Leibhafter Sinn: Der andere Diskurs der Moderne 9783110925937, 9783484181304


220 6 12MB

German Pages 418 [420] Year 1995

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Einleitung
Erster Teil: Philosophische Erkundungen
I. Der Leib als die Kontingenz des Bewußtseins bei Jean-Paul Sartre
II. Die Subversion des Diskurses durch den Körper: Das ›Semiotische‹ bei Julia Kristeva
III. Sprache als leibliche Gebärde bei Maurice Merleau-Ponty
Zweiter Teil: Historische Entfaltung
I. Plastischer Ausdruck
1. ›Leibhafte Wahrheit‹: Herders Philosophie des Plastischen
2. Die ›Signatur des Schönen‹ im menschlichen Körper bei Karl Philipp Moritz
3. Konrad Fiedler: Die motorische Vollendung des visuellen Denkens
4. Körperliche Architekturerfahrung: Heinrich Wölfflins ›Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur‹
II. Physiognomik
1. Symbolik versus Ausdruckspsychologie: Stationen der Physiognomik-Debatte
2. Die Antipoden in der Physiognomik des 19. Jahrhunderts: Carl Gustav Carus und Theodor Piderit
III. Leibreizträume und ihre Symbolik: Zur Traumtheorie vor Freud
IV. Motorisches Nacherleben des Kunstwerks: Aspekte der Einfühlungsästhetik
Dritter Teil: Leibhafte Wahrheit in der Moderne um 1900
I. Die Rückseite der Sprachskepsis: Variationen der Körpersprache um 1900
1. Der Körper aus ›Chiffern‹ und die Geisteskrankheit des Lord Chandos: Sprachverlust und Hysterie
2. Der Ursprung der Sprache aus der Gebärde: Wilhelm Wundt
3. Verstehen hinter dem Rücken des Ichs: Aspekte der Musiktheorie
II. Rilkes Rodin-Studien und der ›Archaïsche Torso Apollos‹ im Kontext der Diskussion um Gesicht und Körper in der Moderne
1. Gebärden der Moderne
2. Semiologie der Oberfläche
3. ›Archaischer Torso Apollos‹ und die Privilegierung des Gesichts in der Moderne
4. Die Schrift des Lebens
III. Psychopathologie und Subjektkritik in Alfred Döblins Frühwerk
1. Die Ästhetik des Nervenarztes: Alfred Döblins ›Gedächtnisstörungen bei der Korsakoffschen Psychose‹ und seine ›Gespräche mit Kalypso‹
2. Das Rätsel des Anderen: Döblins früher Roman ›Der schwarze Vorhang‹
3. Der Leib als Widersacher des Ichs in Döblins Erzählung ›Die Tänzerin und der Leib‹
Schluß
Quellen
Literatur
Sachregister
Personenregister
Recommend Papers

Leibhafter Sinn: Der andere Diskurs der Moderne
 9783110925937, 9783484181304

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Band

Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann

Georg Braungart

Leibhafter Sinn Der andere Diskurs der Moderne

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1995

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der V G Wort

Meinen Eltern

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Braungart,

Georg:

Leibhafter Sinn: der andere Diskurs der Moderne / Georg Braungart. - Tübingen : Niemeyer, 1995 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 130) NE: GT ISBN 3-484-18130-3

ISSN 0081-7236

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1995 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen

Inhalt

Einleitung

ι

Erster Teil: Philosophische Erkundungen

9

I. Der Leib als die Kontingenz des Bewußtseins bei Jean-Paul Sartre II.

11

Die Subversion des Diskurses durch den Körper: Das >Semiotische< bei Julia Kristeva

III.

25

Sprache als leibliche Gebärde bei Maurice Merleau-Ponty

. .

Zweiter Teil: Historische Entfaltung

36 53

I. Plastischer Ausdruck

55

ι. >Leibhafte Wahrheitc Herders Philosophie des Plastischen

.

55

a) Lessing, Burke und Herder: Stichworte zu den Anfangen der Einfühlungsästhetik

55

b) Condillacs Statue und der philosophiegeschichtliche K o n text v o n Herders Analyse der plastischen Erfahrung

. .

62

c) Herders Ästhesiologie und die Konstituierung des Subjekts aus der Taktilität

70

d) Malerei und Bildhauerei - oder: Laokoon, zweiter Teil

.

78

e) Die Seele im K ö r p e r erkennen: Aspekte der Einfühlungstheorie bei Herder im Kontext der Leib-Seele-Diskussion des 18. Jahrhunderts

89

f) Leiblicher Ausdruck: die »deutlichere, stumme Sprache« der Seele

99

2. Die >Signatur des Schönem im menschlichen K ö r p e r bei Karl Philipp Moritz

107

3. Konrad Fiedler: Die motorische Vollendung des visuellen Denkens

123

4. Körperliche Architekturerfahrung: Heinrich Wölfflins >Prolegomena zu einer Psychologie der A r c h i t e k t u r

. . .

139

V

II. Physiognomik ι. Symbolik versus Ausdruckspsychologie: Stationen der Physiognomik-Debatte 2. Die Antipoden in der Physiognomik des 19. Jahrhunderts: Carl Gustav Carus und Theodor Piderit

149

III. Leibreizträume und ihre Symbolik: Zur Traumtheorie vor Freud

173

IV. Motorisches Nacherleben des Kunstwerks: Aspekte der Einfühlungsästhetik

192

Dritter Teil: Leibhafte Wahrheit in der Moderne um 1900

217

. . . .

I. Die Rückseite der Sprachskepsis: Variationen der Körpersprache um 1900 ι. Der Körper aus >Chiffern< und die Geisteskrankheit des Lord Chandos: Sprachverlust und Hysterie 2. Der Ursprung der Sprache aus der Gebärde: Wilhelm Wundt 3. Verstehen hinter dem Rücken des Ichs: Aspekte der Musiktheorie II. Rilkes Rodin-Studien und der >Archaïsche Torso Apollos< im Kontext der Diskussion um Gesicht und Körper in der Moderne ι. Gebärden der Moderne 2. Semiologie der Oberfläche 3. > Archaischer Torso Apollos< und die Privilegierung des Gesichts in der Moderne 4. Die Schrift des Lebens

149 156

219 219 230 235 242 242 250 257 271

III. Psychopathologie und Subjektkritik in Alfred Döblins Frühwerk ι. Die Ästhetik des Nervenarztes: Alfred Döblins Gedächtnisstörungen bei der Korsakoffschen Psychose< und seine G e spräche mit Kalypso< 2. Das Rätsel des Anderen: Döblins früher Roman >Der schwarze Vorhang< 3. Der Leib als Widersacher des Ichs in Döblins Erzählung >Die Tänzerin und der Leib
Monolog< (1798), der gerade in dieser Befreiung der Sprache v o m Z w a n g des Bedeutens ihre eigentliche, höhere Wahrheit entspringen läßt — eine mitnichten sprachskeptische Haltung und deshalb auch nur mit Einschränkung in die Ahnenreihe des Neostrukturalismus aufzunehmen. Nietzsches Aufsatz >Ueber Wahrheit und L ü g e im aussermoraiischen Sinne< (1873) wird ebenso für die Vorgeschichte der neostrukturalistischen Sprachskepsis in Anspruch genommen. D o r t wird die erkenntnistheoretisch und erkenntniskritisch begründete A b koppelung des Wortes v o m Sinn — anders als bei Novalis — gegen die Sprache gewendet. Die ist für Nietzsche von allem A n f a n g an lügenhaft, 1 und allein der, welcher bewußt >lügtPräsenz< kommen läßt. 2 Es soll vielmehr zunächst einmal gezeigt werden, daß es neben der genannten Tradition eine andere gibt, in der weder an

1

Eigentlich geht Nietzsche damit schon zu weit: Wenn jeder B e z u g der Sprache auf Wahrheit und Wirklichkeit mit (durchaus gewichtigen) erkenntniskritischen A r gumenten prinzipiell bestritten w i r d , dann kann selbst die Lügenhaftigkeit der Sprache nicht mehr behauptet werden. E s fehlt ja g e m ä ß den Prämissen die M ö g lichkeit des direkten Z u g a n g s zur Wirklichkeit, durch den man prüfen könnte, o b es sich bei einem Satz um >Wahrheit< oder um >Lüge< handelt. (Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und L ü g e im aussermoralischen Sinne. (1873), Kritische Studienausgabe, Bd. 1, S. 875-890).

' Vgl. hierzu eingehend: Manfred Frank, Was ist Neostrukturalismus? (1983) — ( D o r t v o r allem die 16. und 17. sowie die beiden letzten Vorlesungen).

ι

der seit der Frühromantik in Frage gestellten und von einem >voraus-gesetzten< Sinn ausgehenden Repräsentationslogik festgehalten, noch einfach der Skepsis gefolgt wird. Gegenstand dieser Studie - in systematischer Absicht propagiert und in historischer Darstellung vorgeführt — ist die Idee des erscheinenden und nicht ins Unendliche aufgeschobenen Sinnes. Sie wird seit Herders genialer Schrift >Plastik< (1778) als Utopie behauptet und entfaltet sich in den verschiedensten Diskursen. Schnittpunkt dieser Diskurse ist der Leib. In ihm wird Sinn anschaubar und fühlbar, er konstituiert Sinn in der Wahrnehmung von anderen Menschen und in der Rezeption von Kunst. Leibhafter Sinn: Das ist einerseits Sinn, der im Leib präsent ist, der in ihm zur Wirklichkeit gelangt als Realisierung einer Sinnintention — der Aspekt der >ProduktionRettung< unternommen werden. Alle Erfahrung ist sinnlich-emotional imprägniert, warum sollte gerade bei der Erfahrung von Kunst davon abgesehen werden?' Es gab Zeiten und Theorien — einige der hier behandelten gehören dazu, aber auch die Tragödientheorie des Aristoteles —, in denen sinnlich-affektive >Betroffenheit* im Zentrum der Vorstellungen von ästhetischer Erfahrung stand. Es soll also gezeigt werden, daß der Tradition der Sprachskepsis in der Moderne 4 die Tradition des leibhaften Sinnes* an die Seite zu stellen ist. Sie verhalten sich komplementär zueinander. Das läßt sich an vielen Beispielen zeigen, etwa am Preis der Musik, die in einer Verbindung mit »Rhythmus« und »Gymnastik« 5 vom jungen Nietzsche als Antidot gegen die mngeheuer' Das Konzept der >ästhetischen Erfahrung* erlebt bekanntlich seit den siebziger Jahren eine Konjunktur; in den einschlägigen Sammelbänden und Monographien spielt aber die Kategorie der Emotion wie auch andere psychologische Kategorien praktisch keine Rolle. Symptomatisch ist die harsche Abfertigung, die der »Gefühlsästhetik« in dem Beitrag von Franz K o p p e zum ersten Kolloquium >Kunst und Philosophie*, das dem Thema >Ästhetische Erfahrung* galt, widerfahrt. (Koppe, Kunst und Bedürfnis, 1981, S. 75f.). 4 Z u r Sprachreflexion der Moderne vgl. jetzt auch das umfassende und aspektenreiche Buch von Erich Kleinschmidt: Gleitende Sprache. Sprachbewußtsein und Poetik in der literarischen Moderne, 1992. ' Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth, Nr. 5 (Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hier S. 45 7f·)·

ζ

liehe Krankheitt der Sprache und den »Wahnsinn der allgemeinen Begriffe« 6 propagiert wird. Folgt man Nietzsche an dieser Stelle, dann ist der >moderne MenschSelbst< bei Novalis, das sich nicht als Substrat des Prozesses darstellt, sondern als Ergebnis: »Die körperliche Selbstbildung ist ein eigenständiges Prinzip, das in sich geistig ist. f. . .] Dabei ist das Selbst nicht vorformuliert, d. h. von einem allgemeinen oder göttlichen Selbst abgeleitet, sondern es konstituiert sich im Prozeß der Zersetzung und Verflüchtigung.« (Ebd., S. 98). - Z u Schopenhauer vgl. bes. Grätzels Ausführungen ebd., S. 4 i f f . , zu Nietzsche ebd., S. 1 x 7 - 1 5 9 . Bei Nietzsche scheint vor allem die Beschäftigung mit dem französischen Physiologen Charles Féré einschlägig zu sein, in der er mit dem Gedanken einer unmittelbaren körperlichen Kommunikation, eines psychomotorischen Rapports< vertraut wird - ein Gedanke, der ja im K o n text der Einfühlungspsychologie vielfältig formuliert ist. - Vgl. Grätzel, ebd.,

4

In dieser Studie soll gezeigt werden, daß die genaue Analyse der Rolle des Leibes bei der Konstitution von (auch ästhetischem) Sinn für allgemeinere sprachphilosophische und semiologische Problemstellungen einige Anregungen erbringen kann. Das gilt für Karl Philipp Moritzens ästhetische Überlegungen ebenso wie für Konrad Fiedlers Theorie der künstlerischen Produktion, aber dann auch für die äußerst reflektierte - und durchaus aktuelle — Semiologie der Oberfläche in Rilkes Texten zu Rodin. Heinrich Wölfflins Dissertation über die Möglichkeiten einer Psychologie der Architektur hat so manche Mängel einer unausgereiften Konzeption. Aber sie ist in der Aufnahme vieler Anregungen aus der im Aufstieg begriffenen Einfühlungspsychologie und -ästhetik sehr symptomatisch. Darüber hinaus werden in ihr viele Motive seiner späteren Arbeiten schon sichtbar, und zwar mit einem deutlicher als in den späteren Texten erkennbaren psychologischen Hintergrund. Daß die Physiognomik mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, mit der Phrenologie Galls und der allgemeinen Verwissenschaftlichung der Methoden in eine neue Stufe der Debatte eintrat, ist evident. Erstaunlicher ist vielleicht, wie sich mit der romantischen Konzeption von Carl Gustav Carus eine scheinbar unzeitgemäße Position neben der betont szientifischen eines Theodor Piderit durchaus behaupten konnte. Das war unter anderem darin begründet, daß Carus derartige Tendenzen zur >Wissenschaftlichkeit< ganz bewußt zu integrieren suchte. Das Kapitel über die Traumtheorien vor Freud' 4 gehört zu den Erinnerungen an Vergessenes. Dabei geht es jedoch keinesfalls nur um zu vernachS. 12 5 f., mit Verweis auf ein Nachlaßfragment Nietzsches vom Frühjahr 1888 (Kritische Studienausgabe, Bd. 13, S. 297); insgesamt: Hans Erich Lampi, E x oblivione: Das Féré-Palimpsest, 1986. Grätzels Buch weist im übrigen gravierende Flüchtigkeiten bei Zitaten auf: Der Titel von Lampls Studie ist ebenso fehlerhaft wiedergegeben wie das Zitat daraus, bei Grätzel S. 124, Anm. 32; dasselbe gilt für Nietzsches Fragment, bei Grätzel S. 126: >zurückgewiesen< statt richtig: >zurückgelesenGeberdenspracheGeberdensymbolik< und sympathischer Innervation*) und S. 265 sowie S. 268; zu Schopenhauer vgl. jetzt: Franziska Esser, Die Funktion des Leibes in der Philosophie Schopenhauers, 1991. 14

Die signifikative Potenz des Körpers in der — doch eigentlich als >taking cure< konstituierten — Psychoanalyse wäre ein Thema für eine gesonderte Studie. Einschlägig hierzu ist etwa der von Didier Anzieu mitverfaßte Band über »Psychoanalyse und Sprache. Vom Körper zum Sprechen* (1982). Vielleicht etwas einseitig, aber insgesamt nicht ganz unrichtig konstatiert Hilarión Petzold im Vorwort zur deutschen Ausgabe dieses Bandes: »Die psychoanalytischen Annäherungen an das Thema Sprache hatten, wie die Psychoanalyse insgesamt, den Körper aus dem Auge verloren.« Ein prominentes Gegenbeispiel ist das glänzende Buch von Serge Leclaire, Der psychoanalytische Prozeß (zuerst 1968); vgl. dort vor allem Kapitel III: Der Körper buchstäblich oder Wie sonst vom Körper sprechen?

5

lässigende Absonderlichkeiten, wie die vielen Querverbindungen zur LeibSeele-Diskussion und zu einigen Modellen der künstlerischen Phantasie zeigen. Daß die Arbeit mit Ausdrucksmöglichkeiten des menschlichen Körpers in den Jahrzehnten um 1900 eine geradezu explosionsartige Ausbreitung in die verschiedensten Gebiete hinein erfahrt, ist bekannt und durch wenige Stichworte leicht in Erinnerung zu bringen: Ausdruckstanz, Pantomime, Freikörperkultur, Graphologie, Hysterie, Gebärdensprache, Charakterologie, schließlich auch die noch keineswegs verabschiedete Physiognomik. Sie findet etwa in Rudolf Kassner einen wirksamen Erneuerer. — Viele dieser Themen erforderten eigene Monographien und können im dritten Teil dieser Arbeit auch nur ansatzweise erläutert werden. 15 Einer der beiden Schwerpunkte dort liegt auf Rilkes Auseinandersetzung mit Rodin, deren Bedeutung für die Poetik seiner mittleren Zeit ja bekannt ist. Doch dieser Bezug soll hier weniger interessieren als vielmehr die Verbindung mit einem zu rekonstruierenden Diskussionszusammenhang über die Rolle von Gesicht und Körper als Erscheinungsorte der Seele in der Moderne: Georg Simmel ist hier für Rilke der wichtigste Dialogpartner. Von diesem Kontext her kann auch eine neue Lektüre des Gedichts A r chaischer Torso Apollos< versucht werden. Das Frühwerk Alfred Döblins schließlich ist in gewisser Weise ein Gegenpol zu Rilkes Rodin-Arbeiten. Der >Irrenarzt< Döblin, dessen medizinische Arbeiten erst in der letzten Zeit auf größeres Interesse stoßen, sieht den Körper mit dem Blick des Arztes. Der von diesem Blick erkannte leibhafte Sinn< ist zumeist der >Sinn< einer Krankheit, die von der Entfremdung zwischen Seele und Leib zeugt. Das bedeutet gerade nicht, daß Döblins literarische Texte, wie man immer wieder vermutet und zu demonstrieren versucht hat, einfach psychopathologische Fallstudien wären. Für Döblin ist das pathologische Schema nur ein Hilfsmittel, umfassendere, philosophische Themen zu erkunden. Wie sehr der Mediziner den Ästhetiker inspiriert, (S. 49-66); vgl. auch Günther Bittner, Das Unbewußte - ein Mensch im Menschen? (1988), hier: S. 69ff.: Vernachlässigt die Psychoanalyse den Körper? - Einen Einblick in aktuelle Debatten gibt: Ulrich A. Müller/Georg Christoph Tholen (Hrsg.), Schnittstelle Körper. Versuche über Psyche und Sorna. Fragmente Schriftenreihe zur Psychoanalyse. H.31 (Okt. 1989); vgl. auch die umsichtige Studie von Joachim Küchenhoff/Peter Warsitz, Sprachkörper und Körpersprache. Psychoanalytische Psychosentheorie nach Lacan, 1989 (mit Hinweisen zu Hermann Schmitz, Nietzsche, Merleau-Ponty u. a.). ' ' Ein anderes hier weitgehend ausgeklammertes Gebiet — die Phantasien über unbewußte Kommunikation zwischen Körpern in der Psychoanalyse und in deren Vorgeschichte und Umfeld - behandelt weit ausgreifend und mit vielen Aspekten: Bernd Nitzschke, Der eigene und der fremde Körper. Bruchstücke einer psychoanalytischen Gefühls- und Beziehungstheorie, [1985].

6

zeigt die Interpretation der Kalypso-Gespräche vor dem Hintergrund von Döblins Freiburger Dissertation. Mit all dem ist nicht nur eine historische Erinnerung intendiert. Deshalb werden im ersten Teil der Arbeit drei philosophische Positionen' 6 vorgestellt, die in ganz unterschiedlicher Weise die Bedeutungspotenz des Leibes analysieren: Sartre weist ihm eine Schlüsselstelle seiner Bewußtseinsphilosophie zu, indem er ihn als Modus des Bewußtseins, in eine Beziehung zur Welt zu treten, beschreibt. Julia Kristeva und Maurice Merleau-Ponty thematisieren den Körper in direktem Bezug auf die Sprache. Sie vertreten gegensätzliche Modelle: Kristeva bestimmt das Verhältnis zwischen den Regungen des Körpers und der sprachlichen Ordnung als Antagonismus, Merleau-Ponty als Ergänzungsverhältnis. Für ihn ist die Sprache - es ist hier nur von Merleau-Pontys mittlerem Werk die Rede - die höchste und entscheidende Form der Modulation des Leibes. Sie ruht auf ihm auf, während sie bei Kristeva von ihm subvertiert wird. Merleau-Ponty arbeitet in seinen Sprachreflexionen eine Theorie aus, die besser als die neostrukturalistische Gegenposition die Artikulation von Bedeutung in der sprachlichen Äußerung einsichtig machen kann. Sie läßt Bedeutung nicht wie jene aus dem Nichts der Differenzen entspringen, sondern deutet sie als leibliche Vollendung einer Sinnintention. Daß auch diese Konzeption in ihrer Einseitigkeit Mängel hat, wird sich zeigen. Nicht zufällig hat sich Merleau-Ponty später strukturalistischen Vorstellungen angenähert. Trotzdem behält der Gedanke von der Sprache als leiblicher Ge-

16

Die verhaltensbiologischen und ausdruckspsychologischen Dimensionen des Themas sind umfassend aufgearbeitet in der großen Studie von Michel Bernard, L'expressivité du corps, 1976, hier Kap. 1, S. 49-109 (La phylogénèse de l'expressivité animale), und Kap. 2, S. 111—167 (Ontogenèse de l'expressivité humaine); vgl. auch das frühere Werk von Bernard — Le Corps, 1972 —, das in der deutschen Ubersetzung einen etwas barocken Titel hat: Der menschliche Körper und seine gesellschaftliche Bedeutung. Phänomen, Phantasma, Mythos, 1980. — Zentrale Texte aus der Geschichte der Forschung versammelt: Klaus R. Scherer/Adelheid Stahnke/Paul Winkler (Hrsg., unter Mitarbeit von Klaus Immelmann und Christian Vogel), Psychobiologie. Wegweisende Texte der Verhaltensforschung von Darwin bis zur Gegenwart, 1987, hier Teil 2: Ausdruck und Kommunikation, S. 185-366 (Darwin, Karl von Frisch, Wilhelm Wundt, Paul Ekman, Eric H. Lenneberg u. a.); einen Überblick über die Diskussion in der Psychologie gibt der umfassende, von Klaus R. Scherer und Harald G . Wallbott herausgegebene Band: Nonverbale Kommunikation: Forschungsberichte zum Interaktionsverhalten, 2. Aufl. 1984; aktuelle zusammenfassende Darstellung: Klaus R. Scherer/Harald G . Wallbott: Ausdruck von Emotionen, 1990; daneben: Bernhard Rosemann/Michael Kerres: Interpersonales Wahrnehmen und Verstehen, 1986 (mit umfassender Bibliographie); zur Kommunikationsforschung vgl. Roland Posner, Zur Systematik der Beschreibung verbaler und nonverbaler Kommunikation. Semiotik als Propädeutik der Medienanalyse, 1986 (mit reichhaltigen Literaturangaben).

7

bärde< seine Berechtigung. E r soll in dieser Studie dazu beitragen, die Idee des leibhaften Sinns< in ihrer historischen Tragweite,' 7 aber auch in ihrer systematischen Bedeutung zu erweisen.

17

Als universales Paradigma ist Sinn-Präsenz, gebunden an das Zeitalter der Metaphysik und kulminierend im >Leib ChristiAndere< groß geschrieben, insofern es um eine Akzentuierung von dessen Subjekt-Sein geht. An Lacan ist hier also nicht gedacht. 4 Rudolf Bernet/Iso Kern/Eduard Marbach, Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, 1989, S. 149. - Zentrale Textstelle hierzu ist die fünfte >Cartesianische Méditations bes. § 50: »Die mittelbare Intentionalität der Fremderfahrung als »Appräsentation« (analogische Apperzeption)«. (In der Ausgabe von Elisabeth Ströker, 1987, S. 1 u f f . ) ; weitere Stellen — aus den >Ideen II< — stellt jetzt Bernhard Waidenfels in seiner hervorragend kommentierten Textsammlung zusammen: Edmund Husserl, Arbeit an den Phänomenen. Ausgewählte Schriften. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Waidenfels, 1993, hier S. 149—160. — Vgl. im übrigen die gute, kritisch-differenzierte Darstellung bei Richard Kozlowski, Die Aporien der InterSubjektivität. Eine Auseinandersetzung mit Edmund Husserls Intersubjektivitätstheorie, 1991 (besonders S. 101—107 u n d S. 244—250); vgl. auch Hermann Coenen, Diesseits von subjektivem Sinn und kollektivem Zwang, bes. S. 114. ' Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 1991 (frz. Orig.: 194;), S. 598 u. ö.

weiter aus, indem er zeigt, daß dieser Andere auch als Abwesender in meinem Universum anwesend ist: Er hat mir gestern geschrieben, daß er heute kommen möchte. Oder: Ich warte in seinem Zimmer auf ihn und sehe die »Utensilien-Dinge«, die »ihn anzeigen, insofern sie sich als durch ihn benutzt und als durch ihn erkannt enthüllen.« 6 Wozu diese etwas konstruiert anmutende Einführung der Begegnung mit dem Andern? Die angenommene Konstellation scheint doch eine abgeleitete zu sein. Treffe ich nicht zunächst — bevor ich ihn >kenne< — auf den Körper eines anderen Menschen wie auf irgendeinen anderen Gegenstand in meiner Welt? Ist er nicht vorerst Objekt, in diesem Fall belebtes Objekt, ein Organismus, aber doch Objekt in der von mir als Subjekt her konstituierten Welt? Und wird er nicht erst durch Erfahrungen, die ich mit ihm mache, Kontur als eigenes »Bezugszentrum« 7 gewinnen? Sartre kommt es darauf an, zu zeigen, daß der Andere, wenn er schließlich erscheint, als Körper tatsächlich in meine Situation eintritt, daß er aber als Anderer — und man muß wohl ergänzen: als anderes >Subjekt< im Sartreschen Sinne 8 - nur in seiner Situation gesehen werden kann. Tritt der Freund in sein Zimmer ein, in dem ich auf ihn warte, wird, so Sartre, seine »Faktizität« nur noch »explizit [. . .], statt implizit in den lateralen Anzeigen der Utensilien-Dinge enthalten zu sein.« 9 Als Anderer war und ist er im Modus des »Für-sich«, als Körper ist er »mir als das reine An-sich seines Seins gegeben — An-sich unter anderen An-sich, das ich auf meine Möglichkeiten hin überschreite.« ,c In der Wahrnehmung des Anderen sind beide Aspekte verknüpft. Der Körper des Andern als Fleisch ist mir unmittelbar als Bezugszentrum einer Situation gegeben, die sich synthetisch um ihn organisiert, und er ist untrennbar von dieser Situation; man darf also nicht fragen, wie der Körper des Andern zunächst K ö r p e r für mich sein und dann in Situation kommen kann. Vielmehr ist mir der Andre ursprünglich als Körper in Situation gegeben."

>Körper in Situation< heißt also: einerseits Körper, Gegenstand, Objekt und potentiell Instrument des Subjekts, das ich bin - andererseits >in Situation^ also Bezugszentrum einer eigenen Welt. Er ist nicht irgendeine »Fleischmasse«,12 die sich dann in eine Situation >einfügen< würde: »Sondern er ist eben das, von dem aus es Situation gibt.« 13 Das heißt auch, daß er nicht erst in einem weiteren Schritt in Beziehung zu den anderen Objekten gebracht 6 7

* 9 10

" " " 12

Ebd., S. 602. Ebd., S. 606. Wenn Sartre vom >Anderen< (großgeschrieben) spricht, meint er es immer in diesem Sinn. Das Sein und das Nichts, S. 604. Ebd., S. 604, 605. Ebd., S. 606. Ebd., S. 607. Ebd.

werden müßte: »Deshalb ist Pierres Körper nicht zuerst eine Hand, die danach dieses Glas ergreifen könnte: eine solche Auffassung würde den Leichnam zum Ursprung des lebendigen Körpers machen wollen. [. . .] Die Beziehung des Körpers zu den Objekten ist keineswegs ein Problem, wir erfassen den Körper nie außerhalb dieser Beziehung. Daher auch ist der Körper des Andern bedeutend.«.1* Damit ist Sartre an einem Punkt angelangt, an dem er in nächster Nähe zu Merleau-Pontys - letztlich Husserls - Begriff der Intentionalität steht. »Der Körper ist Totalität der bedeutenden Beziehungen zur Welt«.15 Das könnte wörtlich so auch bei Merleau-Ponty stehen. Die Erscheinungsweise des Körpers selbst ist: bedeuten. »Der Körper kann ja nicht erscheinen, ohne mit der Totalität dessen, was ist, bedeutende Beziehungen zu unterhalten.« 16 Unter diesen Beziehungen faßt Sartre auch die elementaren vitalen Prozesse wie Atmen, Essen und Trinken. Und all dies wiederum kennzeichnet er mit einem sehr weit verstandenen Handlungsbegriff, bei dem Handeln und Bedeutung letztlich ineins fallen: »Als Handeln ist das Leben transzendierte Transzendenz und Bedeutung.« 17 >Transzendierte Transzendenzc Damit umschreibt Sartre den Umstand, daß das Subjekt, das sich als Überschreitung der Objekte konstituiert, diese Überschreitung selbst wieder überschreiten muß, wenn es >lebenNichtung< des Seienden verlassen will. 18 Nun gilt dies alles natürlich nicht nur für den Andern, sondern auch für mich selbst und meinen Körper.' 9 Die Beschreibung seines besonderen Verhältnisses zur Welt ist bei Sartre die systematische Voraussetzung für die Analyse der InterSubjektivität. Mein Körper ist weder das Organ, mit dem ein >Ich< (über die Sinne) Zugang zur Welt findet, noch etwa ein Instrument, mittels dessen ich auf sie einwirke. Die erste Behauptung gewinnt Sartre aus einer Analyse des Empfindungsbegriffs, genauer: durch eine Kritik dieses Begriffs. Durch reine Selbstbeobachtung kann er nicht gewonnen werden. Weder fühle ich meinen Finger fühlen/ 0 noch sehe ich mein Auge sehen: " 17

Ebd. Ebd. E b d . , S. 6 o 7 f . E b d . , S. 608.

'* V g l . E b d . , S. 563: »[. . .] es gibt keine andere A r t , in K o n t a k t zur Welt zu treten,

als von der Welt

sein.«

' 9 Eigentlich könnte man an dieser Stelle im Deutschen v o m >Leib< reden; zumindest hat sich die D i f f e r e n z i e r u n g L e i b — K ö r p e r eingebürgert, u m die Innen- v o n der A u ß e n p e r s p e k t i v e (um es neutral auszudrücken) zu unterscheiden. D a aber das Französische diese Unterscheidungsmöglichkeit so nicht kennt, und v o r allem weil sie der Sache nach erst Ergebnis und nicht bereits Voraussetzung einer philosophischen A n a l y s e - wie hier bei Sartre - sein soll, spreche ich in diesem Kapitel meist v o m >KörperSinnesobjekteUtensilien< stehen aber keineswegs widerstandslos zu meiner Verfügung, sie sind und bleiben auch >DingeUtensilien-DingenNichts< zu sein. Damit ist aber auch gesagt, daß das Bewußtsein in der >Sprache' In unserem Kontext heißt es hierzu beispielsweise: »[. . .] das nicht-thetische Bewußtsein ist Bewußtsein (von) sich als freier Entwurf auf eine Möglichkeit hin, die seine ist, das heißt, insofern es der Grund seines eigenen Nichts ist.« (S. 583). » Ebd., S. 583. 40 Insofern scheint die Deutung von Martin Dornberg, Gewalt und Subjekt, 1989, S. 144, nicht ganz richtig zu sein; aus der interpretierten Stelle leitet er die Behauptung ab: »Der Leib hat selbst keine eigene Sprache, er soll sprach-los gemacht werden.« Die Annahme einer eigenen >Sprache< des Leibes wäre im Kontext des Sartreschen Werks widersinnig. Selbstverständlich >hat< der Körper selbst keine >Spracheistexistiert< wird, dessen Sprache. 41 Die Kritik von Hermann Schmitz (System der Philosophie. Zweiter Band. Erster Teil: Der Leib, 1965, S. 599) geht von einer vergröbernden Beschreibung der Position Sartres aus: Der Körper sei nur bei »extravertiertem Verhalten [. . .] als der unanschauliche Ausgangspunkt unserer Orientierung in der Umgebung« zu

17

P r ä s e n z des B e w u ß t s e i n s i m K ö r p e r , dies B e w u ß t s e i n ist i m m e r »lateral u n d r e t r o s p e k t i v « . I n einer ü b e r r a s c h e n d e n u n d eher b e i l ä u f i g e n W e n d u n g f o r m u l i e r t S a r t r e an dieser Stelle d a n n eine w i c h t i g e u n d in i h r e r D i f f e r e n z i e rung einigermaßen originelle semiologische Einsicht: Das Bewußtsein von dem Körper ist mit dem Bewußtsein von dem Zeichen vergleichbar. Übrigens gehört das Zeichen auf die Seite des Körpers, es ist eine der wesentlichen Strukturen des Körpers. [. . .] Aber das Zeichen ist das auf die Bedeutung hin Überschrittene, das zugunsten des Sinns Unbeachtete, das nie für sich selbst Erfaßte, das, worüber der Blick fortwährend hinausgeht. 42 N i m m t m a n Sartres T r a n s z e n d e n z b e g r i f f a u c h in d i e s e m K o n t e x t

ernst,

d a n n ist die B e d e u t u n g , das J e n s e i t s des S i g n i f i k a n t e n (mit >Zeichen< k a n n hier n u r die äußere Z e i c h e n g e s t a l t g e m e i n t sein), nicht a p r i o r i f e s t g e schrieben u n d v o r a u s g e s e t z t , s o n d e r n als E n t w u r f zu v e r s t e h e n . D a s ist der Sache n a c h nicht sehr w e i t v o n G a d a m e r s H e r m e n e u t i k e n t f e r n t , w o h l a b e r in d e r A k z e n t u i e r u n g der B e w e g u n g des U b e r s c h r e i t e n s , in d e r N e g a t i v i t ä t dieses

Zeichenbegriffs.

