich, also relativ-örtlich durch eine Zusammenkunft verschwommener Inseln. Somit besitzen Leibesinseln zusätzlich zu ihrem relativen noch einen absoluten Ort. Darüber hinaus werden diese absoluten Orte durch einen »absoluten Ort des Leibes im Ganzen«526 als Einheit zusammengefasst.527 In der Perspektive dieser Erkenntnis könne nun auch der Termi­ nus des Körperschemas korrekt, und ohne es in seiner Wichtigkeit zu überhöhen, eingeordnet werden. Das Körperschema sei folglich die Kombination des eigenleiblichen Spürens und der sinnlichen Wahrnehmung für die eigene Körpervorstellung. Für Schmitz ist die nachträgliche Verarbeitung, welche in der älteren Literatur häufig mit dem Körperschema gleichgesetzt wird, für die Leibgegebenheit unerheblich, da die ursprüngliche Einheit des Leibes ausschließlich durch den absoluten Ort im Ganzen gegeben sei.528 Um die Einheit des körperlichen Leibes und somit auch das »Hier und Jetzt« des Menschen vertiefend zu verstehen, ist es notwendig, die absolute 524 525 526 527 528

Ebd. 38. Ebd. Ebd. 40. Vgl. ebd. 38f. Vgl. ebd. 39.

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Örtlichkeit des Leibes im Ganzen, innerhalb der Leibesinseln und deren Verhältnis zueinander nachzuvollziehen.

Ausdehnung Wenn, wie vorausgehend aufgezeigt wurde, der absolute Ort die auf relative Orte verteilten und somit ausgedehnten Leibesinseln als eine Einheit zusammenhalte, dann drängt sich folgend die Vermutung auf, dass auch der absolute Ort im Ganzen auf eine Art ausgedehnt sein müsste. Diese Ausgedehntheit des absoluten Ortes könne aber entwe­ der nicht teilbar oder wenigstens nicht beliebig teilbar sein, da dieser sonst nicht die Einheit der Leibesinseln garantieren könne.529 Schmitz greift in diesem Zusammenhang den Hinweis des deutschen Philo­ sophen Max Scheler bezüglich sogenannter »Lebensgefühle« auf, deren Örtlichkeit nicht genau bestimmbar sei und die am gesamten Ausdehnungscharakter des Leibes teilhaben und somit die unteilbare Ausdehnung, die sich in die Weite ergießt, verdeutlichen. Dieser Spur folgend stellt Schmitz fest, dass jene Regungen aber nicht völlig ortlos seien, da beispielsweise das wohlige Gefühl eines Bades nicht in einer partiellen Örtlichkeit, wie etwa »im linken Zeh« festgestellt werde, sondern es sich dort bemerkbar mache, wo wir jeweils im Ganzen leiblich präsent seien. Wichtig für diesen Zusammenhang sei die unteilbare Ausdehnung, welche nicht in einzelne Köperregionen zerlegbar sei, aber von Regungen in diesen Bereichen begleitet werde. Die Prämisse einer unteilbaren Ausdehnung als Eigenschaft jener Regungen setzt demnach in logischer Folge einen Ort innerhalb der Regungen voraus, der selbst unteilbar ist. Dieser Ort müsse sich über den körperlichen Leib erstrecken, ohne sich durch die relativen Orte der darin befindlichen Leibesinseln teilen zu lassen. Im Versuch, diesen Ort zu bestimmen, disqualifiziere sich der relative Ort des Leibes im Ganzen, da er zerlegbar sei. Einzig der absolute Ort des Leibes im Ganzen könne als Antwort dienen. Inspiriert von Schelers Beobachtungen können diese nun korrekt -wenn auch etwas umständlich, als »Regungen am absoluten Ort des körperlichen Leibes im Ganzen«530 – bezeichnet werden. Diese Bestimmung grenze sich bewusst von Regungen ab, die an absoluten und relativen 529 530

Vgl. ebd. 40. Ebd. 42.

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Orten einiger oder aller Leibesinseln auftreten. Wie bereits in Kapitel 4.2.3 beschrieben sei der absolute Ort des Leibes im Ganzen aufs Engste mit der eigenen primitiven Gegenwart verwoben. Schmitz folgert aufgrund dieser Erkenntnisse, dass davon ausgegangen wer­ den müsse, dass in der Verwobenheit aus primitiver Gegenwart und absoluter Örtlichkeit des Leibes im Ganzen der Mensch das eigene Selbst als räumlich unteilbare Ausgedehntheit erfahre.531 Im Alltag sei diese Erfahrung schwer nachzuvollziehen. Um dies zu verdeutlichen, verweist Schmitz, wie schon zuvor, auf pathologische Phänomene. Einzig bei Patienten, die zum Beispiel ihre Galle als angeschwollen wahrnehmen und klagen, dass diese ihnen Raum wegnehme, deuten kranke Inseln des körperlichen Leibes auf die Selbstverständlichkeit hin, mit der wir uns sonst in diesen Räumen unteilbar ausdehnen würden. Jene unteilbare Ausdehnung gelte nicht nur für den absoluten Ort des körperlichen Leibes im Ganzen, sondern auch für jede leibliche Regung, die sich auf den Inseln des körperlichen Leibes abspielt. So dehne sich die Regung des Hungers oder Durstes ganz natürlich in der Magen- oder Halsgegend aus und sei selbstver­ ständlich nicht in mehrere »Hünger« oder »Dürste« aufzuteilen.532 Um die Regungen besser einordnen zu können, solle zwischen denen, die trennbar sind, und solchen, die lediglich schrumpfen können, unterschieden werden. Durch Schrumpfung werden ausschließlich intensive Größen eingeschränkt. Ein Beispiel dafür sei starke Hitze, die nicht in zwei halbstarke Hitzen trenn- bzw. zerlegbar sei. Im Gegensatz zu den intensiven Größen gehören extensive Größen zur Gruppe der zerlegbaren Regungen. Dazu zählen – nach Schmitz – alle diskreten Mengen und einige stetig ausgedehnte Größen, wie zum Beispiel schau- und fassbare Körper, die offensichtlich in mehrere Teile zerlegbar seien. Einen Sonderfall stellen demnach Leibesinseln dar. Diese gehören einerseits zur Gruppe jener stetig ausgedehnten Größen, andererseits seien sie aber nicht zerlegbar. Ein sich in einer Leibesinsel ausbreitender Schmerz könne in seiner Intensität schwä­ cher werden, in seiner Extensität schrumpfen und sei gleichzeitig nicht in mehrere »Teilschmerze« differenzierbar.533 Vgl. ebd. 41f. Vgl. ebd. 43. 533 Vgl. ebd. 44. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass – nach Schmitz – die Unmöglichkeit der Zerlegbarkeit der Leibesinseln nicht automatisch die Unmöglich­ keit einer Gliederung nach sich ziehe. Leibesinseln können, wie bereits hingewiesen, 531

532

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Wichtig sei jene Kategorisierung für den vorliegenden Zusam­ menhang, um zu verdeutlichen, dass bis hierhin unteilbare Ausdeh­ nung als Merkmal lediglich für den körperlichen Leib im Ganzen aufgezeigt wurde, nicht aber für leibliche Handlungen und Bewegun­ gen. Für diese gelte die unteilbare Ausdehnung ebenso, solange sie wie Leibesinseln unmittelbar gespürt, also nicht bloß visuell und taktil als körperlicher Vorgang bestätigt werden. Diesen Unterschied illustriert Schmitz an der simplen Handbewegung von Punkt A zu B: Auf Punkt A liegt die Hand in ruhiger Unbeweglichkeit, darauf erfolgt eine Akt der Unruhe, der wieder in einem Moment der Ruhe (Punkt B) endet. Dieser Akt von Ruhe zu Ruhe sei durch das eigene Muskelbewusstsein als einfache Tatsache gegeben. Der gleiche Vor­ gang visuell bestätigt die Bewegung als eine Linie von A nach B, die wie auch sonst jeder Raum unendlich zerlegbar sei. Diese zweifache Erlebensmöglichkeit eröffne dem durchführenden Subjekt dieselbe Bewegung folglich entweder als vielfach oder unteilbar, je nachdem ob die Bewegung bewusst relativ oder absolut vollzogen werde. Diese Analyse ermögliche es in der Quintessenz, unteilbar ausgedehnte, absolut-örtliche, unmittelbar gespürte leibliche Bewegungen und teil­ bare ausgedehnte, relativ-örtliche, gesehene körperliche Bewegungen klar zu unterscheiden und bestätige somit die allgemeine Regel, dass alles Leibliche konträr zu allem Körperlichen unteilbar ausgedehnt sei.534 Auf dieser Erkenntnis aufbauend kann Schmitz festhalten, dass der absolute Ort im körperlichen Leib im Ganzen und somit der abso­ lute Ort auch ganz auf jeder Leibesinsel sei. Wohingegen der erste Teil der Formulierung nicht neu und eher wie eine Umformulierung von bereits Festgehaltenem klingt, offenbart der zweite Teil eine Spur bezüglich der Spezifizierung der Ausdehnung. Der absolute Ort sei somit ganz auf jeder Leibesinsel, da er diese umfasse. Gleichzeitig sei aber auf keiner von den Inseln nur ein Teil von ihm, da er unteilbar sei. Diese Eigenschaft der Ausdehnung wurde nach Schmitz bereits durch die scholastische Philosophie mit den Begriffen »definitiv« und »circumscriptiv« besetzt. Schmitz lässt in seinem Hauptwerk des Leibes Wilhelm von Ockham zu Wort kommen, der jenen Zustand wie folgt präzisiert:535 eine körnige Gliederung ähnlich Protoplasmaklümpchen aufweisen, die von einem oder mehreren Kernen zum Beispiel Druck oder Völle ausstrahlen (vgl. ebd.). 534 Vgl. ebd., 44f. 535 Vgl. ebd. 46.

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4.2 Hermann Schmitz: körperliche Leiblichkeit

»Circumscriptiv in einem Ort sein ist: so in einem Ort sein, daß das Ganze im ganzen Ort und ein Teil in einem Teil des Ortes ist. Definitiv in einem Ort sein ist: daß das Ganze im ganzen Ort und das Ganze in jedem Teil jenes Ortes ist.«536

Der Zusammenhang zwischen unteilbarer, teilbarer, definitiver und circumscriptiver Ausdehnung ergebe sich im Sinne logischer Äquiva­ lenz. Das heißt, wenn x die Eigenschaften unteilbar ausgedehnt, defi­ nitiv ausgedehnt, teilbar ausgedehnt und circumscriptiv ausgedehnt zugesprochen werden, können nur die Paaraussagen unteilbar und definitiv ausgedehnt sowie konträr dazu, teilbar und circumscriptiv ausgedehnt, gleichzeitig wahr sein. Diese Zuordnung ermöglicht es Schmitz, eine vertiefende Definition der zuvor diskutierten Begriffe von Leib und Körper festzulegen, da der Begriff der definitiven Aus­ dehnung somit nicht nur den körperlichen Leib im Ganzen und seinen absoluten Ort präzisiert, sondern ebenso seine Leibesinseln und die Regungen, welche sich auf diesen (s. Kapitel 4.2.3) ansammeln. Im Gegensatz zum definitiven Verständnis von Ausdehnung offenbart der Terminus circumscriptiv hingegen alles teilbar-körperliche, im Sinne der vorangehenden Definition, in neuer Erkenntnistiefe. Schmitz betont, dass diese Begriffe in jenem phänomenologi­ schen Kontext wieder frische Aktualität gewinnen und die scholas­ tische Auffassung von Ausdehnung letztlich sowohl dem mittelal­ terlichen als auch schon dem antiken Denken einen Schritt voraus war.537 Die Unterdrückung dieses so nötigen Verständnisses der Ausdehnungsformen in naher Vergangenheit schreibt Schmitz der Aufklärung und dem Siegeszug der Naturwissenschaften zu. Ein ausdehnendes Leiberleben passe nicht zu einem Zeitgeist, der von einer Prämisse des Messbaren ausgehe. Schmitz bezeichnet MerleauPonty für das Ende jener kategorischen Abwehrhaltung als mitverant­ wortlich und spricht diesem unter anderem für folgende Äußerung Lob aus:538 »Der Umriß meines Leibes bildet eine Grenze, die von den gewöhn­ lichen Raumbeziehungen unüberschritten bleibt. Der Grund ist der, daß die Teile des Leibes in einem ursprünglich eigenen Verhältnis zueinander stehen: sie sind nicht nebeneinander ausgebreitet, viel­

536 537 538

Zitiert und übersetzt nach Schmitz ebd. Vgl. ebd. 47. Vgl. ebd. 48f.

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

mehr ineinander eingeschlossen. Zum Beispiel meine Hand ist keine Ansammlung von Punkten.«539

Die vorausgehend präzisierten Erkenntnisse bezüglich der Raumer­ scheinungen, die sich in leiblichen Phänomenen offenbaren, lassen sich bei Merleau-Ponty demnach bereits erahnen und helfen Schmitz, eine erweiterte, alternative Definition des Leiblichen zu erarbeiten. Neben dem absoluten Ort sei somit nun auch definitive räum­ liche Ausdehnung als bezeichnende Eigenschaft von Leiblichkeit aufgewiesen. Wie vorangehend beschrieben, sind sie nicht nur Merk­ mal der meisten geläufigen leiblichen Phänomene, sondern auch des gesamten körperlichen Leibes, der Leibesinseln und sogar der leiblichen Bewegungen. Eine solche Definition des Leiblichen würde aber zu weitgreifen, da sie in dieser Form auch Gefühle als leiblich klassifizieren würde.540 Um der Gefahr ungenauer Allgemeinheit zu Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 123. Eigene Übersetzung von Schmitz »Der Umriss meines Körpers ist eine Grenze, die die Raumbeziehungen nicht überspringen. Seine Teile beziehen sich nicht in eigentümlicher Weise aufeinander: Sie sind nicht neben einander ausgebreitet, sondern in einander eingewickelt. Meine Hand, zum Beispiel, ist keine Sammlung von Punkten.« (ebd. franz. Seitenanzahl S. 114). 540 Vgl. Schmitz, Der Leib. Studienausgabe, 50. Schmitz versteht Gefühle allerdings als »ausgedehnte Atmosphären in einem flächenlosen Raum, einem Gefühlsraum« (Schmitz, Der Leib, 89). Ein solcher flächenloser Raum wird von Schmitz mit dem des Schalls verglichen, der »frei von Flächen und anderen bezifferbaren Dimensions­ stufen, von berandeten Figuren, Lagen und Abständen« (ebd. 13) sei. Ebenso wie der Raum des Schalls ist eine solche Gefühlsatmosphäre eine »randlose, unteilbar ausgedehnte Besetzung eines flächenlosen Raumes. Im Fall der Gefühle ist die Atmosphäre ortlos ergossen, d. h. sie erstreckt sich (mindestens dem Anspruch oder der Tendenz nach) auf den ganzen Bereich dessen, was jeweils als anwesend erlebt wird.« (ebd. 89). Somit unterscheide sie sich von räumlich begrenzten Atmosphären. Diesbezüglich macht Schmitz am Beispiel des Behagens in der Badewanne klar, dass jenes affektive Betroffensein nicht über die Ränder der Badewanne hinausreiche, da es nicht randlos ergossen, sondern innerhalb des perzeptiven Körperschemas durch relative Örtlichkeit eingegrenzt sei. Dagegen würde das Gefühl der Liebe und Geborgenheit den Einzelnen unbegrenzt-ortlos überall hinbegleiten. Als Beispiele für die atmosphärische Natur der Gefühle nennt Schmitz die Fremdscham, den feierlichen Ernst oder die Totenstille (vgl. ebd. 89f.). Gleichzeitig macht er aber auch klar, dass Gefühle keine räumlich ausgedehnten Atmosphären seien, da man folglich beim Verlassen eines Raumstückes und beim Betreten eines anderen von einem Gefühl verlassen und von einem neuen ergriffen würde. Beides sei aber nicht der Fall. Vielmehr seien Gefühle »Halbdinge« (ebd. 91). Halbdinge sind nach Schmitz durch zwei Merkmale im Gegensatz zu Dingen im Vollsinn zu unterscheiden. Erstens seien Halbdinge im Gegensatz zu Dingen im Vollsinn nicht ununterbrochen zugegen, 539

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4.2 Hermann Schmitz: körperliche Leiblichkeit

entgehen, sei der Zusatz der Örtlichkeit zwingend nötig. Örtlichkeit sei an dieser Stelle weder relativ noch absolut gemeint, sondern bezeichne allgemein einen Ort, der sich vor dem Hintergrund einer Weite abhebe. Durch diesen Zusatz können Befindlichkeiten, wie zum Beispiel Wollust, Mattigkeit oder Unbehagen als leibliches deklariert werden, da sie sich örtlich offenbaren. Atmosphärische Gefühle hin­ gegen, wie etwa Heiligkeit, träten hingegen ohne Örtlichkeit auf und fallen somit richtigerweise nicht unter die Klassifizierung von Leiblichem. Schmitz fasst die neuen Erkenntnisse als eine alternative Definition von Leiblichkeit wie folgt zusammen:541 »Leiblich ist, was unteilbar (oder definitiv) ausgedehnt und örtlich ist. Körperlich ist, was teilbar (oder circumscriptiv) ausgedehnt und örtlich ist.«542

Darüber hinaus betont Schmitz, dass die erste Definition, welche die Größen relativ-körperlich und absolut-leiblich (s. Kapitel 4.2.2) verbindet, weiter gültig bleibe und nicht durch letztgenannte ersetzt werde, da es durchaus Phänomene gebe, die zwar absolute Örtlichkeit aufzeigen, nicht aber eine unteilbare Ausdehnung aufweisen. Dieses Erleben zeige sich beispielsweise im Phänomen der panischen Angst, bei der sich der absolute Ort an einem Punkt zusammenkrampft und die gespürte ungeteilte Ausdehnung im körperlichen Leib verschwun­ den sei. Letztgenannte Definition – wenn auch nicht hinreichend – sei trotzdem notwendig mit einzubeziehen, da nun durch sie die Unteilbarkeit der räumlichen Ausdehnung des Leiblichen aufgewie­ sen werde und sich somit der körperliche Leib sowohl vom reinen

sondern von unregelmäßiger Dauer und Anwesenheit im Raum. Zweitens sei die Kausalität von Halbdingen unmittelbar und nicht vermittelt, es fallen also Ursache und Einwirkung direkt zusammen (vgl. ebd. 29f.). Gefühle als Halbdinge können sowohl individuell als auch kollektiv auftreten und werden – wie vorangehend beschrieben – durch die Wahrnehmung der Atmosphäre oder als affektiv-leibliches Betroffensein gefühlt (vgl. ebd. 91). Letzteres zeige sich durch komplexe leibliche Regungen, wie etwa bei der Freude durch »die lachenden Augen, den beschwingten Gang, die lächelnde Versunkenheit, die helle Stimme […]« (ebd. 92). Gefühle fallen für Schmitz unter die Kategorie der externen Einleibung (vgl. ebd. 31). Darüber hinaus teilt er Gefühlsarten nochmals in zwei Gruppen ein, die jeweils ein anderes Verhältnis zum Personsein haben (vgl. ebd. 94f.). Jenes Verhältnis ist für den vorliegenden Zusam­ menhang nicht relevant. Schmitz Verständnis des Personseins wird noch referiert. 541 Vgl. Schmitz, Der Leib. Studienausgabe, 51f. 542 Ebd. 52.

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

Körper als auch vom reinen Leib abgegrenzt – und somit in das richtige Verhältnis gesetzt werden könne.543

Reiner Körper, reiner Leib und körperlicher Leib Mit der alternativen Definition von Leiblichkeit alleine sei es nicht möglich, vom körperlichen Leib in der zuvor festgehaltenen Art und Weise zu sprechen, da etwas nicht gleichzeitig teilbar und unteilbar sein könne. Konträr dazu sei das gleichzeitige Auftreten von rela­ tiver und absoluter Örtlichkeit durchaus, wie bereits aufgewiesen, möglich. Schmitz löst diesen scheinbaren Widerspruch auf, indem er auf die Formen von reiner Leiblichkeit und reiner Körperlichkeit verweist. Der reine Leib zeichne sich, nach der in Kapitel 4.2.3 gegebenen und immer noch vorrangig behandelten ersten Definition, durch ausschließlich absolute Örtlichkeit und durch keinerlei relative Örtlichkeit aus. Als Beispiele für das Auftreten von reiner Leiblich­ keit nennt er unter anderem panische Zustände, bei denen jegliche räumliche Orientierung verloren geht, wie etwa Angst, Wollust und Schmerz. Konträr zum reinen Leib zeichnet sich der reine Körper dadurch aus, dass er ausschließlich relativ-örtlich und nicht absolutörtlich sei. Als klar messbare Größe bezeichnet der reine Körper das naturwissenschaftliche Objekt der Erkenntnis. Wie bereits erörtert stellt der Terminus des körperlichen Leibes eine dazwischenliegende Mischentität dar. Diese sei sowohl absolut- als auch relativ-örtlich und bestehe aus einem Gewoge verschwommener Inseln, die für sich einen relativen und einen absoluten Ort innehaben. Im Ganzen werde er von einem absoluten Ort zusammengehalten. Letztere Aus­ sage sei auf theoretischer Ebene vermeintlich klar, im Moment des praktischen Prozesses der Grenzbestimmung zwischen körperlichem Leib und reinem Körper aber sehr viel weniger einsichtig. Ob ein Phänomen ausschließlich relativ-örtlich und somit rein-körperlich oder sich zusätzlich absolut-örtlich manifestiere und somit körper­ lich-leiblich sei, könne – so Schmitz – oftmals nicht offensichtlich erkannt werden. Um die Unterschiede besser deutlich zu machen helfe der Rückgriff auf die erarbeiteten Erkenntnisse bezüglich der ungeteilten und geteilten Ausgedehntheit. Es wurde aufgezeigt, dass alles Leibliche unteilbar, alles Körperliche dagegen teilbar ausgedehnt 543

Vgl. ebd. 53.

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4.2 Hermann Schmitz: körperliche Leiblichkeit

sei. Um Phänomene zwischen reinem Leib, reinem Körper und körperlichem Leib klar zu kategorisieren, müsse also lediglich auf die teilbare oder unteilbare Ausdehnung hin geprüft werden, was gewöhnlich keine große Herausforderung darstelle. Zur Veranschau­ lichung führt Schmitz das Beispiel der angeblichen Organempfindung an. Manche Menschen geben an, ihr Herz, Blut und Muskeln ständig oder gelegentlich unmittelbar zu spüren, also nicht durch visuelle oder taktile Affirmation, sondern als ein Empfinden als Teil des eigenen Leibes. Herz, Blut, Muskeln würden aber gleichzeitig als Bestandteil des reinen Körpers betrachtet, die zum Beispiel Arbeitsobjekte der Medizin seien. Diese durch veraltete Psychologie titulierte Organ­ empfindung manifestiere sich daher bei näherer Betrachtung als Trugschluss. Denn es würden keineswegs die relativen Orte körperli­ cher Organe, sondern die diffusen Leibesinseln mit ihrer unteilbaren Ausdehnung unmittelbar gespürt. Das charakteristische Ziehen in der Oberarmgegend, welches nach starker Muskelanstrengung dort ausgedehnt zu spüren ist, könne nicht in einzelne Regungen zerteilt werden. Die eigentlichen Organe hingegen seien teilbar ausgedehnt, wie anhand einer Operation, bei der ein Organ zerschnitten wird, einfach demonstriert werden könne. Die Überzeugung, die eigenen Organe zu spüren, führe also in einen unauflösbaren Widerspruch, da etwas zugleich unteilbar und teilbar ausgedehnt sein müsste. Der relative Ort der Leibesinseln und der tast- und sichtbaren Organe sei der einzige präzise erfassbare Schnittpunkt zwischen beiden Entitäten und dieser könne, wie angekündigt, präzise mithilfe der Termini ungeteilte und geteilte Ausdehnung bestimmt werden.544 Somit sind die Größen von reinem Körper, reinem Leib und körperlichem Leib in ein Verhältnis zueinander gesetzt: Der körperli­ che Leib stellt folglich eine Kombination aus absoluter und relativer Örtlichkeit dar. Einerseits beinhaltet er den reinen Leib, der durch das eigene Erleben unteilbar ausgedehnt und verifiziert ist, andererseits ist der körperliche Leib ebenso reiner Körper, der teilbar ausgedehnt ist und visuell sowie taktil bestätigt werden kann. Die Inseln des körperlichen Leibes haben ebenso einen relativen als auch absoluten Ort inne. Insgesamt wird die Einheit jener Leibesinseln durch den absoluten Ort im Ganzen konstituiert, der definitiv – und nicht circumscriptiv – ausgedehnt in jedem Ort des körperlichen Leibes ganz ist. 544

Vgl. ebd. 54f.

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

Abschließend ist für die vorliegende Fragestellung nach dem »Hier und Jetzt« des Menschen die Rückbindung der referierten Erkenntnisse hinsichtlich des körperlichen Leibes an die von Schmitz eingangs formulierte Aufgabe des Sichfindens in seiner Umge­ bung entscheidend. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass nach der Phänomenologie von Hermann Schmitz das »Hier und Jetzt« des Menschen präzise in der Einheit des körperlichen Leibes, wel­ cher sowohl absolute als auch relative Örtlichkeit aufweist und von einem unteilbaren-absoluten Ort im Ganzen zusammengehalten wird, beschrieben werden kann. Der stärkste erlebte Moment der Daseinsgewissheit manifestiere sich dabei entweder in entfalteter oder primitiver Gegenwart, wenn es zu Verschränkung bzw. zu einem Zusammenfall der fünf Gegenwartsformen des »Hier«, »Jetzt«, »Dasein«, »Dieses«, »Ich« kommt. Somit ist Leib die Grundlage ele­ mentarer Erfahrung, die uns versichert, dass wir selbst betroffen sind. Zusammenfassend formuliert er in einem Interview die Wichtigkeit des Leibes wie folgt: »Die Erfahrungen, die aus dem elementar leiblichen Betroffensein kommen, die aus dem Einbruch des Plötzlichen hervorgehen sind das, was ich primitive Gegenwart genannt habe: ›Ich, hier, jetzt, [da]sein, dieses‹. Diese Erfahrungen stammen aus dem Leib, und sie verbreitern sich im Leib zu dem, was man selbst spüren kann. Das ist wichtig als der Resonanzboden, wo alles ankommt, was den Menschen betroffen macht und in eigene Gestaltungen umgewandelt wird. Ebenso wichtig oder noch wichtiger ist die leibliche Kommunikation, deren Strukturen über den bloßen eigenen Leib hinausführen.«545

Bei allen Unterschieden ist sowohl für Hermann Schmitz als auch für Maurice Merleau-Ponty der Leib für das »Hier und Jetzt« des Menschen konstitutiv. Beide positionieren sich gegenüber dem car­ tesianischen Dualismus explizit antiidealistisch und erarbeiten den Weltbezug hinsichtlich der menschlichen Leiblichkeit. Der Ansatz der Wahrnehmung von Merleau-Ponty und der Ansatz des eigenen Erlebens von Schmitz eröffnen kombiniert einen umfangreichen Blick auf die Welt und den Menschen. Wo Merleau-Ponty eindrücklich den Leib als Nullpunkt unserer Welt im Sinne eines »Zur-Welt-seins« bestimmt, in dem die Wahr­ nehmung des Menschen bereits primordial geschieht, leistet Schmitz 545

Schmitz/Brenner, »Die neue Phänomenologie«.

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4.3 Karl Rahner: realsymbolische Leiblichkeit

durch seine Arbeit eine unvergleichliche Unterscheidungsqualität zwischen taktil-visueller Affirmation der relativen Örtlichkeit des rei­ nen Körpers und Erspüren des reinen Leibes, welcher das Sichfinden als leibliche Affektion im »Hier und Jetzt« differenziert bestimmt. Der Vorzug von Merleau-Pontys Arbeit besteht in der Betonung der weltkonstitutiven Rolle des Leibes, wohingegen Schmitz’ Stärke in der begrifflichen Genauigkeit, welche den Unterschied zwischen Körper und Leib präzisiert, liegt. Letzterer sichert durch die Aufwei­ sung des unteilbaren absoluten Ortes im Ganzen die Einheit des körperlichen Leibes, die in der Konfrontation mit der Wirklichkeit der digitalen Mediatisierung noch entscheidend sein wird. Nachdem nun mit Hilfe der Arbeiten von Merleau-Ponty und Schmitz die ursprüngliche Originalität des »Hier und Jetzt« des Men­ schen in der Nichtmedialität als körperlicher Leib im Sinne unseres Zur-Welt-seins bestimmt wurde, darf nun auch die anfangs geäußerte These entsprechend erweitert werden: Die ursprüngliche Originalität des nichtmedialen »Hier und Jetzt« des Menschen, als notwendiger Teil von Authentizität, ist sein körperlicher Leib, der sein »Zur-Welt-sein« konstituiert.546 Diese phänomenologisch erweiterte These wird im kommenden Kapi­ tel durch eine genuin theologische Perspektive mit Karl Rahners Symboltheologie weiter ergänzt. Die Ergebnisse dieser abschließen­ den Bestimmung der ursprünglichen Originalität des »Hier und Jetzt« des Menschen werden danach im Kapitel 6 in Bezug zu den Herausforderungen der digitalen Mediatisierung gesetzt.

4.3 Karl Rahner: realsymbolische Leiblichkeit Nachdem die Frage nach dem »Hier und Jetzt« des Menschen als Leiblichkeit durch zwei phänomenologische Konzepte ergründet wurde, soll nun mithilfe des Theologen Karl Rahner eine weitere Verständnisdimension des leiblichen »Hier und Jetzt« offengelegt werden. Die folgend referierte »Theologie des Symbols« von Rahner zeigt, in Bezug auf die Frage nach der ursprünglichen Originalität des Menschen, einen entscheidenden Erkenntnismehrwert. Dieser Mehrwert liegt darin, die Normativität des »Hier und Jetzt« des Men­ 546

Die Änderung zu vorangehender These wurde unterstrichen.

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

schen hinsichtlich seiner konstitutiven Bedeutung für authentische Kommunikation vertiefend deutlich zu machen. Am Ende des vorliegenden Abschnittes wird die bereits aktuali­ sierte These hinsichtlich ursprünglicher Originalität nochmals erwei­ tert, bevor dann im folgenden Kapitel (5) die gesammelten Ergebnisse hinsichtlich des Leibes und der Authentizität im – titelgebenden – Begriff der leiblichen Authentizität zusammengeführt werden.

4.3.1 Theologie des Symbols Auch wenn der Begriff des »Symbols« nicht ganz so vielschichtig ist wie der bereits sezierte Trendterminus »Authentizität«, weist er eine zutiefst heterogene Genese und eine ähnlich große Nut­ zung innerhalb der Alltagssprache auf. Die Begriffsassoziationen reichen von Eingabeknöpfen auf Smartphones (App-Store-Symbol), esoterisch verstandenen »Geheimzeichen« (Illuminaten-/Freimau­ rer-Symbole) oder abwertenden Auffassungen im Sinne von dieses oder jenes sei »nicht wirklich, sondern nur symbolisch« gemeint. In der Antike bezeichnete ein symbolon (griech. σύμβολον) einen Gegenstand z. B. ein Tontäfelchen, welches Gastfreunde bei der Ver­ abschiedung zerbrachen, um es bei einem etwaigen Wiedersehen als Erkennungs- und Beziehungszeichen wieder zusammenfügten. Ebenso wurden münzähnliche Marken als Symbol bezeichnet, die als Eintrittskarten für Theater, Gericht usw. fungierten. Im rechtlichen Bereich gab es das symbolum, das einen Siegelring bzw. Siegelabdruck für Vollmachten meinte.547 Der Begriff des Symbols steht folglich für »Zeichen« und alle darin enthaltenen Sinnbedeutungen (lat. indicium, signum), wie etwa Formeln, Chiffren oder Siglen.548 In der philosophischen Debatte stand der Symbolbegriff im Zentrum eines platonisch inspirierten Urbild-/Abbilddenkens und wurde als Schlüsselwort für ein ganzes Weltverständnis betrachtet.549 Vgl. Nocke, Franz-Josef, »Symbol«, in: Peter Eicher (Hg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe; Bd. 4, München 2005, 214–222, hier: 214f. 548 Vgl. Steimer, Bruno, »Symbol I. Begriff«, in: LThK3 9 (2009), 1154, hier: 1154. 549 Vgl. Nocke, »Symbol«, 215. Nicht relevant für die vorliegende Argumentation ist der Versuch, den Symbolbegriff in Bezug auf die geistige Existenz des Menschen fruchtbar zu machen und als eine Art Fixierung des Bewusstseins, der den Strom an Bewusstseinsmomenten eine Identität verleiht, zu interpretieren (vgl. Schwemmer, Oswald, »Symbol III. Philosophisch«, in: LThK3 9 (2009), 1155–1156, hier: 1156). 547

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4.3 Karl Rahner: realsymbolische Leiblichkeit

Entscheidend für den vorliegenden Zusammenhang ist die im Mit­ telpunkt des Diskurses stehende Frage nach der Verweisfunktion des Symbols. Innerhalb des philosophischen Diskurses ist grundsätz­ lich jeder Gegenstand, der auf etwas anderes verweist, ein Symbol. Differenziert wird durch die Betrachtung des behandelnden Gegen­ standes in Bezug auf seine Symbolform und -funktion. Die zwei pro­ minentesten Betrachtungsweisen sind die referenztheoretische und artikulationstheoretische Perspektive. Erstere erläutert die Funktion durch den jeweiligen Gegenstandsbezug und klassifiziert diese in verschiedene Formen. Jene unterscheiden sich durch die Prädikate, die dem Gegenstand zu- oder abgesprochen werden, die (intendierte) Darstellung der Gegenstandsstruktur oder -gestalt, der Exemplifizie­ rung einer Gegenstandsklasse durch ein Symbol als Musterbeispiel oder im Sinne einer negativen Verweisfunktion durch einen bloßen Ausdruck, der ohne direkten Gegenstandsbezug die Charakteristika des Sachverhalts benennt. Der äußere Gegenstandsbezug spielt in der artikulationstheoretischen Perspektive eine sekundäre Rolle. Bei dieser Perspektive steht die innere Gliederung der Symbole und Symbolisierungsprozesse im Fokus.550 Relevant für das vorliegende Forschungsinteresse ist jener Unterschied innerhalb des artikulationstheoretischen Kontextes, zwischen Symbolisierung und symbolischer Darstellungsform, der ebenso mit den Begriffen »Symbol« und »Zeichen« greifbar wird. Beide Bezeichnungen wurden und werden häufig synonym verwen­ det, bezeichnen aber im Kern etwas fundamental Verschiedenes: Demnach gibt es Zeichen, Chiffren und Signale, die als »Vertretungs­ 550 Vgl. ebd. 1155f. Zwei Charakteristika der Formbildungsarten sind innerhalb der artikulationstheoretischen Betrachtung zentral (vgl. ebd.). Unterschieden wird zwischen der »mimischen Ausdrucksform bzw. Symbolisierung« (ebd. 1156) und einer »rein symbolischen Darstellungsform« (ebd.). Symbolisierung umfasst die charakte­ ristischen Züge, die das Wesen der dargestellten Gegenstände zeigen, welche im Medium lediglich umgeformt, nicht aber gänzlich aufgeben sind. Ein Beispiel hierfür wären die Gesichtszüge eines Menschen. Das symbolisierte Wesen ist in einer solchen Vermittlung trotz Transformation existent und erkennbar. Dem gegenüber steht die rein symbolische Darstellungsform, in der die innere Struktur des Symbolismus ledig­ lich die Vorgabe des Ausdrucks des jeweilig darstellenden Gegenstandes bestimmt und ansonsten keinerlei Ähnlichkeit zwischen der Gegenstands- und Symbolwelt herstellt. Folglich ist das symbolisierte Wesen bei letzterer Variante nicht mehr im Ausdruck präsent und es steht unabhängig von der verwiesenen Wirklichkeit (vgl. ebd.). Die referenztheoretische Variante und die damit einhergehenden Klassifikatio­ nen der Funktionsformen sind für den Zusammenhang dieser Arbeit unerheblich.

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

symbole«551 unabhängig von der Wirklichkeit, für die sie stehen, existieren. Demgegenüber stehen »wirkliche echte Symbole (Real­ symbole)«552, die einen Teil der vertretenen Realität bereits im eige­ nen Ausdruck enthalten.553 Beispielsweise ist ein Verkehrsschild für eine Unebenheit in der Straße lediglich ein Vertretungssymbol, welches informell auf die Wirklichkeit der Unebenheit hinweist. Die Wesenswirklichkeit der Unebenheit, auf welche das Straßenschild verweist, existiert unab­ hängig von der Existenz des Schildes. Dem gegenüber stehen Real­ symbole wie etwa die bereits erwähnten menschlichen Gesichtszüge, die das Wesen, auf welche sie verweisen, bereits beinhalten. Ebenso ein Handschlag, ein Kuss oder eine Umarmung: Sie realisieren bereits im Vollzug ihrer Zeichen performativ die Wirklichkeit des Respekts, der Zuneigung bzw. der Liebe und sind somit keine Zeichen, sondern »echte Symbole« (ebd.) und somit Realsymbole.554 Die grundsätzli­ che Verschiedenheit von Realsymbol und Zeichen allgemein und der Begriff des Realsymbols im Detail sind für den im Folgenden zu eröffnenden christlichen Entdeckungszusammenhang entscheidend. Der Begriff des »Realsymbols« fungiert in diesem Zusammenhang als Schlüssel für ein explizit christlich-theologisches Denken.

Einheit, Pluralität und Trinität Karl Rahner, der als einer der einflussreichsten Theologen des 20. Jahrhunderts gilt, bezeichnet obig genannte Vertretungssymbole als »abkünftige Weisen des Symbolseins«555. Darüber hinaus macht er auf die Schwierigkeit aufmerksam, genau festzustellen, wann ein Symbol durch vermehrte lediglich-zeichenhafte Verweisfunktion zum symbolärmeren Zeichen herabsinkt und ab wann seine Ausdrucks­ funktion einen solchen sinnhaften Mehrwert generiert, dass es als

551 Rahner, Karl, »Zur Theologie des Symbols«, in: Ders., Sämtliche Werke. Leiblich­ keit der Gnade, Bd. 18, Freiburg in Breisgau 2003, 423–457, hier: 426. 552 Ebd. 553 Vgl. ebd. 554 Vgl. Nocke, Franz-Josef, »Allgemeine Sakramentenlehre«, in: Theodor Schnei­ der (Hg.), Handbuch der Dogmatik, Bd. 2, Ostfildern 52013, 188–225, hier: 211. 555 Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 426.

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4.3 Karl Rahner: realsymbolische Leiblichkeit

vollwertiges und wahrhaftes (Real-)Symbol gilt.556 Da die Übergänge fließend sind, setzt Rahner sich zum Ziel, zunächst formalontologisch die »höchste und ursprünglichste Weise der Repräsentanz einer Wirk­ lichkeit für andere«557 zu finden. Für vorliegende Überlegungen sind vorerst die ersten zwei Grundprinzipien seiner Ontologie des Sym­ bols entscheidend und werden im Folgenden bestimmt.558 Folglich ist zu beachten, dass Rahner explizit theologische Ontologie betreibt und dabei christliche Offenbarungsdaten heranziehen kann. Rahners erstes Prinzip seiner Theologie des Symbols lautet: »das Seiende ist von sich selbst her notwendig symbolisch, weil es sich notwendig ›ausdrückt‹, um sein eigenes Wesen zu finden«559. Dieses leitet er aus der Trinitätstheologie und den damit zusammenhängen­ den Überlegungen von Einheit und Vielfalt her. Nach Rahner bedeutet das Seiende »jedes«560 und dieses Seiende ist nicht nur notwendig symbolisch, sondern auch in sich und in seiner Einheit plural. Dieser Einheit des Pluralen ist das Eine in dieser Plura­ lität wesentlich Ausdruck eines Anderen in seiner pluralen Einheit. Da Einheit und Vielfalt intuitiv gegensätzlich erscheinen, drängt sich die Frage auf, wie Pluralität und bedeutungserfüllte Einheit gemeinsam zu denken sind. Es ist laut Rahner im Rückbezug auf Thomas nicht denkbar, dass die Momente beziehungslos nebeneinander liegen, da sie sonst keine echte Einheit bilden würden, da die Einheit dann erst nachträglich aus Getrenntem zusammengesetzt wäre.561 An die­ ser Stelle verweist Rahner auf das Axiom von Thomas von Aquin, welches die Einheit von Dingen, die grundlegend verschieden sind, ausschließt: »non enim plura secundum se uniuntur«562. Vgl. ebd. 279). Seine Überlegungen hinsichtlich des Realsymbols erinnern in Bezug auf die Vorüberlegungen zu Zeichen und Symbol an die Philosophie von Ernst Cassierer, der in seinen Arbeiten den Begriff des Symbols zum Zentrum seines Denkens machte (vgl. Cassirer, Versuch über den Menschen, und Ders., Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil. Die Sprache, Hamburg 2010). Rahner entwickelt jenseits des Grundverständnisses dieses aber explizit theologisch weiter. 557 Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 427. 558 Rahners Symboltheologie beinhaltet insgesamt sechs zentrale Sätze. Für den hier vorliegenden Zusammenhang sind vorerst der erste und zweite sowie der fünfte und sechste Satz zentral. Satz drei und vier werden im Kapitel 7.3 im Kontext der realsymbolischen Gottesoffenbarung in Jesus Christus detailliert behandelt. 559 Ebd. 560 Ebd. 427. 561 Vgl. ebd. 428f. 562 Ebd. 429. 556

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

Um diese Spannung aufzulösen, müssen die pluralen Momente innerhalb der Einheit eine »innere Übereinkunft unter sich«563 – also eine ursprünglichste Gemeinsamkeit – aufweisen. Diese ursprüng­ lichste Gemeinsamkeit der Pluralität eröffnet Rahner durch die trini­ tarische Perspektive: Gott ist der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Nicht als Resultat eines Prozesses, sondern als Einheit in Dreiheit. Der Vater, der Sohn und der Heilige Geist sind in Einheit, bei gleichzeitiger Unterschiedenheit der dreieine bzw. dreifaltige Gott.564 Nach christlichem Glauben ist Gottes Sein in der Wirklichkeit des an und in Jesus Christus Geschehene und im Wirken des heiligen Gottesgeistes erkennbar: »Gott ist so, wie Jesus Christus, der Men­ schen- u. Gottessohn, ihn , ›lebte‹; Gott ist so, wie sein Geist ihn als eschatologische Wirklichkeit vergegenwärtigt«565. Die drei Perso­ nen sind grundsätzlich auf Gottes Selbst-Kommunikation bezogen: Der Sohn ist durch und aus dem Geist im Vater. Dieses In-Sein Gottes hat die »Relationalität«566 und die »Gleichursprünglichkeit« (ebd.) der göttlichen Personen zur theologischen Voraussetzung.567 Genannte Relationalität ist dabei grundsätzlich in Liebe zu denken. Diesbezüglich formuliert Gisbert Greshake: »Der eine christliche Gott ist Communio, er verwirklicht sein Sein im Dialog der Liebe dreier Personen.«568 Die Trinitätslehre beschreibt die Selbst-Offenbarung und -Mitteilung Gottes in der Geschichte des Heils und vollendet durch diese Rede von Gott deren explizit christliche Gestalt.569 Die trinitarische Perspektive eröffnet einen entscheidenden Ver­ stehenszusammenhang für die Suche nach der ursprünglichsten Gemeinsamkeit von Pluralität in Einheit. Durch die Trinität, also die höchste Einheit sowie Einfachheit Gottes ist die Existenz wahrer und realer Unterschiedenheit der Personen denkbar. Auch wenn diese nur eine relative Unterschiedenheit aufweisen, so reicht dies aus, um eine

Ebd. 428. Vgl. Rahner, Karl, »Trinität«, in: Herders Theologisches Taschenlexikon, Bd. 7, Freiburg im Breisgau 1973, 339–352, hier: 342f. 565 Werbick, Jürgen, ”Trinität III. Systematisch-theologisch«, in: LThK3 10 (2009), 247–251, hier: 247. 566 Ebd. 567 Vgl. ebd. 568 Greshake, Gisbert, Der dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie, Freiburg in Breisgau 1997, 182. 569 Vgl. ebd. 563

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göttliche Pluralität zu denken.570 Demnach ist die Pluralität im Endli­ chen auch nicht nur eine negative Eigenschaft der Unvollkommenheit bzw. Seinsschwäche, sondern die »höchste Fülle der Einheit«571 und somit die vollkommene Kraft des Seienden.572 Die Dreieinheit kann somit »nicht auf eine abstrakte, bloß scheinbar ›höhere‹ Einheit und Einfachheit reduziert, nicht in eine leere und tote Identität zurück­ geführt werden«573. Rahner bezeichnet es sogar als »theologische Häresie«574 und folglich auch ontologisch sinnlos anzunehmen, dass Gott noch einfacher und somit noch vollkommener wäre, wenn man ihm die reale Existenz der Pluralität der Personen absprechen würde. Diese ursprüngliche Unterschiedenheit (perfectio pura) sollte von Anfang an als »eine Letztheit der sich mitteilenden Einheit«575 notwendig berücksichtigt werden. Das Seiende drückt folglich die Pluralität der Einheit aus, welches in der ursprünglichsten Einheit der Pluralität wurzelt. Diese ursprünglichste Einheit der Pluralität selbst ist die Weise der Dreieinheit Gottes.576 Pluralität und Einheit sind also der Ausdruck des Ursprungs, der letzten Unterschiedenheit. Anders formuliert: Das Seiende bildet – je nach Grad seiner Seinsmächtigkeit – zu seiner eigenen Vollendung das von ihm Unterschiedene und doch mit ihm Eine aus. Das Unterschiedene, wobei doch ursprünglich Eine, ist ein herkünftig Übereinkommendes und als ein solches ein Ausdrückendes. Das Seiende findet also zu sich selbst, zu seiner Vollkommenheit, indem es sich von seiner ursprünglichsten Einheit, sich selbst behaltend in Vielheit entlässt.577 Es »ist somit an sich selbst symbolisch, weil es sich notwendig ausdrückt«578. Wenn aber das Seiende im Ausdruck zu sich selber findet, was heißt das konkret? Bei-sich-selber-Sein bezeichnet hier die Aktualität, also den inneren Selbstvollzug des Seienden, und somit ein um sich wissender und liebender Selbstbesitz. Die Pluralität setzt dafür die Bedingung der Möglichkeit.579 Hierbei wird deutlich, dass das 570 571 572 573 574 575 576 577 578 579

Vgl. Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 428. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. 430. Ebd. Vgl. ebd.

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Symbol eben nicht ein später hinzugefügtes Verhältnis zwischen zwei verschiedenen Seienden gleich einer Verweisfunktion durch einen dritten Beobachter ist, sondern das Seiende ist in sich selbst symbo­ lisch durch den übereinkommenden Ausdruck und findet folglich »behaltend«580 im Ausdruck, soweit es ihm möglich ist, zu sich selbst. Der Ausdruck, also das Symbol ist für das Seiende demzufolge die Weise der Selbstfindung und Selbsterkenntnis schlechthin. Erst im ausgedrückten Symbol findet es behaltend zu sich selbst. Weiter schlussfolgert Rahner, dass, wenn das bis hierhin erläu­ terte stimmt, das Seiende von sich selbst her symbolisch ist, sich also in seine plurale Aktualität hinein vollzieht, dann muss dies auch für die Erkenntnis dieses Seienden durch einen anderen gelten.581 Das Seiende ist also erkennbar und erkannt, da »es selbst ontisch (an sich), weil ontologisch (für sich), symbolisch ist.«582. Da das Seiende nicht Ebd. 431. Vgl. ebd. 431f. 582 Ebd. 432. In der Nutzung der Begriffe »ontisch« und »ontologisch« klingt der Einfluss von Martin Heidegger auf Rahner an. Heidegger unterscheidet im Zuge seiner ontologischen Differenz zwischen dem Sein (ontologisch) und dem Seienden (ontisch). Keines ist ohne das andere denkbar: »Sein ist jeweils das Sein eines Seienden.« (Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 2006, 9). Das Sein ist der Verständnishorizont des Seienden. Die phänomenale Ebene des Seins ist das Ontische bzw. Seiende und die Philosophie des Ontischen ist die Ontologie. Das Ontische ist immer schon durch seine sinnhaften Bezüge eingebettet und verstanden, wohingegen die Bedingung dafür – in Form des Seins – unthematisiert und vorgängig vorhanden ist (vgl. ebd. 12f.). Der Mensch als Seiendes nennt Heidegger »Dasein« (ebd.): »Dieses Seiende, das wir selbst je sind und das unter anderem die Seinsmöglichkeit des Fragens hat, fassen wir terminologisch als Dasein. Die ausdrückliche und durchsich­ tige Fragestellung nach dem Sinn von Sein verlangt eine vorgängige angemessen Explikation eines Seienden (Dasein) hinsichtlich seines Seins.« (ebd. 7). Die Suche seiner Fundamentalontologie – »aus der alle andern erst entspringen können« (ebd. 13) – ist nach Heidegger folglich, die einer »existenzialen Analytik des Daseins« (ebd.), die der Frage nach dem Sinn von Sein vorausgeht. Die Einordnung Rahners als einfachen »Heideggerschüler« ist undifferenziert: »Sicher wirkt bei ihm [Rahner] manches nach, so besonders die Strenge der Seinsfrage, auch zur Auslegung des Seins bei Thomas, oder der Begriff des Existenzials als einer Seinsbestimmung menschlicher Existenz, bei Rahner später als ›übernatürliches Exis­ tenzial‹, auch die wesenhafte Geschichtlichkeit menschlichen Daseins, bei Rahner die Verwiesenheit auf die Geschichte als den Ort möglicher Offenbarung Gottes und die Geschichte als Heilsgeschichte. Diese Aspekte gehen auch auf Heideggers Anregung zurück, werden aber von Rahner – gegen Heidegger – ausdrücklich ins Theologische übersetzt, das heißt, in einen anderen Verständnishorizont übertragen. […] Rahner war nie der Philosophie Heideggers verfallen oder ihrer Faszination erlegen [...]« (Coreth SJ, Emerich, »Philosophische Grundlagen der Theologie Karl Rahners«, in: 580

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nur für sich, sondern auch für andere intrinsisch symbolisch ist, macht es sich folglich notwendig erfahrbar.583 Zusammenfassend formuliert Rahner wie folgt: »[I]ndem ein Seiendes sich in seine eigene innere (wesenskonstitutive) Andersheit, in seine innere und (im Selbstvollzug entschlossen) behaltende Plura­ lität als in seinen herkünftigen und so übereinstimmenden Ausdruck vollzieht, macht es sich kund.«584 Der herkünftig übereinstimmende Ausdruck ist also das für das Seiende konstitutive Symbol, um über­ haupt erkannt zu werden, da es ohne jenen Ausdruck sich erst gar nicht kundtun könnte. Erst durch diese Ausführung wird der trans­ zendentale Sinn des Symbolbegriffs deutlich. Um den erarbeiteten Symbolbegriff weiterführend zu verstehen, vertieft Rahner diesen mithilfe der Theologie von Thomas von Aquin, auf die im folgenden Abschnitt eingegangen wird.

