504 28 4MB
German Pages 377 Year 2019
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:09 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Edeltraud Röbe • Marion Aicher-Jakob • Anja Seifert
Lehrer werden Lehrer sein Lehrer bleiben
Lehrerberuf zwischen Schulalltag und Professionalisierung
Ferdinand Schöningh
Umschlagabbildung: © tiff20/Adobe Stock
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:09 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2019 Verlag Ferdinand Schöningh, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.schoeningh.de Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart UTB-Band-Nr: 5113 E-Book ISBN 978-3-8385-5113-5 ISBN der Printausgabe 978-3-8252-5113-0
Inhalt
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:09 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Arbeitsplatz Schule – ein institutionell geprägter Ort in der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Aufgaben und Erwartungen – eine berufsbezogene Selbstvergewisserung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Institutionen übernehmen gesellschaftliche Daueraufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Lehrerhandeln ist öffentliches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Die Institution prägt Lehrende und Lernende . . . . . . . . . . . 1.1.4 Der Perspektivenwechsel vom Schülersein zum Lehrersein 1.2 Mitglied einer ‚Schulfamilie‘ werden: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Das Kollegium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Die Schulleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Wichtige Personen im Schulalltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Orientierungs- und Handlungsrahmen für Lehrerhandeln . . . . . . 1.3.1 Das Bildungssystem – eine Konstruktion von Bund, Land und Kommune . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Bildungsföderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Lehrer sein – Lehrer bleiben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Der Lehrberuf – zunehmend in weiblicher Hand? . . . . . . . . 1.4.2 Tagtäglich im Lehrberuf – Belastungen und Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Ein Leben lang im Lehrberuf – Unterbrechungen, Veränderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Arbeitsplatz Klassenzimmer – Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Unterricht – der Kernbereich der Lehrertätigkeit . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Lehrersein heißt unterrichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Die Lehrperson im Zentrum von Erwartungen und Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Unterrichtsszenen im Bild. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Die Unterrichtsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Wesensmerkmale von Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Unterrichten – ein „Zeigeakt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die Unterrichtsthemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Die Lehr-Lerngegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Die Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 15 16 16 18 22 27 29 29 33 34 37 38 39 42 43 44 46 49 55 56 56 58 59 65 68 68 69 71 72
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:09 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
6
Inhalt
2.3 Risikomomente/Probleme des Unterrichtens . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Die Anforderungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Die Unterrichtssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Die Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Die Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Unterricht reflektieren, evaluieren, weiterentwickeln . . . . . . 2.3.6 Unterrichtliches Handeln zwischen permanenter Überforderung und Sehnsucht nach Berufszufriedenheit . . 2.4 Unterrichten im Kontext zeitgeschichtlicher Entwicklungen und Umbrüche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Das schulgeschichtliche Erbe vor 1920 . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Beginnende Demokratisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Unterricht als Ort optimaler Lernprozesse(ca. 1970) . . . . . 2.4.4 Fehlentwicklungen – ungewollte Nebenwirkungen . . . . . . . 2.5 Die gegenwärtige Reformdynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Den Unterricht verbessern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Den Unterricht verändern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3 Den Unterricht ‚neu‘ denken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Bedeutung der Lehrperson für das Gelingen von Unterricht . . . . 2.6.1 Das Kompetenzprofil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2 Die fundamentale Bedeutung der Lehrperson . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gewinnen des Berufsprofils – eine permanente Herausforderung. . . . 3.1 Verbindliche Handlungsbereiche als Bedingung der Lehrerprofessionalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Vexierbild Lehrerbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Neuerungen durch den Bologna-Prozess. . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Standards für die Lehrerbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Kompetenzbereich Unterrichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Kompetenzbereich Erziehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Kompetenzbereich Beurteilen und Beraten . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Kompetenzbereich Innovieren und Schulentwicklung. . . . . 3.3 Die zeitliche Dimension des Lehrerhandelns . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Stundentafeln und Stundenpläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Bildungsgrundformen und Rhythmisierung. . . . . . . . . . . . . 3.4 Die räumliche Dimension des Lehrerhandelns . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Der Schulraum als Lern-, Handlungs- und Gestaltungsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Raumnutzung und Raumgestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Wirkung von Schulräumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73 73 76 80 81 83 88 90 90 92 96 98 99 101 102 105 109 110 111 113 119 119 120 121 123 124 124 129 130 132 132 139 143 144 145 153 156
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:09 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Inhalt
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Schulleistung in der Dynamik unterschiedlicher Wirkkräfte . . . . . 4.1.1 Unterschiedliche Leistungserwartungen . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Schulleistung – geschichtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Reform des Schulleistungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Reformpädagogische Schulkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Beginnender Rückbau der Selektionspraxis . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Relativierung der Zensuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Leistungsbegriff und Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Garanten für Leistungssteigerung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Kritik am gesellschaftlichen Leistungsbegriff . . . . . . . . . . . . 4.4 Rückmeldekultur als Resonanzraum für Leistung . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Leistungserwartungen und Aufgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Leistungshandeln beachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3 Leistungsbeobachtung und -dokumentation . . . . . . . . . . . . 4.4.4 Leistungserhebung durch Prüfaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.5 Kompetenzbasierte Leistungsgespräche/Zeugnisformen. . . 4.5 Leistung fördern – In der Kindertagesstätte beginnen?! . . . . . . . . 4.5.1 Eine Spielszene im Kindergarten: „Die Tante zu Besuch“ . . 4.5.2 Der Kindergarten – vieldimensionale Aufgabenfelder von Sprachbildung und Spracherziehung . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3 Die Anschlussfähigkeit des schulischen Lernens braucht auch eine curriculare Entsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten im Handlungsspektrum der Lehrperson. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Hausaufgaben – die ins Elternhaus verlängerte ‚lehrerfreie‘ Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Ungleiche Startbedingungen als Grundproblem . . . . . . . . . 5.1.2 Hausaufgaben – ein pädagogisches Allheilmittel? . . . . . . . 5.1.3 Hausaufgaben – eine erneute Quelle sozialer Ungleichheit? 5.1.4 Die ,Rabenmutter-Metapher‘ reloaded . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.5 Hausaufgaben – Kompensationsmöglichkeit schulischen Zeitmangels? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Sich verändernde Medien – ein pädagogischer ,Dauerbrenner‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Hinkt die Akzeptanz von Medien ihrer Zeit immer hinterher? Ein Streifzug im Zeitraffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Medienkompetenz – eine Bringschuld der Schule?! . . . . . . 5.2.3 Medieneinsatz zwischen ,Kreidezeit‘ und Digitalisierung . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