Sartre

faßt d e n

Sinn

also w e d e r

als e t w a s

der

Z e i c h e n g e s t a l t V o r a u s l i e g e n d e s , das i m Z e i c h e n erschiene, n o c h als einen E f f e k t des d i f f e r e n t i e l l e n Spiels der S i g n i f i k a n t e n . D i e s e sind, w i e d e r K ö r p e r , f ü r das S u b j e k t u n v e r z i c h t b a r , a b e r sie m ü s s e n , w i e jener, a u f i h r e n S i n n hin transzendiert w e r d e n . ( O b m a n d a m i t auch der p o e t i s c h e n S p r a c h e g e r e c h t w i r d , scheint a l l e r d i n g s z w e i f e l h a f t . ) D o c h Sartre g e h t es an dieser Stelle nicht u m Z e i c h e n t h e o r i e . E r arbeitet d e n B e g r i f f des K ö r p e r s u n d des B e w u ß t s e i n s v o n i h m w e i t e r a u s : 4 ' beschreiben, »als etwas, das wir hinter uns lassen.« Das gelte jedoch nicht für andere »wichtige Phänomene der unmittelbar und täglich erfahrenen Leiblichkeit, wie das am eigenen Leib gespürte Einschlafen.« Und dieses wiederum sei nicht möglich, wenn »wir das Verhalten zu Äußerem nicht aufgeben und ganz in der eigenen Leiblichkeit versinken könnten«. — Ungeachtet der Frage, ob damit das >Einschlafen< wirklich angemessen erfaßt ist: Es sind nicht einfach und ganz allgemein >wirHinter-sich-Lassen< im Sinne eines reinen Weiterschreitens; vielmehr bleibt der Körper natürlich als transzendierter im >retrospektiven< Bewußtsein erhalten. Schließlich: Das Einschlafen ist kein sehr glückliches Beispiel für das Zu-sich-selbst-Kommen des Bewußtseins. Es ist, genau genommen, der entgegengesetzte Fall, ein Beispiel für das Sich-Aufgeben des Bewußtseins; und insofern wäre es durchaus folgerichtig als >Einkehr< in den Körper zu interpretieren. Vgl. zu Sartres Philosophie des Leibes insgesamt auch die (allerdings unzureichende) Darstellung bei Stephan Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, 1989, S. 1 çôff.; s. auch: Claude Bruaire, Philosophie du corps, 1968, S. i i 4 f f . , und Willi Maier, Das Problem der Leiblichkeit bei Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty, 1964; erhellend die Bemerkungen bei Jean-Pierre Wils, »Ästhetische Güte«. Philosophisch-theologische Studien zu Mythos und Leiblichkeit im Verhältnis von Ethik und Ästhetik, 1990, S. 7 5 - 8 1 . 4

* Sartre, Das Sein und das Nichts, S. j 8jf. Diese Ausdrucksweise ist, streng genommen, zumindest ungenau, ging es doch

41

18

Das Bewußtsein (von dem) Körper, das laterales und retrospektives Bewußtsein von dem ist, was es ist, ohne es zu sein zu haben, das heißt von seiner unerfaßbaren Kontingenz, von dem, von dem aus es sich zu Wahl macht, ist nicht-thetisches Bewußtsein von der Weise, in der es affigiert wird. Das Bewußtsein von dem Körper ist eins mit der ursprünglichen Affektivität. 44 Das Bewußtsein ist von seinem Körper >betroffenWahl< seiner >Ek-sistenz< zu gelangen, gerade deshalb die C o n tingenze dieses Bewußtseins. Das Körperbewußtsein ist der Grund, weshalb das Bewußtsein so und nicht anders >in der Welt< ist. Wie wäre nun der Begriff dieses Körperbewußtseins genauer zu fassen? In einer etymologisierenden Bestimmung wird es von Sartre mit der a f f e c tivité originelle< identifiziert. U m diese ursprüngliche Affektivität zu explizieren, führt Sartre eine Unterscheidung ein. E s gibt zwei Arten von A f fektivität: einerseits die der Introspektion sich darbietende, gerichtete, »schon konstituierte Affektivität«: Haß, Wut, Sympathie. Diese Affektivität ist bereits »Bewußtsein von der Welt«, 4 ' insofern sie schon eine »transzendente «Intention» auf die Welt« 46 enthält. Sie kann mit der >ursprünglichen A f f e k tivität< des Körperbewußtseins also nicht gemeint sein. 47 - Sartre befaßt sich mit dieser gerichteten Affektivität bereits eingehend in der >Skizze einer Theorie der Emotionem von 1939. 4 8 A b e r die bereits konstituierte A f f e k t i v i t ä t , der Z o r n etwa, »kann eben nicht das G a n z e der A f f e k t i v i t ä t sein. D a sie Ü b e r s c h r e i t u n g ist, setzt sie ein Überschrittenes voraus.« 4 9 Dieses

Überschrittene, die andere,

ursprüng-

gerade auch darum, zu zeigen, daß das Bewußtsein den eigenen Körper nicht in derselben Weise zum Gegenstand haben kann wie ein Objekt der Welt. Sartre spricht deshalb von der »conscience (du) corps« (S. 595 der Originalausgabe), was die deutsche Übersetzung mit »Bewußtsein (von dem) Körper« wiedergibt; vielleicht könnte man auch — bewußt doppeldeutig — vom >Körperbewußtsein< sprechen: Bewußtsein von dem Körper - und: körperlich bestimmtes Bewußtsein. In welchem Sinn der Körper das Bewußtsein >affiziert< (Das Sein und das Nichts, S. 5 84), wird sich noch zeigen. Das Sein und das Nichts, S. ; 84. — Der zentrale letzte Satz dieses Zitats lautet im Original: »La conscience du corps se confond avec l'affectivité originelle.« (S. 395). 41 Das Sein und das Nichts, S. 584. 4 ' Ebd; vgl. ebd.: »Es gibt also schon ein Überschreiten, eine interne Negation; wir sind auf der Ebene der Transzendenz und der Wahl.« 47 Vgl. ebd.: »Hier ist die Intention selbst Affektion, sie ist reiner Akt und schon Entwurf, reines Bewußtsein von etwas. Sie kann es nicht sein, die als Bewußtsein (von dem) Körper betrachtet werden kann.« Deutsch in: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1951—1939, 1982, S. 255-318. 49 Sartre, Das Sein und das Nichts, S. 5 84f. 44

'9

lichere Form der Affektivität, ist die Grundierung jener gerichteten Form, die Grundierung des Bewußtseins überhaupt: »Das kann der reine Schmerz sein, aber auch die Stimmung als nicht-thetische Gestimmtheit, das reine Angenehme, das reine Unangenehme; ganz allgemein ist es all das, was man das Koenästhetiscb[e] nennt.«' 0 Am Beispiel des die Lektüre eines philosophischen Werkes begleitenden Augenschmerzes wird dies exemplifiziert. Schon die Bezeichnung dieses Schmerzes mit diesen Worten ist irreführend, denn »im Bewußtsein ist er nicht benannt, denn er ist nicht erkannt.«'" Insofern der Schmerz durch das Bewußtsein >existiert< wird, wird er intentional überschritten: auf ein Bewußtsein hin, »das leer von jedem Schmerz wäre«.' 2 Der Schmerz wird zum Schmerzbewußtsein. Das heißt jedoch nicht, daß der Schmerz darin zum Gegenstand würde: »Dieses laterale Entkommen, dieses Losreißen von sich, das das Schmerzbewußtsein kennzeichnet, konstituiert deshalb den Schmerz nicht als psychisches Objekt: er ist ein nicht-thetischer Entwurf des Für-sich«.' 3 Dies gilt nach Sartre nicht nur für den Schmerz, sondern für die affektive Grundierung, für die affektiven Qualitäten^ 4 des Bewußtseins überhaupt. Damit rückt das Körperbewußtsein, das >Koenästhetische Ebd., S. 5 8jf. ' 6 Vgl. hierzu bes. 5 8of. 20

bestimmt. Mit Sartres Worten (und wie oft bei Sartre wird auch dieser Kernsatz mit einem >übrigens< eröffnet): Übrigens — und das ist das Eigentümliche der körperlichen Existenz — das Unsagbare, dem man entfliehen will, findet sich gerade innerhalb dieses Losreißens wieder, es selbst konstituiert die Bewußtseine, die es überschreiten, es ist eben die Kontingenz und das Sein der Flucht, die vor ihm fliehen will. Nirgendwoanders sind wir näher an dieser Nichtung des An-sich durch das Für-sich und an der Wiedererfassung des Für-sich durch das An-sich, die diese Nichtung selbst nährt. 17

Das Verhältnis des Bewußtseins zu seinem Körper ist Modell der Konstitution des Bewußtseins überhaupt. Aber das wäre zu wenig, denn dann wäre der Körper dem Bewußtsein nur ein - das erste - Objekt seiner Welt. Doch es kann ihn ja nie hinter sich lassen. Er ist jenes - nur mit Vorbehalt so zu nennende — >An-sichUtensilien-Dinge< in ihren Möglichkeiten und Widerständen anzeigen. Was in dieser Hohlform stecken mag, das muß mein Körper sein. Allerdings heißt es hier, daß sich mir der Körper als solcher nur aufgrund meiner Beziehung zur Welt enthüllt. Als Körper kann ich ihn nur >habenDefinition< des Körpers »in seinem Fiir-uns-sein«. 74 Der Sache nach bietet Sartre hier eine materiale Bestimmung von Individualität, unter Rückgriff auf eine Philosophie des Körpers. Tatsächlich fällt dieser Begriff auch bereits am Anfang von Sartres Überlegungen zum Körper. Mit Recht, so heißt es da, »bezeichnete Piaton den Körper als das, was die Seele individualisiert,«7' Womit jedoch nicht bereits die platonische Seelenlehre übernommen ist: Doch müßig wäre, anzunehmen, daß die Seele sich von dieser Individuation losreißen kann, indem sie sich durch den Tod oder durch das reine Denken vom Körper trennt, denn die Seele ist der Körper, insofern das Für-sich seine eigene Individuation ist.1''

10

Ebd. Ebd. 7! Ebd., S. 577· 7 ' Ebd., S. 581; vgl. auch die schöne zusammenfassende Formulierung, ebd. S. 579f.: »Geburt, Vergangenheit, Kontingenz, Notwendigkeit eines Gesichtspunkts, faktische Bedingung jedes möglichen Einwirkens auf die Welt: das ist der Körper, das ist er für mich. E r ist also keineswegs eine kontingente Zutat zu meiner Seele, sondern im Gegenteil eine permanente Struktur meines Seins und die permanente Möglichkeitsbedingung meines Bewußtseins als Bewußtsein von der Welt und als Entwurf, der auf meine Zukunft hin transzendiert.« 74 Ebd., S. 581; vgl. ebd., S. 549, wo diese >Definition< programmatisch formuliert wird. 71 Ebd., S. 550. — Die Lehre, wonach sich die Seele den Körper baue, wird bereits den Pythagoreern zugeschrieben. Vgl. die Hinweise bei Oehler-Klein, Schädellehre, 1990, S. 151 f. Anm. 5. 76 Das Sein und das Nichts, S. 5 50. — »eigene« verbessert aus »eigenen« (Orig.: »[. . .] car l'âme est le corps en tant que le pour-soi est sa propre individuation.« (S. 3 7 z » . 71

2

3

Die platonische Konzeption setzt also nur eine vorübergehende, nicht die wesentliche Bestimmung der Seele tangierende >Individualisierung< im Körper an. Ganz anders Sartre: Bezogen auf das Subjekt ist der je eigene Körper jene nicht austauschbare, einzigartige Form, in welcher das Bewußtsein >zur Welt< ist. Und sofern überhaupt Bewußtsein ist, ist es >zur WeltSemiotische< bei Julia Kristeva

Kristeva geht v o n zwei Zeichenvarianten aus, dem >motivierten< Zeichen einerseits und dem >konventionellen< Zeichen andererseits. 1 E s ist deutlich, daß die beiden Konzepte völlig divergenten Theoriezusammenhängen entstammen. D a s motivierte Zeichen wird v o n ihr zunächst einmal Freud entlehnt. Sie bezeichnet es, v o n des Wortes ursprünglicher Bedeutung ausgehend, mit dem Begriff des >SemiotischenSemiotik< v o r allem die Wissenschaft v o n der Lektüre der Körperzeichen durch die Ärzte, Symptomenlehre also. 1 7 7 5 heißt es in Johann G e o r g Walchs P h i losophischem Lexicon< unter dem Stichwort >SemioticSinngebungsprozesse< im Sinne der Psychoanalyse genannt werden: »Les discours des analysants, les «pathologies» du langage, enfin les systèmes artistiques, notamment poétiques« (S. 19), welch letztere vom Übersetzer gleich zu Systemen der »Poetik« gemacht werden; für die kann aber der angezielte Zeichenbegriff der ersten Variante gerade nicht gebraucht werden. Gemeint sind natürlich die dichterischen >Systememedizinischen Hermeneutik< handelt Drew Leder, The Absent Body, 1990, S. 51 f. und S. 183, Anm.27.

25

Die Zeichen, mit denen es der Arzt zu tun hat, stehen in einem inneren, motivierenden Zusammenhang mit ihrem >SinnGeburt der Klinik< an der Wende zum 19. Jahrhundert die so zu umschreibende Semiotik herausgebildet. »Der Gegensatz zwischen der Natur und der Zeit, zwischen dem sich Manifestierenden und sich Ankündigenden, ist verschwunden; verschwunden ist auch die Unterscheidung zwischen der Wesenheit der Krankheit und ihren Symptomen und Zeichen;« die Totalität der Krankheit erscheint in »Manifestationen, die zugleich ihr Signifkant und ihr Signifikat sind; in ihr verbinden sich das Sichtbare und das Manifeste in einer zumindest virtuellen Identität [. . .].«' Aber die ursprüngliche >Semiotik< betont zunächst einfach den kausalen, oder - etwas vorsichtiger gesagt — den motivierenden Zusammenhang zwischen Signifikant und Signifikat. Man könnte auch sagen: Das Zeichen in diesem Sinne ist eine Metonymie. Kristeva knüpft nicht allgemein an diesen medizinischen Begriff des Zeichens an, sondern näherhin an den der Psychoanalyse, bei dem der Prozeß der >Artikulation< ein verschlungenes, aber festes, nach eigener Logik rekonstruierbares Band zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat knüpft. Die scheinbar >leeren< Signifikanten werden durch die Triebtheorie und die Theorie der Primärvorgänge (Verdichtung und Verschiebung) an >psychosomatische< Prozesse rückgebunden. Aus Freud entnimmt Kristeva für ihre Zwecke auch den Begriff der >BahnungSpur< — eine dauernde Fixierung von >Bedeutung< meint, in dem Sinne, daß bei der Bahnung ein zunächst unbeschriebenes, gleich-gültiges, neuronales Material mit einer differenzierenden Struktur versehen wird. Ereignisse werden in das Zerebrum >eingeschrieben< und konstituieren eine körperlich-materielle >SchriftSymbolischeVerhältnisinfans< das sprechende Wesen wird: den Prozeß der Subjektkonstitution im Span-

' Vgl. zum folgenden einführend Weigel, Topographien der Geschlechter, 1991, S. 2 6 - 5 1 ; dies., Die Stimme der Medusa, 1987/1989, S. 1 1 7 ; Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie, 1983/1988, S. 1 7 9 - 1 8 3 ; Schönau, Einführung in die psychoanalytische Literaturwissenschaft, 1991, S. 167—170; Röttger-Denker, Roland Barthes zur Einführung, 1990, S. 46—48; Kurz-Adam, Art. >Julia KristevaSpracheMaterial< der Sinnartikulation auf dieser Ebene, aber dieses Material wird in der Mutter-Kind-Dyade strukturiert: »Die Triebladung wird demnach durch biologische und gesellschaftliche Strukturzwänge aufgehalten und Stasen ausgesetzt: ihre Bahnung fixiert sich provisorisch und markiert auf diese Weise Diskontinuitäten im [. . .] semiotisierbaren Material: Stimme, Gesten, Farben.«" Triebe, Energieladungen, die nicht ungehindert abfließen können, sondern Störungen, Stauungen ausgesetzt sind: Das sind im wesentlichen die Komponenten eines Prozesses, der noch vor dem Sündenfall der Aufspaltung in Signifikant und Signifikat liegt und doch Bedeutung erzeugt. »Wir haben es hier mit jener Modalität der Sinngebung zu tun, in der das Sprachzeichen noch nicht die Stelle des abwesenden Objekts einnimmt und noch nicht als Unterscheidung von Realem und Symbolischem artikuliert wird.«' 2 Es geht hier um »das triebhafte Semiotische, das dem Sinn und der Bedeutung vor-

Ebd., S. 40. " Ebd., S. 39. " Ebd., S. 57. 28

gängig, mobil, amorph und doch schon reglementiert ist.«' 5 Ort dieses primären Sinngebungsprozesses ist die chora,14 der >rhythmische RaumDiskurs< nicht gänzlich eingeholt werden, da sie dessen Voraussetzung ist.' 6 Auf die so strukturierte Körperlichkeit trifft nun die Sprache als das fremde Symbolsystem, jene Ordnung, die das unbewußt-gestische Funktionieren beendet und durch den Zwang zur Übermittlung von Bedeutungen über Signifikanten ersetzt. »Es geht um die Abhängigkeit von der Mutter: diese Abhängigkeit wird unterbrochen und in die symbolische Beziehung mit einem Anderen umgewandelt«.' 7 An die Stelle der Artikulation und Modulation von Triebmaterial tritt nun die Setzung von Sinn: die >thetische Phase6 Ebd., S. 156. " Ebd. iS Ebd., S. 15 6f. - Als >Phänotexte< bezeichnet Kristeva Texte aus der Sphäre des Symbolischen, also sprachliche Texte im herkömmlichen Sinn, oder genauer: das, was an Texten sprachlich ist »im Sinne der strukturalistischen oder generativen Linguistik« (ebd., S. 95); dies stellt sie dem >Genotext< gegenüber, der die Gesamtheit der >semiotischenVerwerfenFreudsche Linke< charakteristischen Weise versucht Kristeva also, die Psychoanalyse mit gesellschaftskritischen Momenten zu kombinieren und diese Kombination der Literatur als Funktionsbestimmung anzutragen. Das Programm lautet, griffig formuliert: »Den Widerspruch produktiv machen hieße demnach, die Geschlossenheit der Sinngebung durchbrechen, auf das materielle Verwerfen hin öffnen und offen halten; die totale Sublimierung und Verdrängung des Verwerfens verhindern, es wieder in das signifikante Netz, in dessen chromatische, musikalische, paragrammatische Differenzen eintragen; die Lustskala aufrollen und in ihr das Heterogene zur Sprache bringen.«40 Dem von Bahnungen durchzogenen, modulierten Körper soll im Text selbst durch dessen Subversion zum Ausdruck verholfen werden. Die Schwächen des Modells liegen auf der Hand: Zum einen besteht in diesem Konzept - trotz vieler Kautelen - immer die Gefahr der Pathologisierung der Literatur. Zum andern aber ergeben sich aus ihm nur wenige Möglichkeiten einer historischen Plausibilisierung und Differenzierung: Wie soll es erklären können, daß ausgerechnet gegen Ende des 19. Jahrhunderts und ausgerechnet in der Literatur folgendes geschieht: »Der wiederbewegte Trieb [. . .] verläßt das Unbewußte und läßt sich, positiviert und erotisiert, in der Sprache nieder, die sich nun als Prosodie bzw. als klangvoller Rhythmus organisiert.«41 Und warum gilt das nicht für Gedichte Clemens Brentanos, der Catharina Regina von Greiffenberg oder Quirinus Kuhlmanns? Oder mus umgibt: die Umweltobjekte, die präödipalen Beziehungen zu den Eltern), aber auch die Heraufkunft des Symbolischen (Auftauchen von Objekt und Subjekt, Konstituierung von Sinnkernen, die auf eine Kategorialität verweisen: semantische und kategorielle Felder). Wollte man in einem Text den Genotext bloßlegen, so müßte man die Energieschübe der Triebe freilegen, wie sie sich beobachten lassen im phonematischen Apparat (Phonemhäufung und -Wiederholung, Reim etc.) und melodischen Apparat (Intonation, Rhythmus etc.) [. . .]. Demnach wäre der Genotext lediglich das Transportmittel für Triebenergien, die einen Raum organisieren, in dem das Subjekt noch keine gespaltene Einheit ist, die sich verwischt, damit das Symbolische sich einstellen kann [ . . . ] . Das heißt, daß der Genotext sich zwar in der Sprache zu erkennen gibt, daß er aber nicht sprachlich ist [. . .].« (Ebd., S. 94f.). " Ebd., S. 167. Ebd., S. 191. 41 Ebd., S. 169. 40

34

gilt es auch für sie? Schließlich kann im Rahmen des Modells - das wäre ein dritter und von der Literatur her wohl der wichtigste Einwand — alles >Poetischeagonale< bezeichnen könnte: Das Verhältnis von Sprache und Körper wird als Konflikt, ja als K a m p f verstanden. Die Spracheinführung ist nur durch die Suspension des Körpers möglich. Das Semiotische, das den Körper artikuliert, wird durch das Symbolische tendenziell zum Verschwinden gebracht, bleibt aber in jedem Diskurs als Störfaktor präsent. Für die Wortsprache heißt das andererseits, daß sie nicht auf der Körperlichkeit aufruht, sondern als deren Negation verstanden wird. Das (real so nicht vorkommende) rein >symbolische< Sprechen wird vom Körper abgetrennt und nur vom System der Sprache her gedacht. So kann das Sprechen keine produktive Beziehung zur Körperlichkeit unterhalten, sondern muß sich von ihr immer gefährdet sehen. Genau dieses produktive Verhältnis zwischen dem Körper und der Wortsprache, die zugleich auch seine Sprache ist, entfaltet Merleau-Ponty in seinem mittleren Werk, vor allem in der Phänomenologie der WahrnehmungStruktur des Verhaltens*

(1942),

sowie in seinem Hauptwerk

Phäno-

menologie der Wahrnehmung* ( 1 9 4 5 ) noch nicht strikt im Sinne des Strukturalismus verstanden wird, sondern in A n k n ü p f u n g an die Gestalttheorie als Organisation, Einheit, Organismus und Gestalt. Mit Struktur und G e stalt hat Merleau-Ponty einen Ansatz für die gesuchte >dritte Dimension* zwischen K ö r p e r und Geist. »Struktur und Gestalt sind weder D i n g , d. h. pur Vorhandenes und äußerlich Verknüpftes, noch Idee, d. h. Produkt einer intellektuellen Synthese, sie verkörpern vielmehr die ursprüngliche Organisation der Wirklichkeit selber.«' Erst nach seiner Rezeption v o n Saussures Cours

und im

Spätwerk,

auch durch die Auseinandersetzung

mit

Le-

vi-Strauss vollzieht sich bei Merleau-Ponty »eine deutliche Annäherung an den eben erst in die breitere Öffentlichkeit vordringenden

Strukturalis-

mus.« 6 In diesem Zusammenhang schreibt er 1959: Es ist eine ganz neue Denkweise, die mit dem Strukturbegriff aufkommt, dessen Fortune heute in allen Bereichen einem geistigen Bedürfnis entspricht. Dem Philosophen weist die Struktur, die außer uns in den natürlichen und sozialen Systemen und in uns als symbolische Funktion gegenwärtig ist, einen Ausweg aus der Subjekt-Objekt-Beziehung, welche die Philosophie von Descartes bis Hegel beherrscht. Sie läßt uns in besonderem Maße verstehen, wie wir mit der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt kreisförmig zusammengeschlossen sind, sofern sich der Mensch sich selbst gegenüber exzentrisch verhält [. . .].'

4 1

6 7

cal Essays, 1989; J.-B. Pontalis, Das Problem des Unbewußten bei MerleauPonty. (Zuerst 1961). In: ders., Nach Freud, 1968, S. 66-84; Willi Maier, Das Problem der Leiblichkeit bei Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty, 1964; Stephan Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, 1989, S. 203ff.; Jean-Pierre Wils, »Ästhetische Güte«. Philosophisch-theologische Studien zu Mythos und Leiblichkeit im Verhältnis von Ethik und Ästhetik, 1990, S. 67-74. Vielfältig (auch kritisch weiterführend) auf Merleau-Ponty bezieht sich Drew Leder, The Absent Body, 1990. Es handelt sich bei diesem Buch um eine originelle phänomenologische Analyse des Leibes, ausgehend von den Phänomenen seines Verschwindens und Sich-Verbergens. Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, S. I48ff. Ebd., S. 155. - Vgl. auch Waidenfels, Die Offenheit sprachlicher Strukturen bei Merleau-Ponty, in: ders., Der Spielraum des Verhaltens, S. 145—162, hier S. I46f.: »Das anfängliche und fortdauernde Interesse Merleau-Pontys an diesem Begriff beruht darauf, daß die Struktur weder Ding noch Idee ist, daß sie weder einer puren Außenwelt noch einer puren Innenwelt angehört, daß sie weder ein reines Ansich noch ein reines Fürsich darstellt und somit klassische Gegensätze wie Empirismus und Rationalismus, Materialismus und Spriritualismus sowie die erkenntnistheoretische Dualität von Subjekt und Objekt unterläuft [. . .].« Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, S. 190. Merleau-Ponty, Von Mauss zu Claude Lévi-Strauss (1959), in: Leibhaftige Vernunft, Hrsg. von Alexandre Métraux und Bernhard Waldenfels, S. 1 3 - 2 8 , hier S. 2; (die Stelle wird zitiert bei Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, S. 190). 37

In dem großen, Fragment gebliebenen Nachlaßwerk >Das Sichtbare und das UnsichtbareFleisch< oder >Leib der Welt< die Rede (chair du monde), das allen Differenzierungen von Subjekt und Objekt nicht nur vorgängig sein, sondern auch immer grundlegend bleiben soll. »Wir stehen der Welt nicht gegenüber, sondern sind aus dem »gleichen Stoff« wie sie, unser Sehen ist ihr narzißtisch verhaftet [. . .]«. 9 Hier befindet sich Merleau-Ponty dann »Auf dem Wege zu einer neuen Ontologie« 10 und damit jenseits der hier angezielten Thematik. Der Leib 11 ist nun in ganz besonderem Maße geeignet, zum Ausgangspunkt für ein Unterlaufen der Subjekt-Objekt-Dichotomie genommen zu werden. Er ist zunächst einmal durch die Sinne der Zugang zur Welt durch das Ich überhaupt. Ohne Leiblichkeit gäbe es für das Bewußtsein keine Inhalte, also überhaupt kein Bewußtsein, denn Bewußtsein ist immer Bewußtsein von etwas. 12 Das gilt nicht nur in dem trivialen Sinne, daß geistige Aktivitäten ein körperliches (neuronales) Substrat brauchen, und auch nicht im Sinne eines radikalen Empirismus, der den Ursprung alles Geistigen letztlich in Sinneswahrnehmungen sieht, sondern es bedeutet, daß erst durch das Sinnesmaterial das Bewußtsein sich konstituieren und strukturieren kann. Allerdings tritt Merleau-Ponty entschieden der Auffassung entgegen, solches Material sei einfach gegeben, und das passive Bewußtsein werde nur von ihm affiziert. Die ersten ausführlichen Untersuchungen des Hauptwerks diskutieren den Begriff der Empfindung, wobei die Leitfrage ist, ob es >elementare< Empfindungen überhaupt gibt. Kritisiert wird die Position einer Physiologie der WahrnehmungGegebenes< — die aktuelle Wahrnehmung — und ein dazuhin >Hervorgerufenes< ansetzen, die dann sekundär miteinander verbunden würden. Damit kritisiert Merleau-Ponty die gängige Vorstellung der Assoziationspsychologie. »Der Rückgang auf die Phänomene selbst läßt als Grundschicht ein bereits von irreduktiblem [!] Sinn erfülltes Ganzes entdecken: nicht lückenhafte Empfindungen, verknüpft durch eingeschobene Erinnerungen, sondern die Physiognomie, die Struktur etwa der Landschaft oder des Wortes, ursprünglich stimmig mit den Intentionen des Augenblicks wie auch mit vorangegangenen Erfahrungen.« (PhW 42) Die Wahrnehmung steht also immer in einem »Horizont« (PhW 42), der durch »einen Akt der Wiedererinnerung« eröffnet — oder auch beiseite gelassen — wird. Auch hier wendet sich Merleau-Ponty also gegen eine falsche Aufspaltung der Phänomene, die in unangemessener Analyse die primäre Ganzheit zerlegt und so die Sache verfehlt. Dieser falsch >empiristische< (PhW 44) Zugriff wird unseren wirklichen Wahrnehmungen nicht gerecht. Wenn man den Maßstab des Empirismus anlegt, dann gilt: »Nichts im sinnlichen Anblick einer Landschaft, eines Gegenstandes, eines Körpers bestimmt dieses Seiende dazu, »froh« oder »traurig«, »lebhaft« oder »eintönig«, »elegant« oder »grob« auszusehen.« (PhW 44) Doch genau das nehmen wir wahr, wenn wir etwas betrachten. Ganz deutlich wird hier, wie Merleau-Ponty die Vorstellung von der Wahrnehmung als einer Art objektiv-fotografischer Aufnahme verabschiedet. Wahrnehmung verleiht bereits Bedeutung. Anders der Empirismus, der das Wesen der Wahrnehmung verkennt: »Aufs neue das, was wir wahrnehmen, durch die physikalisch-chemischen Eigenschaften auf unsere Sinnesorgane einwirkender Reize bestimmend, betrachtet der Empirismus den Zorn oder Schmerz, den ich auf einem Antlitz lese, die Religion, deren Wesen ich zögernd oder zurückhaltend erfasse, die Stadt, deren Struktur ich an der Haltung eines Polizisten oder am Stil eines Bauwerks erkenne — als schlechterdings nicht wahrgenommen.« (PhW 44) 40

Das könnte fast scheinen, als sei Merleau-Ponty Intellektualist. Aber auch diese Position erweist sich nach ihm als »unfähig, der eigentümlichen Weise der Konstitution eines Gegenstandes im perzeptiven Bewußtsein Ausdruck zu leihen.« (PhW 47) Ein strikter Intellektualismus wäre nicht in der Lage, das vom Ich Konstituierte wirklich zum Gegenstand vor anderen zu machen. Die >Aufmerksamkeit< — Merleau-Ponty greift damit ein weiteres klassisches Thema der neueren Psychologie auf — hätte keine Kriterien dafür, sich an dieses und nicht an jenes zu heften. »Dem Empirismus mangelte es an der Möglichkeit einer Einsicht in den inneren Verband zwischen dem Gegenstand und dem von ihm ausgelösten Akt.« (PhW 49) Das war bereits begründet worden. Andererseits: »Dem Intellektualismus mangelt es an der Möglichkeit einer Einsicht in die Kontingenz der Anlässe des Denkens. Im einen Falle ist das Bewußtsein zu arm, im zweiten zu reich, um es begreiflich zu machen, daß ein Phänomen vermöchte, es zu erregen.« (PhW 49) Die Auseinandersetzung mit dem Intellektualismus bringt auch die Abweisung der These mit sich, daß Wahrnehmen ein Urteilen sei und sich erst daraus Sinn ergebe. In der Diskussion der Müller-Lyerschen Täuschung arbeitet Merleau-Ponty heraus, daß Wahrnehmen »etwas durchaus anderes als Urteilen« sei, »nämlich Erfassen eines jedem Urteil zuvor dem Sinnlichen eigenen Sinnes.« (PhW 57) Nun wird deutlich, worauf Merleau-Pontys eingehende philosophisch-phänomenologische Analysen psychologischer Probleme unter semiologischem Aspekt letztlich zielen: Auf die Gewinnung eines Begriffs von Bedeutung, der nicht in die Fallen der cartesianischen Dichotomie gerät. Das Urteil ist nicht die Heimat der Bedeutung. »Im Phänomen der richtigen Wahrnehmung begegnet also eine den Zeichen innewohnende Bedeutung, dessen bloß fakultativen Ausdruck das Urteil bildet.« (PhW 57) Der Tisch, den ich wahrnehme, ist nicht eine Menge von ElementarInformationen, aus denen das Bewußtsein dann durch >Interpretation< (PhW 55) den Gegenstand konstituierte. Vielmehr findet ihn das Bewußtsein schon als wahrgenommenen vor — ein Beispiel nur für das Programm, das Merleau-Ponty der Phänomenologie der Wahrnehmung als Grundlage einer Bewußtseinsphilosophie vorgibt: »Es gilt, das Bewußtsein mit seinem eigenen präreflexiven lebendigen Beisein bei den Dingen zu konfrontieren, es zu seiner eigenen vergessenen Geschichte zu erwecken« (PhW 5}). Dieses >Beisein bei den Dingen< bleibt auch in der Reflexion Grundlage des Bewußtseins. »Nie vermag die Reflexion sich selbst absolut durchsichtig zu werden, stets ist auch sie selbst sich selbst erfahrungsmäßig gegeben — in einem Kantischen Sinne des Wortes Erfahrung: sie entspringt, ohne selbst zu wissen, woher, sie gibt sich mir als naturgegeben.« (PhW 6 5 ) 16 Die Kon16

Merleau-Ponty knüpft hier an die berühmte Stelle aus einem Brief v o n Descartes

41

Sequenzen der Merleau-Pontyschen Thesen für eine Philosophie des Bewußtseins können hier nicht weiterverfolgt werden. Für die semiologische Fragestellung festzuhalten ist, daß er - in Anknüpfung an psychologische Grundprobleme - mit der Wahrnehmung eine Geistesaktivität ansetzt, die systematische Priorität vor dem Bewußtsein hat und sich dadurch vor diesem auszeichnet, daß es in ihr noch keine Unterscheidung und keine Trennung des Gegenstandes von dessen Bedeutung gibt. Die Sphäre der Wahrnehmung ist gleichsam die Sphäre vor der Spaltung in Signifikant und Signifikat. »In der wirklichen, vor aller Sprache in ihrer Ursprünglichkeit erfaßten Wahrnehmung sind sinnliches Zeichen und dessen Bedeutung auch idealiter nicht zu trennen.« (PhW 61) In diesem Begriff der Wahrnehmung hat Merleau-Ponty einen Ansatzpunkt für eine großangelegte Revision der Phänomenologie gewonnen, die viel mehr intendiert als einen Beitrag zu einem Einzelproblem der Erkenntnistheorie. Das Programm dieser Revision ist zwar den Intentionen des Neostrukturalismus eher entgegengerichtet, aber in der Stoßrichtung der Kritik, im Gegner sind durchaus Konvergenzen zu erkennen: Was anstehe, sei der Umsturz des objektiven Denkens der klassischen Logik und Philosophie überhaupt, die Ausschaltung aller weltlichen Kategorien, die »Bezweiflung« — im Cartesianischen Sinn — der vermeintlichen Evidenzen des Realismus und der Vollzug einer echten »phänomenologischen Reduktion«. Das objektive Denken, nicht den Phänomenen, sondern dem Universum sich anmessend, kennt nur alternative Begriffe; im Ausgang von der wirklichen Erfahrung bestimmt es reine Begriffe, die einander ausschließen: den Begriff der Ausdehnung als absoluter Äußerlichkeit der Teile, und den des Denkens, als in sich selbst gesammelten Seins, den Begriff des vokalen Zeichens als eines willkürlich mit gewissen Vorstellungen verknüpften physischen Phänomens und den der Bedeutung als für sich gänzlich klaren Gedankens, den Begriff der Ursache als äußerer Determinante ihrer Wirkung und den des Grundes als innerlichen Konstitutionsgesetzes der Phänomene. Die Wahrnehmung des Eigenleibes wie die äußere Wahrnehmung überhaupt bieten uns aber, wie wir sahen, das Beispiel eines nicht-thetischen Bewußtseins, d. h. eines Bewußtseins, das nicht im Besitz der vollen Bestimmtheit seiner Gegenstände ist, einer lebendigen Logik, die von sich selbst keine Rechenschaft ablegt, einer immanenten Bedeutung, die nicht für sich klar ist und nur in der Erfahrung bestimmter natürlicher Zeichen kenntlich ist. (PhW ηζί.)

an, in der dieser, so Merleau-Ponty, den »Verstand für unfähig zur Erkenntnis der Einheit von Leib und Seele erklärt und diese Erkenntnis dem Leben überläßt«, und zieht die nicht sehr überzeugende Folgerung: »so bedeutet dies doch nichts anderes, als daß der Akt des Begreifens sich als Reflexion eines weder de facto noch de jure je ganz in ihn aufgehobenen Präreflexiven faßt.« (PhW 65) Das Resümee bürstet Descartes noch deutlicher gegen den Strich: »und so erwiese sich als der letzte Sinn des cogito nicht die Enthüllung eines konstituierenden Letzten oder die Rückführung der Perzeption auf die Intellektion, sondern die Feststellung des Faktums, daß die Reflexion die Undurchsichtigkeit der Wahrnehmung durchbricht und gleichwohl nicht aufhebt.« (PhW 66).

42

An diesem Programm wird einerseits deutlich, was Merleau-Pontys Konzeption durch die spätere intensive Saussure-Rezeption gewinnen konnte, denn der Begriff des natürlichen Zeichens scheint doch in semiologischer Perspektive nicht sehr weit zu tragen. Andererseits ist Merleau-Pontys Ansatz bei der Leiblichkeit für die Differenz-Semiologie des Neostrukturalismus eine Provokation, insofern er, was noch zu zeigen ist, mit der Idee des >inkarnierten Sinnes< eigentlich eine extreme Variante der dort so sehr kritisierten Präsenz-Theorie (allerdings nicht: Vti&enz-Metaphjsik) darstellt. Der hier liegende Konflikt wäre vielleicht in Merleau-Pontys Spätwerk ausgetragen worden. Ausgangspunkt der bisherigen Analyse war die These, daß der Leib das Mittel des Zugangs zur Welt sei. E r gehört also — obwohl auch Körper in der Welt — ihr nicht ganz und gar zu wie ein Ding. Im Durchgang durch die ausführliche Einleitung zu Merleau-Pontys Hauptwerk hatte sich jedoch gezeigt, daß bereits auf der elementarsten Stufe des Weltbezugs von einem einfachen Übermitteln vorhandener Informationen über das >Medium< Leib an das Bewußtsein nicht die Rede sein kann. Die Wahrnehmung ist — vor allem Bewußtsein, vor allem Urteilen, vor allem Aussagen, vor jeder Signifikation — eine irreduzible Weise der »Welthabe«: 17 »Le corps est notre moyen général d'avoir un monde«.' 8 Die Richtung ist also umgedreht, denn Welthabe bedeutet nicht >Aufnahme< der Eindrücke, sondern aktive Aneignung. Das hatte bereits die Diskussion des Empfindungsbegriffs demonstrieren sollen. Mit einer zweiten Bestimmung befindet sich Merleau-Ponty — wie auch an vielen anderen Stellen seiner Analyse - in unmittelbarer Nachbarschaft zu Sartre: »der Leib ist unsere Verankerung in der Welt.« (PhW 174)' 9 Bei Sartre ist der Leib die Möglichkeit des Bewußtseins, konkret zu werden, zur Welt zu kommen; er ist dessen Faktizität überhaupt. Darüberhinaus ist er aber auch das Milieu seiner Möglichkeiten, und das nicht nur, wenn er sich als Begrenzung und Störung meldet, wie etwa in der Krankheit. Denn »dem liegt voraus, was da gehemmt und gestört wird, daß ich nämlich bereits eine Welt habe und ein Ich bin in leiblicher Vorgegebenheit.« 20 Dieses >Ich< ist die »leibliche Vorgabe« 21 des Bewußtseins, ein die Subjektivität in gewisser Weise dezentrierendes »natürliches Ich« (PhW 204). Hier trennt sich MerleauPonty von Sartre. Das >natürliche Ich< des Leibes ist die nie zu verlassende, in das personale Ich schließlich integrierte, ihm aber nur begrenzt verfüg17

Waldenfels, Spielraum, S. 57 und 38. " Frz. Ausgabe, S. 1 7 1 ; dt. Übers. S. 176. '» Vgl. Waidenfels, Spielraum, S. 3 9 f . 20 Ebd., S. 40. " Ebd. 43

bare Schicht des Kontingenten, die Voraussetzung und Möglichkeit des Subjekts, auf der es aufruht und von der es sich nicht — wie bei Sartre — ständig losreißt (allerdings auch dort: ohne sich je ganz von ihm befreien zu können). »Überall wird das bewußte Verhalten gestützt, getragen, angeregt von leiblichen Impulsen, die einen Sinn anbieten und in denen das Ich bereits lebt, anstatt sie bloß instrumental zu gebrauchen«. 22 In diesem Sinn gehört die Leiblichkeit zur Vorgeschichte des Bewußtseins, 2 ' die aufzuhellen Merleau-Ponty sich vorgenommen hatte. »Der Leib ist im konkreten Ich integriert als eine präpersonale, anonyme, generelle, natürlich und kulturell erworbene Existenz, als das, was das Ich, im Verein mit den Andern, immer schon ist und aus sich gemacht hat in der persönlichen Existenz als einer »incarnation perpétuelle« [. . .]. Dieser Leib, der alles Tun trägt, ist keine reine Passivität, sondern anhebende und verebbende Aktivität, kein bloßes Nicht-Ich, sondern ein Vor-Ich.« 24 Der Begriff des >natürlichen IchnatürlichesparolePhonozentrismusgeste< zuweilen durch >GebärdeGeste< wieder. Eine systematische Differenzierung kann ich nicht erkennen. In diesem Kapitel verwende ich die Begriffe ebenfalls meist äquivalent. — Vgl. zur Problematik der Begrifflichkeit, auch zu Plessner: Hennigfeld, Sprachphilosophie, S. 304^, Anm. 81.

47

Was mit diesem >in gewisser Weise< gemeint ist, läßt sich leicht erschließen. Die Gebärde ist nicht mit ihrer Bedeutung vollkommen identisch. Sie ist ja nur der letzte Schritt, die Vollendung einer Intention, die mit einer Empfindung begonnen haben mag und sich nun in ihr >realisiertBedeutunginkarniertKommunikation< (PhW 217). »Nicht mit »Vorstellungen« oder Gedanken kommuniziere ich zuerst, sondern mit einem sprechenden Subjekt, mit dessen bestimmter Weise zu sein [. . .]« (PhW 218), also mit einem seinen Leib in bestimmter Weise modulierenden Gegenüber. Kommunikation mit diesem Gegenüber ist nun im Rahmen der Philosophie Merleau-Pontys nicht als Codierung von Informationen oder Entäußerung an den allgemeinen Schematismus* der Sprache wie bei Schleiermacher zu verstehen. Wenn ich mein Gegenüber >versteheÜbernahme< seiner in der Gebärde realisierten Intention und die »synchrone Modulation meiner eigenen Existenz« (PhW 218), mit einem anderen Wort: Es ist ihr Nachvolfyug, wie es im Kontext der Einfühlungspsychologie und -ästhetik immer wieder heißt. Merleau-Ponty stellt einige Reflexionen über das Verstehen von Gesten (in dem weiten Sinne seines Konzepts) an. »Um etwa eine zornige oder drohende Gebärde zu verstehen, muß ich mir nicht erst die Gefühle in die Erinnerung rufen, die ich selbst einmal hatte, als ich dieselben Gebärden machte.« (PhW 218) Fremdpsychisches wird nicht durch Analogieschlüsse, überhaupt nicht durch Schlüsse verstanden, sondern unmittelbar, das heißt, von Körper zu Körper, durch Übernahme der Intentionen des anderen. »Dann ist es, als wohnten seine Intentionen meinem Leibe inne und die meinigen seinem Leibe.« (PhW 219) Auf eine Formel gebracht: »Durch " Merleau-Pontys Philosophie zeigt in diesem Punkt erstaunliche Parallelen zu Konrad Fiedlers weiter unten behandelter Theorie; das hat - bezogen auf die bildende Kunst, vor allem die Malerei - bisher anscheinend nur Rainer Piepmeier bemerkt (Die Wirklichkeit der Kunst, in: Kolloquium Kunst und Philosophie 2: Ästhetischer Schein, 1982, S. 1 0 3 - 1 2 5 , hier S. ii4f.): »Was Fiedler intendierte, scheint mir in der gegenwärtigen Philosophie besonders in der Phänomenologie Merleau-Pontys vertreten zu werden. Das kann hier nicht ausgeführt werden. Es sei nur mit einigen Zitaten angedeutet und so als Desiderat vermerkt.« (S. 114).