Thomanische Scholastik: Form und Stoff Zentral für das vertiefende Verständnis der Theologie des Symbols von Rahner ist die aristotelische Substanzontologie und sein Hylem­ orphismus, welche beide von Thomas aufgegriffen und weiterentwi­

Stimmen der Zeit 8 (1994) 212, 525–536, hier: 529). Dies wird besonders an der Kernfrage des Seins deutlich. Für Rahner ist der Mensch aus seinem Wesen transzen­ dent. Transzendenz bedeutet für Rahner, dass dieser durch das absolute Sein Gottes ursprünglich konstituiert und somit wesenhaft zum »Hörer des Wortes« gemacht ist (vgl. ebd. 536). Diese Seinsbestimmung steht einer ungeklärten und potentiell atheistischen Seinsbestimmung Heideggers konträr entgegen. Folglich hat Rahner sich methodisch an Heidegger orientiert, inhaltlich dagegen Heideggers Anregungen in einem explizit theologischen Verständnishorizont übersetzt. Dementsprechend ist auch die obige Nutzung von ontisch und ontologisch zu verstehen: methodisch von Heidegger angeleitet, aber in einem explizit theologischen Entdeckungszusammen­ hang. In der Perspektive des Einflusses Heideggers könnte der obige Satz also ebenso heißen: Das Sein des Seienden enthüllt sich erst symbolisch. 583 Vgl. Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 432. 584 Ebd.

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ckelt wurden.585 Die Theologie von Thomas von Aquin ist ohne den Einfluss der Philosophie von Aristoteles nicht zu denken.586 Substanz ist für Aristoteles mehrdeutig: Es bezeichnet einer­ seits Materie (z. B. Steine, Wasser), andererseits Form (z. B. Form eines Felsens, Wassertropfen) und drittens die Zusammenkunft von Materie und Form zu einem konkret-vorkommenden Einzelding. Entscheidender Unterschied der Substanzen ist nach Aristoteles einerseits diejenige mit einer momentanen Form, wie ein Felsbrocken, welcher auseinander bröckelt, und andererseits diejenige mit einer überdauernden Form, zum Beispiel ein Pilz, der wächst, also mehr Materie aufnimmt und größer wird. Nach Aristoteles ist die Seele als überdauernde Form bestimmt.587 Der Begriff der Seele (psyche) ist dabei der Ausgangspunkt seiner Ontologie und beschreibt das Prinzip der Lebendigkeit. Den Zusam­ menhang von Leben und Seele lässt sich über ein unreflektiertes Wissen des Lebendigen herleiten, denn: »[B]evor wir wissen und sagen können, was Leben eigentlich ist, wissen wir doch, dass es einen Dass substanzontologische Metaphysik aktuell nicht mehr ohne weiteres gültig ist und stark kritisiert wird, ist offensichtlich (vgl. z. B. wirkungsvolle Kritik durch Judith Butler an der substanzontologischen Geschlechtlichkeit: vgl. Butler, Judith, Gender Trouble, New York 2006). In Reaktion auf die Frage nach dem Seinscharakter des Seienden wurde unter dem Vorzeichen der Moderne die sogenannte »Ereignisontolo­ gie« ausgehend von Willard Van Orman Quine entwickelt, welche ausschließlich fragt »Was gibt es?«. Trivial ist diese Frage nur scheinbar, da sie versucht, eine allgemeine Methode hinsichtlich, was es überhaupt gibt, zu entwerfen. Somit bestimmt sie eine partielle Ontologie und entwirft eine Kriterientheorie hinsichtlich des Status von exis­ tierenden und nichtexistierenden Gegenständen (vgl. Enskat, Rainer, »Ontologie«, in: RGG4 6 (2003), 565–568, hier: 567). Innerhalb dieser Arbeit wird mit Bezug auf Rahners Symboltheologie seine thomanische Substanzontologie referiert, welche die Grundlage der weiterführenden Argumentation bildet. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass gerade ein phänomenologischer Ansatz, der nach dem Erlebnis im »Hier und Jetzt« fragt, potentiell anschlussfähig für ein Weiterdenken im Rahmen der regionalen Ereignisontologie ist. 586 Thomas nennt häufig erst gar nicht Aristoteles beim Namen, sondern schreibt in seiner Summa Theologica lediglich z.B. »Nach der Lehre des Philosophen [...]« (ST I, q. 1, a. 4). Otto Hermann Pesch erwähnt hinsichtlich der Unmöglichkeit der Trennung von Thomas und Aristoteles: »Wir nehmen Thomas nur ernst, wenn wir davon ausgehen: Er hat sich voll bewußt auf Aristoteles eingelassen, und er wußte, was er dabei tat.« (Pesch, Otto Hermann, Thomas von Aquin. Grenze und Größe mittelalterlicher Theologie. Eine Einführung, Mainz 1988, 133). 587 Vgl. Aristoteles: De anima – Über die Seele. Griechisch – Deutsch. Übersetzt mit Einleitung und Kommentar von Thomas Buchheim. Mit dem griechischen Originaltext in der Oxfordausgabe von Ross (1956), Darmstadt 2016, 236. 585

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entscheidenden und anscheinend objektiv vorhandenen Unterschied begründet zwischen solchen Körpern, die es besitzen und lebendig sind, und anderen, denen es abgeht und die vielmehr bloße leblose Materie sind«588. Als diesen Unterschied setzt Aristoteles den Begriff der Seele, den er als »eine unentbehrliche primäre Ursache […] aber nicht die, die ihrerseits keine anderen Ursachen mehr haben kann«589, beschreibt. Der Unterschied zwischen einem lebendigen Körper und einem nicht lebendigen Körper ist nach Aristoteles die Seele: »Wenn man also etwas Allgemeines über alle Seele sagen soll, dürfte dies sein, dass sie die primäre Selbstvollbringung (prôtê entelecheia) eines physischen organischen Körpers ist. Deshalb darf man auch nicht danach suchen, ob die Seele und der Körper eins sind, wie auch nicht das Wachs und seine Figur, und überhaupt die Materie eines jeden und das, wovon es die Materie ist; denn das ›Eines‹ und das ›Sein‹ ist, obwohl auf vielfache Weise gesagt, in der Hauptsache die Selbstvollbringung.«590

Der Philosoph Thomas Buchheim übersetzt den von Aristoteles kreierten terminus technicus Entelecheia mit »Selbstvollbringung«591, welchen er konkretisiert, als wenn »man gerade den Gipfelpunkt einer Angelegenheit oder Tätigkeit, das, worauf es dabei ankommt, erreicht hat und hält«592. Die Definition des Lebensbegriffs von Aristoteles ist – im Gegensatz zu seinen teleologischen Physikvorstellungen – nach wie vor aktuell, da er Leben (zoé) als Selbstbewegung im Sinne von Prozessualität versteht.593 Prozessualität meint die Überführung Ebd. 14. Ebd. 14f. 590 An. II 1, 412b, 4–9. 591 Buchheim, »Kommentar«, 17. 592 Ebd. 593 Entscheidend für den vorliegenden Zusammenhang ist, dass hier Selbstvollbrin­ gung explizit ohne das durch Aristoteles geprägte teleologische Verständnis von Leben übernommen wird. Aristotelische Teleologie im Sinne von Selbstvollbringung, in welcher das Ziel der Erfüllung die Entwicklung prägt, ist angesichts naturwissen­ schaftlicher Ergebnisse nicht zu halten. Beispielsweise wirkt kein Telos rückwirkend auf die Entwicklung des Baumes, sondern unter anderem Photosynthese. Die Grund­ idee der Selbstvollbringung ist also nach wie vor durch den Begriff der Seele gültig, die den Unterschied zwischen belebt und unbelebt konstituiert. Durch die Trennung von Teleologie und der seelischen Selbstvollbringung wird zwar die ontologische zwin­ gende Notwendigkeit aufgegeben, aber gleichzeitig bleibt der Unterschied zwischen belebt und unbelebt plausibel, da er sich ebenso am Phänomen aufzeigen lässt. Somit wird folgend eine abgeschwächte Form der aristotelischen Substanzontologie ange­ nommen. 588

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von etwas in einer Anlage gegebenen in eine Wirklichkeit.594 Diese Vorstellung von Bewegung kann in verschiedenen Intensitäts- und Komplexitätsstufen auftreten und ist daher von Pflanzen über Tiere bis hin zum Menschen anwendbar.595 Als lebendige Natur (physis) bezeichnet er jedes aus sich selbst verwirklichende Wesen und das eigene Prinzip der Selbstvollbringung, also die Form solcher physis (Pflanze, Tier, Mensch) nennt Aristoteles Seele.596 Für Aristoteles besteht die Seele aus drei aufeinander aufbauenden Teilen, wobei jeder einzelne Teil den jeweils vorherigen Teil beinhaltet und zu unterschiedlichen Leistungen ermächtigt. In serieller Anordnung sind dies der vegetative Teil, welcher für Ernährung, Stoffwechsel, Wachstum, Fortpflanzung zuständig ist, der sensitive Teil, der sich zur Wahrnehmung aller Art von Lust, Schmerz, Affekte, Strebungen usw. ermächtigt und zuletzt der intellektive Teil, der ursächlich zum wahrheitsinteressierten Denken, der Kalkulation und des Verstehens befähigt. Vegetativ, sensitiv und intellektiv kann man sich wie eine logische, aufeinander aufbauende Reihe vorstellen, die von Pflanzen über Tiere bis hin zum Menschen die Beseelung erklären.597 Um die Formgebung im Sinne jener primären Selbstvollbringung der Seele grundsätzlich zu verstehen, nennt Aristoteles das Beispiel des Auges: Die Sicht des Auges ist die Seele, es ist der Gipfelpunkt der Substanz des Organs Auge. Umgekehrt formuliert ist das Auge die Materie oder Substanz der Sicht. Ohne die Sicht ist das Auge ebenso unwirklich ein Auge wie ein gezeichnetes oder aus Stein geformtes. Demgegenüber ist das Verhältnis des lebendigen Körpers und seiner Seele analog zu verstehen.598 Folglich ist erst durch die Seele der Körper lebendig und von diesem so grundsätzlich verschieden, dass die Seele nicht ohne diesen auftreten kann: »Daher treffen diejenigen die richtige Annahme, denen die Seele weder ohne Körper noch als irgendein Körper zu existieren scheint. Denn Körper ist sie zwar nicht, sondern vielmehr von einem Körper

594 Vgl. Honnefelder, Ludger, »Die Frage nach der Einheit des Menschen. Bioethik und Hylemorphismus«, in: Konrad Hilpert/Dietmar Mieth (Hg.), Kriterien Biomedi­ zinischer Ethik, Freiburg in Breisgau 2006, 50–65, hier: 54. 595 Vgl. Haeffner, Gerd, Philosophische Anthropologie, Stuttgart-Berlin-Köln 3 2000, 206. 596 Vgl. Met. V, 4, 1015a, 13‐15. 597 Vgl. Buchheim, »Kommentar«, 31f. 598 Vgl. An. II, 1; 412b 17.

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irgendetwas, und kommt deswegen in einem Körper vor und zwar in einem genau so beschaffenen Körper.«599

Bei Lebewesen der sensitiven Stufe belebt die Seele das Ganze des Körpers durch die Organe in ihrem sensomotorischen Selbstverständ­ nis durch zentrale Organe, welche Aristoteles als das Herz und oder das Gehirn benennt. Gleichzeitig distanziert er sich von der platoni­ schen Vorstellung, dass die Seele mit einem bestimmten Körperteil ganz identifiziert werden darf. Die Befähigung durch die Seele und die dafür nötigen Organe unterscheidet Aristoteles konsequent. Da es Lebewesen eigen ist, dass sie für die Zweckhaftigkeit ihres Ganzen gewisse Organe benötigen, kann Aristoteles einerseits postulieren, dass die Seele Prinzip dieses Ganzen ist und gleichzeitig, dass dieses Prinzip des Ganzen in manchen Zentralorganen einen besonderen Sitz inne hat.600 Am Beispiel eines Maulwurfs macht er deutlich, dass dieser zwar durch den sensitiven Seelenteil durchaus zur Wahrneh­ mung befähigt ist, aber ihm das notwendige optische Rezeptionssys­ tem dafür fehlt.601 Darüber hinaus distanziert sich Aristoteles stärker vom anthropologischen Dualismus Platons, der noch eine vom Körper selbstständige Entität der Seele angenommen und diese der göttlichen Ideenwelt zugeordnet und daher jeglicher Form von Körperlichkeit übergeordnet hatte (dazu mehr in Kapitel 5.1). Aristoteles denkt Körper und Seele als ontologisch unterschiedlich, spricht von ihnen als zwei Substanzen, aber nicht als zwei selbstständige Seiende:602 »Der Krug ist solange eine bloße Idee, solange er nicht aus einem bestimmten Stoff (z. B. Tonerde) entsteht; aber ein Klumpen Ton ist kein Krug, solange er nicht zu einem Krug geformt und bearbeitet wird. Im fertigen Krug sind Stoff und Form eine Einheit geworden. Es gibt das eine nicht ohne das andere: zerfällt ihre Einheit, fallen beide Bestandteile dahin; da sind nicht zuerst zwei Seiende, sondern da ist eines mit seiner inneren Dualität.«603

Ebd. II 2, 414a 19–22. Vgl. Honnefelder, »Die Frage nach der Einheit des Menschen«, 55. 601 Vgl. Buchheim, »Kommentar«, 30. Aus heutiger naturwissenschaftlicher Erkenntnis falsch war Aristoteles Annahme, dass die Augen des Maulwurfs unter der Haut verdeckt saßen und dieser daher sein seelengeformtes Wahrnehmungsvermögen nicht ausführen konnte (vgl. ebd.). 602 Vgl. Greshake, Gisbert, »Seele VI. Systematisch-theologisch«, in: LThK3 9 (2009), 378–379, hier: 376. 603 Haeffner, Philosophische Anthropologie, 206f. 599

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Die Seele ist also die Ursache und das Prinzip der Einheit als Form des Stoffes (Materie) des Körpers. Jene Annahme der Verbindung von Form und Stoff zu einer inneren Einheit wird seit der Neuscholastik als Hylemorphismus bezeichnet, welches sich aus den griechischen Wörtern hyle (Stoff, Materie) und morphe (Form, Gestalt) zusammen­ setzt.604 Thomas bezieht sich explizit auf die Schriften von Aristoteles, welche über den arabischen Sprachraum wieder neu verfügbar wur­ den, übernahm die aristotelische Ontologie von Möglichsein (poten­ tia) und Verwirklichtsein (actus), der Lebensvorstellung von Selbst­ bewegung, deren Adaption sich im Hylemorphismus wiederfindet und deutet diesen theologisch weiter.605 Thomas Programmatik beinhaltet folglich ebenso, dass alle innere Struktur von wandelbaren Substanzen von der Differenz von Akt und Potenz durchzogen ist und diese ihre Entsprechungen in forma (morphe) als Akt und materia (hyle) als Potenz wiederfinden. Metaphysisch formuliert existiert alle wandelbare Substanz ausschließlich in der Zusammensetzung aus Materie und Form:606 »Dazu nämlich, daß etwas die substantielle Form eines anderen sei, ist zweierlei erforderlich. Das eine davon ist, daß die Form das Prinzip des substantiellen Seins für das ist, dessen Form sie ist. Mit Prinzip aber meine ich nicht das wirkende, sondern das formhaft, durch das etwas ist und seiend genannt wird. Daraus folgt das andere: nämlich, daß Form und Materie zu einem einzigen Sein zusammenkommen; das trifft nicht zu für die Verbindung des Wirkprinzips mit dem, dem es das Sein verleiht. Und dieses Sein ist dasjenige, in dem die zusammengesetzte Substanz selbstständig seiend ist: dem Sein nach eine einzige, bestehend aus Materie und Form.«607

Thomas bestimmt die Materie strikt als uninformierte, also unge­ formte Bestimmungslosigkeit (materia prima). Nach Thomas exis­ tieren weder Materie noch Form als für sich seiende Prinzipien oder Substanzen, sondern diese treten erst, im Sinne von actus und potentia – also als Wirklichkeit und Vermögen – in Einheit als

Vgl. Oeing-Hanhoff, Ludger, »Hylemorphismus«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 3 (1974), Sp. 1236–1237, hier: 1236f. 605 Vgl. ST I 18, 1. 606 Vgl. Heinzmann, Thomas von Aquin, 41. 607 SCG II, Kap. 68.

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eine Substanz auf.608 Anders formuliert: Ausschließlich durch den Akt der Formgebung (causa formalis), die sich an die uninformierte Materie (materia prima) mitteilend weggibt, entsteht das Seiende. Die causa formalis kommt nicht extrinsisch und nachträglich zum Wesen hinzu, sondern wird folglich aus eigenem Vermögen zum »›Akt‹ der Materialursache«609 und ist somit selbst der formende Effekt.610 Das Substanzsein ist folglich unteilbar, da alles von außen hinzugefügte oder weggenommene das Wesen der Substanz verändern würde. Zwei bereits stofflich-geformte Substanzen können also durchaus zusammengefügt, aber unmöglich zu einer Wesenseinheit werden.611 Entscheidend für den Zusammenhang von Rahners Theologie des Symbols ist, dass es nach Thomas Formen gibt, die sich in ihrem Sein nicht »völlig entäußernd«612 weggeben und folglich auch nicht in ihrer Formalursächlichkeit auflösen. Im Akt des Formgebens (forma) des Formgrundes (materia prima) entsteht folglich die Sub­ stanz als das Geformte (Gestalt der Erscheinung). Das ursprüngliche Formprinzip ist in der Gestalt der Erscheinung, wobei es gleichzeitig nicht dasselbe ist. Konkretisiert: Obwohl beide denselben Formgrund (materielles) in sich tragen, sind die Gestalt der Erscheinung des substantiellen Grundes und die forma als solches nicht identisch.613 In der Zusammenführung der thomanischen Scholastik und den bereits erarbeiteten ontologischen Symbolerkenntnissen formuliert Rahner Folgendes: Das Symbolisierte teilt an das Symbol seinen eigenen Wesens­ vollzug, also seine Wirklichkeit (forma) mit und bleibt trotzdem von diesem, im Sinne der »ontologisch-symbolischen Differenz«614 von Real- und Vertretungssymbol, verschieden.615 Um jenen Selbst­ vollzug innerhalb des Symbols wirklich nachvollziehen zu können, und die Kompatibilität von Thomas Formalontologie mit Rahners Symbolverständnis final zu verstehen, muss der Begriff der Resultanz Vgl. Heinzmann, Richard, »Anima unica forma corporis. Thomas von Aquin als Überwinder des platonisch-neuplatonischen Dualismus«, in: Philosophisches Jahrbuch 93 Nr. 2 (1986), 236–259, hier: 250. 609 Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 433. 610 Vgl. ebd. 611 Vgl. Heinzmann, »Anima unica forma corporis«, 250. 612 Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 433. 613 Vgl. ebd. 614 Ebd. 615 Vgl. Anmerkung 586 bezüglich Heideggers Einfluss auf Rahner. 608

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notwendig berücksichtigt werden. Thomas Verständnis eines endlich Seienden ist nicht das einer fertigen Wirklichkeit, die einmalig kon­ stituiert und dann statisch-passiv vollendet ist, sondern er kennt den inneren Selbstvollzug, der dem eigenen bloß akzidentiellen Selbst­ vollzug vorausgeht und nicht einfach auf die »formalmateriale Kau­ salität«616 zurückgeführt werden kann.617 Hier wird wieder Thomas aristotelischer Einfluss von Akt und Potenz, des Werdens und Verge­ hens im Sinne der Prozessualität deutlich.618 Diesen spezifischen Selbstvollzug nennt er »Resultanz«, was für »ein ›Erfließen‹ der Fähigkeiten aus dem Substanzgrund«619 steht. Jener Substanzgrund erfährt erst seine Vollendung, indem er sich aus sich selbst heraussetzt. Das Seiende ist demnach erst mit der Setzung des anderen in Resultanz innerhalb der eigenen Einheit desselben Seienden vollends gegeben. Jener symbolsetzende Selbstvollzug, also das Kundmachen als Vollendung des eigenen Seienden, kann alter­ nativ wie folgt beschrieben werden: Erst durch die symbolisierende Manifestation im anderen, durch das Erfließen (Resultanz) aus dem eigenen Substanzgrund, kommt das Seiende letztlich zu seiner in Ein­ heit bestehenden vollendeten Existenz. Die Überlegungen bezüglich des Wesensgrundes und der Resultanz zeigen den aristotelisch-tho­ manischen Einfluss innerhalb Rahners Theologie des Symbols und münden letztlich im zweiten und für die vorliegenden Überlegungen relevanten Grundprinzip seiner Ontologie des Symbols, indem der erste Satz umgekehrt wird:620 »Das eigentliche Symbol (Realsymbol) ist der zur Wesenskonstitution gehörende Selbstvollzug eines Seien­ den im anderen«621. Auf der Suche nach einem Symbolbegriff, der sich in Bezug auf die Überlegungen aus den vorangehenden Kapiteln bezüglich des leiblichen »Hier und Jetzt« des Menschen als tragfähig erweist, kann nun im Sinne eines formal-ontologischen Zwischenfazits zusammen­ fassend festgehalten werden: Ein Seiendes, welches, wir erinnern uns, »jedes«, also vorerst explizit unbestimmt ist, ist notwendig symbolisch, um das eigene Wesen zu finden. Um dieses Ziel zu erfüllen, vollzieht sich das 616 617 618 619 620 621

Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 433. Vgl. ebd. Vgl. Heinzmann, »Anima unica forma corporis«, 250. Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 434. Vgl. ebd. Ebd. 435.

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Seiende im anderen. Kompakter formuliert: Das Realsymbol trans­ portiert die Wirklichkeit des Symbolisierten in sich selbst und ist folglich der Selbstvollzug des Seienden im anderen. Besonders hervorzuheben ist, dass der symbolische Ausdruck nicht von außen hinzukommt, sondern intrinsisch erwächst. Das Seiende ist Einheit und Pluralität und drückt jene Pluralität der Einheit aus, welche sie darstellt. Der berechtigten Frage, wie Pluralität, wenn sie nicht einfach losgelöst nebeneinander existiert, sondern eine echte relationale Einheit darstellen soll, ist das Faktum der innersten Übereinkunft der Pluralität zu entgegnen. Jene innerste Übereinkunft, ursprünglichste Gemeinsamkeit oder höchste Fülle der Einheit, kann aus theologischer Perspektive nur im Sinne der obig beschriebenen Trinität beantwortet werden. Das Konzept der Dreieinheit Gottes eröffnet das Wissen um eine wahre Unterschiedenheit der Personen (Pluralität) in höchster und unüberbietbarer Einheit. Diese Perspek­ tive bewirkt zwei Dinge: Erstens befreit es das Faktum der Pluralität im endlichen Seienden von seinem Stigma der angeblichen Schwäche. In theologischer Lesart ist Verschiedenheit nicht negativ, sondern zutiefst positiv konnotiert. Zweitens führt die angenomme göttliche, also höchste Einheit in echter Pluralität (Trinität) zu der Antwort auf die Frage nach der innersten Übereinkunft der Pluralität. Die Trinität ist folglich ursprünglichste Gemeinsamkeit und letztes ontologisches Datum der Pluralität. Das Seiende drückt seine Pluralität in Einheit, die in jener ursprünglichsten Unterschiedenheit (perfectio pura) gründet, mittei­ lend aus. Der notwendige symbolische Ausdruck macht das Seiende nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere erfahrbar (ontisch/ ontologisch). Dieses erfahrbare Realsymbol entsteht, indem sich thomanisch gesprochen, die Form (causa formalis) als Akt an den Wesensgrund, beziehungsweise die Materialursache (materia prima) weggibt, ohne sich komplett aufzulösen, also sich zu entäußern. Auf diese Weise entsteht die Gestalt der Erscheinung des Wesensgrundes, welche durch die causa formalis entstanden, aber nicht mit ihr iden­ tisch ist. Durch die gleichzeitige Existenz von Nichtentäußerung und Nichtidentität wird der zuvor schwer fassbare, formal-ontologische Unterschied zwischen Vertretungs- und Realsymbol deutlich. Der Hinweis bezüglich der nicht akzidentiellen und nicht materialkausa­ len Erfließung der Fähigkeiten des Seienden aus dem Substanzgrund (Resultanz) vervollständigt die formal-ontologischen Überlegungen und zeigt, dass der Selbstvollzug des Seienden nicht als einmalige pas­

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siv-finale Wirklichkeit angesehen werden kann, sondern ein Vermö­ gen des Seienden im Sinne eines kontinuierlichen Selbstvollzugs ist. Das Seiende muss sich symbolisch ausdrücken, findet im ande­ ren sein eigenes Wesen und macht sich für andere erfahrbar. Der Ausdruck des Seienden ist explizit kein Vertretungssymbol für die Eigentlichkeit des Seienden, sondern beinhaltet die Wirklichkeit der Eigentlichkeit (Substanzgrund) in sich, ohne mit ihr identisch zu sein und gehört zu dem, was Rahner als »wirkliche echte Symbole (Realsymbole)«622 bezeichnet. Rahners Symbolbegriff vereint die griechischen Begriffe der erscheinenden und anblickbaren Gestalt (eidos/morphe), also der Form mit dem des gestaltbildenden Wesens, dessen Wesensgrund seine Materialität darstellt (hyle), indem die erscheinende und anblickbare Gestalt aus sich selbst als Symbol herausgesetzt und behalten wird. Das Seiende kann seine Materialität (gestaltbildender Wesensgrund) erst durch seine Erscheinung (Symbol) für sich und für andere in Existenz bringen. Anders formuliert: Die erscheinende und anblickbare Gestalt (Form) drückt das gestaltbildende Wesen (Materie) aus. Zu beachten ist, dass die Qualität der erscheinenden Existenz natürlich von dem Maß des Seins, welches ein Seiendes überhaupt für sich und für andere haben kann, abhängig ist.623 Mit der ontologischen Erschließung des Realsymbols ist somit das anfangs formulierte Ziel Rahners, die »höchste und ursprüng­ lichste Weise der Repräsentanz einer Wirklichkeit für andere«624 nachzuweisen, formal erfüllt und der erste Schritt in Bezug auf das selbst formulierte Ziel im Sinne der Erschließung der Idee eines Realsymbols als Schlüsselbegriff für leibliche Authentizität abgeschlossen. Der notwendige nächste Schritt muss nun sein, jene formal-ontologischen Erkenntnisse in Bezug auf die Anthropologie inhaltlich zu konkretisieren.

4.3.2 Leiblichkeit als Realsymbol des Menschen Im vorangehenden Kapitel wurde das Seiende als ein »jedes« und folg­ lich explizit unbestimmt postuliert. Das vorliegende Kapitel dient nun 622 623 624

Ebd. 426. Vgl. ebd. Ebd. 427.

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4.3 Karl Rahner: realsymbolische Leiblichkeit

als Übergang aus der formal-ontologischen Konzeption des Seienden hin zu einer konkreten – also nichtformalen –, realsymbolischen körper-geistigen Anthropologie. Dies geschieht in der Anwendung des – im vorangehenden Kapitel referierten – ontologischen Hylem­ orphismus in Bezug auf die körper-seelische Ganzheitlichkeit des Menschen im Sinne eines Realsymbols.

Die Einheit des Leibes als Symbol der Seele Wie zuvor aufgezeigt ist für Thomas der Mensch nicht primär Kon­ glomerat aus Körper und Seele, sondern aus materia prima und Seele.625 Materia prima ist der Urstoff, also das »von sich her gänzlich potentielle Substrat des substantiellen Selbstvollzuges der anima«626. In der Anwendung der allgemein-metaphysisch gedachten Über­ legung des Hylemorphismus auf den Menschen ist festzuhalten, dass nach Thomas das, was als Körperlichkeit des Menschen erfahren wird, schon die Wirklichkeit der Geist-Seele ist.627 Die anthropolo­ gische Zielsetzung des »Anima est unica forma corporis« bedeutet folglich: Die Form (causa formalis) ist die Geist-Seele, die als forma corporis wirkt. Forma corporis bedeutet, dass die Seele wesenhaft auf die Materialursache (materia prima) bezogen ist und dieser ihr Sein mitteilt und infolgedessen erst Wirklichkeit gewinnt.628 Anders formuliert: Das Prinzip der Form (hyle, forma) gibt der Wirklichkeit der Materie (morphe, materia) erst seine Gestalt. Ausschließlich in der Verbindung von materia prima und Seele existiert der belebte Körper. Wenn man den Begriff des Leibes für den lebendigen Körper verwendet, kann folglich formuliert werden: »Leib ist ohne Seele nicht Leib, und Seele ist ohne Leib – wenigstens im strengen und eigentlichen Sinn – nicht Seele«629. Beide Größen sind wechselsei­ Vgl. ebd. 452. Ebd. 627 Vgl. ebd. 628 Vgl. Buchholz, René: »Körper/Leib (zusammen mit Regina Ammicht Quinn)«, in: Peter Eicher (Hg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd. 2, München 2005, 390–401, hier: 400. 629 Müller, Klaus, »Rätsel des Ich-Seins. Zu einigen Kernfragen der Anthropologie«, in: Michael Kappes u.a. (Hg.), Grundkurs Philosophie. Brennpunkte philosophischer Theologie, Bd. 1: Grundlagen, Kevelaer 2004, 32–55, hier: 38). In der Äußerung von Klaus Müller fällt auf, was für die gesamte Katholische Theologie zu gelten scheint: Der Begriff des Körpers und der des Leibes werden häufig synonym und nicht 625

626

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

tig aufeinander verwiesen. Die Seele spricht sich im Menschen in Körperlichkeit aus, wird zum »sichtbare[n] Zeichen der unsichtbaren Seele, die sich in ihm ausdrückt und ihm seine einzigartige Form gibt«630 und somit tritt durch den Leib das Geistige in konkretes zeitliches Dasein.631 Körperlichkeit ist demzufolge nichts, was zur Geistigkeit hinzukommt, sondern das konkrete Dasein des Geistes in der Raum-Zeitlichen-Wirklichkeit.632 Die Seele als Form des lebendi­ gen Körpers heißt konkret, dass sich der Leib und Seele nicht mischen, überschneiden oder dass die Seele diesen nur lenkt, sondern, dass die Seele die einzige substantielle Form des lebendigen Körpers, also Leibes ist. Leib und Seele existieren also ausschließlich für sich genommen als nichtselbstständige Prinzipien. Es kann ausschließlich von der Seele vom Leib her und auf den Leib hin gesprochen werden. Erst in der Formung der materia prima hin zum Leib verwirklicht die Seele ihr Wesen. Diese Art, den Hylemorphismus anthropologisch zu denken, geht weit über Aristoteles hinaus, da bei Thomas Leib und Seele ausschließlich in Einheit auftreten und folglich ihr Verhältnis nicht zufällig ist. In Thomas metaphysischer Vertiefung konstituiert die Formung der materia prima durch die Seele das Wesen des Men­ schen:633 »Alles, was der Mensch ist, Körperwesen, Lebewesen, Sinnenwesen und Geistwesen, ist er durch die anima intellectiva als Wesensform; was zum Menschen gehört, verdankt er seiner Geistseele. In dieser Sicht ist eine weitere substantielle Form von vornherein ausgeschlos­ sen, da sie die innere Einheit des Menschen und so sein Wesen zer­ störte.«634 einheitlich verwendet. Mit Blick auf die folgende Zusammenführung der Erkenntnisse aus den phänomenologischen Arbeiten von Maurice Merleau-Ponty und Hermann Schmitz, für die eine strenge Begriffsdifferenzierung notwendig ist, wird in der vorliegenden theologischen Darlegung auf eine korrekte Zuordnung geachtet. Der Begriff Leib wird innerhalb der vorliegenden Erläuterungen ausschließlich als beseel­ ter Körper, also lebendiger Körper gewählt. Eine darüber hinaus gehende differenzierte Zuordnung erfolgt in der Verbindung der phänomenologischen und theologischen Ergebnisse (vgl. Kapitel 5). 630 Dirscherl, Erwin, Grundriss theologischer Anthropologie. Die Entschiedenheit des Menschen angesichts des Anderen, Regensburg 2006, 96f. 631 Vgl. ebd. 95. 632 Vgl. ebd. 98. 633 Vgl. Heinzmann, Richard, Thomas von Aquin. Eine Einführung in sein Denken, Stuttgart 1994, 46f. 634 Ebd. 47.

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4.3 Karl Rahner: realsymbolische Leiblichkeit

Rahner führt diesen konsequenten anthropologischen Hylemorphis­ mus mit seiner formal-ontologischen Symboltheologie zusammen und folgert: »Daß der Leib als Symbol, d. h. als Realsymbol, des Menschen betrachtet werden kann und muß, ergibt sich ohne weiteres aus der thomistischen Lehre, daß die Seele die substantielle Form der materia prima ist.«635

Würde man dem Leib eine positive Inhaltlichkeit zuschreiben, die zeitlich vor dem Einfluss der Seele liegt, dann könnte nicht nach­ vollzogen werden, weshalb die Entität des Leibes als symbolischer Ausdruck der Seele angesehen würde. Maximal ein Teil des Leibes könnte dann noch ein Symbol der Seele sein, nicht aber der Leib als solches.636 Leiblichkeit ist aber eben die »Aktualität der Seele selbst im ›anderen‹ der materia prima«637 und folglich das, was im voran­ gehenden Kapitel als wirkliches (Real-) Symbol erarbeitet wurde. Hinsichtlich der Bestimmung des Leibes durch die forma corporis ist zu beachten, dass diese aufgrund der akzidentiellen Bestimmungen der konkreten Materie vieldeutig ist. Mit anderen Worten: Die akzi­ dentiellen Bestimmungen des Leibes sind die der konkreten Materie, welche auf die Formgebung der Seele Einfluss nehmen. Formgebung heißt, welche der eigenen (vielfältigen) Möglichkeiten die Seele im Leib formend realisiert.638 Rahners Folgerung mündet in seinem fünften Satz der Symboltheologie: »Der Leib ist das Symbol der Seele, insofern er als der Selbstvollzug der Seele (wenn auch nicht als deren adäquater) gebildet wird, und sich die Seele in dem von ihr verschiedenen Leib selbst anwesend sein und in ›Erscheinung‹ treten läßt.«639

Der Zusatz des »nicht als deren adäquater Selbstvollzug« ist eine Wiederholung der Nichtentäußerung der causa formalis, welche sich an die materia prima weggibt, sich aber nicht vollständig im Akt des Weggebens auflöst. Nicht formal-ontologisch formuliert: Der Leib ist zwar Symbol der Seele, aber nicht mit dieser identisch. Symbolisiertes und Symbol fallen nicht ineinander und lösen sich nicht in Gleichheit 635 636 637 638 639

Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 452. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. 453.

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

auf. Ein Realsymbol enthält bereits die symbolisierte Wirklichkeit, tritt aber nicht ersetzend an ihre Stelle. Rahner ergänzt den Satz anschließend durch seinen sechsten Satz: »In dieser Einheit von Symbol und Symbolisiertem, die durch den Leib und die Seele gebildet werden, sind die einzelnen Teile des Leibes mehr als bloß quantitativ addierte Stücke des ganzen Leibes; sie sind vielmehr in einer eigentümlichen Weise immer so Teile, daß sie auch das Ganze noch in sich befassen, wobei dieses freilich von den einzelnen Teilen in verschieden strengem Maß gelten mag.«640

Aus der Seele entspringen demnach Kräfte, Vermögen, Akte und Möglichkeiten des Menschen, welche sich empirisch konkret im Leib manifestieren und so den beseelten Menschen in seiner Ganzheit­ lichkeit ergeben.641 Der sechste Satz betont besonders die Seele als »ursprunggebendes Prinzip des Leibes«642, welches in jedem Teil des Leibes steckt. Die ganze Symbolfunktion und -kraft der Seele drückt in jedem physiologischen Teil des Leibes, auf zum Beispiel mimische oder phonetische Art, den ganzen Menschen aus.643 In der Perspektive der nichtentäußerten forma corporis formuliert: Die Seele als »onto­ logisch vorgängige Einheit des ganzen Menschen«644 findet sich als Symbolisiertes in jedem Teil des Leibes wieder. Das Verhältnis einzel­ ner Leibteile zu dem ursprünglichen Ganzen ist durchaus verschieden stark intensiv, vollkommen fehlen tut es im Sinne der informierten materia prima allerdings nirgendwo.645 Mit der Erkenntnis, dass der Leib folglich die »Entäußerung des Geistes«646 und somit die Konkre­ tisierung des Daseins in Raum und Zeit ist, ist die Verbindung des anthropologischen Hylemorphismus mit der Theologie des Symbols von Rahner abgeschlossen. Im nächsten Abschnitt folgt eine vertie­ fende Reflexion auf das bereits von Aristoteles erwähnte Zentralorgan Herz, was zu einem breiteren Verständnis des Symbolleibes beitragen soll und die explizit theologische Perspektive weitergehend vertieft.

Ebd. Vgl. ebd. 642 Ebd. 453. 643 Vgl. ebd. 644 Ebd. 453. 645 Vgl. ebd. 646 Rahner, Karl, »Der Leib in der Heilsordnung«, in: Ders., Sämtliche Werke. Dogmatik nach dem Konzil, Bd. 22, Freiburg in Breisgau 2008, 159–174, hier: 171. 640 641

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4.3 Karl Rahner: realsymbolische Leiblichkeit

Realsymbolischer Ausdruck und das Urwort Herz »Wenn ich einen Kant auf die Waage stelle und dann ablese, er hat etwa 60 kg, dann habe ich natürlich von Kant weniger gesehen, als wenn ich mich mit ihm unterhalte.«647

Dieses banal klingende Beispiel verdeutlicht die Besonderheit des symbolhaften Gebrauchs des Leibes im Sinne eines realsymbolischen Ausdrucks im Vergleich zur begrenzten Beschreibung des materiellempirischen Status quo des Körpers. Im vorangehenden Kapitel wurde der Versuch unternommen deutlich zu machen, dass der Mensch sich notwendig für andere sym­ bolisch erfahrbar macht, und folglich seine Eigentlichkeit leibhaftig zum Ausdruck bringt.648 Wie im vorangehenden Abschnitt beschrie­ ben, verwirklicht sich im Leib die Seele als ursprunggebendes Prinzip, welches folglich die Eigentlichkeit der menschlichen Existenz und ihres Ausdrucks konstituiert.649 Konkretisiert: Der Mensch realisiert sich in leibhaftigem Ausdruck. Lautes Lachen, eine geballte Faust, Tränen, Sprache oder ein böser Blick sind realisierende Momente der inneren Eigentlichkeit. Ebenso sind etwa eine Umarmung, ein Kuss oder ein Händedruck viel mehr als ausschließliche Informationsver­ mittlung, sondern enthalten bereits jene Ursprünglichkeit.650 Der leibliche Ausdruck des Menschen zeigt sich ganz konkret in seinen Taten und Handlungen an die und in der Außenwelt. Im Leib, als Sichtbarwerdung und Akt der Seele, manifestieren sich Dimensio­ nen von Gesinnungen und Berührtsein des Menschen ganz konkret. Unterschieden werden kann zwischen zwei Formen des Ausdrucks: Das unmittelbare, nichtbewusste und natürliche Zusammenwirken von Leib und Seele wird als »Ausdrucksbewegung«651 bezeichnet. Ein Beispiel für eine Ausdrucksbewegung ist die unmittelbare seelische Erscheinung im Leiblichen, wie etwa das schamvolle Erröten oder das erschreckende Zusammenzucken. Konträr dazu stehen willent­ liche »Ausdruckshandlungen«652, welche bewusst in Reaktion zur Außenwelt erscheinen. In der Ausdrucksbewegung tritt das innere Ebd. Vgl. Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 431f. 649 Vgl. ebd. 453f. 650 Vgl. Nocke, »Allgemeine Sakramentenlehre«, 211. 651 Beck, Matthias, Seele und Krankheit. Psychosomatische Medizin und theologische Anthropologie, Paderborn 2000, 159. 652 Ebd. 647

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»Berührtsein«653 in Erscheinung und in der Ausdruckshandlung manifestiert der Mensch seine innere Gesinnung sowie Haltung. Diese Manifestation des Inneren im Äußeren zeigt, dass die äußere Handlung nicht der inneren Entscheidung unter- oder nachgeordnet ist. Die äußere Handlung ist Bedingung der inneren und umgekehrt. Alle menschlichen Akte sind folglich innere und äußere Akte, die aufeinander bezogen bestehen. Genauso wie der Leib kein Werkzeug der Seele ist, da diese erst zu ihrem eigenen Wesen in der Formgebung des Leibes findet, so existiert der innere Vollzug überhaupt erst durch die äußere leibliche Manifestation.654 Die seelische Ursprünglichkeit des Leibes findet sich ebenfalls in Rahners obig zitiertem sechsten Satz und ist selbst semantisch aufzuweisen: Die Worte Haupt, Herz, Brust oder Hand bezeichnen im Sinne ihrer Symbolik viel mehr als nur die materiellen Körperteile, sondern zielen immer auch auf das Ganze des symbolsetzenden Ursprungs ab. Die einzelnen Teile des symbolhaften Leibes tragen die Symbolfunktion des ganzen Leibes in verschiedenen Hinsichten. Ihr symbolhafter Gebrauch ist Ausdruck der menschlichen Einheit aus symbolsetzendem Ursprung und substanzhaftem Stück der (körperli­ chen) Wirklichkeit. Was aber ist die ursprüngliche Eigentlichkeit, der Kern der Unverwechselbarkeit und das Moment der symbolisch ausgedrück­ ten Unvertretbarkeit genau? Die Seele allein spielt sicherlich eine nicht unwichtige Rolle, ist aber ohne den notwendigen leiblichen Ausdruck, welchem sie ihre Form gibt, unvollständig. Wie ist dann aber Ganzheitlichkeit beziehungsweise Eigentlichkeit des Menschen gedacht und kann sprachlich gefasst werden? Anders formuliert: Wie kann Unaussprechliches ausgesprochen werden? Rahner greift an dieser Stelle auf den gemeinsamen Nenner von symbolischem und mystischem Theologiedenken zurück, der die gegenständliche Vorstellung von bereits Erfahrenem ist. Jene Erfahrung wird in eine bildhafte Sprache gekleidet, die das Unaussprechliche, wie etwa die Wesenheit Gottes, Liebe oder (hier) die Ursprünglichkeit des Menschen »theo-logisch« einen erklärenden Ausdruck verleiht.655 Ebd. Vgl. ebd. 655 Vgl. Eppe, Klaus, »Karl Rahner zwischen Philosophie und Theologie«, in: Klaus Müller (Hg.), Pontes. Philosophisch-theologische Brückenschläge, Bd. 42, Berlin 2008, 222. 653

654

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4.3 Karl Rahner: realsymbolische Leiblichkeit

Infolgedessen geht er der Frage mit Hilfe des genannten symbolhaften Sprachgebrauchs nach, indem er die Leib-Seele-Einheit des Menschen auf jenes mystische »Urwort«656 »Herz« reduziert. Urwort bedeutet explizit nicht »Begriff«, sondern etwas, das immer schon gewusst wird und nicht durch begriffliche Definition abschließend abgeleitet werden kann. Beispiele für andere Urwörter sind etwa Sein, Seiendes, Liebe oder Zeit. Auch hier ist die Suche nach einer Definition sinnvoll, aber die Richtung und ein grobes Wissen um die Begriffe muss bereits vorhanden sein und letztlich bleibt das Urwort unableitbar.657 Rahner nennt »beschwörend einenden, die Wirklichkeit uns allererst herbeirufenden, sich unser bemächtigenden, herzentspringenden, rühmenden, geschenkten Worte [...] Urworte«658, alle anderen nennt er »Nutzworte«659. Urworte sind keine durch Poesie oder Metaphorik aufgeladenen Begriffe, sondern Urworte bezeichnen den »Urschatz der Rede des Menschen«660, also eine Rede von menschlicher Alltags­ erfahrung, die einen engen definitorischen Begriff weit übersteigt. Ein Beispiel hierfür wäre, dass der Täufer nicht mit H2O tauft oder der Dichter ein Gedicht nicht über H2O verfasst, also sich auf die enge Definition des Chemikers beruft, sondern dass diese das Wort Wasser in das Zentrum ihrer Tätigkeiten stellen, da jenes Wort in der alltägli­ chen konkret-leiblichen Erfahrung so viel mehr bedeutet und aussagt, als die technifizierte Begrifflichkeit des Naturwissenschaftlers.661 Die Vorstellung des Herzens als die Mitte der Person ist bereits für die Kultur und Religion des alten Ägypten zentral und in allen Tra­ ditionen der Universalreligionen (Hinduismus, Buddhismus, Islam, Judentum, Christentum) in Mythen, Lehren und Metaphorik nach­ 656 Rahner, Karl, »›Siehe dieses Herz!‹. Prolegomena zu einer Theologie der HerzJesu-Verehrung«, in: Ders., Sämtliche Werke. Ignatianischer Geist, Bd. 13, Freiburg in Breisgau 2006, 488–495, 489. 657 Vgl. Rahner, Karl, »Herz, II. Theologisch«, in: Fries, Heinrich (Hg.), Handbuch Theologischer Grundbegriffe [Taschenbuchausgabe], Bd. 2 (1970), München 1970, 328–336, hier: 328. 658 Rahner, »Siehe dieses Herz!«, 488–495, hier: 489. 659 Ebd. 660 Ebd. 661 Vgl. ebd. 489f. Rahner geht es hierbei nicht um das Ausspielen alter Klischees von Religion gegen Naturwissenschaft, sondern er weist darauf hin, dass die Begrifflichkeit H2O nicht die realistischere, wahrhaftigere und umfassendere Beschreibung für Wasser ist. Vielmehr geht in dem Nutzwort von H2O sehr viel Inhalt verloren, welches im Urwort Wasser enthalten ist. Der Vorwurf der »poetische[n] Hinauf-Preisung des Wassers« (ebd.) ist daher falsch.

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

weisbar.662 Wenn der Mensch davon spricht, dass »er ein Herz hat«663, dann ist dies primär keine Aussage im Rahmen der Anatomie, sondern er bezeichnet mit dem Herzwort »[...] sich als den einen, um sich wissenden Ganzen, ruft er die Einheit seines Daseins, die vor der Scheidung zwischen Leib und Seele, Tat und Gesinnung, Äußerem und Inwendigem liegt, ruft er das Ursprüngliche im echten Sinn dieses Wortes [...]«664. Der Unterschied zwischen Seele und Herz ist darin zu finden, dass im Herz die Lebensmitte deutlicher und umfassender konzentriert ist. Rahner macht die Beschreibung des ganzen Selbstseins des Menschen analog zur spannungshaften Formulierung des Konzils von Chalcedon fest. So wie Jesus Christus als Gott- und Menschheit unvermischt und ungetrennt ist, so ist analog die Leib-Seele-Einheit des Menschen im Urwort des Herzens zu denken.665 Das Herzwort liegt »nicht nachträglich, quer [...] zu einer möglichen, aber letztlich nachträglichen Unterscheidung zwi­ schen Leib und Seele«666, denn diese vordrängende abendländische Überlegung, der reflexiven Erkenntnis, die einer angeblich übertrage­ nen oder metaphorischen Erfahrung gegenüber grundsätzlich höher­ wertig ist, greift bei Urwörtern zu kurz. Im konkreten Vollzug des eigenen Daseins erfahren wir uns grundsätzlich als den einen und ganzen Menschen und nicht als die Teilung von Stoff und Geist. Die christliche Tradition spricht in der Perspektive dieser Wahrnehmung im Apostolischen Glaubensbekenntnis konsequent von der Auferste­ hung des Fleisches und meint damit das biblische Verständnis von Fleisch – das »konkrete Heil des ganzen einen Menschen«667 und nicht das eingeschränkte Nutzwort des biologischen Körpers. Das Urwort Herz ist daher bewusst gewählt, da es die Gesamtdimensio­ nalität des Menschen, mit all seinen Wirklichkeiten des Innen und Außen, des Ursprünglichen und Entspringenden, des Mittelpunkts und der Peripherie und des Hintergründigen und Vordergründigen, umfassend wiedergibt. Diese Herzrede vom Menschen betont das »ursprüngliche, hintergründige, einheitstiftende Innen seiner einen

Vgl. Quack, Anton, »Herz. I Religionsgeschichtlich«, in: LThK3 5 (2009), 48–49, hier: 49. 663 Rahner, »Siehe dieses Herz!«, 490. 664 Ebd. 665 Vgl. Dirscherl, Grundriss theologischer Anthropologie, 99f. 666 Rahner, »Siehe dieses Herz!«, 491. 667 Ebd. 662

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4.3 Karl Rahner: realsymbolische Leiblichkeit

Wirklichkeit«668 und geht somit weit über die Bezeichnung von Leib-Seele-Begriffen hinaus.669 Im Nachdenken über die richtige Bestimmung des Objekts der »Herz-Jesu-Verehrung«670 folgert er, dass in der Perspektive der entwickelten Theologie des Symbols das genannte Urwort genau jene Symbolbedeutung, die aus dem Ursprung des Christentums entspringt, inne hat. Herz ist folglich die »innerste Mitte des Ganzen Menschen«671. Die Frage, ob nun der konkrete Herzmuskel oder etwas Geistiges wie etwa Liebe gemeint sei, geht an der Bedeutung des Urwortes Herz vorbei. Die konkret-alltägliche Erfahrung des Men­ schen in seiner Mitte als leib-geistige Person, welche jede folgende Einzelerfahrung begleitet, ist eine ursprünglichere Erfahrung als das bloße Spüren des eigenen Herzschlags (anatomische Wirklichkeit) oder das Erleben einer inneren Gesinnung wie etwa Liebe.672 Tatsäch­ lich schließt das Herzwort sowohl die innere Gesinnung als auch das leibliche Herz mit ein, da in konsequenter Folgschaft des erarbei­ teten Symbolverständnis davon ausgegangen wird, dass auch das Einzelne (hier: leibliche Herz) für das Ganze (hier: Gesamtwirklich­ keit des Menschen) symbolisch steht, da es symbolisch ausdrückender innerlicher Teil des Ganzen ist.673 Die Rede vom Herz ist deshalb unumgänglich, da der Versuch der Beschreibung einer Wirklichkeit, von der die Hörenden und Sprechenden schon immer wissen, mit abstrakter Sprache, welche metaphysische Erkenntnis festhalten will, gleichzeitig aber niemals abschließend fassbar ist.674 So betont Rah­ ner schlussendlich wieder die einleitenden Urwörter, die nichts neues und doch nur das »ewig junge Alte«675 sagen: Ebd. 492. Vgl. ebd. 670 Die Herz-Jesu-Verehrung ist spirituelle Ausdrucksform, die das Herz Jesu Christi im Sinne eines »liebeerfüllten fleischgewordenen Wort[es] selbst, manifestiert im Herzen als dem sprechendsten Realsymbol der Liebe« (Scheffczyk, Leo, »Herz Jesu. II Systematisch-theologisch«, in: LThK3 5 (2009), 53–54, hier: 53) betont. Ursprung der Verehrung liegt im Bibeltext Joh. 19, 34, in welchem die Öffnung der Seite von Jesus beschrieben wird. 671 Rahner, »Siehe dieses Herz!«, 493. 672 Vgl. Wucherer-Huldenfeld, Augustinus. Philosophische Theologie im Umbruch. Wider den ungöttlichen Gott. Erster Halbband: Die Infragestellung Philosophischer Theologie durch Fideismus und Atheismus, Bd. 2, Wien 2014, 212. 673 Vgl. Rahner, »Siehe dieses Herz!«, 493f. 674 Vgl. ebd. 675 Ebd. 494. 668

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

»Solch ein Wort steigt auf aus der Tiefe des leibhaftigen Geistes, begleitet vom Schlag des eigenen Herzens, von seinem Stocken und seinem unaufhörlichen Gang, von der Erfahrung einer Mitte der geist-durchlebten Leiblichkeit, solch ein Wort ist gleichsam immer auch realisierbar, wenn es gesprochen wird.«676

Dieses Urwort macht die Einheit und Ursprünglichkeit des Menschen, die er im Alltag ohne Unterbrechung und unmittelbar erfährt, symbo­ lisch deutlich: »Das Wort Herz meint jene Einheit in der Vielfalt des Menschen, jenen letzten Grund, von dem aus er in die Vielfalt seines Wesens, Denkens und Tuns hinausgeht. Aus dem Herzen entfaltet sich alles, was der Mensch ist und wirkt. Und in ihm bleibt alles eins und wird alles eins, was aus dem Ursprung kommt und darin zuvor eins war.«677

Das Urwort Herz steht folglich für die wahre Ganzheit des Mensch­ seins, also »die Wirklichkeit, die als vom Symbolisierten gesetztes inneres Moment seiner selbst dieses Symbolisierte offenbart, kund­ macht und als konkretes Dasein des Symbolisierten selbst von ihm erfüllt ist«678, und somit die »All-einigkeit des Menschen«679, in der der Mensch unwiederholbar er selbst ist und sich selbst unver­ tretbar symbolisch vollziehen muss. Das Herz ist nicht als Zeichen, nicht als willkürliches Symbol, sondern als Real- und Ursymbol zu verstehen, welches bereits die reale Leibhaftigkeit und somit die Ursprünglichkeit der Person innehat. Leiblichkeit kommt nicht von außen hinzu, sie ist kein Gefäß, welches etwas von ihr Unabhängiges transportiert. Der Leib ist nicht stellvertretend und unabhängig von der verweisenden Wirklichkeit, sondern er transportiert in seinem realsymbolischen Ausdruck bereits den Kern, Ursprung und die Eigentlichkeit des Symbolisierten. Der leibliche Ausdruck führt durch seine Entstehung im Sinne der forma corporis – die Ursprünglichkeit des zu realisierenden Seienden, also die Seele des Menschen – in sich mit. Der Geistvollzug im menschlichen Handeln muss mitbedacht werden, wenn das Symbolverhältnis von Leib und Seele und das Herzwort betrachtet wird. Genauso wie der ontologische Ausdruck der Seele im Leib gehört zum menschlichen Wesen auch die obig beschriebene menschliche Handlung in ihren Formen der Ausdrucks­ 676 677 678 679

Ebd. Dirscherl, Grundriss theologischer Anthropologie, 99. Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 456. Dirscherl, Grundriss theologischer Anthropologie, 99.