159 160 160 167 170 170 172 174 176 177 180 185 185 188 190 201 207 221 221 224 228 231 237 237 237 241 244 250 251 254 255 260 267 275
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:09 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
8
Inhalt
6. Entwickeln der Lehrerpersönlichkeit – trotz gegebener Spannungsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Person und Profession im Beziehungsgeschehen . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Wege zur Professionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Kooperation: Herausforderung und Konflikt . . . . . . . . . . . . 6.2 Haltung und Haltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 „So eine Lehrerin möchte ich gerne sein!“ – Vorbilder, Vorsätze, der nächste Schritt! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Salutogenese im Lehrerberuf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Persönlichkeitsentwicklung und Beziehung in pädagogischer Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Das ‚Pädagogische‘ im Lehrerhandeln – Versuch einer Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Schlüsselsituationen als methodische Zugriffsweise . . . . . 7.1.3 Haltung und pädagogisches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.4 Pädagogische Schlüsselsituationen – Deutungsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Schlüsselsituation: „Nein, ich bin dran! Das hast du mir versprochen!“ Turbulenzen im Interaktionsgefüge einer dritten Klasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Situationsbeschreibung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Interpretationsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Schlüsselsituation: „Immer bekommt Tim mehr Zeit als wir, das ist ungerecht!“ Gleich- und Ungleichbehandlung von Schülerinnen und Schülern im Schulalltag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Situationsbeschreibung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Interpretationsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Schlüsselsituation: „Das Thema Ritter ist garantiert kindorientiert!“ Kindorientierung als unreflektierte Selbstverständlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1 Situationsbeschreibung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 Interpretationsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
281 281 282 285 289 298 303 309 315 316 316 319 320 322
326 326 328
335 335 336
347 347 348
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:09 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Inhalt
9
7.5 Schlüsselsituationen: „Sonnenblume“ – ein neues Codewort für soziale Praktiken einer Klasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.1 Situationsbeschreibung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.2 Interpretationsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
352 352 354 365
Abbildungsverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Onlinezusatzmaterialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Autorinnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
369 373 377
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:09 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Einführung
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:09 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Was dieses Buch will Nicht belehren, nicht langweilen, nicht den pädagogischen Zeigefinger erheben, nicht mit Rezepten aufwarten, nicht „Fast-food“-Lösungen anbieten, nicht Klagelieder auf den Lehrerberuf anstimmen und vor allem: nicht ungelesen bleiben. Das Buch will den Lehrerberuf in eine berufsbiografische Perspektive rücken. Es will anregen, auf den eigenen beruflichen Werdegang zu blicken und die beruflichen Aufgaben, Funktionen und Herausforderungen für sich zu klären. Es will die permanent erlebte Spannung zwischen den gesellschaftlichen Erwartungen und dem persönlichen Berufsverständnis, den institutionellen Vorgaben und den individuellen Handlungsmöglichkeiten aufnehmen und als berufsbestimmend thematisieren. Der Band gründet wesentlich in jenen Erfahrungen, die die Autorinnen in Lehre und Forschung, in schulpraktischen Studien, in Lehrerfortund Lehrerweiterbildung sammeln und an der Schnittstelle von Theorie und Praxis diskursiv bearbeiten konnten. An wen sich dieses Buch richtet Wer ein Lehramt studiert, strebt in einen Beruf, dessen Ausgestaltung wie kaum ein anderer von subjektivem Erleben geprägt ist. Bereits das erste Schulpraktikum führt die Studierenden gleichsam von der Hinterbühne her an einen ihnen vertrauten Ort mit der Absicht, dem persönlich gesteckten Entwicklungsziel Lehrer/in näher zu kommen. Der berufliche Werdegang kann dann sehr unterschiedliche Situationen bereithalten: Referendariat, Junglehrerzeit, Übernahme einer Klassenleitung, Unterrichten in einer Inklusionsklasse, Einspringen als mobile Reserve, vielleicht auch Wahrnehmen einer Funktionsstelle als Schulleitung oder in der Schulaufsicht, als Mentor/in in der zweiten Lehrerbildungsphase wirken oder sich für eine wissenschaftliche Weiterqualifikation im Hochschulbereich entscheiden. Mit jedem Übergang verbinden sich neue Aufgaben. Jedes Tätigkeitsfeld mutet Entwicklungsaufgaben und fortgesetzte Entwicklungsprozesse auf unterschiedlichsten Ebenen zu. Dies betrifft insbesondere Seiteneinsteiger/ innen, die sich im Studium für andere Fächer, eine andere Schulart oder einen anderen Beruf qualifizierten und nun den „Sprung ins kalte Wasser“ mit einem sogenannten Crashkurs zu bewältigen haben.
12
Einführung
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Wie dieses Buch konzipiert ist Wer Tag für Tag mit Kindern/Jugendlichen in der Schule oder an unterschiedlichen Wirkungsorten für sie arbeitet, läuft stets auch Gefahr, den Sinnhorizont seines Handelns zu verlieren und sich mit einer lediglich im Leeren rotierenden Pflichterfüllung zu begnügen. Deshalb legt die Publikation ein besonderes Gewicht auf eine reflexive Auseinandersetzung mit den Orientierungen, den Bedingungen und Entscheidungen, die Lehrerhandeln bestimmen und maßgeblich die pädagogische Haltung einer Lehrperson herausbilden. Das Buch richtet seine Aufmerksamkeit zugleich auf das, was die Lehrergenerationen miteinander als berufslange Aufgabe verbindet, auch wenn diese zeitgeschichtlich und individuell spezifisch geprägt ist. Sieben Kapitel wollen diesem Anliegen entsprechen: Kapitel 1: Am Arbeitsplatz Schule erfahren die Lehrer/innen eine institutionelle Eingebundenheit, die maßgeblich die Matrix ihres Handelns darstellt. Deshalb wird eine berufsbezogene Selbstvergewisserung angeregt, in der die gesellschaftlichen Daueraufgaben verdeutlicht, die institutionelle Prägung der Lehrenden wie Lernenden bewusst gemacht und die Erfahrung, als Mitglied einer ,Schulfamilie‘ in einem besonderen Funktionszusammenhang zu stehen, thematisiert werden. Die