48

meinen Leib verstehe ich den Anderen« (PhW zzo). Zudem »fasse ich Zorn oder Drohung nicht als hinter den Gesten verborgene psychische Fakten, ich sehe vielmehr den Zorn der Gebärde an: sie läßt nicht lediglich denke» an Zorn, sie ist der Zorn.« (PhW 219) Mit dieser Formulierung befindet sich Merleau-Ponty in unmittelbarer Nachbarschaft zur Theorie der Emotionen von William James und Carl Lange, die weiter unten zu behandeln ist. Mit der Formel von der >Sprache als leiblicher Gebärde< ist jedoch eine Besonderheit seiner Sprachtheorie noch nicht herausgearbeitet — das, was Merleau-Ponty das >Wunder des Ausdrucks< nennt. Ausdruck gibt es auf allen Ebenen des Verhaltens, insofern es die Vollendung von Intentionalität ist. Ausdruck ist also nicht — wie könnte es nach dem Gesagten anders sein? — Einkleidung eines Inneren, Verpackung von Gedanklichem, sondern dessen inneres Telos. Dem widerspricht nicht, wenn Merleau-Ponty im Kontext des Ausdrucksbegriffs von einem >übertragenen Sinn< spricht. Damit ist auf der Ebene der einfachen Gebärde jener Umschlag zu verstehen, der aus einer rein natürlich bedingten Körpermodifikation einen bedeutungsvollen Akt macht. Vielzitierte Beispiele, auf die auch Merleau-Ponty hier zurückgreift, sind das Stirnrunzeln und der konzentrierte Blick, die nach Darwin die Funktion hatten, das Auge zu schützen und schärferes Sehen zu ermöglichen, jetzt aber als »Bestandteil des menschlichen Ausdrucks beim Nachdenken« (PhW 229) erscheinen und dies dem Mitmenschen gegenüber auch bedeuten. Auf der Ebene des Sprechens als leiblicher Gebärde ist dieser Umschlag ebenfalls zu situieren: Das Problem der Sprache ist ganz dasselbe: eine Kontraktion der Kehle, ein zischendes Entgleitenlassen der Luft zwischen Zunge und Zähnen, eine gewisse Spielart des Leibverhaltens erschließt sich plötzlich einem übertragenen Sinn und bedeutet ihn unserer Umwelt. Das ist nicht mehr und nicht minder wunderbar als das Hervortreten der Liebe aus der Begierde oder der Geste aus den unzusammenhängenden Bewegungen des Lebensanfangs. (PhW 229)

Damit ist, wie bei den meisten Sprachursprungstheorien, nicht viel erklärt. Der Ausdruck >Wunder< ist zweifellos eine Verlegenheitslösung. Die Körpermodifikation schafft nicht aus sich heraus allein diesen Sprung, es muß etwas hinzukommen, das System der Sprache und die Situation des Sprechens: »Soll das Wunder geschehen, so muß die phonetische Gestik sich eines Alphabets bereits erworbener Bedeutungen bedienen, die Wortgebärde in einen den Unterrednern gemeinsam eröffneten Ausblick sich einzeichnen [. . .]« (PhW 229). Das wäre die Nahtstelle für eine Verbindung zwischen der Sprache als Ausdruck und der Sprache als System. Die erste Komponente ist für sich allein genommen ebenso defizient wie die zweite. Reiner Ausdruck ist, wenn er mehr als bloße Instinkthandlung sein soll, auf ein Arsenal möglicher, bereits etablierter Formen und Sinnmöglichkeiten angewiesen. 49

Andererseits kann das Sprachsystem ohne eine individuelle, geistig-leibliche Disposition (die auch die jeweilige konkrete Intention einschließt) nie im Sprechen konkret werden. Das System kann seine je ein2elne >Anwendung< nicht selbst generieren. Merleau-Ponty reflektiert diese Frage an dieser Stelle nicht weiter. Stattdessen setzt er die Fähigkeit zur Bedeutungskonstitution schlicht als ein »ursprüngliches Faktum« (PhW 230) an. Die Unterscheidung zwischen der >ursprünglichenlangue< nicht wirklich eingeht. Um es bildhaft zu sagen: Das von Intentionalität bewegte Individuum spielt, indem es sich ausdrückt — durch Gebärde oder durch Sprechen als Gebärde — nicht nur auf der Klaviatur des eigenen Leibes, sondern auch auf der des Sprachsystems, das ganz spezifische Bedeutungsmöglichkeiten eröffnet oder auch ausblendet. Humboldt hat in diesem Punkt weiter gedacht. Es ist eben nicht so, daß alles Sprechen alle Bedeutungen immer ganz neu schöpft. Das Argument, daß alle eingeführte Bedeutung von Gebärden und Worten einmal >ursprüngliche< Bedeutung war, kann auch umgedreht werden: Jedes Sprechen ist immer auch ein Stück Rückgriff auf die vorhandenen Ausdrucksmöglichkeiten. Dies muß jedoch nicht wie bei Lacan und Kristeva als Entfremdungsprozeß beschrieben werden. Gerade im Kontext von Merleau-Pontys Theorie der Sprache als leiblicher Gebärde kann von einem produktiven Ineinandergreifen der individuellen Intentionalität und der allgemeinen Systematik der >langue< ausgegangen werden. Dann ist das Sprechen, insofern es Rückgriff auf vorhandene Möglichkeiten bedeutet, die Verlängerung des Armes, also die am Beispiel des Blindenstocks' 8 bereits erwähnte »Erweiterung der Leibessynthese« (PhW 182). Durch das Wort, das auch die Mutter kennt, kann das Kind den Apfel bekommen, der auf dem für den Arm unerreichbaren Tisch liegt. Was die Zeigegeste nicht mehr erreicht, erreicht das Wort als deren Erweiterung. Die Sprache ruht auf der unmittelbaren Leiblichkeit auf und ist ihre Entfaltung, nicht Depravation.

Zum Beispiel des Blindenstocks vgl. Leder, The Absent Body, S. 33.



Daß Gebärde und Sprache den Leib gleichsam über sich selbst hinausheben, hat man seit je schon bemerkt, doch begnügte man sich mit der Meinung, sie müßten noch ein anderes Vermögen entfalten oder bekunden, das Denken oder die Seele. Man sah nicht, daß letzten Endes der Leib selbst das Denken, die Intention werden muß, die er uns je bedeutet, soll er sie ausdrücken können. E r ist es, der zeigt, er ist es, der spricht [. . .]. (PhW 23})

Andeutungsweise findet sich hier schon ein Abgehen vom Gedanken der reinen Präsenz des Sinnes im leiblichen Ausdruck — eine Tendenz, die sich in den fünfziger Jahren mit der Rezeption von Saussure noch fortsetzen wird.' 9 Aber bereits in der Phänomenologie der Wahrnehmung< finden sich Überlegungen hierzu, die von dem prinzipiellen Sprung ausgehen, mit dem sich eine individuelle Intention an ein Sprachsystem entäußert. Dabei wird die Spannung zwischen ihnen als produktiv gesehen: Sie ist Grund für die Verlängerung des Gedankens über die Innerlichkeit des Subjekts hinaus, Grund also für seine Transzendenz. Merleau-Ponty führt hier den sprachlichen Ausdruck und den des Malers zusammen, ganz wie dies Konrad Fiedler getan hatte:4" Und was das sprechende Subjekt betrifft, so muß doch auch ihm der Akt des Ausdrucks ein Schritt über das hinaus sein, was es zuvor nur dachte, muß es mehr in seinen eigenen Worten finden, als es in sie zu legen dachte [ . . . ] . So ist die Sprache denn die paradoxe Leistung, in der wir mit Worten, deren Sinn gegeben ist, und mit verfügbaren Bedeutungen eine Intention zu erfüllen suchen, die grundsätzlich den Sinn der Worte, in die sie sich überträgt, überschreitet und modifiziert und selbst erst letztlich fixiert. [. . .] Dem Bild muß über das sinnlich Gegebene hinaus, dem Wort über das der konstituierten Sprache hinaus von sich her eine Bedeutungskraft eignen, die nicht auf eine für sich schon im Geist des Betrachters oder Zuhörers existierende Bedeutung zurückzubeziehen ist. [. . .] Das Bild des Malers, das Wort des sprechenden Subjekts sind nicht lediglich Illustrationen des schon fertigen Gedankens, sondern die Aneignung dieses Gedankens selbst. (PhW 443)

Im Verlauf der Auseinandersetzung mit Saussure geht der Akzent in Merleau-Pontys Sprachtheorie vom leiblichen Ausdruck immer mehr über auf das System der Sprache. »Die unmittelbare Verwurzelung der Sprache im leiblichen Gehabe findet ihr Gegengewicht in vermittelnden Symbolfeldern.« 4 ' Allerdings geht Merleau-Ponty auf diesem Weg nicht so weit, das sprechende Subjekt mit seiner konkreten leiblich-geistigen Intentionalität aufzugeben. Daß man dies zur Kritik seiner Sprachphilosophie wenden muß, 42 scheint nicht zwingend. Gerade mit der Analyse der im Körper unhinter-

" Hierzu vgl. Gregori, Merleau-Pontys Phänomenologie der Sprache, 1977, bes. S. 88ff. 40 Vgl. unten Kap. I.3 im zweiten Teil. 4 ' Waidenfels, Phänomenologie in Frankreich, S. 197. 41 Wie Waidenfels, ebd., S. 197.

51

gehbar und nicht transzendierbar mitgegebenen Intentionalität ist ein Substrat des Sprechens angesprochen, das nicht einfach aus der Theorie eliminiert werden kann. Das Nachlaßwerk allerdings wird einen solchen Weg einschlagen, jedoch im Rahmen einer >neuen OntologieLeibhafte Wahrheitc Herders Philosophie des Plastischen a)

Lessing, Burke und Herder: Stichworte zu den Anfangen der Einfühlungsästhetik

Wilhelm Wundt, die überragende Gestalt in der Psychologie um 1900, der Nestor der experimentellen Psychologie und von großem Einfluß auch auf die amerikanische Entwicklung, verweist in einem im Winter 1866/67 g e ~ haltenen Vortrag über den >Ausdruck der Gemütsbewegungen auf Lessing als einen Gewährsmann für eine in den folgenden Jahrzehnten vieldiskutierte These, die im Kern besagt, daß Gefühle von bestimmten Körpermodifikationen nicht nur begleitet, sondern erzeugt oder zumindest verstärkt werden können. Wundt meint: »Ebenso wie [. . .] die mimische Bewegung als ein äußerer, sinnlicher Reflex eines inneren Seelenzustandes uns entgegentritt: ebenso besitzt sie auf der andern Seite die Eigenschaft, wieder auf diesen zurückzuwirken [. . .]. Wie das sinnliche Gefühl durch die innere Gemütsbewegung geweckt wird und mit ihr wächst, so richtet sich hinwiederum die Gemütsbewegung an den starken sinnlichen Empfindungen empor, die ihre Ausdrucksbewegungen begleiten.« 1 Diese Erfahrung hätten die >Psychologen der Schule< kaum beachtet. »Aber einem so tiefen Kenner der menschlichen Natur, wie Lessing, ist sie nicht entgangen.« 2 Sodann zitiert und referiert Wundt jene Stellen aus dem dritten Stück der >Hamburgischen Dramaturgie^ in denen Lessing das Problem diskutiert, wie ein Schauspieler auf möglichst realistische Weise Affekte mimen könne. Bei Lessing heißt es: Wenn er lange genug nichts als nachgeäffet hat, haben sich endlich eine Menge kleiner Regeln bei ihm gesammelt, nach denen er selbst zu handeln anfangt, und durch deren Beobachtung (zu Folge dem Gesetze, daß eben die Modificationen der Seele, welche gewisse Veränderungen des Körpers hervorbringen, hinwiede' Wilhelm Wundt, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen (1866/67). In: ders., Essays. 2. Aufl. 1906, S. 243—268, hier S. 256. 2 Ebd., S. 257.

55

rum durch diese körperliche Veränderungen bewirket werden,) er zu einer Art von Empfindung gelangt, die zwar die Dauer, das Feuer derjenigen, die in der Seele ihren Anfang nimmt, nicht haben kann, aber doch in dem Augenblicke der Vorstellung kräftig genug ist, etwas von den nicht freiwilligen Veränderungen des Körpers hervorzubringen, aus deren Dasein wir fast allein auf das innere Gefühl zuverlässig schließen zu können glauben. L e s s i n g bezeichnet die g e n a n n t e E r f a h r u n g als >GesetzWhat is an emotion?< v o n 1 8 8 4 4 E i n t r i t t in die a k a d e m i s c h - p s y c h o l o g i s c h e D i s k u s s i o n v e r s c h a f f t e . L e s s i n g hatte s c h o n an a n d e r e r Stelle ä h n l i c h a r g u m e n t i e r t , u n d z w a r bereits 1 7 5 4 i m >Ersten Stück< der t h e a t r a l i s c h e n BibliothekDer Schauspie6

57

Mit diesen Überlegungen, die bei Lessing im Kontext seiner Mitleidsdramaturgie und seiner Psychologie der mitschwingenden Saite zu sehen sind, 12 geht Lessing grundsätzlich über traditionelle Rezepte der Deklamationskunst und der rhetorischen actio-Lehre13 hinaus und zielt, wie bei seiner Dramentheorie überhaupt, auf ein anthropologisch-psychologisch fundiertes Konzept von Humanität. Der Schauspieler wird wieder wie im Barock zum Muster des Menschen überhaupt, allerdings mit ganz anderer Intention. Im 17. Jahrhundert spielt der Mensch als Schauspieler eine Rolle im Welttheater, 14 dessen Spielleiter Gott ist. Bei Lessing hat er eine pädagogische Funktion als Lehrer der über psychologisch fundierte Mechanismen vermittelten Humanität. Und bei Engel ist die Mimik nicht etwa allein durch ihre Verwendungsfähigkeit im Schauspiel legitimiert, sondern vor allem als Schule der Menschenkenntnis - weniger im Sinne der prudentistischen >Kunst, anderer Gemüter zu erforschen^ als vielmehr im Sinne allgemeiner Menschenliebe und Menschenkunde. 1 ' Der Gedanke eines peripherisch induzierten Seelenzustandes erscheint und das dürfte für Lessing wie für Herder eine der entscheidenden Anregungen gewesen sein — bereits in Edmund Burkes Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful· von 1757, die dann 1773 in der Übersetzung von Garve auf deutsch erschien.' 6 Wie dieser Gedanke ins 19. Jahrhundert gelangte, soll mit zwei Hinweisen wenigstens angedeutet werden. ler< (Lessing, Werke hrsg. von Herbert G . Göpfert, Bd. 4, S. 724—733; Lessings sämtliche Schriften, hrsg. Lachmann/Muncker, Bd. 14, S. 179-189); Lessing bezeichnet dort das Vorhaben als ein »Werk worinne die Grundsätze der ganzen körperlichen Beredsamkeit entwickelt werden.« (Ed. Göpfert, Bd. 4, S. 724F.). Für die hier behandelten Fragen ist das Fragment nicht von Interesse. 11

Martin Schenkel, Lessings Poetik des Mitleids, 1984, etwa S. 58 und S. 225 (mit Anm. 138, S. 300); Hans-Jürgen Schings, Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, 1980. - Vgl. Lessings Brief an Moses Mendelssohn vom 2. Februar 1757 (Werke und Briefe, Bd. 1 1 / 1 : Briefe von und an Lessing 1743—1770, Hrsg. von Helmuth Kiesel, Nr. 1 1 5 , hier S. 167Q.

' ' Hierzu jetzt grundlegend der Artikel von Bernd Steinbrink, >ActioEnquiry< sehr bewundert. Im November 1768 liest er die Schrift in der französischen Ubersetzung und äußert sich Kant gegenüber mehr als lobend. In der Schrift >Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele< erinnert er 1778 an Burkes Theorie des Erhabenen und des Schönen »- eine Theorie, über die ich ihn, ob sie gleich unter edlen Geschäften und Gesinnungen nur Spiel, nur Erholung für ihn war, fast beneide.«26 Die genannte Schrift Herders setzt mit einem Gedanken ein, der in den Kontext von Herders >Plastik< gehört, die im selben Jahr 1778, nach Vorfassungen 1769 (im >vierten kritischen WäldchenSymbolisierungDer SymbolBegriff in der neuesten Aesthetik< von 1876, die wegweisend für die weiteren Auseinandersetzungen wurde, »wie es denn komme, daß uns die Naturformen unwillkürlich auffordern, sie durch unsere Gefühle und Stimmungen zu beseelen, also uns aus dem Seelenlosen, Aeußerlichen, G r o b materiellen unser intimstes, feinstes, zartestes Seelenleben entgegenblicken zu lassen.« 29 A u f die Modifikationen, die in der Einfühlungsdiskussion des 19. Jahrhunderts an Herders Standpunkt angebracht werden, ist noch einzugehen. Zunächst einmal sollte die Vorläuferschaft Herders nur angedeutet werden. Und die Modifikationen sind nicht sehr groß. E s wird sich zeigen, daß praktisch alle zentralen Argumente und Ideen wenigstens in Ansätzen bei Herder schon erscheinen. Das Seitenstück zu >Vom Erkennen und Empfind e n ist Herders >PlastikFühlens< ganz ursprünglich und wörtlich genommen wird. b) Condillacs Statue und der philosophiegeschichtliche Kontext von Herders Analyse der plastischen Erfahrung In der repräsentativen systematischen Ästhetik v o m Standpunkt der Einfühlungstheorie aus, in Johannes Volkelts >System der ÄsthetikKritischen Wäldchen*, ebd., S. 1 1 zf. — Ein grundsätzliches Problem sind die Stufen der Bearbeitung des Gegenstandes bei Herder. Die — sieht man einmal von der Wiederaufnahme einiger Theoreme in der >Kalligone< (1800) ab letzte, das heißt, die einzige von Herder selbst veröffentlichte Behandlung des Problems, die >Plastik< von 1778, ist für den hier gesuchten Zusammenhang am wenigsten interessant, denn sie nimmt, wie Proß gezeigt hat, einiges von den individualisierenden Tendenzen der früheren Behandlung zurück. »Die zweite Fassung, die 1778 veröffentlicht wird, verstärkt diese Haltung [daß das Moment des Lebendigen schon in der ersten >Plastik< »von Anfang an gefesselt« sei — G . B . ] um ein entscheidendes Moment: Die Tendenz zur Einschränkung des sinnlichen Ausdrucks, seiner Individualisierung in den idealischen Formen einer gebändigten Linienführung nähert H. nicht nur dem von ihm kritisierten Winckelmann, sondern auch Lavater selbst an. Daß H. ausgerechnet Lavater gegegenüber erklärt, der Marmor einer Statue müsse eigentlich »verschwinden«, sich auflösen als Phänomenon und damit Trug einer idealischen Wirklichkeit, bedeutet in Fragen der Plastik eine Annäherung an den 1769 gegenüber Mendelssohn so heftig kritisierten Piatonismus und ein Bekenntnis zum Klassizismus« (Proß im Kommentar zur >Plastikobjektive< wissenschaftliche Erkenntnis entscheidend sei.36 Aber bereits bei Aristoteles 57 wird andererseits der Tastsinn in der Weise als fundamental aufgefaßt, als er die Voraussetzung für die >höheren< Sinne wie Gesicht und Gehör ist, die ohne ihn nicht bestehen können. Auch Gassendi, in Teilen seines Werkes ein Vorläufer des Sensualismus des 18. Jahrhunderts, setzt um die Mitte des 17. Jahrhunderts eine Stufenfolge an, »die von einem allgemeinen Grundgefühl, eben dem Tastsinn als der Urform aller übrigen Sinnesempfindungen, ausgeht.« 38 Gassendis philoso-

" Herder meint im Kontext der Plastik — und auch sonst gewöhnlich — mit >Gefühl< zumeist den Tastsinn. Gert Mattenklott, Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers, 1982, S. 62f. und S. 97. " Vgl. die Hinweise bei Proß im Nachwort zum zweiten Band seiner Herder-Ausgabe, hier S. 1 1 6 5 f f . ; s. auch den Problemaufriß bei Jürgen Manthey, Wenn Blicke zeugen könnten, 1983, S. 195—209: Hand vor Augen: Der Prioritätsstreit der Sinne — Die Geschichte vom edlen Blinden. — Vgl. daneben Henning Klauß, Zur Konstitution von Sinnlichkeit in der Wissenschaft, 1990, bes. S. 5 i f f . (zur philosophischen Wertung des Gesichtssinnes); klassischer Essay: Hans Jonas, Organismus und Freiheit, 1973, S. 198—22; (>Der Adel des SehensExkurs über die Soziologie der Sinne< seiner >Soziologie< (Georg Simmel, Soziologie, [1908], 1992, S. 722— 742, hier S. 72 3 ff.).

i4

>6 17

64

Werner Kutschmann, Der Naturwissenschaftler und sein Körper, 1986, S. iÓ4ff. De anima 415 a 4 (insgesamt: De anima II, cap. V I I - X I I ) . Proß, Nachwort zu Herder, Werke II, S. 1166. — Kutschmann weist darauf hin, daß Descartes »von den grundsätzlichen Prämissen seines Weltbildes her eine Präferenz für eine andere als die optisch-eidetische Wahrnehmungsform, nämlich für die schlicht mechanische Wirkungsübertragung bzw. deren sinnlichen Rezeptor, den taktilen Sinn« habe. Das bedeutet: »Für Descartes ist der Tastsinn der

phiehistorische Leistung" liegt vor allem in seiner Kritik des cartesianischen Rationalismus, und in diesem größeren Kontext stehen auch noch Herder und die sensualistischen Autoren, auf die er sich bezieht, allen voran Condillac. 40 Im >Traité des Sensations< von 1754 stellt Condillac jenes - nicht von ihm erfundene, 41 aber durch ihn berühmt gewordene - Gedankenexperiment an, in welchem eine Statue sukzessive mit einzelnen Sinnen begabt wird. Ausgangspunkt ist der Geruchssinn, von dem aus nach und nach alle anderen eingeführt werden. Der Tastsinn hat dabei eine Schlüsselstellung, insofern allein er dem Subjekt unzweifelhaft die Existenz von Dingen der Außenwelt nahebringt, während alle anderen >sensations< sich nur als Modifikationen der Seele zu erkennen geben. Daß der Tastsinn der >einzige Sinn< ist, »der durch sich selbst über Außendinge urteilt«,42 hängt mit seiner spezifischen Reflexivität zusammen. Nur bei ihm kann das Ich zugleich Subjekt und Gegenstand der Empfindung sein: Wenn die Statue »ihre Hände auf sich selbst« legt, 4 ' etwa auf ihre Brust, dann wird folgendes geschehen: »Dann werden ihre Hand und ihre Brust sich an der wechselseitigen, sie notwendig auseinanderhaltenden Empfindung ihrer beiderseitigen Festigkeit unterschieden. Jedoch wird die Statue, indem sie ihre Brust von ihrer Hand unterscheidet, ihr Ich in beiden wiederfinden, weil sie sich in allen beiden gleicherweise empfindet.« 44 Wenn nun die Hand nicht auf den eigenen Körper, sondern auf einen festen Gegenstand außerhalb gelegt wird, »so fühlt sich das Ich wohl in der Hand, aber nicht auch in diesem Körper modifiziert. Wenn die Hand »Ich« sagt, so erhält sie nicht dieselbe Antwort.« 4 ' Das

paradigmatische und zentrale Sinn, auf dessen Wirkungsprinzip alle anderen Sinne reduziert werden können.« (Der Naturwissenschaftler und sein Körper, S. 168). Diese Einschätzung des Tastsinnes bei Descartes steht jedoch in einem anderen systematischen Kontext als bei Herder und hat letztlich auch ganz andere Konsequenzen (vgl. ebd., S. 164). " Z u Gassendi allgemein vgl. Wolfgang Rod, Die Philosophie der Neuzeit 1, 1978, S. 82-92. 40 Eine einführende Darstellung von Condillacs Werk findet sich bei Rod, Philosophie der Neuzeit 2, 1984, S. 204—212. 41 Ebd., S. 20;; vgl. allgemein auch: Hans Aarsleff, From Locke to Saussure, 1983, S. 2ioff.: Concillac's Speechless Statue. 44 Condillac, Abhandlung über die Empfindungen, hrsg. von Lothar Kreimendahl, 1983, S. 66. Es handelt sich um die Überschrift des ganzen zweiten Teils des >Traitésich< zu fühlen. In jedem tastenden Fühlen, auch wenn es einem äußeren Gegenstand gilt, fühlt das Ich zugleich sich selbst als Widerstand erfahrendes. »Solange die Statue nur sich selbst mit den Händen berührt, kommt es ihr vor, als wenn sie alles wäre, was existiert. Allein wenn sie einen fremden Körper betastet, so fühlt sich das Ich wohl in der Hand, aber nicht auch in diesem Körper modifiziert.« 47 Das Ich fühlt sich da im Tasten ein undurchdringlicher Körper auf einen anderen stößt - im Körperorgan verändert. Die Erfahrung dieser Veränderung ist die Erfahrung des Ichs. In der etwa 1770 entstandenen Nachlaß-Skizze >Vom Sinn des Gefühls< schreibt Herder jene genau in den Zusammenhang von Condillacs Argumentation gehörige Formel, die als explizites sensualistisches Gegenstück zu Descartes' cogito angesehen werden muß: »Ich fühle mich! Ich binZ«4' Herder wählt nicht die Statue Condillacs, sondern den blindgeborenen Philosophen

46

Ebd. — »empfindende« verbessert aus »empfindenede«. Ebd. 4 ' Werke, hrsg. von Wolfgang Proß, Bd. II, S. 244. - Proß folgt im Text der ersten und maßgeblichen Edition von Hans Dietrich Irmscher, Aus Herders Nachlaß, S. 286-290. - Vgl. hierzu Irmscher, Grundzüge der Hermeneutik Herders, S. 33: »Dies [das >Ich fühle mich! Ich bin!< — G . B . ] ist zweifellos als Kontrafaktur zu der cartesianischen Formel >cogito: ergo sum< gemeint, mit der der Philosoph die Quelle aller Gewißheit glaubte angegeben zu haben. Herder aber setzt an die Stelle des Denkens [. . .] die Erfahrung der eigenen Leiblichkeit als einzig verläßlichen Ursprung der Selbst- und Welterkenntnis.« — Gerhard Sauder zeigt eindrücklich, daß Herders Formel in einer dichten Diskussion über >Selbstgefühl< und >Selbstbewußtsein< in den siebziger und achtziger Jahren in Deutschland steht: Empfindsamkeit, Bd. 1, 1974, S. 2 i i f f . ; zu Herder bes. S. 213. 47

66

als Demonstrationsbeispiel: »Er fühlt sich selbst: seine Glieder und hat sie sich erklärt«.49 Es geht also, das sollte der Hinweis auf die Schrift Condillacs zeigen, bei Herders Formel nicht um eine schlichte Entgegensetzung oder ein ergänzendes Seitenstück zum cartesianischen Cogito. Der Satz >Ich fühle mich< rekurriert nicht auf Empfindungen allgemein, sondern legt einen Akzent auf den Tastsinn, denn nur der verfügt über die immanente Reflexivität, die eine dem reflexiven Zweifel gegenüberzustellende Konstruktion erlaubt. Dabei gilt für Herder dasselbe wie für Condillac: daß nicht erst die Selbstberührung die Reflexivität des Fühlens offenbart, sondern »daß das Fühlen des Anderen« bereits »das Fühlen des Fühlens ist.«' 0 Dem eigentlichen Tasten als dem Gewahrwerden des Selbst noch vorgelagert ist — bei Condillac wie bei Herder - ein zunächst nicht modifiziertes Gemeingefühl. Dieses >sensorium commune« 1 ' ist bei Condillac der Ausgangspunkt für die Erkundungen zum Tastsinn. § ι. Grundgefühl der Statue Unsere Statue existiert, wenn sie Geruch, Gehör, Geschmack, Gesicht entbehrt und auf den Tastsinn beschränkt ist, zunächst vermöge des Gefühls, das sie von der Einwirkung ihrer Körperteile aufeinander und besonders von den Atmungsbewegungen hat. Das ist der geringste Grad des Gefühls, auf den sie beschränkt werden kann. Ich werde es »Grundgefühl« nennen, weil mit diesem Spiel der Maschine das animalische Leben beginnt; von ihm hängt alles a b . "

In der Folge behauptet Condillac, daß die Statue >Ich< sagen könne, »sobald eine Veränderung mit ihrem Grundgefühl vorgegangen ist. Dieses Gefühl und ihr Ich sind demnach ursprünglich ein und dasselbe [. . .].«" In der erst jüngst als Werk Condillacs identifizierten Preisschrift für den Wettbewerb der Berliner Akademie von 1747, die zusammen mit sechs weiteren Beiträgen 1748 anonym veröffentlicht worden war, hatte er den Körper ganz allgemein zur Grundlage des Selbstbewußtseins gemacht: »Die Seele ist mit dem Körper derart vereinigt, daß wir uns unserer selbst nur insoweit bewußt sind, als wir die Schwere unseres Körpers fühlen«. 54 4

» Werke, hrsg. von Wolfgang Proß, Bd. II, S. 244. Hans Adler, Die Prägnanz des Dunklen, 1990, S. 1 1 0 . " Vgl. Proß im Kommentar zur Sprachursprungsschrift: Herder, Werke ed. Proß, Bd. II, S. 947, und hier S. 970: »Der Begriff des »sensorium commune« umfaßt sinnliche Perzeption und verstandesmäßige Apperzeption in noch ungeschiedenem Zustand, in dem nur ein steter Wechsel »heller« und »dunkler« Eindrücke herrscht; seit Leibniz und Stahl ist dies ein wichtiger Begriff der Psychophysiologie.« " Condillac, Abhandlung über die Empfindungen, S. 66 (Teil II, Kap. 1, § 1). — Vgl. den franz. Text, S. 89: »Je l'appellerai sentiment fondamental [. . .]«. 53 Condillac, Abhandlung über die Empfindungen, S. 66. 14 Les Monades, II, I; zit. nach der Anm. des Herausgebers Kreimendahl in >Ab,0

67

D a s k ö n n t e a u c h s o v e r s t a n d e n w e r d e n , daß bereits v o r aller W a h r n e h m u n g d u r c h die äußeren S i n n e S e l b s t b e w u ß t s e i n allein d u r c h das G e m e i n g e f ü h l k o n s t i t u i e r t w ü r d e . " D o c h folgt m a n der A r g u m e n t a t i o n i m >TraitéIch< sagen, s o b a l d eine V e r ä n d e r u n g i m G r u n d g e f ü h l eintritt. W e n n i m A n s c h l u ß an diese

Feststellung

d a n n dieses G r u n d g e f ü h l mit d e m >Ich< identifiziert w i r d , d a n n bedeutet das k e i n e s w e g s , daß mit d i e s e m >Ich< a u c h s c h o n S e l b s t b e w u ß t s e i n D a v o n kann — und Condillac angesichts einer Veränderung

formuliert

vorliegt.

hier sehr g e n a u — v i e l m e h r erst

des G r u n d g e f ü h l s die R e d e sein, w i e sie i m

B e t a s t e n des e i g e n e n o d e r eines f r e m d e n K ö r p e r s statthat. E r s t d a n n w i r d dieses G r u n d g e f ü h l derart m o d i f i z i e r t , daß das mit i h m zu i d e n t i f i z i e r e n d e nicht n u r I c h ist ( w i e i m u n m o d i f i z i e r t e n G r u n d g e f ü h l ) , s o n d e r n >Ich< sagt, daß das I c h also sich selbst hat·. D a s ist C o n d i l l a c s B e g r i f f v o n

Selbstbe-

wußtsein. A n dieses K o n z e p t eines d u r c h K ö r p e r m o d i f i k a t i o n induzierten Selbstb e w u ß t s e i n s k n ü p f t H e r d e r a n . ' 6 Z u B e g i n n des v i e r t e n >Kritischen W ä l d -

handlung über die Empfindungen^ S. 219, Anm. 17. - Die Zuschreibung an Condillac gelang erst 1980 durch Laurence C. Bongie (vgl. Proß, Nachwort zu Werke II, S. i2o6f., Anm. 38). - Im Original lautet das Zitat: »L'union de Tarne avec le corps est telle que nous n'avons conscience de nous-mêmes qu'autant que nous sentons le poids de notre corps.« (Etienne Bonnot de Condillac, Les Monades (1747/48), ed. Laurence L . Bongie, 1980, S. 145). — Vgl. hierzu Kreimendahl, Condillac und die Monaden, 1982, S. 282f. " Schon in der Stoa gibt es die Auffassung, daß wir uns durch den Gemeinsinn ( κ ο ι ν ή α ϊ σ ό η σ ι ς , latinisiert >coenaesthesisGemeinempfindungen< wiedergegeben) selbst wahrnehmen. (Vgl. Eisler, Handwörterbuch der Philosophie, 1 9 1 5 , S. 240, mit Hinweis auf Stobaeus, Ecloga I, ;o). — Z u erinnern ist an die berühmte Analyse des >sensus communis< bei Gadamer (Wahrheit und Methode, 4. Aufl. 1975, S. 16-27), der eine Fülle von Aspekten einbezieht und auch die von Aristoteles sich herschreibende psychologische Lesart nicht vergißt. — Die psychologische Forschung des 19. Jahrhunderts (ohne Bezug auf Condillac oder Herder) ist repräsentiert in den Arbeiten von Ernst Heinrich Weber (Tastsinn und Gemeingefühl, 1846) und Eugen Kröner (Das körperliche Gefühl. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Geistes, 1887). Auch der Philosoph und Kunstwissenschaftler Max Dessoir, bei dem Alfred Döblin in Berlin studierte, beteiligte sich an der Diskussion mit einer gewichtigen physiologisch-experimentellen Arbeit: Ueber den Hautsinn, 1892; Dessoir beginnt seine Studie mit dem Satz: »In den folgenden Auseinandersetzungen wird der Versuch gemacht, eine Physiologie des >niedersten< Sinnes zu skizzieren.« (Ebd., S. 175). >6

68

Allerdings muß einschränkend darauf hingewiesen werden, daß es keine Hinweise auf Herders Rezeption von Condillacs >Traité< für die Zeit um 1769 gibt: »Ob Herder das Werk selbst um 1769 schon gekannt hat, ist nicht zu erweisen.« (Irmscher, Zur Ästhetik des jungen Herder, S. 65). Irmscher betont aber, daß Herder — nicht zuletzt aus einer von ihm gehörten und nachgeschriebenen Vorlesung Kants - die bereits von Berkeley, Voltaire, Condillac und Diderot diskutierten Beobach-

chens< p o l e m i s i e r t er g e g e n einen v e r w a s c h e n e n B e g r i f f des >sensus c o m munis«, w i e er ihn bei F r i e d r i c h J u s t R i e d e l v o r f i n d e t . R i e d e l definiert, u n d H e r d e r zitiert ihn: » D e r sensus communis ist das innere G e f ü h l der Seele, w o d u r c h sie o h n e V e r n u n f t s c h l ü s s e v o n der Wahrheit o d e r F a l s c h h e i t einer S a c h e u n m i t t e l b a r ü b e r z e u g t w i r d . « ' 7 D a g e g e n d e m o n s t r i e r t H e r d e r , daß es b e i m >sensus c o m m u n i s « nicht u m ( w e n n a u c h u n m i t t e l b a r e , g e f ü h l s h a f t e ) Erkenntnis

einer S a c h e g e h e n k ö n n e , da eine s o l c h e E r k e n n t n i s i m m e r die

F o r m eines Urteils haben m ü s s e u n d f o l g l i c h kein u n m i t t e l b a r e s

Gefühl

m e h r sei. H e r d e r b e h a r r t , so k ö n n t e m a n s a g e n , a u f d e r p s y c h o l o g i s c h e n und ä s t h e s i o l o g i s c h e n G r u n d b e d e u t u n g des Wortes >sensus communis«. Was daraus f o l g t , ist H e r d e r s e i g e n e r A n s a t z z u einer sensualistischen B e g r ü n d u n g v o n S u b j e k t i v i t ä t , die das S u b j e k t nicht i m a u f sich selbst gerichteten cogito f u n d i e r t , s o n d e r n i m G e g e n z u g zu D e s c a r t e s dieses cogito als seinerseits im G e m e i n g e f ü h l gegründet erweist: Unmittelbar, durch ein inners Gefühl bin ich eigentlich von nichts in der Welt überzeugt, als daß ich bin, daß ich mich fühle. Diese Wahrheit allein wird ohne Schlüsse innerlich erkannt, und der Skeptiker, der sie einen Augenblick leugnen [. . .] wollte: der wäre um einen Grad ein größerer Tor, als es der entschlossenste Egoist und Idealist sein können. E r will das Ich durch Vernunftschlüsse erwiesen haben, was doch selbst diese Vernunftschlüsse machen müßte: er will an Vernunftschlüssen nicht zweifeln und zweifelt an der Basis von Empfindung, worauf sie ruhen, und die sie bloß modificieren können: er ist, wenn er sein könnte, ein Tor. Dies innere Gefühl also ist der erste und wahre sensus communis der Menschheit, der unmittelbar und ohne Schlüsse und Urteile erlangt wird. 1 ' tungen des englischen Arztes Cheselden über die Fähigkeiten eines erfolgreich Star-Operierten gekannt hat. (Ebd., S. 64). Herder führt sie im vierten >Kritischen Wäldchen« (etwa Werke ed. Proß, Bd. II, S. 102) an. — Irmscher weist daneben auf eine der Herderschen verwandte Argumentation in Rousseaus >Emile< hin (Zur Ästhetik des jungen Herder, S. 65): »Wir werden uns, heißt es dort, unserer selbst in den Erfahrungen widriger oder förderlicher Eindrücke bewußt. Gefühlseindrücke seien die ersten Empfindungen. Ein Kind wolle alles berühren. Durch die eigene Bewegung lerne es so, Gegenstände außer sich und den Begriff der Ausdehnung kennen. Der Tastsinn ist daher der wichtigste unter den Sinnen, denn er liefert zwar unvollkommene, aber sichere Erfahrungen im Gegensatz zum Sinn des Gesichts.« " Herder, Werke ed. Proß, Bd. II, S. 59. - Hier wird das vierte >Kritische Wäldchen« nach der Ausgabe von Proß zitiert. Trotzdem sei auch auf die Ausgabe von Regine Otto verwiesen (Kritische Wälder, 1990, Schriften zur Literatur Bd. 2/1 und 2/2), die vor allem durch den gesonderten ausführlichen Kommentar- und Registerband wichtig ist. Herder, Werke ed. Proß, Bd. II, S. 61. - Vgl. Irmscher, Zur Ästhetik des jungen Herder, S. 56 und 63. — Herder benützt den Begriff des >sensus communis« auch in jener anderen und vielleicht bekannteren Bedeutung: als politisch-ethisch relevanten >gesunden Menschenverstand«, als Sinn für das Gemeinwesen (etwa Werke ed. Proß, Bd. II, S. 625): »Es gibt eine allgemeine Menschen-Denkart, wie es eine allgemeine Menschen-Empfindung gibt; denn nur aus dieser wird jene. Wir pflegens

69

Damit ist der Hintergrund für Herders Hochschätzung des Tastsinnes im Kontext der >Plastik< angedeutet. Erst im Zusammenhang der sensualistischen Debatte über das Selbstbewußtsein und über das C o g i t o als Basis der Philosophie wird die eigentliche Tragweite und der prinzipielle Charakter v o n Herders Analyse des >Gefühls< deutlich. In einem philosophisch durchaus strikten Sinne geht es demgemäß in Herders Analysen zum Tastsinn — aktualisierend formuliert — immer um >SelbsterfahrungPlastik< gilt es im folgenden darzustellen: seine Ästhesiologie des Tastsinnes und die aus ihr resultierende ästhetische Konzeption, die ihrerseits im Hinblick auf die Einfühlungstheorie des späteren 19. Jahrhunderts zu konturieren ist. »Welches G e f ü h l entwickelt sich in den ersten Tagen der Kindheit zuerst? Gefühl: also auch in der Erziehung. A u s welchem Sinne die übrigen? aus Gefühl«. 60 Bei Herder wird die Priorität des Tastsinnes nicht allein philosophisch-systematisch,

sondern

auch

anthropologisch-ontogenetisch

be-

gründet. In einem anderen Fragment aus den Vorstudien zur >Plastik< heißt es entsprechend: »Entwicklung des Gefühls in den ersten Augenblicken der Kindheit. Wie ein K i n d die ersten Begriffe fühlend bekommt. In welcher Ordnung? D a ß oft die abstraktesten Begriffe die ersten Fühlideen sind. Die erste Ontologie des Gefühls: v o n Seyn, A u ß e r uns seyn, Raum, Zeit, Kraft, K ö r p e r usw.« 6 ' Herder nimmt das Wort >Begriff< ganz wörtlich und skizsens commuti, allgemeinen Menschenverstand bestimmtes

und

daher

z u n e n n e n : ein s e h r m i ß b r a u c h t e s w e n i g

sehr a n g e f o c h t n e s

Wort.« Was

Herder

hier

andeutet,

s c h e i n t m i r bis h e u t e n i c h t recht r e f l e k t i e r t z u sein: D a s V e r h ä l t n i s der b e i d e n B e d e u t u n g s v a r i a n t e n z u e i n a n d e r . Z u m i n d e s t s o l l t e bei e i n e r

politisch-ethischen

V e r w e n d u n g b e d a c h t w e r d e n , d a ß die p s y c h o l o g i s c h e die u r s p r ü n g l i c h e r e

Ver-

w e n d u n g s w e i s e ist ( v g l . A r i s t o t e l e s , D e a n i m a , III 1, 425 a 15 ff.). "

I n d i e s e m S i n n e aktualisiert u n d p r o p a g i e r t w i r d H e r d e r s P o s i t i o n bei R o l f S p e m a n n , P l a s t i s c h e s G e s t a l t e n . A n t h r o p o l o g i s c h e A s p e k t e , 1984, v o r allem S. 17—44; v g l . a u c h S. 60, w o S p e m a n n s c h r e i b t (im K o n t e x t eines k r i t i s c h e n R e s ü m e e s z u A d o l f v o n H i l d e b r a n d s >Relieftheorie< - in d e r d i e W i r k u n g u n d das W e s e n d e r Plastik als D e r i v a t d e s S e h s i n n e s b e h a u p t e t w i r d - u n d ihrer bis in d i e G e g e n w a r t a n d a u e r e n d e n W i r k u n g ) : » S o w i r d eine 90 J a h r e alte, e i n s e i t i g v e r h ä r t e t e T h e o r i e w i e d e r u n d w i e d e r z u r G r u n d l a g e n e u e r Ü b e r l e g u n g e n g e w ä h l t , o b g l e i c h v o r 200 J a h r e n die G e d a n k e n J o h a n n G o t t f r i e d H e r d e r s in a n t h r o p o l o g i s c h e r S i c h t d e m W e s e n des P l a s t i s c h e n [!] G e s t a l t e n s w e i t n ä h e r g e k o m m e n sind.«

60

Herder, V o m

G e f ü h l des S c h ö n e n u n d P s y c h o l o g i e ü b e r h a u p t , in: W e r k e

ed.