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4.3 Karl Rahner: realsymbolische Leiblichkeit

bewegung und Ausdruckshandlung. Typische Ausdrücke wie Küsse, Umarmungen, Lachen oder Weinen enthalten immer schon die Erfah­ rung der innersten personalen Mitte. Die Rede vom Herzen ist der Versuch, diesen ganzheitlichen und allumfassenden-realsymboli­ schen Selbstvollzug des Menschen und seine notwendig-wesenhafte transzendentale Bezogenheit auf Gott sprachlich greifbar zu machen. Abschließend kann festgehalten werden, dass die phänomenolo­ gischen Ergebnisse hinsichtlich der Leitfrage nach dem »Hier und Jetzt« des Menschen durch Rahners Theologie des Symbols mit der Urwortdeutung des Herzens vertiefende Bestätigung erhalten. Theologisch wird der Leib als eine notwendige Vervollständigung der Ganzheit des Menschen gedeutet, der sich nicht in den empirischen Beschreibungen des Körpers erschöpft. Der Leib ist Realsymbol des Menschen und somit – wie in Kapitel 3.4 initial angenommen – als das »Hier und Jetzt« des Menschen konstitutiv für die Möglichkeit vollständig-authentischer Kommunikation in bewusst-unbestimm­ ter Offenheit (Aura). Also darf die bereits in Kapitel 4.1.4 und 4.2.3 erweiterte These im Anschluss an Rahners realsymbolische Deutung des Leibes wie folgt ergänzt werden: Die ursprüngliche Originalität des nichtmedialen »Hier und Jetzt« des Menschen, als notwendiger Teil von Authentizität, ist sein körperlicher Leib, der sein »Zur-Welt-sein« konstituiert und seine Ganzheit realsym­ bolisch notwendig vervollständigt.680 Somit ist die Substanz des »Hier und Jetzt« des Menschen, wie in Kapitel 3.4 angekündigt, näher bestimmt und folgendes in Bezug auf die Begründung des Primats der Nichtmedialität menschlicher Existenz aufgewiesen: Der strukturelle Unterschied zwischen nichtmedialer und medialer Kommunikation ist der (körperliche) Leib als Realsymbol des Men­ schen.681 Diese grundlegende Erkenntnis wird in den folgenden zwei Kapiteln entfaltet, indem die Ergebnisse zu Authentizität (s. Kapitel 3) und Leiblichkeit (s. Kapitel 4) im folgenden Kapitel (5) systematisch Die Änderung zu vorangehender These wurde unterstrichen. Körperlich ist in Folge in Klammern gesetzt, da Merleau-Ponty nicht so konstant zwischen Körper und Leib unterscheidet wie Schmitz. Die genannte These soll aber bewusst die Bestimmung beider Phänomenologen enthalten. Deren Kompatibilität wird in Kapitel 5 aufgewiesen. 680

681

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4. Der Leib als das »Hier und Jetzt« des Menschen

zusammengeführt, bevor sie anschließend hinsichtlich der norma­ tiven Implikationen (s. Kapitel 1) der digitalen Mediatisierung (s. Kapitel 2) angewendet werden.

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5. Leibliche Authentizität

Im vorangehenden Kapitel wurden die phänomenologischen Ergeb­ nisse Maurice Merleau-Pontys sowie Hermann Schmitz’ mit der Theologie des Symbols von Karl Rahner hinsichtlich der Bestim­ mung des »Hier und Jetzt« des Menschen in einer holzschnittartigen Bestimmung zusammengeführt. Das vorliegende Kapitel klärt nun in einem ersten Schritt, inwie­ fern die unterschiedlichen Traditionen von (Neuer) Phänomenologie, antiker Philosophie und christlicher Theologie überhaupt systema­ tisch-kompatibel sind und weshalb die Kombination der Erkenntnisse folgerichtig ist (s. Kapitel 5.1). Nachdem die Kompatibilität und die mögliche Fruchtbarkeit der Zusammenführung aufgezeigt ist, werden in einem zweiten Schritt die referierten Erkenntnisse von MerleauPonty, Schmitz und Rahner inhaltlich im Detail verknüpft und so der vormals nur mögliche Mehrwert konkret realisiert (s. Kapitel 5.2). Zum Schluss wird diese interdisziplinäre Bestimmung des Leibes mit den erarbeiten Ergebnissen der Authentizität nach Walter Benjamin und der Editionsphilologie (s. Kapitel 3) zum titelgebenden Begriff der Leiblichen Authentizität682 vereinigt (s. Kapitel 5.3). Mit Hilfe die­ ses phänomenologisch-theologischen Konzepts können anschließend die strukturellen und normativen Herausforderungen der digitalen Mediatisierung eingeordnet und bewertet werden (s. Kapitel 6).

682 Präzise müsste es – in Anlehnung an Schmitz – »Körperlich leibliche Authen­ tizität« heißen und so lautet auch die Bezeichnung an der Stelle, wo es um eine detaillierte Zusammenführung geht, also ab Kapitel 5.3. Der Grund, weshalb der Titel der vorliegenden Arbeit lediglich »Leibliche Authentizität« lautet, ist, dass der Leib und die Authentizität im Kern die entscheidenden Begriffe in Bezug auf die Leitfrage der vorliegenden Argumentation sind und die Überschrift dies zugespitzt deutlich machen soll.

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5. Leibliche Authentizität

5.1 Zur Kompatibilität von Phänomenologie und Theologie Nun soll das Fundament für eine Verbindung jener phänomenolo­ gischen Erkenntnisse und theologischen Realsymboldeutung gelegt werden. Trotz der scheinbar offensichtlichen Symbiose des thomani­ schen Hylemorphismus und der Phänomenologie ist es angebracht, die Verhältnisse und Kompatibilität transparent zu machen und zumindest fragmentarisch zu reflektieren. In einem ersten Schritt wird nachfolgend die Wechselbezie­ hung von Theologie und Philosophie beziehungsweise Phänomeno­ logie grundsätzlich dargelegt.683 Anschließend wird nach der formalontologischen Vereinbarkeit der Erkenntnissuche von Metaphysik und (Neuer) Phänomenologie gefragt und in einem dritten Schritt die inhaltliche Vereinbarkeit im Kontext der ablehnenden Haltung Schmitz’ bezüglich des Seelenterminus, der für den hier vorliegen­ den Zusammenhang im Kontext des Hylemorphismus entscheidend ist, erarbeitet.

5.1.1 Philosophie, Phänomenologie und Theologie Da die Phänomenologie ein Spezialzweig der Philosophie ist, fällt die Frage nach der Beziehung zwischen Phänomenologie und Theologie in den Diskussionsrahmen des Verhältnisses von Philosophie und Theologie. Im vorliegenden Kapitel werden in einem ersten Schritt die Berührungspunkte jener Wissenschaften skizziert, bevor in einem zweiten Schritt auf das wechselseitige »Spezialverhältnis« von Phäno­ menologie und Theologie eingegangen wird. Als ein adäquater Einstieg in die Thematik bietet sich folgende Äußerung des Philosophen Berthold Wald an: »Daß die christliche Theologie zu den Geisteswissenschaften gehört, verdankt sie dem Glauben, dass Gott sich in der Geschichte der Men­ schen geoffenbart hat, in nicht zu überbietender Weise in der Mensch­ werdung seines Sohnes, in seinem Tod und seiner Auferstehung. 683 Wenn im Nachfolgenden von »Theologie« gesprochen wird, ist damit ausschließ­ lich, die »Katholische Theologie« und somit meine fachliche Heimat gemeint. Weder maße ich mir an, die Methodenvielfalt der zum Beispiel jüdischen, evangelischen oder islamischen Theologie adäquat im Verhältnis zur Philosophie einordnen zu können, noch spielt diese für das hier behandelte Thema eine Rolle.

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5.1 Zur Kompatibilität von Phänomenologie und Theologie

Damit ist Gott nicht mehr derjenige, der jenseits allen menschlichen Erkennens steht, sondern er ist hinabgestiegen in die Lebenswirklich­ keit von Menschen, in die geschichtlichen Epochen der Menschheitsge­ schichte; er drückt sich aus in kulturellen Größen und läßt sich mit den Kategorien ›anfassen‹, die den Geisteswissenschaften eigen sind.«684

Jene beschriebene transzendente und immanente Seite der Theologie führt zu einer Möglichkeit der gegenseitigen und – zum Teil – spannungsreichen Angewiesenheit beider Fächer aufeinander.685 Für die Theologie ist folglich »die Sache schlechthin«686 die Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Trotz des aus transzendentem Ursprung offenbar gewordenen, ist diese Offenbarung aber nicht eine Offen­ barung für sich (reine Offenbarung), sondern intrinsisch eine für jemanden, nämlich für den »Hörer des Wortes«687, welcher der Mensch ist.688 Folglich gilt: »Offenbarung kann nur sein in einer unzerreißbaren, wenngleich differenzierten Einheit, die den Offenba­ rer, das Offenbarte und den, dem geoffenbart wird, in ein Geschehen zusammennimmt«689. Der Mensch ist durch seine Vernunft befähigt, die Offenbarung zu vernehmen. Vom ersten und vielleicht noch zweifelnden Vernehmen bis hin zur tätigen Verwandlung des eigenen Seins ist die göttliche Offenbarung und menschliches Vernehmen untrennbar vereint.690 Das menschliche Vernehmen ist das Vermögen eines aktiven »Mit-Vollziehens«691. Offenbarung ist folglich explizit nicht als ein potentiell passives Hinnehmen, im Sinne einer unver­ standenen und fremdplatzierten Mitteilung im Menschen verstanden, sondern beinhaltet auf Seiten der menschlichen Vernunft als Mit-

684 Wald, Berthold, Philosophie im Studium der Theologie. Theologie betreiben, Pader­ born 2001, 8. 685 Das Verständnis von Philosophie und Theologie ist in keiner Weise monolithisch. Weder innerhalb der Philosophie noch innerhalb der Theologie ist das Verhältnis zu einem je anderen Fach unumstritten, was in der Theologie beispielhaft an den unter­ schiedlichen Ansätzen von Hans Urs von Balthasar und Karl Rahner deutlich wird. 686 Welte, Bernhard, Gesammelte Schriften. Zur Vorgehensweise der Theologie und zu ihrer jüngeren Geschichte; IV/3, Freiburg in Breisgau 2007, 144. 687 Rahner, Karl, Sämtliche Werke. Hörer des Wortes, Bd. 4, Freiburg in Breisgau 1997. 688 Wie zuvor angedeutet ist der hier präsentiere transzendentaltheologische Ansatz von Rahner nicht die einzig mögliche Art, das Verhältnis von Theologie und Philoso­ phie zu bestimmen. 689 Welte, Zur Vorgehensweise der Theologie, 144. 690 Vgl. ebd. 146f. 691 Ebd. 148.

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Vollziehen und Vernehmenkönnen das Vermögen, die Offenbarung aktiv nachzuvollziehen und anzunehmen.692 Das postulierte Faktum der Offenbarung Gottes in Jesus ist folglich mehr als nur ein »reines und unkonstruierbares Positivum und Faktum«693, welches sich oberhalb der Vernunft- und somit außerhalb der Philosophiekompetenz befindet. Ebenso gehört not­ wendig zur Offenbarung auch die Dimension des Vernehmens jener unüberbietbaren Mitteilung Gottes im Sinne der Vernunft und des Mitvollzuges durch den menschlichen Adressaten hinzu. Aufgrund jenes Doppelaspekts der Offenbarung manifestiert sich die Notwen­ digkeit der philosophischen Dimension theologischer Arbeit: »Dann ist es die Sache und Funktion solcher Philosophie, d. h. nun solcher Auslegung des Seins und des ihm Zustehenden, das je schon verstandene Sein auf die ihm zugehörenden Möglichkeiten des ver­ stehenden Mitvollzuges der Offenbarung hin auszulegen, also diese Möglichkeiten herauszulegen aus dem Grund des Seinsverständnisses, und damit aus dem Schoße der menschlichen Vernunft.«694

Theologie und Philosophie können folglich als besonders »innerlich verbunden«695 beschrieben werden, auch da beide die ganz große Frage nach dem »Wissen, Sollen und Hoffen, kurz: dem Leben der Menschen als Wahrheitsfrage«696 stellen. Gleichzeitig bleiben die Fächer aber fundamental unterschiedlich, da die Theologie genannte große Fragen immer in Bezug auf Gott, der sich durch Jesus Christus eschatologisch als er selbst offenbart hat, bearbeitet. Die Philosophie dagegen hält sich die Wahrhaftigkeit des Evangeliums explizit offen. Das heißt im Gegenzug nicht, dass die Theologie der Philosophie die Kompetenz in Bezug auf die Gottesfrage abspricht, genauso wenig wie es bedeutet, dass die Theologie die Vernunft als Quelle der Gotteserkenntnis von sich weist. Vielmehr muss sie eine Antwort auf die Frage finden, »zu welcher Gotteserkenntnis sie die Vernunft

692 Vgl. ebd. Bernhard Welte spricht hier zugespitzt davon, dass der Mensch diesbe­ züglich eben kein von Gott besprochenes Tonband ist. 693 Ebd. 144. 694 Ebd. 149f. 695 Söding, Thomas, »Phänomenologie als Herausforderung der Theologie. Versuch einer Antwort vom Neuen Testament aus«, in: Klaus Held/Ders. (Hg.), Phänomeno­ logie und Theologie, Breisgau 2009, 28–51, hier: 30. 696 Söding, »Phänomenologie als Herausforderung der Theologie«, 30.

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in der Lage sieht und zu welcher die Christusoffenbarung führt.«697. Entscheidend zu beachten ist, dass eine grundsätzliche Abweisung der Philosophie von Seiten der Theologie nicht etwa zu einer »sauberreinen« Botschaft Gottes führen würde, sondern sich die Theologie das Risiko einer aus dem Zeitgeist gespeisten Fehldeutung aussetzen würde, die sich als »menschliche Gestalt der Glaubensbotschaft, in der viel unbedachtes Menschliches, allzu Menschliches vielleicht«698 vorhanden wäre, manifestieren würde.699 Aufgrund dieser argumen­ tativen Verantwortung muss die Theologie offen für eine rationale Analyse sein. Sie muss Interesse an der Philosophie haben, da ihr Glaube ohne vernünftige Argumente gegenüber anderen keine echte »Rechenschaft [...] über die Hoffnung, die euch erfüllt« (1 Petr. 3,15) garantieren kann und folglich in der Verbreitung zur Propaganda würde.700 Ebenso hat auch die Philosophie eine gute Partnerin in der Theologie, da diese im Gespräch nicht nur die Vernunft betont, son­ dern sie von einem inhaltlichen Glauben her füllt, den die Philosophie inhärent lediglich postulieren, nicht aber mit eigener Anschauung füllen darf, da sie sonst zur Religion werden würde. Durch die Existenz der Theologie hat die Philosophie die Möglichkeit, »die Logik, den Erfahrungsschatz, die Gottesrede des Christentums zu prüfen und die Gottesfrage zu diskutieren«701. Und das ohne den Zwang, jene Anschauung, welche die Fragen erst hervorrufen, selbst hervorbrin­ gen zu müssen.702 Im Rahmen der Theologie zeigt sich das auch nochmal speziell bei der Moraltheologie. Diesbezüglich formuliert Dietmar Mieth: »Wenn Ethik als Reflexionswissenschaft ihre Arbeit beginnt, beglei­ ten sich Philosophie und (christliche) Theologie auf weiten Strecken unterschiedslos. Unterschiede entstehen freilich durch verschiedene theoretische Ansätze, die sowohl in der philosophischen als auch in der theologischen Ethik variieren.«703

Ebd. Welte, Zur Vorgehensweise der Theologie, 152. 699 Vgl. Wald, Philosophie im Studium der Theologie, 30. 700 Vgl. Söding, »Phänomenologie als Herausforderung der Theologie«, 31. 701 Söding, »Phänomenologie als Herausforderung der Theologie«, 33. 702 Vgl. ebd. 703 Bobbert, Monika/Mieth, Dietmar, Das Proprium der christlichen Ethik. Zur moralischen Perspektive der Religion, Luzern 2015, 114f. 697

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Somit gilt für die Moraltheologie, wie bereits in Kapitel 1 formuliert, dass der Philosophie die Aufgabe der Normenbegründung zukommt und die genuin theologische Aufgabe der Rückgriff auf Inhalte der Offenbarung ist, welcher das philosophische Ergebnis in einem Sinn­ horizont vertiefend informiert, erweitert und stimuliert. Alfons Auer spricht in diesem Zusammenhang von der »neuen Motivation des Sittlichen«704 Hinsichtlich der Frage nach der allgemeinen Kompati­ bilität von Philosophie und Theologie sind die Postulate, wie etwa eine vorausgehende Definition des Menschen- beziehungsweise Weltbil­ des entscheidend. Es gibt daher philosophisch-ethische Ansätze, die sich intrinsisch ausschließen und jene, denen eine entsprechende Offenheit inhärent ist, was letztlich dazu führt, dass diese problemlos mit theologischer Ethik produktiv vereinbar sind.705 Zu letzterer Gattung philosophischen Ansatzes gehört die, auch hier referenzierte, Phänomenologie. Als Lehre von den Erscheinun­ gen beschreibt sie Phänomene und versucht mit Hilfe der Methode der vorreflexiven Wahrnehmung, deren gemeinsamen Ursprung zu ergründen. Der phänomenologische Ansatz vermittelt zwischen den einseitigen Perspektiven des Intellektualismus und des Empirismus und orientiert sich am Ziel der Reduktion im Sinne eines eindringen­ den Zurückgehens »auf die Sache selbst«706. Die Phänomenologie ist genuin also eine nichtethische Disziplin, was sie initial fern der Moraltheologie positioniert, aber aufgrund der obig geforderten Offenheit potentiell-kompatibel mit der Theologie im Allgemeinen und damit letztlich auch wieder mit der Moraltheologie im Spezi­ ellen macht. Die Theologie im Allgemeinen stellt demgegenüber, wie bereits beschrieben, nicht die vorreflexive Beschreibung des Phänomens, des Seins oder der Wahrnehmung (s. Kapitel 4) in den Mittelpunkt ihrer Erkenntnissuche, sondern sie behandelt kritisch die Auer, Autonome Moral und christlicher Glauben, 63. Vgl. Bobbert/Mieth, Das Proprium der christlichen Ethik, 118. 706 Ursprünglich stammt der Ruf »Wir wollen auf die ›Sachen selbst‹ zurückgehen« (Husserl, Edmund, Husserliana: Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersu­ chungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis., Bd. 19 I, herausgegeben von Ursula Panzer, Den Haag 21984, 10) von Husserl und wurde von Merleau-Ponty und Heidegger – wie in Kapitel 4 beschrieben – unterschiedlich aufgegriffen und weiterverarbeitet. Entscheidende Gemeinsamkeiten vieler Phänomenologen ist der Wunsch, die Subjekt-Objekt-Spaltung nach Descartes zu lösen und zentraler Unter­ schied ist, dass viele (inoffizielle) Schüler von Husserl seine Nähe zum – von ihm initial kritisierten – Intellektualismus nicht überzeugend fanden. 704 705

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Möglichkeit auf Hoffnung im Sinne des in der jüdisch-christlichen Bibel bezeugten lebendigen Gottes und seiner Offenbarung in Jesus Christus. Die Theologie arbeitet insofern mit einer bereits inhaltlich angereicherten Hermeneutik, die auf bestimmten Postulaten ruht, wohingegen die Phänomenologie sich in ihrer Urfassung von jegli­ chem metaphysischen und normativen Gehalt distanziert. Neben diesen fundamentalen Unterschieden sind beiden Wissenschaften allerdings die, bereits auf der Ebene der Philosophie beschriebenen, Gemeinsamkeiten inhärent, wie zum Beispiel die ganzheitliche Wirk­ lichkeitsperspektive und den universalen Wahrheitsanspruch. Die Erwartungen der Theologie an die Phänomenologie sind im Gegen­ satz zu denen innerhalb des bereits betrachteten Philosophie-Theo­ logie-Verhältnisses wesentlich spezifischer motiviert: Gemeinsam ist den Fächern – innerhalb des hier beschriebene Ansatzes – der universale Wahrheitsanspruch, eine transzendental-philosophische Begründung und zudem weiß die Theologie in der Phänomenolo­ gie eine verlässliche Partnerin gegen eine materialistisch-motivierte Infragestellung der Transzendenz, wie sich in den natürlich ineinander fügenden Ergebnissen der Leibforschung bereits angedeutet hat.707 Phänomenologie ist mehr als das alltägliche Verständnis im Sinne einer Erfassung und Beschreibung von konkret erlebten Phäno­ menen. Eher ist das philosophische Programm Husserls Phänomeno­ logie ein theoriekritisches, welches cartesianisch auf den Anfang zielt und an der neuzeitlichen wissenschaftlichen Theoriebildung Kritik übt.708 Es geht nicht um eine primitive Betrachtung der konkreten Erscheinung, sondern um die bewusste Offenlassung der Seinsfrage, also die Enthaltung eines Urteils im Sinne der »Epoché«. Das Ziel der Phänomenologie besteht darin, als Vernunftkritik selbstverständliche Überzeugungen neu zu hinterfragen und herauszufinden, was »sich zeigt im Erleben als Erleben«709. Im Rahmen dieses Verständnisses 707 Vgl. Söding, »Phänomenologie als Herausforderung der Theologie«, 34f. Die Opposition der Phänomenologie in Bezug auf Verabsolutierungen von sowohl mate­ rialistischer als auch intellektualistischer Lesarten wurde bereits in Kapitel 4.1 und 4.2 gezeigt. Darüber hinaus drängt sich hier die spannende – aber im Rahmen dieser Arbeit nicht relevante – Frage auf, ob der Glaubensakt als solcher als Gegenstand der phänomenologischen Analyse erfasst werden kann. 708 Vgl. Track, Joachim, »Theologie als Phänomenologie?«, in: Guido Bausenhart u.a. (Hg.), Phänomenologie und Theologie im Gespräch. Impulse von Bernhard Welte und Klaus Hemmerle, Breisgau 2013, 474–515, hier: 479. 709 Track, »Theologie als Phänomenologie?«, 479.

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bezieht sie das individuelle Bewusstsein auf die transzendentale Subjektivität bzw. das Sein oder die Wahrnehmung, nimmt die Erfah­ rung des wahrnehmenden einzelnen Subjekts ernst und spiegelt ein Grundmoment der Theologie:710 »Der Anspruch der Phänomenologie, die transzendentale Subjektivität in ihrer das Bewusstsein und sein Weltverständnis konstituierenden Kraft zu analysieren, ist eine Analogie zum Anspruch der Theologie, Aussagen über Gottes Geist in seiner Mensch und Welt konstituieren­ den Kraft zu treffen.«711

Die phänomenologische Methode kann der Theologie helfen, das Verhältnis bezüglich des Gegenstands ihres Denkens – und folglich der Wechselwirkung zwischen Glaubensgegenstand und Glaubens­ grund – zu erhellen.712 Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass sowohl Theologie und Philosophie als erst recht auch Theologie und Phä­ nomenologie einander befruchtende Fachpartnerinnen sein können. Bernhard Welte schreibt der Philosophie diesbezüglich eine Doppel­ rolle zu: »So wird die Philosophie in der Nüchternheit eigenständigen Fra­ gens um des Glaubens willen kritisch sich der Gestalt des Glaubens gegenüberstellen dürfen und müssen und eben darin wie eine Herrin erscheinen. Aber sie wird gleichzeitig als Philosophie in der Theologie, und darum immer im Glauben hörend eine Herrin sein, bereit, ihre Position sich auch bestreiten zu lassen, sie wird sich unter das Gericht der einfach vernommenen Botschaft der Offenbarung stellen, der sie ja zugleich zu dienen angetreten ist. Und darin wird sie immer die Untergebene sein, die ancilla.«713

In Bezug auf die Phänomenologie ist jene, im Anschluss an Kants Magd-Entgegnung,714 versöhnliche Formulierung Weltes der Magd-/Herrin-Rolle ebenso übertragbar.

Söding, »Phänomenologie als Herausforderung der Theologie«, 34f. Ebd. 35. 712 Vgl. ebd. Beispiele für ein fruchtbares Zusammenspiel von Phänomenologie und Theologie finden sich zum Beispiel in den Schriften von Emmanuel Lewinas, Paul Ricœur und Edith Stein. 713 Welte, Zur Vorgehensweise der Theologie, 150. 714 Bezugnehmend auf Äußerung aus der Theologie, dass die Philosophie lediglich ihre Magd sei, entgegnete Kant: »wobei doch noch immer die Frage bleibt: ob diese 710

711

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5.1 Zur Kompatibilität von Phänomenologie und Theologie

Diese Erkenntnis bezogen auf das vorliegende Thema bedeu­ tet, dass in Anbetracht der Herausforderungen wachsender digitaler Mediatisierung eine »reine« theologische Bearbeitung allgemein und der theologische Grundbegriff des Leibes speziell an ihre Grenzen kommen würden. Die Angemessenheit der traditionellen Grundbe­ griffe wird angesichts des behandelten Themas nicht etwa fraglich, weil der theologische Begriff des Leibes intrinsisch grundsätzlich defi­ zitär wäre, sondern weil sie angesichts der adäquaten Bewertung der aktuellen Entwicklung von digitaler Mediatisierung nicht ausreichen und eben jener obig referierten kritischen Befruchtung durch die Philosophie bedürfen. Die Phänomenologie leistet in diesem Zusam­ menhang eine die Grundbegriffe der Theologie kritisch anleitende und schärfende Funktion, was besonders in der terminologischen Trennung von Körper und Leib deutlich wird. Im Gegenzug wird darüber hinaus der Leib aus theologischer Perspektive bewertet und sinnhaft auf eine Weise in Bezug zur Offenbarung eingeordnet, welcher der Phänomenologie aufgrund der intrinsischen Facheigen­ schaften inhärent unmöglich ist.715

5.1.2 (Neue) Phänomenologie, Metaphysik und das Seelenproblem Nachdem der grundsätzliche Verhältnisrahmen der Wissenschaften von Theologie und Phänomenologie geklärt wurde, ist darüber hinaus eine Einordnung bezüglich des Verhältnisses der einzelnen Gedan­ kenkonstrukte notwendig. Konkret stellt sich die Frage, inwiefern ein aristotelischer bzw. thomanischer Hylemorphismus, symboltheo­ logische Überlegungen Rahners und die unterschiedlichen phänome­ ihrer gnädigen Frau die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt« (SF, AA 07: 290. 09–10). 715 Eine solche angebliche »theologische Wende« innerhalb der französischen Phänomenologie wurde von Dominique Janicaud in seinem Werk »Le tournant théologique de la phénoménologie française« von 1991 diagnostiziert, in welchem er unter anderem Jean Luc Marion, Michel Henry und Emmanuel Levinas vorwarf, über das unmittelbar Erscheinende methodisch hinauszugehen und sich dem Unsichtbaren, also Transzendenzvorstellungen aus der christlicher Theologie, zu öffnen. Seine Kritik zielte auf eine angebliche Aufwertung der Metaphysik, welche die Phänomenologie als reine Wissenschaft aber zu dekonstruierten hätte (vgl. Eckholt, Margit, »Eine theologische Wende? Entwicklung in der französischen Philosophie«, in: Herder Korrespondenz 50 (1996), 261–266, hier: 261).

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nologischen Ansätze von Schmitz und Merleau-Ponty kompatibel sein können. Auf den ersten Blick erscheint die Aufgabe wenig sinnvoll: Sowohl Thomas, Rahner, Merleau-Ponty als auch Schmitz haben, wenn auch mit unterschiedlicher Fokussierung, die Leiblich­ keit des Menschen zum Thema. Trotzdem ist es – ähnlich wie im vorangehenden Kapitel – in Bezug auf methodische Transparenz unumgänglich, die verschiedenen Denktraditionen von Neuer bzw. »alter« Phänomenologie sowie Metaphysik miteinander zu verglei­ chen und sich der assoziativ angenommenen Kompatibilität grund­ sätzlich zu versichern. Hierzu ist es notwendig, die strukturellen Grundgerüste der verschiedenen Fachbereiche von jeglicher den Leib betreffenden inhaltlichen Schicht freizulegen und jene »nackten« Strukturgerüste auf ihre wechselseitige Vereinbarkeit zu prüfen. Dies wird zuerst vollzogen. Darüber hinaus manifestiert sich im Vergleich der Phänomenologietraditionen eine spezifische Problematik bezüg­ lich des Seelenbegriffs. Dieser spielt innerhalb des – durch Aristoteles und Thomas beeinflussten – theologischen Konzeptes von Rahner eine zentrale Rolle, wohingegen der späte Schmitz diesen vehement verwirft. Nachdem also die allgemeine Kompatibilität der Neuen, bzw. »alten« Phänomenologie und Metaphysik geklärt wurde, soll anschließend das spezifische Problem der unterschiedlichen Seelever­ ständnisse thematisiert und – trotz der anfänglichen Widersprüche – auf eine mögliche Vereinbarkeit geprüft werden.

(Neue) Phänomenologie und Metaphysik Der Altersunterschied der angenommen-kompatiblen Gedankenkon­ strukte erstreckt sich über mehr als 2000 Jahre. Das älteste hier ver­ wendete ist der Hylemorphismus: Losgelöst von jeglichem anthro­ pologischen Leib- und Seelebezug wird seine substanzontologische Form-Materie-Grundstruktur offenkundig: Nach Aristoteles bezie­ hungsweise Thomas besteht alle Substanz aus Materie und Form, die ihre jeweiligen Entsprechungen in Potenz beziehungsweise Akt findet. Keiner der genannten Aspekte ist für sich existent, sondern tritt erst in gemeinsamer Einheit als Substanz auf. Materie als expli­ zit ungeformte Bestimmungslosigkeit (materia prima) existiert erst

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durch die Formgebung des Aktes (causa formalis) als Substanz und untrennbare Einheit.716 Als zweites sei auf das ontologische Symbolverständnis von Rah­ ner hingewiesen. Dieses wird in dem ersten Satz seiner Symboltheorie »das Seiende ist von sich selbst her notwendig symbolisch, weil es sich notwendig ›ausdrückt‹, um sein eigenes Wesen zu finden«717 und ebenso in seinem zweiten Satz: »Das eigentliche Symbol (Realsym­ bol) ist der zur Wesenskonstitution gehörende Selbstvollzug eines Seienden im anderen«718 besonders deutlich, sei aber hier in aller Kürze nochmals dargelegt. Folglich teilt das Symbolisierte die eigene Wirklichkeit an das Symbol mit, die so erst vollständig wird. Das Sym­ bol ist deshalb nicht nur Zeichen, sondern Realsymbol, weil es nicht extern hinzukommt, sondern in seinem Ausdruck die repräsentierte Wirklichkeit erst vollendet. Der realsymbolische Ausdruck enthält bereits einen Teil der auszudrückenden Wirklichkeit und ist – im Gegensatz zum Zeichen – nicht entfernbar, ohne die Vollständigkeit der ausgedrückten Wirklichkeit des Seienden zu kompromittieren. Somit kann erst im realsymbolischen Ausdruck das Seiende sich ohne Abstriche kundtun.719 Wie bereits in Kapitel 4.3 referiert, demonstriert Rahner die Kompatibilität zwischen ontologischem Hylemorphismus und for­ malontologischem Symbolverständnis bereits selbst, und zwar in seiner Theologie des Symbols im Zuge der Anwendung des thoma­ nisch-anthropologischen Hylemorphismus. In diesem Sinne ist die untrennbare Einheit der Substanz das Realsymbol des Seienden, welches durch die Formgebung der Materie aus dem Substanzgrund erfließend entsteht (Resultanz). Der Substanzgrund ist erst durch den Akt der Formgebung der Materie in der Substanz des Seien­ den als Realsymbol vollständig gegeben. Weder Form noch Materie bestehen für sich selbst, sondern erst in der Komposition entsteht die realsymbolische Substanz, welche das vollständige Kundtun des Seienden konstituiert.720 Nachdem nun die Möglichkeit der ontologischen Zusammen­ führung von Hylemorphismus und Symboltheologie dargelegt 716 Vgl. Mörschel, Ulrike, »Form/Materie. I. Antike Voraussetzungen«, in: Lexikon des Mittelalters 4 (1989), 636–644, hier: 642. 717 Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 427. 718 Ebd. 289. 719 Vgl. ebd. 286f. 720 Vgl. ebd. 287f.

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wurde, stellt sich abschließend die Frage nach dem diesbezüglichen Verhältnis zur hier verwendeten Phänomenologie von Maurice Mer­ leau-Ponty und Hermann Schmitz. Wie bereits festgehalten, ist die Grundstruktur von Phänomenologie – in ihrer gesamten Mannig­ faltigkeit (s. Kapitel 4) – und jeglicher Form von metaphysischer Substanzontologie grundsätzlich unterschiedlich. Die Phänomenolo­ gie setzt explizit keine theoretischen Postulate, wie etwa den Begriff der Form, des Aktes oder der Substanz, sondern beschäftigt sich zual­ lererst mit den unmittelbaren Erscheinungen, also mit der ursprüng­ lichen Welterfahrung. Merleau-Ponty schreibt diesbezüglich: »Das Universum der Wissenschaft gründet als Ganzes auf dem Boden der Lebenswelt, und wollen wir die Wissenschaft selbst in Strenge denken, ihren Sinn und ihre Tragweite genau ermessen, so gilt es allem voran, auf jene Welterfahrung zurückzugehen, deren bloß sekundärer Ausdruck die Wissenschaft bleibt.«721

Schmitz ergänzt den von Husserl geprägten und von Merleau-Ponty als primordial weiterentwickelten Begriff der »Lebenswelt«722 durch die Beschreibung der »unwillkürlichen Lebenserfahrung«723, welche er bestimmt als »was Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben. Die unwillkürliche Lebenserfah­ rung ist die letzte Instanz für alle Rechtfertigung von Behauptungen; jede andere Rechtfertigung beruht auf einer Konstruktion, die bei Belieben in Zweifel gezogen werden kann«724. Als Vertreter und Begründer der sogenannten »Neuen Phänomenologie« schreibt er in Abgrenzung zur älteren Phänomenologie: »Die ältere Phänomenologie wählt als Phänomene geradezu Sachen, ›was sich zeigt‹ (Heidegger), die ›Sachen selbst‹, unvoreingenommen beschaut (Husserl). Aber eine Sache kommt immer nur in einer Per­ spektive vor, im Licht der verwendeten Sprache und des geschichtlich geprägten Vorrats an Gesichtspunkten oder Hinsichten, unter denen etwas als Fall von etwas verstanden werden kann. Von sich aus ist das, was sich zeigt, vieldeutig, weil auf viele Perspektiven beziehbar.«725

Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 4. Ebd. 80. 723 Schmitz, Hermann, Kurze Einführung in die neue Phänomenologie, Freiburg im Breisgau 22010, 13. 724 Ebd. 725 Ebd. 721

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Folglich bezieht Schmitz nicht nur Stellung gegen die nicht thema­ tisierten Postulate der Wissenschaften, sondern er kritisiert selbst die vorausgehenden phänomenologischen Ansätze als zu sehr von der je eigenen Geschichte und somit unterschiedlichen Perspektive beeinflusst. Schmitz steigert Husserls »Reduktion«726 weiter durch die »phänomenologische Revision«727, welche das Phänomen doppelt – in zeitlicher und objektiver Gültigkeit – relativiert.728 Weiter grenzt er seine Philosophie explizit anhand des Leibverständnisses von Merleau-Ponty ab. Wo dieser zwischen Empirismus und Intellektua­ lismus vermittelt und schlussendlich Phänomenologie als die Krisen­ lösung und vorreflexive Wahrnehmung und somit den Leib als zen­ tralen Erkenntnis- und Analysegegenstand ausmacht,729 beschreibt Schmitz seine Philosophie davon distanzierend wie folgt: »Es gibt in der Tat neuerdings viele Philosophen, die sich mit dem Leib beschäftigen. Der bekannteste ist Merleau-Ponty, der übrigens nicht Leib sagt, sondern corps, was eigentlich mit Körper zu überset­ zen wäre. Denn dieser corps von Merleau-Ponty hat Lungen, Nägel und Muskeln. Es ist der physische Körper, der aber aufgerüstet ist durch ein gewisses Lebendigsein gegenüber dem bloßen naturwissen­ schaftlichen Abstraktionsprodukt eines menschlichen Körpers – wobei nicht ganz klar ist, was das eigentlich ist. Der Unterschied meines Ansatzes zu dem von Merleau-Ponty ist der, dass bei mir der Leib ein Gegenstand eigener Art ist, etwas anderes als der Menschenkörper. Der Menschenkörper ist ein Ding mit steter Dauer und festem Umriss und nach Lagen und Abständen überall bestimmt durch relative Orte. Der spürbare Leib ist dagegen alles das, was man in den Grenzen des eigenen Körpers von sich selbst als zu sich selbst gehörig spürt

Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, 124. Schmitz, Einführung in die neue Phänomenologie, 12. Aus der Anwendung der phänomenologischen Revision gelangt er zu dem Phänomenverständnis der Neuen Phänomenologie: »Zu ihrer Behandlung bietet dieses die Methode der phänome­ nologischen Revision an, möglichst viel undurchsichtigen Glauben zu bestimmten Annahmen zu machen und diese an der Frage zu prüfen: Welchem zur Annahme anstehenden Sachverhalt kann ich nicht im Ernst (guten Glaubens) das Zugeständnis verweigern, dass es sich um eine Tatsache handelt? Was dieser Prüfung standhält, ist dann für mich ein Phänomen. Die Definition des Phänomens im Sinne der Neuen Phänomenologie lautet also: Phänomen für jemand zu einer Zeit ist ein Sachverhalt, dem der Betreffende dann nicht im Ernst den Glauben verweigern kann, dass es sich um eine Tatsache handelt« (ebd.). 728 Vgl. ebd. 12f. 729 Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 80. 726

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und zwar ohne sich der Sinne zu bedienen. Das ist diese Vorstellung von Spüren, die in meinem Ansatz wichtig ist. Dazu gehören erstens alle leiblichen Regungen wie Angst, Schmerz, Wollust, Ekel oder Müdigkeit, zweitens alles spontane Ergriffensein von Gefühlen und drittens das spürbare Eingreifen und das Laufen, soweit es am eigenen Leibe spürbar ist.«730

Ob diese Abgrenzung die Namensgebung der »Neuen« Phänomeno­ logie hinreichend begründet, darf – angesichts der offensichtlichen Bezüge auf die »alte« Phänomenologie und deren Weiterverarbeitung – angefragt werden. Ohne Zweifel wird aber angesichts obiger Äuße­ rung der Unterschied beider Denker, der unter anderem gleichzeitig Grund für die Auswahl ist, nochmals deutlich. Schmitz geht in seiner Arbeit einen Schritt über die traditionelle Trennung von Körper und Leib hinaus, indem er diese als zwei genuin getrennte Entitäten pos­ tuliert (s. Kapitel 4.2.2) und schafft somit vertiefende Begriffsklarheit bezüglich der Bestimmung des »Hier und Jetzt« des Menschen. Eine fundamentale Gemeinsamkeit ist die Ablehnung von metaphysischer Spekulation. Schmitz schreibt diesbezüglich beinahe hämisch, dass »der spekulativ konstruierende Philosoph [mit] einem abenteuernden Ritter vergleichbar«731 sei. Unabhängig von der Schärfe dieser Konstruktionsablehnung stellt jene Haltung hinsicht­ lich metaphysischer Postulate und der damit einhergehenden Priori­ sierung der eigenen Welt- und Lebenserfahrung wieder eine Gemein­ samkeit von Merleau-Ponty und Schmitz dar und verweist darüber hinaus auf Husserls Einfluss, der seine philosophische Schöpfung als explizit »antimetaphysisch«732 bezeichnete. Im Rückgriff auf das vorangehende Unterkapitel gilt in Bezug auf die Arbeitsweise der Theologie, dass nicht jede Form von Philosophie mit ihr kompatibel sein kann, da dies von den jeweils vorausgehenden Annahmen abhängig ist. Die Arbeit der Theologie ist – zugespitzt ausgedrückt- Metaphysik mit theologischen Axiomen (Offenbarung Gottes in Jesus von Nazareth z. B).733 Folglich wurde somit die Schmitz/Brenner, »Die neue Phänomenologie«. Schmitz, Einführung in die neue Phänomenologie, 9. 732 Husserl, Edmund, Husserliana: Phänomenologische Philosophie, Bd. 9, herausge­ ben von Walter Biemel, Den Haag 21962, 253. 733 Max Seckler beschreibt in seinem gleichnamigen Artikel Theologie als Glaubens­ wissenschaft (vgl. Seckler, Max, »Theologie als Glaubenswissenschaft«, in: Walter Kern u.a. (Hg.), Handbuch der Fundamentaltheologie. Traktat Offenbarung, Bd. 2, Tübingen und Basel 22000, 131–148) und charakterisiert diese im Sinne einer »kriti­ 730 731

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formale Vereinbarkeit von Phänomenologie und Theologie aufgrund der Offenheit der Phänomenologie festgestellt. Dies gilt – trotz aller zum Teil polemischen Abgrenzung zur metaphysischen Methode – explizit auch für die Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty und, aufgrund der radikaleren Ablehnung jeglicher Vorannahmen, erst recht für die Arbeit von Hermann Schmitz. Denn auch wenn die Arbeit an den unmittelbaren Erscheinungen grundsätzlich anders als das systematisch-spekulative Nachdenken über das Sein ist, so stehen beide Ansätze auf formaler Ebene nicht im Widerspruch zueinander. Daher darf als Zwischenfazit formuliert werden, dass die Theologie des Symbols von Rahner, welche den thomanischen Hylemorphis­ mus beinhaltet, mit den phänomenologischen Erkenntnissen von Merleau-Ponty und Schmitz auf struktureller beziehungsweise for­ mal-ontologischer Ebene grundsätzlich dialogfähig ist. Hinsichtlich der obigen Betrachtung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten der philosophischen Bemühungen von MerleauPonty und Schmitz fällt die gemeinsame Opposition gegen Verabsolu­ tierung von erkenntnistheoretischen Radikalisierungen auf. In seiner Reaktion auf die Erkenntnistheorien von Empirismus und Intellek­ tualismus bezeichnet Merleau-Ponty diese Ansätze nicht als inhärent falsch, sondern betont, dass sie kein Monopol auf Erkenntnisgewinn besitzen und aufgrund ihrer strukturellen Einseitigkeiten zu kurz greifen.734 Auch Schmitz äußert sich ähnlich hinsichtlich der potenti­

schen Normwissenschaft« (ebd. 178). Der Auftrag der Theologie sei sowohl selbstals auch weltkritisch und »nicht die theoretische Spiegelung des faktisch Vorfindbaren oder des soziographisch Geltenden in Sachen des Glaubens, sondern die Reinheit des Glaubens und die puritas Evangelii nach Maßgabe ihrer kritisch-normativen Einsichten« (ebd.). Sie muss also prüfen, was zum Glauben gehört und was nicht. Entscheidend nach Seckler ist somit ihre »sach- und ideologiekritische Funktion« (ebd. 179), die sich dadurch zeigen, dass die Theologie nicht extern an den Gegenstand des Glaubens herantritt, sondern aus diesem selbst die Normen entnimmt. Sie misst »die geschichtlichen Figuren des Glaubens, der Glaubenszeugnisse und der Glaubensverwirklichungen an dem […], was in ihnen als ihr Grund, ihre norma suprema, sich zeigt« (ebd.). Diese Unabhängigkeit der Theologie führt dann auch zu einem produktiven Verhältnis zur Kirche. Seckler nennt dies den »kritischen und normativen Selbststand« (ebd.) der Theologie: »Aus der Logik ihrer strukturellen Kirchlichkeit ist deshalb keineswegs zwangsläufig eine strukturelle Unmündigkeit oder gar ein Funktionärsstatus abzuleiten. Aber dafür muss angenommen werden, dass Evangelium und Glaube ihre kritische Potenz auch in die Arbeit der Theologie hinein freisetzen können und dürfen« (ebd.). 734 Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 49f.

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ellen Übermacht der Naturwissenschaft.735 Diesbezüglich formuliert er eine scharfe Kritik an der Deutungshoheit des Physikalismus und Psychologismus, welche ihn zu der Ablehnung des Seelenbegriffs führt. Daher sei seine diesbezügliche Kritik an der etwas umständ­ lich klingenden »psychologistisch-reduktionistisch-introjektionisti­ sche[n] Denkweise«736 folgend referiert und anschließend auf die obig angedeutete Seelenproblematik eingegangen.

Seele und Physiologismus »Nach Platon ist der Körper Grab oder Gefängnis der Seele, aber der schlagfertige Witz vom Anatomen, der bekennt, er habe schon viele Körper seziert, aber noch nie eine Seele gefunden, könnte ihn eines Besseren belehren. Die Platzbestimmung des Menschen durch seinen Körper trifft also zwar auf den ersten Blick schlagend und reicht für den Alltagsgebrauch, schafft aber mehr Verwirrung als Klarheit, wenn geprüft wird, ob wirklich er selbst an diesem Platz unterkommt.«737

Mit diesem Zitat aus der Einleitung des zweiten Teils der Systematik der Philosophie offenbart Schmitz initial seine Haltung gegenüber dem Begriff der Seele. Schmitz ist der Auffassung, dass seit den Schriften von Demokrit und Platon die Auffassung einer natürlichen Ganzheitlichkeit des Menschen zerstört wurde, da diese jegliche Form von Leiblichkeit in ihren Schriften ignorierten. Durch die Einteilung in Körper und Seele sei der dynamische Zusammenhang des zuvor beschriebenen Prozessgefüges der Personenentfaltung (s. Kapitel 4.2.1), welches vom leiblich-affektiven Betroffensein abhängig ist, negiert worden.738 Demokrit und Platon verschöben demnach alles Erleben des Bewussthabers in die abgeschottete private Innenwelt des Menschen, die sie Seele nennen. Die Seele sei somit ein Haus, in welchem durch die Vernunft vom Oberstockwerk aus die nichtwill­ kürlichen Regungen im unteren Stockwerk kontrolliert werden. Diese Innenwelt sei ausschließlich durch die Sinnesorgane zugänglich und werde von da aus an die Vernunft bzw. den Verstand weitergeleitet. Diese Konzeption von Anthropologie kritisiert Schmitz als »verschro­ Vgl. Schmitz, Hermann, »Naturwissenschaft und Phänomenologie«, in: EWE, 2 (2004), 147–154. 736 Schmitz, Husserl und Heidegger, 75. 737 Schmitz, Der Leib, 1. 738 Vgl. ebd. 77. 735

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ben«739 und konstatiert, dass diese in einem unvergleichbaren Sie­ geszug »das private und öffentliche menschliche Selbstverständnis weitgehend kolonisiert«740 habe, was selbst in aktuellen materialisti­ schen Bestrebungen, die Seele durch das Körperteil des Gehirns zu ersetzten, aufgewiesen werden könne.741 Dieses Selbstverständnis des Menschen im Sinne von Schichten sei seit dem 5. Jahrhundert vor Christus nachzuweisen. Wo in Homers Ilias der Mensch noch in seiner Ganzheit betrachtet wurde, entfal­ tete sich nahezu unaufhaltsam beginnend mit Platons Phaidros das Leitbild des Menschen, welches durch die »Zusammensetzung aus scharf gegeneinander abgegrenzten, übereinander aufgeschichteten Bereichen«742 – namentlich Körper und Seele – bestimmt wurde. Für die Ausbreitung dieser Schichtenbetrachtung macht Schmitz drei Motive aus: die Selbstermächtigung des Menschen als mündige Per­ son gegen die unwillkürlichen Regungen (im Sinne einer nützlichen Pädagogik), die Objektivierung der Außenwelt und den Physiologis­ mus der Wahrnehmungslehre.743 Physiologismus stellt nach Schmitz die Tendenz dar, welche sich besonders seit der Antike ausgebildet habe, psychische Phänomene ausschließlich durch physische Zugänge zu erläutern. Schmitz bezeichnet den Physiologismus als Dogma, welches besagt, dass: »zum Menschen Informationen über den Teil der Welt, der als seine Außenwelt objektiviert ist, nur auf dem Weg über physische Reize gelangen, die von gewissen Körperteilen – namentlich den sogenann­ ten Sinnesorganen und Teilen des Nervensystems, z.B. dem Gehirn – aufgefangen und weitergeleitet werden, um schließlich durch einen mysteriösen Umformungsprozeß in die z.B. als Seele oder Bewußtsein bezeichnete Innenwelt des Menschen hinübergehoben [...] werden.«744

Diese Entwicklung bezeichnet Schmitz als »grandioses Selbstmiss­ verständnis der Menschheit«745. Die Vorstellung, dass die Wahrneh­ Ebd. Ebd. 741 Vgl. ebd. 742 Schmitz, Hermann, »Anthropologie ohne Schichten«, in: Annette Barkhaus u.a. (Hg.), Identität Leiblichkeit Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens, Frankfurt am Main 1996, 127–145, hier: 127. 743 Vgl. Schmitz, Hermann, Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik, Paderborn 1989, 291. 744 Schmitz, »Anthropologie ohne Schichten«, 128. 745 Ebd. 291. 739

740

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mung ausschließlich über Reizquellen und deren korrespondierende Sinnesorgane geschehe, und dabei die Gesamtwirklichkeit des in den vorangehenden Kapiteln beschriebenen leiblichen Erlebens igno­ riert werde, ist für Schmitz nicht akzeptabel und Grund für seine energische Kritik. Der physiologische Fehlschluss ist für ihn ein reduktives Missverständnis der Gesamtwahrnehmung. Zwar gesteht er den Sinnesorganen diesbezüglich großen Einfluss zu, aber genauso wie der Mensch Dinge höre oder sehe, nehme er auch klimatisch ausgedehnte Atmosphären – wie etwa einen Frühlingsmorgen, die Gewitterstimmung, Dunkelheit, Zeit – oder kollektive Gefühle – wie die Stimmung einer Feier oder das Grauen eines Unfalls – wahr, welche nicht einzelnen Sinnesorganen klar zugeordnet werden können.746 Diese ganzheitlichen und vielsagenden Eindrücke nennt Schmitz auch »chaotische Mannigfaltigkeit«747, in der »nicht lauter Einzelnes beisammen ist, weil nicht durchgängig feststeht, was darin womit identisch ist und wovon verschieden ist«748. Als Beispiel nennt er die Situation, in der ein Autofahrer einen drohenden Autounfall geschickt vermeidet, ohne dies bewusst zu tun. Dies gelingt, da er auf das Sehende derart leiblich eingespielt sei, dass er auch ohne Reaktionszeit entsprechend reagieren könne: »Der Sehende nimmt viel mehr wahr als er sieht«749, da er mit der Situation im Zustand der Einleibung verbunden ist.750 Diese Situationen, welche auf einen Schlag durch leibliche Kommunikation wahrgenommen werden, zer­ setzt der Physiologismus in einen objektiven und einen subjektiven Teil. Objektiv sei dabei alles in der Außenwelt, was durch die Kanäle der an der Wahrnehmung beteiligten physischen Reize und Körper­ teile transportiert werde. Dies seien Sinnesqualitäten (Farben etc.), die den entsprechenden Sinnesorganen spezifisch zugeordnet sind. Das Spezifische geht dann in der Übersetzung in elektrische Vorgänge in den Nerven verloren und müsse anschließend auf subjektiver Seite im Innenraum des Geistes bzw. der Seele rekonstruiert werden.751 Schmitz formuliert zusammenfassend seine Kritik wie folgt:

746 747 748 749 750 751

Vgl. ebd. 132. Ebd. 130. Ebd. Ebd. 131. Vgl. ebd. 132. und s. Kapitel 4.2.3. Vgl. ebd. 132.