belastenden Faktoren kommen ebenso zur Sprache wie Lösungsmöglichkeiten, mit hoher Belastung umzugehen. Kapitel 2: Im Unterricht, dem Kernbereich der Lehrertätigkeit, steht die Lehrperson im Zentrum unmittelbarer Erwartungen und Anforderungen. Die Ausführungen fragen nach der Tiefenstruktur des Unterrichtens trotz zeitgeschichtlicher und individueller Verschiedenheiten, zeigen geschichtliche Entwicklungen und Umbrüche ebenso wie die permanenten Bestrebungen, den Unterricht zu verbessern, zu verändern und neu zu erfinden. Die jahrzehntelangen Reformbemühungen rücken mehr und mehr die fundamentale Bedeutung der Lehrperson und ihres Kompetenzprofils in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Kapitel 3: Dem Berufswunsch „Lehrer werden“ liegt meist noch ein diffuses Berufsbild aus der eigenen Schülerbiographie zugrunde. Dieses Kapitel ist deshalb den verbindlichen Handlungsbereichen gewidmet, die der Lehrperson durch Vorgaben übertragen wurden und die in Standards ausformuliert sind. Das Handlungsprofil der Lehrerinnen und Lehrer erweitert den Kompetenzbereich ‚Unterrichten‘ durch weitere Aufgabenfelder, die einer sorgsamen, pädagogisch stimmigen Übersetzung hin auf die einzelne Schülerin/den einzelnen Schüler bedürfen. Doch die Erfüllung der offiziell zugewiesenen Aufgaben muss hineingedacht werden in eine zeitliche und räumliche Dimension der Handlungsfelder, die mit den vorgefundenen Bedingungen und Orientierungen in engem Zusammenhang stehen.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Einführung
13
Kapitel 4: Dieses Kapitel nimmt die verschärfte schulische Leistungssituation und die ihr eigene Konfliktstruktur auf und zeigt das Spannungsfeld, in das die Lehrkräfte, die Schüler/innen und die Eltern gestellt sind. Dabei geht es zugleich um die schulgeschichtlichen Wurzeln der Problematik und um die Gefahr von kurzschrittigen, vordergründigen Lösungen. Die Reflexion mündet ein in die Etablierung einer Rückmeldekultur, die dem pädagogischen Anspruch Geltung verschaffen soll. Kapitel 5: Die Debatte um Schule übersieht bisweilen vermeintliche Nebensächlichkeiten im Lehrerhandeln. Von den vielen möglichen Vernachlässigungen werden die Hausaufgaben und die digitalen Medien ausgewählt. An diesen beiden Themenbereichen kann exemplarisch einsichtig werden, wie schulische Einflüsse aus der Schule heraus in die Elternhäuser hineinströmen (vgl. Hausaufgaben) und wie zugleich verändertes Aufwachsen in Familie und Gesellschaft in die Schule hineinwirkt (vgl. Digitalisierung). Kapitel 6: Wenn heute das Lehrersein als Profession verstanden wird und nicht mehr als bloßes Handwerk oder lediglich als Beruf entspricht dies einer kulturellen Notwendigkeit: In einer zunehmend komplexer werdenden Welt wird von den Lehrer/innen eine vollgültige Profession gefordert, die so wie die der anderen Professionen (z. B. Ärzte, Juristen), nur in einem langen wissenschaftlichen Studium der hohen Bedeutung ihrer Aufgabe entsprechend angemessen ausgebildet werden kann und eine exklusive Kompetenz haben und beanspruchen dürfe. Den Implikationen dieser Entwicklung widmet sich dieses Kapitel mit der Frage, was denn den eigentlichen Kern, das Proprium, der pädagogischen Professionalität bestimmt. Kapitel 7: In diesem Kapitel steht die praktische Pädagogik im Zentrum und zwar die Auseinandersetzung mit sogenannten „Schlüsselsituationen“ aus dem Schulalltag. Es will dazu einladen, der Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit nachzuspüren, die für die Wahrnehmung und Deutung von pädagogischem Handeln typisch sind. Zugleich stellt es die Frage nach der zugrundeliegenden pädagogischen Haltung, aus der heraus das Handeln Orientierung gewinnt, Energie schöpft und sich als pädagogisch legitimiert. Dieses Kapitel hat die Funktion, lautes Nachdenken über konkretes Lehrerhandeln anzuregen, nach dessen Orientierung zu fragen, Irrwege zu benennen, Lösungen zu entwerfen und sich in gemeinsamen Verständigungsversuchen darüber klarzuwerden, welche Kriterien die Handlungsweisen wohl bestimmen bzw. bestimmen sollten. Es geht also gerade nicht um eine Fixierung von eindeutigen Handlungsvorschriften, sondern um reflexives Be- und Hinterfragen von konkretem Handeln unter pädagogischem Anspruch.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
14
Einführung
Alle Kapitel konzentrieren sich auf Charakteristika des Lehrerhandelns und auf das berufliche wie institutionelle Profil, das es unter den gegegebenen Bedingungen auszugestalten gilt. Wenn sich dabei der Blick von den Lehramtsstudierenden im Praktikum bis hin zu den erfahrungsgesättigten Pädagoginnen und Pädagogen richtet, geht es stets um die Frage, was den Kern des Lehrerseins ausmacht, der durch die Zeiten von Veränderungen und von immer wieder neuen Herausforderungen und Aufgeregtheiten hindurch Gültigkeit behält und das Lehrerhandeln trägt. Das Buch ist an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis angesiedelt. Es bietet erfahrungsbetonte Zugänge, problematisiert durch Fragen, Bilder, Erinnerungsmomente und informiert über das berufliche Feld, seine institutionelle Besonderheit, historische Bedingtheit und Reformströmungen. Es ist seine Absicht, über Handlungsimpulse, Konkretisierungsbeispiele und Gestaltungsideen zur kritischen Reflexion, zum kollegialen Gespräch und zur persönlichen Professionsentwicklung anzuregen. Es wird durch digitale Dokumente gestützt, die über den Link www.utb-shop.de/9783825251130 unter „Zusatzmaterial“ kostenlos zugänglich sind. Ein herzlicher Dank gebührt allen, die in einen Dialog mit uns getreten sind: den Studierenden, den Kolleginnen und Kollegen im Schuldienst, in der Schulaufsicht, in der zweiten und dritten Phase der Lehrerbildung sowie im Hochschulbereich. Sie alle haben auf je eigene Weise aus ihrer Perspektive zum Entstehen dieses Buches beigetragen.
Edeltraud Röbe
Marion Aicher-Jakob
Anja Seifert
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1. Der Arbeitsplatz Schule – ein institutionell geprägter Ort in der Gesellschaft „Die ungeheure Arbeit, die hier tagtäglich geleistet wird, ist die der Menschenbildung, der Arbeit an den Kompetenzen, Haltungen und psychischen Strukturen heranwachsender Menschen. Diese ‚Arbeit‘ hat ihre eigenen Gesetze und Erfolgskriterien.“ Helmut Fend1
Abstract Schulen sind pädagogische Institutionen, die zugleich mit einem gesellschaftlichen Auftrag betraut sind. Lehrer/innen agieren im Bildungssystem als institutionelle Akteure und gestalten eine von der Gesellschaft überantwortete Bildungsund Erziehungsaufgabe. Im ersten Kapitel wird der institutionelle Rahmen beleuchtet, der eine Matrix für professionelles Lehrerhandeln bildet. Das Bildungssystem wird von Bund, Bundesland und Kommune realisiert. Schulen sind einerseits exekutive Organe und führen als Teil des Bildungssystems einen Bildungsauftrag aus. Sie entwickeln sich andererseits und bilden innerhalb des Systems ihr je eigenes Profil. Die institutionelle Eingebundenheit beeinflusst bewusst und unbewusst Lehrer/innen in ihrem Handeln. Umso wichtiger wird es, diese Prozesse zu verdeutlichen, damit die Berufsrolle mit den dazugehörigen Aufgaben reflektiert wahrgenommen werden kann. Diese institutionelle Vergewisserung gewährt einen Blick über den ‚Tellerrand‘, da institutionelle Bildung über die Lebensphasen hinweg kontinuierlich stattfindet: Sie beginnt bereits vor Schuleintritt und wird in den weiterführenden Schulen wie in der Berufs- und Erwachsenenbildung fortgesetzt. Kinder kommen mit institutionellen Vorerfahrungen in der Schule an, und ihre Grundschulerfahrungen prägen ihre Bildungsbiografie nachhaltig. Für professionelles Lehrerhandeln werden die Fragen relevant: Wie kann den Kindern ein guter Start ermöglicht werden? Wie können die weiteren Bildungsübergänge gelingen?
1 Helmut Fend, geboren 1940, renommierter Erziehungswissenschaftler, Pädagogischer Psychologe und Bildungsforscher an den Universitäten Konstanz und Zürich mit den Arbeitsschwerpunkten Entwicklung im Jugendalter, Bildungssysteme und Schulentwicklung, seit 2006 emeritiert.