S u p h a n , B d . 8, S. 99—103, hier S. 102 (aus d e n V o r s t u d i e n z u r >PlastikPlastik< f o r m u l i e r t : Selbst im Metaphysischen Verstände was ists anders, als Gefühl, was unsre sinnliche Existenz weckte, und die ersten Versuche unsres neuen Lebens bildete? Noch empfand der zum Säuglinge gewordne Embryo Alles in sich: aus einem Zustande, w o er nur eine empfindende Menschliche Pflanze gewesen war, ward er auf eine Welt gesetzt, w o er ein Menschliches Tier zu werden beginnt. Bei jeder sinnlichen Empfindung wird er, wie aus einem tiefen Traume geweckt, und durch einen empfindbaren Stoß lebhafter an eine Idee erinnert, die seine gegenwärtige Lage in der Welt veranlasset. Da entwickeln sich seine innere Kräfte durch eine Beschränkung von Außen, durch ein leidendes Gefühl von andern; aus dem zarten Keime des Pflanzengefühls strebt der ganze werdende Baum hervor. 6 ' A l s einziger S i n n k o n f r o n t i e r t der Tastsinn das S u b j e k t mit der Solidität der A u ß e n d i n g e u n d der G r e n z e des eigenen L e i b e s . D a s sind die beiden Seiten desselben P r o z e s s e s . » D i e Seele f ü h l e t sich in die Welt hinein. D a sie in ihren K r ä f t e n d u r c h R a u m und Z e i t e i n g e s c h r ä n k t ist: so k a n n sie nicht alles u n m i t t e l b a r e r k e n n e n : einiges aber, u n d dies w i r d ein S p i e g e l des A n d e r n : 61

Ebd., S. 408. » Werke ed. Proß, Bd. II, S. 408. - Im vierten britischen Wäldchen< (ebd., S. 81 f.) formuliert Herder ähnlich schön. Proß weist darauf hin, daß mit der Wendung, die Seele werde durch die taktile Konfrontation mit der Welt aus ihrem >Traum< geweckt, die Verbindung zu den Untertiteln der beiden Schriften aus dem Jahre 1778 hergestellt wird. Der Untertitel der >Plastik< lautet ja in der gedruckten Fassung: »Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume«; und die Schrift ¡Vom Erkennen und Empfinden< trägt in der letzten Fassung den Untertitel »Bemerkungen und Träume«. (Vgl. Proß, ebd., S. 1006).

6

7

das ist der Leib.« 6 4 So lautet Herders Version der Konstitution von Subjekt und Objekt-Welt in ein und demselben Vorgang. Und derart erläutert er das Erwachen des »Bewußtseins im Zusammenstoß mit der Außenwelt« 6 ' als Erwachen des Individuums aus einem Traum. Indem das werdende Ich fühlend — nicht schon (intentional) >tastendPlastik< zwar nicht im Zentrum der Uberlegungen stehen, aber dennoch unübersehbar sind. Die These, der Tastsinn liefere die Urform der Sinneswahrnehmung, aus der sich die anderen Formen entwickelten, steht bis zu einem gewissen Grad in Konflikt mit der durch Herder von Berkeley und Condillac übernommenen Auffassung von der prinzipiellen Heterogenität der verschiedenen Sinneswahrnehmungen. 72 Herders Kritik am Sehsinn versucht ja über weite Strecken zu zeigen, daß dieser sich Leistungen anmaßt, für die er eigentlich keine Kompetenz hat. Genau genommen, zeigt Herder auch nicht, wo sich etwa der Sehsinn aus dem Tastsinn wirklich entwickle. Stattdessen kritisiert er variantenreich, wie das Gesicht das Gefühl überlagert, verdrängt und verkürzt. Der Gesichtssinn, der »durchaus nichts von Form und von Gestalt«7! wisse, soll uns Auskunft über sie geben, obwohl das über seine Zuständigkeit hinausgeht. Die von Herder als >unlogisch< und >unphysisch< bezeichnete »Vermischung« der Sinne ist nach ihm der Grund für viele »Irrtümer« in der Erfassung der Welt und des Schönen. 74 Wie geht diese >Vermischung< vor sich? N u r da w i r v o n K i n d h e i t auf alle Sinne in allen gemeinschaftlichen Verbindungen gebrauchen; freilich so gatten sich insonderheit der gründlichste und der deutlichste der Sinne, G e f ü h l und Gesicht. Die schweren B e g r i f f e , die w i r uns auf der Oberfläche aller G e g e n s t ä n d e langsam und mit M ü h e ertappen, werden immer v o n Ideen des Gesichts begleitet; endlich werden sie uns so g e l ä u f i g , daß w i r das mit dem ersten Blick w e g h a b e n , was w i r v o r m a l s ertasten mußten. D a s Bild der K ö r p e r , das so o f t ins A u g e g e w o r f e n ward, und sich in der Seele immer mit dem Gestaltbegriff des G e f ü h l s zusammenfand, wird endlich mit diesem untrennbar:

E n t f e r n u n g werden ausschließlich durch E r f a h r u n g , und das heißt durch den Tastsinn g e w o n n e n . D e r Tastsinn leiht gleichsam dem Gesicht seine tatsächlichen oder möglichen E r f a h r u n g e n . « 71

Werke ed. Suphan, B d . 8, S. 104.

™ D i e Plastik setzt in beiden Fassungen mit der Diskussion von drei berühmten >Fällen< ein (der »Blindgeborne v o n Puiseaux«, der »blinde Saunderson« und der v o n Cheselden geheilte Blindgeborene; Werke ed. Proß, B d . II, S. 4 9 } f . und 465f.), die v o r allem eines lehren: »daß es eigentlich völlig geteilte G r e n z e n , wie zwischen Gesicht und G e f ü h l , so auch zwischen Fläche und K ö r p e r gebe: daß wie das G e f ü h l nichts v o n eigentlicher Fläche und Farbe, so wisse das Gesicht, als solches, Nichts v o n F o r m und Gestalt [. . .].« ( E b d . , S. 4 o ; f . ; v g l . ebd., S. 4 6 7 ^ . 71 74

Werke ed. Proß, B d . I I , S. 102. E b d . , S. 1 0 } .

73

wir glauben zu fühlen, w o wir nur sehen: wir fühlen auf eine Art wirklich, wenn wir sehen: wir übersehen endlich so viel und so schnell, daß wir nicht mehr fühlen, auch da, w o wir nicht sehen, sondern fühlen sollten. 7 '

Das Gesicht entwickelt sich also keineswegs organisch aus dem Gefühl, sondern wird durch Konvention in ständiger Übung an dieses gekoppelt. Das Ergebnis ist eine Aufblähung des einen und eine Verarmung und Vernachlässigung des anderen, oder - auf die Erkenntnis der Außenwelt gewendet — eine Täuschung der Wahrnehmung: »Der Körper ist Bild, seine volle Form ist hingeworfne Figur geworden: der solide Würfel ist eine projektierte Zeichnung, und die runde leibhafte Bildsäule ein flacher Kupferstich, bei dem sich nur das Auge des Gefühls erinnert. Wir sehen, als ob wir fühlen, und fühlen, als ob wir sähen.« 76 Herders Intention liegt nun nicht so sehr in einer Abwertung des Sehsinnes, 77 er wolle, betont er im vierten >Kritischen WäldchenLaokoon< - um eine Entwirrung des Knäuels, um eine Grenzbestimmung. Der Ausgangspunkt ist jedoch, wie angedeutet, anders als bei Lessing, ästhesiologisch; das Telos der Argumentation jedoch ist hier wie dort ästhetisch: Es sollen Grundsätze für die Ästhetik der Bildhauerkunst durch Abgrenzung gegenüber der Malerei gewonnen werden. Herder charakterisiert den Sehsinn 79 als den klaren, hellen Sinn, der im Nu das Ganze einer Fläche, eines Arrangements, erfaßt. Er ist der schnelle Sinn der Oberfläche. Er liefert Bilder. 80 Diese Bilder sind als Bilder von Dingen der Welt bereits auf der Netzhaut des Auges Täuschung und Illusion, welche diesen Dingen ihre Tiefe, der Umwelt ihre Räumlichkeit nehmen. Was der Sehsinn von der Welt gibt, ist im Wortsinne, aber auch im metaphorischen Sinne, flach. Mein Gesichtskreis ist eigentlich Gesichtsfläche, eine große Bildertafel, w o sich die Erscheinungen der Natur, wie in einem Continuum neben einander vorspiegeln. Was ich von jedem Gegenstande vor mir sehen kann, ist — was in ihm vor mir ist,

71

Ebd., S. 4 1 0 (erste Fassung der >PlastikPlastik< die Malerei als die entsprechende Kunstform von der Bildhauerei, die dem Tastsinn gemäß sei, abgrenzt und diese eingehend analysiert. Der Tastsinn ist, wie es scheint, in jeder Hinsicht dem Sehsinn unterlegen. Er ist langsam, schwerfällig und dunkel. An der letzten Bestimmung, die in der >Plastik< vielfach verwendet wird, 8 ' ist die grundsätzliche Bedeutung von Herders Analyse erkennbar. 8 6 Mit dem Gesichtssinn, mit dem Helligkeit, Klarheit, Deutlichkeit assoziiert sind, wird das Paradigma der Aufklärung in seine Grenzen verwiesen. 8 7 »Nichts ist schneller, klärer,

" !¡ !)

E b d . , S. 406. E b d . , S. 4o6f. E b d . , S. 407. Ebd.

' ' Vgl. die N a c h w e i s e bei A d l e r , Die Prägnanz des D u n k l e n , S. 1 0 3 , A n m . 78. " Hans A d l e r zentriert sein ganzes B u c h auf diesen Punkt. Vgl. hierzu A d l e r , D i e Prägnanz des D u n k l e n , S. i 0 4 f . , über Herders in der Kritik des Sehsinnes v e r b o r g e n e A u f k l ä r u n g s k r i t i k : »In seinen A u g e n ist nominaldefinitorisch fundiert betriebene A u f k l ä r u n g eine V e r d u n k l u n g , ein Sachverhalt, den die Lichtmetaphorik verschleiert. E b e n das K l a r e , Deutliche bleibt, weil ihm keine subjektive E r f a h r u n g entspricht, solange bloßes Wortspiel, w i e die Folie des Hellen gnoseologisch unfaßbar ist. D e r A f f r o n t , den Herder in mehreren Schriften im G e w ä n d e einer im engeren Verstände ästhetischen A b h a n d l u n g formuliert, ist total: der >philosophischste< Sinn, das Gesicht, kann, f ü r sich g e n o m m e n , nie zur Wahrheit führen. Sein philosophisches A n a l o g o n , die nur intellektualistische und rationalistische A u f k l ä r u n g , ist »Traum«. D e r dunkelste Sinn, das G e f ü h l dagegen erfaßt Realität authentisch und begreift Wahrheit.«

75

überleuchtender als Sonnenstrahl und unser Auge auf seinen Flügeln: eine Welt außer und neben einander wird ihm auf Einen Blick offenbar.« 88 Der Sehsinn ist die Metapher des Vernunftoptimismus und des Rationalismus. Es ist nicht zu leugnen, daß von dieser Höhe Viel sollte übersehen und Vieles des Vielen sehr klar, licht und deutlich gemacht werden können. Das Gesicht ist der künstlichste, Philosophischte [!] Sinn. Es wird durch die feinsten Übungen, Schlüsse, Vergleichungen gefeilt und berichtigt, es schneidet mit einem Sonnenstrahle.' 9

Eine daran anknüpfende Ästhetik müßte nicht unbedingt deduktiv, vom allgemeinen Begriff des Schönen ausgehend, verfahren. Herder entwirft eine — von ihm aber ausdrücklich nicht in sein Vorhaben einbezogene — Ästhetik >von unten< als eine auf den Sehsinn rekurrierende »Phänomenologie des Schönen, eine Philosophie des schönen Augenscheins, die wir — zuverlässig noch nicht haben.«' 0 Daß eine vom Tastsinn ausgehende Ästhetik einer auf den Sehsinn aufbauenden keineswegs unterlegen sei, sondern im Gegenteil eine unverzichtbare Basis jeder Ästhetik darstelle, versucht Herder einsichtig zu machen. Denn mit einer Phänomenologie des Schönem aus der Perspektive des Gesichts »hätten wir viel«, 9 ' aber keineswegs »alles, am wenigsten das Gründlichste, Einfachste, Erste.« 9 ' Genau dies soll die Analyse des Gefühls erbringen. Der Tastsinn ist nicht allein schwerfällig, dunkel und langsam, er ist vor allem auch gründlich, authentisch und wahr. »Herder sieht in der Tasterfahrung den Modus der dem Menschen unmittelbarsten Weltvergegenwärtigung. Der Kontakt des menschlichen Körpers mit ihm äußerlichen Körpern ist gekennzeichnet durch die größtmögliche räumliche wie zeitliche Nähe: der Tastsinn gewährleistet ein Maximum an Authentizität in der Präsenz.« 9 ' Die These von der Unmittelbarkeit in der Erfahrung des Tastens hat ihr Seitenstück in dem auf die Ontogenese bezogenen Argument, daß nicht nur der Weltkontakt, sondern auch die Menschwerdung, die Subjektwerdung überhaupt mit dem >GefühlHaut-Ichsnassen Gewände« wird von ihm als Notbehelf interpretiert, der in manchen Fällen »anstößige Nacktheit« zu verhüllen und doch gleichzeitig die »schöne Form des Körpers empfindbar« zu machen erlaubte. 102 Die Malerei dagegen darf mit allen Mitteln der Kunst schöne, bewegte Gewänder, Falten und Stoffe darstellen. »Sie zeigt die schöne Oberfläche des Körpers, so fern sie anscheinendes Bild gibt, und zu diesem Anschein gehören auch Kleider. Für unser Auge sind diese Erscheinungen der Wahr-

sprochenen Zusammenhang vgl. etwa ebd., S. 86: »Beim Embryo, wenn nicht sogar beim Neugeborenen, entwickelt sich als erstes die Berührungssensibilität f. . .]. Das ist wahrscheinlich eine Folge der Entwicklung des Ektoderms, das neurologisch die gemeinsame Basis sowohl der Haut als auch des Gehirns darstellt. Die Geburt verschafft dem Kind, während es zur Welt kommt, die Erfahrung einer Massage des ganzen Körpers und Reibung der gesamten Haut [ . . . ] . Diese natürlichen Berührungen lösen bekanntlich die Atmung und die Verdauung aus bzw. stimulieren sie [ . . . ] . Die Entwicklung sensorischer Aktivitäten und später der Kommunikation durch Hören, Sehen, Riechen und Schmecken wird wiederum dadurch begünstigt, wie die Personen seiner Umwelt das Kind tragen, beruhigen, seinen Körper an den ihrigen drücken, seinen K o p f oder seinen Rükken halten.« — Anzieu erinnert auch an Bemerkungen Freuds (in >Das Ich und das EsReflexivstruktur< des Tastens anspricht: »Berührt das Kind mit dem Finger Teile seines Körpers, hat es zwei sich ergänzende Empfindungen: Es ist die Haut, die berührt, und gleichzeitig die Haut, die berührt wird. Nach diesem Modell der reflexiven Berührung bilden sich weitere reflexive Empfindungen [. . .] bis hin zum reflexiven Denken.« (Ebd., S. 87). " Besonders prägnant wiedergegeben bei Irmscher, Zur Ästhetik des jungen Herder, S. 68—72. — Zur Gesamtthematik jetzt auch heranzuziehen: Inka MülderBach, Eine »neue Logik für den Liebhaber«: Herders Theorie der Plastik, 1994. Werke ed. Proß, Bd. II, S. 424. "" Ebd., S. 423. Ebd., S. 430.

78

heit und des Üblichen.« 10 ' Nur scheinbar jedoch ist die Malerei realistischer als die Plastik, die ihrerseits mit irrealen Konstrukten wie den nassen Gewändern arbeiten und auch ohne Farbe auskommen muß.'° 4 Es scheint nur so, als entfernte sich Herder für die Plastik völlig vom Mimesis-Postulat, in dem Winckelmann noch befangen ist, wenn er die >nassen Gewänder< aus der Lebenswirklichkeit der Griechen erklären will. 105 Nach den dargelegten Voraussetzungen überrascht es nicht, wenn Herder beispielsweise resümiert: »Die Skulptur versetzt uns gleichsam in einen Garten nackter fühlbarer Unschuld; die Malerei liefert uns die ganze Zaubertafel unsres schönen Betruges.« 106 Von besonderem Interesse ist, wie Herder das Laokoon-Bild im Rahmen seiner Konzeption interpretiert. Hier wird deutlich, daß sein Standpunkt nicht weit von dem Lessings ist. Der seufzende Laokoon entsaget selbst als Prinz, als Priester, bei einem Opfer, vor einem versammleten Volke allem Standesmäßigen, feierlichdrückenden Gewände: denn hier im Gefühl der Bildsäule was kümmert uns Prinz, Priester, Opfer und Volk? wir fühlen den leidenden, sterbenden Helden. Keine Opferbinde also verhüllet seine mit einem Todesseufzer kämpfende Stirn, um sie zu einem Priesterlichen Steinpflaster zu machen: kein träges Gewand umpanzert seine schwellende, arbeitende Brust, seine Giftgeschwollnen Adern, seine mit der Schlange ringenden, ermattenden Hände. Ihr Pedanten des Üblichen, des Anständigen, und des beschreibenden Virgils! der Künstler vergaß Alles, ging der Bestimmung- seiner Kunst nach, und, denkt doch die Kühnheit des Verbrechens! er gab uns statt einer steinernen Sturmhaube, und statt eines Priestermantels von Felsen, das höchste Kunstwerk eines erhabenleidenden Körpers! Dies Leiden der Seele und des Leibes gab er uns in Stirn und Wange und der Senkung des Haupts, und Armen und Brust und Adern, bis zum schauderhaftesten Mitleide zu fühlen, und ihr wolltet eine Priesterfigur im züchtigen, üblichen Steinmantel sehen, und mit Virgil vergleichen. 107

Auch Lessing diskutiert eingehend die Frage nach dem priesterlichen Ornat des Laokoon, der doch bei Vergil so ausführlich geschildert sei. 108 Auch er wendet sich gegen kleinliche Kritik am Bildhauer und gegen vermeintliche Verteidiger, die das Weglassen der Kleidung als aus der Not geboren entschuldigen, da die Bildhauerei »keine Stoffe nachahmen« könne. 1 0 ' Herders Polemik richtet sich keineswegs gegen Lessing, 1 , 0 der fragt: »Hat ein Ge,OJ 104

"" "schöne Kunst< sein will, sollte sie es, so Lessing, vermeiden.125 Die Begründung hierfür erscheint bei Herder dann ganz entsprechend, nur sagt er, was Lessing für die Malerei feststellt, von der Plastik. Lessing argumentiert: In der Poesie, wie ich angemerket, verlieret die Häßlichkeit der Form, durch die Veränderung ihrer coexistierenden Teile in successive, ihre widrige Wirkung fast gänzlich; sie höret von dieser Seite gleichsam auf, Häßlichkeit zu sein, und kann sich daher mit andern Erscheinungen desto inniger verbinden, um eine neue besondere Wirkung hervorzubringen. In der Malerei hingegen hat die Häßlichkeit alle ihre Kräfte beisammen, und wirket nicht viel schwächer, als in der Natur selbst." 6

Daraus resultiert bei Lessing für die Malerei eine tendenziell klassizistische Ästhetik: Da sie als Medium so realistisch ist, muß sie in der Wahl der Gegenstände zurückhaltend sein, sofern sie >schöne Kunst< sein will. Dieselbe Tendenz findet sich bei Herder in Bezug auf die Skulptur. 127 Herder nimmt bereits im vierten >Kritischen Wäldchen< auf den >ganzen neueren StreitDisposition< zeigt; sie trägt den Titel »Nexus Psychologiae cum ceteris scientiis Philosophicis«. 1 ' 4 Ebd., S. 445f. Vgl. Gerhard Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, 1982, S. 71. Werke ed. Proß, Bd. II, S. 446. 1,1 Vgl. Irmscher, Zur Ästhetik des jungen Herder, S. 48, und vor allem das Nachwort von Proß zum Band II seiner Ausgabe, vor allem S. 1 1 7 5 ff.; schließlich die beiden interessanten Arbeiten von Helmut Pfotenhauer: Gemeißelte Sinnlichkeit. Herders Anthropologie des Plastischen und die Spannungen darin, 1991, sowie: Anthropologische Ästhetik und Kritik der ästhetischen Urteilskraft oder Herder, Schiller, die antike Plastik und Seitenblicke auf Kant, 1991, bes. S. zioff. — Zur Rolle der Anthropologie im Kontext des 18. Jahrhunderts vgl. besonders auch: Hans-Jürgen Schings, Melancholie und Aufklärung, 1977, S. 11—40, daneben Wolfgang Riedel, Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der »Philosophischen Briefe«, 1985, S. 11—17. "* Vgl. Proß im Nachwort zu: Herder, Werke ed. Proß, Bd. II, S. 1 1 7 5 f r . 149

1,4

88

Vgl. hierzu auch Schings, Melancholie und Aufklärung, S. 17: Herder versetze die Anthropologie »ohne weiteres in das Zentrum der Philosophie«. Proß im Nachwort: Herder, Werke ed. Proß, Bd. II, S. 1179; dieser aufschlußrei-

e)

Die Seele im Körper erkennen: Aspekte der Einfühlungstheorie bei Herder im Kontext der Leib-Seele-Diskussion des 18. Jahrhunderts

Kunstrezeption wird im Falle der Plastik zur Begegnung mit dem Menschen, und zwar auf eine besonders unmittelbare Weise, die den ersten Erfahrungen des Menschen in der Welt überhaupt, den ersten Tasterfahrungen entspricht. Die Erfahrung der Plastik ist dementsprechend die direkteste Form der Kommunikation, sinnlich erlebte Intersubjektivität. Für diese Schlüsselrolle der Bildhauerkunst entfaltet Herder ein interessantes erkenntniskritisches Argument. Das - letztlich unerreichbare - Erkenntnisziel ist, zu sehen, wie die Seele sich den Körper bildet, und zwar in jedem einzelnen Teil; zu erkennen, wie jedes Organ durch seine ihm entsprechende Seelenfunktion die ihm angemessene Form gewinnt. Doch so weit, davon ist Herder überzeugt, reicht unsere »Einsicht« nicht. Es wird nie gelingen, »die künstliche Organisation eines jeden Teiles unsres Körpers, aus der einzelnen würkenden Kraft in diesem Teile zu erklären [. . .].«'" Was Herder damit wohl als unzugänglich darstellen will, ist die Frage der erklärenden Beschreibung eines im Werden begriffenen Individuums in all seinen Einzelheiten. 1 ' 6 Diese Erklärung müßte demonstrieren, wie ein bestimmter seelischer Gehalt den ihm zur konkreten Realität verhelfenden körperlichen Sachverhalt erzeugt — kurz: es wäre die Lösung des LeibSeele-Problems. Die Aussage, daß sich die Seele den Körper baut, wäre vom Axiom zum demonstrierbaren Satz geworden. Eine kausal-genetische Erklärung ist also nach Herders Uberzeugung in dieser Frage nicht erreichbar. Was aber für ihn im Bereich der Möglichkeiten menschlichen Erkennens liegt, ist das Verstehen eines als sinnvoll und gewollt angesetzten bestehenden Zusammenhanges. Man kann nicht beweisen, wie im einzelnen die Seele den Körper gemacht hat, aber man kann ihr im fertigen Organismus nachspüren, um zu sehen, »wie, nicht nach Gesetzen der geometrischen Notwendigkeit, sondern nach Grundsätzen des Schicklichen, des Ubereinstimmenden die Seele unsern Körper beherrsche, und sich denselben zu Erreichung ihrer Absichten im Universum gleichsam bilde«. 1 ' 7 Man kann also zu ergründen versuchen, wie die Seele eines Menschen in dessen Körper jeweils >zur Welt kommt«, wie sie >konkret< wird. che Text wird erstmals von Proß veröffentlicht: im Anhang zu seiner Ausgabe, Bd. II, S. 1217—1223. " · Ebd., S. 449. ' 6 Vgl. auch ebd.: »Wie eine Einzelne einfache Kraft sich ihre plastische Form bereite, und gleichsam Organische Gestalt im Weltgebäude gewinne, wissen wir nicht, und könnens nicht eher wissen, bis wir vom ganzen Weltall deutlichen Begriff erhalten, das ist, niemals.« 1,7 Werke ed. Proß, Bd. II, S. 449. 89

Herder spricht das Problem der Introspektion als Erkenntnismethode in dieser Frage an - ein Problem, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eines der zentralen Methodenprobleme der Psychologie ist 1 ' 8 —, streift zugleich die Reflexion des Denkens auf sich selbst und gewinnt von hier aus eine These zur spezifischen Erkenntnisleistung der Rezeption plastischer Kunst. Die Kunstwahrnehmung erlangt in Herders Argumentationsgang geradezu den Rang einer >via regia< zur menschlichen Seele, und zwar auf dem Weg über den Körper; nicht durch Analyse, sondern — damit ist der Schlüsselbegriff von Herders Konzeption systematisch situiert — durch Einfühlung. Herders Gedankengang 1 ' 9 soll wegen seiner grundsätzlichen Bedeutung hier ganz zitiert werden: Denn so wie wir doch jeden Augenblick die Absichten, wenigstens dunkel oder verworren, fühlen, wozu unsre Seele den Körper braucht: so muß es nicht ganz unmöglich sein, diese Absichten uns auch mehr oder minder aufzuklären. Und da die reflektierte Aufmerksamkeit auf uns selbst, wegen des schnellen lebhaften Laufs unsrer Veränderungen, sehr schwer wird: da es uns sehr schwer wird, zu denken, und zugleich jeden unsrer Gedanken zu belauschen, in den Körper hineinzuempfinden, und zugleich auf jeden Eindruck zu merken, den diese Empfindung im Körper annimmt, also zugleich in und außer uns zu sein, wie? wenn wir also einen Gegenstand bloß außer uns suchen? und einen Gegenstand, in welchem Ein Zustand der Seele verlängert und gleichsam verewigt wäre? und wenn wir alsdenn bei diesem Einen Zustande recht auf die Eindrücke, auf die Formen merkten, in denen die Seele in solchem Einen Zustande sich offenbaret? Und alsdenn viele solcher Formen vieler Zustände der Seele zusammen nähmen, um jedesmal Übereinstimmung zu bemerken? Wie? wären da nicht einige Anfangsgründe möglich zu einer Erkenntnis des Geistes in seinen Formen, eine Art von Plastik der Seele."50

Die Einfühlung wird so zum Gegenstück der Introspektion und der Reflexion. Wie sich in der reinen Reflexion des Denkens auf sich selbst dieses nie ganz gegenwärtig haben kann, sondern sich in einen unendlichen Regreß jenseits jeder inhaltlichen Bestimmung verstricken muß, so kann sich auch die Empfindung, die sich introspektiv auf sich selbst richtet, nicht zugleich gegenständlich — Herder sagt >im Körper< — sein. In der Konsequenz heißt das, daß es eine vollständige Selbstdurchsichtigkeit der >Seele< für Herder nicht — oder nur um den Preis der Inhaltsleere — gibt und daß vielmehr die Erkenntnis des Seelischen ihr Telos in der Erkenntnis des Fremdseelischen hat. Die Plastik ist das Organon dieser Erkenntnis. Vgl. die Hinweise bei Hehlmann, Geschichte der Psychologie, S. 2joff.: »Die erlebte Seele« (u. a. zu Franz Brentano, Carl Stumpf und Theodor Lipps). Der übrigens in der zweiten Fassung der >Plastik< so nicht mehr erscheint: Das entspricht genau der Tendenz, die Proß als Tendenz zur Klassik beschreibt; nach ihm entfernt sich Herder in der zweiten Fassung »von seinem Konzept der »Geschichte des menschlichen Verstandes« [. . .].« (Kommentar zur >Plastik< in Herder, Werke ed. Proß, Bd. II, S. 999). ,6 ° Ebd., S. 449f. 90

Wenn wir Modelle wählten, w o die Regelmäßigsten Zustände der Seele in den regelmäßigsten Äußerungen erschienen? und wenn uns jemand in eine Welt solcher Bilder führte, und uns das mancherlei Innere durch das Äußere so erkenntlich machte? Der Wunsch ist erfüllet! es ist eine Welt solcher Bilder da, in der Natur zerstreut, verworren, abwechselnd, in der Kunst aber gesammlet, geläutert, und fixieret — die Bildsäule. Siehe! da hat ein Menschlicher Schöpfer darauf gearbeitet, Einen schönen Zustand der Seele in Einem schönen Zustande des Körpers fühlbar zu machen. E r schuf nicht bloß einen Klumpen, um ihn nachher hie und da mit Geist zu übertünchen, sondern er bildete den Geist gleichsam in den Formen, er schuf Formen zum Ausdruck des Geistes. Fühle diese Formen, laß den Marmor sich unter deinen Händen beleben, daß deine Einbildungskraft und das gleichstimmige Gefühl, was in dir wohnet, auch die gleichförmige Gestalt des Geistes empfinde, denn so wie sich der Geist nicht anders offenbaren konnte, als durch Form: so kann er sich auch uns nicht anders mitteilen, als wenn wir ihn in dieser Form gleichsam ertappen, und den Körper, als eine fühlbargewordene Seele, genießen [ . . . ] : da wird sich also die Gestalt der Seele in der Gestalt des Körpers, und ihre Vollkommenheit, als eine sinnlichgewordene Schönheit offenbaren.' 6 '

Die Regungen der Seele werden über den Körper erkannt, über denjenigen, den der Bildhauer gestaltet hat, denn hier finden sie sich >regelmäßiggenießenPlastik der Seeleo mit diesem Konzept geht Herder weit über den Rahmen der kunsttheoretischen Diskussionen hinaus. Die Ästhetik ist, wie Proß formuliert, in dieser Auffassung eine »Grundwissenschaft der Anthropologie, deren erstes Problem die Genese des Bewußtseins darstellt.«"52 Wenn im Studium der Skulptur die >Anfangsgründe< zu einer >Erkenntnis des Geistes in seinen Formen*' 6 ' liegen sollen, gehen hier doch ganz spezifische Voraussetzungen über das Verhältnis von Leib und Seele ein, die auch für Herders Thesen zur ästhetischen Erfahrung grundlegend sind. Herder führt diese Voraussetzungen vor allem in den parallel zur Arbeit an der >Plastik< geschriebenen Studien >Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele*164 näher aus. Dort ist zunächst einmal leichter erkennbar, welche Positionen er ablehnt, während es schwieriger wird, seine eigene Position genauer zu beschreiben. E r wendet sich zum einen gegen jede Form eines reduktionistischen Monismus, sowohl den Spiritualismus — den er zeitüblich als >Idealis,6

' Ebd., S. 450. Im Kommentar zu >Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele*, ebd., S. 1005. l6j Vgl. das oben gegebene Zitat. ,Naturlehre< des Mediziners Johann Gottlob Krüger (in zweiter Auflage 1748—17; ; in Halle erschienen) bezieht. l6i

9

mus< be2eichnet—, als a u c h d e n M a t e r i a l i s m u s . ' 6 ' Z u m a n d e r n kritisiert er a b e r a u c h alle dualistischen M o d e l l e , die d e n K ö r p e r d u r c h »solche B r e t t e r w ä n d e « v o n der Seele t r e n n e n , »als sie die K a m m e r n u n s r e r M e t a p h y s i k s c h e i d e n . « ' 6 6 D a s impliziert eine A b l e h n u n g des O k k a s i o n a l i s m u s

ebenso

w i e die K r i t i k a m » S y s t e m prästabilierter H a r m o n i e « des >großen E r f i n d e r s des M o n a d e n p o e m s < . ' 6 7 A u s dieser K r i t i k läßt sich n o c h a m besten H e r d e r s e i g e n e V o r s t e l l u n g ableiten: Weder Seele noch Körper ist eine solche für sich gehende, mechanische Uhr. Die Seele hat bei ihrer Göttlichen Natur, da sie eingeschränkt ist, Sinne nötig, die ihr das Weltall ihrer Göttlichen Natur gemäß vorspiegeln. Der Körper ist in Absicht der Seele kein Körper: ist ihr Reich: ein Aggregat vieler dunkel vorstellenden Kräfte, aus denen sie ihr Bild, den deutlichen Gedanken sammlet.' 6 ' D e r K ö r p e r ist nicht e i n f a c h ein D i n g , ein G e g e n s t a n d der Seele, er ist v i e l m e h r ihre Weise des Z u r - W e l t - S e i n s , o d e r , anders g e s a g t , i h r B e z u g a u f s >Univ e r s u m o » D e n G r u n d des A g g r e g a t s v o m K ö r p e r finde i c h nicht a n d e r s , als in der Seele: u n d i m K ö r p e r d e n G r u n d , w a r u m die Seele aus solchen u n d diesen F o r m e l n sich das reine Weltall, das in i h r liegt, w e c k e t . K u r z , der K ö r p e r ist S y m b o l , P h ä n o m e n o n der Seele in B e z i e h u n g a u f s U n i v e r s u m . « ' s ? H e r d e r ist, das w i r d a u c h in d i e s e m Z i t a t deutlich, ein A n h ä n g e r der L e h r e v o n der W e c h s e l w i r k u n g z w i s c h e n K ö r p e r u n d Seele, ü b e r der sich der M e d i z i n e r G e o r g E r n s t Stahl ( 1 6 5 9 - 1 7 5 4 ) in einer e p o c h a l e n D i s k u s s i o n mit L e i b n i z a u s e i n a n d e r g e s e t z t h a t t e . ' 7 0 L e i b u n d Seele sind n a c h H e r d e r s Vg). Herder, Werke ed. Proß, Bd. II, S. 585, 622, bes. S. 5 6 i f . , u. ö. Ebd., S. 672. 167 Ebd.; vgl. auch S. 624: »Dem Erfinder des Monadenpoems hätte also das Poem prästabilierter Harmonie fremde sein dörfen«. Ebd., S. 562. ,6 ' Ebd., S. 563. — 1770 hatte Herder im dritten Absatz der Plastik ganz zu Anfang formuliert: »Ich betrachte den Körper, als ein Phänomenon, als eine sinnlichgemachte Vorstellung der Seele [. . .].« (Ebd., S. 449). 1,0 Georg Ernst Stahl, der manchen als Gründergestalt der Psychosomatik gilt, hatte 169; in den Korollarien zu seiner >Disputatio inauguralis de passionibus animi corpus humanum varie alterantibus< (Über den mannigfaltigen Einfluß von Gemütsbewegungen auf den menschlichen Körper) unter anderem den vielzitierten Satz »Die Seele baut sich den Körper [. . .]« (»Anima sibi ipsi fabricat corpus [. . .]«) formuliert, der von Schiller mehrfach variiert wurde. (Vgl. auch: Rita Wöbkemeier, Erzählte Krankheit. Medizinische und literarische Phantasien um 1800, 1990, hier S. 241). In >Wa)lensteins Tod< (III, 13, V . 1 8 1 3 ) brachte er ihn in jene bekannte Zitierformel, die (gewiß nicht nur aus metrischen Gründen) eine signifikante Abweichung gegenüber Stahl aufweist: »Es ist der Geist, der sich den Körper baut.« - Vgl. hierzu jetzt die gründliche und wichtige Arbeit von Wolfgang Riedel, Die Anthropologie des jungen Schiller. Z u r Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der »Philosophischen Briefe«, 1985, bes. S. 6ff. und 24f., speziell zu der Formel vgl. ebd., S. 2; mit Anm. 40, w o eine weitere Fassung des Theorems aus Stahls Werk zitiert wird. — Riedel zeigt übrigens klar, daß 166

92

A n s i c h t , die d e m m e d i z i n i s c h e n i c o m m o n sense< des späteren 1 8 . J a h r h u n derts e n t s p r a c h , 1 7 1 » w ü r k l i c h v o n e i n a n d e r a b h ä n g i g u n d f ü r e i n a n d e r zus a m m e n g e o r d n e t . « 1 7 2 D a b e i ist der E i n w a n d , d e n s c h o n L e i b n i z g e g e n Stahl e r h o b e n hatte, »daß keine d i r e k t e K a u s a l i t ä t z w i s c h e n K ö r p e r u n d G e i s t m ö g l i c h sei«' 7 5 n u r s c h w e r zu e n t k r ä f t e n , s o l a n g e m a n v o n einer Z w e i Substanzen-Lehre

ausgeht.