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»Der Physiologismus ruft also den Rationalismus, von dem der Empi­ rismus bloß eine Spielart ist, zu Hilfe, damit der Zusammenhang, der durch Zersetzung der natürlichen Einheiten der Wahrnehmung, der ganzheitlichen und vielsagenden Eindrücke, verlorengegangen ist, einigermaßen wiederhergestellt werden kann.«752

Das Leitbild der Objektivierung sei der taktil und visuell validier­ bare Körper »als Substanz-Gerippe mit daran aufgehängten Akzi­ denzen«753, der als Grundlage des Identifizierens und Zählens von Gestaltmerkmalen an anderen Körpern diene. Demgegenüber setzt Schmitz den nicht reduziert wahrgenommenen – bereits obig beschrieben – körperlichen Leib »mit einem chaotisch-mannigfalti­ gen Hof der aus Sachverhalten, Programmen und Problemen beste­ henden Bedeutsamkeit«754 gleich. Jener weise Züge auf, die von der Wahrnehmungslehre des Physiologismus nicht erfasst werden können, aber die Wahrnehmung des Alltages dominieren und die Einleibung von erwähnten chaotisch-mannigfaltigen Situationen erst möglich machen. Diese Diskrepanz zwischen dem mannigfaltigen Alltagserleben und der künstlich reduzierten Wahrnehmungslehre des Physiologismus zeige sein intrinsisches Defizit. Im Sinne des Physiologismus werde alles nicht identifizier-, quantifizier- und manipulierbares Material aus der objektiven Außenwelt in die private Innenwelt der Seele oder des Geistes bewegt und mit dem Label des Subjektiven degradiert, das zwar gefühlvoll, aber dem Leibbild folgend nahezu aussagelos sei und – wie Schmitz noch überspitzt hinzufügt – in die Pflege von Dichtern, Frauen »und anderen Alibi­ funktionären«755 übergeben wird.756 Daher ist es auch nicht verwun­ derlich, dass Schmitz sich schlussendlich der Seele gegenüber mit großer Skepsis positioniert. Auffallend ist diesbezüglich aber, dass er sich in seinen frühen Schriften um die Einbindung der Seele in sein phänomenologisches Konzept des Leibes aufrichtig bemüht. Dieser frühe und bereits obig in Kapitel 4.2.2 zitierte Schmitz spricht noch ohne Scheu vom Begriff der Seele im Rahmen seiner Suchbewegung von Leiblichkeit und erlebtem Selbst.

752 753 754 755 756

Ebd. 132. Ebd. 134. Ebd. Ebd. Vgl. ebd.

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Hier beschreibt er die Seele als »ortlos«757 und nähert sich dem Begriff phänomenologisch unter anderem am Beispiel von Schwermut und Angst: Demnach sei Angst per se leiblich, da sie in primitiver Gegenwart (s. Kapitel 4.2.1) und an absoluter Örtlichkeit vorherrsche. Schwermut hingegen sei ortlos und lege sich wie ein Schleier über den Betroffenen. Darüber hinaus manifestiere Schwer­ mut sich nicht durch den bereits erwähnten Weg!-Impuls der Angst und präsentiert auch sonst weder einen relativen noch absoluten Ort. Der anfangs genannten Definition des (frühen) Schmitz’ zufolge ist Schwermut also dem Seelischen zuzuordnen.758 Nichtsdestotrotz können leibliche Regungen wie etwa Gliederschwere oder Müdigkeit dieses seelische Phänomen begleiten und somit einen neuen Komplex erschaffen, der leibliche Züge trage. Die Unterschiede der seelischen Anteile und der leiblichen Regung können trotz der Verschmelzung phänomenologisch immer noch aufgezeigt werden. Mattigkeit und Müdigkeit seien nämlich nicht an verschiedenen Orten, sondern lediglich an einem einzigen Platz, nämlich dem des eigenen Leibes, spürbar. Als örtlich gelte ausschließlich das, was sich aus der Weite abhebt. Dies treffe für die leiblichen Regungen der Müdigkeit oder der Gliedermattheit zu, nicht aber für das Phänomen der Schwermut, welches sich ohne Abhebung in die Weite ergieße. Das Beispiel der Schwermut steht hier als ein zufällig aus einer Fülle von Phänomenen ausgewähltes, welches auf dieselbe Weise als seelisch gilt. Ähnliches schreibt Schmitz (zu jenem Zeitpunkt) dem Phänomen des Denkens zu, dass jenes sich sowohl seelisch als auch leiblich manifestieren könne. Einerseits entrückt es den Denkenden von seiner Gegenwart mit den Gegenständen, gleichzeitig werde das Denken von leiblichen Randerscheinungen begleitet, die aber nicht in den Gedankengang eingehen, sondern nebenher laufen. Die hier vom frühen Schmitz erarbeitete phänomenologische Deutung des Seelischen zeigt, dass viele Phänomene durch die gedanklich gesetzte Grenze von seelisch, körperlich und leiblich mitten hindurchlaufen und trotzdem in der Bestimmung nicht unscharf werden, da die Unterscheidung von Leib­ lichkeit und Seelischem in den Phänomenen selbst verankert seien.759 Wie angekündigt ist dies nicht Schmitz’ finale Haltung. Viel­ mehr ist in seiner Forschung eine Kehrtwende hin zu einer völligen 757 758 759

Schmitz, Der Leib, 6. Vgl. ebd. 6f. Vgl. ebd. 8f.

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Ablehnung des Seelenterminus zu beobachten. Wo der frühe Schmitz noch die Aufgabe seiner Phänomenologie als »die Phänomene des Menschseins in einer ihnen noch mehr gerechten Weise zu gliedern und im Rahmen einer einheitlichen Theorie zu entfalten«760 sah und damit sogar explizit die seelischen Phänomene mit einschloss, welche »bisher nur negativ – als ortlos – charakterisiert wurden«761 und die ebenfalls passend geordnet werden müssten, positioniert sich der späte Schmitz bezüglich der Ortlosigkeit des Seelischen hochemotional wie folgt: »Wie oft habe ich nicht seither verwünscht, diese Zeile geschrieben zu haben! Was ist nicht alles ortlos! Z.B. [sic!] Gefühle als ortlos ergossene Atmosphären, zuständliche Situationen wie eine Sprache oder Persönlichkeit, mathematische Tatsachen [...]. Wenn man das alles bloß wegen des Fehlens eines Lokals ›seelisch‹ nennt, lädt man zur Introjektion, zur Einlagerung der größten Massen unserer Lebenser­ fahrung in die Seele als Ersatzort, förmlich ein, wo doch mein Hauptziel darin besteht, den Menschen die Binde der Introjektion von den Augen zu nehmen.«762

Mit der Wegnahme der »Binde der Introjektion« ist obig beschriebene Kritik am Physiologismus gemeint, welche die Verlagerung in die Innerlichkeit – von allem nicht auf die Sinnesorgane zurückführbare Wahrgenommene – beinhaltet. Da – wie beschrieben – Schmitz die Sinnesorgane zwar als notwendig für die Wahrnehmung, aber nicht als ausreichend im Sinne von einfachen Werkzeugen oder Schleusen betrachtet und die Binde der Introjektion eben seinem Verständnis von Leiblichkeit konträr läuft, ist die Kritik an dem Seelenbegriff im Sinne des Ortes der Innerlichkeit in dieser Logik folgerichtig. Nach den ersten zwei Bänden des »Systems der Philosophie« gibt Schmitz den Begriff der Seele vollends auf, da er angibt, phänomenologisch nicht sinnvoll von ihm sprechen zu können. Darüber hinaus bezeich­ net er diesen als ein nicht auffindbares, »ideologisches Konstrukt, von den Griechen ausgedacht, um das gesamte Erleben eines Menschen in einer privaten Innenwelt unter­ zubringen, damit er als Vernunft Herr im eigenen Hause über die

760 Schmitz, Der Leib. Studienausgabe,63. und beispielsweise liest er anfangs noch die Seele als adäquate Beschreibung der leiblichen Ausdehnung (vgl. ebd. 45ff.). 761 Schmitz, Der Leib. Studienausgabe, 6. 762 Schmitz, Hermann, Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, 198.

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5. Leibliche Authentizität

unwillkürlichen Regungen, namentlich die leiblichen und die durch sie eingreifenden Gefühle, werden kann.«763

Somit ist für den späten Schmitz die Seele ein absolut abzulehnender Sammelbegriff, der lediglich Ungenauigkeit in die anthropologische Suchbewegung bringt, in seiner Beliebtheit eine negative Folge des vorherrschenden Physiologismus darstellt und die Ignoranz in Bezug auf das eigenleibliche Spüren weiter verfestigt.

Seelenprobleme: Schmitz, Platon und der Hylemorphismus Schmitz’ Abkehr von der Seele wird anhand seiner Äußerung bezüg­ lich des thomanischen Hylemorphismus konkret und hier wird die Relevanz für die vorliegende Frage nach der Kompatibilität der ver­ schiedenen Ergebnisse besonders deutlich. Diesbezüglich verwirft Schmitz Thomas von Aquins Leistungen verurteilend und bezeichnet seine Arbeit hinsichtlich des Hylemorphismus als »Verrenkungen beim Versuch der Aneignung an die platonisch-christliche Seelenvor­ stellung«764, welche an seiner Form von erlebter Leiblichkeit vorbei­ gehe.765 Dass hier Platons und Aristoteles Seelenvorstellung in Bezug auf Thomas fälschlicherweise gleichgesetzt wird, sei an dieser Stelle bewusst übergangen und die polemische Einseitigkeit von Schmitz’ Vorwurf bewusst ignoriert. Entscheidend ist, dass sich inhaltlich bezüglich des Begriffs der Seele eine vermeintliche Unvereinbarkeit der Ergebnisse aufdrängt: Denn wie ist eine Komposition von phäno­ menologischer Leiblichkeit, thomanischen Hylemorphismus, Theo­ logie des Symbols und editionsphilologischer Echtheitsbestimmung zu verstehen, wenn zum einen auf der Seite der Neuen Phänomeno­ logie Schmitz die Seele explizit als »nichts Vorfindbares, sondern [...] ideologisches Konstrukt«766 bezeichnet, gleichzeitig aber der von Rahner genutzte Hylemorphismus im Gegensatz dazu durch eben jenen von Schmitz so drastisch verurteilten antiken Begriff konstitu­ iert ist? Der Begriff der Seele ist somit ein potentiell entscheidendes Hindernis auf dem Weg zu einer Verbindung der unterschiedlichen Ergebnisse. Nachdem obig die Nichtwidersprüchlichkeit auf formaler 763 764 765 766

Schmitz, Der Leib, 5. Ebd. 142. Vgl. ebd. Ebd. 5.

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5.1 Zur Kompatibilität von Phänomenologie und Theologie

Basis aufgezeigt wurde, gilt es nun auf spezifisch-inhaltlicher Ebene, jener vermeintlichen Seelenproblematik auf den Grund zu gehen. Auf inhaltlicher Ebene präsentieren sich nun konträr zueinander folglich die Haltung der Neuen Phänomenologie, welche den Begriff der Seele als phänomenologisch nicht brauchbar und den anthropo­ logischen (einseitig-normativen) Dualismus bestärkend betrachtet, sowie der von Aristoteles entwickelte und von Thomas und Rahner angewendete Hylemorphismus, der im Kern auf die Seelenvorstel­ lung Platons zurückgeht. Wie also sind zwei Positionen gemeinsam zu denken, in der die eine Seite einen Begriff für das eigene Gedan­ kenkonstrukt als notwendig setzt, die Existenz jenes Begriffs jedoch von der Gegenseite vehement bestritten wird? Im Folgenden wird aufgezeigt, weshalb die phänomenologische Zurückweisung des See­ lenbegriffs und die theologische Auffassung im Sinne einer leiblichen Konkretisierung der Seele in Ort und Zeit nicht nur nicht unvereinbar sind, sondern sogar einander ergänzen. Im ersten Schritt zur Erhellung der Auseinandersetzung ist im Verhältnis Neue Phänomenologie und platonische Philosophie festzuhalten, dass sowohl Schmitz als auch Platon folgende Frage bearbeiten: Was ist der Unterschied zwischen einem unbelebten und dem (eigenen) belebten Körper? Platon gibt als Antwort auf die Frage den Begriff der Seele, wohingegen Schmitz mit seinem Verständnis von (reiner) Leiblichkeit antwortet. Auffallend ist, dass trotz der Kritik an der Form eines wertenden Dualismus, Schmitz – zumindest im Sinne einer Minimaldefinition – selbst dualistisch argumentiert. Klar ist: Beide betreiben ihre Erkenntnissuche innerhalb des genannten Phänomens argumentativ im Sinne einer engen Definition von Dua­ lismus. Der Begriff des Dualismus bezeichnet im engen Sinn ledig­ lich die Analyse oder Verhältnissetzung von zwei unterschiedlichen Grundelementen. Schmitz’ Kritik bezieht sich wie bereits vorange­ hend beschrieben auf jene Form von Dualismus, die eine von beiden Entitäten als höherwertig betrachtet. Für Platon steht der Dualismus von Seele und Körper im Mittelpunkt, wohingegen Schmitz das Verhältnis von Körper und Leib analysiert. Da für Schmitz der reine Leib von entscheidend anderer Art als der des reinen Köpers ist und damit eine Form von immaterieller Leiblichkeit explizit gedacht wird, offenbart die Vorstellung des reinen Leibes eine große Nähe zum

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5. Leibliche Authentizität

Begriff der platonischen Seele.767 Durch die untersuchten Beispiele der bereits beschriebenen Phantomgliedphänomene hält Schmitz selbst die Möglichkeit eines unsterblichen Leibes für vernünftig: »Was den Tod überdauert, kann nicht die Seele sein, denn die gibt es nicht, wohl aber der spürbare Leib, der weder sicht- und tastbare Körper ist, noch ausdehnungs- und ortlose Seele.«768

Der Philosoph Steffen Kammler, dessen Dissertationsthema jenes Verhältnis von Neuer Phänomenologie und Platonismus beinhaltet, fragt an dieser Stelle, weshalb der auf diese Weise verstandene Begriff des Leibes, welcher so stark in die Nähe des platonischen Seelenbe­ griffs zu rücken scheint, überhaupt in der Lage sein sollte, jenen von Schmitz kritisierten (abwertenden) Dualismus zu korrigieren. Verschärft wird diese Frage durch die Tatsache, dass selbst Platon, der häufig als eine Art Vater des Dualismus wahrgenommen wird,769 keine so radikale dualistische Unterschiedenheit zwischen Körper und Seele formuliert, wie Schmitz dies zwischen Körper und Leib prokla­ miert.770 Kammler fragt in diesem Zusammenhang: »Sind ›Seele‹ und ›Leib‹ am Ende zwei Seiten derselben Medaille?«771. Auch wenn er diese Frage in seiner Banalität verneint, macht er in seiner Forschung sehr wohl die Möglichkeit einer Bejahung der Frage deutlich und formuliert anschließend:772 »Sowohl Seele als auch Leib werden als unteilbare Einheit (gleichwohl mit binnendifferenzierter Struktur) beschrieben. Beide kennzeichnen das, wodurch der Mensch wahrnehmend seine Umwelt erfährt, beide sind Grund jeder Bewegung und Dynamik, Ursprung der Subjektivität, ›Ort‹ des Denkens, weder Seele noch Leib sind materiell wie unser

767 Vgl. Kammler, Steffen, Die Seele im Spiegel des Leibes. Der Mensch zwischen Leib, Seele und Körper bei Platon und in der Neuen Phänomenologie, München 2013, 182. 768 Schmitz, Hermann, Die Aufhebung der Gegenwart. System der Philosophie, Bd. 5, Bonn 2005, 191. 769 Der Dualismus wird oft Platon originär zugeordnet, geht aber eigentlich auf Phi­ lon von Alexandrien zurück (vgl. Wetz, Franz Josef, »Dualismus. II. Philosophisch«, in: LThK3 3 (2009), 388–389, hier: 388). 770 Vgl. Kammler, Die Seele im Spiegel des Leibes, 180. Kammler verweist auf Passagen aus Platons Gorgias, welcher die Verbindung von Seele und Körper so beschreibt, dass jene »Spuren des Zusammenseins und sich von diesem durchaus nicht in einer gänzlich unaffektierten Gestalt lösen lässt« (ebd.). 771 Ebd. 181. 772 Vgl. ebd. 183.

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5.1 Zur Kompatibilität von Phänomenologie und Theologie

Körper, den man betasten, sehen, vermessen kann und beide sind schließlich sogar potentiell unsterblich.«773

Dieser Eigenschaftsvergleich beider Begriffe lässt die proklamierte Nichtexistenz des Seelenbegriffs durch Schmitz fraglich erscheinen. Die Skepsis gegenüber jener vernichtenden Seelenkritik wird durch Kammlers Detailprüfung von Schmitz’ Hypothesen verschärft. Hier zeigt dieser, dass Platons Philosophie weder derart an Blindheit in Bezug auf den atmosphärischen Charakter von Gefühlen leidet – wie von Schmitz kritisiert –, noch dass die Form von abgeschlos­ sener Innenwelt, welche der Phänomenologe im Rahmen seiner Introjektionskritik formuliert, zutrifft.774 Vielmehr liegt die vermu­ tete Unvereinbarkeit im fundamental-verschiedenen philosophischen Ausgangspunkt und den damit zusammenhängenden Grundüber­ zeugungen: Wo Platon die metaphysische Annahme aufstellt, dass unsere Wahrnehmung von einer intelligiblen Welt abhängt (Ideen­ leere), stellt Schmitz das eigene Erleben in den Mittelpunkt. Letztge­ nannte deskriptive Ableitung der Maßstäbe aus dem eigenen Erleben bringt folglich maximal einen geringen, eher aber keinen normativen Anspruch mit sich.775 Platon hingegen ist vielmehr am Transzenden­ ten und der Annäherung an dieses Ideal interessiert, weshalb seine Philosophie auch einen starken normativen Anspruch transportiert. Platons Ziel besteht in der Ausschöpfung des Seelenpotentials, welche häufig durch den Einfluss des und die enge Verzahnung mit dem Körper kompromittiert wird. Darüber hinaus stellt er die Hypothese der Unsterblichkeit der Seele an den Anfang seiner Überlegungen und versucht anschließend diese nachzuweisen. Schmitz formuliert am Ende seiner Überlegungen lediglich die Möglichkeit der Unsterblich­ keit des reinen Leibes und formuliert keine konkreten ethischen Sol­ lensansprüche776 Dass Forscher, die im Abstand von ungefähr 2000 Jahren leben, unterschiedliche Perspektiven und Methoden anwenden (vgl. voran­ gehendes im Kapitel in Bezug auf Metaphysik und Neue Phänomeno­ logie), dürfte ebenso wenig überraschen wie auch, dass der Begriff der Seele unterschiedlich bewertet wird, da er innerhalb der jeweiligen Ebd. 184. Vgl. ebd. 190f. 775 Dies stellt, wie zuvor gezeigt, für die Phänomenologie im Sinne ihres Fachselbst­ verständnisses auch kein Problem dar. 776 Vgl. ebd. 193. 773

774

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5. Leibliche Authentizität

Denktraditionen eine unterschiedliche Geistesgeschichte durchlebt hat und daher ebenso unterschiedlich innerhalb der Gesamtherme­ neutik eingebettet wird. Entscheidend für den hier beschriebenen Zusammenhang sind drei Punkte. Erstens: Beide Philosophen ana­ lysieren – unabhängig von ihren bereits beschriebenen Methoden­ differenzen der Ausgangspunkte – dasselbe Phänomen, welches – wie anfangs erwähnt – die Frage umschließt, was den Unterschied zwischen einem belebten und einem unbelebten Körper ausmacht. Zweitens gilt auf beiden Seiten strukturell eine Minimalform des Dualismus, was bedeutet, dass sowohl Schmitz als auch Platon von zwei unterschiedlichen Entitäten ausgehen, wovon einer materiell und der andere immateriell ist. Und drittens beantworten beide Protagonisten die behandelte Frage mit jeweils einem Begriff, deren Funktions- und Eigenschaftsvergleich eine hohe Ähnlichkeit offen­ bart. Folglich kann festgehalten werden, dass – auch wenn Schmitz Kritik am Physiologismus-»Dogma«777, das geistesgeschichtlich auf Platons Seelenverständnis zurückgeführt werden kann, durchaus nachvollziehbar ist – seine radikal-vernichtende und absolut-aus­ schließende Kritik bezüglich des Seelenbegriffs schlicht unhaltbar ist. Wie an den unterschiedlichen Arten Philosophie zu betreiben gezeigt wurde, sind beide Begriffe trotz der hohen Ähnlichkeit kei­ neswegs dieselben, wohl aber spricht nichts dagegen, beide Begriffe in Koexistenz anzunehmen. Minimal muss – aufgrund der hier dargelegten Ergebnisse – dem metaphysischen Begriff der Seele und dem phänomenologischen reinen Begriff des Leibes nach Schmitz diese störungsfreie Koexistenz zugestanden werden. Ein ähnlich ver­ söhnliches Ergebnis formuliert auch Kammler: »Das Konzept des Leibes [nach Schmitz] bietet und eröffnet freilich andere Möglichkeiten und Räume als die platonische Seelentheorie, verdeckt aber eben gleichzeitig andere, die der platonische Ansatz besser zu erschließen vermag.«778

Über dieses Minimalzugeständnis der Koexistenz gibt es aber auch Indizien für ein komplementäres Zusammenspiel beider Entitäten. Eine solche Möglichkeit für einen fruchtbaren Dialog soll im folgen­

777 778

Schmitz, »Anthropologie ohne Schichten«, 128. Kammler, Die Seele im Spiegel des Leibes, 193.

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5.1 Zur Kompatibilität von Phänomenologie und Theologie

den Unterkapitel demonstriert werden, welches den Abschluss dieses ersten Teils darstellt.

5.1.3 Von widerspruchsloser Kompatibilität zu fruchtbarer Beziehung An dieser Stelle sei daran erinnert, dass für das hier vorliegende behandelte Problem die Vereinbarkeit von Platons und Schmitz’ Haltung bezüglich der Seele eine sekundäre Rolle spielt, und viel­ mehr die Kompatibilität des thomanischen Hylemorphismus und Schmitz Leibesphänomenologie entscheidend ist. Die anfangs igno­ rierte Ungenauigkeit besteht darin, dass Schmitz fälschlicherweise unterstellt, dass Thomas sich mit seinem Hylemorphismus vorwie­ gend am Seelenbegriffs Platons und nicht an dem von Aristoteles, orientiert. Die Bestimmungen des Seele-Leib-Verhältnisses durch Platon und Aristoteles weisen allerdings fundamentale Unterschiede auf und es ist nicht offensichtlich, weshalb Schmitz, der vermutlich um die Unterschiede weiß, diese ignoriert. Die Arbeit an einer ganz­ heitlicheren Perspektive des Menschen durch Aristoteles quittiert er wohl bestätigend als »bewunderungswürdig geistreiche Lösung«779, gleichzeitig kritisiert er sie aber als zu sehr an den platonisch-dua­ listischen Begriffen orientiert.780 Einfach gesagt, gehen Schmitz die ganzheitlichen Bemühungen Aristoteles – explizit in Bezug auf die leiblichen Phänomene – schlicht nicht weit genug, und er unterstellt ihm trotz aller Anstrengungen einen durch Platon beeinflussten psycho-physischen Kern.781 Trotz aller Strenge ist in der Rückschau der aristotelische Unter­ schied zu Platon speziell bei Thomas aber unübersehbar und der platonische Dualismus in Bezug auf Thomas schlicht unzutreffend. Der bereits genannte Theologe Richard Heinzmann formuliert dies­ bezüglich: »Obwohl die Seele zu den zentralen Themen des Aquinaten gehört und das Wort anima ständig begegnet, darf man sich dadurch nicht dahingehend irreführen lassen, er habe schließlich den Menschen doch auf die Seele reduziert. Gewissermaßen vor der Klammer aller 779 780 781

Schmitz, Der Leib. Studienausgabe, 496. Vgl. ebd. 496f. Vgl. ebd. 488.

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5. Leibliche Authentizität

Ausführungen über die Seele steht bei Thomas der vom Ansatz her jeden anthropologischen Dualismus abwehrende Gedanke, daß es das Wesen der Seele ist, forma corporis zu sein, daß Seele nur vom Leib her definiert werden kann.«782

Diese auf Ganzheit zielende Anthropologie des Thomas rührt – wie bereits obig ausführlich beschrieben – aus dem philosophischen Einfluss von Aristoteles, ohne den die thomanische Theologie nicht zu verstehen ist (s. Kapitel 4.3.1). Der maßgebliche Unterschied zwischen Thomas’ Hylemorphismus und Platons Seelenkonzeption liegt folglich in der Intensität der Verwobenheit von Körper und Seele und der Bewertung des Leibes. Aristoteles geht nicht nur wie Platon eingeschränkt-positiv von »Spuren des Zusammenseins«783 zwischen beiden Entitäten aus, sondern betont die uneingeschränkte und allumfassende Einigkeit beider Entitäten in der Struktur der »forma corporis« (vgl. Kapitel 4.3.2). Darüber hinaus führt Aristoteles die Seele aus der Anthropozentrik Platons hinaus, indem er sie als stufenartige Seelenlehre auch Tieren und Pflanzen zuordnet. Somit vereint er sein Seelenverständnis mit der Natur, ohne dass seine Philosophie naturalistisch werden würde. Wo bei Platon eine klare normative Schräglage hinsichtlich der Seele herrscht, da diese nach ihm der intelligiblen und damit göttlichen Welt näher ist als der materielle Körper, besteht für Thomas keine Ungleichheit der Wertig­ keit. Der thomanische Hylemorphismus bezeichnet die Seele als die Form des Körpers, beide als einander ebenbürtig und somit explizit als anti-dualistisch. Für die hier vorliegende Frage nach Vereinbarkeit bedeutet dies, dass jenes kreative Zusammendenken von Körper und Seele – welchem zweifellos die jüdisch-christliche Hermeneutik von Ganz­ heitlichkeit (s. Kapitel 7.2) inhärent ist – die bereits zwischen Pla­ ton und Schmitz festgestellte Koexistenz hin zu einer fruchtbaren Beziehung befördert. Es wächst somit über die anfangs beschriebene positive Vereinbarkeit von Philosophie und Theologie (s. Kapitel 5.1.1), beziehungsweise Metaphysik und Phänomenologie (s. Kapitel 5.1.2), hinaus. Des Weiteren hat die Konstatierung der Genese von Schmitz Philosophie gezeigt, dass für die Zusammenführung der Erkennt­ nisse des Leibes und der Authentizität der Bezug auf den »frühen 782 783

Heinzmann, »Anima unica forma corporis«, 249. Kammler, Die Seele im Spiegel des Leibes, 180.

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5.1 Zur Kompatibilität von Phänomenologie und Theologie

Schmitz« richtig ist, da dieser noch nicht einseitig-radikal jegliche Konzeption von Seelischem aus seiner Phänomenologie ausschließt, sondern noch bemüht ist, eine Konzeption des Seelenverständnis­ ses in seine Phänomenologie einzubinden. Neben dieser Kritik an Schmitz’ Haltung bezüglich der Seele ist ebenso deutlich festzuhalten, dass seine kritischen Erörterungen bezüglich des Physiologismus­ dogmas zutreffend sind, und die Relevanz einer Zusammenführung von phänomenologischen und theologischen Inhalten verdeutlichen: Einer christlichen Theologie, die das Ziel haben muss, den Menschen holistisch zu erfassen, kann an keiner einseitigen Auslegung, welche den Menschen nur auf eine Wesensform reduziert, gelegen sein, wie sie sowohl Merleau-Ponty in seiner Analyse von Empirismus und Intellektualismus, als auch Schmitz hinsichtlich des Physikalismus zu recht kritisiert. Eine solche partielle Auffassung würde sowohl den christlichen Ursprung im Sinne der semitischen Anthropologie als auch den Glaubenskern der Inkarnation leugnen (dazu später mehr, s. Kapitel 7). Ein weiterer Hinweis für die Notwendigkeit einer sinnvollen Zusammenführung findet sich darüber hinaus in Schmitz Äußerung bezüglich der Nichtauflösbarkeit seiner Form des Körper-Leib-Dualismus. Da der Phänomenologe – seiner Profession folgend – vom eigenen Erleben ausgeht, und seine Aussagen somit keine Normativität transportieren, kann er keine einsichtige Not­ wendigkeit für den untrennbaren Zusammenhang zwischen reinem Körper und reinem Leib annehmen und das, obwohl beide sich in Bezug auf das Lokalität und die Funktionen mit großer Ähnlichkeit entsprechen.784 Zwar nimmt er eine Bedeutsamkeit der Körpers für die Funktionen des Leibes an, er sieht aber keine notwendige Kau­ salität zwischen beiden Größen und macht auf Nahtoderfahrungen und Phantomgliedphänome aufmerksam, die für ihn Indizien für eine Nichtnotwendigkeit einer dauerhaften Einheit darstellen.785 Daher formuliert er abschließend diesbezüglich: »Man muß sich wohl damit begnügen, das Faktum der Entsprechung zu konstatieren«786. Folglich Vgl. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 116. Schmitz, Wie der Mensch zur Welt kommt, 70. Schmitz’ Überlegungen hinsichtlich der unteilbaren Ausdehnung des körperlichen Leibes im Ganzen, welche die Einheit der Leibesinseln konstituiert, bezogen sich ausschließlich auf den absoluten Ort des Leibes und somit nur auf den reinen Leib (vgl. Schmitz, Der Leib. Studienausgabe, 44f.). Die Überlappung von relativer und absoluter Örtlichkeit hat mit dieser Begrün­ dung nichts zu tun und diese ist phänomenologisch auch nicht zu leisten. 786 Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 116. 784 785

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5. Leibliche Authentizität

kann Schmitz das Verhältnis »seines« Dualismus nicht abschließend auflösen. Konträr dazu kommt der thomanische Ansatz in seinem Rückgriff auf Aristoteles Hylemorphismus diesem Ziel weitaus näher: Bei Thomas beziehungsweise Rahner wird nicht nur das vermeintlichzufällige Zusammenfallen beider Entitäten wahrgenommen, sondern ganz im Sinne der betriebenen Metaphysik als notwendig zusammen­ hängend gedacht.787 Hier zeigt sich auch der eindeutige Vorteil gegen­ über einer Betrachtung, welche ausschließlich phänomenologisch arbeitet und infolgedessen nicht normativ-abschließende – weil nicht metaphysische – Hypothesen formuliert: Die Konzeption von forma corporis beschreibt ein detailliertes Zusammenspiel beider Akteure im Sinne der seelischen Formgebung des Leibes, der im notwendigen leiblichen Ausdruck kumuliert. Nun kann die bereits in Kapitel 4.2.3 beschriebene Konzeption des körperlichen Leibes von Schmitz – allerdings mit der expliziten Offenheit des jungen Schmitz bezüglich des Seelendiskurses – in Ver­ bindung mit dem thomanischen Hylemorphismus (s. Kapitel 5.1.2), Rahners Theologie des Symbols (vgl. Kapitel 4.3) und den Ergebnis­ sen der Authentizitätsforschung im Sinne der Editionsphilologie (vgl. Kapitel 3.3) mit dem Ziel, ein Verständnis von körperlich-leibliche Authentizität zu finden, zusammengeführt werden.

787 Dass sich die vorliegende Argumentation im Moment der Akzeptanz und Weiter­ verarbeitung von metaphysischen Ergebnissen gegen den Trend einer angeblich nachbzw. post-metaphysischen Zeit (vgl. z. B. Habermas, Jürgen, Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Berlin 31991) wendet, ist mir bewusst. Schon Rahner wandte sich gegen Heideggers Einwände einer angeblichen Unmöglichkeit noch Metaphysik zu betreiben (vgl. Fischer, Klaus P., »Philosophie und Mystagogie: Karl Rahners ›reductio in mysterium‹ als Prinzip seines Denkens«, in: ZKTh 1 (1998), 43– 46, hier: 46) Die vorliegende Arbeit kann auch als Versuch verstanden werden, selbst nach der Postmoderne noch eine metaphysische Argumentation hinsichtlich aktueller Herausforderungen fruchtbar zu machen. Ein erfolgreiches Beispiel für die Bewährung eines metaphysischen Konzepts, das sich auch inhaltlich mit dem vorliegenden Kapitel deckt, ist der Beitrag von Marcus Knaup, welcher den aristotelischen Hylemorphismus als dritten Weg zwischen Physikalismus oder Dualismus positioniert (vgl. Knaup, Marcus, »Jenseits von Physikalismus und Dualismus! Der Hylemorphismus als wirkliche Alternative zum aktuellen Streit«, in: Ders. u.a. (Hg.), Post-Physikalismus, Freiburg/München 2011, 189–215).

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5.2 Theologisches Realsymbol und phänomenologischer Leib

5.2 Theologisches Realsymbol und phänomenologischer Leib Wie vorangehend dargestellt, fügen sich die Erarbeitung des Ver­ hältnisses von Merleau-Ponty, Schmitz und Rahner nicht nur wider­ spruchsfrei, sondern darüber hinaus bereichern diese potentiell einan­ der. Dies soll nun inhaltlich aufgezeigt werden. Wenn Karl Rahner den Terminus des Leibes in der Entfaltung seiner Theologie des Symbols oder innerhalb der mystischen Rede vom Urwort »Herz« nutzt, tut er dies natürlich nicht ohne ein umfas­ sendes Wissen des Begriffs. Jenes Wissen bewegt sich jedoch in dem spezifischen Horizont seiner christlich-theologischen Denktra­ dition,788 welche phänomenologische Erkenntnis nicht zwingend, beziehungsweise Erkenntnis aus der Neuen Phänomenologie, sicher nicht beinhaltet. Diese phänomenologische Horizonterweiterung lie­ fert eine ontologische Differenzierung von Körper und Leib, klärt das Verhältnis beider Größen und bietet notwendige Klarheit in Bezug auf den unscharfen und im Alltag mit dem Begriff des Körpers gleichge­ setzten Terminus des Leibes. Diese notwendige Klarheit manifestiert sich in Schmitz Begriff des körperlichen Leibes. Da der Mensch weder reiner Leib, im Sinne ausschließlich absoluter Örtlichkeit, noch reiner Körper – also ausschließlich relative Örtlichkeit – ist und da beide Formen von Örtlichkeit sich in den Leibesinseln wiederfinden, bestimmt Schmitz jene Mischentität des körperlichen Leibes. Diese Mischentität trägt der Erfahrung des sowohl unmittelbaren Erspürens (absolute Örtlichkeit) als auch der visuellen und taktilen Feststellung des eigenen Daseins, im Sinne einer räumlichen Orientierung (rela­ tive Örtlichkeit), Rechnung. Die eigene Wahrnehmung als Einheit nehmen wir nach Schmitz »am absoluten Ort des körperlichen Leibes im Ganzen”789 wahr. Der unmittelbar erlebte absolute Ort dehnt sich im Ganzen so weit wie alle Leibesinseln aus und prägt die Gesamtheit des Gefüges durch die Wahrnehmung von – unter ande­ rem – dem Gefühl von Enge (Stichwort: Primitive Gegenwart)790. Die Leibesinseln, die relative und absolute Örtlichkeiten aufweisen 788 Vgl. das semitische Denken (Näfäsch/Ruha), biblische Zeugnisse usw. (s. Kapi­ tel 7.1). 789 Schmitz, Der Leib. Studienausgabe, 42. 790 Neben Enge kommen nach Schmitz natürlich auch noch alle anderen Formen leiblichen Erlebens in Frage.

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5. Leibliche Authentizität

(s. sog. Phantomgliedphänomen), werden durch die Prägung der absoluten Örtlichkeit des körperlichen Leibes im Ganzen nicht auf­ gelöst, sondern kompensiert. Diese Kompensation wehrt letztlich eine zusammenhaltlose Wahrnehmung ab und sichert folglich die ungeteilte Einheitswahrnehmung des eigenen körperlichen Leibes.791 Schmitz erarbeitete Einheitswahrnehmung des absoluten Ortes im körperlichen Leib als Ganzes erinnert unweigerlich an den sechsten Satz von Rahners Theologie des Symbols, in dem er betont, dass »die einzelnen Teile des Leibes mehr als bloß quantitativ addierte Stücke des ganzen Leibes [sind]; sie sind vielmehr in einer eigentümlichen Weise immer so Teile, daß sie auch das Ganze noch in sich befas­ sen«792. Schmitz beschreibt die Einheit des körperlichen Leibes im Ganzen als unteilbar ausgedehnt und postuliert in dieser Herleitung, dass der absolute Ort im körperlichen Leib im Ganzen ist und somit auch ganz auf jeder Leibesinsel. Der absolute Ort umfasst folglich nicht nur die Leibesinseln, weil sie Teil des körperlichen Leibes sind, sondern er ist als Ganzes ungeteilt auf jeder Leibesinsel. Das Postulat, dass der absolute Ort, welcher nach Schmitz Leiblichkeit konstituiert, als ungeteiltes Ganzes in jedem einzelnen Teil des Leibes ganz vor­ handen ist, offenbart große Ähnlichkeit zu Rahners obig zitiertem sechsten Satz und vertieft nochmals die im vorangehenden Kapitel bereits beschriebene Ergänzung. Dieselbe fruchtbare Kompatibilität wird in Bezug auf den fünften Satz von Rahner deutlich, der den Leib als Symbol der Seele beschreibt: »Der Leib ist das Symbol der Seele, insofern er als der Selbstvollzug der Seele (wenn auch nicht als deren adäquater) gebildet wird, und sich die Seele in dem von ihr verschiedenen Leib selbst anwesend sein und in ›Erscheinung‹ treten läßt.«793

Dieser Satz eröffnet eine neue Perspektive auf das durch Schmitz und Merleau-Ponty beschriebene Leibphänomen. Durch den illustrierten Unterschied zwischen Symbol und Zeichen in Verbindung mit dem thomanischen Hylemorphismus bietet Rahners Theologie in diesem Kontext eine vertiefende Deutungsmöglichkeit in Bezug auf das Phänomen des körperlichen Leibes an. In Folge dieser theologischen Sinnzuschreibung ist der körperliche Leib nicht einfach eine zufällige 791 792 793

Vgl. Schmitz, Der Leib. Studienausgabe, 37f. Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 453. Ebd.

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5.2 Theologisches Realsymbol und phänomenologischer Leib

Gemengelage von Leibesinseln, in denen ohne letztlich nachweisbare Verbindung relative und absolute Örtlichkeit dasselbe räumliche Lokal zur selben Zeit besetzen, sondern der Leib ist symbolischer Ausdruck einer Wirklichkeit, welche er im Sinne eines Realsymbols bereits inne hat und die erst im Ausdruck notwendig vervollständigt wird. Im Sinne des zugrundeliegenden Hylemorphismus ist der Leib folglich als Konkretisierung der Seele im »Hier und Jetzt« im Sinne der leiblichen »Entäußerung des Geistes«794 zu deuten. An dieser Stelle darf als Zwischenfazit festgehalten werden, dass in den ersten Schritten der Zusammenführung von Schmitz Verständnis des Leibphänomens mit den Überlegungen Rahners, sowohl bezüglich der referierten leib-seelischen Ganzheitlichkeit als auch hinsichtlich der ursprungsgebenden Seele und Symbolhaftigkeit des Leibes, sich diese fruchtbar ergänzen. Sowohl der fünfte (Leib als Symbol der Seele) als auch der sechste Satz (Einheit von Symbol und Symbolisierten) der Theologie des Symbols sind mit der neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz – wie in Kapitel 5.1 angekün­ digt – nicht nur nicht unvereinbar und ebenso wenig nur in Distanz koexistent, sondern bereichern einander wechselseitig. In weiterführender Vertiefung der Vereinbarkeit und der darüber hinausgehenden Bereicherung folgt nun die Einordnung des Ver­ ständnisses jener leiblichen »Entäußerung des Geistes«795 als Mani­ festation des Daseins in Raum und Zeit. Konkret wird im Folgenden der Zusammenhang zwischen »personaler Mitte«, dem damit zusam­ menhängenden Leibausdruck (Rahner) sowie der Rolle des Leibes als transzendentale Bedingung der Möglichkeit eines »Zur-Welt-seins« (Merleau-Ponty) ermittelt. Als Startpunkt dient der leibliche Aus­ druck, welcher zum Beispiel als Lachen, Tanzen, Weinen einen Teil der personalen Mitte und somit die Eigentlichkeit der Person trans­ portiert. Neben diesem Ausdruck stellt der Leib – wie erwähnt – die transzendentale Bedingung für unseren Eintritt in und Haltung zu der Welt dar. Der Theologe Erwin Dirscherl äußert sich in seiner Anthropologie diesbezüglich wie folgt: »Wir können nicht wählen, ob wir diesen unseren Leib haben wollen oder nicht, wir sind schon in ihn hineinversetzt. Diesen Leib leben wir,

794 795

Ebd. 422. Ebd.

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5. Leibliche Authentizität

in diesem Leib drücken wir uns aus und in diesem Leib sind wir auf die Wirklichkeit hin geöffnet mit all unseren Sinnen.«796

Diese pointierte Aussage bezüglich des Leibes als Zugang zu und Ausdruck in der Wirklichkeit deckt sich mit dem in Kapitel 4.1.3 referierten »être au monde«797 von Maurice Merleau-Ponty. Darüber hinaus wird deutlich, dass die Leiblichkeit des Menschen ein ihn erst realisierendes, also in Existenz bringendes Realsymbol ist. Charles Taylor beschreibt in diesem Zusammenhang Merleau-Pontys größte Leistung als, dass »er uns wie kein anderer Denker beigebracht hat, uns selbst als leiblich Handelnde zu verstehen«798. Der Mensch ist »eingelassen in seine Welt«799 und damit nicht auf seine körperlichen Mechanismen reduziert, sondern seine Seinsweise ist die eines leib­ lich Handelnden.800 Das bedeutet: Erst durch die leiblich ermöglichte vorreflexive, primordiale Wahrnehmung kann der Mensch sich in der Welt zurechtfinden, in ihr handeln und im Sinne des bereits genannten »être au monde« existieren und sich ausdrücken. Nur wenn er sich seines eigenen Standpunktes in der Welt – wenn auch nur marginal – bewusst ist, kann er sich ihr öffnen. Die moderne Wahrnehmungskonzeption im Sinne des Physiologismus, welche von einem vor sich befindenden Bild und einem davon getrennten Wahrnehmenden ausgeht, greift hier zu kurz, da die wahrgenommene Welt bis in das Innerstes des Menschen dringt.801 Er ist letztlich ohne seine Umwelt, mit der er durch seine leibliche Seinsweise uranfänglich verwurzelt ist, nicht zu verstehen. Wie bereits in Schmitz Physiologismuskritik aufgezeigt (vgl. Kapitel 5.1.2), ist die leibliche Seinsweise, welche menschliche Wahrnehmung konstituiert, mit der zufälligen Korrelation von bestimmten körperlichen Zuständen Dirscherl, Grundriss theologischer Anthropologie, 102. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 7. 798 Taylor, Charles, »Leibliches Handeln«, in: Alexander Metraux/Bernhard Walden­ fels (Hg.), Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken, München 1986, 194–217, hier: 194. 799 Ebd.194. 800 Vgl. ebd. 196. 801 Für eine lehrreiche Übersicht, weshalb der Physikalismus über die angegebenen Gründe von Merleau-Ponty und Schmitz hinaus nicht verabsolutierbar ist, vergleiche den Beitrag von Tobias Müller (vgl. Müller, Tobias, »Zum Problem der Physikalisie­ rung des Bewusstseins. Was der Physikalismus nicht erklären kann«, in: Marcus Knaup u.a. (Hg.), Post-Physikalismus, Freiburg/München 2011, 165–188.) sowie die Arbeiten von Holm Tetens (z.B vgl. Tetens, Holm, Geist, Gehirn, Maschine. Philosophische Versuche über ihren Zusammenhang. Stuttgart 1994.). 796 797

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5.2 Theologisches Realsymbol und phänomenologischer Leib

und der Möglichkeit visueller Wahrnehmung nicht gleichzusetzen. Vielmehr sind zum Beispiel die Begriffe »nah« und »fern« nur sinnvoll, wenn er sich als leiblich Handelnder in eben jener Welt versteht.802 Dieses Verständnis ist durch die primordiale Leiblichkeit konstituiert, welche präreflexiv immer schon in jeder Wahrnehmung »vorpersönlich«803 und nicht abschaltbar vorpräsent mitwirkt.804 Die Theologin Saskia Wendel, die umfangreiche Forschungsarbeiten zu Leiblichkeit betreibt, beschreibt den Leib als den ursprünglichen uns in unserer Eigentlichkeit konstituierenden Weltanker und als Brücke zur kommunikativen Begegnung mit dem anderen.805 Neben dem Vermögen der Leiblichkeit als Offenheit zur Welt und Kommunika­ tion konstatiert sie Folgendes: »Des Weiteren ist sie [die Leiblichkeit] ein Vermögen, mein Leben, meine Existenz zu gestalten, zu führen, zu formen, und dies in Bezug zur Welt und zu denen, die mit mir gemeinsam in der Welt sind. Demnach ist sie ein Vermögen meines In-der-Welt-seins, meiner Lebensführung und meines Handelns in der Welt. Und schließlich ist sie ein Vermögen, mir selbst und meiner Existenz Ausdruck zu verlei­ hen, mich selbst zu symbolisieren und zu präsentieren, insbesondere anderen gegenüber.«806

Der Leib als »Vehikel des Zur-Welt-seins«807 und mit ihm das leib­ liche Spüren und Wahrnehmen der Welt ist »irreduzibel je mein eigenes«808. Über diese bereits in Kapitel 4 beschriebene Doppel­ struktur des Leibes und die Feststellung, dass jeder Mensch keinen Leib hat – sondern selbst seiner ist –, hinaus ist der Leib mehr als die transzendentale Bedingung der Selbst- und Welterkenntnis, nämlich notwendiger Ausdruck des erlebenden Ichs.809 Der Leib realisiert nicht die Repräsentation eines separaten Innen-Ichs, son­ dern symbolisiert im Leibausdruck vor jeglicher rationalen Reflexion oder sprachlichen Vermittlung die selbstbewusste Eigentlichkeit des Vgl. Taylor, »Leibliches Handeln«, 201f. Ebd. 204. 804 Vgl. ebd. 204f. 805 Vgl. Wendel, Saskia, »Inkarniertes Subjekt. Die Reformulierung des Subjekt­ gedankens am ›Leitfaden des Leibes‹“, in: DZPhil, Berlin 51 (2003) 4, 559–569, hier: 568. 806 Ebd. 567. 807 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 106. 808 Wendel, »Inkarniertes Subjekt«, 566. 809 Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 180. 802

803

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5. Leibliche Authentizität

Menschen.810 Diese präreflexive Erfahrung der Ich-Eigentlichkeit deckt sich mit den phänomenologischen Ergebnissen von Hermann Schmitz (s. Kapitel 4.2): Die Daseinsgewissheit der Eigentlichkeit eines Menschen ist durch »leibliche Betroffenheit« im Moment der »primitiven Gegenwart« (Stichwort: Weg!-Impuls) aufweisbar. Durch das Zusammenfallen der fünf Formen menschlicher Gegenwart des »Hier«, »Jetzt«, »Dasein«, »Dieses« und »Ich« kommt es zum Erlebnis der »leiblichen Enge«, die das eigene Dasein offenbart (s. Kapitel 4.2.1) und unhintergehbar als »mein eigenes« konstituiert. Dieses Erspüren von Unmittelbarkeit geschieht sowohl leiblich im Sinne der absoluten Örtlichkeit im Ganzen als unzersplitterte Einheit als auch körperlich durch die räumliche Orientierung in der relativen Örtlichkeit. In der Entfaltung der »primitiven Gegenwart« in den absoluten Ort des körperlichen Leibes im Ganzen hat Schmitz das dem »Menschen wesentlich – sogar in gewisser Weise der Kern seines Wesens«811 und folglich seine eigentliche Ganzheitlichkeit – phänomenologisch aufgezeigt (vgl. Kapitel 4.2.3). Die hier als »Kern des Wesens« titulierte Entität der unmittelba­ ren und unersetzbaren Eigentlichkeit fügt sich nahtlos an Rahners »Herz«-Überlegungen an, welche die transzendentale Erfahrung des Menschen als leib-geistige Person in Einheit und Ursprünglichkeit, (ur-)sprachlich greifbar macht. Dieses ununterbrochene Erleben von Einheit und Ursprünglichkeit drückt sich im Leib aus und dies nicht im Sinne eines Vertretungssymbols, sondern als »die Wirklichkeit, die als vom Symbolisierten gesetztes inneres Moment seiner selbst dieses Symbolisierte offenbart, kundmacht und als konkretes Dasein des Symbolisierten selbst von ihm erfüllt ist«812. Diesbezüglich ist zu beachten, dass für die noch folgende Analyse der digitalen Mediatisie­ rung der hier gemachte Unterschied (nicht Trennung!) von Symbol und Symbolisiertes folgend noch entscheidend ist. Dieser Unterschied ist in der Zusammenschau von Rahner und der hier genannten phä­ nomenologischen Arbeiten unterschiedlich gut möglich. Wie bereits erwähnt ist die Trennung von Leib und Körper bei Merleau-Ponty (und auch Husserl) weniger eindeutig, als bei Hermann Schmitz, dessen klare Trennung der beiden Entitäten eine besondere Stärke seiner Arbeit ist. Wo Schmitz’ Arbeit mit dem Unterschied von 810 811 812

Vgl. Wendel, »Inkarniertes Subjekt«, 567. Schmitz, Der Leib. Studienausgabe, 63. Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 456.