16
1. Der Arbeitsplatz Schule
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1.1 Aufgaben und Erwartungen – eine berufsbezogene Selbstvergewisserung
Simone M., 25 Jahre, nach Beendigung des Referendariats „Endlich war es so weit. Das Referendariat beendet, die Zusage zur Übernahme in den Schuldienst lag schwarz auf weiß vor mir. Jetzt konnte ich meine erste eigene Klasse übernehmen, wie lange habe ich mir das in Gedanken ausgemalt. Endlich kann ich meine Arbeit so gestalten, wie ich es mir vorstelle. Der für lange Zeit größte Herzenswunsch wurde Wirklichkeit. Doch anstatt Freude und Zuversicht machten sich über die Sommerpause immer mehr Zweifel breit. Kann ich den Erwartungen gerecht werden? Was wird überhaupt von mir erwartet? Welche Aufgaben sind die wichtigsten? Habe ich alle wichtigen Aufgaben auf dem Radar? Welchen individuellen Spielraum habe ich tatsächlich in meinem Wirken?“ 1.1.1 Institutionen übernehmen gesellschaftliche Daueraufgaben Im alltagssprachlichen Gebrauch ruft der Begriff „Institution“ sicher zunächst Bilder eines öffentlichen Gebäudes hervor. Dabei darf nicht aus den Augen verloren werden, dass die Architektur bzw. die Innenausstattung des Gebäudes weder beliebigen Entwürfen folgt noch als Resultat individueller Vorlieben zu betrachten ist. Auch wenn sich die Bildungslandschaft immer weiter ausdifferenziert und sich als bemerkenswert heterogen darstellt, ist das institutionelle Gebilde durch weitaus weniger persönliche als durch gesellschaftliche Handschriften geprägt. Denn Institutionen sind Einrichtungen, die darauf zielen, Daueraufgaben für die Gesellschaft zu übernehmen (vgl. Fend 2006, S. 28). Damit Institutionen die ihnen übertragenen Aufgaben tatsächlich erfüllen können, benötigen sie eine bestimmte Gestalt, die Talcott Parsons (vgl. 1967, S. 196) anhand von vier Strukturmomenten beschreibt: 1. Zielverfolgung (Goal-attainment): Institutionen müssen zur Bewältigung ihrer Aufgaben bestimmte Technologien entwickeln, damit die anvisierten Ziele erreicht werden können. Gemeint sind im schulischen Kontext Technologien, die sicherstellen, dass Schüler/innen Fähigkeiten und Fertigkeiten ausbilden, gleichermaßen aber auch Haltungen entwickeln, die für die Gesellschaft als zentral erachtet werden. Hierbei wird deutlich, dass die Entwicklung eines universell einsetzbaren Handwerkszeuges als Garant für Bildung und Erziehung nicht nur an der Komplexität des Bildungs- und Erziehungsauftrages scheitern muss. Die Wirkmechanismen auf soziale Interaktionen sind gleichwohl vielschichtig und unterliegen Interdependenzen, so dass verallgemeinernde Aussagen im Sinne von ‚Wenn-dann-Schlussfolgerungen‘ kritisch zu
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1.1 Aufgaben und Erwartungen
17
hinterfragen sind. Die individuellen Dispositionen von Kindern und Jugendlichen sind heterogen, wodurch das Verhalten und die Wirksamkeit von pädagogischen Szenarien nur bedingt prognostizierbar werden. Schüler/innen benötigen zur Unterstützung ihrer Bildungsprozesse ganz Unterschiedliches. Die Bildungsbemühungen, die dem Bildungsprozess eines Kindes zuträglich sind, können bei anderen Kindern geradezu kontraproduktiv wirken. Der Handlungsverlauf bleibt trotz pädagogischer Bemühungen offen. In der Erziehungswissenschaft spricht man deshalb eher von ‚weichen Technologien‘, da sich pädagogisches Handeln nicht anhand linearer Kausalzusammenhänge bestimmen lässt. Die empirische Erziehungswissenschaft versucht über Unterrichtsbeobachtungen Technologien zu entwickeln, die zielsicheres Handeln ermöglichen sollen. Erziehungswissenschaftler/innen, die sich auf die Systemtheorie beziehen, gehen indes von einem generellen Technologiedefizit der Erziehungswissenschaft aus (vgl. Luhmann/Schorr 1992). 2. Aufrechterhaltung (Pattern maintenance): Sollen Institutionen Aufgaben auf Dauer übernehmen, müssen sie über Strukturen verfügen, die ihren institutionellen Selbsterhalt garantieren. Sie müssen ‚gut für sich selber sorgen‘ können, um professionell ausgebildetes Personal zur Verfügung zu stellen, das Aufgaben entsprechend angehen kann. Die Lehrerbildung kann als eine Form der Verstetigung betrachtet werden. Für einen adäquaten dauerhaften Selbsterhalt ist es allerdings erforderlich, Lehrer/innen nicht nur auszubilden, sondern sie auch kontinuierlich im System zu unterstützen, sie professionell fortbzw. weiterzubilden. Ein Austausch zwischen Theorie und Praxis, der eine Anbindung an die Forschung ermöglicht, unterstützt die Weiterentwicklung der Lehrerbildung, die sich auf immer neue Herausforderungen einstellen muss. 3. Eingliederung (Integration): In Institutionen muss gewährleistet sein, dass sich die Akteure sinnvoll aufeinander beziehen und interagieren können. Bildungspläne dienen der internen Orientierung. Sie sollen das Zusammenspiel der Akteure sichern (vgl. Fend 2008, S. 80). Aber auch gemeinsame Werte sind unerlässlich. Ohne eine Verständigung über pädagogische Wertvorstellungen fehlt der innere Zusammenhalt der Institution. Hartmut von Hentig entwarf in Anlehnung an den Eid des Hippokrates, der für Mediziner handlungsleitend ist, einen sokratischen Eid, der einen pädagogischen Konsens an Werten ausarbeitet und handlungsleitende pädagogische Maxime verfolgt, dem sich Pädagoginnen und Pädagogen verpflichten sollen (vgl. v. Hentig 2003, S. 255ff.). 4. Anpassung (Adaptation): Schließlich brauchen Institutionen Strukturen, die eine Anpassung an Außeninstanzen ermöglichen. Gemeint ist beispielsweise die Kommunikation mit Eltern oder mit angrenzenden Bildungsinstitutionen wie beispielsweise die Grundschule mit dem Kindergarten oder mit den weiterführenden Schulen. Aber auch angrenzende Institutionen, die Lehrer/innen in ihrem Handeln unterstützen bzw. im direkten Austausch mit ihnen
18
1. Der Arbeitsplatz Schule
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
stehen (z.B. mit sozialpädagogischen Einrichtungen), erleichtern die Passung. Misslingt die Kommunikation oder gibt es Schwierigkeiten in der Übergangsgestaltung, kann von fehlender Adaptation gesprochen werden. Mit zunehmender Komplexität der Gesellschaft und den einhergehenden Aufgaben differenzieren sich auch die Institutionen weiter aus. Denn wenn eine Institution mit einer Aufgabe überfordert ist, entsteht eine weitere Institution, die die anstehenden Aufgaben übernimmt. So wurde die Bildung der nachfolgenden Generation zunehmend von der Familie an die Gesellschaft delegiert und durch das Bildungssystem organisiert und ökonomisiert. Hierbei darf nicht übersehen werden, dass Institutionen eine gewisse Sperrigkeit aufweisen (vgl. Münchmeier 1992, S. 373) und sich dadurch als verhältnismäßig veränderungsresistent erweisen. Der Bildungssektor ist seit dem ‚Pisa-Schock‘ im Jahr 2000 verstärkt Adressat von Reformen und Steuerungsbemühungen, die auf seine Optimierung zielen. Erkennt man die Permanenz als ein zentrales Charakteristikum von Institutionen an, muss für Reformen u.a. ausreichend Zeit einkalkuliert werden. Jede Veränderung bedarf enormer Energie, die ohne zusätzliche Ressourcen nicht gelingen kann und häufig zulasten der pädagogischen Arbeit mit den Schüler/innen geht. Es gilt also, sorgsam zu prüfen, wann Reformen tatsächlich einer Qualitätssteigerung zuträglich sind und unter welchen Bedingungen diese eher verhindert, als befördert wird. 1.1.2 Lehrerhandeln ist öffentliches Handeln Pädagogischen Institutionen sind sehr unterschiedliche pädagogische Aufgaben und Zielsetzungen übertragen. Diese betreffen kindheitspädagogische Belange, die sich mit den Jüngsten, den Krippenkindern, befassen, ebenso wie die Geragogik, die die Bildung älterer Menschen ins Zentrum stellt. Die Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft verdeutlichen die jeweilige Adressierung, so beispielsweise die Schulpädagogik, die Sonderpädagogik, die Sozialpädagogik, die Erwachsenenbildung, aber auch die Interkulturelle Pädagogik oder die Erlebnispädagogik, um nur einige sich zum Teil überlappende Disziplinen zu benennen. Schulen zielen auf die Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Ihnen kommt die tragende Aufgabe zu, zukünftige Generationen zu bilden, damit die Gesellschaft ihren Fortbestand und ihre Weiterentwicklung sichern kann. Sprache, Schriftkultur, Kommunikationsformen und demokratische Verhaltensweisen sind wichtige Voraussetzungen, um an der Gesellschaft teilhaben und diese mitgestalten zu können. Gleichzeitig dienen sie der Sicherung der gesellschaftlichen Werte und der kulturellen Reproduktion (vgl. Fend 2006, S. 49). Helmut Fend zeigt das Spannungsfeld des Bildungssystems, das sowohl von gesellschaftlichen als auch individuellen Funktionen betimmt wird (Abbildung 1).