Doch

während

der Mediziner

Schiller

diese

>nahezu u n l ö s b a r e n s y s t e m a t i s c h e n Probleme< m i t der H y p o t h e s e v o n einer >Mittelkraft< zu b e h e b e n v e r s u c h t , 1 7 4 erklärt H e r d e r d e n K ö r p e r z u r b l o ß e n E r s c h e i n u n g (>PhänomenUniversumIdealisten< Schiller gefügt hat. — Die Disputatio Stahls von 169; ist in der Ausgabe von Bernward Josef Gottlieb (Leipzig 1961) in einer (Teil-)Übersetzung leicht zugänglich (S. 24-57). Gottlieb weist auch auf die philosophische Tradition (>aristotelischneuplatonischinfluxus physicus< bezeichnet wurde — vgl. Riedel, ebd., S. 22ff.), auch wenn er sich explizit in dieses Lager einordnet: »Ich kanns mir nehmlich nicht denken, wie das sogenannte System des Einflusses, wenn mans etwas mit Sinn vorstellet, ungereimt sein sollte, da es doch offenbar das System der Natur, d. i. simple Erfahrung ist, und die andern zwo [Herder meint >Idealismus< und Materialismus] im Grunde nichts sagen.« (Herder, Werke ed. Proß, Bd. II, S. 561). Im vierten »Kritischen Wäldchen< hatte Herder formuliert: »Der ganze Grund unsrer Seele sind dunkle Ideen, die lebhaftesten, die meisten, die Masse, aus der die Seele ihre feinern bereitet, die stärksten Triebfedern unsers Lebens, der größeste Beitrag zu unserm Glück und Unglück. Man denke sich die Integralteile der Menschlichen Seele körperlich, und sie hat, wenn ich mich so ausdrücken darf, an Kräften mehr spezifische Masse zu einem sinnlichen Geschöpf, als zu einem reinen Geiste: sie ist also einem Menschlichen Körper beschieden; sie ist Mensch.« (Ebd., S. 80).

93

n e r E m p f i n d u n g . E r stellt sich das Weltall n u r n a c h d e n F o r m e l n v o r , die i h m sein K ö r p e r z u b r a c h t e . E r e m p f i n d e t n u r i m beständigen

Horizont

seines

Körpers.«'77 O b w o h l er also stark z u einer spiritualistischen A u f f a s s u n g tendiert, f ü h r t das bei H e r d e r in der K o n s e q u e n z g e r a d e nicht zu einer A b w e r t u n g des L e i b e s , s o n d e r n z u einer N o b i l i t i e r u n g . Wenns nicht aus dem absoluten Dekret Gottes, sondern aus Natur der Seele, als eines eingeschränkten Geistes ist, daß sie nicht ohne Empfindungen, also ohne Körperorgane exsistiere: und wenn sich nun all' ihre Anerkennungen ihrer Natur d.i. allgemeiner Ideen aus Datis und nach Maßgabe dieser Organe sammlen: so, sieht man, ist die Physiognomik im weitesten Verstände, d.i. die Psychologische Physiologie der wichtigste Teil der Weltweisheit. Sie allein kann uns ins Heiligtum der Seele führen: denn der Körper ist nur lebendwürkendes Symbol, Formel, Phenomenon der Seele. Ohne alle Mystik und im schärfsten Philosophischen VerStande ist der innere Mensch dem äußern durch und durch einwohnend [. . .].' 7 ' D e r K ö r p e r ist z w a r einerseits die G e s t a l t , die sich die Seele g i b t , a n d e r e r seits aber ist e r , w i e m e h r f a c h deutlich w u r d e , f ü r H e r d e r a u c h die u n u m g ä n g l i c h e sinnliche B r ü c k e z u r Welt. I n d i e s e m S i n n e k a n n m a n v o n e i n e r W e c h s e l w i r k u n g s p r e c h e n , u n d in d i e s e m S i n n e k a n n H e r d e r f o r m u l i e r e n : » D i e Seele schreibt s c h w a c h , o d e r falsch, w e n n der K ö r p e r i h r s c h w a c h o d e r f a l s c h diktieret.« 1 7 9 177

Ebd., S. 564. — Die schöne Wendung im letzten Satz des Zitates könnte auch von Sartre oder Merleau-Ponty gebraucht werden. - Im übrigen ist Herder hier der Sache nach nicht weit entfernt von der im 19. Jahrhundert dann so wichtigen und vieldiskutierten Lehre von den spezifischen Sinnesenergienspezifisch< sind. Vgl. hierzu vor allem: Karl Post, Johannes Müller's philosophische Anschauungen, 1905; weiter: Wilhelm Hehlmann, Geschichte der Psychologie, 1963, S. i } 8 f f . ; Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, 1986, S. 15 3f., und jetzt Monika Fick, Sinnenwelt und Weltseele, S. 1 1 5 f . — So könnte man etwa auch bei der folgenden Formulierung Herders (aus >Vom Erkennen und Empfinden< in der Fassung von 1778) an Johannes Müllers Theorie denken: »Ich kann mir überhaupt nicht denken, wie meine Seele etwas aus sich spinne und aus sich eine Welt träume? ja nicht einmal denken, wie sie etwas außer sich empfinde, wovon kein Analogon in ihr und ihrem Körper sei.« (Werke ed. Proß, Bd. II, S. 686f.). Natürlich wäre auch an Goethes >Wär nicht das A u g e sonnenhaft [. . .]< und viele andere Formulierungen, etwa in der Einleitung zum »Entwurf einer Farbenlehre< (Artemis-Gedenkausgabe, Bd. 16, S. 2 1 , vgl. auch ebd., S. 214) denken. Doch damit sollen die Differenzen nicht verwischt werden. Johannes Müllers Untersuchungen sind entschieden experimentell ausgerichtet und verstehen sich zudem auch als empirisch-wissenschaftliche Fortsetzung des kantischen Kritizismus. ,7 « Werke ed. Proß, Bd. II, S. 563. 179 Ebd., S. 564.

94

Von den hier skizzierten philosophischen und anthropologischen Voraussetzungen her werden die in der >Plastik< gebotenen physiognomisch-phänomenologischen Reflexionen ebenso wie die dort entfaltete Einfühlungsästhetik erst angemessen verständlich. Zentrales Beispiel von Herders Entwurf einer Theorie der ästhetischen Erfahrung ist der Laokoon. Herder grenzt sich bereits in der Fassung von 1770 deutlich gegen die herkömmliche Physiognomik ab, 180 geht aber dann im äußeren Ablauf ähnlich vor, indem er mit der Stirn und ihren spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten beginnt. »Was wir in unsrer Seele Gesinnung nennen, formt sich meistens auf der Stirn. [. . .] Und was ist das Verschiedne in der Seele, was wir aus diesem verschiednen Eindruck der Stirn folgern, oder zu fühlen glauben? Ihr ganzer denkender Zustand, ihre Gesinnung.«' 81 Hier ist die eine Hälfte der Wechselwirkungstheorie in Anspruch genommen, die Wirkung der Seele auf den Körper. Die Behauptung über die auf der Stirn erscheinende Gesinnung gilt zunächst aber von lebenden Menschen. Damit sie auf die Kunst ebenso angewandt werden kann, muß eine Vermittlungsinstanz eintreten, der Künstler. »Das hat der schaffende Künstler gewußt und innig gefühlet, da er in die Stirn des Laokoon, und des Apollo und jedes seiner Geschöpfe gleichsam das Allgemeinste und Herrschendste ihres Zustandes hineinlegte, und dieselbe zur Wohnung, zum Tempel der Gesinnung überhaupt, wölbte. Das fühlt der betrachtende Liebhaber.«' 82 Damit wird der ideale Rezipient eines Bildwerkes ins Spiel gebracht: der >LiebhaberKritischen Wäldchen< dem >Kenner< gegenüber,' 8 ' dem Kenner der Malerei, der recht distanziert »sein

1,0

,i!

So ist es kein Wunder, daß er auf Lavaters großes Werk mit verlegener Zurückhaltung reagiert. (Vgl. den Brief an Lavater vom 20.2.1775, Briefe Bd. 3, 1978, Nr. 134, S. 158—161; s. dazu auch Saltzwedel, Das Gesicht der Welt. Physiognomisches Denken in der Goethezeit, 1993, S. 1 6 3 - 1 7 1 ) . Werke ed. Proß, Bd. II, S. 451. Ebd., S. 45 i f . Z u dieser Gegenüberstellung und ihrem >erotischen< Hintergrund vgl. Irmscher, Zur Ästhetik des jungen Herder, S. 7if. - Irmscher weist auf die Bedeutung des von Herder ja mehrfach in Anspruch genommenen Pygmalion-Motivs in diesem Zusammenhang hin. — Möglicherweise enthält Herders Preis des Kunstliebhabers und die damit verbundene Abwertung des >Kenners< auch eine versteckte Kritik an Winckelmann, dessen >Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst« (1755) in ihren berühmt gewordenen Schlußsätzen den Kenner deutlich über den Liebhaber stellen: »Der Pinsel, den der Künstler führet, soll im Verstand getunkt sein, wie jemand von dem Schreibegriffel des Aristoteles gesaget hat: E r soll mehr zu denken hinterlassen, als was er dem A u g e gezeiget [ . . . ] . Der Kenner wird zu denken haben, und der bloße Liebhaber wird es lernen.« (Ebd., S. 39).

95

G e m ä l d e b e s c h r e i b t « , 1 8 4 w ä h r e n d der L i e b h a b e r der Plastik v o n B e g e i s t e r u n g e r f ü l l t ist, einen K ö r p e r >fühltPlastik< arbeitet er diesen Aspekt noch schärfer heraus, wobei er das nicht nur in Lessings Mitleidsdramaturgie wichtige Beispiel v o n der (mit-) schwingenden Saite in eindrücklicher Weise nutzt (er spricht v o n der klassischen griechischen Plastik): Ein Geist hat sich über die Statue ergossen, hielt die Hand des Künstlers, daß auch das Werk hielt, und Eins ward. Wer (um so gleich ein Schwerstes anzuführen) wer je am berühmten Hermaphroditen stand und nicht fühlte, wie in jeder Schwingung und Biegung des Körpers, in allem, w o er berührt und nicht berühret, Bacchischer Traum und Hermaphroditismus herrschet, wie er auf einer Folter süßer Gedanken und Wollust schwebt, die ihm, wie ein gelindes Feuer, durch seinen ganzen Körper dringet — wer dies nicht fühlte und in sich gleichsam unwillkürlich den Nach- oder Mitklang desselben Saitenspiels wahrnahm; dem können meine nicht und keine Worte es erklären. Eben das ist das so ungemein Sichere und Veste bei einer Bildsäule, daß, weil sie Mensch und ganz durchlebter Körper ist, sie als Tat zu uns spricht, uns festhält und durchdringend unser Wesen, das ganze Saitenspiel Menschlicher Mitempfindung wecket.' 8 ® Die so poetisch klingende Metapher v o n der mitschwingenden Saite hat einen ganz konkreten neuroanatomischen Hintergrund, den Herder kannte. Johann Gottlob K r ü g e r vertritt in seiner >Naturlehre< die (von Herder in der Schrift >Vom Erkennen und Empfinden< rezipierte) Theorie von der >Elasticität< der N e r v e n , die aus der von K r ü g e r beschriebenen Beobachtung hervorgeht, daß sich die Haut eines N e r v s zurückzieht, wenn man ihn durchtrennt, woraus er folgert, daß sie elastisch und gespannt gewesen sei. D a v o n ausgehend argumentiert er, daß die N e r v e n eines Lebewesens wie die Saiten eines Musikinstruments seien, die durch mechanische E i n w i r k u n g zum Schwingen gebracht werden können.'® 9 Das ist mitnichten als poeti" " Werke ed. Proß, Bd. II, S. 517. ,! ® Krüger, Naturlehre, Bd. 2 (Physiologie, Halle 1763, zuerst 1745), S. 584-586: »§. 313. Wenn man einen Nerven durchschneidet, so ziehet sich seine Haut zurück, und das Marek des Nervens kömmt zum Vorscheine. Man begreift leicht, daß das Zurückziehen des Nervens nicht von dem Zerschneiden herrühren könne, als wodurch bloß sein Zusammenhang mit den übrigen Theilen getrennet worden ist; sondern es muß diese Haut vielmehr dergestalt ausgedehnt [585] gewesen seyn, daß sie eine beständige Bemühung gehabt hat, sich wieder zusammenzuziehen. Ein Cörper, welcher ausgedehnt werden kan, und wenn man nachläßt ihn auszudehnen, sich selbst wieder zusammenzieht, ist elastisch (P. I. §. 67.) Kan man also hieraus einen andern Schluß machen, als daß die Häute der Nerven elastisch und zugleich ausgedehnt sind? Nun bestehen sie aus lauter Fäsergen. Wenn aber ein jedes dieser Fäsergen elastisch und gespannt ist, so befindet es sich vollkommen in den Unständen, darinnen wir eine gespannte Saite auf einem musicalischen Instrumente antreffen. [. . .] §. 314. Wenn eine gespannte Saite angestossen wird, so geräth sie in eine zitternde Bewegung, wie wir solches nicht nur mit Augen sehen, sondern auch gar leicht aus den Gesetzen der Elasticität

97

scher Vergleich gedacht," 9 ° sondern als Beschreibung eines physikalischen Phänomens, das Krüger dann auch nützt, um Sympathie und Antipathie zwischen Menschen wissenschaftlich zu erklären: als Disharmonie in den mechanischen Verhältnissen der Nervenfasern.' 9 ' Die Deutung des Mitleids bei Lessing und der Mitempfindung bei Herder als Resonanzphänomen ist also keineswegs eine schöne Metapher, sondern eine anatomische Beobachtung. Die Einfühlungstheorie, wie sie Herder versteht, hat einen sehr konkreten und für seine Zeit durchaus wissenschaftlichen Kontext; das gilt auch noch für die Einfühlungsästhetik des 19. Jahrhunderts, die man unzulässig verkürzt, wenn man ihr pauschal verschwommen-irrationale Spekulationen unterstellt. In der >Plastik< von 1778 formuliert Herder an einer Stelle, als wäre er Zeitgenosse von William James und Carl Lange gewesen und hätte deren Theorie von der peripherisch induzierten Emotion gekannt: Ich weiß nicht, ob ich ein Wort wagen und es Statik oder Dynamik nennen soll, was da von Menschlicher Seele in den Kunstkörper gegossen, jeder Biegung, Senkung, Weiche, Härte, wie auf einer Waage syigewogen, in jeder lebt und beinahe die Gewalt hat, unsre Seele in die nämliche sympathetische Stellung χμ versetzen. Jedes Beugen und Heben der Brust und des Knies, und wie der Körper ruht und wie in ihm die Seele sich darstellt, geht stumm und unbegreiflich in uns hinüber: wir werden mit der Statue gleichsam verkörpert oder diese mit uns beseelet.' 9 *

Herder meint hier allerdings jede Art von Gemütszuständen, nicht nur die Affekte. Aber in deren Analyse sind bei ihm die Anklänge an die mechanisch-physiologischen Analysen Krügers noch deutlicher, vor allem, wenn er die - von ihm in klassizistischer Weise als Thema der Plastik abgelehnten — >höchsten Affekte< und das >höchste Leidem in seiner Wirkung auf den Kunstliebhaber analysiert: erweisen können. Wenn nun die Nervenhäute nicht anders anzusehen sind, als wenn sie aus lauter solchen gespannten Saiten zusammengesetzt wären (§. 313.): so müssen sie ebenfals in eine zitternde Bewegung geraten, wenn ein a n = [586] derer Cörper mit zureichender K r a f t an sie anstößt. Da ich nun erwiesen habe (§. 3 1 1 . ) , daß eine Veränderung in den Nervenhäuten vorgehen müsse, wenn die Bewegung geschehen solle; da ferner alle Veränderungen eines Cörpers durch die Bewegung geschehen (P. I. §. 16) und die Nervenhäute keiner andern als einer zitternden Bewegung fähig sind: so wird auch die Empfindung vermittelst der zitternden Bewegung der Nervenhäute hervorgebracht werden müssen.« (Vgl. auch den Kommentar von Proß, Herder, Werke Bd. II, S. 1 ο 15 f., w o auf diese Passage aufmerksam gemacht wird. Proß zitiert ausführlich aus der 2. Auflage. E r macht an dieser Stelle nicht auf den schlagenden Zusammenhang mit der Einfühlungstheorie Herders aufmerksam; vgl. aber auch ebd., S. 1008). "9° Proß, ebd., spricht mehrfach von diesem Theorem als von einer »Metapher«; doch es geht nicht einfach um ein analoges Phänomen, sondern um genau denselben physikalischen Sachverhalt. 191 Krüger, Naturlehre, Bd. 2, S. 6;4f. ">' Werke ed. Proß, Bd. II, S. i i 7 f . 98

Wehe! wenn dieser Zustand dargestellet; wenn die letzte unglückseligste Gesinnung über das Bild des Leidenden ausgebreitet würde! Sie geht sympathetisch durchs Gefühl in mich über; mein Nervengebäude, was noch sein Dasein und seine Haltung fühlet, wird also dadurch, wie anders, als aufs widrigste gerührt. Ich soll aus meinem Zustande so gleich in den entgegengesetztesten, in den letzten, mühseligsten Zustand der Menschheit übergehen: soll dort die unglückliche letzte Erschlaffung, und hier die widrigste Erschütterung der Nerven, und in beiden den elenden Übergang ins Nichts fühlen [. . . ] . ' "

Hier zeigt sich einmal mehr eine Inkonsistenz in Herders Ästhetik, die letztlich darin begründet ist, daß der psychologische Ansatz sich nicht völlig mit den klassizistischen Intentionen versöhnen läßt. Solange an diesen Intentionen festgehalten wird — und die psychologische Ästhetik des 19. Jahrhunderts tut dies über weite Strecken' 94 ebenso wie H e r d e r ' " —, muß die psychische Wirkung des Kunstwerks auf den Rezipienten letztlich als >GenußErhabene< ansatzweise oder zögernd und versuchsweise transzendiert wird.'' 6 f)

Leiblicher Ausdruck: die »deutlichere, stumme Sprache« der Seele

Neben der ästhetischen, der subjektphilosophischen und der anthropologisch-psychologischen Dimension hat Herders Auseinandersetzung mit dem Plastischen auch noch eine — wenn auch nicht sogleich ins Auge fallende — sprachphilosophische und sprachkritische Seite. Wenn der Tastsinn sich gegenüber dem Sehsinn durch Authentizität und Wahrheit auszeichnet, dann ist der körperlich wahrgenommene körperliche Ausdruck auch die direktere, die unmittelbare Form der Kommunikation. Getastete Gegenstände, die auf diese Weise mit dem Körper in Kontakt kommen, »schreiben mit lebhaften, aber groben und verworrenen Zügen sich ihm ein«.' 97

1,4

1,6

Ebd., S. 454. Vgl. auch oben die Zitate S. 85 (bei Anm. 129) und S. 84. — An dieser Stelle kommt Herder insofern in gewisse argumentative Schwierigkeiten, wenn er anschließend auf das Laokoon-Bild zu sprechen kommt. E r argumentiert dann ähnlich wie Lessing (bereits im ersten Abschnitt des >LaokoonPlastik Durch die Originalfassung des Shakespeare-Zitats, die Herder in der Anmerkung anführt, wird deutlich, daß Herders >Buchstaben< ein Wortspiel ist: » - all trivial fond records/all saws of books — « (ebd.). ,04 Ebd., S. 456. " " Vgl. die Zitate oben S. 94 (bei Anm. 178) und S. 9; (bei Anm. 182).

101

nung aus; eine bestimmte Miene des Mundes kündet nicht v o n einem davon verschiedenen Geistigen, sondern ist es selbst. Eine kleine Veränderung der Lippe macht sie zum »Sitz«206 einer besonderen Modifikation der Seele. Diese Sprache hat auch eine Syntax; deren Prinzipien sind die G r u n d sätze des Schicklichen, des Übereinstimmenden^" 7 der organischen Ganzheit. Das bedeutet, daß ein Organ nie allein den Ausdruck trägt, sondern der ganze K ö r p e r mit einbezogen ist. Die Körperteile kooperieren, um die >Einheit des Ausdrucks< zu erreichen. Senket den K o p f vorwärts nach der Brust hinab. D e r M u n d verbirgt sich, und hat nichts zu sagen: das A u g e ist niedergesunken und hat nichts zu winken, zu befehlen: die Miene der Wange folgt dem M u n d e und verbirgt sich; nur die Stirn ist vorragend, sie tritt, als H a u p t f o r m , heraus, um fühlbar zu werden — und was gibt die Kopfstellung? Was w i r im A u s d r u c k der Stirn fanden; herrschende Gedanken: die Stellung ist ein Traum der sinnenden Seele. 2 " 8

Die >Kohärenz< dieses Textes ist die des Körpers, der v o n einer als Einheit verstandenen Seele belebt ist. Besonders charakteristisch ist Herders Beschreibung auch, insofern sie der Hypothese v o n der Wechselwirkung zwischen Leib und Seele gerecht zu werden versucht, denn er faßt den Vorgang so, daß dem >inneren< Zustand keine Priorität zukommt. Ziehet den K o p f zurück und macht den M u n d z u m Hauptbilde: um so mehr redet der Wille der Seele. Z u m Himmel, das ist federndes Gebet. Z u andern, da ists Befehl. D e r K o p f rückt sich etwas in den Nacken; der M u n d erhebt sich und tritt voraus - die Stellung des Gebieters! 2 " 9

Das könnte - isoliert betrachtet - auch der Schauspieler als Rezept für die effektvolle >Declamation< oder der Redner als Anleitung für die wirkungsvolle >actio< lesen - oder aber der Bildhauer als Hilfe für die Gestaltung des richtigen Ausdrucks. D o c h diese Ratgeber — wie sie Dene Barnett in eindrucksvoller Weise ausgewertet hat 2IC — verfahren genau umgekehrt: Sie setzen den zu erzielenden A f f e k t voraus und geben dann die dafür nötigen 106

D a s Wortfeld des >Wohnens< der Seele im K ö r p e r wird also weiter abgeschritten.

Werke ed. Proß, Bd. II, S. 449. - Vgl. oben das Zitat S. 89. 2t " E b d . , S. 457. - V g l ebd., S. 458: »Ists ein Gedankenspiel oder Wahrheit, daß die größern Teile des K ö r p e r s diesen Teilen des Haupts im permanenten A u s d r u c k der Seele ziemlich entsprechen? D a ß wie die Stirn g e w ö l b t v o n G e s i n n u n g der Seele, so auf die gewisse Weise die Brust; daß, wie das A u g e W i n k und Verlangen verkündigt, so die Hand; wie der M u n d bestimmteres Verlangen, Befehl, spricht, so ist F u ß und G a n g der Ausrichter des Willens der Seele?« 207

209 2,0

102

E b d . , S. 457. D e n e Barnett, T h e A r t o f Gesture: T h e practices and principles o f i8th century acting, 1987. Barnett hat eine g r o ß e Zahl v o n Handbüchern und anderen Quellen aus dem Europa der frühen Neuzeit - etwa auch v o n Franciscus L a n g , bis hin zu Engel und Austin und darüber hinaus — ausgewertet und in eine umfassende Systematik gebracht. - Vgl. auch den gleichnamigen A u f s a t z Barnetts v o n 1990.

Zeichen an. Zudem neigen diese Handbücher dazu, die einzelnen Ausdrucksmittel zu isolieren. Aus dieser Perspektive könnte Herders Phänomenologie des Ausdrucks auch als geradezu antirhetorisches Modell interpretiert werden, das in seiner Betonung der Ganzheit des Ausdrucks und der Einheit von Sinn und Erscheinung gegen ein instrumentell-rationalistisches Verständnis menschlichen Ausdrucks richtet, wie es ja auch die ganze prudentistisch-moralistische Literatur zur Menschenkenntnis und -beobachtung vor Thomasius gekennzeichnet hatte. Die Einzelanalysen zu den Teilen des Körpers, mit denen die erste Fassung der >Plastik< fragmentarisch endet, werden in der gedruckten Fassung von 1778 systematisiert und ausgeweitet. Inzwischen waren die ersten drei Bände von Lavaters >Physiognomischen Fragmenten< erschienen, deren dritter auch Gedanken >Ueber den menschlichen Mund< enthielt. 2 " Vergleicht man diese Rhapsodien »aus der Fülle des Herzens«," 1 mit Herders analytischen Worten über die Mundpartie, 21 ' dann wird deutlich, wie sehr Herders Perspektive anthropologisch-psychologisch bestimmt ist; und es erscheint nicht unwahrscheinlich, daß Herder sich bewußt absetzen möchte, zumal da er auf diese Passagen mit einer ausdrücklichen Abgrenzung zurückblickt: »Die Absicht des Vorigen ist wohl weder Lobrede der Schönheit, noch ' " In der Auswahl von Siegrist, 1984, S. 203—207. So bezeichnet Lavater seine Ausführungen in der Überschrift des Abschnittes, der wie folgt beginnt: »Alles liegt in dem menschlichen Munde, was im menschlichen Geiste liegt, wie alles, was in Gott ist — sichtbar wird in Jesus Christus! Der Mund in seiner Ruhe, und der Mund in seinen unendlichen Bewegungen — welch eine Welt voll Charakter! wer will aussprechen, was er ausspricht — selber, wenn er schweigt! — So heilig ist mir dieß Glied, daß ich kaum davon reden kann — [. . .]. Erwartet nichts, Leser, über dieß beseelteste und bedeutsamste aller unserer Organen — Ich bin nicht fähig und nicht würdig, davon zu sprechen.« (Ebd., S. 203) In diesem Stil ist das ganze Kapitel geschrieben. Es folgen völlig apodiktisch gehaltene Sätze über »Fünfzehn Mundstücke«, die auf einer Kupfertafel beigegeben sind. Ein Beispiel: »Die vierte Reihe . . . von einer erhabnen Seele. Der mittlere hat am meisten Adel, Güte, Verstand. Die Güte hat vornehmlich den Sitz in dem Eckgen, das sich von der Oberlippe her auf die Mitte der Unterlippe legt. Der zur Rechten weniger Güte und weniger Verstand. [. . .]« (Ebd., S. 205/207). " 3 Werke ed. Proß, Bd. II, S. 508: »Endlich komme ich zum Unterteil des Gesichts, den die Natur beim Männlichen Geschlecht abermal mit einer Wolke umgab, und mich dünkt nicht ohne Ursach. Hier sind die Züge zur Notdurft, oder (welches mit jenem eigentlich Eins ist) die Buchstaben der Sinnlichkeit im Gesicht, die bei dem Manne bedeckt sein sollten. Jedermann weiß, wie viel die Oberlippe über Geschmack, Neigung, Lust- und Liebesart eines Menschen entscheide: wie diese der Stolz und Zorn krümme, die Feinheit spitze, die Gutmütigkeit runde, die schlaffe Üppigkeit welke: wie an ihr mit unbeschreiblichem Zuge Liebe und Verlangen, K u ß und Sehnen hange und die Unterlippe sie nur schließe und trage: ein Rosenküssen, auf dem die Krone der Herrschaft ruhet. Wenn man etwas artikuliert nennen kann, so ists die Oberlippe eines Menschen, w o und wie sie den Mund schließt [. . .].«

103

Beschreibung der Antike, am wenigsten Physiognomik gewesen, da ich weder Künstler, noch Antiquar, noch Physiognom bin, und allgemeine unbestimmte Ausdrücke zu keinem von dreien etwas beitragen.« 214 Ihm sei es im Unterschied zu diesen um den Nachweis gegangen, daß körperliche Schönheit die Form sei, in der Leben, Kraft und Wohlbefinden sich manifestieren. »Die Wohlgestalt des Menschen ist also kein Abstraktum aus den Wolken, keine Komposition gelehrter Regeln oder willkürlicher Einverständnisse; sie kann von jedem erfaßt und gefühlt werden, der, was Form des Lebens, Ausdruck der Kraft im Gefäße der Menschheit ist, in sich oder im andern fühlet.« 21 ' Herder nimmt die Triade wieder auf und spricht beispielsweise den >Antiquar< als jemanden an, der >gelehrte Regeln< zusammenfügt, während die Physiognomik durch >willkürliche Einverständnisse* gekennzeichnet erscheint: Willkür und Dogmatik waren Vorwürfe, die in der Lavater-Rezeption geradezu topisch waren. Seine eigene Intention faßt Herder in den prägnanten, aber nicht leicht aufzulösenden Satz: »Nur die Bedeutung innerer Vollkommenheit ist Schönheit.« Während er in einem ersten Durchgang die Teile des menschlichen Körpers in ihren Möglichkeiten, zum Ort eines bestimmten Seelenzustandes zu werden oder an der Formung dieses Zustandes mitzuwirken, analysiert hatte, behandelt Herder in einem zweiten verschiedene aktuale Seelenzustände — etwa den Zorn Apollos — und zeigt in wenigen Stichworten, wie sie ihre Gestalt im Leibe erlangen. 2 ' 6 An dieser Stelle hält er eine erneute Abgrenzung für nötig: »Und dies alles sind keine Kunstregeln, keine studierte Ubereinkommnisse, es ist die natürliche Sprache der Seele durch unsern ganzen Körper, die Grundbuchstaben und das Alphabet alle dessen, was Stellung, Handlung, Charakter ist und wodurch diese nur möglich werden.«."1 In Herders Analysen zur plastischen Sprache des Leibes spielen immer wieder sprachkritische Implikationen zumindest eine Nebenrolle. Die Authentizität des leiblichen Ausdrucks kann von der verbalen Artikulation nicht erreicht werden: Auch wenn die Festellung »Bildnerei ist Wahrheit« 2 ' 8 zunächst einmal der Konfrontation mit der Malerei dient, sind doch weitergehende Folgerungen nicht ausgeschlossen. Die Unmittelbarkeit der einfühlenden Identifikation mit dem Kunstwerk kann von Worten nicht eingeholt werden: »Da tritt also seine fühlende Einbildungskraft in die Stelle des 1,4

"6 "7

104

Ebd., S. 513. Ebd. Herder differenziert also ganz analog der Einteilung in Physiognomik und Pathognomik. Werke ed. Proß, Bd. II, S. 5 1 ; . - In welchem Verhältnis die auch hier wieder beigezogene Analogie der Wortsprache zu Herders Sprachphilosophie (etwa der Sprachursprungsschrift) steht, wäre eigens zu prüfen. Ebd., S. 478.

kältern auseinandersetzenden Auges: sie fühlet den Herkules in seinem ganzen Körper, und die Seele, die sich in diesem Körper äußert.« 2 ' 9 Bei seinem hymnischen Preis der >fühlenden Einbildungskraft< hält Herder jedoch an dieser Stelle plötzlich inne: »- lauter Gefühle! Dunkle unnütze Gefühle freilich für den, der bloß den Worten nachempfindet und sich durch ein Strohfeuer entzünden läßt, um diese Wortgefühle nachzuplaudem!« 220 Ein Lob der klassisch-schönen Stirnen von Götterbildern wird mit dem Satz kommentiert: »das sind Stumme, die aber durch Formen inniger und umfassender sprechen, als durch verflogne Worte.« 121 Im vierten »Kritischen Wäldchen< verfolgt Herder an einer Stelle in sensualistischer Manier die Entwicklung der Begriffe durch die Entwicklung der Sinnlichkeit. Jeder von diesen Sinnen hat eigentümliche erste Begriffe, die er liefert, und die den andern bloß appropriiert werden: Ein Gefühl modificiert sich durch alle Sinne; jeder aber gibt demselben seine neue Art, und so erst nur spät und zuletzt tragen sich aus allen Sinnen complexe Begriffe in die Seele über, wie sich verschiedene Ströme in ein großes Meer ergießen."'

Das gilt auch für sehr abstrakte Begriffe: »So wird der Begriff der Wahrheit und auch der Schönheit: er ist ein Werk vieler und verschiedner Organe [. . .]«. 22 ' Gerade diesen Begriff müßte man, so Herder in seiner Genese durch die verschiedenen sinnlichen Erfahrungen rekonstruieren und nicht durch Definition und Deduktion >von oben herabsinnlichen Dingen< immer die Möglichkeit, die Sache mit dem Wort zugleich kennenzulernen, besteht, nicht jedoch bei abstrakten Begriffen. »Wie leicht nehmen wir da das Produkt einer langen Operation des Menschlichen Geistes an, ohne selbst die Operation durchzulaufen [ . . . ] , und so kaufen wir also Folgesätze ohne den innern Grund zu wissen [. . .], Lehrsätze, ohne sie aus ihrem Beweise selbst zu folgern, Worte, ohne die Sachen zu kennen, die sie bedeuten [. . .]: wir umarmen den Schatten statt des Körpers, der den Schatten wirft.« 229 Mit dieser Variation des Höhlengleichnisses bringt Herder wieder seinen Begriff von körperlicher Wahrheit ins Spiel und kritisiert von hier aus in bissiger Weise Zeiterscheinungen: »Lehrlinge der Wissenschaft! so schläft eure Seele ein f. . .]; in kurzer Zeit wünsche ich euch Glück, zu eurer erstarreten, schlaffen Seele, die ein großer Mund geworden ist [. . ,].«2>° Und das ist der klägliche Zustand unsers heutigen ganzen Reiches der Gelehrsamkeit. [. . .] Wir sind leider! jetzt im Zeitalter des Schönen. Die Wut, von schönen Künsten zu reden, hat insonderheit Deutschland angegriffen, wie jene Bürger aus Abdera die tragische Manie. Und wie lernen wir die Begriffe des Schönen? wie, als aus Büchern? 2 ''

In der >Plastik< sind diese Ansätze zur Zeitkritik verschwunden. Aber ganz am Ende greift Herder einen in diesen Zusammenhang gehörenden Gesichtspunkt auf, die Frage nach dem Allegorischen. Und in dieser Schlußpassage, die eines der wichtigeren argumentativen Ziele der >Plastik< dar" 7 Ebd., S. 108. Ebd. '"> Ebd., S. 109. Ebd. '»' Ebd., S. 1 1 0 . 106

stellt, fállt auch jener Begriff, der Herders Theorie auf den Punkt bringt: leibhafte Wahrheit. Die Bildhauerei ist insgesamt eine »beständige Allegorie [. . .], denn sie bildet Seele durch Körper, und zwei größere α λ λ ο kanns wohl nicht geben«; 2 ' 2 aber das ist nur »uneigentlich gesprochen« 2 " - in der eigentlichen Frage ist Herders Position klar: Dem Wesen der Plastik ist die Allegorie entgegengesetzt. »Die bildende Natur hasset Abstracta«, 2 ' 4 und so ist auch die Plastik konkret. »Es ist nicht die abstrakte Liebe, die dasteht, sondern der Gott, die Göttin der Liebe«. 2 " Bloßer »Witz, eine feine Beziehung zwischen zweien Begriffen, oder das Abstraktum eines fliegenden Dufts und eines verfliegenden Schmetterlings« 2 ' 6 sind nicht Thema des Bildwerks: »Mögen andre Künste dies bemerken und insonderheit der Hauch, die Rede, den flüchtigen Schmetterling von Witz und Abstraktion haschen; die Statue ist dazu zu wahr, zu gan%, zu sehr Eins, zu heilig.«2'7 Im Bild des Schmetterlings faßt Herder eine von ihrem Ausdrucksobjekt ablösbare, übertragbare Bedeutung. Diese ist nicht Gegenstand der Plastik. Deren Spezifikum liegt in der Konstitution einer anderen, ursprünglicheren und substantielleren Weise des Bedeutens. Bedenkt man Herders Konzeption des Tastsinnes als des ersten, ursprünglichen Sinnes, dann ist dies das eigentliche Ideal der Möglichkeiten, Sinn zur Erscheinung zu bringen: In der Plastik ist Wahrheit unmittelbar präsent, und dies deshalb, weil sie in ihr >leibhaft< erscheint. »Wie weit ists mit der Kunst der leibhaften Wahrheit gekommen, wenn sie keine leibhafte Wahrheit mehr hat, wenn sie statt des großen Seelendurchwebten Ganzen nach einem Schmetterlinge von Witz, von Bedeutung hascht, der um, oder neben oder über ihr schwebe!« 2 ' 8

2. Die >Signatur des Schonern im menschlichen Körper bei Karl Philipp Moritz Derridas nihilistische 2 ' 9 Sprachphilosophie verabsolutiert die Differenz als Konstituens des Zeichens und als Fundament des Sinnes, der so immer 1,1

Ebd., S. ; 3 ;. Ebd. Ebd., S. 536. Ebd. Ebd., S. 5 3 5f. 1,7 Ebd., S. 536; vgl. ebd., wo Herder noch einmal von der »Bildsäule« spricht, »wo im höchsten Grad alles substantiell, wahr und bestimmt ist«. 2 >' Ebd., S. 5 3 9 f. 2,9 George Steiner, Von realer Gegenwart, 1990, S. 164, spricht vom »Nihilismus des Dekonstruktiven< (vgl. auch ebd., S. 177). !

» ! 4 > "' ! 6 '

107

aufgeschoben ist und nie präsent sein kann. Auch Derrida verwendet Wilhelm von Humboldts Begriff der >ArtikulationSubstanz< ihre Form findet, sondern um die Abstoßung von einem Andern, das seinerseits wiederum nur in der Differenz (und damit letztlich überhaupt nicht) bestimmt werden kann. 240 Die Artikulation ist Negation - und keineswegs eine etwa dialektisch gemeinte. »Die Differenz ist die Artikulation.« 241 Artikulation ist bei ihm nicht das Herausmeißeln einer Gestalt, sondern das Zerspalten eines Kontinuums, das im Entstehen von >DiskontinuitätWas ist NeostrukturalismusBedeutung< so von seinem Schöpfer beglaubigt wird. Die Signaturenlehre setzt nicht auf unendliche Differeni4

' Ebd., S. 109. Ebd., S. 110. 147 Ebd. 141 Ebd., S. 108; »Die Spur ist nicht nur das Verschwinden des Ursprungs, sondern besagt hier [. . .], daß der Ursprung nicht einmal verschwunden ist, daß die Spur immer nur im Rückgang auf einen Nicht-Ursprung sich konstituiert hat und damit zum Ursprung des Ursprungs gerät. Folglich muß man, um den Begriff der Spur dem klassischen Schema zu entreißen, welches ihn aus einer Präsenz oder einer ursprünglichen Nicht-Spur ableitete und ihn zu einem empirischen Datum abstempelte, von einer ursprünglichen Spur oder Ur-Spur sprechen.« (Ebd., S. loyf.). * 4 ' Ebd., S. 108. Ebd., S. 114. 146

Vgl. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 195f., und dagegen Kimmerle, Derrida, S. ¡jff. 109

zen, sondern auf universelle Korrespondenzen, 2 ' 2 deren Sinn durch eine höhere Instanz verbürgt ist. Sie behauptet die Präsenz des in die Schöpfung durch den Schöpfungsakt gelegten Sinnes. Bei Paracelsus, aber auch noch bei Hamann und Novalis ist in der Signatur das Ideal einer Sprache der Dinge formuliert, die nur sich selbst und doch zugleich das Ganze der göttlichen Schöpfung bedeutet. 2 " Karl Philipp Moritz hat 1788/89 in einem kleinen Aufsatz das Modell der Spur mit dem der Signatur konfrontiert und die Konsequenzen für die Ästhetik erörtert. 2 ' 4 Schon Moritz stellt fest, daß die Spur nicht für Authentizität bürgt, daß sie keineswegs ein treuer Abdruck des Dinges ist. So viel fallt [. . .] deutlich in die Augen, daß die zurückgelaßne Spur von irgend einer Sache, von dieser Sache selbst so unendlich verschieden seyn könne, daß es zuletzt fast unmöglich wird, die Verwandtschaft der Spur mit der Gestalt des Dinges, wodurch sie eingedrückt ward, noch ferner zu errathen. — So wie denn jede sich fortbewegende Spitze einerlei Spur zurückläßt, die übrige Gestalt des Dinges, woran sie befindlich ist, mag auch beschaffen seyn, wie sie w o l l e . ' "

Eine gewiß zunächst schlichtere, aber auch klarer formulierte Einsicht als die Reflexionen Derridas. In einem zumindest kommen beide überein: daß die Spur nicht der realistische Abdruck einer Sache sei. Doch in dieser Sache geht es um Unterschiedliches. Derrida verhandelt den >Sinn< des Sprachzeichens, Moritz dagegen die Wirkung des Schönen. Das Schöne hinterlasse eine Spur im Innern, der man letztlich nicht mehr ansehe, von welcher Art eines ästhetischen Gegenstandes sie verursacht sei: »— wenn wir nur einen Augenblick auf den Grund unsers Wesens schauen, und dort die Spur uns 1,1

Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, 1966, S. 56-61. Hartmut Böhme hat das in einer schönen Studie gezeigt: Der sprechende Leib. Die Semiotiken des Körpers am Ende des 18. Jahrhunderts und ihre hermetische Tradition, in: ders., Natur und Subjekt, 1988, S. 1 7 9 - 2 1 1 . - Auch bei Brockes geht es »darum, die »Allgegenwart« des »großen Schreibers« in den Buchstaben seiner Schöpfung und also entgegen dem geläufigen Begriff Schrift als den Ort zu denken, an dem der Autor anwesend ist.« (Klaus Weimar, Gottes und der Menschen Schrift. Z u m vollkommenen Gedicht des Barthold Hinrich Brockes. In: Merkur Nr. 513, Dez. 1991, 45. J g . , S. 1089-1095, hier S. 1089).- Zur Tradition der Signaturenlehre in der frühen Neuzeit vgl. jetzt: Wolf Peter Klein, A m Anfang war das Wort. Theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Elemente frühneuzeitlichen Sprachbewußtseins, 1991, bes. S. 1 2 1 - 1 4 4 , sowie Wilhelm Kühlmann, Oswald Crollius und seine Signaturenlehre, 1992.