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5.3. Der körperliche Leib als die transzendentale Bedingung von Authentizität

Symbol und Symbolisierten problemlos eine Allianz eingehen kann, betont Merleau-Ponty hingegen die Einheit von Körper und Leib im Sinne seines »Zur-Welt-seins« deutlicher als Schmitz und darf diesbezüglich eher in die Nähe zum thomanischen Hylemorphismus eingeordnet werden. Diesbezüglich wird deutlich, dass die Arbeiten von Schmitz und Merleau-Ponty beide – aber mit unterschiedlichen Schwerpunkten – hinsichtlich Rahners Theologie des Symbols frucht­ bar kompatibel sind. Bezüglich der ersten zwei Sätze der Theologie des Symbols manifestiert sich dies nochmals: Diese bezeichnen – noch formalontologisch formuliert – das Seiende als »von sich selbst her notwendig symbolisch, weil es sich notwendig ›ausdrückt‹, um sein eigenes Wesen zu finden«813 und das Realsymbol des Leibes als »zur Wesenskonstitution gehörende[r] Selbstvollzug eines Seien­ den im anderen«814. Der Leib kommt folglich nicht extern hinzu, sondern vervollständigt als realsymbolischer Ausdruck das symboli­ sierte Wesen in Konkretisierung seiner Einheit und Eigentlichkeit in körperlich-leiblicher Authentizität. Daran anschließend wird im folgenden Kapitel das Verhältnis von Leiblichkeit und Authentizität in Bezug auf die Ergebnisse aus Kapitel 3 erörtert und so der Begriff der Leiblichen Authentizität final bestimmt.

5.3. Der körperliche Leib als die transzendentale Bedingung von Authentizität Im vorangegangenen Text konnte aufgezeigt werden, dass die phäno­ menologischen und theologischen Erkenntnisse – wie innerhalb der methodischen Analyse bereits angedeutet – miteinander vereinbar und in einen fruchtbaren Dialog zu bringen sind. Nun ist zu klären, wie das strukturelle Verhältnis von körperlichem Leib und Authenti­ zität zu verstehen ist. In Kapitel 3 wurde die Begriffsgenese von Authentizität nach­ vollzogen und festgestellt, dass der Terminus in verschiedenen Fachrichtungen ein entscheidender Arbeitsbegriff war und ist. Der Nachvollzug dieser Begriffsgenese hat zwei zentrale Aspekte offen­ bart, welche dem Verständnis von Authentizität inhärent sind: Das 813 814

Ebd. 426. Ebd. 306.

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5. Leibliche Authentizität

ursprünglich-originale »Hier und Jetzt« und die Kommunikation mit diesem »Hier und Jetzt«. Konkret ausgedeutet wurden diese Aspekte durch den Bezug auf die Editionsphilologie und das Authentizitätsverständnis von Walter Benjamin. Im Prozess der Editionsgenese erarbeiten die Her­ ausgebenden die optimalen Bedingungen der Möglichkeiten, um ein möglichst originales und ursprüngliches Werk bereitzustellen. Die Editionsphilologie hat somit ein enges Verständnis von Authentizi­ tät, welches »das gesamte begriffliche Spektrum von Authentizität durch den Herausgeber auf die Bedeutung von Originalität und Ursprünglichkeit reduziert«815. Folglich führen Herausgebende den Anspruch von Authentizität ausschließlich auf den substantiellen Teil des Seienden zurück und schlussfolgern daraus seinen Sollens­ anspruch von Echtheit, Originalität und Ursprünglichkeit. Mit der Authentifizierung dieses Aspekts schaffen die Editionsphilologen die Bedingung der Möglichkeit einer Rezeption des herausgegebenen Werkes, welche mit Benjamin als auratische Kommunikation verstan­ den werden kann. Diesbezüglich wurde erarbeitet, dass die transpor­ tierten Ansprüche von Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Ursprünglichkeit und Originalität erst mit der empirisch-relationalen Bestimmung des »Woher« und »Worauf« des Kunstwerks konkret werden. Folglich schafft die herausgebende Person die transzendentale Bedingung von Authentizität und durch seinen Akt der Autorisierung oder Zertifika­ tion. Durch diesen Validierungsprozess werden die Bedingungen der Möglichkeit eines kommunikativ-auratischen Erlebnisses zwischen dem Rezipienten und Kunstwerk geschaffen. Der vollständige Begriff des hier erarbeiteten Authentizitätsbegriffs enthält also notwendiger­ weise sowohl das Moment der Zertifikation der Substanz als auch der auratischen Kommunikation. Zusammenfassend lässt sich Authentizität demnach wie folgt bestimmen: Authentizität setzt sich aus der zertifizierten ursprüng­ lichen Originalität des »Hier und Jetzt« und dem performativ-aura­ tischen Erlebnis zusammen. Der normative Anspruch der Echtheit, Eigentlichkeit und Ehrlichkeit entfaltet sich sichtbar in der Kommuni­ kation mit der ursprünglichen Originalität des substanzhaften »Hier und Jetzt«. Wie intensiv sich diese authentische Kommunikation entfaltet oder ob es eine absolute authentische Kommunikation – im Sinne eines unüberbietbaren auratischen Erlebnisses – gibt und 815

Grubmüller, »Authentizität«, 168.

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5.3. Der körperliche Leib als die transzendentale Bedingung von Authentizität

wie diese konkret aussieht, bleibt bewusst im offenen Begriff der Aura unbeantwortet. Entscheidend ist, dass das erste Moment von Authentizität – das ursprünglich-originale »Hier und Jetzt« – die Bedingung der Möglichkeit für das zweite Moment – die auratische Kommunikation, deren Intensität bewusst unbestimmt bleibt – dar­ stellt. Dieses erste Moment der Authentizität wurde, im Sinne des ursprünglichen Originals des »Hier und Jetzt« des Menschen, als körperlicher Leib, der sein »Zur-Welt-sein« konstituiert und seine Ganzheit realsymbolisch notwendig vervollständigt, bestimmt (s. Kapitel 4). Ohne das Konzept der Herausgeberwissenschaften zu überstra­ pazieren, kann nun in Anlehnung an die Vernetzung des phänome­ nologischen Leibverständnisses und theologischen Realsymbols (s. Kapitel 5.2) der Begriff der (körperlich-)leiblichen Authentizität wie folgt gedeutet werden: (Körperlich-)leibliche Authentizität ist zu verstehen als die Seele, welche den Leib durch den Körper »herausgibt«. Oder: Die Seele als »Herausgeber« des Leibes durch den Körper beschreibt (körperlich-)leibliche Authentizität. Diese Deutung ist folgerichtig, da der thomanische Hylemorphismus die Seele als ontologisch vorgängige Einheit des ganzen Menschen postuliert und ihr die Formgebung des Leibes im Sinne der forma corporis zuschreibt. Da das vorangehende Kapitel auf das Potential von fruchtbarer Kompatibilität von theologischer und phänomeno­ logischer Arbeit verwiesen hat, darf anstatt von »Formgebung des Leibes« – durch die phänomenologischen Erkenntnisse von Schmitz – erweiternd fortan von »Formgebung des körperlichen Leibes« gespro­ chen werden. Es kann somit postuliert werden, dass die Seele als causa formalis sich an die materia prima – also ähnlich wie die rein körperlich- empirische Materie – formend mitteilt und folglich durch diesen »›Akt‹ der Materialursache«816 den körperlichen Leib »heraus­ gibt«.817 Von Herausgabe zu sprechen ist in diesem Zusammenhang Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 433. Wie erwähnt geht Thomas nicht von einer für sich existierenden materia prima aus, weshalb die Analogie zwischen phänomenologischem »reinen Körper« und 816 817

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5. Leibliche Authentizität

sinnvoll, nicht etwa um zwangsweise im Bild der Editionsphilologie zu bleiben, sondern um deutlich zu machen, dass dieser formende Akt die Bedingung der Möglichkeit für die Rezeption, also die kommuni­ kative Entfaltung eines anderen – ebenfalls auf diese Art und Weise »herausgegeben« – Menschen erst möglich macht. Der formende Akt kommt nicht von außen hinzu, sondern vervollständigt erst durch seine finale realsymbolische Konkretisierung als körperlicher Leib in Raum und Zeit die ganzheitliche Existenz des Menschen. In Bezugnahme auf die vorangegangenen Erkenntnisse ist fol­ gendes festzuhalten: Die Seele als Herausgeber des körperlichen Leibes umfasst das ursprünglich-originale »Hier und Jetzt« des Men­ schen. Grundsätzlich ermöglicht der Leib im Sinne Merleau-Pontys erst Räumlichkeit (Hier) und Zeitlichkeit (Jetzt) und ist somit in seinem »Zur-Welt-sein« unser Mittel überhaupt, eine Welt zu haben (s. Kapitel 4.1.4). Darüber hinaus erfüllt der körperliche Leib jenes Authentizitätsverständnis im Sinne von zertifizierter ursprünglicherOriginalität gleich doppelt: Dem körperlichen Leib ist neben der absoluten Örtlichkeit, die das eigene Erleben umfasst, eben auch die relative Örtlichkeit, welche empirisch-materiale Körperlichkeit beschreibt und welche taktil sowie visuell wahrnehmbar ist, inhärent. Zertifiziert wahrnehmbar ist der körperliche Leib folglich sowohl durch das Sehen und Anfassen aller Wahrnehmenden (relative Ört­ lichkeit) als auch durch das eigene Erleben (absolute Örtlichkeit) der Person, welche durch jenen körperlichen Leib in realsymbolischkonkretisierter Wirklichkeit ausgedrückt wird. Ebenfalls ist darüber hinaus der daraus freigesetzte Sollensanspruch der ursprünglichen Originalität erfüllt, da es hinsichtlich der transzendentalen Bedingung der Möglichkeit für eine authentische Rezeption bzw. Kommuni­ kation keine Steigerung der Ursprünglichkeit und Originalität des jeweils ausgedrückten Menschen gibt. Jeder Versuch, den Menschen anders medial zu vermitteln, orientiert sich immer an der ursprüng­ lichsten Form des durch die Seele herausgegebenen körperlichen Leibes.818 In Bezug auf die obige Deutung schafft also die Seele thomanischer »materia prima« hier mehr orientierend, in Bezug auf ihre fehlende Symbolhaftigkeit, gemeint ist. Gemeinsam ist beiden Entitäten, dass ihnen ein entscheidender Zusatz zu einer umfassenden Wesenhaftigkeit fehlt (thomanisch fehlt die Formgebung durch die Seele und phänomenologisch die Anwesenheit von Leib­ lichkeit). 818 Dieser Gedanke wird im folgenden Kapitel in Bezug auf die mediale Digitalisie­ rung weitergehend entfaltet.

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5.3. Der körperliche Leib als die transzendentale Bedingung von Authentizität

als Herausgeber des Leibes durch den Körper die transzendentale Bedingung der Möglichkeit für authentische Kommunikation im Sinne von Benjamins Auraerlebnis. Da der so verstandene körper­ liche Leib die unüberbietbare Steigerung von ursprünglicher Origi­ nalität darstellt, kann authentische Kommunikation bzw. Erlebnis der Aura genauer als »Erfahrung von Unmittelbarkeit« bestimmt werden. Denn ausschließlich das ursprüngliche Original des »Hier und Jetzt« des Menschen, verstanden als den Leib herausgebende Seele durch den Körper, konstituiert die Bedingung der Möglichkeit der unmittelbaren Erfahrung der leib-seelischen Ganzheit des Men­ schen. Eine solche Verbindung von Leiblichkeit und Authentizität konstituiert den realsymbolischen Ausdruck des Menschen und ist durch die christlich-mystische Urwort-Herz-Deutung im Sinne der Ganzheit des Menschen fruchtbar erweitert. Somit sind Leiblichkeit und Authentizität wesenhaft verbunden und die normative Größe von (körperlich-) leiblicher Authentizität ist final bestimmt. Da das Ziel der vorliegenden Arbeit eine normative Begründung des Primats der Nichtmedialität ist, um notwendige Orientierung angesichts der Herausforderungen des »Wettbewerbes der Wirklich­ keiten« zu formulieren (s. Kapitel 1), wird im folgenden Kapitel das Konzept der (körperlich-)leiblichen Authentizität auf die Erkennt­ nisse bezüglich digitaler Mediatisierung (s. Kapitel 2) angewendet. Anschließend wird in einem theologischen Ausblick zwecks norma­ tiver Vertiefung die Bewertung des Leibes aus genuin christlicher Perspektive erörtert (s. Kapitel 7), bevor alle Ergebnisse in einem abschließenden Fazit zusammengetragen werden (s. Kapitel 8).

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6. Digitale Mediatisierung und (körperlich-)leibliche Authentizität

Das vorliegende Kapitel behandelt die Anwendung des erarbeiten Konzeptes der (körperlich)-leiblichen Authentizität auf die referierten Eigenschaften digitaler Mediatisierung. Die Leitfrage lautet dabei wie einleitend erörtert: Wie kann, angesichts der zugespitzten Konkur­ renzsituation der Wirklichkeiten, das – nicht mehr selbstverständli­ che – Primat nichtmedialer menschlicher Existenz begründet werden? Orientiert an Friedrich Krotz’ Konzept der Mediatisierung wurde vorangehend die aktuelle technisch-digitale Evolution in die Tradition einer fortlaufenden Medienentwicklung eingebettet, in welcher der Mensch seine nichtmediale Urwirklichkeit mit voranschreitenden technischen Möglichkeiten fortwährend modifiziert, imitiert und erweitert. Mediatisierung ist somit ein Metaprozess, der nicht histo­ risch, sozial oder kulturell entkontextualisiert wird. Mit dem Begriff der »Ausdifferenzierung«819 umschreibt Krotz die Entwicklung von immer komplexeren medialen Kommunikationsformen. Jene Ausdif­ ferenzierung erhält im Zuge der Entwicklung digitaler Technik einen zusätzlichen Schub, wodurch die mediale Technik eine Vormachtstel­ lung gegenüber der analogen einnimmt. Um dieser Entwicklung Rechnung zu tragen und terminologisch auf diese jüngste Phase der Mediatisierung hinzuweisen, wurde der ungenaue Begriff der »Digitalen Revolution« durch den der »digitalen Mediatisierung« ersetzt (s. Kapitel 2). Jene aktuellste Mediatisierungsphase ist also deshalb entschei­ dend, weil sie die Wirklichkeit menschlicher Existenz in ihrer Breite fundamental verändert und somit die Konkurrenzsituation zwischen der Vormachtstellung der Nichtmedialität und Medialität historisch einzigartig eskaliert (s. Kapitel 1). Ohne gewaltige Nachteile ist es

819

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6. Digitale Mediatisierung und (körperlich-)leibliche Authentizität

im Zuge dieser Entwicklung schlicht nicht mehr möglich, sich dieser Medienwelt zu entziehen.820 Die Bestimmung von Medien als »technische Institutionen, über die bzw. mit denen Menschen kommunizieren«821 führt somit zur Frage nach den bestimmenden Merkmalen von Kommunikation. Diesbezüglich wurde aufgezeigt, dass sich eine umfassende Bestim­ mung von Kommunikation nicht in reiner Informationsvermittlung erschöpft, sondern darüber hinaus durch die Fähigkeit der Selbstmit­ teilung und Gemeinschaftsstiftung ausgezeichnet ist. Die Entfaltung digitaler Kommunikationstechniken kumuliert im Internet, welches selbst kein Medium, sondern die Infrastruktur für die Generierung verschiedener Medien darstellt. Somit ist das Internet der bisherige Höhepunkt verdichteter Medienkommunikation. Angesichts dieser Tatsache kann die anfangs formulierte Leitfrage wie folgt konkreti­ siert werden: Ist der Kommunikationssituation des Internets – als vorläufiger Höhe­ punkt verdichteter Medienkommunikation – im Gegensatz zur klas­ sischen nichtmedialen (Face-to-Face-)Konstellation – strukturell das größere Potential inhärent, sich dem anderen in seiner Unmittelbarkeit, bestimmt als Eigentlichkeit, Ursprünglichkeit und Wahrhaftigkeit – also Authentizität – erfahrbar zu machen?822 Oder anders kompakter formuliert: Ist durch die Kommunikation über das Internet die Chance grundsätz­ lich höher, sich dem Gegenüber authentisch selbst mitzuteilen, als inner­ halb einer nichtmedialen Situation, wie etwa bei einem gemeinsamen Restaurantbesuch, bei dem das »Hier und Jetzt« der Kommunizierenden körperlich-leiblich anwesend ist? Um die Fragen zu beantworten, wird ausgehend von dem erar­ beiteten Kommunikationsverständnis zunächst durch einen Rückgriff auf die phänomenologische Kritik am Empirismus die Notwendigkeit Alle Menschen, die Zugang zu digitalen Mitteln besitzen, Gesellschaften und Individuen, die von den Chancen und Möglichkeiten digitaler Technik abgeschnitten sind, werden unter der Bezeichnung »Digital Divide« beschrieben (vgl. Debatin, Bernhard, »›Digital Divide‹ und ›Digital Content‹: Grundlagen der Internetethik«, in: Matthias Karmasin (Hg.), Medien und Ethik, Stuttgart 2002, 220–237). 821 Krotz, Mediatisierung, 37. 822 Positiv gewendet könnte man auch fragen: Warum ist das nichtmediale die authentischere Kommunikationssituation? 820

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6.1 Kommunikation: mehr als Information

der Leiblichkeit für Bestimmung von Kommunikation erarbeitet (s. Kapitel 6.1). Anschließend wird aufbauend auf dieser Erkenntnis obige Frage hinsichtlich des Potentials von (digital-)medialer Kom­ munikation beantwortet (s. Kapitel 6.2) und zuletzt werden die bis­ herigen Ergebnisse in einem Zwischenfazit gebündelt (s. Kapitel 6.3).

6.1 Kommunikation: mehr als Information Wie bereits in Kapitel 2.3 deutlich gemacht wurde, lässt sich die umfassende Bedeutung von Kommunikation nicht final bestimmen. Da dies auch nicht in der Forschungsverantwortung der vorliegenden Argumentation liegt, wurde zuvor eine explizit offene Beschreibung festgelegt. Diesbezüglich wurde betont, dass die Reduzierung von Kommunikation auf reine Informationsvermittlung dem Phänomen nicht gerecht wird. Der Austausch und die Verarbeitung von Infor­ mationen sind somit ein notwendiger, allerdings kein hinreichender Bestandteil von Kommunikation. Neben der Informationsvermitt­ lung wurde ebenso das Moment der Selbstmitteilung sowie das der Gemeinschaftsstiftung für die Bestimmung von Kommunikation aufgezeigt. Nach Georg Simmel wurde gezeigt, dass Selbstmitteilung entscheidend durch unbewusst paralinguistische Merkmale begleitet wird, wie etwa das Erröten oder die Betonung einzelner Worte. Kommunizierende würden sich ganz automatisch in Indiskretion üben, indem sie nach nicht bewusst mitgeteilten Inhalten suchten und durch Kombination diese mit aufnähmen, um letztlich auch die unaus­ gesprochene und nicht intentional mitgeteilten Aspekte der Ganzheit des Gegenübers zu ergründen. Im Rahmen einer Freundschaftsbezie­ hung nennt er diese Bemühung der wechselseitigen Indiskretion die Lösung der »Verschlossenheiten der Seele«823. Gemeinschaftsstiftung baut somit auf erfolgreicher Selbstmitteilung auf, da jene tiefere Ebene erst ein gemeinsames Weltbild möglich mache: »Kommuni­ kation ist der Kitt und die Voraussetzung von Gemeinschaften«824. Dieses »Mehr« eines Kommunikationsverständnisses, das über die einfache Form eines Sender-Empfänger-Modells hinausgeht, wird Simmel, Georg, »Psychologie der Diskretion«, in: Ders., Soziologie. Aufsätze und Abhandlungen, Bd. 8, herausgegeben von Alessandro Cavalli und Volkhard Krech, Frankfurt am Main 1992, 108–115, hier: 112. 824 Kannetzky, »Dilemmata der Kommunikationstheorie«, 105. 823

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6. Digitale Mediatisierung und (körperlich-)leibliche Authentizität

angesichts der referierten Kritik von Maurice Merleau-Ponty und Hermann Schmitz am Empirismus bzw. Physikalismus nochmals vertiefend deutlich. Wie zuvor (s. Kapitel 4.1.1) demonstriert, attestiert MerleauPonty dem Empirismus eine »verarmte Wahrnehmung«825. Der Versuch des Empirismus, Wahrnehmung mit Empfindung gleichzu­ setzen und diese wahlweise als Impression, Qualität oder Reiz zu verstehen, sei innerhalb der selbst gesetzten Binnenlogik von techni­ scher Kausalität nicht schlüssig. Dies macht er deutlich, indem er aufweist, dass zum Beispiel Qualitäten vom selben Objekt jeweils unterschiedlich und Empfindungen grundsätzlich im Kontext und nicht als punktuell Gesondertes wahrgenommen werden. Zudem argumentiert er mit alltäglicher Erfahrung, dass die Welt weder voll­ ständig transparent sei, noch dass der Empirismus das Phänomen der Aufmerksamkeit erklären könne, ohne sich selbst zu widersprechen. Der Empirismus – wie auch der Intellektualismus, welcher hier aber nicht relevant ist, – beschneide somit die Ganzheit der menschlichen Wahrnehmung und demnach auch die Ganzheit der Kommunikation. Die gleiche Reduktion stellt auch Hermann Schmitz angesichts derselben erkenntnistheoretischen Radikalität fest. Im Rahmen sei­ ner Physiologismuskritik (s. Kapitel 5.1) demonstriert er, dass Kom­ munikation und Wahrnehmung sehr viel komplexer als simple Kodierungs- und Dekodierungsprozesse sind und ein binäres Sen­ der-Empfänger-Modell alle Aspekte von Leiblichkeit außen vor lasse. Entscheidend sei diesbezüglich die von ihm beschriebene Situation der chaotischen Mannigfaltigkeit, welche sich nicht in einzelne Teile aufteilen lasse, sondern mit einem Schlag durch leibliche Kommuni­ kation wahrgenommen werde. Der »physiologische Fehlschluss«826 sei somit die Spaltung der Wahrnehmung in Subjekt und Objekt, welche in solchen Momenten keine erklärende Zuordnung fänden. Beispielsweise sei für die Reduktion des Physiologismus die Wahr­ nehmung von Atmosphären oder kollektiven Gefühlen überfordernd. Diese träten in einer Gewitterstimmung oder des Grauens eines Unfalls auf und werden als Halbdinge durch Einleibung wahrgenom­ men. Diese Momente der leiblichen Affektion, wie sie im Extremfall dann auch in der primitiven oder entfalteten Gegenwart auftreten, machen – ebenso wie die Hinweise Merleau-Pontys – deutlich, dass 825 826

Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 44. Schmitz, »Anthropologie ohne Schichten«, 132.

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6.1 Kommunikation: mehr als Information

Kommunikation verstanden als reiner Informationsaustausch die menschliche Dimension der Leiblichkeit ignoriert. Anders formuliert: Die Reduzierung von menschlicher Kommunikation auf nichts ande­ res als Informationsaustausch wäre ein Rückfall in die Vorstellung von Wahrnehmung als eine Interaktion zwischen Reizquellen und deren korrespondierenden Sinnesorganen und somit der – bereits energisch kritisierte – physiologische Fehlschluss in Reinform. Folglich kann nochmals – nun durch die phänomenologischen Argumente bestärkt – festgehalten werden, dass menschliche Kommunikation sich nicht in reiner Informationsweitergabe im Sinne des physiologistischen Fehlschlusses bzw. einer Verarmung der Wahrnehmung erschöpft, sondern darüber hinaus notwendig leiblich konnotiert ist und somit transzendentale Bedingung für Gemeinschaftsfähigkeit und die Mit­ teilung des eigenen Selbst ist. Nachdem dies geklärt ist, muss nun in der weiterführenden Antwortsuche bezüglich der Leitfrage der entscheidende Unterschied zwischen der Kommunikationssituation des Internets und der Faceto-Face-Konstellation thematisiert werden. Das differentia specifica zwischen menschlicher Kommunikation, welche medial und nichtme­ dial vermittelt wird, ist – wie in Kapitel 4 demonstriert und obig noch­ mals ausgedeutet – der körperliche Leib als Realsymbol. Angesichts der erarbeiteten und in Kapitel 5 zusammengeführten phänomeno­ logischen und theologischen Ergebnisse kann festgehalten werden, dass die körperlich-leibliche Face-to-Face-Kommunikationssituation orientierend an der Mediendefinition nach Krotz nichtmedial ist, da körperliche Leiber keine »gesellschaftliche[n] Institutionen, die auf Technik beruhen«827, darstellen. Jede Form von medial vermittelter Kommunikation, ob es sich dabei um eine simple E-Mail, einen Skype-Anruf oder die exotische Form der Digital-Touch-Nachricht via Apple Watch handelt, erweitert, transformiert und imitiert die ursprünglichste Form menschlicher Kommunikation, welche aus körperlich-leiblicher Präsenz erwächst. Diese Präsenz ist die Quelle der ursprünglichen Originalität Kommunizierender. Die Ursprüng­ lichkeit des körperlichen Leibes ist deshalb unhintergehbar, da der Mensch eben nicht in Form von digitalem Code oder – utopisch gesprochen – als fühlendes und tastendes Hologramm geboren wird, sondern in körperlich-leiblicher Verfasstheit, die im Sinne eines Ponty’schen être-au-monde die unabänderliche Ausgangssituation 827

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6. Digitale Mediatisierung und (körperlich-)leibliche Authentizität

seiner Wahrnehmung und Kommunikation zur Welt im »Hier und Jetzt« konstituiert. Jede nachfolgende Wahrnehmungs- oder Kom­ munikationssituation ist eine mediale Ableitung, Erweiterung oder Veränderung dieser ursprünglichen körperlich-leiblichen Originali­ tät. Die körperlich-leibliche Präsenz der nichtmedialen Face-to-FaceSituation ist deshalb unhintergehbar ursprünglich. Die entscheidende Frage, um die strukturelle Potentialität authentischer Kommunikation zwischen der Kommunikationssitua­ tion der medialen und der nichtmedialen Welt zu bewerten, lautet: Kann jene Ursprünglichkeit durch die Technik der digitalen Medialität ohne Defizit ersetzt werden? Falls dies der Fall sein sollte, gibt es kei­ nen normativ-unhintergehbaren Grund, warum menschliche Kom­ munikation nicht vollständig medial vermittelt im digitalen Raum stattfinden sollte. Jenseits des Faktums der Potentialität von authenti­ scher Kommunikation lassen sich bereits zum jetzigen Zeitpunkt viele Aspekte benennen, die den Kommunikationsraum Internet im Sinne der Erweiterung und Modifizierung von konventionellen Kommuni­ kationsformen nicht nur positiv, sondern gegenüber der klassischen Face-to-Face-Situation vielmehr überlegen erscheinen lassen. Als Beispiele offensichtlicher Vorteile digital-medialer Kommu­ nikation gegenüber nichtmedialer für nahezu jeden Bereich mensch­ licher Lebenswirklichkeit sei unter anderem im Folgenden auf die kommunikative Sprengung von Raum und Zeit hingewiesen, die dazu führt, dass es im Zuge digitaler Mediatisierung möglich ist, mit jedem auf der Welt jederzeit zu kommunizieren. Darüber hinaus ist es möglich, anonymisiert zu kommunizieren, welches gerade in politischen Kontexten wichtig sein kann (Stichwort: Whistleblower). Außerdem stellen die erhöhte Geschwindigkeit, Automatisierung und Anzahl der gleichzeitigen Kommunikationssituationen eine erhebliche Chance für ökonomische Zusammenhänge dar. Einfacher formuliert: Wenn es mit digitaler Technik tatsächlich möglich wäre, körperlich-leibliche Präsenz so zu imitieren, dass es keinerlei Einbu­ ßen bezüglich der Chance auf authentische Selbstmitteilung gäbe, hätte medial vermittelte Kommunikation einen offensichtlichen Vor­ teil gegenüber nichtmedialer, da letztere in Bezug auf obig genannte mediale Erweiterungen und Modifizierungen defizitär ist: Bezüglich der obig genannten Beispiele kann festgehalten werden, dass nicht­ mediale Kommunikation örtlich und zeitlich gebunden, Anonymisie­ rung schwierig und unsicher und die Anzahl gleichzeitiger Kommuni­ kationssituationen stark begrenzt ist.

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6.2 Digitale Mediatisierung: nichts als Zeichen

6.2 Digitale Mediatisierung: nichts als Zeichen Ausgehend von jenen offensichtlichen Vorteilen digitaler Mediati­ sierung mag der (oberflächliche) Schluss naheliegen, jene mediale Wirklichkeit der nichtmedialen, als Ort der Kommunikation und des allgemeinen Lebensvollzuges, vermehrt vorzuziehen. Dass es erste Anzeichen für die Umsetzung einer solchen Überzeugung gibt, wurde bereits anhand der Erörterung des technologischen Posthumanismus sowie mit dem Hinweis auf die tendenzielle Abkehr des körperlichen Leibes im Sinne eines Rückgangs von Face-to-Face-Kommunikati­ onssituationen aufgezeigt (s. Kapitel 1). Diesem voreiligen Schluss lässt sich eine klare Absage erteilen: In der Perspektive der zuvor referierten Forschungserkenntnissen wird offensichtlich, dass es der Technik digitaler Mediatisierung nicht möglich ist, die Ursprünglichkeit körperlicher Leiblichkeit ohne Defi­ zit nachzuahmen. Dies hängt konkret mit der Besonderheit digitalmedialer Kommunikation zusammen: Grundeigenschaft dieses Kom­ munikationsraumes ist die Ablösung körperlich-leiblicher Präsenz als Identitätsverifizierung durch die eines sogenannten Avatars. Jene Stellvertreter sind zum Beispiel E-Mail-Adressen, Facebook-Profile oder IP-Adressen, welche im Internet die Teilnahme der Kommunika­ tionsteilnehmer ausweisen und folglich die entsprechende Funktion körperlich-leiblicher Präsenz innerhalb von nichtmedialen Face-toFace-Kommunikationsvorgängen imitieren.828 Entscheidend ist, dass Avatare – unabhängig von der ausge­ drückten Form – unabänderlich der binnenlogischen Struktur digita­ ler Mediatisierung unterworfen sind. Digital-medialer Vermittlung ist es intrinsisch unmöglich, körperlich-leibliche Authentizität, wel­ che die realsymbolische Daseinsform des Menschen konstituiert, vollständig zu ersetzen. Der Grund dafür liegt im bereits ausführlich beschriebenen Unterschied zwischen Körper und Leib. Die Technik der digitalen Mediatisierung ist ausschließlich in der Lage, reine Körperlichkeit (s. Kapitel 4.2.2) auszudrücken, da sie selbst durch ein technisch-materielles System konstituiert ist. Aufgrund ihrer struktu­ rellen Veranlagung ist sie nicht in der Lage, Leiblichkeit, im Sinne von Schmitz absoluter Örtlichkeit beziehungsweise Merlau-Pontys primordialen être-au-monde, abzubilden. 828 Vgl. Beil, Benjamin, Avatarbilder. Zur Bildlichkeit des zeitgenössischen Computer­ spiels, Bielefeld 2012, 11.

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6. Digitale Mediatisierung und (körperlich-)leibliche Authentizität

Jene strukturelle Unzulänglichkeit und potentielle Problematik ist bereits aktuell aufweisbar. Mit dem Blick auf das noch nicht erfüllte Potential technischer Möglichkeiten wird jener intrinsische Mangel digitaler Technik nochmals vertiefend offensichtlich: Um dies zu veranschaulichen, sei der Blick in eine mögliche Zukunft gewagt, die in der Perspektive aktueller technischen Entwicklungen – vor allem im Bereich »Virtual-Reality« – nicht unrealistisch ist: Gesetzt den Fall, die aktuelle technische Entwicklung setzt sich mit gleicher Qualität und Geschwindigkeit fort, ist es nicht unvernünftig anzuneh­ men, dass ein zukünftiger Avatar nicht mehr durch zum Beispiel ein Skype- oder Facebook-Profil, sondern durch ein – der menschlichen Erscheinung von außen nicht unterscheidbares – sprechendes, hören­ des, tastendes, schmeckendes und riechendes Hologramm dargestellt wird. Darüber hinaus wird angenommen, dass durch jenen Avatar der Zukunft jeder Mensch in derselben Geschwindigkeit und mit denselben bereits erwähnten Vorteilen digital-medialer Technik kom­ munizieren kann. Ein auf diese Weise gedachter »perfekter« Avatar, der aktuell eher einer Science-Fiction-Erzählung zugerechnet würde, wäre trotz aller vermeintlich vollendeten Imitation nicht mehr als eine empi­ risch-materiale und damit einseitig-unvollständige Abbildung von menschlicher Ganzheit.829 Eine Ganzheit, die sich durch körperlichleibliche Authentizität auszeichnet und – wie im Namen bereits angedeutet – sowohl durch Körperlichkeit als auch Leiblichkeit kon­ stituiert ist. Diese Unzulänglichkeit wird zuerst mit Blick auf die phänomenologischen Erkenntnisse deutlich: Unabhängig davon, wie fortschrittlich die Möglichkeiten digital-medialer Technik sich noch entwickeln, sie werden aufgrund ihrer inhärenten Struktur nicht das Erlebnis von unstetigen Leibesinseln in absoluter Örtlichkeit darstel­ len können. Dasselbe gilt für das Phänomen des Weg!-Impulses, in 829 Passend dazu formuliert Walter Benjamin im Bereich der Kunst bezüglich einer noch so qualitativ minderwertigen nicht-medialen Situation: »Die kümmerlichste Provinzaufführung des ›Faust‹ hat vor einem Faustfilm jedenfalls dies voraus, daß sie in Idealkonkurrenz zur Weimarer Uraufführung steht. Und was an traditionellen Gehalten man vor der Rampe sich in Erinnerung rufen mag, ist vor der Filmlein­ wand unverwertbar geworden [...]« (Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, 477). Übertragen auf den hier diskutierten Zusam­ menhang ist festzuhalten, dass selbst ein noch so unerfolgreicher nicht-medialer Austausch der medialen Situation – in Bezug auf ihre Echtheit – inhärent überle­ gen ist.

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6.2 Digitale Mediatisierung: nichts als Zeichen

dem sich der Mensch auf dichteste Weise seiner selbst in primitiver Gegenwart als das Zusammenfallen von seinem »Dasein«, »Hier«, »Jetzt«, »Ich«, und »Dieses« in ununterscheidbarer Verschmelzung gewahr wird. Selbst wenn eine so drastische Angst oder Enge, die einen solchen Impuls veranlasst, innerhalb digital-medial vermittel­ ter Wirklichkeit ausgelöst wird, vollzieht sich das Erlebnis primitiver Gegenwart nicht in der digital-medial vermittelten Körperlichkeit, sondern an dem wirklichen, eigentlichen und echten Ort des kör­ perlich-leiblichen Daseins des Betroffenen. Anders formuliert: Das existentielle Moment primitiver Gegenwart, das den Menschen in ein Erlebnis von unhintergehbarer Betroffenheit versetzt, kann struktu­ rell nicht innerhalb einer ausschließlich empirisch-materiell vermit­ telten Kommunikationssituation erlebt werden, da hierfür zwingend die absolute Örtlichkeit des körperlichen Leibes notwendig ist. Ein »Sichfinden« (s. Kapitel 4.2.1) ist ausschließlich in primitiver Gegen­ wart möglich und eine digital-mediale Imitation der Bedingungen der Möglichkeit für ein solches Sichfinden ist folglich inhärent defi­ zitär und lässt ausschließlich eine maximal partielle Sichfindung zu. Folglich erlebt der Betroffene den Weg!-Impuls, welcher in dem Erlebnis primitiver Gegenwart kumuliert, nicht innerhalb des von ihm genutzten digital-medialen Avatars, sondern am Ort seiner körperlich-leiblichen Authentizität.830 In direktem Zusammenhang mit diesem Extremfall des Sichfin­ dens (Weg!-Impuls) steht die phänomenologische Erklärung, wes­ halb der Mensch sich als körperlich-leibliche unzersplitterte Einheit wahrnimmt. Der Grund dafür ist, wie in Kapitel 4.2.3 beschrieben, der absolute Ort des Leibes im Ganzen. Dieser manifestiert sich durch dumpfen Druck im Sinne einer kontinuierlichen Spannung, welche letztlich wieder auf die primitive Gegenwart zurückgeht und als diskrete, kontinuierliche Wirkung auftritt, die im Sonderfall des 830 Hinzu kommt, dass jeder Mensch ausschließlich sich selbst erleben kann und dieser Erfahrung ein einmaliges und nicht im Original vermittelbares Erleben ist (Nagel, What Is It Like to Be a Bat?) In Bezug auf Benjamins Überlegungen hinsichtlich der Echtheit von Kunstwerken, könnte diese Vermittlung des Unvermittelbaren mit dem Terminus der Aura als »Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag« (Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, 480) greifbar gemacht werden. Das eigene unvermittelbare Erleben tritt somit in leiblicher, also nicht-medialer Kommunikation in Erscheinung, ohne allerdings vollends greifbar zu werden. Die nicht-mediale Situation ist im Verhältnis zur medialen, aber diejenige, wo es wenigstens die Möglichkeit zur Erscheinung, also des auratischen Moments am Gegenüber gibt.

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6. Digitale Mediatisierung und (körperlich-)leibliche Authentizität

Weg!-Impulses wie obig beschrieben besonders deutlich wird. Eben jene Wahrnehmung der eigenen unteilbaren Einheit im Ganzen fällt ebenfalls unter die inhärent nicht technisch-empirisch kopierbaren Aspekte des körperlichen Leibes und verschärft somit das strukturelle Defizit, das digital-mediale Technik konstituiert. Im Sinne des zuvor erarbeiteten Begriffs der körperlich-leib­ lichen Authentizität manifestieren sich durch die aus den phäno­ menologischen Ergebnissen erschlossenen Unzulänglichkeiten digi­ taler Mediatisierung konkrete normative Folgen. Orientierend an dem editionsphilologischen Authentizitätsideal und des thomaischen Hylemorphismus wurde festgestellt, dass die Seele als Herausge­ ber des körperlichen Leibes gleich doppelt die Seite zertifizierter ursprünglicher-Originalität durch relative und absolute Örtlichkeit erfüllt. Den Blick wieder auf die Möglichkeit eines »perfekten« Avat­ ars gerichtet ist festzustellen, dass dieser zwar die taktile und visuelle Zertifizierung (relative Örtlichkeit) durch andere und einen selbst potentiell perfekt imitiert, die verifizierte Wahrnehmbarkeit durch das ausschließlich eigene Erleben im Sinne des absoluten Ortes, aus bereits beschriebenen Gründen, strukturell jedoch nicht leisten kann. Eine bloß partielle Vermittlung des »Hier und Jetzt« von Authentizität schwächt die normative Kraft der ursprünglichen Originalität und das damit zusammenhängende Potential der Erfahrung von Unmittelbar­ keit erheblich. Verschärft wird dieses Defizit, die Ursprünglichkeit des Originals zu vermitteln, durch die phänomenologischen Ergebnisse von Maurice Merleau-Ponty, der die primordialen Bedingungen von Leiblichkeit und die von ihm schlicht »Leib« genannte Entität mit dem bereits erläuterten »être-au-monde«, also die unhintergehbare Bedingung der Möglichkeit für den Zugang zu und die Interaktion mit der Welt, aufweist. Diese originalste Form aller Ursprünglichkeit ist die transzendentale Bedingung der Möglichkeit für eine (authen­ tische) Rezeption und – wie aufgezeigt – durch digital-mediale Technik strukturell nicht vermittelbar. Die perfekte digital-mediale Vermittlung ist also weder in der Lage, eine höherwertige noch eine gleichwertige Chance auf authentische Rezeption – im Sinne Erfah­ rung von Unmittelbarkeit – als die körperlich-leibliche Präsenz zu gewährleisten, da die transzendentale Bedingung der Möglichkeit für jene Rezeption bereits ausschließlich unvollständig vermittelt werden kann. Denn: Hinter jenem erdachten perfekten Avatar steht weiterhin das von diesem imitierte Original in Form des durch die Seele heraus­ gegebenen körperlich-leiblichen Menschen, welcher nach wie vor –

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6.2 Digitale Mediatisierung: nichts als Zeichen

unabhängig von der technischen Qualität – die Schnittstelle zwischen nichtmedialer Wirklichkeit und der Interaktion mit der digital-medial vermittelten Welt darstellt. Die Negierung dieses Gedankens erliegt dem sogenannten »immaterialistischen Fehlschluss«831 und geht folglich an der faktischen Wirklichkeit vorbei.832 In Bezug auf den von Rahner benutzten thomanischen Hylem­ orphismus hieße diese partielle Vermittlung menschlicher Ganzheit, dass die Technik der digitalen Medialität ausschließlich eine Art materia prima ohne die Formgebung der Seele vermittelt und folg­ lich der »›Akt‹ der Materialursache«833 strukturell nicht dargestellt werden kann. Rahner formuliert in direktem Bezug zu jenem Hylem­ orphismus, dass erstens »das Seiende [...] von sich selbst her notwen­ dig symbolisch [ist], weil es sich notwendig ›ausdrückt‹, um sein eigenes Wesen zu finden«834 und zweitens, dass das »eigentliche Symbol (Realsymbol) [...] der zur Wesenskonstitution gehörende Selbstvollzug eines Seienden im anderen«835, also in der geformten materia prima ist. Mit dem Blick auf die defizitären Möglichkeiten digital-medialer Technik kann also festgehalten werden, dass ohne den Akt der Materialursache es nicht zum notwendigen Ausdruck von Unmittelbarkeit kommt, da jener (körperlich-)leibliche Ausdruck nicht optional und extern hinzukommt, sondern konstitutives Ele­ ment der realsymbolischen Ganzheit im Sinne von körperlich-leibli­ cher Authentizität ist. Weiter sei auf den fünften und sechsten Satz in phänomenologi­ scher Perspektive verwiesen, die im Folgenden bereits entsprechend aktualisiert werden, indem der Begriff des Leibes durch den des »körperlichen Leibes« ersetzt wird. Erweitert durch die Erkenntnisse der Neuen Phänomenologie darf formuliert werden: Der körperliche Leib ist das Symbol der Seele, insofern er als der Selbstvollzug der Seele (wenn auch nicht als deren adäquater) gebildet 831 Münker, Stefan, »Medienphilosophie der Virtual Reality«, in: Mike Sandbo­ the/Ludwig Nagl (Hg.), Systematische Medienphilosophie, Berlin 2005, 381–396, hier: 384. 832 Als Extrembeispiel für die Aufhebung des Schnittstellengedankens sei hier auf die erwähnte Singularity-Bewegung von Ray Kurzweil verwiesen, der eine Digitalisie­ rung des menschlichen Geistes und somit seine Unsterblichkeit anstrebt. 833 Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 433. 834 Ebd. 278. 835 Ebd. 290.

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6. Digitale Mediatisierung und (körperlich-)leibliche Authentizität

wird, und sich die Seele in dem von ihr verschiedenen körperlichen Leib selbst anwesend sein und in ›Erscheinung‹ treten lässt. Der sechste Satz von Rahners Symboltheologie lautet im Rahmen derselben aktualisierenden Systematik wie folgt: In dieser Einheit von Symbol und Symbolisierten, die durch den körper­ lichen Leib und die Seele gebildet werden, sind die einzelnen Teile des körperlichen Leibes mehr als bloß quantitativ addierte Stücke des ganzen körperlichen Leibes; sie sind vielmehr in einer eigentümlichen Weise immer so Teile, dass sie auch das Ganze noch in sich befassen, wobei dieses freilich von den einzelnen Teilen in verschieden strengem Maß gelten mag. Ein Realsymbol ist der notwendige Ausdruck der Wirklichkeit, welche es repräsentiert, und hat die Wirklichkeit, die es ausdrückt, immer schon inhärent. Die Negierung des (Real-)Symbols ist gleichzusetzen mit der Negierung der Ganzheit jener symbolisierten Wirklichkeit. In Bezug auf nichtmediale und digital-mediale Kommunikation kann vertiefend konstatiert werden, dass selbst die perfekteste Form eines digital-medialen Avatars strukturell nicht mehr als ein informieren­ des Zeichen der imitierten, menschlichen Wirklichkeit darstellen kann und in Folge dessen an der intendierten Vermittlung der Ganz­ heit inhärent scheitern muss. Anders formuliert: Gesetzt den Fall, der täuschend echt wirkende, aber eben digital-medial vermittelte Avatar wird gelöscht, so bleibt die Wirklichkeit der durch die Seele herausge­ gebenen Realpräsenz körperlich-leiblicher Authentizität unverändert bestehen. Die ursprüngliche Originalität wird nicht durch den digi­ tal-medial vermittelten Avatar vervollständigt, weil dieser es seinem Wesen nach schlicht nicht kann, da er lediglich die Struktur eines informierenden Zeichens darstellt. Diese unvollständige zeichenhafte Imitation zeigt sich bereits zum gegenwärtigen Stand der technischen Entwicklung, gilt aber – zeitlich unabhängig – für jede vergangene Form von digital-medialer Vermittlung, als auch für jene utopische Variante des hier postulierten perfekten Avatars. Hinsichtlich der Erkenntnis, dass Kommunikation sich nicht in einem simplen Sender-Empfänger-Modell erschöpft, sondern darüber hinaus mannigfaltiger Selbstmitteilung und gemeinschafts­ stiftend ist, darf vorsichtig vermutet werden, dass – gesetzt den Fall, menschliche Kommunikation würde ausschließlich digital-medial vermittelt geschehen – die Wahrscheinlichkeit auf authentische

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6.2 Digitale Mediatisierung: nichts als Zeichen

Gemeinschaft oder wahrhaftige Selbstmitteilung sehr viel geringer ausfallen würde als eine Kommunikation, die sich innerhalb des nicht­ medialen Raumes vollzieht. Da eine ausschließlich empirisch-mate­ riell vermittelte Kommunikation nicht über die Wahrnehmungsfor­ men des Physiologismus hinauskommt, weil sie intrinsisch jegliche Form von Leiblichkeit ausblendet, wird jene Form von Interaktion ausschließlich auf Informationsaustausch reduziert und schränkt den zuvor erarbeiteten Teil kommunikativer Selbstmitteilung mindestens ein. Zwei Kommunizierende, die ausschließlich durch (perfekte) Ava­ tare kommunizieren, tun dies strukturell exklusiv innerhalb eines simplen Kodierungs- und Dekodierungsprozesses, der folglich die Möglichkeiten ganzheitlicher Kommunikation hinsichtlich des Leibes beschneidet. Es wäre vermessen zu behaupten, dass eine solche digi­ tal-mediale Kommunikation keinerlei Selbstmitteilung oder Gemein­ schaft hervorbringen könnte. Der symbolische Interaktionismus von Mead bzw. Krotz integriert neben nichtmedialen Zeichen und Sym­ bolen ja explizit auch mediale.836 Es darf aber sicher postuliert werden, dass eine solche Kommunikation eine geringe Chance auf authentische Selbstmitteilung und folglich auch Gemeinschaftsstif­ tung beinhaltet – im Gegensatz zu jener nichtmedialen Gegenseite, da Ersterer hinsichtlich der kommunikativen Potentiale des Leibes beschnitten ist. Abschließend kann nun im Rückgriff auf die eingangs formu­ lierte Frage subsumiert werden, dass der Kommunikationssituation des Internets – als vorläufiger Höhepunkt verdichteter Medienkom­ munikation im Gegensatz zur klassischen Face-to-Face-Konstella­ tion – strukturell nicht das größere Potential, sich dem anderen in sei­ ner Eigentlichkeit, Ursprünglichkeit und Wahrhaftigkeit – kurz seiner Authentizität – unmittelbar erfahrbar zu machen, inhärent ist. Viel­ mehr kann der digital-mediale Kommunikationsraum strukturell aus­ schließlich die körperlich, empirisch-materiale Seite des Menschen und somit nur partiell menschliche Ganzheit abbilden. Somit bleibt die Technik der digitalen Mediatisierung in Bezug auf die Chance, Authentizität und damit die Gesamtheit menschlicher Wirklichkeit erfahrbar zu machen, aufgrund der eigenen binnenlogischen Struktur grundsätzlich der nichtmedialen Situation unterlegen. Trotz aller Entscheidend ist hier, dass nach Mead und Krotz Symbole und Zeichen synonym und nicht im Sinne Rahners Unterscheidung von Realsymbol und Zeichen zu verste­ hen ist.

836

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6. Digitale Mediatisierung und (körperlich-)leibliche Authentizität

durchaus existierenden Vorteile digital-medial vermittelter Kommu­ nikation ist der nichtmedialen Situation ein strukturell höheres Potential authentischer Kommunikation inhärent. Die Erkenntnis um die Möglichkeit jenes grundsätzlichen höheren Potentials führt zu folgender Einsicht: Die Chance für die Kommunizierenden sich einan­ der in ihrer körperlich-leiblichen Authentizität erfahrbar zu machen, ist aufgrund des realsymbolischen Charakters körperlich-leiblicher Präsenz, der durch die Seele herausgegeben wird, strukturell nicht nur höher, sondern diese Chance besteht ausschließlich innerhalb der nichtmedialen Kommunikationssituation, da die inhärent defizitäre Form der digital-medialen Kommunikation jene menschliche Ganz­ heit intrinsisch nicht ausdrücken kann. Konkretisiert formuliert: Die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich uneingeschränkt – also nicht nur partiell – in meiner ursprünglichoriginalen Ganzheit dem Gegenüber erfahrbar mache, ist nur inner­ halb der nichtmedialen und somit körperlich-leiblichen Kommunika­ tionssituation, im Gegensatz zur digital-medialen, möglich. Somit ist die Chance auf uneingeschränkte authentische Kommunikation im Sinne der Erfahrbarkeit der Unmittelbarkeit von ursprünglich-origi­ naler Ganzheit ausschließlich innerhalb der nichtmedialen Kommu­ nikationssituation gegeben.