1.1 Aufgaben und Erwartungen
19
Doppelfunktion des Bildungswesens Bildungssystem
Individuum
Reproduktion Innovation
Soziale Identität und politische Teilhabe
Lebensplanung
Kulturelle Teilhabe und Identität
Legitimation & Integration
Allokation
Qualifikation
Berufsfähigkeit
Individuelle Funktionen (Handlungsfähigkeit)
Gesellschaftliche Funktionen
Entkulturation
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Gesellschaft Kultur
Abbildung 1.1: Doppelfunktion des Bildungswesens (H. Fend 2006)
Die Darstellung von H. Fend (2006, S. 54) zeigt die Aufgaben des Bildungssystems aus zwei Perspektiven: einmal aus der Perspektive der Gesellschaft, die über den Bildungs- und Erziehungssauftrag zentrale Aspekte ihrer Reproduktion und Weiterentwicklung sichert. Zum anderen wird durch die Darstellung der individuellen Funktionen die Verflechtung der Lebensbiografie mit der institutionellen Prägung evident: Der individuelle Lebensentwurf wird an unterschiedlichen Stellen immer wieder von Institutionen gekreuzt und geprägt. Institutionen liefern dadurch Voraussetzungen für persönliche Entfaltung und Qualifikation. Gesellschaftliche Werte und Normen werden so an unterschiedlichen Stationen des individuellen Lebensentwurfes institutionell ‚gesichert‘ und in den persönlichen Werdegang eingewoben. Die Spanne der individuellen Lebenszeit ist demnach nur ein Ausschnitt der größeren Lebenszeit der Gesellschaft (vgl. Berger/Berger 1976, S. 16). Lehrerhandeln ist somit immer institutionelles Handeln, das im gesellschaftlichen Rahmen vonstattengeht und gesellschaftlich legitimierte Werte und Normen vertritt. Institutionen sind gewissermaßen Programme einer Gesellschaft, sie versuchen dementsprechend willkürliches individuelles Lehrerhandeln zu formatieren. Hierbei sind die jeweiligen Institutionen nicht als isoliert arbeiten-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
20
1. Der Arbeitsplatz Schule
de Systeme zu verstehen, vielmehr ergeben sich auf dem Bildungsweg der Schüler/innen unterschiedliche Übergänge. Im Sinne einer kontinuierlichen Bildungsbiografie müssen sich Institutionen als anschlussfähig erweisen. Die Bemühungen um Anschlussfähigkeit sind dabei in zweierlei Richtungen zu berücksichtigen und zu bewerkstelligen, denn jede Institution nimmt eine aufnehmende und eine abgebende Funktion wahr. Dies wird im Folgenden am Beispiel der Grundschule in der historischen Perspektive dargestellt. Exkurs: Die Grundschule als die erste Bildungsinstitution? Kindheit und Kinderleben wird zunehmend bereits vor dem Eintritt in die Grundschule durch Institutionen strukturiert, beispielsweise durch die Kinderkrippe und die Kindertagesstätte. Professionelles pädagogisches Handeln ist dabei eingebettet in ein Verständnis von der Institution. Pädagogische Institutionen geben nicht nur für Schulen einen verbindlichen Rahmen vor, sondern auch für frühkindliche Bildungsorte. Sie werden hierfür von der Gesellschaft eigens mit einem Bildungs- und Erziehungsauftrag betraut. Spätestens ab Schuleintritt wird dieser allen Kindern zuteil, denn seit der Reichsschulkonferenz von 1920 ist die Grundschule eine verbindliche staatliche Veranstaltung. Was für uns heute trivial und selbstverständlich klingt, benötigte einen Vorlauf von nahezu 300 Jahren (vgl. Diederich/Tenorth 2000, S. 15). Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 sah die Schule bereits als eine staatlich verbindliche Einrichtung an.2 Paragraph 1 legte hierzu fest: „Schulen und Universitäten sind Veranstaltungen des Staats, welche den Unterricht der Jugend in nützlichen Kenntnissen und Wissenschaften zur Absicht haben“ (Preußisches Landrecht, 1794). Bemühungen um eine verlässliche Schulpflicht wurden aber durch die alltagsbestimmenden Lebensbedingungen, insbesondere auf dem Land, erschwert, die einem regelmäßigen Schulbesuch entgegenstanden (vgl. Diederich/Tenorth 2000, S. 16). In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden darüber hinaus eine große Anzahl an frühkindlichen Betreuungsanstalten, die entweder stärker die Bildungsfunktion in den Mittelpunkt ihres Handelns stellten oder sich eher als Nothilfe für unbeaufsichtigte Kinder verstanden.3 Von Schulen, in unserem heutigen Verständnis, waren die frühkindlichen Betreuungsanstalten nicht immer klar zu trennen (vgl. Aicher-Jakob 2015, S. 18). Die Frage, wer für die Erzie2 Die Bestimmungen wurden im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 im zwölften Titel des zweiten Teils, von niedrigen und höheren Schulwesen, festgelegt (vgl. Preußisches Landrecht von 1794). 3 Jürgen Reyer spricht in diesem Kontext vom sozialpädagogischen Doppelmotiv (vgl. Reyer 2006, S. 29).
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1.1 Aufgaben und Erwartungen
21
hung der Jüngsten zuständig sei, die Familie oder der Staat, wurde kontrovers diskutiert. Auf der entscheidenden Reichsschulkonferenz von 1920, die das Erziehungs-, Schul- und Bildungswesen neu ordnen sollte, gab es Vertreter, die für Kindergarten und Schule gleichermaßen eine verbindliche staatliche Regelung forderten.4 Ein Entwurf, den Kindergarten als eine staatlich verbindliche Bildungsinstitution zu verankern, scheiterte aber schließlich an den bürgerlichen Familienvorstellungen und ein obligatorischer Besuch wurde nur für die Schule durchgesetzt. Vehemente Kritik an einer verbindlichen Institutionalisierung der Kleinkinderziehung vor Schuleintritt kam beispielsweise von Lili Droescher, damalige Vorsitzende des Pestalozzi-Fröbel-Hauses, die sich auf der Reichsschulkonferenz hierzu klar positionierte: „Paradox wäre es doch, wenn wir die tiefe Liebe des Mädchens, der Mutter zum Kinde begründen hülfen, ihnen den Weg zu einem glückbringenden Erziehungsleben zeigten, um dann nicht ihnen, sondern dem Staate und seinen Institutionen die Sorge für das zarte Kleinkindesalter zu überantworten. Dagegen werden sich hoffentlich die auf neue Weise vorgebildeten Mütter wehren!“ (Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht 1920, S. 44). Somit trennten sich die Wege von Kindergarten und Grundschule: Der Kindergarten wurde unter Wahrung der Freiwilligkeit in den Sozialministerien, die Grundschule indes als eine verbindliche Veranstaltung des Staates in den Kultusministerien verankert. Diese institutionelle Trennung, mit unterschiedlicher ministerieller Verortung, führte fortan zu getrennten Professionsentwicklungen, die bis heute Kommunikationsprobleme befördern. War die Grundschule anfänglich eine Vorstufe der Volksschule, wurde sie 1964 mit der Aufspaltung in Grund- und Hauptschule zu einer eigenen Institution. Kindergarten und Grundschule befinden sich heute zwischen historisch gewachsener Differenz und Bemühungen um Anschlussfähigkeit. Hierbei gleichen sich die Institutionen zunehmend in ihren Aufgaben, der Bildung, Erziehung und Betreuung. Ähnlich verhält es sich mit den Erwartungen, mit denen sich die Institutionen konfrontiert sehen, die Kinder möglichst gut auf die nachfolgende Bildungsinstitution, Grundschule bzw. weiterführende Schule, vorzubereiten. Beide Institutionen stehen hierbei im Dilemma, grundlegende Bildungsprozesse zu ermöglichen, ohne selbst auf die Zulieferfunktion der nachfolgenden Bildungsinstitution reduziert zu werden. Sie stehen dabei vor der Schwierigkeit, dass die Tätigkeit in der eigenen Institution mit einem ‚institutionell fremden‘ Blick des anschließen-
4 Den weitreichendsten Entwurf legten Fritz Karsen, Oberstudiendirektor in Berlin-Lichterfelde und Paul Oestreich, Studienrat und Professor in Berlin Friedenau, für den Bund der entschiedenen Schulreformer vor. Sie sahen eine Einheitsschule für alle Kinder vom Kindergarten bis zur Hochschule vor, ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer Herkunft bzw. Religion (vgl. Aicher-Jakob 2015, S. 25).