2,4

Vgl. zu diesem Aufsatz allgemein jetzt auch Helmut Pfotenhauer, »Die Signatur des Schönen« oder »In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können?« Z u Karl Philipp Moritz und seiner italienischen Ästhetik, 1991; zum Begriff der Signatur ebd., S. 78ff. Moritz, Schriften zur Ästhetik und Poetik, hrsg. von Hans Joachim Schrimpf, S. 100.

110

erklären könnten, w e l c h e nach L e s u n g des H o m e r dieselbe E m p f i n d u n g des S c h ö n e n in uns zurückläßt, die der A n b l i c k des höchsten K u n s t w e r k s unmittelbar in uns e r w e c k t . « 2 ' 6 F ü r die S p u r (das heißt: f ü r das E r l e b n i s ) des S c h ö n e n ist das K u n s t m e d i u m und der G r a d der Realistik der künstlerischen D a r s t e l l u n g sekundär. D i e A b l e h n u n g des Mimesispostulats ist bekanntermaßen ein L e i t m o t i v in M o r i t z e n s Ä s t h e t i k . 2 ' 7 D i e ästhetische E r f a h r u n g ist nicht p r i m ä r medienspezifisch, auch die D i f f e r e n z z w i s c h e n N a t u r s c h ö n e m u n d K u n s t s c h ö n e m w i r d unter d e m G e s i c h t s p u n k t der S p u r hinfällig. » D a s Allerverschiedenste kann daher i m m e r in der letzten S p u r , die es v o n sich zurückläßt, sich wieder gleich w e r d e n ; w i e denn alles w a s da ist, sich auf d e m P u n k t e gleich w i r d , w o seine äußersten Spitzen in unserm D e n k e n z u s a m m e n t r e f f e n , und d o r t eine gemeinschaftliche S p u r v o n sich zurücklassen, die mit nichts außer sich m e h r Ä h n l i c h k e i t hat [. . ,].« 2 ' 8 Was sich in dieser S p u r jedoch findet, sind die >reinsten Verhältnisse^ 2 ' 9 die P r o p o r t i o n e n , die H a r m o n i e , kurz: die E r f a h r u n g des >in sich selbst Vollendetem. 2 6 0 M i t dieser W e n d u n g ist das w i c h tigste T h e o r e m der Ästhetik bei M o r i t z a n g e s p r o c h e n : D i e T h e s e v o n der S e l b s t z w e c k h a f t i g k e i t des K u n s t w e r k s , die auch in K a n t s Ästhetik dann zwei J a h r e später — eine bedeutende R o l l e spielt. I m radikalen Verfechten des A u t o n o m i e p o s t u l a t s ist M o r i t z w e g w e i s e n d g e w o r d e n . 2 6 ' U n d an die-

Ebd. Schrimpf, Karl Philipp Moritz, 1980, S. 109. Moritz, Schriften, S. 100. Ebd. ,( 0 ' Diese Formel markiert das Zentrum von Moritzens Ästhetik. Sie wird herausgearbeitet in der Hauptschrift zur Ästhetik, >Über die bildende Nachahmung des Schönen< von 1788. - Vgl. das Nachwort zu: Karl Philipp Moritz, Beiträge zur Ästhetik. Herausgegeben und kommentiert von Hans Joachim Schrimpf und Hans Adler, 1989, hier etwa S. 131 und 135. !6 ' Vgl. zu Moritzens ästhetischem Grundtheorem jetzt auch die konzise Zusammenfassung bei Eberhard Ostermann, Das Fragment, 1991, S. 34—37. Ostermann bezieht sich auf die Hauptschrift >Ober die bildende Nachahmung des Schönem und betont die interne Vollkommenheit des Kunstwerks bei Moritz im Gegensatz zum Fragment: »Was für Moritz zählt, ist weder der Preis, den das Schöne gekostet hat, noch auch das worauf es verweist. Entscheidend ist vielmehr sein affirmativer Gehalt, der es im Leben verankert. Folglich »läßt sich kein erhabneres Wort vom Schönen sagen als: es ist!«. Dagegen wird es im Diskurs über das Fragment heißen: es ist (noch) nicht.« (Ebd., S. 37). Dieses Fazit wird dem utopischen Charakter von Moritzens Kunstkonzept zu wenig gerecht. Daß und wie bei ihm immer wieder die Harmonie beschworen wird, muß im Kontext seiner psychologischen Arbeiten und Analysen darauf aufmerksam machen, wie sehr das in sich selbst vollendete Kunstwerk und das autonome, in sich ruhende Individuum als ein immer gefährdetes Projekt zu sehen sind. Das psychologische und das ästhetische Ideal konvergieren bei Moritz unverkennbar; >affirmativ< würde ich das nicht nennen. - Wie sehr Moritzens in sich selbst Vollendetes dem Telos nach mit 1,7

11 τ

sem Punkt ergibt sich auch die Möglichkeit der Konfrontation mit der Semiologie Derridas. Denn Moritzens Konzeption des Schönen hat eine semiologische Dimension - darauf haben bereits Hans Joachim SchrimpP 62 und Tzvetan Todorov 2 6 ' verwiesen. Die Negativität der Spur führt nicht in einen Formalismus, auch nicht in einen zeichentheoretischen Nihilismus. Moritzens Argument nimmt eine eigentümliche Wendung ins Positive: Was nichts anderes mehr bedeuten kann, bedeutet nur noch sich selbst und ist gerade deshalb ästhetisch im prägnanten Sinn. Umgekehrt ist dies die semiologische Valenz des Ästhetischen: nicht auf etwas außerhalb zu verweisen, sondern nur auf sich selbst. Das ist jedoch nicht das selbstgenügsam freie Spiel der Signifikanten, sondern die Fülle des Sinns in absoluter Präsenz. So kann die Erfahrung des Schönen bei Moritz als ein — vielleicht altmodisches - Gegenmodell zu neostrukturalistischer Zeichentheorie gedeutet werden. In einem anderen kleinen Aufsatz, den Bemerkungen >Über die Allegorie< von 1789, formuliert Moritz: In so fern eine Figur sprechend ist, in so fern sie bedeutend ist, nur in so fern ist sie schön. — Dieß Sprechende und Bedeutende muß aber ja in dem rechten Sinne genommen werden: Die Figur, in so fern sie schön ist, soll nichts bedeuten, und von nichts sprechen, was außer ihr ist, sondern sie soll nur von sich selber, von ihrem innern Wesen durch ihre äußere Oberfläche gleichsam sprechen, soll durch sich selbst bedeutend werden. 104

Das ist also die semiologische Konsequenz des Autonomiepostulats. Und in diesem Zusammenhang fallt auch der Begriff der Oberfläche, von dem hier — vor allem aber anläßlich von Rilkes durchaus anschließbaren Überlegungen zu Rodins Kunst - noch zu sprechen ist. - Doch wie kann die zunächst nur behauptete Sinnfülle, die in der Identität von Zeichen und Bezeichnetem liegen soll, inhaltlich konkretisiert werden? Genau an dieser Stelle springt für die Spur dann die Signatur ein. Mit der Wendung vom >in sich selbst Vollendetem ist ein immanentes Wechselverhältnis der Teile des schönen der romantischen Idee des Fragments übereinkommt, wird beispielsweise aus folgendem Zitat deutlich (es steht in >Über die bildende Nachahmung des Schönem): »Von den Verhältnissen des grossen Ganzen, das uns umgiebt, treffen nämlich immer so viele in allen Berührungspunkten unsres Organs zusammen; daß wir dies grosse Ganze dunkel in uns fühlen, ohne es doch selbst zu seyn: die in unser Wesen hineingesponnenen Verhältnisse jenes Ganzen streben, sich nach allen Seiten wieder auszudehnen: das Organ wünscht, sich nach allen Seiten bis ins Unendliche fortzusetzen. Es will das umgebende Ganze nicht nur in sich spiegeln, sondern so weit es kann, selbst dies umgebende Ganze seyn.« (Schriften, S. 82). "6* Schrimpf, Karl Philipp Moritz, S. 1 1 0 — Vgl. auch das Nachwort zu Moritz, Beiträge zur Ästhetik, S. 1 3 ; . !6 ' Théories du symbole, 1977, S. i79ff. 164 Moritz, Schriften, S. 1 1 2 . 112

G e g e n s t a n d e s g e m e i n t , das diesen z u einer Welt i m K l e i n e n macht. M o r i t z greift dabei auf traditionelle Vorstellungen der E n t s p r e c h u n g v o n und Makrokosmos26'

Mikro-

u n d d a m i t a u f d i e S i g n a t u r e n l e h r e z u r ü c k . >Bei d e r

B e t r a c h t u n g d e s A p o l l o v o n B e l v e d e r e < stellt s i c h d a s f ü r i h n s o d a r : Ist nicht alles in der N a t u r voller Bedeutung, und ist nicht alles Zeichen v o n etwas G r ö ß e r n , das in ihm sich offenbaret? [. . .] Ist nicht der zarte Finger, noch außer seiner besondern Bestimmung, ein Zeichen v o n der Geschmeidigkeit und Biegsamkeit des ganzen K ö r p e r s , an dem er befindlich ist? D i e Hand ein Zeichen v o n der alles ergreifenden und in sich fassenden K r a f t der menschlichen Organisation? [. . .] Lesen wir nicht in jedem kleinen Theile des Gebildeten die Spuren des G r ö ß e r n , das sich darin abdrückt? - A u f die Weise wird alles, was uns umgiebt, zum Zeichen; es wird bedeutend, es wird zur Sprache. D a wir selbst nichts Höheres, als die Sprache, besitzen, w o d u r c h sich unsre denkende K r a f t , als der edelste Theil unsers Wesens, offenbart, so stellen wir das Schöne am höchsten hinauf, w e n n wir sagen, daß es gleichsam durch eine höhere Sprache zu uns redet/ 6 6 M i t dieser >höheren Niedrigere

Sprache< ist k e i n a b b i l d e n d e s

System gemeint.

repräsentiert das H ö h e r e , insofern seine o r g a n i s c h e

m e n h e i t es z u m A n a l o g o n

Das

Vollkom-

des g r ö ß e r e n G a n z e n macht. E s trägt

dessen

Signatur. D a s z e n t r a l e M u s t e r e i n e s M i k r o k o s m o s i n d i e s e m S i n n ist, d a s z e i g t d e r T e x t , w i e in d e r g a n z e n h e r m e t i s c h e n T r a d i t i o n v o n P a r a c e l s u s 2 6 7 b i s h i n z u Novalis,268 der menschliche K ö r p e r .

E r ist d e r w a h r e M i k r o k o s m o s

t r ä g t s o d i e S i g n a t u r d e s > g r o ß e n G a n z e m . 2 6 9 Z u g l e i c h ist e r g e n a u

und durch

d i e s e s e i n e V e r f a ß t h e i t das P a r a d i g m a d e s S c h ö n e n ü b e r h a u p t . M o r i t z k r i tisiert v o n hier aus W i n c k e l m a n n g a n z f u n d a m e n t a l u n d g e l a n g t dabei z u m vielzitierten

Begriff

der

>Körperschönheit
A p o l l in B e l v e ,6'

266

Vgl. ebd., Schriften, S. 121 (aus den >Grundlinien zu einer vollständigen Theorie der schönen Künste«): »12) D e r Z u s a m m e n h a n g der ganzen N a t u r würde für uns das höchste Schöne seyn, w e n n wir ihn einen A u g e n b l i c k umfassen könnten. 13) Jedes schöne G a n z e der K u n s t ist im Kleinen ein A b d r u c k des höchsten Schönen im großen G a n z e n der Natur.« — Vgl. auch ebd., S. 122. E b d . , S. 201 f.

167

»Der Arzt m u ß Zeichen- und Spurenleser sein, weil der menschliche Leib, insofern er Quintessenz der Elemente und M i k r o k o s m o s ist, derjenige O r t im Universum ist, an welchem sich die kosmischen und irdischen Zeichenketten am engsten vernetzen.« (Böhme, D e r sprechende Leib, S. 191).

168

»Es giebt nur Einen Tempel in der Welt und das ist der menschliche K ö r p e r . Nichts ist heiliger, als diese hohe Gestalt. [. . .] M a n berührt den Himmel, w e n n man einen Menschenleib betastet. [. . .] Religiositaet der P h y s i o g n o m i k . Heilige, unerschöpfliche H y e r o g l y p h e jeder Menschengestalt.« Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe, Bd. 2, S. 762^ - Zit. bei B ö h m e , D e r sprechende Leib, S. 204.

Moritz, Schriften, S. 77. ' 7 ° Schon Herder bringt in der >Plastik< den B e g r i f f der Vollkommenheit mit dem menschlichen K ö r p e r zusammen; vgl. auch Ostermann, D a s Fragment, S. jof. 169

»i

dere< stellt er ironisch fest, der »Genius der Kunst« habe gerade geschlafen, »da er sie niederschrieb«, woraus der »falsche Rath« erklärbar sei, den Winckelmann gibt: 27 ' »Gehe mit deinem Geiste in das Reich unkörperlicher Schönheit, und versuche ein Schöpfer einer himmlischen Natur zu werden, um den Geist mit Schönheiten, die sich über die Natur erheben, zu erfüllen!«272 Moritzens Kommentar hierzu formuliert einen Kanon der Kunst: Wer diesem Rathe folgt, wird ganz des Ziels verfehlen - Die Kunst mit ihrem Geiste soll in das Reich der körperlichen Schönheiten immer tiefer dringen, und alles Geistige bis zum Ausdruck durch den Körper führen; sie soll den Geist mit Schönheiten, die in der Natur würklich sind, erfüllen, um sich bis zum Ideal der höchsten Körperschönheit zu erheben. 27 '

Max Dessoir kommentiert in seiner — interessante Konstellation — von Dilthey betreuten Dissertation über >Karl Philipp Moritz als Aesthetiker< diesen Satz mit der Bemerkung: »damit ward ein Schacht aesthetischer Einsicht erschlossen, den die Arbeit eines Jahrhunderts noch nicht erschöpft hat.« 274 Moritzens >Körperschönheit< wird von Dessoir also zum Leitthema der ästhetischen Bemühungen des 19. Jahrhunderts (er denkt dabei wohl vor allem an die zweite Hälfte) erklärt. Wie ist nun im einzelnen die Körperschönheit als der Leitfaden des Schönen zu denken? Die >Signatur des Schönem — damit ist zum Gedankengang des gleichnamigen Aufsatzes zurückzukehren — liegt in der immanenten Vollendung, in der Repräsentanz des großen Ganzen durch das Kunstwerk. Zum Leitfaden wird der menschliche Körper vor allem deshalb, weil er die Vollkommenheit tatsächlich zeigt: »Eben darum rührt uns die Schönheit der menschlichen Gestalt am meisten, weil sie die inwohnende Vollkommenheit der Natur am deutlichsten durch ihre zarte Oberfläche schimmern, und uns, wie in einem hellen Spiegel, auf den Grund unsres eignen Wesens, durch sich schauen läßt.« 27 ' Die >inwohnende Vollkommenheitc damit ist weder ein Abbildungsverhältnis noch eine allegorische Nachkonstruktion gemeint, und vollends geht es nicht um die Spur der Vollkommenheit, in welcher nur deren Abwesenheit sich manifestierte; der menschliche Organismus, der die Vollkommenheit des großen Ganzen der Welt und der Natur in sich b e herbergt^ trägt dessen Signatur. Diese Vollkommenheit ist in ihm präsent. Dazu gehört, daß sie erscheint, an der Oberfläche des Körpers. Aber nicht das äußerliche Einkleiden eines vorher bereits bestimmten Geistigen ist da271

Moritz, Schriften, S. 244^ Ebd., S. 245. 275 Ebd. 274 Max Dessoir, Karl Philipp Moritz als Aesthetiker. Diss. phil. Berlin 1889, S. 46. 27 ' Moritz, Schriften, S. 96. - Vgl. auch ebd., S. 120: »Die vollkommenste Darstellung der vollkommensten menschlichen Bildung ist der höchste Gipfel der Kunst, nach welchem sich alles übrige abmißt.« 172

114

mit gemeint, nicht der einfache Ausdruck eines Inneren. Die Vollkommenheit ist nicht vorher da und wird nur sichtbar gemacht. Vielmehr besteht sie im letzten gerade darin, daß sie leiblich-organisch ist. Die Differenz von Seele und Leib wird darin hinfallig. »Die Nacktheit selber, welche jeden Mangel aufdeckt, und jedes andre Thier entstellt, ist bey dem Menschen das höchste Siegel der Vollendung seiner Schönheit, die allein ihrer Blöße sich nicht schämen darf, sondern, wie die Wahrheit, keinen edlern Schmuck, als sich selber kennt. Denn die Nacktheit selbst entsteht ja aus der vollkommensten Bestimmtheit aller Theile, wodurch alles Zufallige von der vollendeten Bildung ausgeschlossen wird, und nur das Wesentliche auf der Oberfläche erscheint.« 276 Im nackten menschlichen Körper realisiert sich das >in sich selbst Vollendeter, die Vollendung fordert, um Vollendung zu sein, die Nacktheit. Erst im nackten Körper gibt es keine Spaltung in Signifikant und Signifikat mehr. Er ist nicht die >Verkörperung< der Vollkommenheit, schon gar nicht deren Allegorie. In seiner völligen harmonischen Selbstzweckhaftigkeit, die kein Über-sich-Hinausweisen duldet, bedeutet er, was er ist. Genau dies wird vom Kunstwerk verlangt. Es ist, in einer paradoxen Formulierung Todorovs, ein »intransitives Zeichen«. 277 Dieses — von Todorov als epochal gewürdigte — Konzept Moritzens kann, wie man zu Recht angemerkt hat, durchaus als ein »bedeutender Beitrag zu einer modernen Zeichentheorie« 278 angesehen werden, wenn auch nicht im Sinne einer problemlosen Einordnung in neostrukturalistische Konzepte. Zwar ist Moritz damit weit von den traditionellen Repräsentationsmodellen entfernt, in denen das Signifikat einfach als das Etikett des Dinges oder der Vorstellung betrachtet wird. Aber seine Vorstellung von der >Signatur< des Schönen, die das vollendete Kunstwerk gerade in seiner Vollendung trägt, behauptet entschieden die Präsenz des >Sinnes< im Werk.

178

Ebd., Schriften, S. 96. Zit. nach Schrimpf, Karl Philipp Moritz, S. 110. Vgl. Tzvetan Todorov, Théories du symbole, S. 179—197, bes. S. 1 9 ; , w o er von der »signification intransitive« als einer »nouvelle forme de signification« spricht und Moritzens Position so umschreibt: »La signification en art est une interpénétration du signifiant et du signifié: toute distance entre les deux est abolie.« — In seinem Beitrag zu dem Sammelband >Das Laokoon-Projekt* geht Todorov eingangs auch kurz auf Moritz ein, »der das künstlerische Zeichen als erster definiert, als autonomes, intransitives und dunkles (opaque) Zeichen, eine Annahme, die von den Romantikern, dann von den Symbolisten wieder aufgenommen wird, um schließlich unter den Grundannahmen der Arbeiten derjenigen wieder aufzutreten, die die moderne Literaturwissenschaft begründet haben: bei den Russischen Formalisten.« (Tzvetan Todorov, Ästhetik und Semiotik im 18. Jahrhundert. G . E. Lessing: Laokoon, 1984, S. 9 - 2 2 , hier S. 9. - Vgl. jetzt insgesamt auch: Alo Allkemper, Ästhetische Lösungen: Studien zu Karl Philipp Moritz, 1990. Schrimpf, Karl Philipp Moritz, S. 1 1 0 .

IM

Dessen Leitfaden ist der Leib. Er kann aber zur Erreichung dieses Zieles nicht einfach der Nachahmung (oder Darstellung) anheimgegeben werden. Dann würde das Kunstwerk gerade über sich hinaus auf das Vorbild verweisen und die absolute Autonomie in immanenter Vollkommenheit bereits im Ansatz verfehlen. Moritz treibt keinen naiven Kult des Nackten, preist nicht einfach den ausdrucksfahigen Körper, etwa auf Kosten der Sprache. Auf dem Weg zu einer Kunsttheorie wäre das eine Sackgasse, die immer in der Mimesis enden würde. Er geht einen interessanten Umweg und arbeitet dabei mit dem Begriff der Bestimmtheit. Es ist daran zu erinnern, daß die Vollkommenheit des Körpers für Moritz in der »Bestimmtheit aller Theile« 279 liegt. Bestimmtheit ist ein anderes Wort für Form. An Beispielen aus der Natur wird der Gegensatz von Unorganisiertheit und Formstreben erläutert: »Der Tropfen fällt dem Tropfen, der Staub dem Staube, - aber das Gebildete fällt nicht zu sich selber, sondern ist nur in so fern gebildet, als es durch die Bestimmtheit seiner Form, sich aus seiner nächsten Umgebung sondert, und das Zufällige von sich ausschließt.« 280 In diesen für Moritzens Bildungsbegriff bedeutenden Formulierungen zeigt sich ein Ansatz für sein Autonomie-Ideal. Was Form gewinnt, sondert sich von seiner Umgebung. Der menschliche Körper ist im höchsten Maß bestimmt, so sehr, daß er selbst bestimmend werden kann, und daß darüber hinaus diese Bestimmtheit punktuell reflexiv werden kann: Das ist die eigentliche Pointe seines Bildungskonzepts (man muß in diesem Begriff hier immer die konkret-sinnliche Wortbedeutung mit festhalten). Was in einem hohen Grad bestimmt ist, kann seinerseits bestimmen. Der menschliche Körper ist nicht nur >bestimmt< wie die Pflanze, die »aus dem Schooß der Erd' empor« 281 getrieben wird. Er bestimmt auch selbst, in demjenigen Organ, das innerhalb des im höchsten Grade bestimmten Organismus den Gipfel der Bestimmtheit erreicht hat: Und mit der allervollkommensten Bestimmtheit in der Gestalt des Menschen, die bis auf die feinsten Züge sich erstreckt, tritt endlich, in dem beweglichsten Theile des Organs, die redende Stimme selbst ein, welche als das Resultat der vollkommensten Bestimmtheit, nun auch alles übrige in der Natur bestimmt, und durch das Wort ihm seine Grenzen vorschreibt. — Jemehr auf die Weise aus der harten, umgebenden Hülle das Zarte, Bewegliche sich entwickelt, um desto redender und bedeutender wird es durch sich selber — bis dahin, wo die allerzarteste Beweglichkeit, in dem eigentlichen Werkzeuge der Sprache, selbst zur Sprache wird. Denn da wo Mund und Wange lächeln, muß auch die Zunge verständlich reden.

Moritz, Schriften, S. 96. ° Ebd., S. 97. Ebd. 282 Ebd., S. 9 7 f . 2l

116

Die Sprache wird konsequent in der Körperlichkeit fundiert und situiert. Das ist die Garantie für ihre Verständlichkeit, denn die Sprache der Mimik, des Körperlichen also, ist unmittelbar zugänglich. Was Moritz hier entfaltet, ist natürlich schutzlos dem Vorwurf des >Phonozentrismus< ausgesetzt — aber es muß deshalb nicht falsch sein. Moritzens Sprachverständnis ist stark auf Harmonie ausgerichtet. Er beschwört das Ideal einer ganz im Einklang mit den Tönen der Natur stehenden Menschenstimme: Eintönig rauschen die Blätter des Baumes vom Winde hin und her bewegt. Die Nachtigall singt auf seinen Zweigen ihr mannichfaltiges Lied. Indeß der junge Schäfer an seinen Stamm gelehnt, den Nahmen der Geliebten mit Entzückung ausspricht [. . .). Und ist es nicht derselbe Hauch der Luft, welcher in den Blättern des Baumes rauscht, in der Kehle der Nachtigall zu schmelzenden Tönen, und auf der redenden Lippe des Menschen zum verständlichen Laut sich bildet? 18 '

In feinsinniger Aufnahme des aristotelischen Seelenmodells wird die Harmonie des Naturganzen entfaltet. Pflanzen-, Tier- und Menschenseele werden auch im dann folgenden Absatz in eine Reihe gestellt. Dabei weist Moritz erneut auf die in der Stimme gründende Reflexivität hin: So ist nun bey dem bloß Wachsenden nichts als seine Bildung, bey dem Lebenden und Athmenden Bildung und Bewegung, bey dem Lebenden und Denkenden aber Bildung, Bewegung und Laut bestimmt — wodurch das Ganze in Harmonie sich auflöset — das Umfassende sich wieder selbst umfassend, mit leisem Tritt auf seiner Umgrenzung wandelt — und mit dem aufmerksamen Ohre, von der äußersten Zungenspitze, seines Wesens Wiederhall vernimmt. ! ® 4

Ist nun die Stimme der Weg zum Kunstwerk am Leitfaden des Leibes? Man könnte das zunächst annehmen, denn in ihr wird ja das >GebildeteBestimmte< fähig, selbst zu >bestimmensichtbar nachweisbares Gebilde^' 1 ' dauerhaftes Ergebnis der künstlerischen Tätigkeit - ein Gedanke, der auf Rilkes Emphase des Dinges in den Rodin-Studien vorausweist. Wichtiger noch als diese Parallele erscheint aber eine andere: Rilkes Preisen

' l 0 Brigitte Scheer, Conrad Fiedlers Kunsttheorie, 1983; Klaus-Peter Lange, Konrad Fiedler, 1972; Udo Kultermann, Kunst und Wirklichkeit. Von Fiedler bis Derrida, 1991; wichtige Monographie zu Fiedlers Werk im Kontext: Philippe Junod, Transparence et Opacité. Réflexions autour de l'esthétique de Konrad Fiedler, 1976; Ausgabe der Schriften Fiedlers: Schriften zur Kunst, 2 Bände, hrsg. und eingeleitet von Gottfried Boehm, 1991 (mit umfassender Bibliographie und grundlegender, ausführlicher Einleitung). - Im Rahmen der Kunsttheorie der Moderne wurde Fiedler kürzlich eingehender gewürdigt von Rainer Piepmeier, Die Wirklichkeit der Kunst, 1982, in: Kolloquium Kunst und Philosophie 2: Ästhetischer Schein, S. 103—125, hier S. 110—118. — Vgl. auch zuletzt: Helmut Rath, Wo die Anschauung aufhört. Konrad Fiedlers »Schriften zur Kunst«, Merkur 518, Mai 1992, S. 432—435. ' " Werner Hofmann, Grundlagen der modernen Kunst, 3. Aufl. 1987, S. 229—242. Scheer, Conrad Fiedlers Kunsttheorie, S. 143. ' ' ' Zit. nach Boehm, Einleitung zur Ausgabe von Fiedlers Schriften zur Kunst, S. L X X V I . ,l4 Hofmann, Die Grundlagen der modernen Kunst, S. 237. 3M Fiedler, Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit, 1887, in: Schriften I, S. 111—220, hier S. 145. Zitate aus den Schriften werden künftig im fortlaufenden Text nachgewiesen.

123

der Hand-Arbeit. Die Analogie zu einem — hier darzustellenden — Kernstück von Fiedlers Kunsttheorie ist derart frappant, daß man annehmen müßte, Rilke habe dessen Schriften intensiv rezipiert. Doch das läßt sich nicht nachweisen. Das Theoriestück, von dem hier die Rede sein soll, hat auch in der kunstwissenschaftlichen Forschung — neben der spezifisch modernen Fassung des Autonomiegedankens — nur wenig Aufmerksamkeit gefunden.' 1 6 Es geht um die simple, aber nicht zu übergehende Einsicht, daß der Prozeß der Gestaltwerdung, den Fiedler mit einem aus der Psychologie — etwa Wilhelm Wundts 3 ' 7 — übernommenen Terminus als >Ausdrucksbewegung< bezeichnet, notwendigerweise über den Körper, vor allem über die Hand gehen muß; daß es sich also um einen »Wirklichkeitsaneignungsprozeß« handelt, der allein durch »körperlich-motorische Entäußerung«' 1 8 zu leisten ist. Gegenüber den anderen Aspekten von Fiedlers Theorie der Kunst ist dieser Gesichtspunkt im Hintergrund geblieben. »Dabei würde, nun unter Abstreifung der idealistischen Fundierung des Fiedlerschen Denkens, eine Theorie körperlich-motorischer Produktion durch Wiedereinbettung in die Geschichte der Kunstgeschichte wesentlich fruchtbarere Anstöße gegeben haben.« 3 ' 9 Werner Hofmann arbeitet das Entscheidende durch die Kontrastierung mit der Gegenposition heraus, wie sie in der Frage des Malers Conti an den Prinzen in Lessings >Emilia Galotti< erscheint, »ob nicht Raffael, ohne Hände geboren, das größte malerische Genie gewesen wäre.« 320 Während Conti klagt, wieviel auf dem Weg von den Augen »durch den Arm in den Pinsel« verloren gehe, ist dieser Weg nach Fiedlers Konzeption gerade der entscheidende Schritt zur vollen Wirklichkeit, nicht ein Verlust an Gehalt, sondern ein Gewinn an Realität.

3,6

Wichtigste Ausnahme: Gottfried Boehms Einleitung, bes. S. L X I I I f f . '' 7 Wilhelm Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, hier nach der 4. Aufl., Bd. II, S. 598ff".; vgl. Scheer, Conrad Fiedlers Kunsttheorie, S. 140; der Begriff der Ausdrucksbewegung erscheint an vielen Stellen Wundts Arbeiten, breit ausgeführt später im Band 1 der Völkerpsychologie (hier nach der 3. Aufl. 1 9 1 1 , S. 43—142). Fiedler hat >sehr umfangreiche< Exzerpte von Wundts >Grundzügen< angefertigt (im Nachlaß in der Bayrischen Staatsbibliothek München, Fiedleriana III, 2); vgl. die Aufstellung in Schriften I, Einleitung, S. X X V I I . 3 !

'

Werner Busch in seiner knappen Einleitung zu einem Textauszug aus >Der Ursprung der künstlerischen Tätigkeit^ in: Kunsttheorie und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Bd. 1, 1986, hier S. 254. 319 So Werner Büschs — an dieser Stelle von ihm leider nicht weiterverfolgte — anregende Einsicht: Ebd., S. 255. - Busch verweist nur knapp auf Aby Warburgs Kulturtheorie, die hier »angeknüpft zu haben« scheint; »die auf Warburg fußende ikonologische Schule der Kunstwissenschaft hat diesen wohl wichtigsten Interpretationsgedanken offenbar nicht erkannt.« (Ebd.). i! ° Hofmann, Grundlagen, S. 237.

124

Fiedlers Theorie knüpft an Kant an, jedoch nicht, wie man erwarten könnte, an Kants Ästhetik der dritten Kritik, sondern an seine Erkenntnistheorie.' 2 1 (Damit steht Fiedler übrigens durchaus im Einklang mit dem Neukantianismus seiner Zeit). Ausgangspunkt ist die Kantische Einsicht, daß bereits der Gegenstand der Wahrnehmung nicht einfach gegeben ist, sondern vom Subjekt aus der chaotischen Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke allererst konstituiert wird, und zwar über die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit und die Kategorien des Verstandes. Fiedlers Forderung für die Kunst, und darin trennt er sich von Kant, besteht nun darin, daß er eine Sonderentwicklung der visuellen Wahrnehmung ansetzt, welche diese nicht in einen Begriff überführt, sondern im Bereich der Sinnlichkeit hält. Der Erkenntnisprozeß wird damit von Fiedler nicht mehr dualistisch gedeutet, sondern >monistischArticulationArtikulationstätigkeit< über. Fiedler kommt über die Sprachkritik zur Kunsttheorie, genauer: zur These von der körperlichen Konstitution von Kunst-Wirklichkeit. »Der Blick in die innere Werkstatt« (I, 119) des Bewußtseins, in der wir die Elemente unserer zu konstruierenden Wirklichkeit suchen, präsentiert uns zunächst einmal »ein rastloses Werden und Vergehen [. . .], ein Auftauchen und Verschwinden, ein Sichbilden und Sichauflösen von Empfindungen, Gefühlen, Vorstellungen [. . .]« (I, 119). Das alles erinnert sehr an die Formel von William James, den >stream of consciousnessUeber Wahrheit und LügeWunder der Sprachen das jedoch nicht darin liege, daß sie ein >Sein< bedeute, sondern darin, daß sie ein >Sein< sei. »Und da das, was in der sprachlichen Form zur Entstehung gelangt, außerhalb dieser Form überhaupt nicht vorhanden ist, so kann die Sprache auch immer nur sich selbst bedeuten.« (I, 123). Immerhin bereichert die Sprache das Seelenleben, das sonst nur aus >vagen Sinnesvorgängen< bestand, um die »überraschende Möglichkeit eines in sich zusammenhängenden und bestimmten Wirklichkeitsaufbaues« (I, 123). Doch dieser Gewinn ist, wie gesagt, nicht umsonst. E r wird erkauft mit dem Verlust an Unmittelbarkeit, der für den Menschen darin liegt, »daß der neue, abgeleitete Inhalt, indem derselbe mehr und mehr von seinem Bewußtsein Besitz ergreift, jenen elementaren Bewußtseinsinhalt verdrängt, und daß so der menschliche Geist, indem er die Wirklichkeit mehr und mehr erfaßt, von dem Ursprung aller Wirklichkeit mehr und mehr abgedrängt wird.« (I, 124)" 5 Fiedlers Position ist also zwieschlächtig. Einerseits ist ihm die Sprache in der Tradition Humboldts durchaus eine Errungenschaft des menschlichen " " Vgl. hierzu die glänzende Interpretation von Gerhard Kaiser, in: ders., Augenblicke deutscher Lyrik, 1987, S. 31—53· Vgl. auch Bd. I, S. 143: »jeder Versuch, das, was sich als ein sinnlich Vielfaches in einer gewissen Entfernung zeigt, uns in seinem gesamten sinnlichen Reichtum nahe und immer näher zu bringen, muß mißlingen.« 129

Geistes, eine Bereicherung des Seelenlebens, ein Gewinn an Möglichkeiten durch Distinktheit und Artikuliertheit. Andererseits stellt sie — hier steht Fiedler mit in der Tradition der Sprachkritik des 19. Jahrhunderts" 6 - auch einen Verlust dar: Sie ist nicht selbst die sinnliche Vielfalt und Unmittelbarkeit, sie tut vielmehr dieser einen >Zwang< an. »Dieser Zwang besteht in der Notwendigkeit, die Wärme des Gefühls, die Fülle und den Reichtum des ahnenden Schauens, der sich drängenden und sich ablösenden Vorstellungen in das Wort, in den Begriff zu verwandeln, um Klarheit, Ordnung, Zusammenhang da zu schaffen, w o zwar Wärme und Reichtum, aber Dunkel und Verwirrung war.« (I, 125) Das Dilemma ist damit entfaltet" 7 — und der Platz für Fiedlers eigentliche Intention bereitet: Hier springt die künstlerische Tätigkeit ein. Sie soll einerseits das ständige Werden und Vergehen im Geistig-Sinnlichen beenden und dem Bewußtsein Gebilde von Dauer schaffen. Andererseits soll sie dies aber nicht um den Preis leisten, daß die Sinnlichkeit der Vorstellung überhaupt aufgegeben würde. Allerdings ist ein Problem zu bedenken: Nach Fiedler ist es, wenn das Bewußtsein einen sinnlich-vielfältigen Eindruck zu größerer Distinktheit entwickeln will, nicht möglich, diese Vielfalt im Verlauf dieses Prozesses sich zu erhalten: »Indem wir die sinnliche Mannigfaltigkeit eines Eindrucks als solche zu erfassen und uns anzueignen suchen, vermögen wir doch nur eine einzelne Sinnesqualität zu ergreifen. Z u Gunsten dieser einen treten die anderen zurück; ja sie werden bis zu beinahe gänzlichem Verschwinden aus der Wahrnehmung vertrieben, je intensiver wir uns den Eindruck der einen Sinnesqualität zu machen vermögen.« (I, 143) Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der einzelnen Sinne untereinander und nach den Prioritäten. Auch wenn man glaubt, einen sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand gegenwärtig zu haben, handelt es sich nach Fiedler doch immer nur darum, daß die Aufmerksamkeit auf den einen Aspekt (etwa den Tasteindruck) die Konzentration auf den andern (etwa den Seheindruck) ablöst, so daß sich das Bewußtsein in einer »willkürlichen und beständig wechselnden Konkurrenz seiner verschiedenen sinnlichen Hierzu die Textsammlung von Siegfried J . Schmidt und Hermann-Josef Cloeren (Hrsg.): Philosophie als Sprachkritik im 19. Jahrhundert, 1 9 7 1 , und die Darstellung von S. J . Schmidt: Sprache und Denken als sprachphilosophisches Problem von Locke bis Wittgenstein, 1968 (darin bes. Kap. S. 80—145: Die vergessene Sprachphilosophie des 19. Jahrhunderts). 3,7

130

Vgl. auch Bd. I, S. 125: »Meinte man erst, in der Erkenntnis alles zu besitzen, so meint man nun, durch sie vielmehr alles zu verlieren. Die geistige Freiheit, zu der man sich in der Erkenntnis zu entwickeln glaubte, erscheint als eine geistige Beschränkung, da man nicht imstande ist, das dunkle Sein, dessen mannigfache Werdelust man ahnend im eigenen Inneren gewahrt, anders zu einem klaren Sein zu entwickeln, als dadurch, daß man es selbst aufgibt und etwas anderes an seine Stelle setzt.«