6.3 Zwischenfazit Was bedeutet das vorangehend Erarbeitete für die Wertung der digi­ tal-medialen Kommunikationswirklichkeit im Vergleich zur nichtme­ dialen und für den konkreten Umgang mit den sich weiterhin schnell entwickelnden Techniken digitaler Mediatisierung? Zunächst ist festzuhalten, dass die obig erarbeitete Erkenntnis weder etwas darüber aussagt, wie gelungene (authentische) Kommu­ nikation in einem absoluten Stadium konkret aussehen würde, noch postuliert sie, dass zwingend jede nichtmediale Kommunikation zu jener – wie auch immer definierten – »absoluten«, authentischen Kommunikation führen muss. Eine solche Situation unüberbietba­ rer erfahrbarer Authentizität wurde in Kapitel 3 mit dem bewusst unscharfen – und an Walter Benjamin angelehnten – Begriff der Aura beschrieben. Gesetzt den Fall, eine solche Absolutheit von authenti­ scher Kommunikation – man könnte auch mit Simmel von »idealer Freundschaft« sprechen – existiert, so deuten die referierten Ergeb­

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6.3 Zwischenfazit

nisse darauf hin, dass die formale Definition einer nicht überbietbaren authentischen Kommunikation im Sinne eines auratischen Moments die Erfahrbarkeit der ursprünglichen Gesamtheit menschlicher Wirk­ lichkeit beinhalten muss. Jene Vermittlung von Ganzheitlichkeit kann die Technik der digitalen Mediatisierung aus obig beschriebenen Gründen strukturell nicht nur nicht überbieten, sondern scheitert bereits an der Bereitstellung der Möglichkeit für jene nichtpartielle Kommunikation. Dies bedeutet in Bezug auf die anfangs formulierte Frage: Die Technik der digitalen Mediatisierung ist nicht in der Lage, eine höhere Chance in Bezug auf eine solche Kommunikati­ onssituation zu generieren, da ihre einseitige Vermittlungsstruktur zu signifikanter Einschränkung in Bezug auf die transzendentalen Bedingungen jenes auratischen Moments von Kommunikation führt. Die vorliegende Arbeit trifft aufgrund anfangs formulierter Ziel­ setzung keine finale Aussage über die Existenz, die konkrete inhalt­ liche Manifestation und die auftretende Häufigkeit einer solchen nicht überbietbaren, gelungenen, authentischen Kommunikation. Sicher postuliert werden kann das strukturelle Defizit digital-media­ ler Technik, unüberbietbare Selbstmitteilung im Sinne einer abso­ luten Authentizitätserfahrung überhaupt erst möglich zu machen. Diesbezüglich können bereits jetzt – präperfektem-Avatar – entspre­ chende Problemfelder aufgezeigt werden (s. Kapitel 1). Wie aufgezeigt besteht das Novum der digitalen Mediatisierung darin, dass jene medial vermittelte Wirklichkeit zum ersten Mal seit der Geschichte der Mediatisierung aufgrund der neuartigen Imitationsqualität der nichtmedialen Welt zu einer ernsthaften Konkurrenz der ursprüng­ lichen Wirklichkeit wird. Mit Blick auf die aktuellen technischen Entwicklungen erscheint es im Bereich des Möglichen eine digitalmedial vermittelte Welt zu schaffen, in welcher Menschen exklusiv kommunizieren und ihre Lebenszeit verbringen. Als Beispiel sei hier auf das bereits im Jahr 2003 veröffentlichte Spiel »Second Life« hingewiesen, welches das Konzept des vollständigen Ersatzes nicht­ medialen Lebens explizit vertritt.837 Mit der Entwicklung aktueller Virtual-Reality-Techniken ist ein digital-medial vermittelter Wirk­ lichkeitsersatz keine Utopie mehr und stellt eine ernsthafte Anfrage an die Präferenz der nichtmedial vermittelten Kommunikations- und Lebenswirklichkeit dar. Diese Anfrage manifestiert sich bereits ten­ 837

Vgl. »Second Life« [https://secondlife.com] Abgerufen am 20.10.2022.

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6. Digitale Mediatisierung und (körperlich-)leibliche Authentizität

denziell im aktuellen Zeitgeist zugunsten digital-medial vermittelter Wirklichkeit (s. Kaptitel 1). Das vorliegende Kapitel verweist auf die Problematik blinder Technikgläubigkeit und widerlegt die Vermutung, dass die digitalmediale Wirklichkeit der nichtmedialen grundsätzlich überlegen ist. Darüber hinaus zeigt es den unersetzbaren Vorteil nichtmedialer Wirklichkeit auf: das Dasein ursprünglich-originaler menschlicher Existenz im Sinne körperlich-leiblicher Authentizität. Somit wird deutlich, dass alle technisch-mediale Bemühungen nichtmediale Kommunikation und Existenz letztlich bereichern und nicht verdrän­ gen sollte. Grundsätzlicher sollte Technik auf menschliches Leben ermöglichend und helfend wirken und nicht unterwerfend und erset­ zend. Die entscheidende Frage ist nun, ob mit diesem Ergebnis jenem Zeitgeist ein ausreichend überzeugendes Gegenargument geboten wird. Eine mögliche Reaktion auf den hier referierten real­ symbolischen Status körperlich-leiblicher Präsenz könnte Gleichgül­ tigkeit sein: Der Abwägungsprozess einer solchen Haltung würde dann zugunsten der vielen Vorteile digital-medialer Kommunika­ tion ausfallen und die strukturelle Unmöglichkeit des Ausdrucks körperlich-leiblicher Authentizität durch die Techniken der digita­ len Mediatisierung – im Sinne einer ohnehin vorherrschenden körperlich-leiblichen Abneigung – ignorieren. Zum Beispiel könnte auf die vielen als belastend empfundenen Merkmale körperlichleiblicher Existenz verwiesen werden. Beispiele dafür sind unan­ genehme Temperaturwahrnehmungen, Verdauungsnachwirkungen, biologische Geschlechtergebundenheit, die Limitierung von gleich­ zeitigen Kommunizierenden oder ganz einfach unangenehme Gerü­ che, Laute oder die Gebundenheit an das »Hier und Jetzt« von Ort und Zeit. All diese als Nachteile der in der nichtmedialen Wirklichkeit wahrgenommenen Faktoren könnten potentiell in einer Lebensund Kommunikationswirklichkeit, die digital-medial vermittelt wäre, auf Wunsch angepasst oder ganz negiert werden. Eine solche Ent­ scheidung gegen die nichtmedial und zugunsten der digital-medial vermittelten Wirklichkeit wäre die Manifestation absoluter Leibab­ neigung und die bewusste Entscheidung für eine partielle Selbst­ mitteilung im Sinne des cartesianischen Dualismus; ausgedrückt in reinem Physiologismus innerhalb einer ausschließlichen Zeichen­ welt. Ein Bewohner der digital-medialen Wirklichkeit würde inner­

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6.3 Zwischenfazit

halb jedes kommunikativen Vorgangs jegliche leiblichen Aspekte und somit den gesamten Anteil absoluter Örtlichkeit ausblenden. Dies hätte die strukturelle Beschneidung menschlicher Ganzheit zur Folge, die grundsätzlich die ursprüngliche Originalität des »Hier und Jetzt« menschlicher Existenz aufgeben würde, welche sich in körperlich-leiblicher Authentizität manifestiert. Weiter würde dieser sich niemals als Realsymbol seiner Selbst, sondern ausschließlich als informierendes Zeichen erfahrbar machen. Demzufolge wäre die Möglichkeit des Gelingens einer auratischen Kommunikationssitua­ tion grundsätzlich nicht gegeben. Der Wettstreit um die Präferenz von nichtmedialer oder digitalmedialer Kommunikations- und Lebenswirklichkeit mündet letztlich in der Frage, wie die ursprüngliche Ganzheit menschlicher Lebens­ wirklichkeit – ja letztlich die Immanenz seiner Existenz – zu bewerten ist. Über den Wunsch nach einer ausschließlich digital-medial vermit­ telten Lebens- und Kommunikationswirklichkeit, in der sich jegliches menschliche Dasein vollzieht, können aufgrund des deskriptiven Charakters phänomenologischer Methodik nur begrenzt normative Aussagen getätigt werden. Wie an der Theologie des Symbols und der Herzdeutung des Leibes bereits gezeigt wurde, bietet die katholische Theologie jenseits von nur phänomenologischer Bestimmung einen Mehrwert in Gestalt eines Sinnhorizontes, welcher sich aus genuin christlichen Inhalten speist. Im folgenden Kapitel soll dieser Sinnhorizont in Gestalt eines theologischen Entdeckungszusammenhangs dargelegt werden. Die­ ser soll das weitere Entfaltungspotential der in diesem Zwischenfazit gesicherten Erkenntnisse verdeutlichen und den Mehrwert einer genuin christlichen Deutung des Leibes systematisch aufzuzeigen. Anschließend wird in einem abschließenden Fazit die im folgenden Kapitel (7) aufgezeigte Einordnung – von körperlich-leiblicher Prä­ senz als unhintergehbar-positiv im Ursprung und Zentrum der christ­ lichen Tradition – mit den vorangehend erarbeiteten Ergebnissen zusammengeführt (s. Kapitel 8).

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7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit

»Über Körper und Eros so [im Sinne einer grundsätzlichen positiven Konnotation] (wieder) zu sprechen ist die Herausforderung der Theo­ logie von heute. Wenn sie ihre eigenen Wurzeln ernst nimmt, wird sie sich ihr stellen.«838

So formuliert die Theologin Theresia Heimerl in einem Aufsatz über das Spannungsverhältnis der christlichen Theologie bezüglich des Körpers839 und der vermeintlichen Sündhaftigkeit des Eros. Obiges Zitat trifft das im aktuellen Kapitel angestrebte Ziel präzise: Im Folgenden wird, mit Blick auf die jüdischen Ursprünge (s. Kapitel 7.1) und den zentralen Logos-Fleisch-Inhalt des Christentums (s. Kapitel 7.2), aufgezeigt, wie deutlich der christlichen Lehre eine fundamentale Bejahung von Körper, Leib und der nichtmedial ver­ mittelten Wirklichkeit inhärent ist. Abschließend wird das Potential jener Bejahung zu den bereits erörterten normativen Überlegungen digital-medialer Technik in Bezug gesetzt. Der somit eröffnete theolo­ gische Entdeckungszusammenhang erweitert die bereits erarbeiteten Ergebnisse und bettet die Argumentation für das Primat nichtmedia­ ler Wirklichkeit menschlicher Existenz in einen explizit christlichen Sinnzusammenhang ein. Anschließend werden alle Ergebnisse in einem erweiterten Fazit gebündelt zusammengefasst (s. Kapitel 8).

Heimerl, Theresia, »Wer hat den Eros vergiftet? Historische Grundlegungen und postmoderne Fragen zum Spannungsfeld Eros, Körper und Theologie«, in: Stefan Orth (Hg.), Eros – Körper – Christentum. Provokation für den Glauben?, Freiburg im Breisgau 2009, 18–46, hier: 45. 839 Wie bereits erwähnt, ist innerhalb der genutzten philosophischen und theolo­ gischen Schriften keine Einheitlichkeit bezüglich der Begriffsnutzung von Körper und Leib auszumachen. Daher wird im folgenden der Versuch einer nachträglichen Vereinheitlichung auch nicht angestrebt und lediglich innerhalb der nicht direkt zitierten beziehungsweise paraphrasierten Erkenntnisse auf die eigene, erarbeitete Begriffspräzision bestanden. 838

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7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit

7.1 Christentum: Religion systematischer Körperfeindlichkeit? Die Überschrift des vorliegenden Kapitels muss auf den ersten Blick anstößig wirken. Das Christentum soll körperliche Leiblichkeit beja­ hen? Jene Religion, die seit Jahren für eine prüde Sexualethik, die vermeintlich überholte Tradition des Zölibats und angeblich naive Weltabgewandheit steht? Dieses Glaubenssystem, welchem der Phi­ losoph Herbert Schnädelbach in seinem kontroversen Artikel »Der Fluch des Christentums«, in dem er als einen von sieben Geburts­ fehlern »systematische Leibfeindlichkeit«840 diagnostizierte? Genau dieses Christentum – so die im Folgenden dargelegte These – ist in der Perspektive seines zentralen Kerninhalts und seines Ursprungs dem körperlichen Leib fundamental positiv zugeneigt. Ein guter Startpunkt für den Beleg der vermeintlich anstößigen These ist jene erwähnte Kritik Schnädelbachs. Dieser postulierte zu Beginn seines Aufsatzes die notwendige Auflösung des Christentums, da jenes nach der Aufhebung genannter Geburtsfehler nicht mehr von einem aufgeklärten Judentum zu unterscheiden sei. Darüber hinaus falle die »kulturelle Gesamtbilanz insgesamt verheerend«841 aus und christliche Wirkungsenergie beschränke sich mittlerweile auf die eines »profanen Humanismus«842. Obwohl diese vernichtende Konklusion bereits im Jahre 2000 bezüglich der Argumente weder neu noch besonders differenziert ausfällt, kann sie trotzdem als erster Impuls hilfreich sein.843 Lehrreich ist für den vorliegenden Kontext 840 Schnädelbach, Herbert, »Der Fluch des Christentums. Die sieben Geburtsfehler einer alt gewordenen Weltreligion. Eine kulurelle Bilanz nach zweitausend Jahren«, in: Die Zeit 20 (2000) [https://www.zeit.de/2000/20/200020.christentum.xml] Abgerufen am 20.10.2022. 841 Ebd. 842 Ebd. 843 Der Artikel Schnädelbachs rief eine lebhafte Debatte hervor, die sich besonders in der Wochenzeitung »Die Zeit« entfaltete. Folgend soll schlagartig auf antwor­ tende Stimmen aus der Philosophie und Theologie verwiesen werden. Eindrucksvoll erwiderte aus der Philosophie Robert Spaemann auf den Fluchartikel von Schnädel­ bach, besonders auf den Vorwurf, dass sich das Christentum in einem aufgeklärten Judentum erschöpfe: »Das Christentum beruht auf einem Glauben mit kognitivem Anspruch. ›Zeuge der Wahrheit‹ zu sein, dadurch definiert Jesus im Johannesevange­ lium vor Pilatus seinen Königstitel. Es gibt eine Tendenz in den Kirchen, den Wahr­ heitsanspruch des Christentums auf Trivialitäten zu reduzieren, denen jeder halbwegs Gutwillige zustimmen muss und die Schnädelbach aufgeklärtes Judentum nennt.

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7.1 Christentum: Religion systematischer Körperfeindlichkeit?

besonders die Benennung des Imports platonischer Philosophie durch die Kirchenväter als Ursache für den, innerhalb des Christentums

Er begrüßt diese Trivialisierung, hält sie allerdings für das Ende des Christentums. Und das ist auch so. Jude ist man nämlich durch Abstammung, welche Überzeugung auch immer man haben mag. Christ kann man als Erwachsener nur sein aufgrund bestimmter Überzeugungen. Bezeichnenderweise wird von dem, der Jude werden will, auch, außer der Beschneidung, ein bestimmtes Bekenntnis verlangt. Aufgeklärter Jude im Sinne Schnädelbachs kann man gar nicht werden. Aufgeklärte Juden sind nur im ethnischen Sinne Juden« (Spaemann, Robert, »Die Taube auf dem Dach. Gott ist nicht der Veranstalter des Bösen. Ein Einspruch gegen Schnädelbachs Ökumene der Absurditäten«, in: Die Zeit 33 (2000) [https://www.zeit.de/2000/23/200 023.replik_schaedelb.xml] Abgerufen am 20.10.2022). Bezüglich der Kreuzkritik Schnädelbachs schrieb Spaemann: »Dass das Kreuz als Zeichen der Erlösung deshalb verwerflich sei, weil ›Passionsgeschichten und Martyrerlegenden die beste Einübung in die christliche Behandlung der Heiden und Ketzer waren‹, darauf ist allerdings bisher noch niemand gekommen (die Martyrerakten der ersten Jahrhunderte kennt Schnädelbach anscheinend nicht). Den kleinen Unterschied zwischen Tätern und Opfern kann man anscheinend vernachlässigen, und den Holocaust sollte man tunlichst leugnen, weil die Erinnerung an die Opfer ebenso wie der Gesang ›O Haupt voll Blut und Wunden‹ Nachahmungstäter zu Untaten animiert! Vor dieser Logik kann man nur noch verstummen« (ebd.). In Bezug auf die Kreuzthematik sei ebenso auf die präzise Wortmeldung des Theologen Michael Korthaus hingewiesen: »Kann eine theologisch verantwortete christliche Position darin bestehen, das umstrit­ tene Kreuz aufgrund der Gefahr, mit ihm in Frömmigkeit, Predigt und Erziehung möglicherweise auch Missbrauch zu treiben, aus der Schusslinie zu nehmen, so dass zusammen mit dem Kreuz auch die hier zum Tragen kommende entscheidende Pointe des christlichen Glaubens aus dem Blick rückt? […] Dann aber wird sich die Rede vom Kreuz Christi und der Gebrauch dieses zentralen christlichen Symbols in Predigt, Lehre und Seelsorge an der am Kreuz verwirklichten und entsprechend in der Predigt des Gekreuzigten (vgl. 2. Kor 2,2) zur Sprache gebrachten Rechtfertigung des Menschen durch Gott orientieren. Und eine solche rechtfertigungstheologische Orientierung der Rede vom Kreuz Christi steht jeder Deutung des Kreuzes entgegen, die dieses als düsteres, gewaltinspirierendes ›Fluchsymbol‹ verstehen möchte, wie H. Schnädelbach es in seinem Zeit-Artikel unternommen hat. Das Kreuz ist nicht Fluch-, sondern Heilszeichen der Christen! Das allerdings erschließt sich freilich erst in der Wahrnehmung des ganzen Weges, den Jesus Christus den Menschen zugute gegangen ist und dessen zentrale Stationen (Geburt, Kreuz und Auferweckung) sich gegenseitig interpretieren« (Korthaus, Michael, »Das Christentum – ein Fluch über unserer Kultur? Die passionstheologischen Momente der ›Schnädelbach-Debatte‹«, in: Deutsches Pfarrerblatt 2 (2001), 6f.). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass angesichts einer Wirklichkeit, in der der Wahrheitsanspruch des Christentums alles andere als selbstverständlich ist, die Fundamentalkritik Schnädelbachs nicht als einseitige Kritik schnell verworfen, sondern als willkommener Anlass genommen werden sollte, um sich als Christ seiner (anspruchsvollen) Glaubenswahrheit neu zu vergewissern (ganz im Sinne von 1. Petrus 3,15b).

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7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit

befindlichen, ontologischen (Diesseits/Jenseits) und anthropologi­ schen (Körper/Seele) Dualismus: »Der christliche Platonismus bedeutete nicht nur im Kosmos, sondern auch im Menschen die normative Herabsetzung der Wirklichkeit, das heißt seiner Leiblichkeit. Das Ergebnis ist die systematische Leib­ feindlichkeit der christlichen Tradition, wie sie sich besonders in der repressiven Sexualmoral der Kirchen forterbte.«844

Warum eine »systematische Leibfeindlichkeit der christlichen Tradi­ tion« grob falsch ist, wird folgend noch aufgezeigt. Trotzdem trifft die These in der Problembeschreibung durchaus eingeschränkt zu und kann für den vorliegenden Zusammenhang orientierend helfen. Tat­ sächlich ist der Einfluss platonischer Philosophie auf das Christentum vorhanden und wurde in der Forschung bereits umfassend behandelt. Der Kirchenvater Augustinus von Hippo (354–430) übernahm etwa das platonische Bild des Körpergefängnis für die Seele und formu­ lierte: »Man könnte unseren Leib auch Kerker nennen, nicht weil ein Kerker ist, was Gott schuf, sondern weil in ihm ein Straffall vorliegt und Verfall. Zweierlei ist in unserem Leibe zu beachten: Gottes Gebilde und Strafe nach Verdienst. [...] Denn deinen Leib schuf Gott gut, er der Gute; den Verfall führte er ein als der Rechtübende, weil er Richter ist. Das erste hast du als Wohltat, das zweite als Strafvollzug.«845

Dieses Zitat zeigt die Mannigfaltigkeit und Widersprüchlichkeit von Augustinus Anthropologie. Für Platon war der Körper mit der Eigenschaft des Tierischen und Primitiven belegt, der die Seele vom Aufstieg in das Reich der Ideen hindert. Die sinnliche, wahrnehm­ bare Welt ist innerhalb seiner Philosophie demnach das Abbild jener Verstandeswelt ewiger Ideen, woraus sich deren natürlicher Vorrang und eine klare Schräglage zugunsten der Seele und allem Geistigen ergibt. In Augustinus christlich-metaphysischer Lehre ist diese Grundhaltung strukturell mit eingewoben. Hier wird der schöpferische Verstand Gottes als Ursprungs- und Aufenthaltsort jener ewigen Ideen gedacht. Insofern hat Gott die sichtbare Schöpfung nach der unsichtbaren Verstandeswelt geschaffen, was den Dualismus zwischen beiden in der Wertung abschwächt. Jene Abschwächung Schnädelbach, »Der Fluch des Christentums«. Augustinus, »Erklärung der Psalmen. Zu Ps 141,8«, in: Alfons Heilmann, Hein­ rich Kraft (Hg.), Texte der Kirchenväter, Bd. 1, München 1963, 415f, hier: 415f.

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7.1 Christentum: Religion systematischer Körperfeindlichkeit?

zeigt sich konkret am Körper. Zwar ist für Augustinus dieser positiv konnotiert, da er von Gott geschaffen ist, allerdings sind die dem Körper inhärenten Eigenschaften mit einem negativen Vorzeichen im Sinne der Erbsünde als Strafe und Last versehen. Postuliert wird hingegen in Bezug auf die Seele, dass diese eine stärkere Nähe zur göttlichen Ideenwelt als der Körper aufweist und von diesem strukturell in ihrem Potential beschnitten würde.846 Wichtig zu beachten ist, dass Augustinus Haltung bezüglich Körperlichkeit nicht als primitive Körperfeindlichkeit, sondern viel mehr als funda­ mentaler Pessimismus gegenüber Körperlichkeit einzuordnen ist.847 Ähnliches gilt für Platons Haltung, wie in Kapitel 5.1.2 durch die Ausführungen von Kammler bereits gezeigt wurde. Eine geradezu absolute Körperfeindlichkeit dagegen tritt innerhalb der Gnosis auf. Diese sehr unterschiedlich auftretende Denktradition drückt den anthropologischen Dualismus in der Form einer absoluten Körperund Immanenzabneigung ohne Einschränkung aus. Jene Sekte strebt letztlich die Überwindung jeglicher Körperlichkeit an und behauptet nicht nur die Unverbundenheit der göttlichen und weltlichen Sphähre, sondern postuliert deren Unvereinbarkeit und letztlich kriegerische Auseinandersetzung.848 Der Platoniker Celsus beschrieb in der Dar­ stellung des Origenes die gnostische Haltung in Bezug auf den Körper wie folgt: »Es ist das eine Hoffnung, die geradezu für Würmer passend ist. Denn welche menschliche Seele dürfte sich wohl noch nach einem verwesten Leibe sehnen? […] Das Fleisch nun, voll von Dingen, die man anständigerweise nicht nennen kann, wider die Vernunft als ewig darzustellen, wird Gott weder willens noch imstande sein. Denn er selbst ist die Vernunft alles Seienden; er kann daher nichts tun, was der Vernunft oder seinem eigenen Wesen widerspricht.«849 846 Vgl. Heimerl, »Wer hat den Eros vergiftet?«, 25. Augustinus spricht von der Ver­ langsamung der Seele auf ihrem Weg in den Himmel, um auf den Körper zu warten, nach dem sie ein Bedürfnis (lat. appetitus) hat. (vgl. Augustinus, De Genesi Ad Lit­ teram Libri Duodecim, 12,34, ed. Zycha, I.: CSEL 28,1 (1894) 3–435,, hier: 432). 847 Vgl. Freyer, Thomas, »›Leiblichkeit‹ als ›der-Eine-für-den-Anderen‹?. Zu einer Leitperspektive heutiger theologischer Anthropologie«, in: Ders., Der Leib. Theologi­ sche Perspektiven aus dem Gespräch mit Emmanuel Levinas, Osterfildern 2009, 14–32, hier: 14. 848 Vgl. Heimerl, »Wer hat den Eros vergiftet?«, 28 und vgl. Wetz, »Dualismus«, 388. 849 Origenes, Acht Bücher gegen Celsus, in: Des Origenes ausgewählte Schriften, III. Band. II. Teil, Buch V-VIII. Übersetzt von Paul Koetschau (= Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 53), München 1927.

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7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit

Augustinus Anthropologie ist dieser gnostischen Radikalität explizit nicht zuzuordnen. Er löste sich bereits nach einigen Jahren vom Manichäismus (nach Mani 216 – ca. 276), der unter starkem Einfluss der Gnosis stand und trat zu diesem in weitaus stärkere Opposition850 als zum Neuplatonismus.851 Trotzdem ist jenseits aller Ambivalenzen innerhalb seiner Antwortsuche auf die Frage: »Was ist der Mensch?« ein anthropologischer Dualismus nicht zu leugnen, der davon aus­ geht, dass der Mensch mit dem Körper bestraft ist, da dieser verfällt, gebrechlich ist, krank werden kann und letztlich zentraler Ausdruck von Unvollkommenheit und Endlichkeit darstellt.852 Heinzmann for­ mulierte bezüglich des Einflusses von Augustinus Anthropologie auf das Christentum: »Das neuplatonisch-augustinische Verständnis des Menschen galt als das spezifisch christliche.«853. Die Nachwirkun­ gen dieser Einbuchung der platonischen Tradition in die christliche Theologie sind in der Geschichte des Christentums kontinuierlich nachweisbar. Diese Folgeerscheinungen treten als offensichtlich kör­ perfeindliche Tendenzen innerhalb der christlichen Tradition zutage. Jene werden durch körperliche Erfahrungen von Alter, Krankheit und begrenzter Erkenntnisfähigkeit bestärkt und kumulieren in der Überzeugung, dass das Seelische und Spirituelle allein der authen­ tische Mensch sei.854 Der bereits im Eingangskapitel angedeutete Zusammenhang von Körper und Eros manifestiert sich demzufolge besonders negativ in der restriktiven Sexualethik des Christentums, die besonders Frauen trifft.855 Dabei führte die platonische Körper­ abneigung zu einer ebenso tendenziösen Bibelhermeneutik.856 Die 850 »Vielmehr gilt ihm das Körperliche ebenso als Gottes Schöpfung wie die Seele; weder wird das Körperliche wie bei den Manichäern als minderwertiges Produkt eines bösen Demiurgen gedeutet, noch gilt die Seele als präexistenter Teil der intelli­ giblen Welt wie bei den Neuplatonikern.« (Horn, Christoph, »Augustins Anthropo­ logie. Zwischen Dualismus und Hylemorphismus«, in: Ludger Jansen, Christoph Jedan, (Hg.), Philosophische Anthropologie in der Antike, Frankfurt 2010, 381–398, hier: 385). 851 Vgl. ebd. 384f. 852 Vgl. Heinzmann, »Anima unica forma corporis«, 239. 853 Ebd. 242. 854 Vgl. Vorgrimler, Herbert, Neues Theologisches Wörterbuch, Freiburg in Breisgau 2000, 383. 855 Vgl. Eckholt, Margit, Ohne die Frauen ist keine Kirche zu machen – Der Aufbruch des Konzils und die Zeichen der Zeit, Ostfildern 2012. 856 Vgl. Schroer, Silvia/Staubli, Thomas, Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt 2012, XIII und s. Kapitel 7.2.

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7.1 Christentum: Religion systematischer Körperfeindlichkeit?

Theologin Regina Ammicht Quinn beschreibt den Einfluss der anti­ ken Ablehnung des Körpers auf das sich neu formende Christentum als das Postulat des fehlbaren Körpers, in den »die Sünde selbst inkarniert«857 sei. Die christliche Haltung demgegenüber fasst sie wie folgt zusammen: »Dieser anthropologische Dualismus lehrt nicht nur das Auseinan­ derklaffen von ›Leib‹ und ›Seele‹, Materiellem und Immateriellem, sondern eine Art Kriegszustand zwischen beiden, ein Belagerungszu­ stand mit wechselseitigen Überraschungsangriffen: den asketischen Angriffen der Seele auf den Leib, den ekstatisch-lustvollen Angriffen des Leibs auf die Seele. Der Sieg ist ungewiss und wird erst mit dem Tod entschieden.«858

Dieser Konkretisierung zufolge wird der zugrundeliegende anthropo­ logische Dualismus des Christentums und mit ihm ein fundamentales Misstrauen gegenüber Körperlichkeit als Ursprung problematischer kirchlicher Handlungen und Dokumente deutlich. Heimerl verweist in diesem Zusammenhang auf »Humanae vitae«859, »Gaudium et spes«860, »Familiaris consortio«861 und den Katechismus der Katho­ lischen Kirche, welchem sie »Misstrauen gegenüber dem Eros und der lustvoll erlebten Körperlichkeit«862 bescheinigt, die sich in einer Art Überspiritualisierung als »fromme theologische Sprechblase«863 manifestiert, die nach Heimerl der Tiefe des Eros nicht gerecht wird.864 Im Kern sind ihr zufolge die Formulierung der Bußbücher des Mit­ Ammicht Quinn, Regina, »Sexualität und Sünde. Moralische Körper-Fragen«, in: Stefan Orth, (Hg.), Eros – Körper – Christentum. Provokation für den Glauben?, Freiburg im Breisgau 2009, 64–81, hier: 68. 858 Ebd. 69. 859 Papst Paul VI., »Humanae Vitae«, in: Acta Apostolicae Sedis 60 (1968), 481–503. 860 Ders., »Gaudium et Spes«, in: Acta Apostolicae Sedis 58 (1966), 1025–1115. 861 Papst Johannes Paul II., »Familiaris consortio«, in: Acta Apostolicae Sedis 74 (1982), 81–191. 862 Heimerl, »Wer hat den Eros vergiftet?«, 39. 863 Ebd. 40. 864 Vgl. ebd. 40f. Auszugsweise seien hier die von ihr gewählten Beispiele aus Gau­ dium et Spes (GS) und aus dem Katechismus der Katholischen Kirche zitiert: »Diese eigentümlich menschliche Liebe geht in frei bejahter Neigung von Person zu Person, umgreift das Wohl der ganzen Person, vermag so den leib-seelischen Aus­ drucksmöglichkeiten eine eigene Würde zu verleihen und sie als Elemente und beson­ dere Zeichen der ehelichen Freundschaft zu adeln. Diese Liebe hat der Herr durch eine besondere Gabe seiner Gnade und Liebe geheilt, vollendet und erhöht. [...] Sie ist viel mehr als bloß eine erotische Anziehung, die, egoistisch gewollt, nur zu schnell wieder erbärmlich vergeht.« (GS Nr. 49) und »Unkeuschheit ist ein ungeregelter Genuss der 857

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7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit

telalters über die Bildung einer strengen Kontrollmoral bis hin zum päpstlichen Verbot von Präservativen – neben einigen Nebenursa­ chen – auf den anfangs verwiesenen Geburtsfehler, der Einbuchung des platonischen anthropologischen Dualismus in die christliche Tradition, zurückzuführen. Zur Einordnung sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass nicht nur das Christentum exklusiv unter dem Einfluss des platonischen Dualismus stand und steht, sondern in gewisser Weise die gesamte abendländische Philosophie bis Kant von jener einseitigen Anthro­ pologie beherrscht wurde.865 Dieser Einfluss ist ebenfalls aktuell aufweisbar, da sich dualistische Tendenzen in Form von Leibabnei­ gung und latenter Körperfeindlichkeit auf bereits beschriebe Art und Weise – völlig unabhängig von der christlichen Lehre – mani­ festieren (s. Kapitel 1).866 Dass sich innerhalb der Geschichte des Christentums eine besondere Qualität jener Eros- und Körperfeind­ lichkeit herausbildete, ist darauf zurückzuführen, dass sowohl im Ursprung des Christentums als auch im inhaltlichen Zentrum des Körpers als »Dreh- und Angelpunkt der christlichen Theologie mit der Lehre von der Inkarnation, der Körper-Werdung Gottes, [...] mit

geschlechtlichen Lust oder ein ungeordnetes Verlangen nach ihr. Die Geschlechtslust ist dann ungeordnet, wenn sie um ihrer selbst willen angestrebt und dabei von ihrer inneren Hinordnung auf Weitergabe des Lebens und auf liebende Vereinigung losge­ löst wird« (Katechismus der Katholischen Kirche, München 2003, Nr. 2351). 865 Vgl. Wetz, »Dualismus«, 388. Die Aussage nach Wetz muss natürlich dahinge­ hend entschärft werden, dass es immer wieder eindrucksvolle Momente der Loslösung des Dualismus, wie etwa bei Paulus, der Befreiungstheologie oder in der feministi­ schen Theologie, gab und gibt. 866 Ganz grundsätzlich lässt sich dies bereits an dem Ausdruck »Er ist eine gute Seele!« nachvollziehen. Wir würden, wenn wir positiv über einen anderen Menschen sprechen nie »Er ist ein guter Leib!« sagen. Dieses Beispiel zeigt die Tiefe, in die der platonische Dualismus selbst in unserer Alltagssprache vorgedrungen ist (vgl. Schmitz, Der Leib. Studienausgabe, 517). Vertiefend in Bezug auf einen vorherrschen­ den und im Kern zerstörerischen Körperkult formuliert Regina Ammicht Quinn: »Der Körper ist heute nicht mehr einfach Schicksal bei dem einen eben etwas besser, bei der anderen etwas, schlechter; er ist vielmehr das Ergebnis von Handlungen. Diese Handlungen werden ritualisiert und formen einen verbreiteten, zeit- und kostspieligen Körperkult. Der Körperkult, der den Körper als Götze vorstellt, den man anbetet und dem man opfert, schlägt um in Körper‐Verachtung oder sogar Körper‐Hass. Denn der Körper wird nie der normierten Ästhetik entsprechen und er wird als fehlbarer und sterblicher nie die erhofften Standards des Funktionierens erreichen. So deklariert der Körperkult den Körper, wie er ist, letztlich zum Handicap: Körper als Behinderung« (Ammicht Quinn, »Sexualität und Sünde«, 72).

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7.1 Christentum: Religion systematischer Körperfeindlichkeit?

all seinen Regungen in den Mittelpunkt des Interesses«867 rückt. Gleichzeitig ist aber die »aus der Spätantike erwachsene christliche Tradition der Urangst vor der Triebstruktur des Menschen«868 unge­ brochen präsent. Dieser Logik folgend stand und steht der Körper innerhalb des Christentums in einem Spannungsverhältnis zwischen den Eigenschaften von heilsnotwendig und sündeninkarniert. Anders formuliert: Der Körper ist »nicht mehr nur Kerker der Seele sondern Bezugspunkt des Heils«869. Dieses vermeintlich unauflösliche Spannungsverhältnis lässt den Körper zum Ansatzpunkt der Heilsbemühungen werden. Seine Begierde, Endlichkeit, Unvollkommenheit und Verletzlichkeit, ja schlicht seine sündhafte Unkontrollierbarkeit soll durch kontrollie­ rende Praktiken und restriktive Ge- sowie Verbote unter Kontrolle gebracht werden. Zu jenen Praktiken gehören zum Beispiel Selbst­ geißelung, Askese und Fasten, die in der Gesamtheit der erwähn­ ten Kriegserklärung an die eigene Körperlichkeit ähneln. Ammicht Quinn präzisiert diese aggressiven Heilsbemühungen innerhalb des beschriebenen Spannungsfeldes wie folgt: »Der Körper wird zum Feind, stückweise abgetötet und vernichtet. Man kämpft dabei aber nicht nur gegen, sondern auch für etwas: für das Leben der Seele«870. Ist dieser Ausdruck von selbstbekämpfender Körperfeindlich­ keit der Kern des Christentums? Decken sich jene Praktiken mit dem Urwesen und der inhaltlichen Quintessenz christlicher Glau­ benslehre? Oder ist es vielmehr an der Zeit, von der Betrachtung des Körpers als »Schlachtfeld des Heils« abzulassen und den Entde­ ckungszusammenhang im Sinne der Ursprünge jüdisch-christlicher Anthropologie und des zentralen Logos-Fleisch-Gedankens neu zu ergründen? Interessant ist, dass letztere Idee nicht exklusiv innerhalb der Theologie geäußert wird.871 So formuliert der eingangs zitierte Ebd. 19. Ammicht Quinn, Regina, »Das Zeitliche segnen: Körperkult und Todesangst in der Kultur der Gegenwart«, in: ZGP 20 (2002) 3, 21–23, hier: 22. 869 Heimerl, »Wer hat den Eros vergiftet?«, 19. 870 Ammicht-Quinn, »Das Zeitliche segnen«, 22. 871 »Auch wenn die frühe Kirche – Athanasius etwa – den lnkarnationsbegriff nicht als Feier des sterblichen Fleisches verstand, sondern als Aufforderung, körperliche Bedürfnisse – Nahrung, Schlaf, Sexualität – soweit als möglich zu ignorieren, ist möglicherweise heute die Zeit gekommen, in der wir uns den lnkarnationsbegriff neu zu Eigen machen können und müssen« (Ammicht-Quinn, »Das Zeitliche segnen«, 23) und: »Das Christentum hat mit dem Bekenntnis zu dem in Jesus Christus Mensch gewordenen, ›eingefleischten‹ Gott eine Spur in die Geschichte gelegt, die m. E. heute 867

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7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit

Schnädelbach diese Forderung indirekt in seiner Fundamentalkritik und verweist im Anschluss an seine (richtige) Diagnose der Körper­ feindlichkeit auf eine spannende Spur: »Beide Denkmodelle, die Platon in neuplatonischer Vermittlung reprä­ sentieren, bestimmen das christliche Denken bis heute, obwohl sie in Wahrheit mit dem Kernbestand des Alten und Neuen Testaments unvereinbar sind.«872

Dieser Kernbestand christlicher Glaubensinhalte wird im folgenden Kapitel in einem Zweischritt herausgestellt. Zuerst wird der man­ nigfaltige Begriff der jüdisch-christlichen Anthropologie bezüglich einer möglichen ursprünglichen Bejahung körper-leiblicher Ganz­ heitlichkeit geprüft und anschließend wird anhand des zentralen Glaubenssatzes der Fleischwerdung des Logos eine fundamentale christliche Körper- und Immanenzbejahung demonstriert. Dieser Argumentation folgend kann anschließend im Sinne des erarbeiteten Authentizitätsbegriffs aufgezeigt werden, dass das Christentum nicht nur nicht mit notwendig systematischer Körperfeindlichkeit auftreten muss, sondern dass authentisches Christentum vielmehr explizite Bejahung des körperlichen Leibes im Sinne einer holistischen Anthro­ pologie bedeutet.

7.2 Jüdisch-christlicher Ursprung: Leibbejahung in Schrift und Wort In Geburt, Kreuzigung und Auferstehung – als wichtige Ereignisse des Christentums – spielt (körperliche) Leiblichkeit jeweils eine zentrale Rolle. Der formulierten Zielsetzung der Untersuchung des Ursprungs und Zentrums des Christentums folgend, wird anschlie­ ßend besonders die jüdisch-christliche Anthropologie und das Ereig­ nis der Inkarnation als Beleg für die Körperbejahung innerhalb des Christentums herangezogen. Diese Argumentation hat aber keinen wieder eine neue Begehung verdient. Darin liegt – allen leibfeindlichen Tendenzen zum Trotz, die die Christentumsgeschichte bis heute durchziehen – ein grundlegendes Ja zur Körperhaftigkeit menschlicher Existenz!« (Heimbach-Steins, Marianne, »Sind wir im eigenen Körper zu Hause? Theologisch-ethische Denkanstöße«, in: Friedhelm Kreiß u.a. (Hg.), Nur Mittel zum Zweck? Vom Umgang mit dem eigenen und fremden Körper im Sport. Mülheim/Ruhr 2001, 19–33, hier: 30). 872 Schnädelbach, »Der Fluch des Christentums«.

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7.2 Jüdisch-christlicher Ursprung: Leibbejahung in Schrift und Wort

Anspruch auf abschließende Vollständigkeit, sondern versteht sich vorrangig als anfängliche Wegbereitung weg von einem klischeehaf­ ten Narrativ des körperfeindlichen Christentums. Um zu zeigen, dass die Schriften des Alten und Neuen Testa­ ments grundsätzlich nicht mit einer dualistischen und körperfeindli­ chen Anthropologie vereinbar sind, hilft der Blick auf die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Exegese. Diese bietet nicht nur übergreifende detaillierte Interpretationen der Heiligen Schrift, sondern eröffnen darüber hinaus umfassendes Wissen bezüglich der hebräischen Spra­ che und des damit untrennbar verbundenen Welt- und Menschenbilds des alten Orients. In Bezug auf den Ursprung des Christentums kann der Einfluss der hebräischen Sprache und Denkweise nicht überschätzt werden. Nicht nur ist die Heilige Schrift der Juden bis heute Teil des Kanons der christlichen Bibel und Jesus selbst war Jude, sondern in der gesamten Tradition des Christentums ist die jüdische Anthropologie und Ontologie geradezu konstitutiv eingewoben. Kurz gesagt: Das Christentum ist ohne das Judentum schlicht nicht zu den­ ken.

7.2.1 Altes Testament: semitische Wirkung und griechische Perspektive Daher ist es auch folgerichtig – bezüglich der obig dargelegten, den Ursprung des Christentums betreffenden Fragestellung – explizit nach der jüdisch-christlichen Anthropologie zu fragen. Dieser Not­ wendigkeit folgend ist zunächst festzuhalten, dass das Hebräische – neben anderen Sprachen – kein Wort für Körper kennt. Vielmehr wird die Einheit des Körpers sprachlich lediglich vage umrissen.873 Dies ist keine exotische Ausnahme innerhalb der hebräischen Sprache, sondern steht exemplarisch für den engen Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen. Das Hebräische weist – wie von Hans Walter Wolff detailliert aufgezeigt wurde – eine fundamental andere Art zu denken auf als die hellenistische Tradition. Grundsätzlich für das semitische Denken sind demnach die »Stereometrie des Gedanken­ Vgl. Häusl, Maria, »Auf den Leib geschrieben. Körperbilder und -konzeptionen im Alten Testament«, in: Frevel, Christian (Hg.), Menschsein. Anthropologie im Alten Testament, QD 327, Freiburg 2009, 134–163, hier: 134.

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7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit

ausdrucks«874 und das »synthetische Denken«875. Diesen Zusammen­ hang beschreibt er wie folgt: »Dieses stereometrische Denken steckt den Lebensraum des Menschen durch Nennung charakteristischer Organe ab und umschreibt so den Menschen als ganzen [...].«876

Synthetisches Denken meint in diesem Kontext die »Zusammenschau der Glieder und Organe des menschlichen Körpers mit ihren Fähigkei­ ten und Tätigkeiten […]. Es ist das synthetische Denken, das mit der Nennung eines Körperteils dessen Funktion meint«877. In Bezug auf die altorientalische Symbolwelt haben die Theologen Othmar Keel, Silvia Schroer und Thomas Staubli diesen Zusammenhang ebenfalls nachgewiesen und mit dem Begriff der »Dynamis«878 versehen: »Das semitische Denken ist, was sich in Sprache und Bildkunst glei­ chermaßen zeigt, niemals an Formen, Aussehen und Perspektiven orientiert, sondern immer an der Dynamis, an der Wirkung, die etwas hat. [...] Da die Dynamis, die Wirkung zählt, nicht die Form, entsteht im semitischen Denken ein völlig anderer Zusammenhang von Konkretem und Abstraktem. Jedes konkrete Ding, z. B. die Hand weist nämlich darüber hinaus.«879

Es wäre allerdings ein Fehler, diese performative Umfassung der hebräischen Sprache einseitig positiv einzuordnen und diese kon­ trär zur sprachlichen Differenziertheit des Hellenismus einzuord­ nen, denn: »[a]ndererseits ist es gar nicht möglich, ein Abstraktum wie Macht, Stärke ohne das Konkretum zu denken oder zu benennen. Die enge Verquickung macht es sprachlich fast unmöglich, von der Wirklichkeit allzu stark abstrahierte Symbol- und Begriffswelten zu konstruieren. Genau darin liegt eine große Herausforderung der altorientalischen Kultur überhaupt und der biblischen Menschenkunde im Besonde­ ren.«880

874 Wolff, Hans Walter, Anthropologie des Alten Testaments, Mit zwei Anhängen neu herausgegeben von Bernd Janowski, Gütersloh 2010. 30. 875 Ebd. 876 Ebd. 877 Ebd. 878 Schroer/Staubli, Die Körpersymbolik der Bibel, 21. 879 Ebd. 880 Ebd.

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7.2 Jüdisch-christlicher Ursprung: Leibbejahung in Schrift und Wort

Grundsätzlich ist also festzuhalten, dass die hebräische Denkweise den Körper niemals als neutrale Entität einordnet, sondern aus­ schließlich kulturell und sozial eingebettet im Sinne der Dynamis zur Sprache bringen kann.881 Die hebräische Form des Denkens und Sprechens erscheint im 21. Jahrhundert ungewöhnlich, was auf den historisch geprägten Einfluss des Hellenismus zurückzuführen ist.882 Um den Unterschied auf die Spitze zu treiben, sei auf die Differenz eines angenommenen semitischen und hellenistischen Schönheits­ wettbewerbes verwiesen: Das hebräische Denken würde innerhalb eines solchen Wettbewerbes keinerlei Wertung den Formen, der Per­ spektive, also dem Aussehen zusprechen, sondern ausschließlich auf die Wirkung (Dynamis) achten, wohingegen die griechischen Jury­ mitglieder in ihrer Bewertung ausschließlich die körperliche Erschei­ nung in den Mittelpunkt stellen würden. Schroer und Staubli nennen in diesem Zusammenhang den Ausdruck »[d]eine Augen sind wie Tauben«883, welcher nicht die Form der Augen, sondern die Beziehung und die Wirkung der Liebenden positiv bewertet. Der strukturelle Unterschied zwischen dem hebräischen und hellenistischen Ideal ist das Verhältnis von Konkretem und Abstraktem. Nicht der Mensch ist schön, sondern die Beziehungswirkung unter den Menschen. Auf Gott bezogen: JHWH ist dort, wo Menschen durch ihre Beziehung Gottes Dynamis zulassen:884 »Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen« (Mt 18,20). Um diesen Gedankengang umfassend zu verstehen, muss das hebräische Wort Näfäsch näher betrachtet werden, da sich an jenem der fundamentale Unterschied beider Denk- und Sprachmodelle explizit anthropologisch manifestiert. Näfäsch umfasst eine ganze Reihe von Bedeutungen, welche bei dem Organ der atmenden Kehle oder des Schlundes beginnen und darüber hinaus – ganz im Sinne des Dynamis-Denkens – bis hin zum »Knotenpunkt des Lebens und Symbol der Person«885 reichen. Grundsätzlich geht es auf das erste Kapitel von Genesis zurück, wonach Gott den Adam (hebrä. Mensch) 881 Vgl. Häusl, »Auf den Leib geschrieben«, 139. Diesen vagen Begriff der Ganzheit­ lichkeit hat der Theologe Matthias Krieg versucht, als vier Ebenen der Ganzheitlichkeit zu formulieren, welche die Bereiche vital, personal, sozial und transzendental umfas­ sen (vgl. Krieg, Matthias/Weder, Hans, Leiblichkeit, Zürich 1983, 9). 882 Vgl. Schroer/Staubli, Die Körpersymbolik der Bibel, 69. 883 Ebd. 28. 884 Vgl. ebd. 28f. 885 Ebd. 61.

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7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit

wie Ton aus der Erde formt und ihm seinen Lebensatem in seine Nase blies. Entscheidend dabei ist, dass »der erschaffene Mensch nicht ein vitales Selbst hat, sondern ein vitales Selbst ist«886. In der griechischen Übersetzung der Tora wurde im 3. Jahrhun­ dert vor Christus Näfäsch 755 Mal in das griechische »psyche« über­ setzt. Dies ist nach Schroer und Staubli deshalb hochproblematisch, da beide Begriffe zentrale inhaltliche Unterschiede aufweisen: Die von griechischen Philosophen im 7. Jahrhundert vor Christus entwickelte Seelenvorstellung der »psyche« geht demnach von einer dem Körper grundverschiedenen Entität aus, welche im Sinne der göttlichen Natur den individuellen Wesenskern des Menschen prägt und als Strafe in das Gefängnis des Körpers platziert wurde.887 Auch wenn dieser ursprüngliche Seelenbegriff nicht unverändert mit den Lehren des Christentums verbunden wurde (vgl. Beschreibung zur Seele in Kapitel 4.3.1), liegt in ihm der Ursprung des anthropologischen Dualismus, also die Spaltung von Seele und Körper und letztlich die Abwertung des Körpers. Der Begriff Näfäsch steht hingegen für die alttestamentliche Überzeugung des konkreten und irdischen Lebens, für das die abstrakte Spaltung von Körper und Seele undenkbar ist.888 Im Sinne dieser natürlichen Ganzheitlichkeit der alttestamentlichen Anthropologie präzisiert der Theologie Bernd Janowski, dass Näfäsch weniger für die personale Identität von Körper und Seele steht als viel­ mehr für jene von Körper und »Lebenskraft«889 oder »Vitalität«890. Näfäsch umfasst dabei Kehle, Atem, Leben, Blut, Person, Wille, Verlangen und ist »das vom Somatischen nicht zu trennende vitale Selbst […], dessen Kräfte und Antriebe mit einer Topographie des Körpers verbunden werden: das Herz (lev) als Sitz des Denkens und der planenden Vernunft, Eingeweide und Nieren (kilyot) als Ort des Gefühls, der weibliche Schoß (raechaem) als Symbol von Mitleid und Erbarmen, die Hand (yad) als ›Realsymbol‹ der Tat und Blut (dam) als Sitz des Lebens.«891

Janowski, Bernd, Das hörende Herz. Beiträge zur Theologie und Anthropologie des Alten Testaments, 6, Göttingen 2018, 9. 887 Vgl. Schroer/Staubli, Die Körpersymbolik der Bibel, 69f. 888 Vgl. ebd. 73. 889 Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, 33f. 890 Ebd. 891 Buchholz, »Körper/Leib«, 397. 886

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7.2 Jüdisch-christlicher Ursprung: Leibbejahung in Schrift und Wort

Am Beispiel der Genesisgeschichte, die als Grundlegung des jüdischchristlichen Menschen-, Welt- und Gottesbildes fungiert, kann auf den integralen Zusammenhang zwischen Gottes Atem oder Einhauch und der physisch-irdischen Näfäsch-Vitalität verwiesen werden: »Der Verbalsatz Gen 2,7 besteht aus zwei Teilsätzen, die jeweils ein Handeln JHWHs beschreiben – JHWH ›formte‹ (jāsar) den Menschen zunächst wie ein Tongebilde ›aus (feuchter) Erdkrume vom Ackerbo­ den‹ (Gebundenheit des ādām an die adāmāh)⇣ und ›blies‹ (nāpah) dann ›Lebensatem in seine Nase‹ (Abhängigkeit des ādām vom Schöp­ fer) – und einer Folgeschilderung, die besagt, dass der erschaffene Mensch nicht ein vitales Selbst hat, sondern ein vitales Selbst ist: ›Da wurde der Mensch zu einem lebenden Wesen / Lebewesen (næpæš hajjāh).‹ […] Gottes ›Lebensatem‹ ist die Grundbedingung des physi­ schen Lebens, ohne den Mensch und Tier nicht lebensfähig sind (vgl. Gen 7,22; Ps 104,29f.: rûah).«892

Ein Begriff, der das Lebewesen oder lebende Wesen mit dem der Kehle verbindet, ist im Sinne des Dynamis-Denkens logisch: Die atmende Kehle ist der Knotenpunkt des Lebens und innerhalb der hebräischen Hermeneutik das Symbol für die Person.893 Das Organ bezeichnet gleichzeitig die grundsätzliche Tätigkeit des Atmens, Essens, Spre­ chens, Bittens und Dankens. Das Symbol des Näfäsch als »Engpass der Gurgel«894 umfasst den Kern hebräischer Anthropologie: Der Mensch ist ein bedürftiges und begehrendes Wesen, welches aus dem Staub des Ackerbodens und durch göttlichen Einhauch zum lebendigen Näfäsch und somit fundamental und einzigartig auf die Beziehung zu Gott ausgerichtet wurde.895 Die Wirkung des hebräi­ schen Wortes ist noch heute im Alltag (z. B. durch die Redewendung: »Das Wasser steht mir bis zum Hals!«) spürbar, stellt die entschei­ dende Komponente der Gottesbezüglichkeit des Menschen dar und ist somit das Zentrum des biblischen Menschenbildes im Sinne von ganzheitlich und irdisch umfassender Vitalität sowie Lebenskraft, die grundsätzlich auf Gott bezogen ist.896

892 Janowski, Bernd, »Die lebendige næpæš. Das Alte Testament und die Frage nach der ›Seele‹«, in: Gregor Etzelmüller, Annette Weissenrieder (Hg.), Verkörperung als Paradigma theologischer Anthropologie, Berlin/Boston 2016, 51–94, hier: 55. 893 Vgl. Schroer/Staubli, Die Körpersymbolik der Bibel, 61. 894 Ebd. 62. 895 Vgl. ebd. 896 Vgl. ebd. 67f.