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
22
1. Der Arbeitsplatz Schule
den Systems betrachtet wird. Erschwerend kommt hinzu, dass das Ansehen und das Gehalt von Sekundarschullehrenden, Grundschullehrenden und Erzieherinnen und Erziehern aufgrund der unterschiedlichen Ausbildung in fast allen Bundesländern nach ‚unten‘ abnimmt. Diese ‚Entwertung‘ entbehrt jeglicher Argumentation und bringt für institutionsübergreifende Kooperationen zusätzliche Schwierigkeiten mit sich. Die Grundschule ist folglich nicht die erste Bildungsinstitution, wohl aber die erste verbindliche, die im kooperativen Austausch mit den angrenzenden institutionellen Akteuren, eine Basis für gelingende Übergangsprozesse bildet und sich um Anschlussfähigkeit in beide Richtungen bemühen muss. 1.1.3 Die Institution prägt Lehrende und Lernende Wie Siegfried Bernfeld5 (1925, S. 28) bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts so treffend vermerkte, ist es die Schule als Institution, die „erzieht“. Die Tätigkeit der einzelnen Lehrerin/des einzelnen Lehrers sei im System der gesellschaftlichen Einrichtung nur ein Faktor. Vor der Didaktik komme der Institution ein gewichtiger Teil der Erziehung zu. Bernfeld zeigt die Notwendigkeit auf, die Didaktik durch eine sogenannte Instituetik zu ergänzen. Er führt aus, dass die Institution Schule nicht zum Zwecke des Unterrichts gedacht sei: „Sie entsteht aus dem wirtschaftlichen – ökonomischen, finanziellen – Zustand, aus den politischen Tendenzen der Gesellschaft; aus den ideologischen und kulturellen Forderungen und Wertungen, die dem ökonomischen Zustand und seinen politischen Tendenzen entsprangen; aus den (zweck-) irrationalen Anschauungen und Wertungen […]. In welcher Richtung immer diese Kräfte wirken mögen, es ist von vornherein unwahrscheinlich, daß sie die Erreichung des didaktischen Zweckes garantieren, es ist nicht einmal wahrscheinlich, daß sie ihm neutral gegenüberstehen“ (Bernfeld 1925, S. 27).
Die Ausführungen Bernfelds führen uns die Tragweite von Institutionen vor Augen und zeigen die Zusammenhänge zwischen Lehrerhandeln und Gesellschaftsideologie auf. Erziehungsfragen sind normative Fragen und diese werden von der jeweiligen Gesellschaft festgelegt. Die Institution bestimmt ganz entscheidend das pädagogische Handeln, sie geht der Didaktik voraus. Schulen zielen intentional durch Erziehung und Bildung der Heranwachsenden auf einen Prozess der „Menschengestaltung“ (Fend 2006, S. 24). Die größte Stetigkeit dieses Unternehmens wird erreicht, wenn der Prozess in Bildungssystemen institutionalisiert wird. Durch Erziehung kann Sozialisation beabsichtigt gestaltet werden. Erziehung ist demnach bewusst gestaltete Sozialisation, indem spontane und unstete Formen der Erziehung in stabile stete Formen überführt werden. 5 Siegfried Bernfeld (1892-1953) argumentiert aus psychoanalytischer Sicht.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1.1 Aufgaben und Erwartungen
23
Spätestens jetzt wird die Reichweite der institutionellen Bemühungen klar: Im Laufe der Schulhistorie verfolgten Institutionen unterschiedliche gesellschaftliche Zielsetzungen, denn den Erziehungsformen, die von der Gesellschaft als verstetigungswürdig erachtet werden, ist die jeweilige Gesellschaftsideologie eingeschrieben. Ernst Eggimann rekonstruierte in seinem Roman „Landschaft des Schülers“ in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts auf humoristische und überzeichnete Weise einen von der Institution Schule hervorgebrachten Schüler, der lange Zeit als ‚Humunculus-Scholicus‘ betrachtet werden konnte. Die Gestaltung der Schule setzte sich trotz Föderalismus über regionale und bildungspolitische Grenzen hinweg und zeichnete ein recht ähnliches Verhaltensmuster. Der ‚Humunculus Scholicus‘ Der Schüler ist ein Kind, das zur Schule geht. Der Schüler sitzt am Schülerpult. Er sitzt ruhig. Der Schüler paßt auf. Der Schüler merkt auf. Er streckt die Hand auf, wenn der Lehrer eine Frage gestellt hat. Die Hand des Schülers streckt den Zeigefinger auf. Dann ruft ihn der Lehrer vielleicht auf. Der Schüler antwortet. Er spricht deutlich. Er macht einen ganzen Satz. Immer bevor der Schüler den Mund aufmacht, streckt er die Hand auf. Der Schüler ist ein Kind, das am Schülerpult sitzt. Das Schülerpult ist zum Schreiben. Der Schüler schreibt, er ist ein Schreibschüler. Wenn der Lehrer sagt: Schreibt! schreibt der Schüler. Er schreibt mit der richtigen Federhaltung. Der Schüler schreibt sauber, er schreibt in die Häuschen. Der Schreibschüler schreibt Schulschrift. Er schreibt: Der Maler malt. In der Mühle mahlt der Müller Mehl. Der Schüler versucht, keine Fehler zu machen. Der Schüler ist ein Kind, das versucht, keine Fehler zu machen […]. Der Schüler ist ein Kind, das zur Schule geht. Wir sind stolz darauf: In unserem Land geht jedes Kind von sieben Jahren an in die Schule. Dann hat jedes Kind nicht nur eine Mutter, sondern auch eine Schule. Bis er stirbt, hat jeder eine Schule. Oft träumt er noch, bis er stirbt, von der Schule. Er ist ein Alphabet. Das Kind geht zur Schule, um zu lernen. Es lernt in Fächern, ganze Hefte voll. Vieles, was es gelernt hat, in Sprache, Rechnen, Geographie, Geschichte, und so weiter, läßt es in den Fächern liegen und in den Heften. Aber das Kind lernt noch mehr und fürs Leben: Das Kind lernt nicht herausplappern, nicht herausplatzen, nicht herauslachen, nicht herausschreien, nicht davonrennen, nicht herumrennen, nicht widersprechen, nicht trotzen, nicht zum Fenster hinausschauen, nicht gähnen, nicht einschlafen, nicht träumen, nicht weinen, nicht kichern, nicht spielen, nicht kindisch sein. Das Kind lernt gehorchen, fürs Leben, Ruhe und Ordnung. Und bald ist die Schule voller Schüler, nur den Kindergeruch bringt man nicht aus der Schule heraus. (Eggimann 1973, S. 69 und 75f.)