Qualitäten erschöpft.« (I, 145) Fiedler diskutiert das Verhältnis der Sinnesqualitäten untereinander am Beispiel von Seh- und Tastsinn, wobei er fragt, ob diese beiden kooperieren oder füreinander einstehen können, wenn es darum geht, einen Gegenstand im Bewußtsein zu konstituieren. In dieser Fragestellung bewegt sich Fiedler durchaus in den Traditionen von Berkeley, Condillac und Herder, allerdings argumentiert er von den Voraussetzungen eines radikalisierten Kritizismus her, das heißt, Fluchtpunkt der sinnlichen Bemühungen kann nicht mehr wie im Kontext des Sensualismus des 18. Jahrhunderts der Gegenstand selbst sein, sondern nur noch die im Bewußtsein zu konstituierende Vorstellung eines solchen." 8 Mit den Termini aus der >Physiologischen Psychologie< Wilhelm Wundts erinnert Fiedler daran, daß es einen >weiteren Kreis< des Bewußtseins gibt, der zwar einen größeren Bereich vorstellt, aber nicht die zur Vorstellung eines Gegenstandes nötige Distinktheit erzeugen kann. Die wird erst erreicht, wenn »das Bild apperzipiert, d. h. in den Blickpunkt des Bewußtseins, in das eigentliche Zentrum der Aufmerksamkeit gehoben wird«, wodurch es schließlich »seine volle Klarheit und Deutlichkeit« gewinnt. (I, 1 5 1 ) Hier folgt Fiedler ganz der Theorie der Aufmerksamkeit bei Wilhelm Wundt." 5 E r wird jedoch entschieden skeptischer, wenn er im Anschluß daran wieder die Kluft betont, die zwischen diesen beiden Schritten liegt. Wenn durch den Übergang von der Perzeption zur Apperzeption' 40 aus einer Wahrnehmung und Vorstellung ein Gefühl oder ein Gedanke wird Fiedler spricht von >Werten< »für unser Gefühlsleben oder für unsere Erkenntnistätigkeit«, — dann wird eben dadurch »die Wahrnehmung oder Vorstellung selbst aus dem Bewußtsein verdrängt« (I, 151). Verantwortlich dafür ist die von Fiedler mit Herbart und Wundt so genannte »Enge des Bewußtseins« (I, 151).' 4 1 Nach der entsprechenden Theorie (in ihrer strenVgl. etwa Bd. I, S. 149: »Es hat gar keinen Sinn, zu sagen, das Auge vermöge der Form der Dinge nicht vollständig gerecht zu werden [. . .]. Als ob es eine Form schlechthin gäbe, und als ob die verschiedenen Sinnesorgane nur die mehr oder minder geeigneten Werkzeuge wären, sich diese Form anzueignen.« Physiologische Psychologie, Bd. II, S. 267. >4 ° Wundt weist darauf hin, daß er den Begriff nicht wie Leibniz verwendet, der unter >Apperzeption< den Eintritt einer Perzeption ins Selbstbewußtsein verstehe. (Ebd., Bd. II, S. 267, Anm. 1). - Vgl. zu den beiden Begriffen insgesamt Pongratz, Problemgeschichte der Psychologie, 2. Aufl. 1984, S. 1 1 5 f f . >4' Vgl. Wundt, Physiologische Psychologie, Bd. II, S. 286f. (mit Anm. 1, S. 287: Hinweis auf Herbart u. a.). — In ihrer strengen Form besagt die Lehre von der Enge des Bewußtseins, daß nur eine einzige Vorstellung jeweils im Bewußtsein anwesend sein könne. Das würde bedeuten, daß etwa eine Wortvorstellung die ihr vorangehende Sinnesvorstellung unweigerlich verdrängen müßte. Das scheint Fiedlers Position zu sein, wenn er im Anschluß an die zitierte Stelle formuliert, wir meinten, »die uns als Tatsache unserer Wahrnehmung und Vorstellung gleichsam von selbst zufallende Bedeutung des sogenannten sinnlichen Daseins uns in

3

gen Form) findet im Zentrum des Bewußtseins immer nur eine einzige Vorstellung Platz, woraus sich in Fiedlers Argumentation auch ein erneuter Ansatz zur Sprachkritik ergibt. Wenn für eine visuelle Vorstellung eine Wortvorstellung ins Bewußtsein tritt, um jene weiterzuentwickeln und faßbar zu machen, dann ist wieder der Sprung getan, den Nietzsche als m e taphorischem bezeichnet; »denn«, so Fiedler, »in demselben Augenblicke, in dem wir das Gesehene aussprechen, ist es nicht mehr ein Gesehenes; in dem sprachlichen Ausdruck führen wir etwas in das Bewußtsein ein, was nicht aus dem Stoff besteht, der durch die Gesichtsempfindung geliefert wird, und daher, anstatt der Entwickelung des Gesichtsbildes zu gute zu kommen, dieselbe vielmehr unmöglich macht.« (I, 154) Damit ist das Problem der Entwicklungsmöglichkeit der verschiedenen sinnlichen Vorstellungen angeschnitten. Sie ist für Fiedler das entscheidende Argument für den Vorrang der visuellen Vorstellungen gegenüber den Tastvorstellungen. E r nimmt hier also genau die Gegenposition zu Herder ein. Für Herder war die Authentizität des Tasteindrucks entscheidend, für Fiedler ist es die Entwicklungsfähigkeit des Sehsinnes. 542 Versucht man die — auch von Herder konstatierte - gewohnte Verflechtung der verschiedenen Sinne einmal rückgängig zu machen und die einzelnen Sinne in ihren Möglichkeiten zu prüfen, als isolierte Vermögen alleine einen Gegenstand zu konstituieren, wird man bald an Grenzen stoßen. Wichtig ist jedoch im Bezug auf das Sehen zunächst die Einsicht, »daß das Sehen überhaupt erst gleichsam zu sich selbst kommen könne, wenn jede Beziehung auf eine in jenem Sinne [dem Tastsinn — G.B.] wahrzunehmende Gegenständlichkeit aus ihm verschwunden sei.« (I, 15 3) Liest sich schon dies wie aus einem Manifest zur modernen Kunst, so verstärkt sich der Eindruck im Verlauf von Fiedlers Ausführungen noch.' 4 ' Aber das Sehen kann eben — wie angeeinem höheren Sinne angeeignet zu haben, während wir doch von diesem sinnlichen Dasein im Augenblick seiner vorgeblichen höheren Aneignung in unserem Bewußtsein nichts mehr vorzufinden vermögen.« (Fiedler, Schriften, Bd. I, S. 151). - Zum Kontext in der Psychologie Herbarts vgl. jetzt Sachs-Hombach, Philosophische Psychologie, 199}, S. 1 j i f . 341 Diese Gegenüberstellung ist nur vor dem Hintergrund der kritizistischen Wende ganz verständlich. In dem Moment, als das Objekt der Erkenntnis nicht mehr die Dinge der Realität, sondern >nur< noch die Erscheinungen waren, konnte die Frage nach der Nähe der Wahrnehmung zum Gegenstand >draußen< natürlich nicht mehr Kriterium für eine Bewertung der Sinne sein. i4 > So heißt es von demjenigen, der sich auf den Weg macht, das Sehen ohne Halt beim Tastsinn eigenständig weiterzuentwickeln: »Er wird zum erstenmal die Möglichkeit wahrnehmen, das Sehen um seiner selbst willen zu treiben, und indem sich dadurch eine ganz neue Bahn für die Entwickelung seines Wirklichkeitsbewußtseins vor ihm auftut, muß er zugleich seine Kräfte prüfen [. . .]. E r befindet sich dem gegenüber, was er Wirklichkeit zu nennen gewohnt ist, in einer sehr veränderten Stellung; alles körperlich Feste ist ihm entzogen, da es eben nichts

132

deutet - nicht dadurch weiterentwickelt werden, daß es auf die Ebene des Begriffs gehoben wird. Die Sprache, dies Fiedlers erneute Kritik, hilft nicht, die visuelle Welt zu konstituieren. Sowohl der Rekurs auf andere Sinnesvorstellungen (wie die des Tastsinnes) als auch die Flucht in die Sprache sind Sackgassen. In beiden Fällen wird das Visuelle durch etwas ihm Wesensfremdes ersetzt. Man ist also auf das Sehen selbst als Instanz verwiesen.' 44 Doch auch dort scheint zunächst eine Sackgasse zu drohen. Denn selbst die stärkste Konzentration, die größte Anstrengung kann nicht überspielen, daß »der Besitz an Sichtbarkeit« vollkommen »unbestimmt, unvollständig, kümmerlich« ist (I, 155): »Es ist ein ungeheurer Irrtum, zu meinen, daß wir von der sichtbaren Gestalt der Dinge eine nur einigermaßen reiche, zusammenhängende und entwickelte Vorstellungswelt besäßen; was wir als sichtbar in unserem sehenden Bewußtsein wahrnehmen, sind unzusammenhängende Bruchstücke, flüchtige, vorübergehende Erscheinungen [. . .].« (I, 1

5

5)

Kann hier der Vergleich mit der Sprache weiterhelfen? Fiedler ist dieser Ansicht; und er relativiert damit einen Teil seiner sprachkritischen Bemerkungen, die immer nur die Funktion haben, die künstlerisch-visuelle Tätigkeit einzuführen und zu profilieren. Denn was die Sprache, bei aller Entfernung zur unmittelbar sinnlichen Vorstellung, leistet, ist immerhin »ein bestimmtes und beharrendes Gebilde, das Wort« (I, 156) vorzustellen, insofern es sich gegenüber der flüchtig-amorphen visuellen Vorstellung als überlegen erweist. Das Wort ist »ein Produkt unserer eigenen Tätigkeit, dessen Entstehung darauf hinweist, daß Vorgänge in unserem Inneren sich bis zu äußeren Bewegungen entwickelt haben.« (I, i ; 6 ) - In dieser Formulierung wird nicht zuletzt der radikal >poietische< Grundzug von Fiedlers Theorie deutlich. 34 ' — Das Wort dokumentiert, daß die inneren Vorgänge »gleichsam die Oberfläche unseres Körpers erreicht« haben (I, 15 6). Genau dies kann und soll auch die künstlerische Tätigkeit für die Sehvorgänge leisten, und sie leistet dies nach Fiedler gerade durch den letzten Schritt, die äußere Vollendung einer als Einheit verstandenen psycho-physischen Aktivität, die mit der inneren Wahrnehmung begonnen hatte. Sichtbares ist und der alleinige S t o f f , in dem sich sein Wirklichkeitsbewußtsein gestalten kann, sind die Licht- und F a r b e n e m p f i n d u n g e n , die er seinem A u g e verdankt.« (I, 153). w I, 154: »Ist es also vergeblich, f ü r das sichtbare Bild der D i n g e eine gestaltende Macht v o n sinnlichen Fähigkeiten zu erwarten, auf denen die Wahrnehmung anderweitiger sinnlicher Beschaffenheit beruht, ist es ebenso vergeblich, zu meinen, daß man durch das Wort zu einer Beherrschung der Welt, sofern sie sichtbar ist, gelangen könne, so können w i r erst dadurch, daß w i r versuchen, uns mittelst des Sehens selbst über ein Gesehenes Rechenschaft zu geben, zu einer Einsicht in den Zustand gelangen, in dem sich unser sichtbares Weltbild befindet.« " " Vgl. B o e h m , Einleitung, S. X V I I I .

133

Damit ist der entscheidende Punkt erreicht, der Fiedlers Kunsttheorie im Kontext einer Analyse der Semiologie des Körpers zu situieren erlaubt. In zahlreichen Variationen formuliert Fiedler seine These, daß allein beim Gesichtssinn seine Aktivität derart weiterentwickelt werden kann, daß sie zu einer distinkten Gestalt gelangt, ohne — wie im Fall der Sprache — durch einen Sprung jeden Kontiguitätsbezug zur ursprünglichen Sinneswahrnehmung und Vorstellung zu verlieren. Als einziger Konkurrent unter den Sinnen wird von Fiedler der Tastsinn geprüft; er jedoch ist, anders als der Sehsinn, nicht in der Lage, allein einen Bewußtseinsgegenstand zu konstituieren. »Der Tastsinn liefert uns Empfindungen und Wahrnehmungen, er verfügt aber über keinerlei Mittel, durch die in einem Produkt ein Seiendes als ein Tastbares gestaltet, eine Tastvorstellung als solche realisiert werden könnte.« (I, 158) Der Tastsinn kann, wie es wenig später heißt, »keine Ausdrucksform« liefern, »in der sich das Vorhandensein von gestalteten Tastvorstellungen nachweisen ließe.« (I, 159) Das ist erstaunlicherweise nicht sehr weit von Herders Position entfernt, wenn auch Herder ganz andere Konsequenzen als Fiedler zieht. Denn auch für Herder ist es nicht die Stärke des Tastsinnes, Gestalt zu erfassen: »Die Hand tastet nie gan\, kann keine Form auf einmal fassen, als die Form der Ruhe und zusammengesenkter Vollkommenheit, die Kugel [ . . . ] ; sonst aber, bei artikulierten Formen und am meisten im Gefühl eines Menschlichen Körpers [ . . . ] , ist sie nie ganz, nie zu Ende, sie tastet gewissermaßen immer unendlich.«h6 Für Herder ist der Tastsinn >dunkelPlastik< von 1778). - Vgl. auch Hans Jonas, Organismus und Freiheit, 1973, S. 204^. 147 Vgl, hierzu Adler, Die Prägnanz des Dunklen, 1990, S. i o i f f . i4 ' Vgl. Bd. I, S. 161: »wollten wir das, was wir die Tastvorstellung an dem Gegenstand nennen, darstellen, wie vermöchten wir dies anders zu tun, als indem wir den Gegenstand selbst wiederholten [. . .]? Wir gelangen dabei nicht um einen Schritt weiter: wir besitzen gar kein Mittel, um uns einer Tastvorstellung unmittelbar zu bemächtigen [. . .].«

134

es beim Sehsinn, und nur bei ihm, möglich ist, »in einem sinnlichen Material selbst zu einem Ausdruck zu gelangen.« (I, 161) Es ist, als ob das sinnliche Vermögen, welches als Tastsinn gleichsam noch in den Banden der Sprachlosigkeit befangen erscheint, da, w o es in der höheren Entwikkelungsform des Gesichtssinns auftritt, die Fähigkeit erhalten habe, sich selbst auszusprechen. (I, 159)

Nur der Sehsinn kann zu seiner eigenen Sprache kommen. Aber ist nicht der Ubergang zur zeichnenden Hand nicht ebenso ein Schritt über eine Kluft, wie der zu den artikulierenden Stimmorganen? Ein Ubergang von einem inneren, geistigen Vorgang (des Sehens und Vorstellens) zu einer äußeren, körperlichen Aktivität? Fiedler legt einigen Nachdruck auf die Feststellung, daß es ein einziger Vorgang sei, der bereits in seinen Anfängen auch ein körperlicher ist: »Es ist ein und derselbe Vorgang, der, mit Empfindungen und Wahrnehmungen beginnend, sich schließlich in Ausdrucksbewegungen entfaltet, und man muß sich durchaus von der Auffassung losmachen, als ob zwei verschiedene Vorgänge statthätten, der eine, der mit der Entwickelung von Gesichtsvorstellungen schlöße, der andere, der mit dem Versuch, die innerlich vorhandenen Vorstellungen äußerlich nachzubilden, anfinge.« (I, 164) Überflüssig, zu betonen, daß sich damit jede Art von Nachahmungstheorie von selbst erledigt. Und wie bei der Sprache ist die Frage nach der Adäquatheit der Wiedergabe unangemessen. Weder ist es sinnvoll, zu fragen, ob die Sprache den Gedanken richtig ausdrücke, hat man doch den Gedanken nie als solchen jenseits der Sprache und liegt doch in ihr »eine Entwickelungsform des Denkens selbst« vor, noch geht es an, dieses Kriterium an den visuellen Ausdruck heranzutragen; »auch hier handelt es sich nicht um ein Vorbild und ein Nachbild« (I, 164): Der geheime Sinn dessen, was vorgeht, indem sich das innere Geschehen, welches unser Bewußtsein von sichtbaren Dingen bildet, gleichsam verbreitet auf die Ausdrucksorgane und etwas hervorbringt, was wiederum nur von dem Gesichtssinn wahrgenommen werden kann, ist ein ganz anderer, tieferer und weittragenderer, als der einer müßigen und unvollkommenen Nachahmung von etwas bereits Vorhandenen [!]. Selbst in der den Augenblick ihrer Entstehung nicht überlebenden Gebärde, in den elementarsten Versuchen einer bildnerisch darstellenden Tätigkeit tut die Hand nicht etwas, was das Auge schon getan hätte; es entsteht vielmehr etwas Neues, und die Hand nimmt die Weiterentwickelung dessen, was das Auge tut, gerade an dem Punkte auf und führt sie fort, w o das Auge selbst am Ende seines Tuns angelangt ist. (I, i64f.)'·" Wohl noch schöner formuliert Fiedler seine Position im >Ersren Bruchstück< des Nachlaßtextes >Kunst und Wirklichkeit (Bd. II, n 6 f . ) : »Ist das Wort in seinem Ursprung eine Ausdrucksbewegung, eine Lautgebärde und wird das ganze Wesen der Sprache durch diese Auffassung klarer und verständlicher, so wird auch die künstlerische Tätigkeit verständlicher, wenn man sie in ihrem Ursprung als Ausdrucksbewegung auffaßt; und zwar nicht so, als ob es sich darum handelte, für

35

Spätestens wenn es um die Frage der Rezeption dieses neuen Gebildes geht, kommt Fiedler mit den immanenzphilosophischen Prämissen seiner Erkenntnistheorie in Konflikt. Streng genommen kann es für ihn überhaupt keine Rezeptionstheorie der Kunst geben. Folgerichtig - und trotzdem bleibt die Position in diesem Punkt inkonsistent — versteht er die Aufnahme des Kunstwerks als Nachproduktion (es müßte eigentlich eine vollständige Neu-Produktion sein)." 0 Sein Interesse gilt ganz der Produktionsseite, wie es ja auch bei vielen Künstlerselbstkommentaren der Fall ist. Und für ihn handelt es sich um einen Prozeß der Artikulation von Sinn, der nur in der visuell-motorisch erzeugten Gestalt existiert, nicht diesseits oder jenseits. Charakteristisch und essentiell für diesen Prozeß ist die körperliche Aktivität, die zwar vom ersten Moment der Wahrnehmung an mitspielt, aber erst dann äußerlich sichtbar wird, wenn Arm und Hand dort ansetzen, wo das Auge nicht mehr weiterentwickeln kann. Das ist, mit den Worten Fiedlers, ein »Vorgang, der sonst auf bestimmte Teile des menschlichen Organismus beschränkt bleibt, zum Behuf seiner eigenen Entfaltung in diesem Organismus mehr und mehr um sich greift und schließlich zu einem äußerlich wahrnehmbaren Bewegungsvorgang wird«. (I, i 6 j f . ) Die Eskalation des körperlichen Moments wird das zentrale Spezifikum der künstlerischen Tätigkeit, wodurch sie auch gegen andere geistige Tätigkeiten profiliert wird: Bei dem diskursiven Denken vollzieht sich der weitaus größte Teil der Arbeit im Inneren des Menschen. Die körperliche Beteiligung ist nicht augenfällig [ . . . ] . Sehr anders verhält es sich bei der künstlerischen Tätigkeit. Es gibt im Inneren des Menschen gar keine Organe, die das ausführen könnten, was das Ziel des künstlerischen Strebens ist; um auch nur an den Anfang des Weges zu kommen, der jenem Ziele zuführt, muß der Künstler zu einer äußeren Tätigkeit greifen, und an

etwas den Ausdruck zu finden, was anderweitig, wenn auch nur als geistiges Gebilde vorhanden wäre, sondern so, daß der psychophysische Prozeß, der sich aus dem Reiz entwickelt, welcher von dem Gesichtssinn aufgenommen wird, in der ersten Regung bildnerischen Gestaltens den Punkt erreicht, w o er zu seiner Weiterentwicklung der Gebärde, des äußern Zeichens bedarf und nun seine Weiterentwicklung überhaupt nur in und durch diese Welt der äußern Zeichen finden kann. Die äußere bildnerische Tätigkeit des Künstlers ist nicht gut zu denken, als ob sie eine innere Tätigkeit begleitete, sondern so, daß sie die Form ist, in der die innere Tätigkeit erscheint, sobald sie auf einer gewissen Stufe angelangt ist, und in der ihre Weiterentwicklung sich überhaupt vollzieht. Dem Punkt, w o die Tätigkeit der Hand an dem bildnerischen Material einsetzt, geht ein Prozeß voraus, in dem von einer bildnerischen Tätigkeit noch nicht die Rede sein kann. Von dem Augenblick an aber, w o der Prozeß sich bis zur bildnerischen Tätigkeit entwickelt hat, kann eine Weiterentwicklung auch nur in Gebilden gedacht werden.« Vgl. Bd. I, S. i98ff. und bes. S. 184. 156

diese äußere körperliche Tätigkeit ist alles gebunden, was er erreichen kann.

(I, i7j) Die motorische Aktivität als Grundsatz einer Theorie der modernen Kunst scheint in ihrer Reichweite und Fruchtbarkeit noch nicht angemessen gewürdigt zu sein, könnte sie doch auch neuere Formen der künstlerischen Arbeit erreichen, von denen nicht alle in einem gestalteten Produkt ihr Ziel finden, wie Action-Painting oder Performance-Kunst. Diese Erscheinungen sind mit Fiedlers Theorie durchaus kompatibel, denn dort ist ja die Gebärde bereits eine künstlerische Tätigkeit, sofern in ihr die Sichtbarkeit einer Vorstellung äußerlich — wenn auch in vergänglicher Form, aber doch gestalthaft - realisiert w i r d . " 1 Das ist Fiedlers ureigener Beitrag zur Phänomenologie der Gebärde 5 ' 2 in der Moderne. Für ihn ist bei alldem aber wichtig, immer wieder den auch geistigen Charakter dieser Tätigkeit zu betonen: Erst wenn man begriffen hat, daß jene körperliche Manipulation als die unmittelbare Weiterentwickelung desjenigen leiblichen Geschehens aufgefaßt werden kann, welches bei den Vorgängen des Schauens und Vorstellens nachweisbar ist, oder wenigstens vorausgesetzt werden muß, wird man zu der Einsicht gelangen, daß in dieser Entwickelung des leiblichen Geschehens auch eine Entwickelung des geistigen Geschehens enthalten ist. Nicht in der Emanzipation sogenannten geistigen Tuns von leiblichem kann irgend ein Fortschritt vor sich gehen, vielmehr lediglich und ausschließlich durch die Entwickelung sinnlich-körperlicher Tätigkeit zu immer greifbarerem Vorhandensein, zu immer steigender Bestimmtheit und Deutlichkeit. (I, 167)

Damit wird der Kunst auch im Kontext anthropologischer Überlegungen eine wichtige Position angewiesen, ermöglicht sie doch als einzige menschliche Aktivität einen sowohl klaren, distinkten, also gedankenförmigen, als auch sinnlichen Ausdruck von Vorstellungen. Während das Denken wie die Sprache die sinnliche Komponente der Vorstellung »vernichtet« (I, 189), setzt das »Sehen im Sinne des Künstlers« erst dort ein, »wo alle Möglichkeit des Benennens und Konstatierens im wissenschaftlichen Sinne aufhört.« (I, 170) An das Theorem von der motorischen Vollendung des Wahrnehmungsvorganges knüpft Fiedler eine ganze eigene Künstlerkonzeption. So behauptet er, daß sich der Künstler gegenüber seinen Mitmenschert nicht durch eine besondere Begabung für (intensives) Sehen, Vorstellen oder überlegenes Auswählen auszeichnet: »er unterscheidet sich vielmehr dadurch, daß ihn die eigentümliche Begabung seiner Natur in den Stand setzt, von der anschaulichen Wahrnehmung unmittelbar zum anschaulichen Ausdruck überzugehen; seine Beziehung zur Natur ist keine Anschauungsbeziehung, sondern eine Ausdrucksbeziehung.« (I, 173) Das Spezifikum der >" Vgl. Bd. I, S. i 6 3 f . So der Titel des Buches von Gerhard Austin über Hofmannsthal.

137

Kunst ist nicht das Schauen, Vorstellen, Imaginieren, auch nicht der zugrundegelegte Gedanke, die Idee, sondern das Machen. Das >Hand-Werk< ist das Wesen der Kunst: eine ganz alte und zugleich sehr moderne Kunstauffassung, nicht die der Renaissance und nicht die der Genieästhetik. Der Künstler ist keineswegs ein irrational und unbewußt Schaffender, dessen Produkte hinter der Klarheit und Deutlichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse zurückstehen müßten; stattdessen wird er zu der Einsicht kommen, »daß alle Wissenschaft im Grunde ein armseliges Ding sei, da sie sich einbilde, ein vollständiges und klares Weltbewußtsein zu entwickeln, während das, was in diesem Bewußtsein lebe, doch nur Worte und Gedanken, nicht aber die Dinge selbst seien.« (I, 178) Im Verlauf der bildenden Tätigkeit wird der Künstler finden, daß »die Trübungen, in die er sein Bewußtsein gehüllt sah«, verschwinden: »das Schwanken der Erscheinungen macht einem festen Eingreifen, die Unbestimmtheit zunehmender Bestimmtheit Platz.« (I, 179) Seine Arbeit wird in einer Weise sachhaltig, daß es ihm scheint, als sei die Trennung von den Dingen aufgehoben. Und sie nimmt ganz von ihm Besitz. So geht er derart in seiner >Tätigkeit< auf, daß er geistige und körperliche Komponenten nicht mehr unterscheiden kann." 5 Dieser Zustand der totalen Beanspruchung durch die künstlerische Tätigkeit, der nur von einigen Wenigen erreicht werden kann, führt zu einer Verfassung des Künstlers, die im Kontext der Autonomie-Debatte zu sehen wäre: »Je mehr und mehr er sich nicht mehr bloß mit dem Auge oder mit der Einbildungskraft, sondern mit seiner ganzen Person, mit der Empfindungsfahigkeit seines ganzen Körpers, mit der Tätigkeit seiner Hände in den Vorgang verstrickt fühlt, der mit der Wahrnehmung des Gesichtssinnes beginnt und mit der äußerlich sichtbaren Darstellung endet, desto mehr scheidet er aus allen den Beziehungen zu den Dingen aus, die vorher Macht über ihn hatten.« (I, 191) Fiedlers Theorie des künstlerischen Prozesses ist von einer beeindruckenden Konsequenz und Geschlossenheit, dies ist jedoch nicht durch »Kunstferne« erkauft, die man vielen Ästhetik-Theorien vorwerfen kann." 4 Fiedler stand bekanntlich mit vielen Künstlern seiner Zeit in engem Kontakt, darunter Hans von Marées, Anselm Feuerbach und Adolf von Hildebrand. Die prognostische Kraft seiner Konzeption für die Kunst der Moderne über Cézanne bis hin zu Paul Klee und darüber hinaus ist vielfach betont worden.

"

4

138

Ohne den starken sprach- und rationalitätskritischen Akzent findet man diese Komponenten einer Künstlerkonzeption auch in Rilkes Rodin-Studien wieder. Vgl. Gottfried Boehm, Abstraktion und Realität. Zum Verhältnis von Kunst und Kunstphilosophie in der Moderne, 1990, S. 225.

Gegenüber der Sprache ist Fiedler vielleicht etwas zu rigoros, zweifellos aus Abgrenzungsgründen (wie Lessing gegenüber der Malerei). Gerade in der Moderne bemüht sich die Literatur doch in besonderer Weise darum, die Materialität der Sprache ernst zu nehmen und herauszuarbeiten. Wäre von hier aus nicht eine der Fiedlerschen ähnliche Theorie auch für den sprachlichen Artikulationsvorgang denkbar, die nicht einen derart prinzipiellen Schritt hin zum Wort ansetzt? Im übrigen sagt Fiedler nicht, wo genau im Prozeß der sprachlichen Artikulation dieser Sprung hin zum Wort eigentlich statthaben solle; das wäre auch nicht einfach zu leisten. Aber Fiedler ist nicht an einer ausgearbeiteten Sprachtheorie interessiert. Sein Konzept des visuell-manuellen Denkens hat nur einen gravierenden Mangel, auf den bereits hingewiesen wurde: Es leistet keine eigenständige theoretische Exposition des Rezeptions Vorganges. Sein Konzept ist, worüber er sich im klaren war, eine Theorie der künstlerischen Produktion.'" Aber sie ist noch mehr als das: Eine Theorie des visuellen Denkens, welche die zentrale Rolle reflektiert, die der Leib im Prozeß dieses Denkens bis hin zur Vollendung in »gestaltender Handarbeit«" 6 spielt.

4.

K ö r p e r l i c h e A r c h i t e k t u r e r f a h r u n g : Heinrich W ö l f f l i n s P r o l e g o mena zu einer P s y c h o l o g i e der A r c h i t e k t u r

Heinrich Wölfflin wird im allgemeinen nicht ins Zentrum der Einfühlungstheorie gestellt. In älteren Darstellungen erscheint er vereinzelt unter dieser Rubrik," 7 wenn er auch meist nicht ausführlich behandelt wird. Seine DisG o t t f r i e d B o e h m hat diese K r i t i k , die in der Fiedler-Forschung bisher keine besondere R o l l e spielt, jüngst so formuliert: » D e r Weg der Poiesis beschreibt mithin eine Einbahnstraße, aus dem G e b i l d e führt kein Weg zurück, etwa zum Betrachter, der sich in interessierter Absicht Rechenschaft darüber geben möchte, w o r i n der jeweilige Z u g e w i n n an E r k e n n t n i s eigentlich besteht. Fiedler scheint dieses D i l e m m a selbst kaum bemerkt zu haben, vermutlich w u r d e er hier das O p f e r seiner poietischen Metaphysik, die andere E r k e n n t n i s z u g ä n g e (verstehende, rezeptive, urteilende etc.) verdeckte. D e n Betrachter konnte er nur als einen zweiten Produzenten bestimmen.« ( G o t t f r i e d B o e h m , Sehen. Hermeneutische R e f l e x i o nen, 1992, hier S. 62). >* E b d . Müller-Freienfels, Psychologie der K u n s t , B d . 1 , 1 9 1 2 , S. 1 0 5 ; Volkelt, System der Ästhetik, B d . 1, 1. A u f l . 1905, S. 433 mit A n m . 1, w o es u . a . heißt: » W ö l f f l i n hätte auch bei der P s y c h o l o g i e der E i n f ü h l u n g mehrfach zur Bestätigung herangezogen werden können.« - A u s f ü h r l i c h e r ist Herman S ö r g e l , E i n f ü h r u n g in die Architektur-Ästhetik, 1 9 1 8 , der W ö l f f l i n zusammen mit T h e o d o r L i p p s im K a pitel über die >Einfühlungstheorie< behandelt (S. 3 4 - 4 5 , hier bes. S. 4 1 ) . In der neueren >Geschichte der psychologischen Ästhetik< v o n Christian G . Allesch, 1987, die im übrigen sehr viele heute vergessene A u t o r e n berücksichtigt, er-

39

sertation >Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur^" 8 1886, also ein Jahr vor Fiedlers Hauptschrift entstanden, hat auch innerhalb der Erforschung von Wölfflins Werk nicht die größte Aufmerksamkeit gefunden, obwohl sie »die Keime zu den Ideen der späteren Bücher« 5 ' 9 und auch Ansätze zu seiner kultur- und stilphysiognomischen Methodik enthält. Diese Schrift steht mitten in der Diskussion um den Einfiihlungs- und Symbolisierungsbegriff, die von Johannes Volkelt,' 60 dem älteren und dem jüngeren Vischer, Lotze, Hermann Siebeck' 6 ' und anderen angestoßen und später vor allem zwischen Lipps, Volkelt und Groos geführt wurde. Wölfflins Dissertation vereinigt die wichtigsten Motive der Debatte in allerdings nicht sehr stringenter Argumentation.' 62 Kernsatz und Ausgangspunkt von weiteren spezifisch architekturtheoretischen Überlegungen ist die folgende These: »Unsre leibliche Organisation ist die Form, unter der mr alles Körperliche auffassen.« (S. 21) Der Körper liest die Sprache der Kunst, ohne Körper gibt es keine adäquate Rezeption von Kunst, die ihrerseits körperlich verfaßt ist. Was heißt das im einzelnen? Zunächst diskutiert Wölfflin die seit der schönen Wellenlinie (line of beauty) bei Hogarth' 6 ' in Variationen immer wieder vertretene Lehre, daß als schön diejenigen Formen angesehen werden, die der Beschaffenheit der Augenmuskeln am besten entsprechen.' 64 Dies wird von Wölfflin abgelehnt, wobei er sich auf Hermann Lotze beruft, der, »indem er auf das gleichmäßige Gefallen einer Wellenlinie und eines rechtwinscheint Wölfflin nicht. - Einige Hinweise zu Wölfflins Rolle innerhalb der Einfühlungsästhetik gibt Meinhold Lurz, Heinrich Wölfflin. Biographie einer Kunsttheorie, 1981, in seinen Ausführungen zur Wirkung Wölfflins, S. 11—13 (erwähnt werden u . a . die Philosophen Jonas Cohn, Allgemeine Ästhetik, 1901, S. 58, Anm., und Moritz Geiger, Über das Wesen und die Bedeutung der Einfühlung, 1 9 1 1 , S. 24, Anm.). - Vgl. auch Lurz, Wölfflin, S. 2 1 8 - 2 2 4 (zur Kritik an Wölfflins Einfühlungskonzept). ' " In: Kleine Schriften (1886-1933), hrsg. von Joseph Gantner, 1946, S. 1 3 - 4 7 . Zitate hieraus werden künftig im fortlaufenden Text nachgewiesen. — Die neuere Forschungsliteratur zu Wölfflins Dissertation ist spärlich. A m ausführlichsten: Meinhold Lurz, Heinrich Wölfflin, S. 65-89. Joseph Gantner, Anmerkungen, in Wölfflin, Kleine Schriften, S. 247. 3 '° Der Symbol-Begriff in der neuesten Aesthetik, 1876. ,< " Hermann Siebeck, Das Wesen der ästhetischen Anschauung. Psychologische Untersuchungen zur Theorie des Schönen und der Kunst, 1875. Lurz, Heinrich Wölfflin, S. 69, zeigt, wie schlampig Wölfflin in seinen Bezügen vor allem auf Robert Vischer und Hermann Lotze arbeitet und daß er vor allem von Volkelts Schrift abhängig ist, der er aber mit seiner Kritik nicht gerecht wird. 363 Götz Pochat, Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie, 1986, S. 388—390, hier bes. S. 389; vgl. auch Jonas Cohn, Allgemeine Ästhetik, S. 1 7 1 , und die allgemeineren Hinweise ebd., S. ;8f., Anm. 1 (Herder, Schelling, Lotze u. a.). 364 >Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur^ S. 14, unter Hinweis auf Wilhelm Wundt.

140

kligen Mäanders hinweist«, richtig bemerke, »daß wir in unserm ästhetischen Urteil die körperliche Mühe stets abziehen, daß also die Wohlgefälligkeit nicht auf der Bequemlichkeit der Verrichtungen beruht, durch welche wir uns die Wahrnehmung verschaffen.« (S. 14) Es geht demzufolge nicht um eine aus der natürlichen Beschaffenheit des einzelnen Sinnesorgans begründete ästhetische Qualifikation des Gegenstandes. Mit der Parallele der Musik, auf die er im weiteren Verlauf immer wieder zurückgreifen wird, deutet Wölfflin seinen Grundsatz an: »Hätten wir nicht die Fähigkeit, selbst in Tönen Gemütsbewegungen auszudrücken, wir könnten nie und nimmer die Bedeutung fremder Töne verstehen. Man versteht nur, was man selbst kann.« (S. 15) Der Sache nach ist dies ein Theorem dann auch von Diltheys Hermeneutik: Daß wir menschliche Lebensäußerungen verstehen können, weil wir selbst Menschen sind. Wölfflin wendet dies aber konsequent ins Körperliche. Seine Variante der Einfühlungsästhetik — im Kontext der Diskussionen nicht allein dastehend, am ehesten hier mit dem radikalen Karl Groos zu vergleichen — versteht den Akt des Sich-Hineinversetzens durchaus und ganz konkret als körperlichen. Gleichzeitig zieht er die Verbindungslinie zum damals so genannten >SymbolisierungstriebSelbstkritik" Lurz, Wölfflin, S. 87.

143

Die von Wölfflin angeführte >Theorie< war 1886 wirklich noch sehr frisch. Die >Principles of PsychologyÜber Gemüthsbewegungen< des Dänen Carl Lange war 1885 auf dänisch, aber erst 1887 auf deutsch erschienen. Allerdings hatte James seine Theorie bereits 1884 in der Zeitschrift >Mind< vorgestellt, und es wäre möglich, daß Wölfflin diesen Aufsatz >What is an emotion?neuere Theorie< 37 ' in drei Punkten sehr prägnant zusammen: ι. Jede Stimmung hat ihren bestimmten Ausdruck, der sie regelmäßig begleitet; denn Ausdruck ist nicht nur eine Fahne gleichsam, ausgehängt, um zu zeigen, was innen vorgehe, nicht etwas, was ebensogut fehlen könnte, Ausdruck ist vielmehr die körperliche Erscheinung des geistigen Vorgangs. E r besteht nicht bloß in den Spannungen der Gesichtsmuskeln oder den Bewegungen der Extremitäten, sondern erstreckt sich auf den gesamten Organismus. 2. Sobald man den Ausdruck eines Affekts nachbildet, wird sich demnach der Affekt selbst sofort auch einstellen. Unterdrückung des Ausdrucks ist Unterdrückung des Affekts. Umgekehrt wächst dieser, je mehr man im Ausdruck ihm nachgibt. Der Furchtsame wird furchtsamer, wenn er auch in den Gebärden seine Unruhe zeigt. 3. Ein unwillkürliches Nachbilden des Ausdrucks fremder Personen und somit eine Übertragung von Gemütsbewegungen kann oft beobachtet werden. (S. i8f.)