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7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit

Die Gleichsetzung des umfassenden Näfäsch-Begriffs mit dem der fundamental anderen Seele hatte verheerende Missverständnisse, Engführungen und Abwertungen in Bezug auf das Körperkonzept der christlichen Tradition zur Folge und verstärkte die dualistischen Tendenzen weiter. Schroer und Staubli fassen diese Entwicklung wie folgt zusammen: »Geschichtlich Erfahrenes wurde verallgemeinert, Konkretes allegori­ siert, Materielles vergeistigt, Irdisches verhimmelt. Dabei wurde zum Beispiel aus der Kehle die Seele.«897

Die hochproblematischen Folgen der Übersetzungsentscheidung füh­ ren dazu, dass Janowski ein Plädoyer für den Verzicht der Seelenüber­ setzung von Näfäsch formuliert.898 Als entscheidenden Vorteil seiner Forderung beschreibt er folgend: »Er [der Vorteil] besteht in der Erkenntnis, dass der Begriff næpæš von seiner Grundbedeutung ›Kehle, Schlund‹ bis zu seinen Bedeu­ tungen ›vitales Selbst‹, ›Leben(skraft)‹, ›individuelles Leben, Person‹ ein ganzes Spektrum von Aspekten umfasst, die den Menschen des alten Israel in seiner psychosomatischen Ganzheit in den Blick zu nehmen erlauben. Diese Erkenntnis zurückzugewinnen und für die gegenwärtige Anthropologie fruchtbar zu machen, dürfte eine große Bereicherung sein.«899

Mit Blick auf die körperfeindlichen Aspekte der Geschichte des Christentums kann diese Forderung nur in allen Punkten als richtig bezeichnet und unterstützt werden. Die psychosomatische Ganzheit ist innerhalb des Alten Testaments als ein grundsätzliches Bezogen­ sein auf Gott und die Menschen zu verstehen, zu dem notwendig auch der körperliche Ausdruck gehört. Dies zeigt sich ebenfalls in dem ver­ webten Ansatz von Körper- und Sozialsphäre über die personifizierte Rede über Zion. Zion wird als Beispiel der Leidenden dargestellt, deren Körpern die Not der vielen inhärent ist.900 Die besondere Stellung Israels macht die Heilung des Lebens notwendig, das sich eben nicht ausschließlich in »Kult und Fest, sondern Leib, Ernährung, Sexualität, ja (…) [dem] gesamten Alltag«901 niederschlägt. In dieser 897 898 899 900 901

Ebd. XIII. Vgl. Janowski, »Die lebendige næpæš«, 89. Ebd. Vgl. Häusl, »Auf den Leib geschrieben«, 159. Buchholz, »Körper/Leib«, 398.

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7.2 Jüdisch-christlicher Ursprung: Leibbejahung in Schrift und Wort

Perspektive sind auch die Regeln des Levitikus zu lesen: Diese sind nicht körperfeindlich, sondern betonen die Heiligkeit von JHWH auf allen Ebenen (sozial, individuell, sinnlich), indem sie diese ritua­ lisierend aufwerten und somit »entbanalisieren«902. Die zentralen Elemente von Heil und Erlösung denkt das Alte Testament folglich nicht abstrakt-spirituell, sondern körperlich-sozial im Konkreten.903 Neben dem Näfäsch-Begriff wird für die Beschreibung des Menschen das Wort basar (Fleisch), ruah (Geist) und leb (Herz) im Sinne des Dynamis-Denkens genutzt. Basar steht für die bedürftige Seite des Menschen, wohingegen ruah eigentlich mit Sturm oder Wind zu übersetzen ist und neben dem Prinzip des geistigen Lebens mit dem Lebensatmen Gottes assoziiert wird. Leb steht – wie bereits durch die Herzinterpretation in Kapitel 4.3.2 angedeutet – für das Innerste des Menschen als Person vor Gott. Somit werden verschie­ dene Aspekte der Persönlichkeitsstruktur in dem bereits referierten semitischen Verhältnis von Konkreten und Abstrakten beschrieben, die körperliche, vegetative, bis hin zu emotionale, rational-noetische und voluntative Aspekten umfassen. Gemeinsam ist diesen Aspek­ ten grundsätzlich, dass der Mensch als Ganzes im Konkreten und gleichzeitiger ungebrochener Beziehung zu Gott steht. Die hebräische Hermeneutik schreibt also Begriffen für vegetative Körperfunktionen gleichzeitig emotional- und rational-geistige Vollzüge zu.904 Die Darstellung des Konkreten ist dabei nicht einseitig posi­ tiv und geizt nicht mit Verstörendem. Dies ist darauf zurückzufüh­ ren, dass sich das hebräische Denken aspektivisch ausdrückt. Das bedeutet, dass die Bestandteile der Gesamtheit konkretisiert und charakteristisch unverfälscht dargestellt werden, auch wenn dadurch der Gesamtausdruck nicht einheitlich und gleichmäßig wirkt. Daher sind im Alten Ägypten Menschen in Kunstdarstellungen meist mit verdrehtem Kopf in der Seitenansicht gezeigt, während der Torso in der Frontalansicht dargestellt ist. Das Gesicht ist einfach in einem Seitenprofil zum Beispiel mit seiner Nase besser zu erkennen, wohin­ gegen der Torso mit seinen breiten Schulter in der Frontansicht eher nachzuvollziehen ist. Dieser aspektivischen und für uns ungewöhn­ Ebd. 398. Vgl. ebd. 904 Vgl. Pröpper, Thomas, Theologische Anthropologie, Bd. 1, Freiburg in Breisgau 2011, 138f und vgl. Dirscherl, Grundriss theologischer Anthropologie, 60) und vgl. »Es jauchzt meine Leber, ja mein Fleisch wohnt in Sicherheit.« (Ps 16,8). 902

903

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7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit

lichen Form steht die griechische perspektivische Darstellungsform gegenüber, da sie in Kauf nimmt, dass das einheitliche Gesamtbild durch Unstimmigkeiten leidet.905 Altägyptische Bilder wirken oft kindhaft, da sie nicht perspektivisch sind. Im Hebräischen geht es aber nicht um die Perspektive, sondern um das, was besonders typisch ist.906 Dasselbe Prinzip lässt sich auch in der Literatur, wie etwa in vermeintlich widersprüchlichen Bibeltexten, zum Beispiel an 1 Sam 8,6–9 und 9, 16, aufzeigen: »Statt der ausgewogenen perspektivischen Aussage ›im Königtum liegen sowohl Chancen als auch Gefahren‹ finden wir in den Samuelbü­ chern die beiden aspektivischen Aussagen: ›Das Königtum ist äußerst problematisch. Das Königtum ist dringend notwendig.‹«907

Hier wird keine Perspektive relativiert und beide Aspekte stehen auf Augenhöhe nebeneinander, da im Zuge der umfassenden Beschrei­ bung auch Widersprüchlichkeiten in der Gesamtschau toleriert wer­ den.908 Eine Anthropologie, welche folglich einseitig das Mentale hochlobt und das Physische verdammt, widerspricht explizit den jüdischen Ursprüngen des Christentums. Jene holistische, umfas­ sende und inkludierende Anthropologie steht konträr zu einer Kör­ per-gegen-Seele-Vorstellung des Menschen und ist nicht exklusiv im Alten Testament aufzufinden.

7.2.2 Neues Testament: messianisches Drama und körperliches Heil Diese vom aspektivischen Dynamis-Denken getriebene NäfäschAnthropologie des Judentums ist nicht nur in den Anfängen des Christentums zu finden, sondern ebenfalls kontinuierlich in den Schriften des Neuen Testaments. Dieser Schriftenkanon ist im ers­ ten und zweiten Jahrhundert nach Christus entstanden und ihm ist kein grundlegend anderes Menschen- und Gottesbild als das 905 Vgl. Steinberg, Julius, »Der verrenkte Ägypter oder: was heißt ›aspektivisch‹? Hebräisches Denken I«, in: Christsein Heute 07 (2013), [http://steinberg-theologi e.de/wp-content/uploads/2014/12/CH-2013-07-Hebräisches-Denken-1-Der-verrenkte-Aegypter.pdf] Abgerufen am 20.10.2022. 906 Vgl. Schroer/Staubli, Die Körpersymbolik der Bibel, 25. 907 Steinberg, »Der verrenkte Ägypter«. 908 Vgl. ebd.

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7.2 Jüdisch-christlicher Ursprung: Leibbejahung in Schrift und Wort

des Alten Testaments inhärent.909 Wie bereits das Alte Testament verbindet auch das Neue Testament Erlösung notwendigerweise mit Körperlichkeit: »Erlösung vollzieht sich im Fleisch« (Joh 1,15). Auch in Bezug auf Jesus Christus als Verkünder und Repräsentant der Gottesherrschaft wird dies deutlich. Jesus tritt wahrhaft orientalisch auf, als jemand der sein Leben nicht ausschließlich im Spirituellen und Körperabgewandten verbringt, sondern als jemand, der isst, trinkt, die Gesellschaft anderer sucht und dem Körper anderer Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit schenkt (vgl. z.B. Fußwaschung in Mk 14,39). Selbst in Bezug auf die bereits verwiesene Thematik der Sexu­ almoral bezüglich Jesus Worten und Taten ist nur schwerlich eine Begründung für die restriktive Haltung bezüglich des Eros im Namen einer vermeintlich christlichen Glaubenslehre zu finden. In den Schriften ist kein Jesuswort überliefert, welches Auskunft über Sexu­ almoral, Homosexualität, Masturbation, vorehelichen Geschlechts­ verkehr oder Prostitution gibt. Darüber hinaus war seine Distanz zur Lebensform der Ehe, zum unbefangenen Umgang mit Frauen und zur undogmatischen Haltung bezüglich jüdischer Reinheitsgebote min­ destens unzeitgemäß und unterstreicht eine grundsätzlich positive Haltung des Neuen Testaments bezüglich menschlicher Körperlich­ keit.910 Diese positive Haltung zum Körper spiegelt sich in den Bemü­ hungen Jesu um das Reich Gottes wider. Diese sind ganz im Sinne des semitischen Narrativs durch körperliche Praxis geprägt, in der die ganzheitliche Heilungs- und Vergebungsbedürftigkeit im Mittel­ punkt steht.911 Im Angesicht der vorherrschenden römischen Koloni­ alherrschaft wird er als personifizierte Erlösung der Unterdrückten und oftmals zuerst als Heiler und erst dann als Lehrer wahrgenom­ Vgl. Schroer/Staubli, Die Körpersymbolik der Bibel, 37. Vgl. Ammicht Quinn, »Sexualität und Sünde«, 67. Neben der Abwesenheit von Aussprüchen Jesu bezüglich sexualethischer Themen muss allerdings grundsätzlich eine ambivalente Haltung der Bibel hinsichtlich Sexualität festgehalten werden. Das Neue Testament zeigt diesbezüglich größere Vorbehalte als das Alte Testament (vgl. Liebeslieder des Hohelieds), wobei die außereheliche wie auch weibliche Sexua­ lität in beiden Testamenten negativ eingeordnet wird (Weisheitsschriften/Gesetzes­ texte/Propheten). Im Alten Testament ist Sex innerhalb der Ehe nicht kritisch klassi­ fiziert. Paulus dagegen spricht sich für Ehelosigkeit aus, da das Reich Gottes naht (vgl. Schroer/Staubli, Die Körpersymbolik der Bibel, 40f.). Alles in allem scheint Sexualität das Thema zu sein, bei welchem die bis dahin selbstverständlich angenommene Ganzheit des Menschen regelmäßig übergangen wird. 911 Vgl. ebd. 38f. 909

910

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7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit

men. Die Schriften des NT berichten von einer Vielzahl von Heilungs­ wundern, die er als zeichenhafte Handlungen vollzieht, welche der Sphäre des Körperlichen zuzuordnen sind. Beispiele hierfür sind: Der Gelähmte kann wieder gehen (Lk 5,17–26), eine verdorrte Hand wird geheilt (Mk 3,1–6), der Blinde kann wieder sehen (Mk 8,22– 26; Mk 10,46–52), es kommt zur Speisung der 5000 durch Brot und Fischvermehrung (Mk 6,35–44; Mt 14,13–21; Lk 9,10–17; Joh 6,1–13) und Wasser wird zu Wein (Joh 2,1–11). Jene Erzählungen unterstreichen die somatische Seite des Heils, betonen den Körper als Ort der Heilszusage Gottes und die nahende Gottesherrschaft.912 »So durchbrechen bereits viele der kleinen Gesten und Zeichen Jesu das Gewohnte, obwohl sie immer noch eingebettet sind in die Kultur der damaligen Welt. Vor allem aber muss man sehen, dass bei Jesus hinter den Gesten und Gebärden, die auch sonst in der Antike verbreitet sind, zusätzlich das biblische Wissen vom Menschen steht. Denn mit all dem macht er immer auch eine Aussage über die Leiblichkeit des Menschen und damit über eine entscheidende Dimension menschlicher Existenz. Der Mensch ist Staub und Erde, aber Erde, in die Gott seinen Atem gehaucht hat (Gen 2,7), und deshalb kann Jesus einen Teig aus Erde machen und dem Blinden in die Augen streichen. Der Vorgang ist mehr als ein Naturheilverfahren, und mit magischen Praktiken hat er nicht das Geringste zu tun. Er macht deutlich, dass Heilung und Befreiung nichts rein Geistiges oder bloß Innerliches sind. Die Erde kommt dem Menschen zu Hilfe (Offb 12,16), und der Leib soll genauso erlöst werden wie die Seele.«913

Folglich wird der verwundbare körperliche Leib des Menschen enorm aufgewertet und konträr zur Wirkung der vorherrschenden Men­ schenherrschaft positioniert, die von Gottesferne und Unheil geprägt ist.914 Höhepunkte dieser körperzentrierten Momente sind Inkarna­ tion, Kreuzestod und Auferstehung (vgl. zur Bedeutung Inkarnation folgendes Kapitel), für welche die semitische Anthropologie aus dem Alten Testament konstitutiv ist. Anders formuliert: Ohne die anthropologische Prämisse des Alten Testaments, nach welcher der

Vgl. Buchholz, »Körper/Leib«, 398. Lohfink, Gerhard, Jesus von Nazareth. Was er wollte, wer er war, Freiburg im Breisgau 42016, 181f. 914 Vgl. Buchholz, »Körper/Leib«, 398.

912

913

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7.2 Jüdisch-christlicher Ursprung: Leibbejahung in Schrift und Wort

Mensch als Ganzes in die Heilsgeschichte involviert ist, sind diese Elemente nicht sinnvoll zu verstehen:915 »Der Leib wird zum Schauplatz des messianischen Dramas und jenes von der Besatzungsmacht sorgfältig inszenierten Strafrituals, durch welches die ›Herren dieser Welt‹ sich verherrlichen und die Logik der Geschichte abermals bestätigen. Umgekehrt bezieht die Auferste­ hung – als eschatologische Machttat Gottes – gerade den vulnera­ blen, jeglicher Misshandlung ausgesetzten Leib ein. Die Erlösung annihiliert nicht die beschädigte Schöpfung, sondern restituiert und vollendet sie.«916

Der körperliche Leib als Ort »messianischen Dramas« wird in Pau­ lus’ Schriften – welche ausschließlich mit dem Blick auf Erlösung und nahendes jüngstes Gericht zu verstehen sind – besonders deut­ lich. Grundsätzlich festzuhalten ist, dass die meisten semitischen Begriffe – leider zum Teil in falscher Übersetzung wie der erwähnte Näfäsch-Begriff – im Neuen Testament übernommen wurden. Neu hinzukommt eine Begriffskonstellation, die von Paulus einzigartig eingeführt und in das Zentrum seiner Theologie platziert wird. Der Apostel setzt das bereits erwähnte Wort pneuma dem Wort sarx gegenüber und denkt beide als radikalen Antagonismus. Bei bisher referierter Faktenlage drängt sich in Bezug auf einen Theologen, der die Begriffe des Fleisches (sarx) gegen die des Geistes (pneuma) aufstellt, die Vermutung auf, dass dieser dem platonischen Dualismus in Gänze verfallen sein muss. Und auch ein oberflächlicher Blick in seine – ihm zugeschriebenen – Schriften verhärtet jenen Verdacht: »Der Gedanke des Fleisches nämlich ist Tod, der Gedanke des Geistes aber Leben und Friede. Daher ist der Gedanke des Fleisches feindlich gegen Gott; dem Gesetz Gottes nämlich ist er nicht untertan; das vermag er nämlich nicht.« (Röm 8, 6–7)

Trotzdem ist Paulus nicht »platonisch eifernde[r] Dualismus«917 vorzuwerfen. Vielmehr bezeichnen die Begriffe nicht Substanzen, sondern Existenzmöglichkeiten. Mit sarx ist nicht der eigene Körper gemeint, sondern eine Macht, die den sündigen Leidenschaften erst die Möglichkeit, den eigenen Körper in Besitz zu nehmen, eröffnet. Ist der ganze Mensch (soma) von der Macht des Fleisches ergriffen, zieht 915 916 917

Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 140f. Buchholz, »Körper/Leib«, 398. Schmitz, Der Leib. Studienausgabe, 510.

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7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit

sich der Mensch radikal auf sich selbst zurück, entfernt sich von Gott und erfährt letztlich durch diese Selbstzurückgezogenheit seine Ohn­ macht, Nichtigkeit sowie Endlichkeit.918 Hermann Schmitz schreibt in diesem Zusammenhang: »Nicht das Fleisch ist Körper, sondern wir sind im Fleisch«919. Der Terminus pneuma hingegen ist inhaltlich mit dem Begriff der ruah (Gottesatem) verwandt und bezeichnet die Mög­ lichkeit, sich Jesus Christus zu öffnen, und durch diese Öffnung ein neues Dasein zu gewinnen.920 Sowohl sarx, als auch pneuma sind zwei »überpersönliche, nicht dem Menschen zugehörige« Mächte, deren Zweikampf im Ort des Körper ausgetragen wird.921 Mit pneuma ist nicht die Seele oder das eigene Selbstbewusstsein gemeint, sondern es geht um das Sein in Christus und damit die Transformation der eigenen Existenz in die vollkommene Leitung der pneuma als Tempel des Heiligen Geistes.922 Paulus Theologie und Platons Philosophie sind folglich zu trennen, da Paulus nicht den anthropologischen Kör­ per-Seele-Dualismus ausdrückt, sondern seine sarx-pneuma-Überle­ gung. Diese »bezeichnet eher den göttlichen oder widergöttlichen Herrschaftsbereich, in dem die Menschen sich befinden, ein in dieser Schärfe das apokalyptische Denken bestimmender Antagonismus, der bis in die leibliche, physische Existenz hineinreicht«923. Entschei­ dend ist, dass auch Paulus ein ganzheitliches und nicht körperfeind­ liches Menschenbild postuliert, da der ganze Mensch Kampfplatz antagonistischer Mächte der Erlösung und Verdammung ist (2 Kor 3,3), der Ort selbst aber nicht negativ eingeordnet wird:924 Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 140. Schmitz, Der Leib. Studienausgabe, 511. 920 Vgl. Pröpper, Theologische Anthropologie, 140. 921 Vgl. Schmitz, Der Leib. Studienausgabe, 511. 922 Vgl. Buchholz, »Körper/Leib«, 399 und 1 Kor 6,19. 923 Buchholz, »Körper/Leib«, 398f. 924 Unabhängig von einer nicht körperfeindlichen Haltung Paulus ist der Einfluss Platons trotzdem vorhanden. Der evangelische Theologe Gerd Theißen weist auf die Spuren platonischer Philosophie, genauer Platons Ideenlehre in Paulus Theologie, in Bezug auf sein transformatives Menschenbild hin: »Nach seiner [Paulus] ›Architektur‹ ist der alte Mensch Ebenbild des irdischen, der neue Mensch Ebenbild des himmlischen Menschen. Hier wirken platonische Traditionen von Urbild und Abbild nach. […] Das platonische Urbild im Himmel wird zum eschatologischen Zielbild. Paulus modifiziert die platonische Tradition im Sinne eines transformativen Menschenbilds.« (Theißen, Gerd, »Das transformative Menschenbild der Bibel: Die Erfindung des ›inneren Menschen‹ und seine Erneuerung im Urchristentum«, in: Bernd Janowski (Hg.), Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte, Berlin 2012, 269–288, hier: 278). 918

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7.2 Jüdisch-christlicher Ursprung: Leibbejahung in Schrift und Wort

»In Wirklichkeit ist die Spannung zwischen Geist und Fleisch, zwi­ schen göttlichem Willen und menschlicher Natur die Ursache für seine Verwandlungsdynamik und für eine sehr optimistische Aussage: Der Mensch kann ein anderer werden.«925

Zentral für den vorliegenden Zusammenhang ist, dass der Mensch als Ganzer und nicht nur partiell ein anderer werden kann und diese dem Körper bezügliche Inklusion sowohl in den Evangelien als auch paulinischen Schriften strukturell aufweisbar ist. Grundsätzlich ist also festzuhalten, dass auch im Neuen Testament der Mensch nach jüdisch-christlichem Selbstverständnis als umfassende Einheit und nicht im Sinne einer Trennung von Körper und Seele gedacht wird. Auch wenn die Begriffe vor allem in der griechischen Über­ setzung vermehrt genannt werden, ist die mehrheitliche Kernaussage nach wie vor von der ganzheitlichen Näfäsch-Anthropologie des jüdisch-christlichen Ursprungs geprägt und es kommt zu keinem strukturellen körperfeindlichen Narrativ. Körper und Seele werden durchaus semantisch unterschieden, aber nicht – und das ist entschei­ dend – anthropologisch geschieden. Körperlichkeit und Geistigkeit stehen folglich einander nicht unvereinbar gegenüber, sondern es ist ausschließlich im Zusammendenken beider Pole möglich, das Wesen Mensch vollständig zu verstehen, da nur mit der Berücksichtigung der körperlichen Leiblichkeit das den Menschen konstituierende Bezie­ hungsbedürfnis und die Beziehungsfähigkeit erklärt werden können: »Er [der Mensch] ist Teil dieser sichtbaren Welt – und zugleich Bild Gottes, das in engster Beziehung zu ihm stehende, von ihm persönlich berufene und zur Antwort befähigte ›Du Gottes‹; er ist ganz in die Welt eingetaucht und ein Stück ihrer Beziehungsganzheit – und transzen­ diert doch über sie hinaus; er ist bedingt, endlich und vergänglich – und steht doch unter unbedingtem Anspruch [...], so wie er auch in alle Ewigkeit zum Leben mit dem lebendigen Gott berufen ist.«926

Dem Mensch ist folglich erst durch seine physische Materialität an der sichtbaren Welt Teilhabe möglich. Jenes Faktum, und die Seele in Bezug zum Wesen Mensch mitzureflektieren, ist notwendig, um sich »gegen jede Form von Dualismus, Geringschätzung des Leibes und weltflüchtiger Frömmigkeit«927 zu wappnen. Dieses umfassende 925 926 927

Ebd. 279. Greshake, »Seele«, 378. Ebd. 379.

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7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit

Eingebettetsein in die sichtbare Welt ist für die Bibel selbstverständ­ lich und eng verwoben mit der Vorstellung menschlicher Gotteben­ bildlichkeit. Hier wird im Neuen Testament jenes alttestamentliche Motiv der Gottebenbildlichkeit greifbar: Demnach erschafft Gott den Menschen aus dem Staub der Erde durch das Einhauchen seines Atems (Stichwort: Näfäsch) nach seinem Ebenbild und überträgt ihm die Verantwortung über seine Schöpfung (vgl. Gen 1,26,28; Gen 5,1–3; 9,6 und Ps 8). Mit dem hebräischen säläm (Gen 1,26f) wird diese Ebenbildlichkeit beschrieben, was übersetzt Statue, Rundplastik beziehungsweise Schnitzwerk heißt und folglich explizit körperlichkonkret und nicht vergeistigt und somit dualistisch-körperabwertend zu verstehen ist.928 Die Bedeutung der Gottebenbildlichkeit des Men­ schen ist nicht außerhalb des Deutungskontextes des alten Orients nachzuvollziehen: Die Schaffung eines Bildes des Herrschers drückte demnach seine Macht innerhalb des Bereichs der Errichtung aus: »Dementsprechend wird der Mensch als Standbild Gottes in die Schöp­ fung eingesetzt. Er dokumentiert, dass Gott der Herr der Schöpfung ist; er praktiziert aber auch die Herrschaft Gottes als sein Verwalter. Nicht in selbstherrlicher Willkür, sondern als verantwortlicher Geschäfts­ träger nimmt er die Aufgabe wahr. Sein Herrschaftsrecht und seine Herrschaftspflicht sind nicht autonom, sondern abbildhaft.«929

Ergänzend sei zum Begriff des »Menschen« und »Herrschaft« hin­ zugefügt, dass der geschaffene adam (Gen 1,26b) grundsätzlich in 928 Vgl. Pröpper, Thomas, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, Kösel 21991, 154) Dass es sich bei der körperbejahenden Deutung von Gottebenbildlichkeit um keine Nischenmeinung der Exegese handelt, macht die Breite der von Pröpper zitierten Alttestamentler deutlich. Sowohl Walter Zimmerli, Paul Humbert, Gerhard von Rad als auch Heinrich Gunkel und Ludwig Köhler sprechen sich explizit für ein körperliches Verständnis von Gottebenbildlichkeit aus (vgl. ebd. 154). Karl Rahner betont in diesem Kontext die umfassende Ganzheitlichkeit des Men­ schen und warnt vor einer einseitigen Betonung: Demnach besagt die Schöpfungs­ geschichte nicht, dass nur der Körper, sondern der ganze Mensch (adam) aus dem Staub der Erde erschaffen wurde. Jene erstgenannte Einseitigkeit sei demnach bereits eine platonische Interpretation (vgl. Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 408f.). Erweiternd formuliert er hierzu: »Das heißt also, er [Gott] hat ihn von vornherein, indem er ihn zum unmittelbaren Partner eines Dialogs mit sich schuf, genommen und hineingestellt in die Gesamtwelt.« (ebd. 409). Rahners Äußerung ist folglich den ganzen Menschen einnehmend zu begreifen. Angesichts der häufigen Unterschlagung der körperlichen Seite des Menschen ist für den hier behandelten Zusammenhang jene »Unmittelbarkeit«, die konkret-körperlich zu verstehen ist, entscheidend. 929 Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, 231.

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7.3 Christliches Zentrum: Inkarnation als unüberbietbare Zusage

Gemeinschaft gemeint ist, womit folglich nicht dem Einzelmenschen der Herrschaftsauftrag gilt, sondern dem gesamten Menschheitsge­ schlecht.930 Für den Zusammenhang bezüglich des Herrschaftsauf­ trags gilt, dass dieser – wie bereits angedeutet – explizit nicht im Sinne einer gewaltsamen Unterwerfung, sondern als ein verantwortungs­ bewusstes Verwalten im Sinne einer Ermächtigung zu »nützlicher Veränderung«931 zu begreifen ist.932 Anthropologischer Kerngedanke der Gottebenbildlichkeit ist demnach, dass »vom Menschen nicht angemessen gesprochen werden kann, ohne von Gott zu sprechen, der ihn als sein Bild geschaffen hat«933. Zusammenfassend ist die Vor­ stellung der Gottebenbildlichkeit als konkret-sinnlicher, die Gemein­ schaft der Menschen betreffender Verwaltungsauftrag der Schöpfung zu verstehen, welcher folglich mit der bereits referierten körperbeja­ henden Näfäsch-Anthropologie ergänzend zusammenzudenken ist und die Beziehungsfähigkeit sowohl untereinander als auch zu Gott als selbstverständlich zum Menschen gehörend betont. Für die Bibel ist die Vorstellung eines beziehungslosen und beziehungsunfähigen Menschen undenkbar und markiert einen sol­ chen Zustand mit dem Begriff Götze, welcher zwar einen Körper besitzt, aber leb- und beziehungslos ist.934 Wie obig referiert, wird demgegenüber der Mensch als Beziehungswesen verstanden, welches gleichermaßen aus Körper und Seele besteht und ohne den Bezug zu Gott nicht zu verstehen ist. Sowohl für das Alte als auch für das Neue Testament stehen jene anthropologischen Überzeugungen seit Genesis im Mittelpunkt und in schroffem Kontrast zu einer dualistischen und körperfeindlichen Anthropologie.

7.3 Christliches Zentrum: Inkarnation als unüberbietbare Zusage an den ganzen Menschen Während im vorangehenden Kapitel – konträr zur platonisch-dua­ listischen Anthropologie – eine fundamentale Körperbejahung im biblischen Menschenbild, sowohl im Alten als auch im Neuen Tes­ Vgl. ebd. 132. Ebd. 235. 932 Vgl. ebd. 933 Hoping, Helmut, »Gottes Ebenbild. Theologische Anthropologie und säkulare Vernunft«, in: Theologische Quartalszeitschrift 185 (2005), 127–149, hier: 129. 934 Vgl. Schroer/Staubli, Die Körpersymbolik der Bibel, 30. 930 931

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7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit

tament, aufgewiesen wurde, soll nun der Fokus auf den zentralen und wichtigsten Glaubensinhalt des Christentums gelegt werden: die Inkarnation.

7.3.1 Unvermischt und ungetrennt »Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.« (Joh 1,14)

Die im Neuen Testament bezeugte Fleischwerdung (griech. sárkosis, lat. incarnatio) ist das zentrale Schlüsselmoment christlicher Glau­ benswahrheit.935 Sie beinhaltet die Überzeugung, dass Gott sich in Jesus von Nazareth in einmaliger und unüberbietbarer Weise dem Menschengeschlecht als wahrhafter Mensch offenbart hat. Zentrale Bibelstellen sind neben obig genannter ebenso 1 Joh 4,3 und 2 Joh 7. Die theologische Bearbeitung und Bekenntnisentwicklung vollzog sich folglich auf Grundlage jener Textstellen. In den ersten vier öku­ menischen Konzilien wurden die Grundlagen der Trinitätstheologie und der Christologie erarbeitet, bevor diese im siebten Jahrhundert nochmals abschließend bestätigt wurden. In dieser Zeit wurde bezüg­ lich der trinitätstheologischen Frage nach dem Verhältnis von Gottva­ ter, Jesus Christus und dem Heiligen Geist ebenso heftig in Bezug auf die christologische Kernfrage um das Verhältnis von göttlicher und menschlicher Natur in Jesus Christus gestritten. Der Wille, die Sachlage genau zu verstehen und es nicht in der Offenheit der neutestamtlichen und frühkirchlichen Überlieferungen zu belassen, hängt mit dem Einfluss der griechischen Philosophie zusammen, deren hellenistisches Denken das Wesen der Welt und Götter wis­ senschaftlich-, logisch- und stringent-argumentativ zu durchdringen verlangt. Der Streit um das Verhältnis von Gottvater und Jesus Christus, welcher im sogenannten Arianismusstreit (318–381) seinen Höhepunkt fand, wurde 325 im ersten ökumenischen Konzil von

935 Entscheidend für das Christentum ist natürlich ebenso Kreuzigung und Auferste­ hung Jesu. Ohne Zweifel ist aber die Inkarnation das notwendig vorgängige und die folgenden Ereignisse konstituierende Moment und darf deshalb als zentrales Schlüsselereignis bezeichnet werden.

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7.3 Christliches Zentrum: Inkarnation als unüberbietbare Zusage

Nizäa vorerst beendet.936 Um darüber hinaus das Verhältnis in Bezug auf den Heiligen Geist zu klären und die Beisetzung des Arianis­ musstreits abzuschließen, wurde 381 das Konzil von Konstantinopel einberufen. In Konstantinopel wurde die trinitarische Rede von drei Verwirklichungsgestalten eines Wesens (Gottvater, Jesus Christus, Heiliger Geist) festgehalten, die bis heute in beinahe allen christlichen Kirchen als die Lehre der Dreifaltigkeit (Trinität) eingegangen ist.937 Nachdem die Lösung der trinitarischen Probleme den Großteil der Kräfte der jungen Kirche bündelten, entfaltete sich zeitgleich erst langsam, dann immer intensiver ein ebenso grundsätzlicher und heftiger Streit um die Bestimmung des Seins der Person Jesu Christi. Bereits in den ersten Konzilien wurden entsprechende Formulierun­ gen festgehalten. Sowohl im Konzil von Nizäa (325 n. Chr.) als auch im Konzil von Konstantinopel findet man in den entsprechenden Glaubensbekenntnissen bereits die Formulierung, dass Gott »Fleisch und Mensch geworden« (DH 125) beziehungsweise, dass er »fleisch­ geworden […] und Mensch geworden« (DH 150) ist. Im Mittelpunkt des christologischen Grundsatzstreits standen sich zwei große Denkschulen gegenüber: Die antiochenische und eher aristotelische sowie die alexandrinische Schule, welche sich eher an Platon orientiere. Erstere betonte die strikte Trennung der Naturen in Christus, um die Menschennatur zu schützen und ging davon aus, dass die Person Christi geteilt und unvermischt sei. Zentrale Figur dieser Denkschule war der Patriarch von Konstantinopel Nestorius, nach welchem in Folge des Streits auch jene Denkrichtung benannt wurde (Nestorianismus). Die alexandrinische Schule stritt für die volle Einheit des Seins Jesu, wertete allerdings die göttliche Natur stark auf, weshalb in dieser Logik seine menschliche Seite im Sein stark zurückgedrängt wurde (Monophysitismus). Als bekannte Ver­ treter sind in diesem Zusammenhang der Patriarch von Alexandria Kyrill und der byzantinischer Presbyter Eutyches zu nennen.938 Nach einem scheinbaren Sieg für die alexandrinische Schule 431 auf dem Konzil von Ephesus, wurde 451 im größten Konzil der Alten Kirche 936 Vgl. Eder, Manfred, Kirchengeschichte. 2000 Jahre im Überblick, Düsseldorf 2008, 53f. »[W]ahrer Gott aus wahrem Gott, geboren nicht geschaffen, von einer Substanz mit dem Vater (was man griechisch ὁμοούσιος nennt)« (DH 125). 937 Vgl. ebd. 55. 938 Vgl. Baus, Karl u.a. (Hg.), Die Reichskirche nach Konstantin dem Großen. Hand­ buch der Kirchengeschichte, Bd. II, Erster Halbband, Freiburg in Breisgau 1985, 55f.

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7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit

in Chalkedon eine Lösung erarbeitet, die sowohl den Alexandrinern als auch Antiochenern widersprach, die letztlich aber sowohl die Tradition als auch die Bibel integrierte:939 »In der Nachfolge der heiligen Väter also lehren wir alle übereinstim­ mend, unseren Herrn Jesus Christus als ein und denselben Sohn zu bekennen: derselbe ist vollkommen in der Gottheit und derselbe ist vollkommen in der Menschheit; derselbe ist wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch aus vernunftbegabter Seele und Leib; derselbe ist der Gottheit nach dem Vater wesensgleich und der Menschheit nach uns wesensgleich, in allem uns gleich außer der Sünde […]« (DH 301)

Weiter wird folgend formuliert: »[E]in und derselbe ist Christus, der einziggeborene Sohn und Herr, der in zwei Naturen unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar erkannt wird, wobei nirgends wegen der Einung der Unter­ schied der Naturen aufgehoben ist, vielmehr die Eigentümlichkeit jeder der beiden Nature gewahrt bleibt und sich in einer Person und einer Hypostase vereinigt; der einziggeborene Sohn, Gott, das Wort, der Herr Jesus Christus, ist nicht in zwei Personen geteilt oder getrennt, sondern ist ein und derselbe wie es früher die Propheten über ihn und Jesus Christus selbst es uns gelehrt und das Bekenntnis der Väter es uns überliefert hat.« (DH 302)

Das Konzil von Chalkedon revolutionierte mit seiner Formel folglich nicht die bisherige Christologie, bewahrte allerdings die Einheit der Ost- und Westkirche und verteidigte das Dogma der Person Christi vor Einflüssen des Nestorianismus und des Monophysitismus.940 680/681 wurde im dritten Konzil von Konstantinopel die Lehre von Chalkedon abschließend bestätigt und beendete die altkirchlichen Diskussionen der Christologie (DH 558). Die nachträglich geäußerten Vorwürfe bezüglich einer Helleni­ sierung der Glaubenswahrheiten können als einseitig und zu kurz greifend eingeordnet werden. Grundsätzlich ist richtig, dass sich bereits die frühchristliche Theologie detailliert mit den Begriffen der griechischen Philosophie auseinandersetzte und mit deren Methode und Sprache die eigenen Glaubenswahrheiten reflektierte. In diesem Zusammenhang wird aber nicht ein einseitiger negativer Einfluss sichtbar, sondern es wird vielmehr die Ambivalenz der hellenistischen 939 940

Vgl. Baus, »Die Reichskirche nach Konstantin dem Großen«, 125f. Vgl. ebd. 126.

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7.3 Christliches Zentrum: Inkarnation als unüberbietbare Zusage

Wirkung auf das Christentum deutlich: Die griechische Philosophie wirkte einerseits motivierend in Bezug auf den Verständnisanspruch der eigenen Glaubenswahrheiten und befähigte das theologische Denken zu überaus präziser Selbstanalytik; andererseits wurde in Folge dessen zum Beispiel der bereits erwähnte anthropologische Dualismus in das Christentum integriert und Übersetzungsfehler produziert, welche noch zwei Jahrtausende später wirken und nach wie vor zu Problemen führen.941 Es gibt also keine überzeugenden Gründe, den Einfluss des Hellenismus grundsätzlich zu verurteilen, sondern vielmehr sollte es unausgesprochener Anspruch sein, die positiven wie auch negativen Folgen mit Blick auf die Entwicklung der Lehre des Christentums kritisch mitzureflektieren. Hinsichtlich der körperbejahenden Haltung im Christentum sind diese Einflüsse jenseits der Einbuchung des platonischen Dualismus durchaus positiv einzuordnen. Die fundamentale Körperbejahung des Christentums zeigt sich einerseits im Ergebnis der theologischen Klä­ rung des Verhältnisses von menschlicher und göttlicher Natur in der Person Christi und andererseits in der Distanzierung und Bekämp­ fung von körperfeindlichen Sekten sowie Gedankenkonstrukten – wie etwa dem Doketismus, Manichäismus oder der Gnosis. In der systematisch-theologischen Einordnung der Inkarnation wird diese körperbejahende Haltung weitergehend verstärkt – besonders durch die Abwehr des Monophysitismus.

7.3.2 Höchstes Symbol Gottes in der Welt als körperlichleibliche Selbstmitteilung Wie aufgezeigt, wurde in der Zeit vom Konzil in Nizäa bis zum dritten Konzil von Konstantinopel die Zweinaturenlehre von Jesus Christus als wahrer Mensch und wahrer Gott als authentische Glau­ bensüberlieferung der Kirche entwickelt. Das Glaubensdogma »Du bist der Christus« (Mk 8,27ff) beschreibt den zentralen Inhalt des Christentums, der als Ursakrament und endgültige Offenbarung des 941 Vgl. Schilson, Arno: »Inkarnation/Menschwerdung. A. Aus der Sicht systemati­ scher Theologie«, in: Peter Eicher (Hg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd. 2. München 2005, 192–199, hier: 193f und vgl. Baus, »Die Reichskirche nach Konstantin dem Großen«, 125.

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7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit

trinitarischen Gottes gilt.942 Karl Rahner bezeichnet den menschge­ wordenen Logos als »absolutes Symbol Gottes in der Welt, das unüberbietbar mit dem Symbolisierten erfüllt ist«943. In der Anwen­ dung der bereits formulierten Sätze der Symboltheologie von Rahner ist demnach festzuhalten, dass die Person Jesus von Nazareth nicht von Gottes Wirklichkeit unabhängig ist, sondern diese sich durch die Offenbarung als wahrer Mensch freiwillig im realsymbolischen Ausdruck vollendet.944 Folglich ist der Mensch Jesus das Realsymbol und Ursakrament dessen, was oder wer selbst wirklich Gott ist: Jesus ist der Christus. Die Rückfrage an die menschliche Seite von Jesus macht gerade das Skandalöse einer Menschwerdung Gottes deutlich:945 »Das christliche Heil […] beruht nicht auf unserem intel­ lektuellen Leistungsvermögen, schon gar nicht auf unserer religiösen oder mythischen Einbildungskraft, sondern ist uns in der Geschichte als unableitbares und unverfügbares Ereignis geschenkt«946. Die 942 Ein Sakrament bezeichnet im Christentum einen Ritus, der als sichtbares Zeichen die Heilswirklichkeit Gottes in der Welt vergegenwärtigt und im Vollzug ihr Teil haben lässt (vgl. Nocke, Franz-Josef, »Allgemeine Sakramentenlehre«, in: Theodor Schneider (Hg.), Handbuch der Dogmatik, Bd. 2, Ostfildern 52013, 188–225.). Jesus Christus ist als Ursakrament und der zeitliche Ausdruck der Kirche als Grundbzw. Wurzelsakrament bestimmt (vgl. Lies, Lothar, »Grundsakramente«, in: LThK3 4 (2009), 1076). 943 Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 437. Ebenso bezeichnet Rahner die Menschwerdung Gottes als »einmalig höchsten Fall des Wesensvollzugs der mensch­ lichen Wirklichkeit« (Rahner, Karl, »Zur Theologie der Menschwerdung«, in: Ders., Sämtliche Werke. Menschsein und Menschwerdung Gottes, Bd. 12, Freiburg in Breisgau 2008, 309–322, hier: 313). 944 Vgl. Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 437. 945 Skandalös deshalb, weil es zum Beispiel für andere Weltreligionen nach wie vor unvorstellbar ist, dass der allmächtige, allwissende und allliebende Gott wahrhaft, also endlich, begrenzt und fehlerhafter Mensch wird (vgl. Heimerl, Theresa, »Der Skandal des Körpers. Woran der Roman ›Feuchtgebiete‹ die Theologie erinnern sollte«, in: Stefan Orth (Hg.), Eros – Körper – Christentum. Provokation für den Glauben?, Freiburg im Breisgau 2009, 82–97, hier: 94). 946 Lehmann, Karl, »Die Frage nach Jesus von Nazareth«, in: Walter Kern u.a. (Hg.), Handbuch der Fundamentaltheologie. Traktat Offenbarung, Bd. 2, Tübingen und Basel 2 2000, 95–114, hier: 111) Schilson formuliert diesbezüglich folgend: »Die in dieser Grundformel [Jesus ist der Christus] vollzogene bewußte Bindung an die hist[orische] Gestalt Jesu zielt auf die unverbrüchl[iche] Identität des Ch[ristus] – Glaubens; dessen Fundament u[nd] bleibende Norm ist der konkrete Mensch J[esus] v[on] Nazaret mit seiner Gesch[ichte] u[nd] seinem Geschick. Nach chr[istlicher] Überzeu­ gung offenbart sich eben darin Gott selbst als letzte Bestimmung u[nd] Erfüllung des Menschseins; damit gewinnen Person u[nd] Gesch[ichte] Jesu absolute u[nd] universale Bedeutung. Diese besondere Relevanz findet im Bekenntnis zu diesem

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7.3 Christliches Zentrum: Inkarnation als unüberbietbare Zusage

körperlich-leibliche Dimension der irdischen Person Jesus ist somit explizit und notwendiger Teil des realsymbolischen Ausdrucks Got­ tes.947 Saskia Wendel formuliert hierzu: »Das Wort Gottes ist jedoch nicht allein ›Mensch‹, es ist gemäß bibli­ scher Überlieferung ›Fleisch‹ geworden. Damit wird die Überzeugung von der leibseelischen Einheit der Person ausgesagt und damit auch, dass Menschwerdung Gottes sich nicht nur mental vollzieht, sondern auch physisch, materiell.«948

Menschwerdung und Verkörperung sind folglich grundsätzlich untrennbar und dies gilt auch für die Menschwerdung Gottes. Wel­ ches normative Gewicht diesem Faktum inhärent ist, manifestiert sich an der theologischen Mehrdeutigkeit des Begriffs »Leib Christi«. Einerseits bezeichnet es den Körper des irdischen Jesus von Nazareth, andererseits steht »Leib Christi« in der Perspektive von Nachfolge und Erlösungsverheißung als der kosmische Christusleib »im Sinne eines Heilsraums, durch den alle, die ihm zugehören bzw. an ihm teil­ haben, erlöst sind«949 und letztlich beschreibt er als »Corpus Christi« (Röm 12,4–6; 1 Kor 12,12–27) nach Paulus die Bestimmung der Kirche als Grundsakrament.950 Somit ist die normative Bedeutung der körperlichen Dimension der Inkarnation sowohl anthropologisch, eschatologisch, soteriologisch als auch ekklesiologisch aufgezeigt und verdeutlicht einmal mehr, weshalb die Inkarnation als wahre und somit körperlich – und angesichts der phänomenologischen Ergebnisse eben auch körperlich-leibliche – Menschwerdung kein Nebenthema, sondern zentraler und wichtigster Glaubensinhalt des Christentums ist.

J[esus] als dem Ch[ristus], dem v[on] Gott gesandten ›Gesalbten u. Heilbringer‹ der Menschen, ihren bezeichnenden Ausdruck.« (Schilson, Arno, »Jesus Christus. III. Systematisch-theologisch«, in: LThK3 5 (2009), 827–834, hier: 827). 947 Mit der Bezeichnung »irdischer Jesus« wird die Geschichte des vorösterlichen Jesus ohne Einengung auf die historisch-exegetische Erkenntnis in den Blick genom­ men. Dabei sind die Begrifflichkeiten von »irdischer«, »vorösterlicher« oder »his­ torischer Jesus« inhaltlich zu trennen (vgl. Lehmann, »Die Frage nach Jesus von Nazareth«, 96). 948 Wendel, Saskia, »Auf den Leib Christi geschrieben«, in: Saskia Wendel, Aurica Nutt (Hg.), Reading The Body of Christ. Eine geschlechtertheologische Relecture, Pader­ born 2016, 13–28, hier: 13. 949 Ebd. 950 Vgl. ebd. 13f.