24
1. Der Arbeitsplatz Schule
Arbeitsaufgaben
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1. Welches Bild von Schule zeichnet Ernst Eggimann? 2. Welche Grundprobleme des Unterrichts/der Schule werden sichtbar? 3. An welchen Aussagen wird die Zeitgebundenheit des Textes deutlich? Innerhalb des großen institutionellen Gesamtsettings bilden Schulen selbst ein System, das unterschiedliche Voraussetzungen für pädagogisches Handeln mit sich bringt. Auf gesellschaftliche Herausforderungen reagieren Schulen entsprechend ihres Selbstverständnisses bzw. ihres konstituierten Handlungsraums, um mit strukturellen Problemen fertigzuwerden. So können schulische Antworten auf bildungspolitische Entscheidungen variieren, ebenso ihre pädagogischen Bemühungen, gesellschaftliche Veränderungen zu berücksichtigen. Schulen bringen durch ihren pädagogischen Selbstentwurf, durch ihren Umgang mit Strukturproblemen und schließlich durch ihre Interaktionen, Artefakte und Routinen, ihre je eigene Schulkultur hervor (vgl. Helsper 2008, S.68). Zu dieser Schulkultur gehört eine ganze Schulfamilie, die, mehr oder weniger systemisch, die Schule mitgestaltet und weiterentwickelt. So vielfältig Schulen erscheinen und sich Alltagspraktiken in unterschiedlichen Schulkulturen niederschlagen (vgl. Helsper 2008), bewegt sich diese Vielfalt innerhalb institutioneller Grenzen. Das Verhalten der Akteure wird dadurch kalkulierbar, denn Institutionen sind „dadurch gekennzeichnet, dass es verschiedene Personen gibt, die bestimmte Rollen innehaben und miteinander interagieren. Die Rollen legen wiederum das Spektrum jeweils erwartbarer Handlungen fest und gestatten es, dass in erster Linie auf der Basis von Regeln gehandelt werden kann, die bekannt und gemeinsam geteilt sind“ (Merkens 2006, S. 15).
Durch die soziale Rollenübernahme der Personen und deren Stellung in der Institution wird ihr Verhalten vorhersehbar und kalkulierbar. Soziale Rollen dienen der Stabilisierung von Rollenerwartungen. Genaugenommen handelt es sich im Beispiel von Schule um „reziproke Rollenerwartungen“ (Nassehi 2011, S. 55), denn die Verhaltensprognose trifft nicht nur für die Lehrenden zu, sondern auch für die Lernenden. Gemeint sind hierbei nicht zielsichere ‚Wenn-dann-Übersetzungen‘, sondern Verhaltensmuster. Exkurs: Soziale Rollen Der Soziologe Armin Nassehi bringt in seiner Vorlesung über Lebenswelt, Sinn, Soziale Rolle und Habitus sehr anschaulich zum Ausdruck, wie Institutionen den beteiligten Akteuren bestimmte Handlungen geradezu abringen, die dann wiede-
1.1 Aufgaben und Erwartungen
25
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
rum völlig unwillkürlich ablaufen und dementsprechend schwer steuerbar sind. Nassehi (2011) verdeutlicht die reziproke Rollenerwartung anhand einer Erzählung. Sein Protagonist, Herr A, ist bei einer Bank angestellt und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Wertpapieren. Obwohl seine Studientage längst hinter ihm liegen, kommt er der Bitte eines ehemaligen Studienfreundes nach und besucht gemeinsam mit ihm seine ehemalige Universität. Hier die Schilderung: „Er fährt mit der U-Bahn zum Hauptgebäude seiner ehemaligen alma mater und trifft seinen Freund an der vereinbarten Stelle. Es ist für Herrn A ein zugleich vertrautes und fremdes Gefühl, durch das Gebäude zu gehen, das AudiMax zu betreten, in dem er eine seiner ersten VWL-Klausuren versiebt hat. Er beobachtet die ruhige Geschäftigkeit der Studentinnen und Studenten. Der Raum füllt sich mit mehreren hundert Personen. Die beiden finden einen guten Platz und beginnen der Vorlesung des Dozenten zu lauschen. Er hat heute das Thema „Lebenswelt, Sinn, Soziale Rolle, Habitus“ – so ein typisches Soziologen-Kauderwelsch. Konnte Herr A schon früher nicht leiden. Der Professor sieht schon so aus wie das, was man nun erwarten kann. Schließlich legt der eine völlig blödsinnige Folie auf (vgl. Abb. 1.2). Herr A wundert sich. Auf die Frage des Gelehrten, was denn da zu sehen sei, melden sich die ersten Eifrigen. Eine Studentin betont, dass sie die eingestreuten „Neins“ erst nach mehrmaligem Hinsehen entdeckt habe. Sie meint, von dem Bild könne man lernen, dass das Negative keine Macht erhalte, wenn es von genügend Positivem umstellt werde. Ein Student pflichtet bei und ergänzt, dass es sich um eine moderne Lyrikform handelt, die sich eher minimalistischer Mittel bediene. Ein dritter Student meint dagegen, dass dieses Bild wohl ausdrücken solle, dass wir in einer Welt voller Ja-Sager lebten, gegen die die wenigen kritischen Stimmen nicht die geringste Chance hätten. Einer weiteren Studentin fällt auf, dass das Bild ohne die kleinen Abweichungen völlig sinnlos wäre. Einer der anwesenden Seniorenstudenten – schon öfter aufgefallen durch seine naturwissenschaftlichen Analogien – sieht in dem Bild eine Parabel auf die Evolution, die nur möglich sei, wenn es zu kleinen Abweichungen/Variationen komme, symbolisiert in den „Neins“. Diese seien es, die dafür sorgten, dass sich die Welt weiter entwickle. So geht das muntere Treiben weiter – und der Professor scheint zufrieden zu sein mit seinen Schäfchen. Herr A wundert sich immer noch – aber seine anfängliche Skepsis weicht einem eigentümlichen Interesse. Und kaum merkt er selbst, dass er sich auch gemeldet hat. Der Professor hält ihm das Mikrophon vor die Nase, und Herr A meint: „Wenn ich es recht sehe, dann bildet die Sache ganz gut die Bank ab, in der ich arbeite. Lauter Pfeifen, die tun, wie ihnen geheißen, nur einige Wenige sagen auch mal ‚Nein‘, und eigentlich müsste man ja die positiv darstellen, weil sie es sind, die dafür sorgen, dass wir uns weiterentwickeln und Probleme lösen.“ Murmelnde Zustimmung und zustimmendes Gemurmel machen sich breit – und plötzlich erschrickt Herr A über sich selbst und über das grinsende Gesicht
26
1. Der Arbeitsplatz Schule
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
seines Freundes. Den Schrecken immer noch im Nacken verlässt Herr A unter dem Vorwand eines dringenden Termins vorzeitig die Vorlesung“ (Nassehi 2011, S. 49f.). ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja nein ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja nein ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja ja Abbildung 1.2: Auszug aus der Folie (Nassehi 2011)