Mit dem zweiten Satz ist die ausdruckspsychologische Grundlage für die Einfühlungspsychologie gegeben: Auf dem Weg über die Imitation der Ausdrucksbewegungen induzieren wir unserem Körper jene Gefühle, die der Andere ebenfalls empfindet und deren körperliche Seite die Ausdruckserscheinungen sind. Die Umkehrung des Satzes kann von therapeutischer Bedeutung sein. Sie ist übrigens genau so bei James formuliert: »Refuse to express a passion, and it dies.« 574 Für seinen dritten Punkt gibt Wölfflin einige Beispiele: Etwa das Bedürfnis, sich zu räuspern, wenn man jemanden mit heiserer Stimme sprechen hört; oder die Qual, die man empfindet, wenn ein anderer zu ersticken droht. Und auch wenn die äußere Manifestation eines miterlebten Gefühls durch Erziehung, Selbstbeherrschung und Gewöhnung sich in vielen Fällen verloren hat, so bleibt doch, wie Wölfflin meint, »ein Reiz, wenn auch der eingedrückte Ausdruck — wenn ich so sagen darf — nicht bis zur Oberfläche dringt (also in Gesicht und Haltung sich geltend macht). Denn die innern Organe vor allem werden sympathisch berührt, und nach meinen Beobach-

373

,74

144

William James, What is an emotion? In: Mind 9 (1884), S. 1 8 8 - 2 0 ; . Lurz, Wölfflin, S. 72, referiert das Folgende als Wölfflins eigene >Theorieinneren NachahmungGeschichte des Materialismus< unter Berufung auf die Schriften des Arztes Heinrich Czolbe (1819—1873) eine der JamesLangeschen ganz ähnliche Theorie der Gefühle vertreten: »Bei jeder lebhaften Erregung der Hirntätigkeit läuft ein Strom von positiven oder negativen Wirkungen mittels der vegetativen und motorischen Nerven durch den ganzen Körper, und erst indem wir von den dadurch in unserm Organismus bewirkten Veränderungen mittels der sensiblen Nerven wieder Rückwirkungen erhalten, »empfinden« wir unsre eigne Gemütsbewegung.«' 77 Auch wenn Wölfflin im weiteren Verlauf seiner >Prolegomena< wieder schwankt, ob er die strenge Fassung der peripherischen Emotionstheorie wirklich vertreten möchte,378 und in pathetischen Worten diese Frage an der »Grenze aller Wissenschaft« ansiedelt (S. 21), ist doch die körperliche Induktion von Gefühlen ein wesentlicher Baustein seiner Architekturpsychologie, wie er sie in der Folge weiter entwickelt.'79 Wölfflin hält als Ergebnis seiner psycho-physiologischen Überlegungen den bereits eingangs zitierten Satz fest: »Unsre leibliche Organisation ist die Form, unter der wir alles Körperliche auffassen.« (S. 21) Sein weiteres Programm: Karl Groos, Einleitung in die Ästhetik, 1892, S. 82 Vereinzelt war Lange schon mit Wölfflin (in nicht sehr spezifischer Weise) in Verbindung gebracht worden (Vgl. Lurz, Wölfflin, S. 12 und 48). 377 Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Bd. 2, S. 815. ,7 ' Vgl. etwa S. 20: »Wer sagt uns, w o die Priorität ist? Ist die körperliche Affektion Bedingung des Stimmungseindrucks? oder sind die sinnlichen Gefühle nur eine Folge der lebhaften Vorstellung in der Phantasie? Oder endlich, die dritte Möglichkeit, gehn Psychiches und Körperliches parallel?« 175 Moritz Geiger, Über das Wesen und die Bedeutung der Einfühlung, S. 24, Anm. 2, sieht als »Grundlage seiner [gemeint ist Wölfflin] Anschauungen eine Theorie der körperlichen Induktion, die nach der psychologischen Seite hin nicht weiter ausgeführt ist.«

45

Ich werde nun zeigen, daß die Grundelemente der Architektur: Stoff und Form, Schwere und K r a f t sich bestimmen nach den Erfahrungen, die wir an uns gemacht haben; daß die Gesetze der formalen Ästhetik nichts andres sind als die Bedingungen, unter denen uns allein ein organisches Wohlbefinden möglich scheint, daß endlich der Ausdruck, der in der horizontalen und vertikalen Gliederung liegt, nach menschlichen (organischen) Prinzipien gegeben ist. (S. 21)

Nach dieser Vorgabe nimmt Wölfflin die klassischen Themen der Ästhetik und der Architekturtheorie auf und dekliniert sie gemäß seinen Prämissen durch. Der Dualismus von Stoff und Form wird abgebildet auf das Verhältnis von Schwere und Lebenskraft, das wir von unserer Körpererfahrung kennen: »Wir kennen die Gewalt der Schwere von unserem eigenen Körper. Was hält uns aufrecht, hemmt ein formloses Zusammenfallen? Die gegenwirkende Kraft, die wir als Wille, Leben oder wie immer bezeichnen mögen. Ich nenne sie Formkraft. Der Gegensatz von Stoff und Formkraft, der die gesamte organische Welt bewegt, ist das Grundthema der Architektur.« (S. 22) An eine funktionalistisch-technische Interpretation denkt Wölfflin nicht.' 80 Daß es sich beim Verhältnis von Form und Stoff unter den ausdrucksund einfühlungspsychologischen Voraussetzungen um keinen echten Gegensatz handeln kann, ist evident. Sie sind aufeinander angewiesen, das eine kann nicht ohne das andere bestehen. Wenn es über das Gefühl heißt, daß es die Wahrnehmung des körperlichen Zustandes sei, wenn also die Ausdrucksform des Gefühls zugleich sein Stoff, sein Gehalt ist, dann kann auch in der Kunst als Ausdruck kein unabhängig von diesem existierender fühlbarer Gehalt gedacht werden. »Man darf sich auch nicht vorstellen, der Stoff sei das unbedingt feindliche, vielmehr wäre eine stofflose Form gar nicht denkbar; überall stellt sich das Bild unseres körperlichen Daseins als der Typus dar, nach dem wir jede andere Erscheinung beurteilen.« (S. 23) Im Musikgenuß resultiert die Erhebung, die Belebung, die Befreiung daraus, daß wir von ihr ergriffen werden und das >Glück< genießen, »auf Augenblicke befreit zu sein von der niederziehenden Schwere des Stoffes.« (S. 24) Analog ist es bei der Architektur. Auch hier empfinden wir die Formkraft in jedem »architektonischen Gebilde, nur daß sie nicht von außen kommt, sondern von innen, als gestaltender Wille, ihren Körper sich bildet. [. . .] Daß die Schwere des Stoffes überwunden sei, daß in mächtigsten Massen ein uns verständlicher Wille sich rein hat befriedigen können, das ist der tiefste Gehalt des architektonischen Eindrucks.« (S. 24) Daß Schopenhauersches Gedankengut von Wölfflin frei verarbeitet wird, zeigt sich nicht nur an dieser Stelle. 3

'° Ganz am Ende seiner Dissertation wendet sich Wölfflin gegen den von ihm so genannten »materialistischen Unfug«, »der die architektonische Formgeschichte aus dem bloßen Z w a n g des Materials, des Klimas, der Zwecke glaubt erklären zu müssen.« (S. 46).

146

Unter Rückgriff auf Kategorien Friedrich Vischers interpretiert Wölfflin die Regelmäßigkeit in einem Kunstwerk von den Körperrhythmen her: »Die Regelmäßigkeit der Folge [. . .] ist uns etwas Wertvolles, weil unser Organismus seiner Anlage gemäß nach Regelmäßigkeit in seinen Funktionen verlangt. Wir atmen regelmäßig, wir gehen regelmäßig, jede andauernde Tätigkeit vollzieht sich in periodischer Folge.« (S. 26) Auch die »Forderung der Symmetrie ist abgeleitet von der Anlage unseres Körpers.« Das ist jedoch nicht einfach ein normatives Postulat; nicht, weil der menschliche Körperbau per se vorbildhaft sei, »glauben wir diese Form auch von jedem architektonischen Körper verlangen zu dürfen [ . . . ] , sondern weil es uns so allein wohl ist.« (S. zj)'*' Die Kriterien der Proportion und der Harmonie setzten einer Psychologisierung einige Schwierigkeiten entgegen; die entsprechenden Argumente werden bei Wundt und Virchow entlehnt und erwecken den Eindruck von Verlegenheitslösungen. (S. z8f.) Die Metaphorik der Sprache nützend und wörtlich nehmend, stellt Wölfflin fest: »Was wir an uns selbst kennen, als behagliches Sich-Ausdehnen, ruhiges Gehn-Lassen, übertragen wir auf diese Art von Massenverteilung und genießen die heitere Ruhe mit, die Gebäude solcher Art uns entgegenbringen.« (S. } i ) Der goldene Schnitt ist auf eine analoge Weise zu begründen; er »gäbe also in seinem Verhältnis von ruhigem Stoff und aufdrängender Kraft etwa das dem Menschen konforme Durchschnittsmaß.« (S. 32) In dieser Manier reiht Wölfflin die Argumente aneinander. Säulenanordnung, Fensterfronten, Fassadengliederungen und vieles andere mehr wird so auf Körperliches bezogen. Dabei kommt schließlich explizit die Physiognomik als Erkenntnisform ins Spiel, wenn es etwa über die Fassadengestaltung einzelner Gebäude heißt: »So können wir uns beim Finanzministerium in München des Eindrucks nicht erwehren, daß es die Stime runzle [. . .]. Scheinen die Fenster unmittelbar beschattet von einem vorstehenden Kranzgesims, so gewinnen wir den Eindruck, als wären die Brauen zusammengezogen und den Augen als schützendes Überdach gleichsam vorgeschoben.« (S. 59) Hier sind die Bausteine von Wölfflins Stilphysiognomik bereits vorhanden. E r spielt mit dem Gedanken einer »architektonischen Physiognomik«, in der es jedoch nicht um die simple Nachahmung der menschlichen Gesichtszüge geht, sondern um die den ganzen Körper durchdringenden Kräfte, die auch die Architektur als Gefühlsträger prägen; »so ziehen wir mit den

W ö l f f l i n fährt fort: »In der W i r k u n g der A s y m m e t r i e [. . .] liegt das Verhältnis klar v o r ; w i r empfinden ein körperliches Mißbehagen; indem w i r uns in der symbolisierenden A n s c h a u u n g mit dem O b j e k t identifiziert haben, ist uns, als sei die Symmetrie unseres Leibes gestört, als sei ein G l i e d verstümmelt.«

47

Augenbrauen gleichzeitig die Schultern in die Höhe, mit vertikaler Stirnfaltung verbindet sich Steifung des ganzen Körpers, wer die Brauen über die Augen verschiebt, senkt auch den K o p f gegen die Brust vor.« (S. 39) Damit ergeben sich Ansätze für Stilcharakteristiken. »Den ganzen Bau in funktionierende Glieder auflösen, heißt: jeden Muskel seines Körpers fühlen wollen. Das ist der eigentliche Sinn der Gotik.« (S. 39) Anders ist die >ModerneEinwurfmenschliche Formgefühl< durch die Jahrhunderte verändere, könne man nur begegnen, indem man sich nicht auf wandelbare Auffassungen stütze, sondern den allen gemeinsamen Körper: »Einen festen Punkt gewinnen wir erst durch Reduktion dieser psychischen Dinge auf die menschliche Gestalt.« (S. 44; vgl. S.46) Wölfflin versteht seine Arbeit als einen grundsätzlichen und programmatischen Beitrag zu einer künftigen »Kunstpsychologie« (S. 47). In ihr zeigt sich jedoch einmal mehr die Problematik einer psychologischen Ästhetik, wenn sie — explizit oder implizit - auf den ästhetischen Genuß< }82 oder allgemeiner auf die vom Kunstwerk evozierten Gefühlswerte rekurriert, das heißt im allgemeinen auf das Wohlgefühl, das sich bei der Rezeption von Kunst einstellen soll. Sie muß dann zwangsläufig affirmativ werden — genau wie die empirisch gemeinte >Asthetik von unten< eines Gustav Theodor Fechner,' 85 die einfach fragt, was faktisch als schön empfunden wird; sie stellt dann meist letztlich eine Reformulierung traditioneller klassizistischer Forderungen durch psychologisch-physiologische Theoreme dar. Konrad Fiedlers Theorie der künstlerischen Produktivität, die nur ein Jahr nach Wölfflins Dissertation erscheint, stellt in der Frage der kritischinnovativen Potenz von Kunst einen entscheidenden Fortschritt dar.

i8

Vgl. Karl Groos, Der aesthetische Genuss, 1902. ' Vgl. dazu auch: Hermann Driie, Die psychologische Ästhetik im Deutschen Kaiserreich, 1983, hier S. 74-77, und Christian G . Allesch, Geschichte der psychologischen Ästhetik, 1987, S. 303—314.

48

II. P h y s i o g n o m i k

ι.

Symbolik versus Ausdruckspsychologie: Stationen der Physiognomik-Debatte

In der E n t w i c k l u n g der Physiognomik, die ja keineswegs mit Lavater erst beginnt, 1 sind mehrere Traditionen zu unterscheiden: die rhetorisch-deklamatorische, die pathognomisch-mimische und die, wie man mit Carl Gustav Carus sagen könnte, symbolische. Diese Traditionen durchdringen sich gegenseitig in unterschiedlicher Weise, je nach

historisch-epistemologischer

Situation. Die klassische Rhetorik bietet innerhalb der Lehre v o m richtigen Vortrag einer Rede, der >actioActio< von Bernd Steinbrink im Historischen Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1, 1992, Sp. 43-74; zur Antike: G e o r g 149

senen G e s t i k u n d M i m i k . 3 D i e s e beiden A u s d r u c k s m e d i e n u m g r e i f e n die d e m i n d i v i d u e l l e n A u s d r u c k s w i l l e n u n t e r w o r f e n e n M i t t e l , sie w e r d e n intentional eingesetzt u n d k ö n n e n d u r c h a u s als K o m m u n i k a t i o n s m i t t e l

be-

zeichnet w e r d e n . A u c h die f ü r K ü n s t l e r a n g e f e r t i g t e n L e h r b ü c h e r , die d e n r i c h t i g e n A u s d r u c k v o n A f f e k t e n in der b i l d e n d e n K u n s t lehren w o l l e n , 4 g e h ö r e n in dieses G e b i e t , e b e n s o die bis ins 19. J a h r h u n d e r t r e i c h e n d e n , v o r allem f ü r S c h a u s p i e l e r g e d a c h t e n D e k l a m a t i o n s l e h r b ü c h e r . ' A n d e r s die in der p a t h o g n o m i s c h e n T r a d i t i o n stehenden L e h r e n : Sie u m fassen diejenigen

Erscheinungen

des K ö r p e r s ,

die d u r c h

physiologisch-

n e u r o n a l e P r o z e s s e h e r v o r g e r u f e n sind u n d als u n w i l l k ü r l i c h

betrachtet

w e r d e n , w i e e t w a der G e s i c h t s a u s d r u c k bei S c h m e r z o d e r die T r ä n e n o d e r die e r s c h r e c k t a u f g e r i s s e n e n A u g e n . I n dieses G e b i e t fallt a u c h

Theodor

Piderits W i s s e n s c h a f t l i c h e s S y s t e m der M i m i k u n d P h y s i o g n o m i k < ( 1 8 6 7 ) , o d e r C h a r l e s D a r w i n s >The E x p r e s s i o n o f the E m o t i o n s in M a n a n d A n i mals< ( 1 8 7 2 , i m selben J a h r d u r c h J o s e p h V i c t o r C a r u s , einen e n t f e r n t e n V e r w a n d t e n v o n C a r l G u s t a v C a r u s , ins D e u t s c h e übersetzt). E i n Seitenz w e i g dieser R i c h t u n g sind die p s y c h o p a t h o l o g i s c h e n D a r s t e l l u n g e n

3

4

von

Wöhrle, Actio. Das fünfte officium des antiken Redners, 1990; für die frühe Neuzeit: Volker Kapp, Die Lehre von der actio als Schlüssel zum Verständnis der Kultur der frühen Neuzeit, 1990. Besonders ausgeprägt bei Quintilian, hierzu: Steinbrink, ebd., Sp. 48ff., mit weiteren Hinweisen. Hierzu sind besonders die vielfach aufgelegten Werke von Charles Le Brun zu zählen. Vgl. hierzu auch Werner Busch, Die notwendige Arabeske, 1985, S. 36, w o die verschiedenen deutschen Ausgaben, die als Malerhilfen gedacht waren und verwendet wurden, genannt sind. — Zumindest partiell hierzu zu rechnen ist auch das berühmte Werk von Charles Bell, The Anatomy of Expression in Painting, i8o6; zu ihm vgl. Klaus Knecht, Charles Bell. The Anatomy of Expression (1806). Die Ausdruckstheorie des Anatomen und Chirurgen Sir Charles Bell (1774—1842) und ihre Beziehung zur Ästhetik des 19. Jahrhunderts, 1978, sowie das entsprechende Kapitel in Karl Bühlers >AusdruckstheoriePathognomikbeweglichen Teilen< des Organismus geleistet werden; »gemeint ist vor allem das Wortfeld der Mimik, das allen minimalen Bewegungen der Facialmuskulatur eine intentionale Mitteilungsleistung zuschreibt.« 17 Was im besten Falle akzeptiert wird, auch von Lichtenberg, ist diejenige Physiognomik, welche die aus habituell gewordenen Ausdrucksbewegungen entstandenen festen Züge beschreibt und deutet. Das meint etwa auch Piderit, wenn er im zweiten Teil seines Wissenschaftlichen Systems< Beiträge zur physiognomischen Menschendeutung liefert. Lavater und nach ihm Carl Gustav Carus verstehen unter Physiognomik jedoch primär etwas anderes: Die jedem Menschen von Geburt an mitgegebene geistig-körperliche Verfassung und deren Interpretation. Dabei werden also nicht Ausdruckshandlungen oder Ausdruckssymptome gedeutet, nicht ephemere Phänomene, sondern feststehende, bleibende >Symbole< wie Carus sagt. Die zugehörige Disziplin nennt er >Symbolik° Bühler, Ausdruckstheorie, S. 53. '' Carus, S y m b o l i k , S. }.

157

dualität jeder Erscheinung der menschlichen Gestalt. Davon ist noch zu sprechen. Carus benützt einen Symbolbegriff,' 2 der die Tradition des Mikrokosmos-Makrokosmos-Denkens aufnimmt, und er grenzt sich entschieden gegen die allegorische Verfahrensweise ab, die ihm — anders als sein eigenes morphologisches Denken — mit der Wissenschaft seiner Zeit unvereinbar ist. Nach seinem Verständnis »zieht die Symbolik eigentlich das gan^e Gebiet des Kosmos einerseits, wie andererseits das Gebiet der Morphologie und Physiologie in ihren Bereich.«" Das letzte Ziel und die letzte Motivation der >Symbolik< ist also eigentlich metaphysischer Art: Nicht die willkürlichen Symbolisierungen früherer Zeiten, in denen etwa dem »alten Assyrer der geflügelte Löwe das Symbol des zeugenden weltenschaffenden Geistes« war, sollen hier fortgesetzt werden. Vielmehr soll das Ganze des Kosmos zu einer auf inneren Korrespondenzen beruhenden Darstellung gelangen: Und so erkennt das rechte Schauen der Wissenschaft unserer Zeit, in den mystischen Spiralbewegungen der Gestirne an und für sich, das Symbol der Unendlichkeit der Welt, es erkennt in dem Verhältniß von Sonne und Planet ein unmittelbares Symbol der wunderbaren Wechselwirkung eben jener höchsten männlich befruchtenden und begeistigenden, sowie der weiblich empfangenden und gestaltenden Naturkräfte, ihm ist die Pflanze mit ihrer geheimnißvollen Entwickelung das Symbol der unbewußt sich darlebenden Seele, und der Mensch hinwiederum, in der vollen Unergründlichkeit, Weisheit und Unermeßlichkeit seiner Organisation, wird ihm als Mikrokosmus zum Ebenbilde (Symbol) der Welt und der Weltseele überhaupt. 34

Das Symbol in diesem Sinne verkörpert selbst >an und für sich< das, was es bedeutet, es ist nicht über Ähnlichkeiten oder Konventionen vermittelt, sondern >unmittelbares< Symbol, wie Carus formuliert. Ganz deutlich ist hier Goethes Einfluß zu bemerken. Und auch mit Lavaters Zielsetzung ergeben sich auf dieser Ebene klar erkennbare Konvergenzen, geht es doch auch ihm um »die Einheit von göttlicher Vollkommenheit und jeweiliger Verwirklichung in der individuellen Gestalt eines Menschen.« 35 Doch für den zu diesem Ziel führenden Weg möchte Carus andere Prioritäten setzen als Lavater. Ihn rechnet er zu denjenigen, die mit einem »Seherblicke« 36 begabt sind und deshalb nicht »dem leisen aber aufmerksamen Gange der Wissenschaft« folgen müssen, sondern durch Intuition, durch den »Genius« zu ihrem Ziel gelangen, »gleichsam in den Menschen zu schauen«. 37 Sein VorZ u Carus und speziell seiner Symbolkonzeption vgl. auch Michael Titzmann, Strukturwandel der philosophischen Ästhetik 1800-1880. Der Symbolbegriff als Paradigma, 1978, S. 1 7 7 - 1 8 1 . " Carus, Symbolik, S. 3. J4 Ebd., S. 3f. " Saltzwedel, Das Gesicht der Welt, S. 78. ' 6 Carus, Symbolik, S. 5. " Ebd. .58

haben soll den Weg der Aufstellung von Grundsätzen und der Beschreibung von individuellen Beispielen gehen. Trotzdem enthält auch die von Carus anvisierte Vorgehensweise Elemente, die sich nicht vollständig operationalisieren lassen. »Der organische Bau des Menschen ist etwas so Incommensurables, etwas so in seiner ganzen Tiefe Unfaßbares, er enthält neben der großen Macht des Rationalen so viel ganz unerläßliches Irrationales, daß nie das Wägen, Messen und Zählen allein ausreichen kann zum Verständniß desselben zu gelangen.«3® >Wissenschaftlich< ist die >Symbolik der menschlichen Gestalt< insofern sie von >Grundsätzen< und allgemeinen Kategorien ausgeht, aber sie »ist eine Kunst, inwiefern sie diese Grundsätze im einzelnen concreten Falle wirklich anwendet, und aus dem vorliegenden Leiblichen auf das darin verborgene Geistige schließt.« 59 Ein Rest an Unsicherheit bleibt, nicht alles ist methodisch völlig abzusichern - ganz wie bei Schleiermachers >DivinationSymbolik< als eine itdivinatorischev.40 bezeichnet, meint er damit, »sie soll uns weissagen oder wahrsagen von einem Göttlichen, d. i. von der innersten Idee des Menschen, also von demjenigen Unsäglichen und Gedankenhaften, in welchem alles Denken und alles Sagen, wie alles Empfinden und Wollen, ja alles Bilden und alles menschliche Leben, als in einem höchsten Urquell bedingt ist.« 41 Damit ist nicht etwa eine allgemeine Idee des Menschen gemeint, das Wesen des Menschen überhaupt, sondern immer die Individualität eines je bestimmten Menschen. Die Mannigfaltigkeit der Individuen ist nach Carus so groß, daß sie nicht allein durch Unterschiede in der Erziehung und der jeweiligen Umwelt erklärt werden kann, sondern jedem von Anfang an mitgegeben sein muß. Das ist es, was Carus meint, wenn er vom Menschen als der >Idee< Gottes spricht: eine vor aller Differenzierung bereits vorhandene unverwechselbare Wesenheit, eine unableitbare, vorgegebene und keineswegs durch Zufall entstandene Individualität. Der Mensch in seinem Wunderbau ist die erste That der Seele, oder vielmehr der Idee, und zwar eine solche, durch welche die Idee zur Seele und zum Geiste sich entfaltet; wir betrachten daher diesen Bau mit Recht als das höchste Zeichen, als das eigenste Symbol dieser Idee [. . .]."'

" Ebd., S. » Ebd., S. 40 Ebd., S. 41 Ebd. " Ebd., S.

6. 7. 10. 4. 15

9

Wenn auch Carus nie von seiner letztlich dualistischen Denkweise abgeht, die immer dem Außen ein Innen zugrundelegt, so wertet er den menschlichen Organismus doch sehr auf, indem er ihn zur eigentlichen Manifestation der >eigenthümlichen Gott=verliehenen LebensideePsyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele< entfaltete und von Schellings Grundbegriffen ausgehende Lehre, nach der das >absolut Unbewußterelativ Unbewußten»Dieses wahre innere Afrika«. Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor FreudGottesidee< eines M e n s c h e n direkt >verkörpertunausdrückbar< bezeichnet, genauer: »im Geiste läßt es sich schauen; mit einem

Worte nicht

ausdrücken. Was an sich unsäglich ist, davon kann auch nicht unmittelbar ausgesagt werden, wie es ein v o n anderm Unsäglichen verschiedenes sei [. . .].«'* Weil die i n d i v i d u e l l e Gottesidee< nicht als diskursiv-sprachliches

Carus, Symbolik, S. n . >° Ebd., S. 16. " Ebd., S. io. " Ebd.

49

161

Wissen formuliert werden kann, muß sie über ihre wichtigste Manifestation, den Leib, hermeneutisch erschlossen werden. Und diese Hermeneutik des Individuums, diese Lektüre des Leibes wird bestimmt als Hermeneutik der Abweichung. Das ist im folgenden zu zeigen. Unter den dargelegten Voraussetzungen sieht sich die Entzifferung der göttlichen Idee im Individuum mit einem grundsätzlichen Problem konfrontiert: Wenn man nicht >Seher< sein will oder kann, stellt sich die Frage, wie man der jeweiligen Individualität, also der jeweiligen Gottesidee oder auch dem jeweiligen Unbewußten — letztlich fallen die drei Bestimmungen in eins — eigentlich habhaft werden kann. Einem intuitiv schauenden Physiognomiker, wie es Lavater für Carus war, muß zur Deutung jedes Individuums die >Divination< kräftig zu Hilfe kommen. Aber wie kann dies methodisiert werden? Der Grundsatz ist sehr schlicht: Individualität wird als Abweichung bestimmt, als Abweichung von einer Norm. Diese Norm hat Carus seiner Selbsteinschätzung nach mit wissenschaftlichen Mitteln gewonnen, und die Abweichungen können, wie er meint, exakt bestimmt werden. Ausgangspunkt sind Kategorientabellen, die Konstitutionen, Temperamente, geistige Anlagen zu beschreiben erlauben sollen. Als eine erste Arbeitshypothese ergibt sich schon auf dieser Stufe, daß die Konstitution sich vornehmlich »durch Zeichen am Stamme und an dessen Gliedmaßen« feststellen läßt, während das Temperament an den »Zügen des Antlitzes« und die geistigen Anlagen vor allem am »Baue des Schädels« erkennbar seien." Damit zuerst und überhaupt recht klar werde, daß die gesammte Menschengestalt eines schönen Gottgedankens vollendete Darstellung oder dargestellte Vollendung (Symbolon) sei, denke man sie in ihrer reinsten Erscheinung, in der Erscheinung, in welcher sie allerdings nur unter den glücklichsten Constellationen wirklich wird [. . .].' 4

So lautet das Vorhaben des allgemeinen Teils< in Carus' Werk. Nachdem er diese >reinste Erscheinung< aus morphologisch-genetischen Überlegungen abgeleitet hat, präsentiert er sie auch in einer bildlichen Darstellung, einem nackten, geschlechtslosen Wesen, dessen Körperteile sich in Proportion zur universalen Körper-Maßeinheit, >dem Modul< (ein Drittel des freien Rückgrates), darstellen lassen. Das führt ihn letztlich zu der Einsicht, daß es sich zwar um »eine durchaus richtige und schöne Form« handelt, »die aber dergestalt abstract ist, daß sie sogar die Geschlechtscharaktere ausschließt«." Die Differenzierung in weibliches und männliches Geschlecht wäre schon ein Schritt weg vom Ideal, hin zum Individuum. Dementsprechend ist auch " Ebd., S. 31 f. — vgl. auch ebd., S. 4 i f . 14 Ebd., S. 55. " Ebd., S. 60. 162

die von Carus hier erwähnte, auf Veranlassung von »Professor Rietschel« in Dresden nach den Ideal-Proportionen angefertigte und vervielfältigte Statuette' 6 geschlechtslos. Hier liegt ein Widerspruch, der, wie es scheint, bei Carus nicht wirklich ausgetragen wird. Das Ideal des Schönen, die vollkommene, also den reinen Proportionen gänzlich entsprechende menschliche Gestalt, ist völlig abstrakt; und doch wird sie in einem Konstrukt anschaubar gemacht. Diese abstrakte, aber vollkommene Schönheit, ist für den Künstler nicht eine Norm, der er sich möglichst anzunähern hätte wie die Künstler im alten Griechenland. Vielmehr muß er bei seiner konkreten Gestaltung gerade von ihr abweichen. Das Ideal ist für den Künstler dazu da, überstiegen zu werden. Es ist gewissermaßen die transzendentale ästhetische Bedingung seines Gestaltens. Er strebt nicht nach der direkten Versinnlichung des Ideals, sondern nach der Darstellung des Individuellen. Gerade diese reine Mitte der menschlichen Form aufzufinden und darzustellen war aber nicht blos die Aufgabe der Lehre von den Proportionen für den Künstler, als welcher jetzt bald fühlen wird, daß er, um nun ein wirkliches Individuum zu bilden, allemal jene abstracten Verhältnisse irgendwie modificiren muß, sondern sie ist auch ganz besonders wichtig für alle Symbolik der menschlichen Gestalt; denn nun erst hat man den wahren Ausgangspunkt derselben gefunden, welcher das Reinmenschliche als ein wahrhaftes Ideal zeigt, und dadurch Gelegenheit geben wird, sofort auch alle besondern Constitutions=, Temperaments = und Geistesverschiedenheiten, wie sie sich in unendlichen Nüancen durch Modificationen dieser Gestalt anzeigen, richtiger zu construiren und vollkommener zu begreifen.' 1

Der Konflikt zwischen Ideal und Individualität wird nicht ausgetragen. Das Individuelle wird zwar als der eigentliche Gegenstand der Kunst und der Menschendeutung bestimmt, aber sie bleiben trotzdem immer noch auf das abstrakte Ideal bezogen. Carus gibt der Dichotomie schließlich noch eine neue Nuance, wenn er dem Ideal die Rationalität, der konkreten Natur das Irrationale zuordnet. »Eine jede solche reine Mitte jedoch wird, wie sich von selbst versteht, ihrem Wesen nach stets ein Abstractes, ein als solches sich nie in der Natur Vorfindendes bleiben — mit einem Worte, es wird der Natur als das Rationale dem Irrationalen gegenüberstehen.«' 8 Das Individuelle, vorerst noch nur als Abweichung und Modifikation des Ideellen verstanden, ist zugleich das Irrationale. Klassizistisch kann diese ästhetische Orientierung zwar nicht mehr genannt werden. Die auf sie bezogene Her' 6 Carus gibt in einer Anmerkung für Interessenten folgenden Hinweis: »Diese lehrreiche Statuette ist für 2/3 Thlr. zu haben bei dem Kunstformer Rob. Mühlhausen, Dresden, Herzogin Garten Nr. 6.« (Ebd., S. 60, Anm.). — Ernst Friedrich August Rietschel war seit 1832 Professor in Dresden und einer der führenden Bildhauer des späteren Klassizismus. Rietschel war in zweiter Ehe mit Carus' ältester Tochter Sophie Charlotte verheiratet (von 1836 bis zu ihrem Tod 1858). " Ebd., S. 60. " Ebd. 163

meneutik wird von Carus mit dem Titel einer »Symbolik der Abweichungen« belegt." Trotzdem kann sich Carus nicht dazu entschließen, dem Individuellen als solchem die Qualität der Schönheit zuzusprechen. Abweichungen sind zwar das Wesen des Individuellen, und das »Irrationale der Natur« 6 " ist für deren konkrete Bildungen einschließlich der menschlichen Gestalt geradezu konstitutiv, »sonst wären sie eben nicht mehr natürlich, sondern ideal«. 6 ' Sobald sie aber ein gewisses Maß überschreiten, schlägt die Schönheit in »Häßlichkeit« um. 62 Letzlich bleibt also Schönheit aus der Nähe zum Ideal begründet. Und in diesem Kontext wird die entscheidende These einer Semiologie des Leibes bei Carus formuliert: Die vielfältigen Abweichungen vom Ideal, welche die konkrete Gestalt zur individuellen machen und als solche erst bestimmbar werden lassen, treiben gerade dadurch erst Bedeutung hervor: Diese A b w e i c h u n g e n haben daher allerdings ein sehr weites Feld, sie begleiten unmerklich alle wirklich werdenden F o r m e n des Menschen, sie sind es, welche auch das scharfe Gesetz der Symmetrie aufheben, welche machen, daß nie zwei Hände oder zwei Seiten eines Gesichts vollständig gleich bleiben, und sie sind es überhaupt, auf denen nun das gan^e weite Feld der Symbolik sich auferbaut; denn ein K ö r p e r als trockenes Ideal, als bloßer P o l y k l e t s = C a n o n - w ä r e charakterlos und bedeutungsleer; nur die tausendfältigen, aber allemal unter sich wieder verhältnißmäßigen und systematischen A b w e i c h u n g e n prägen der Gestalt einen bestimmten Charakter auf. 6 '

Carus stellt sich — in unübersehbar apologetischer Absicht — auch die Frage nach der Verläßlichkeit des im Rahmen einer >Symbolik der menschlichen Gestalt< gewonnenen Wissens. Mit dem Hinweis Lavaters, daß alle Menschen >täglich< sich von physiognomischen Einsichten leiten lassen, möchte er sich nicht zufriedengeben. Auch das bloße, auf Metaphysik gegründete Postulat genügt ihm nicht. Lavater meint: »Wenn jede Birne, muß ich wieder sagen, wenn jeder Apfel eine eigenthümliche Physiognomie hat, sollte der Herr der Erde keine haben?« 64 Carus, der Innen-Außen-Dichotomie nie ganz entkommend, stellt darüber hinaus die Frage, ob die Beobachtung der Körperoberfläche wirklich genüge, wenn man sich die Verfaßtheit des Leibes zum Erkenntnisziel gesetzt habe, spielten doch auch das Innere des Gehirns und verschiedene innere Organe eine wichtige Rolle. Eine möglicherweise daraus folgende

" E b d . , S. 6 1 . ° E b d . , S. 62. 61 E b d . , S. 6zf. 61 E b d . , S. 63. Carus spricht hier v o n » A b w e i c h u n g e n , die freilich, so w i e sie zu g r o ß w e r d e n , endlich wieder die Schönheit in Häßlichkeit verwandeln.« 6 > Ebd. 64 Zie. bei Carus, S y m b o l i k , S. 25. 6

164

mindere Sicherheit der an der Körperoberfläche durch die >Symbolik< gewonnenen Erkenntnisse wird nach Carus durch »das Gesetz des innern harmonischen Zusammenhanges aller Organismen in sich, dieses Gesetz, in dessen Folge doch auch immer wieder die äußern Gebilde in gewisser Weise die Eigenthümlichkeit des Innern verrathen werden«, 6 ' kompensiert. Diese Lektüre ist alles andere als leicht. Sie erfordert große methodische Umsicht. Erst dann gilt: Daß die ganz oder großentheils durch das unbewußte Walten der innern seelischen Lebensidee gegebenen Eigenthümlichkeiten der Constitution und des Temperaments durch eine mit hinreichender Umsicht angewendete organoskopische oder physiognomische Symbolik mit großer Sicherheit sich ermitteln lassen, und daß in dieser Hinsicht nur sehr bedingter Weise von irgend einer Trüglichkeit der Zeichen die Rede sein möchte, darüber kann wol kaum ein Zweifel aufkommen. 66

Vom Überschwang Lavaters ist hier nichts mehr zu spüren, obwohl Carus und der Lavater der >Physiognomischen Fragmente< in vielen Fragen nicht sehr weit voneinander entfernt sind. Aber die langen und heftigen Auseinandersetzungen um Lavaters Werk, auch die Debatten um die Phrenologie Franz Joseph Galls, dessen Schädellehre Carus mit seiner >Kranioskopie< ja kritisieren und fortsetzen möchte, 67 haben die Vorsicht größer werden lassen. Es kommt hinzu, daß Carus zu vermeiden sucht, was er selbst etwa Franz Joseph Gall vorwirft: eine nur materialistisch-deterministische Erklärung des Verhältnisses von Innen und Außen. Carus' Lehre von der >Symbolik der menschlichen Gestalt< ist kein Beitrag zur Theorie der nonverbalen Kommunikation. Es geht ihm nicht um Ausdruckslehre im landläufigen Sinn. 68 E r ist weit weg von den Deklamationstheorien des 18. und 19. Jahrhunderts. Ihm geht es darum, zu zeigen, wie sich in der leiblichen Gestalt etwas Göttliches offenbart. Hier befindet er sich durchaus im Einklang mit Lavater. Die wunderbare Harmonie in den Zahlen- und Größenverhältnissen des menschlichen Körpers ist ihm Beweis einer metaphysischen Einsicht.

6

' Ebd., S. 27. Ebd. 67 Vgl. hierzu jetzt Sigrid Oehler-Klein, Die Schädellehre Franz Joseph Galls in Literatur und Kritik des 19. Jahrhunderts, 1990, S. i9off., hier bes. S. 192. Oehler-Klein behandelt die >Symbolik< von Carus unter dem Titel eines R e t tungsversuches ganzheitlicher PhysiognomikAusdruckstheorie< ebenso wie das Werk Lavaters auch nur am Rande Berücksichtigung. (Bühler, Ausdruckstheorie, S. zzff. 66

165

Fortan werde ich daher als eine begründete Wahrheit voraussetzen dürfen, daß die reine Mitte echt menschlicher Bildung und Gestalt, eben darum das Symbol einer hohen gottlichen Idee, eben darum ein zeitliches Ebenbild ewigen göttlichen Wesens, und eben darum auch die schönste aller ähnlichen irdischen Bildungen genannt werden dürfe, weil sie, nach der Art ihrer Gliederung, unter allen uns denkbaren, die mit höchster Weisheit und mit vollendetstem Tiefsinn innerlich und äußerlich construirte und ausgeführte ist. 6 ' T h e o d o r Piderits K o n z e p t i o n ist in jeder Hinsicht das g e n a u e G e g e n t e i l zu der >Symbolik< v o n Carus. E r bezieht nicht den ganzen L e i b als B e d e u t u n g s fläche ein, sondern konzentriert sich auf das G e s i c h t . N i c h t u m die festen E i g e n s c h a f t e n geht es ihm, sondern u m die V e r ä n d e r u n g e n in der M u s k u latur; und schließlich geht er nicht ganzheitlich-metaphysisch v o r , s o n d e r n analytisch und empirisch. 7 0 Piderit ist also mit Charles Bell in die Traditionslinie der >physiologisch-anatomischen< A u s d r u c k s t h e o r i e n einzuordnen, die eigentlich die zukunftsträchtigste w a r . 7 1 » D i e mimischen G e s i c h t s b e w e g u n g e n bilden die s t u m m e Sprache des Geistes.« 7 2 M i t diesem Satz beginnt Piderits Werk. E r deutet an, daß der A u t o r sich n u r mit d e m G e s i c h t u n d dort n u r mit den B e w e g u n g e n befassen will, nicht mit den beständigen F o r m e n . A b e r der Satz ist d o c h auch irref ü h r e n d , da es seinem V e r f a s s e r k e i n e s w e g s u m intentionale A u s d r u c k s a k t e 6

' Carus, Symbolik, S. 70. Z u Piderit vgl. jetzt den ausführlichen Beitrag von Helmut Hildebrandt in der schönen Neuausgabe des Wissenschaftlichen Systems der Mimik und Physiognomik (1867), 1989, S. 14-47: Piderits »Wissenschaftliches System der Mimik und Physiognomik«: Eine wissenschaftshistorische Einordnung und Rezeptionsgeschichte. (Mit Literaturhinweisen). Nach diesem Reprint wird hier auch zitiert. Eine eingehende Würdigung Piderits findet sich in Karl Bühlers >AusdruckstheorieHandwörterbuch der Physiologie mit Rücksicht auf physiologische Pathologie*, Bd. 3,1 (1846), S. 469—616. Piderit, Wissenschaftliches System der Mimik und Physiognomik, S. }.

geht. Diese klammert er als >pantomimische< aus seiner Darstellung aus: »Während die mimischen Bewegungen mehr unabsichtlich, instinctiv sind, sind die pantomimischen Bewegungen absichtlich [ . . . ] , und dienen, neben der Sprache, dazu, sich andern Menschen verständlich zu machen.« 7 ' Eigenartigerweise parallelisiert Piderit aber seinen Gegenstand weiter mit der Wortsprache: »Jedermann versteht und übt diese stumme Sprache des Geistes, aber — man lernt sie empirisch, ohne sich um ihre Grammatik zu kümmern. Dem Studium der Wortsprachen haben sich zu allen Zeiten bedeutende Geister mit Eifer gewidmet, und Tausende von Bänden sind darüber geschrieben worden, das Studium der Mienensprache - dieser ewigen Sprache der Menschheit - hat man vernachlässigt.« 7 4 Piderit versucht, soviel kann bereits hier festgestellt werden, tatsächlich eine rudimentäre >Grammatik< der Mienensprache. Das ist noch zu zeigen. Aber er kann nicht ganz plausibel machen, warum er überhaupt von einer >Sprache< redet, formuliert er doch klar, daß er nicht von freien Akten, von intentional einen Sinn mitteilendem Verhalten spricht, sondern von unwillkürlichen Bewegungen. Helmut Hildebrandt versucht den Widerspruch so aufzulösen: »Wenn Piderit trotzdem an verschiedenen Stellen von einer >Mienensprache< u. ä. redet, dann ist diese Wendung nicht im Sinne einer Sprache als Kommunikationsmittel zu verstehen. Mimik ist für ihn die >Sprache des Geistesmimische< verbessert aus >mimischen