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7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit

Ergänzend dazu sei in Rückbezug auf das bereits referierte Men­ schenbild im Neuen Testament verwiesen und der Blick auf den irdischen Jesus gerichtet: »An den Heilungstaten Jesu, aber überhaupt an seinen Zeichen und Gesten wird das Inkarnatorische seines Wirkens sichtbar: Das Heil Gottes muss in der Welt ankommen und alle Bereiche der Wirklichkeit durchdringen. Es geht nicht nur um die Veränderung der Gesinnung. Es geht genauso um die Materie. Nichts darf ausgespart werden. Erlösung meint die ganze Schöpfung. Die Offenbarungsgeschichte ist nicht fortschreitende Entweltlichung gewesen, sondern immer umfas­ sendere Inkarnation, immer tiefere Durchdringung der Welt mit dem Geist Gottes. Gott ist dem Menschen in wohltuender Weise auf den Leib gerückt.«951

Was aber bedeutet die Veränderung der Materie beziehungsweise jenes »den Menschen auf den Leib rücken«? Anders formuliert: Was bedeutet die Fleischwerdung des Logos für die Menschheit? Rahner entwickelt seine Antwort im Rahmen seiner Theologie des Symbols anknüpfend an den thomanischen Lehrsatz, »dass die Menschheit Christi durch das Sein des Logos existiert«952. Er stellt sich damit gegen die ebenso von Lohfink verneinte Vorstellung, dass die Fleisch­ werdung lediglich einen Gesinnungswandel nach sich zieht. Eine solche Vorstellung würde die Menschen lediglich zum Zeichen Gottes machen und die eigentliche Wahrheit der Fleischwerdung verfeh­ len.953 Vielmehr entäußert sich das Sein des Logos, »so daß (unbe­ schadet seiner Unveränderlichkeit in sich selbst und an sich selbst) es selbst in Wahrheit die Existenz einer geschaffenen Wirklichkeit wird, und dies eben in aller Wahrheit und Wirklichkeit von ihm, diesem Sein des Logos, ausgesagt werden muß, weil es so ist«954. Diese Entäußerung des Logos, sodass es »selbst in Wahrheit die Existenz einer geschaffenen Wirklichkeit wird [...], weil es so ist«955, Lohfink, Jesus von Nazareth, 183. Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 438. 953 Vgl. ebd. 295) »Kein Wunder, daß eine Theologie, die diese Voraussetzungen stillschweigend und unreflex, aber wirksam macht, Jesus konkret doch nur durch seine Lehre, nicht aber durch das, was er in seiner menschlichen Natur ist, zur Offenbarung Gottes des Vaters und seines inwendigen Lebens kommen läßt. Höchstens käme in einer solchen Auffassung noch eine Offenbarung durch sein (tugendhaftes) Handeln in Frage« (ebd.). 954 Ebd. 955 Ebd. 951

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7.3 Christliches Zentrum: Inkarnation als unüberbietbare Zusage

konstituiert folglich den Menschen als Realsymbol leibseelischer Einheit und nicht als defizitäres (Gesinnungs-)Zeichen der Gnade des trinitarischen Gottes.956 Diese Entäußerung des Logos wird von Florian Bruckmann als die »Gabe des Leibes«957 gedeutet. Eine Gabe bestimmt er als niemals leiblos, da ihr Wert unabhängig von dem Akt des Gebens und des Empfangens liegt, gerade eine selbstlose Gabe »ist Gabe seiner Selbst […]. Eine solche Gabe wird niemals leiblos sein, sondern immer leiblich-materiell vonstatten gehen«958. Nach dieser Deutung verschenkt sich Jesus stellvertretend selbst, indem er für die Botschaft des anbrechenden Königreichs Gottes in den Tod geht.959 Bruckmann verbindet diesbezüglich die Phänomenologie von Merleau-Ponty mit der christlichen Inkarnationslehre: »Der Leib ist nach Merleau-Ponty das entscheidende Ausdrucksme­ dium des Menschen, er ist sein Ausdruck, so dass die Bedeutungshaf­ tigkeit menschlichen Seins nicht auf seiner Sprachfähigkeit aufruht, sondern auf seiner materiebasierten Leibhaftigkeit. In diesem Sinne betont der Johannes-Evangelist in seinem berühmten Prolog gegen jeden Dualismus die reale Körperwerdung des Logos: Dieser wird wirklich Körper und umkleidet sich nicht mit einem ihm äußerlichen Fleisch, weil dieser Gedanke der Äußerlichkeit des Fleisches auf einer einseitigen Interpretation des Subjekt-Objekt-Gegensatzes und der Geistigkeit der Seele bei Descartes innerhalb der Moderne aufruht.«960

Diesbezüglich betont Bruckmann den Unterschied zwischen dem Fleisch (sarx) und der Ganzheit der Person (soma), um deutlich zu machen, dass Jesus »sich selbst, […] nicht sein Fleisch«961 schenkt. In Bezug auf das Sakrament des Abendmals bedeutet dies, dass die Kirche in der Eucharistie diese Selbstgabe Jesu feiert: »Eucharistie muss genossen werden, sie muss verzehrt werden, sie bedarf der materiellen Andersheit gegenüber einem nur denkenden Ich. Gleichzeitig bleibt deutlich, dass sich der Mensch mit der Nahrung

Vgl. Menke, Karl-Heinz, »Realsymbol«, in: LThK3 8 (2009), 867–868, hier: 868. Bruckmann, Florian, »Gabe des Leibes«, in: Ders. (Hg.), Phänomenologie der Gabe Neue Zugänge zum Mysterium der Eucharistie, Freiburg im Breisgau 2015, 125–152, hier: 125. 958 Ebd. 959 Vgl. ebd. 146. 960 Ebd. 144. 961 Ebd. 145. 956 957

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7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit

ernährt, dass er von ihr lebt, ohne dass er sie sich so einverleibt, dass zwischen ihr und seinem fleischlichen Leib keine Differenz mehr ausgemacht werden könnte.«962

Entscheidend diesbezüglich ist, dass es sich bei der Wirkung der Inkarnation nicht um eine moralische – weil einmalig geschenkte – handelt, sondern mit der Menschwerdung Gottes ist eine dauerhafte realontologische Verwandlung in Kraft getreten.963 Rahner beschreibt das Verhältnis zusammenfassend als »was von der Symbolfunktion des menschgewordenen Logos als Logos und als Mensch gesagt wurde, gilt auch für das vollendete Dasein des Menschen […]«964. Nicht nur der Mensch ist somit Realsymbol der Gnade, sondern im Sinne eines »Gegenwärtigbleiben des menschgewordenen Wor­ tes in Raum und Zeit«965. Daran anknüpfend setzt die Kirche die Symbolfunktion des Logos fort. Somit ist die zuvor bereits genannte normative Tiefe des Glaubenssatzes der Inkarnation konkretisiert. Diesen übergreifenden Zusammenhang betont Rahner ebenfalls mit seinem dritten Satz seiner Theologie des Symbols, indem er den Sym­ bolbegriff explizit als Schlüsselbegriff bezüglich der verschiedenen Traktate erhöht.966 Sein vierter Satz bekräftig anschließend nochmals die wirkliche Anwesenheit des Logos im realsymbolischen Ausdruck der Wirklichkeit: »Das Heilstun Gottes am Menschen vom Anfang seiner Grundlegung bis zu seiner Vollendung geschieht immer so, daß Gott selbst die Wirklichkeit des Heils so ist, daß sie gegeben und vom Menschen ergriffen wird im Symbol, das jene Wirklichkeit nicht als abwesende Ebd. 151. Kirche ist somit explizit nicht als entweltlichte, rein mentale und spiritualistische Größe zu verstehen, die erst dort beginnt, wo die sozio-immanente Gesellschaft aufhört, und sich ausschließlich mit der unsichtbaren Seele beschäftigt. Vielmehr ist es umgekehrt. Die Kirche ist notwendig mit der leiblichen Welt verhaftet. Diesbezüglich formuliert Rahner: »Das Christentum, insofern es eine leibhaftige, konkrete, gestaltende, redende, handelnde, organisierte, kirchliche, sakramentale Religion ist, eine Religion, die sich in ihren Dogmen mit konkreten Dingen befasst und in den Dogmen etwas aussagt, handelt dauernd mit dem Leib« (Rahner, »Der Leib in der Heilsordnung«, 166). 963 Vgl. Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 450f. 964 Ebd. 965 Ebd. 297. 966 Vgl. ebd. 303). »3. Satz: Der Begriff des Symbols (in der schon definierten Bedeu­ tung: 1. und 2.) ist in allen theologischen Traktaten ein wesentlicher Schlüsselbegriff, ohne den ein richtiges Verständnis der Thematik der einzelnen Traktate in sich und im Verhältnis zu den anderen Traktaten nicht möglich ist« (ebd.). 962

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7.3 Christliches Zentrum: Inkarnation als unüberbietbare Zusage

(und nur versprochene) vertritt, sondern diese Wirklichkeit durch das von ihr gebildete Symbol selbst (exhibitiv) anwesend sein läßt.«967

Die Vermittlung des Realsymbols ist also kein Gegensatz zur Unmit­ telbarkeit der vermittelten Wirklichkeit, sondern vermittelt eben diese Unmittelbarkeit. In der Perspektive der erarbeiteten phänomenologischen und theologischen Erkenntnisse kann formuliert werden: Sowohl durch die in Genesis bezeugte Gottebenbildlichkeit als auch die einmalige und unüberbietbare Menschwerdung Gottes in der Person Jesus von Nazareth als »absolutes Symbol Gottes in der Welt«968 ist der Mensch befähigt, körperlich-leibliches Symbol der Selbstmitteilung Gottes zu sein, indem er in die Nachfolge von Christus tritt.969 Der Begriff der Selbstmitteilung geht auf das überarbeitete Offenbarungsverständnis des zweiten Vatikanischen Konzils zurück, welches das instruktionstheoretische Konzept weiterentwickelnd durch ein Modell der Selbstmitteilung ersetzt, in welchem Gott eben »nicht etwas, sondern sich selbst«970 mitteilt und erfahrbar macht. Noch im ersten Vatikanischen Konzil war Offenbarung »im Sinne einer göttlichen Mitteilung übernatürlicher Glaubenswahrheiten«971 konzipiert, wohingegen die Konstitution Dei Verbum – der Helmut Hoping »epochale Bedeutung«972 zuschreibt – jenes instruktions­ theoretische Offenbarungsverständnis überwindet und somit ein neues und angemessenes Verhältnis von Schrift, Lehramt und Tradi­ tion konstituiert.973 Aus dieser Form des Offenbarungsverständnisses

Ebd. 450f. Ebd. 293. 969 Diesbezüglich gilt es nochmals zu betonen, dass sich Gott zwar in jedem Men­ schen selbstmitteilt, allerdings nicht in der gleichen Absolutheit als er dies in der Einmaligkeit der Offenbarung in Jesus von Nazareth tat. Jesus allein war ganz Mensch und ganz Gott und ist somit unüberbietbare Selbstmitteilung Gottes. 970 Seckler, Max, »Der Begriff der Offenbarung«, in: Walter Kern u.a. (Hg.), Hand­ buch der Fundamentaltheologie. Traktat Offenbarung, Bd. 2, Tübingen und Basel 2 2000, 41–63, hier: 47. 971 Hoping, Helmut, »Theologischer Kommentar zur Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung. Dei Verbum. (Band 3)«, in: Jochen Hünermann/ Bernd Peter Hilberath (Hg.), Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikani­ schen Konzil. Freiburg-Basel-Wien 2005, 695–831, hier: 807. 972 Ebd. 815. 973 Vgl. ebd. 967

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7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit

leitet die Pastoralinstruktion Communio et Progressio974 (CeP) von 1971 ein entsprechendes Kommunikationsverständnis ab, in wel­ chem christliche Kommunikation als eine Kommunikation definiert wird, die grundsätzlich auf »einen tieferen Sinn für Gemeinschaft« (CeP, Nr. 8) zielt, welche also explizit über den ausschließlichen Infor­ mationsaustausch im Sinne von »etwas wird kommuniziert« (vgl. Sender-Empfänger-Modell von Shannon/Weaver in Kapitel 2.3) hin­ ausgeht und auf ein Kommunikationsideal von Selbstmitteilung zielt (vgl. CeP, Nr. 10). Großes Vorbild ist dabei der »Meister der Kom­ munikation« (CeP, Nr. 11) Jesus Christus: »Während seines Erdenwandels erwies sich Christus als Meister der Kommunikation. In der ›Menschwerdung‹ nahm er die Natur derer an, die einmal die Botschaft, welche in seinen Worten und seinem ganzen Leben zum Ausdruck kam, empfangen sollten. Er sprach ihnen aus dem Herzen, ganz in ihrer Mitte stehend. Er verkündete die göttliche Botschaft verbindlich, mit Macht und ohne Kompromiß. […] Tatsächlich ist Kommunikation mehr als nur Äußerung von Gedanken oder Ausdruck von Gefühlen; im Tiefsten ist sie Mitteilung seiner selbst in Liebe.«975

Somit verwandelt die Menschwerdung in Jesus Christus nicht nur rea­ lontologisch die Menschheit in leibseelische Realsymbole der Gnade Gottes, sondern Jesus ist darüber hinaus Vorbild für meisterhafte, weil selbstmitteilende-leibseelische, Kommunikation. Die Aussage, dass zum wahren Menschsein notwendig körperliche Leiblichkeit gehört, ist folglich durch die (ur-)sakramentale Aussage der Inkarnation als Zentrum des christlichen Glaubenssatzes unüberbietbar gegeben.

Zusammenfassung Das unter anderem auf Platons Seinsdualismus zurückzuführende Misstrauen gegenüber körperlicher Leiblichkeit, welches tief in die Geschichte des Christentums eingeschrieben ist, mutet geradezu tragisch an, wenn ein – wie in den vorangehenden Kapitel demons­ trierter – unverstellter Blick auf den Ursprung und das Zentrum christlicher Glaubensinhalte und -zeugnisse gewagt wird und das Papst Paul VI., »Communio et Progressio. Pastorale Instruktion über die Mittel der Sozialen Kommunikation«, in: Acta Apostolicae Sedis 63 (1971), 593–656. 975 Hoping, »Theologischer Kommentar zur Dogmatischen Konstitution«, 815. 974

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7.3 Christliches Zentrum: Inkarnation als unüberbietbare Zusage

authentische Christentum als das sichtbar wird, was es im Kern ist: Ein radikaler Gegenentwurf zum anthropologischen Dualismus des antiken Denkens.976 976 Hinsichtlich der Bejahung des Leibes sei auf die »Theologie des Leibes« von Papst Johannes Paul II hingewiesen. Diese von 1979 bis 1984 – initial als Mittwochskateche­ sen vorgetragene – Theologie betont die Wichtigkeit und Freude von und an Sexualität und Ehe sowie die Einheit von Leib und Seele (vgl. Johannes Paulus (Papa, II.), Die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan: Katechesen 1979 – 1981 /Johannes Paul II, herausgegeben von Renate und Norbert Martin, Schönstatt 1985.). Die Grundaussage der Vorträge ist, dass am und durch den Leib des Menschen die Gnade Gottes sichtbar wird (vgl. Johannes Paulus, Die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan, 133f.). Gleichzeitig weist diese Theologie des Papstes eine »unlösbare Verknüpfung« (Mar­ schütz, Gerhard, »Eine Unlösbare Verknüpfung. Humanae vitae und die Theologie des Leibes«, in: Konrad Hilpert/Sigrid Müller (Hg.), Humanae vitae – die anstößige Enzy­ klika. Eine kritische Würdigung, Freiburg im Breisgau 2018, 127–146, hier: 127) mit der Sexualethik der Enzyklika Humanae vitae auf. Im Zentrum dieser naturrechtlichen Sexual- und Eheethik steht die von Gott festgelegte Unauflösbarkeit der Verknüpfung des Sexualaktes und der Fortpflanzung, die dem ehelichen Akt innewohnt (vgl. ebd.). Wie der Theologe Gerhard Marschütz aufzeigt, wurde diese Verknüpfung bereits vor HV durch Karol Wojtyła vor seiner Zeit als Oberhaupt der Kirche durch das Krakauer Memorandum (vgl. Die Grundlagen der Lehre der Kirche bezüglich der Prinzipien des Ehelebens. Memorandum einer Gruppe von Moraltheologen aus Krakau (1968), [https://www.stjosef.at/dokumente/krakauer_memorandum.htm] Abgerufen am 2 0.10.2022) von 1968 sowie in seiner Studie »Liebe und Verantwortung« (Wojtyła, Karol, Liebe und Verantwortung. Eine ethische Studie, München 21981) entsprechend vorbereitet (vgl. Marschütz, »Eine Unlösbare Verknüpfung«, 128f.). Ohne den Willen der Ehepartner bei jedem individuellen Akt Mutter bzw. Vater zu werden, kommt es nach Wojtyła nicht zur vollständigen personalen Ebene des Geschlechtsaktes und die­ ser werde zum »bloßen sexuellen Genuss« (Wojtyła, Liebe und Verantwortung, 203) und unterlaufe das Potentiale tatsächliche Liebe zu sein. Ein solcher Geschlechtsakt wende sich somit gegen den göttlichen Willen selbst und verstümmele ihn letztlich (vgl. Krakauer Memorandum III, 3b). Wojtyłas Theologie ist folglich auf einer Linie mit der augustinischen Ehegüterlehre: »erstens eine fortpflanzungsorientierte Sicht von Sexualität, welche zweitens stets rückgebunden wird an eine in der Schöpfungs­ ordnung grundgelegte familienorientierte Sicht von Ehe, und schließlich auch die zwei Haltungen zum Ausdruck bringende Unterscheidung des Augustinus zwischen uti und frui. Letztere wird von Wojtyla ausführlich in seinen Gegensatz-Überlegungen von utilitaristischem Vergnügen und wahrer, d.h. die Zeugungsbereitschaft umfassen­ der Liebe thematisiert« (Marschütz, »Eine Unlösbare Verknüpfung«, 131). Kritisch angefragt werden darf an der Theologie Wojtyłas die unberücksichtigten Erkenntnisse aus der Phänomenologie, namentlich die Unterscheidung von Körper und Leib, sowie die biologistische Auslegung des Geschlechtsaktes in der Ehe. Der eigentliche Sexu­ alakt ist zwar unbestreitbar mit dem Potential auf Fortpflanzung verknüpft, die davon ausgehende normative Auslegung jedes einzelnen Aktes innerhalb der Ehe deutet allerdings auf eine einseitig-naturalistische Interpretation von Sexualität hin (vgl. ebd. 140f.). Die Theologie des Leibes ist somit in ihrer Doppeldeutigkeit einerseits positiv

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7. Theologischer Ausblick: Christliche Bejahung körperlicher Leiblichkeit

Vertieft wird diese Tragik durch den Blick auf die christliche Tradi­ tion und die Feststellung, dass sich jener ganzheitliche Gegenentwurf nie im »Mainstream« des Christentums durchgesetzt hat: »Die Seele liebt den Körper – diese Sicht Meister Eckharts, mancher Mystiker und Humanisten, auch ostkirchlicher Theologen blieb stets eine Außenseiter- und Antibewegung.«977

Um der Entwicklung, dass die den Körper inkludierenden und affir­ mativen Stimmen grundsätzlich den Außenseitern gehörten, ent­ schlossen entgegenzutreten und das umfassende Potential christlicher Theologie zu entfesseln, reicht es nicht aus, die strukturelle Bejahung körperlicher Leiblichkeit abstrakt anhand von Glaubenszeugnissen und -inhalten zu referieren und diese wechselseitig aufeinander zu beziehen. Vielmehr muss eine moderne Katholische (Moral-)Theolo­ gie, die sich jener zentralen und ursprünglichen Inhalte ohne Abstri­ che verbunden fühlt, zeigen, dass die vollständige Frohe Botschaft, welche in der Bibel bezeugt und mit Jesus Christus offenbart wurde, konkrete Antworten und Orientierungen auf aktuelle Probleme sowie Herausforderungen bietet. Im Folgenden und letzten Kapitel wird das nun in den Sinn­ horizont des theologischen Ausblicks gestellte Konzept der (körper­ lich-)leiblichen Authentizität auf die strukturellen Herausforderun­ gen der digitalen Mediatisierung angewendet und im Zuge dessen die Frage beantwortet, weshalb die nichtmediale Wirklichkeit das Primat menschlicher Existenzwirklichkeit darstellt und welche ethischen Schlussfolgerungen daraus erwachsen.

als Anerkennung von menschlicher Leiblichkeit durch höchste kirchliche Instanz, aber leider auch kritisch als wissenschaftlich unterkomplexes Konzept einzuordnen. 977 Heimbach-Steins, »Sind wir im eigenen Körper zu Hause?«, 25.

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8. Fazit: Das Primat leiblicher Nichtmedialität

Der Mensch ist empfänglich für das Mediale. Orientierung bietet bezüglich dieser anthropologischen Gegebenheit das begründete Wissen um das Primat der leiblichen Nichtmedialität. Diese Ori­ entierung befähigt, ähnlich wie ein Kompass in der Wildnis, den Menschen in der Ausgestaltung seines medialen Ausdrucks. In dem Wissen um seine leibliche Heimat weiß der Mensch um die Notwen­ digkeit der regelmäßigen Rückkehr und kann somit jeden medialen Ausflug gelingend gestalten. Dies hat der vorliegender Text versucht deutlich zu machen und soll folgend nochmals zusammengefasst erläutert werden. Wie einleitend diagnostiziert, weist der aktuelle Zeitgeist einen tendenziellen Rückzug aus der nichtmedialen Wirklichkeit hin in den Kommunikationsraum der digitalen Medialität auf. Der techno­ logische Wandel digitaler Mediatisierung verschärft den Rechtferti­ gungszwang des Wirklichkeitsvorrangs der nichtmedialen Welt auf nie zuvor dagewesene Art und Weise. Auch wenn jene Technolo­ gie einen vollständigen Rückzug in die Wirklichkeit der digitalen Mediatisierung noch nicht abschließend leisten kann, gibt es dies­ bezüglich bereits entsprechende – zum Teil explizit posthumanisti­ sche – Wunschhaltungen, welche sich nahtlos an die abendländische Tradition des platonischen Dualismus anschließen, die von latenter Körperskepsis bis zu radikaler Körperfeindlichkeit reichen. Jenen Mentalitäten ist gemein, dass der letztlich fehlerhafte, unvollständige, defizitäre und endliche Körper überwunden und der Exodus des nichtmedialen Urbilds in das mediale Abbild vollzogen werden soll (s. Kapitel 1 und 2). Die sich folglich aufdrängende Frage, welche Wirklichkeit die wirklichere und somit bessere sei und im Zweifel mehrheitlich oder ausschließlich bewohnt werden sollte, wurde orientierend an den Potentialen von Selbstmitteilung anschließend verfolgt. Folgend wurde der Frage nachgegangen, ob mit Hilfe digital-medialer Kom­ munikationswerkzeuge eine unmittelbare Erfahrbarmachung des

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8. Fazit: Das Primat leiblicher Nichtmedialität

eigenen Selbst wahrscheinlicher wäre als innerhalb der nichtmedia­ len Kommunikationswirklichkeit. Um diese Frage zu beantworten, müssen die Bedingungen der Möglichkeit von authentischer Selbst­ mitteilung von nichtmedialer und (digital-)medialer Kommunikati­ onswirklichkeit bestimmt werden. Authentizität wurde orientierend an Walter Benjamin und der Editionsphilologie als aus zwei Aspekten bestehend bestimmt. Sowohl die zertifizierte – also herausgegebene – ursprüngliche Originalität des »Hier und Jetzt« als auch das performa­ tive Moment von auratischer Kommunikation mit diesem »Hier und Jetzt« konstituieren Authentizität. Das ursprüngliche Original des »Hier und Jetzt« des Menschen ist somit die Bedingung der Möglich­ keit, mit diesem in eine potentiell authentische Kommunikation zu treten, da dieses die unmittelbarste Seinsform darstellt. Die Intensität von wechselseitig mitgeteilter Authentizität im Sinne einer Erfahrung von Unmittelbarkeit – von Walter Benjamin als auratische Erfah­ rung beschrieben – manifestiert sich dabei in unterschiedlicher Inten­ sität. Ob eine unüberbietbare Erfahrung von Unmittelbarkeit des Gegenübers möglich ist, oder wie diese inhaltlich zu bestimmen ist, wird offengelassen. Benjamins Begriff der Aura wurde diesbezüglich bewusst gewählt, da dieser alle Stadien der Authentizitätsintensität umfasst. Entscheidend ist also nicht die Bestimmung von »absoluter Authentizität«, sondern von der Bedingung der Möglichkeit für eine möglichst ganzhafte Selbstmitteilung (s. Kapitel 3). Die Antwort auf die Frage nach dieser Bedingung der Möglichkeit verbirgt sich im ersten Aspekt von Authentizität. Das ursprüngliche Original des »Hier und Jetzt« des Menschen muss folglich näher bestimmt werden, um herauszufinden, in welcher Wirklichkeit er die größte Chance hat, sich in seiner Ganzheit erfahrbar zu machen. Die Frage nach der ursprünglichen Originalität des »Hier und Jetzt« des Menschen wurde mit Hilfe der Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty und Hermann Schmitz sowie des Theologen Karl Rahner als genuin leiblich bestimmt (s. Kapitel 4). Der Leib wird durch die drei Denker mit je ganz unterschiedlichen Schwerpunkten identifiziert. Für Mer­ leau-Ponty ist der Leib transzendentaler Gesichtspunkt menschlicher Existenz schlechthin und konstituiert so durch primordiale – also vor­ reflexive – Wahrnehmung unser »Zur-Welt-sein« (être-au-monde). Jenseits von intellektualistischer und empiristischer Einseitigkeit sind wir nach Merleau-Ponty durch unseren Leib immer schon zur-Welt intentional inkarniert. Durch diese primordiale Verwobenheit mit der Welt ermöglicht uns unser Leib erst ursprünglich-räumliches

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8. Fazit: Das Primat leiblicher Nichtmedialität

»Hier« und ursprüngliches zeitliches »Jetzt«.978 Die Welt hat für den Menschen in der Vorstrukturierung des leiblichen Horizonts immer schon einen Sinn und ist somit »Mittel überhaupt eine Welt zu haben.«979. Ursprüngliche Originalität, im Sinne des nichtmedia­ len, also nicht-technisch vermittelten »Hier und Jetzt«, wird in der Philosophie von Merleau-Ponty als das Potential des Leibes, trans­ zendentale Bedingung von menschlicher Existenz überhaupt zu sein, betont (s. Kapitel 4.1). Wo Merleau-Ponty pointiert das Vermögen des menschlichen »Hier und Jetzt« als Leib beschreibt, sind die Arbeiten von Her­ mann Schmitz hilfreich, um zu verstehen, wie sich dieses Wesen des »Hier und Jetzt« genau zusammensetzt. Schmitzt versteht den Leib als »körperlichen Leib«, welcher eine Mischentität von reiner Körperlichkeit und reiner Leiblichkeit darstellt. Reine Körperlichkeit ist ausgezeichnet durch »relative Örtlichkeit«, die sowohl taktil als auch visuell validierbar ist und insofern klare Grenzen hat. Reine Leiblichkeit ist hingegen bestimmt durch absolute Örtlichkeit, die sich ausschließlich durch das Erspüren von Leibinseln auszeichnet. Leibinseln sind beweglich und nicht klar begrenzte Gegenden im körperlichen Leib. Den Gegenwartsattributen von »Hier und Jetzt« stellt Schmitz drei weitere zur Seite (»Dasein«, »Dieses«, »Ich«) und macht deutlich, dass es in der Extremsituation von zum Bei­ spiel Panik, Angst oder Freude zu dem Phänomen von »primitiver« bzw. »entfalteter Gegenwart« kommt, in der sich unüberbietbar die eigene Daseinsgewissheit manifestiert. In der Verschränkung bzw. dem Zusammenfall der fünf Gegenwartsformen von »Ich«, »Hier«, »Jetzt«, »Dasein« und »Dieses« wird die Versicherung, dass wir selbst betroffen sind, unüberbietbar und genuin leiblich gewahr. Somit bestimmt Schmitz die ursprüngliche Originalität als »körperlichen Leib«, der sich sowohl aus relativer als auch absoluter Örtlichkeit zusammensetzt. Im Gegensatz zu Merleau-Ponty kann er den Unter­ schied zwischen Körper und Leib und somit die Zusammensetzung des »Hier und Jetzt« des Menschen als körperlicher Leib präziser bestimmen (s. Kapitel 4.2). An dieser Stelle kann die Leitfrage nach dem Primat der Nicht­ medialität, bevor der Blick auf die theologischen Ergebnisse gerichtet wird, bereits wie folgt explizit philosophisch beantwortet werden: 978 979

Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 171f. Ebd. 176.

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8. Fazit: Das Primat leiblicher Nichtmedialität

Bereits die Ergebnisse von Merleau-Ponty als auch Schmitz zeigen, dass das ursprünglich-originale »Hier und Jetzt« des Menschen und somit der strukturelle Unterschied zwischen medialer und nichtme­ dialer Wirklichkeit, der (körperliche) Leib ist. Diesbezüglich ist die Untrennbarkeit von körperlicher Leiblichkeit und dem immanentnormativen Anspruch von Authentizität gegeben. Der körperliche Leib ist in relativer und absoluter Örtlichkeit doppelt zertifiziert wahrnehmbar und folglich die ursprünglichste Quelle jeglicher digi­ tal-medialer Imitationsbemühung einer Abbilderstellung. Aus dieser unüberbietbaren Originalität erwächst sein immanenter Sollensan­ spruch von Authentizität. Körperliche Leiblichkeit konstituiert somit die Bedingung der Möglichkeit für authentische Selbstmitteilung. Diese Bedingung der Möglichkeit für körperlich-leibliche Authentizität im Sinne von ganzheitlicher Mitteilung verwirklicht sich dann im Kontext digital-medialer Wirklichkeit als strukturell defizitär. Da das technisch-materielle System digitaler Mediatisie­ rung nur in der Lage ist, die Dimension von reiner Körperlichkeit – also ausschließlich relative Örtlichkeit – zu imitieren, beschneidet es die vermittelte Kommunikationswirklichkeit der absolut-örtlichen Leiblichkeit. Somit scheitert Medialität strukturell sowohl an einer gleichwertigen als auch erst recht an einer höherwertigen Abbildung menschlicher Ganzheit, welche durch die Potentiale der primordialen Wahrnehmung, des »Zur-Welt-seins« und der Konstituierung von ursprünglicher Räumlichkeit und Zeitlichkeit geprägt sind. Explizit philosophisch gesprochen lässt der Mensch bei jedem medialen Ausflug sein ursprünglich-originales »Hier und Jetzt« zurück und kappt somit die transzendentale Bedingung der Möglichkeit für die Erfahrbarmachung von Unmittelbarkeit. Somit beinhaltet jede (digital-)mediale Kommunikation eine strukturelle Drosselung von möglicher auratischer Erfahrung und Mitteilung. Dies wird besonders in den Extremfällen von zum Beispiel primitiver Gegenwart deutlich. Das Zusammenfallen der fünf Gegenwartsmomente, was zu einem Rückfall der Person auf ein vor-intellektuelles Sein führt, findet explizit nicht in der relativen Örtlichkeit der Medialität, sondern in der absoluten Örtlichkeit des körperlichen Leibes und somit in der Nichtmedialität statt. Digital-medial vermittelte Kommunikation ist folglich nicht nur nicht der körperlich-leiblichen – also nichtme­ dialen Wirklichkeit – überlegen, sondern Medialität ist hinsichtlich ursprünglich-originaler menschlicher Existenz im Sinne körperlichleiblicher Authentizität strukturell defizitär und somit bezüglich

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ganzheitlicher Vermittlung grundsätzlich der nichtmedialen Kommu­ nikationssituation unterlegen. Zu beachten ist, dass jenes Defizit mit voranschreitender technischer Entwicklung keinesfalls negiert werden kann. Denn die ausschließlich-partielle Vermittlung ist der technischen Struktur digitaler Medialität notwendig inhärent, da die Vermittlung von absoluter Örtlichkeit im Sinne von reiner Leiblich­ keit technisch unmöglich ist. Die einleitend spezifizierte Frage bezüglich der Wirklichkeitsprä­ ferenz wird somit (philosophisch) wie folgt beantwortet: Die Chance uneingeschränkt-unmittelbarer – also authentischer – Kommunika­ tion im Sinne der körperlich-leibhaften Erfahrbarkeit ursprünglichoriginaler Ganzheit ist ausschließlich innerhalb der nichtmedialen Kommunikationssituation gegeben. In digitaler Mediatisierung ist ausschließlich eine reduzierte Form von auratischen Erlebnissen mög­ lich, welche zwangsweise strukturell gedrosselt sind und bleiben (s. Kapitel 5 und 6). Eine weitergehende (normative) Vertiefung dieser Ergebnisse wird im Rückgriff auf die theologischen Ergebnisse deutlich. Hinsicht­ lich der Bestimmung des ursprünglich-originalen »Hier und Jetzt« des Menschen eröffnet Karl Rahners »Theologie des Symbols«980 eine weitere Verständnisdimension. Rahner begreift Leiblichkeit als einen notwendigen Bestandteil von menschlicher Ganzheit im Sinne eines Realsymbols. Dies bedeutet, dass die körperlich-leibliche Dimension des Menschen nicht optional-extern als Zeichen zum eigentlichen Selbst des Menschen hinzukommt, sondern dass erst durch jene konkrete Dimension des körperlichen Leibes der Mensch realsymbolisch vollständig ist. Dieses realsymbolische Leibverständ­ nis erfährt durch die mythische Urwort-Herzdeutung Rahners eine entsprechende Akzentuierung: Das Urwort Herz betont folglich die unteilbare Einheit des menschlichen Selbst und dessen körperlichleiblicher Dimension, welche mit dem Wort Herz nicht nochmals explizit formuliert werden muss, da es bereits »ursprachlich« deutlich ist (s. Kapitel 4.3). Rahners realsymbolische Herz-Deutung ist mit den phänomenologischen Ergebnissen von (körperlicher) Leiblichkeit fruchtbar kompatibel und erweitert das Verständnis der ursprüngli­ chen Originalität bereichernd hin zum Konzept von (körperlich-)leib­ licher Authentizität als Realsymbol, das ebenfalls als Herausgeber­ schaft der Seele des Leibes durch den Körper verstanden werden 980

Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 423–461.

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kann (s. Kapitel 5). In Bezug auf die obig beschriebene intrinsische Unfähigkeit der Techniken medialer Digitalität, ausschließlich die körperliche Dimension abbilden zu können, wird folglich vertiefend deutlich, dass jegliche Kommunikation, die nicht körperlich-leiblich, sondern medial vermittelt wird, ausschließlich eine mangelhaft-zei­ chenhafte – und eben keine ganzheitlich-realsymbolische – Vermitt­ lung von menschlicher Herz-Ganzheit leistet. In jedem Moment des Exodus körperlich-leiblicher Authentizität verkürzt der Mensch das innere Moment seiner Selbst, seine »All-einigkeit«981, die personale Mitte, die wesentlich an Gott grenzt und seine Unvertretbarkeit konstituiert.982 Theologisch-mythisch lässt sich der Rückzug in die digital-mediale Wirklichkeit als systematische »Herzbeschneidung«, also einer spalterischen Handlung gegen unsere vorgängige Urein­ heit, deuten (s. Kapitel 6). Dieses – sich bereits an theologische Konzepte anlehnende – ethische Zwischenfazit erfährt durch den anschließend referier­ ten exegetischen und christologischen Entdeckungszusammenhang gegenüber körperlicher Leiblichkeit eine weitergehende kritische Ausdeutung. Somit ist deutlich, dass das Christentum sowohl in seinem ursprünglichen Glaubenszeugnis in Form der Heiligen Schrift als auch innerhalb seines zentralen Glaubensinhalts – der wahrhaften Menschwerdung – eine systematische Bejahung des körperlichen Leibes aufweist. Zum authentischen Christentum gehört folglich not­ wendig die ontologische Umschließung des leibseelischen Menschen in seiner Ganzheit sowie explizit keine normative Herabsetzung jener leiblichen Ganzheit. Hinsichtlich jener normativen und explizit christlichen Erweiterung im Sinne der ursprünglich-zentralen Beja­ hung körperlich-leiblicher Immanenz ist die Bedeutung des Inkarna­ tionsereignisses entscheidend. Wie bereits gezeigt, hat die Fleischwerdung Gottes keine zei­ chenhafte und partielle, sondern eine realsymbolisch-ganzheitliche Wirkung, die folglich mehr ist als nur ein Gesinnungswandel, eine Inspiration oder ein abstraktes Vorbild, sondern vielmehr einen realontologischen Paradigmenwechsel darstellt. Das unüberbietbare Realsymbol Gottes in und durch die Person Jesus von Nazareth stellt eine Verwandlung menschlichen und weltlichen Seins dar. Diese Dirscherl, Grundriss theologischer Anthropologie, 99. Vgl. Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 456. und vgl. Beck, Seele und Krankheit, 156. 981

982

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Verwandlung befähigt das Menschengeschlecht körperlich-leibliches Symbol der Selbstmitteilung und Empfänger der Gnade Gottes zu sein. Im Moment der Inkarnation entäußert sich das Sein des Logos, sodass es selbst »in Wahrheit die Existenz einer geschaffenen Wirk­ lichkeit wird«983. Der Mensch ist durch das Sein von Jesus Christus nicht nur (Gesinnungs-)Zeichen sondern realontologisch verwandelt und ist somit Realsymbol leibseelischer Einheit der Gnade Gottes zu sein. Diese dauerhafte realontologische Verwandlung, welche dem Menschen von Gott geschenkt wurde, vollzieht sich explizit nicht einseitig geistig, sondern mit derselben Konkretheit der »Näfäsch -Anthropologie«, welche sowohl im Alten als auch im Neuen Testa­ ment aufgezeigt wurde. Demzufolge geht es nicht um die abstrakte, sondern die konkrete selbstmitteilende Beziehungswirkung des irdi­ schen Lebens. Folglich verweist die Immanenz direkt auf heilende Transzendenz: Mit der Inkarnation ist das Reich Gottes in der Gegen­ wart angebrochen und der Mensch steht im Sinne der Gottebenbild­ lichkeit als konkret-sinnliches Wesen in Gottes Herrschaftsbereich statuenhaft für den Schöpfergott. Gottes Heilsanspruch ist somit radikal ganzheitlich und die christliche Perspektive ist in diesem Sinne explizit nicht weltfremd, sondern dieser notwendig zugewandt (s. Kapitel 7). Die sich durch den »Ausdifferenzierungsprozess«984 der Medien aufdrängende Frage nach der wirklicheren und somit höherwertigeren Wirklichkeit kann folglich dieser erweiterten Perspektive christlichtheologischer Inhalte eindeutig wie folgt beantwortet werden: Die nichtmediale und körperlich-leibliche Wirklichkeit ist die verwan­ delte Heilswirklichkeit Gottes und daher jeder zeichenhaft vermittel­ ten Alternativwirklichkeit überlegen und vorzuziehen. Der multidimensionale Begriff »Leib Christi«, der im Kontext von Nachfolge, Erlösungsverheißung, Heilsraum und kirchlicher Grundstruktur innerhalb nahezu jedes Bereichs der Theologie Ver­ wendung findet, verweist direkt auf das radikal körperlich-leibliche Schlüsselerlebnis des Christentums, welches auf diese Weise die christliche Lehre als lebendigen Gegenentwurf zu jeder Form von radikalem Rückzug aus der nichtmedialen Wirklichkeit konstituiert. Auf die Frage des Wirklichkeitsvorranges, also ob vermehrt die digital-mediale oder nichtmediale Welt menschliche Lebens- und 983 984

Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 439. Krotz, Mediatisierung, 37.

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Kommunikationswirklichkeit sein sollte, kann das Christentum aus seinen ursprünglichen und zentralen Glaubensinhalten ausschließ­ lich diejenige favorisieren, welche menschliche Ganzheit im Sinne eines Realsymbols darstellen kann. Gesetzt den Fall, der Mensch würde sich ausschließlich in der Zeichenwelt der digitalen Mediatisierung ausdrücken und sein kör­ perlich-leibliches Sein vollends zurücklassen985, würde dies in theo­ logischer Lesart ausgedrückt dazu führen, dass dieser seine Wesen­ haftigkeit des körperlich-leiblichen Realsymbols und somit die Möglichkeit der Erfahrung der Unmittelbarkeit Gottes (und vonein­ ander) strukturell beschneiden würde. Nach geändertem Offenba­ rungsverständnis offenbart Gott nicht etwas, im Sinne von Glaubens­ inhalten, sondern er offenbart sich selbst. Wo zuvor noch von Verringerung der Potentialität von authentischer Selbstmitteilung innerhalb der digital-medialen Wirklichkeit die Rede war, kann nun vertiefend in theologisch-ganzheitlicher Perspektive von Teilaufgabe des Empfangspotentials der Selbstmitteilung Gottes gesprochen wer­ den. Entscheidend hierbei ist das Verhältnis von Selbstmitteilung Gottes und des Menschen. Wenn zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, er mitten unter ihnen ist (Mt 18,20), diese zwei oder drei nun aber nicht »wirklich«, also nicht in körperlich-leiblicher Authentizität versammelt sind, sondern lediglich in körperlich-zei­ chenhafter Form, ist nicht nur das Communio-Ideal eines »tieferen Sinn[s] für Gemeinschaft« (CeP, Nr. 8) und die vorbildhafte Kommu­ nikation der Selbstmitteilung von Christus eingeschränkt, sondern darüber hinaus die Unmittelbarkeit Gottes und Nachfolgemöglichkeit Christi entsprechend strukturell beschnitten. Wichtig zu beachten ist, dass ausschließlich von Reduzierung der Möglichkeit beziehungsweise Chance des Empfangs und nicht von abschließender Abschottung der Selbstmitteilung Gottes gesprochen werden kann. Ein vollständiger Entzug aus dem Wirkungsbereich Gottes ist aufgrund christlichen Glaubens an die Allmacht Gottes nicht denkbar.986 Der primäre Bezugspunkt des Heils in christlicher Ein solches (unfreiwilliges) Szenario erinnert unweigerlich an den 1999 erschie­ nen Kultfilm »Matrix«, der die Körper der gesamten Menschheit als bewusstlos darstellt, während sie – unwissentlich – in einer digital-medial vermittelten Welt namens Matrix leben. 986 Die sich in diesem Kontext aufdrängende Frage, ob Gott grundsätzlich in der Lage wäre, sich eines Menschen gnadenvoll anzunehmen, der sich freiwillig vollends in die digital-mediale Wirklichkeit zurückgezogen hätte, ist zu bejahen. Wie auch in 985

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Perspektive ist von daher die der körperlich-leiblichen und somit nichtmedialen Wirklichkeit des Menschen. Weiterführend wird im Rückgriff auf Rahner deutlich, dass sich die menschliche strukturelle Beschneidung der Unmittelbarkeit und Selbstmitteilung Gottes, die Verfehlung des Communio-Ideals, die Verkürzung der Nachfolge­ möglichkeit Christi und die systematische Herzbeschneidung beson­ ders in dem vierten Satz seiner Theologie des Symbols besonders eindeutig und nochmals grundsätzlich nachverfolgen lässt: »Das Heilstun Gottes am Menschen vom Anfang seiner Grundlegung bis zu seiner Vollendung geschieht immer so, daß Gott selbst die Wirklichkeit des Heils so ist, daß sie gegeben und vom Menschen ergriffen wird im Symbol, das jene Wirklichkeit nicht als abwesende (und nur versprochene) vertritt, sondern diese Wirklichkeit durch das von ihr gebildete Symbol selbst (exhibitiv) anwesend sein läßt.«987

Wenn sich das Heilstun Gottes am Menschen vollzieht, indem Gott selbst die Wirklichkeit des Heils ist, welche vom Menschen realsym­ bolisch ergriffen werden kann, dann ist der vermehrte Rückzug aus dieser Wirklichkeit des Heils theologisch als bewusst gewählte Got­ tes- beziehungsweise Heilsferne zu bewerten. Der Mensch beschnei­ det sich bewusst seiner Möglichkeit der Ergreifung der realsym­ bolischen, körperlich-leiblichen Heilswirklichkeit. Im Kontext des nichtmedialen Exodus zieht er sich selbst aus dieser fassbaren Sym­ bol- und Heilswirklichkeit in eine lediglich das Heil versprechende, aber potentiell heilabwesende Zeichenwirklichkeit zurück. Zugespitzt lässt sich in christlich-theologischer Perspektive bezüglich des Wett­ bewerbs der Wirklichkeiten folglich formulieren: Ein wahrer Christ gibt seine Welt nicht auf. Dieser zugespitzte Satz fasst die gesamte Erkenntnis der vorlie­ genden Arbeit zusammen: Nur in einer nichtmedialen Welt kann der Mensch sich realsymbolisch in körperlich-leiblicher Authentizität jedem anderen Fall der Selbst- und Gottesdistanzierung ist mit Gottes unbedingter Liebe in Form von ewiger Barmherzigkeit zu rechnen. Gleichzeitig ist zu konstatieren, dass die Frage: »Wie wirkt das Heil des Gottes innerhalb einer reinen Zeichenwelt?« ein spannendes Forschungsziel jenseits der Erkenntnisziele dieses Textes darstellt und folglich innerhalb dieses Kontexts nicht relevant ist. Für den hier vorliegenden Zusammenhang ist entscheidend, dass das Heil auf das umfassende Sein des Men­ schen zielt und ein von ihm gewählter Rückzug in eine partielle Selbstmitteilung und Zurücklassung eines Teils seines ganzheitlichen Menschenvollzuges folglich einer bewusst gewählten Gottesferne gleichkommen würde. 987 Rahner, »Zur Theologie des Symbols«, 450f.

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ausdrücken und hat folglich die höchste Chance, die unmittelbare Selbstmitteilung Gottes körperlich-leiblich als ganzer und authen­ tisch-wahrer Mensch zu empfangen. Ein vollständiger beziehungs­ weise übermäßiger Rückzug in die digital-mediale Zeichenwelt stellt demnach eine systematische Beschneidung der Wesenswahrheit des Menschen dar und reduziert – so strukturell partiell ausgedrückt – ontologisch die Chance auf Gottes Heilsempfang und ganz konkret die Fähigkeit, in die Nachfolge Christi zu treten. Ein Mensch, der seine Kommunikation nur noch zeichenhaft vermittelt, beschneidet sich der vollständigen Hingabe, ja gar der vollständigen Schenkung bzw. Gabe (s. Kapitel 4.7.3) des Gegenübers. Er ist potentiell nicht »in seinem Namen« dort versammelt, sondern nur zeichenhaft-verwiesen und nur imitiert in Form eines möglicherweise »perfekten Avatars« prä­ sent. Um dem Vorwurf einer möglichen Technikfeindlichkeit zuvor­ zukommen: Nein, die Wirklichkeit der digitalen Medialität ist nicht »gottlos«, da sie letztlich, jenseits von unrealistischen Überlegungen, nicht von der nichtmedialen Wirklichkeit trennbar ist. Allerdings ist der Mensch als Ganzes medialer Wirklichkeit weniger authentisch präsent und dies führt in christlicher Perspektive zu einem Zustand von ontologischer Gottesferne, welche es sehr viel unwahrscheinli­ cher macht, Jesus nachzufolgen und sich dem Nächsten und sich selbst in seiner Ganzheit in Liebe zu schenken. Wie soll nun also mit den Möglichkeiten der neuen Techniken umgegangen werden? Bei obiger Ausführung, die von »struktureller Beschneidung Gottes Unmittelbarkeit und Selbstmitteilung«, »Ver­ fehlung des Communio-Ideals« oder »systematische[r] Beschneidung des eigenen Herzens« spricht, lässt sich schnell eine fundamentale Ablehnung aus christlicher Sicht diagnostizieren. Dass diese Ver­ mutung nicht falscher sein könnte, zeigt das Potential christlicher Ideologiekritik: Orientierend am jüdisch-christlichen Menschenbild werden die negativen Seiten des menschlichen körperlichen Leibes bei aller grundsätzlichen Anerkennung nicht naiv verklärt: Endlich­ keit, Krankheit, Schmerz und Begrenztheit sind Elemente, die Dank der aspektivischen Darstellungen des hebräischen Denkens und des Kreuzigungsereignisses unverfälscht und auf Augenhöhe mit den positiven Aspekten eingeordnet und diskutiert werden können.988 »Entscheidend für das christliche Verständnis des Körpers ist, dass dieser, ob in der Blüte oder schon im Verfall, auf seinen Schöpfer verweist. Das stärkste Argument für eine auch von Christen zu pflegende Körperkultur aber ist die provozierende Pointe 988

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Dies ist ein entscheidender Vorteil theologischer Mensch- und Welt­ bewertung: Sie bejaht den Menschen als Ganzes und ohne Abstriche im Sinne geschenkter, ganzheitlicher Heilswirklichkeit. Ziel kann also nicht sein, die Nutzung digital-medialer Techniken grundsätzlich zu verurteilen, sehr wohl aber deren Versprechungen und Möglich­ keiten systematisch zu reflektieren. Konkret heißt dies: Wenn jener Technik – zum wiederholten Male – überhöhte Fähigkeiten oder gar ein Allmachtscharakter zugeschrieben werden,989 kann mit der klaren Bejahung der nichtmedialen Wirklichkeit körperlich-leiblicher Authentizität orientierend gegengesteuert werden. Gleichzeitig muss aber auch angesichts der Reflexion körperlich-leiblicher Begrenztheit die Nutzung entsprechender Werkzeuge positive Bewertung erfah­ ren: Zu jeder Zeit, mit jedem Menschen auf der Welt und durchaus auch mit mehreren Leuten gleichzeitig kommunizieren zu können, kann nicht nur hilfreich, sondern auch umfassend bereichernd und sogar potentiell lebensrettend sein.990 Ebenfalls kann sich der zeitlich begrenzte Rückzug in eine digital-medial vermittelte Wirklichkeit höchst unterhaltend oder produktiv erweisen.991 Es lassen sich unzäh­ lige weitere Beispiele für die nützliche oder unterhaltende Anwen­ dung dieser Wirklichkeitsvermittlung finden. Entscheidend ist das kritische Moment der strebensethischen Abwägung jenes Rückzugs aus der nichtmedialen Wirklichkeit körperlich-leiblicher Authentizi­ tät bezüglich der realsymbolisch-ganzheitlichen Heilswirklichkeit. In jener Perspektive ist festzuhalten, dass bei aller bereichernden Erfahrung durch jene Werkzeuge der »Hauptwohnsitz« nicht in jene vermittelte Welt verlegt werden darf. Solange es bei digital-medialen des christlichen Glaubens, dass Gott selbst Fleisch geworden ist. Eine Besinnung auf diese Grundüberzeugung, die die blutigen Konsequenzen der Wundmale am Kreuz eben gerade nicht ausspart und den Glauben an die Auferstehung des Leibes mit einer gewissen Zwangsläufigkeit nach sich zieht, gewinnt gerade angesichts der Hinweise auf den grassierenden Körperkult eine eigene Überzeugungskraft. Krankheit und Behinderung, Alter und Schwäche müssen im Christlichen Verständnis nie ausgeblendet werden.« (Wendel, »Die Fetischisierung des ›schönen‹ Körpers«, 112f.). 989 Vgl. Kurzweil, The Singularity is Near. 990 Man denke nur an den positiven Einsatz digitaler Technik in der Covid-19 Pande­ mie. 991 In der Perspektive von Krotz Mediatisierungsthese ist der Rückzug in eine medial-digitale Welt strukturell nichts anderes als zum Beispiel die lange Betrachtung eines Bildes oder Lektüre eines Romans. Entscheidender Unterschied ist die Qualität und Länge des »medialen Ausflugs«, welcher angesichts neuster Technik in einen vollständigen Exodus der nichtmedialen Welt münden kann.

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»Ausflügen« bleibt, ist die Nutzung vorerst nicht zu kritisieren. Jenseits dieser eindeutig-normativen Aussage hinsichtlich des voll­ ständigen Rückzugs ist darüber hinaus allerdings vielmehr strebens­ ethisch – im Sinne einer Empfehlungsethik für ein gelingendes Leben – zu argumentieren: Denn, wann es zu einem »zu viel« digitaler Mediatisierung kommt, ist nicht einfach zeitlich-prozentual festzule­ gen und muss individuell sowie kontextuell abgewägt werden. Es gibt durchaus Situationen, in denen eine kurze partiell-zeichenvermittelte Kommunikation völlig ausreichend ist, grundsätzlich sollte aber das Wissen um das Defizit jener imitierten Wirklichkeit präsent sein und als moralischer Kompass fungieren. Jenen Kompass angewandt auf das alltägliche Beispiel einer Person, die in nichtmedialen Gesprächen regelmäßig ihr Smartphone nutzt, führt dann zu der Bewertung, dass dies nicht nur unhöflich ist und von reduziertem Engagement – also einer reduzierten Selbstschenkung – zeugt, sondern darüber hinaus in der Perspektive erarbeiteter Ergebnisse als regelmäßiger Rückzug in eine partiell-vermittelnde Zeichenwelt und als bewusste Unterbre­ chung körperlich-leiblicher Selbstmitteilung sowie realsymbolischer Heilspotentiale bewertet werden kann. Um neben diesem individuellen Problem, ebenfalls ein gesell­ schaftliches Beispiel anzuführen, sei auf das Wachstum populistischer Kräfte sowohl in Europa als auch den USA hingewiesen. Diesen wird oft eine Kausalität hinsichtlich sogenannter »Filterblasen«992 im Internet zugeschrieben. Innerhalb jener Filterblasen oder Echokam­ mern werden einseitige und unreflektierte Verurteilungen der politi­ schen Gegenseite ausgetauscht, was häufig zu der Entstehung von Hass und Vorurteilen führt. Dieses Phänomen kann als radikaler Rückzug des politischen Diskurses in die digital-mediale Wirklichkeit gedeutet werden. Michelle Obama äußerte sich in einem Interview diesbezüglich wie folgt: »The problem is we don’t know each other. 992 Der Medienforscher Jonas Kaiser hat die Empfehlungsalgorithmen von YouTube untersucht: »Wenn man danach sucht, findet man schnell seltsame Empfehlungen bei YouTube. [...] Aber nur weil sich ein Jugendlicher zwei oder drei Videos anschaut, heißt das noch nicht, dass er die Meinung annimmt oder sich radikalisiert.« (Grunert, Marlene/Steppat, Timo, »Das ist krass«, in: FAZ 10(2019) [https://www.faz.net/ak tuell/politik/die-gegenwart/jugendliche-informieren-sich-vor-allem-ueber-youtub e-15984099.html?premium] Abgerufen am 23.10.2022). Es sei ein Zusammenspiel aus verschiedenen Faktoren wie etwa das soziale Umfeld oder die Familie, die zu einer Radikalisierung führen könnten. Besonders bedenklich sei, dass Gleichgesinnte durch die Empfehlungen des Algorithmus unter sich blieben (vgl. ebd.).

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We don’t let each other in. […] It is hard to hate up close. It is easyer to hate, when you are hating a person through a filter«993. Diese Beschreibung der ehemaligen First Lady zeigt konkret das Defizit einer ausschließlich partiell-zeichenhaften Kommunikation. Dieses »up close« ist in der Perspektive der erarbeiteten Erkenntnisse hin­ sichtlich der unmittelbaren Erfahrung des leiblichen »Hier und Jetzt« des Menschen zu verstehen. Die systematische Einschränkung der körperlich-leiblichen Ganzheit und somit Heilswirklichkeit zeigt – schon mit den heute verfügbaren Techniken digitaler Mediatisie­ rung – innerhalb aktueller politischer Entwicklung konkrete, höchst negative Auswirkungen. Nur in der Präsenz körperlicher Leiblichkeit können wir uns einander als unser authentisches Selbst erfahrbar machen und in der ganzheitlichen Nachfolge Christi einen »tieferen Sinn für Gemeinschaft« (CeP, Nr. 8.) entwickeln, die das Potential hat, darin zu münden, was Dietmar Mieth als eine »Kommunikation des Mitseins«994 bezeichnet. Beide Beispiele sollen deutlich machen, dass jene medienethi­ sche Einordnung sowohl eine individuelle als auch gesamtgesell­ schaftliche Dimension aufweist. Abschließend lässt sich der Umgang mit dieser Herausforderung wie folgt zusammenfassen: In der Erkenntnisperspektive, dass sich ausschließlich in nicht­ medialer Wirklichkeit das Potential körperlich-leiblicher Authentizi­ tät verwirklichen kann und diese ursprüngliche Wirklichkeit jene ist, die sich theologisch als die Entäußerung des Logos ganzheitlicher Heilswirklichkeit darstellt, eröffnet sich eine christlich informierte Möglichkeit, die technische Entwicklung digitaler Mediatisierung – fernab von Technikfeindlichkeit und falscher Paradiesversprechen – kritisch zu begleiten und Empfehlungen für ein gutes Leben zu ermit­ teln. Angesichts aktueller technischer Entwicklungen kann in der Überzeugung, dass wahres Christsein zugleich wahres Menschsein bedeutet, eine solche Empfehlung bezugnehmend zu obigem Satz, aktualisierend und abschließend wie folgt formuliert werden: Ein wahrer Mensch gibt seine Welt nicht auf. 993 »Obama, Michelle: ›It Is Hard To Hate Up-Close‹« [https://www.youtube.com/ watch?v=h13f8SAZb44] Abgerufen am 23.10.2022. 994 Mieth, Dietmar, »Der Beitrag der Kirchen zur öffentlichen Kommunikation. Theologische Begründungsversuche«, in Adrian Holderegger (Hg.), Kommunikati­ ons- und Medienethik, Freiburg in Breisgau 1999, 328–341, hier: 331.

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