Die Botschaft von Nassehi verdeutlicht: Die Institution Schule generiert Lehrende und Lernende. Die Erzählung exemplifiziert das besonders eindrücklich, da das Muster scheinbar auch noch ‚nachwirkt‘, wenn der Status Schüler/in bereits längst überwunden wurde. Mit Betreten der Hochschule nimmt Herr A diese Rolle unweigerlich wieder ein. Er wird gewissermaßen von der reziproken Rollenerwartung als Besucher der Vorlesung geradezu „hingerissen“ (Durkheim 1998, S. 300), da er sich, ohne dass es ihm bewusst wird, wieder in die Rolle des Studenten begibt und sich auf die Frage des Professors meldet. Sein Verhalten läuft unbewusst ab, er erschrickt sogar darüber. Es resultiert aus einer reziproken Rollenerwartung, der er unbewusst nachkommt. Die Inszenierung der Vorlesung drängt ihm gewissermaßen den Status des Lernenden auf und nötigt ihm habituell ein vorgesehenes Verhaltensmuster ab – er meldet sich und beantwortet die Frage des Professors. Das wird noch einmal durch die Tatsache hervorgehoben, dass alle Beteiligten der offensichtlich unsinnigen Folie des Professors selbstredend einen Sinn unterstellen und versuchen, diesen zu entschlüsseln. Hierbei wird ersichtlich, dass die Institution Schule Lehrende und Lernende mit einschätzbaren Rollenerwartungen hervorbringt. Die grundlegenden Rollen Lehrer/in und Schüler/in sind weitestgehend geklärt. Man kann problemlos typisches Lehrerverhalten und typisches Schülerverhalten skizzieren. Die dargebotenen und eingeforderten Muster sind häufig bereits vor Schuleintritt bekannt. Kinder, die Schule spielen, zeigen bereits dieses Muster „fragen, melden, aufrufen, antworten“, das die Spieldarbietung unmissverständlich
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1.1 Aufgaben und Erwartungen
27
als Schule charakterisiert, auch wenn heute andere Arbeitsweisen im Schulgeschehen überwiegen. In der Erzählung wird dem Lehrerhandeln gleichwohl Sinnhaftes unterstellt. So gehen mit den Fragen Antworten einher, die die Lehrenden evaluieren und mit Erfolg oder Misserfolg bewerten. Auch hier zeigen Nassehis Ausführungen Grundlegendes: Die Antwortoptionen hängen vom jeweiligen Vorwissen und Standpunkt der Lernenden ab; die Sinnkonstrukte variieren individuell. Nicht nur die Lehrkraft wirkt auf die Lernenden, vielmehr ist es die Institution, die erwartbare Handlungen evoziert und diesen Sinn unterstellt.
1.1.4 Der Perspektivenwechsel vom Schülersein zum Lehrersein Annette M., 32 Jahre, 2. Semester „Ein Frühlingsgedicht, so stand das Thema auf meinen Unterlagen im Unterrichtspraktikum. Es fiel mir unendlich schwer, mich für ein Gedicht zu entscheiden. Nach welchen Kriterien sollte ich das Gedicht auswählen? Meine Planung kam immer wieder ins Stocken und ich verwarf meine Konzeption mehrmals und begann mit einem anderen Gedicht von vorn. Woher sollte ich wissen, welches Gedicht die Kinder einer dritten Klasse anspricht? Können sie mit einem Gedicht überhaupt etwas anfangen? Wie gehe ich vor, dass ihnen das Gedicht tatsächlich etwas bedeutet? Wie gewinne ich ihr Interesse?“ Je nachdem, an welcher Stelle der Berufsbiografie man sich befindet, erachtet man unterschiedliche Aspekte der Professionalität als vordergründig relevant. Die Herausforderungen, denen man sich stellen möchte, verändern sich im Laufe der Berufslaufbahn. Was sich bei den ersten Unterrichtsversuchen als existenziell herausfordernde Aufgabe darstellt, routiniert sich und geht mit zunehmender Erfahrung mit Leichtigkeit von der Hand. So erweist sich der erste Auftritt vor einer Schulklasse für eine Praktikantin/einen Praktikanten vielleicht als aufregendes Ereignis, aus einem Lerninhalt ein interessantes Unterrichtsthema zu modellieren, das viel Zeit bindet. Einem Referendar/einer Referendarin gelingt das sicherlich bereits routinierter. Ihm geht es vielleicht zunächst darum, eine Klasse selbstständig zu führen, alltagstauglichen Unterricht so zu konzipieren, dass Schüler/innen in ihren individuellen Lernprozessen bestmögliche Unterstützung erfahren. Sein Augenmerk wird gleichwohl darauf gerichtet sein, seine Unterrichtskultur bei Schulbesuchen adäquat sichtbar zu machen, um in den kurzen Besuchsphasen des Seminarbetreuers seine Professionalität unter Beweis zu stellen. Wohingegen Lehrende mit mehrjähriger Berufserfahrung darüber hinaus damit konfrontiert sind, Reformen konstruktiv mitzutragen, sich wechselnden pädagogischen Fragestellungen, aber auch pädagogischen ,Dauer-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
28
1. Der Arbeitsplatz Schule
brennern‘ zu stellen, sich dabei die eigene Lehr- und Lernfreude zu erhalten und zugleich mit den eigenen Ressourcen gesundheitsförderlich umzugehen. In unterschiedlichen Positionen der Berufslaufbahn fokussiert man vordergründig verschiedene pädagogische Fragestellungen, die jedoch alle zu tragenden Säulen des Unterrichts- und Schullebens werden. Unabhängig an welcher Station bzw. Position man sich in seiner beruflichen Entwicklung befindet, bedarf es eines theoretischen Fundaments, das eine professionelle Ausgestaltung der schulischen Praktiken ermöglicht. Ungeachtet der Berufserfahrung ist es die eigene Schulzeit, die unsere subjektiven schulpädagogischen Theorien in entscheidendem Maße beeinflussen und prägen. Die über ein Jahrzehnt hinweg gesammelten Erfahrungen finden ihren Niederschlag in unserer individuellen Schulbiografie und bilden die Ausgangslage für eigene Professionsbetrachtungen. Ungefähr 15 000 Unterrichtsstunden6 haben Schüler/innen mit unterschiedlicher emotionaler Eingebundenheit erlebt, bevor sie ihr Studium beginnen. Diese Erfahrungen prägen viel mehr das eigene Unterrichten als wir zunächst vielleicht annehmen (vgl. Kap. 2).
Arbeitsaufgaben 1. Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an Ihre eigene Schulzeit denken? 2. Erinnern Sie sich an Lehrpersonen? Woran konkret? 3. Wie würden Sie sich als ehemalige Schülerin/als ehemaliger Schüler heute sehen? 4. Welche Erwartungen richten Sie an Ihre zukünftigen Schüler/innen?
In der Regel findet das erste Schulpraktikum zu Beginn des Studiums statt. Es soll einen Einblick in die Institution Schule ermöglichen. Werden da nicht Eulen nach Athen getragen, wenn man nach zwölfjähriger Hospitation erneut zum Hospitanten gemacht wird? Der erste Schritt in den Lehrberuf verlangt einen grundlegenden Perspektivenwechsel. Denn bis zum Abschluss der eigenen Schullaufbahn war man vielmehr Adressat pädagogischer Bemühungen und der Blick war dabei auf das Handlungsgeschehen und Handlungserleben fokussiert. Einsichten in didaktische und methodische Überlegungen der Stundenkonzeptionen standen weniger im Aufmerksamkeitsfokus. Bewertet wurden die Unterrichtsstunden vielleicht nach hedonistischen, vielleicht auch nach pragmatischen Gesichtspunkten. Die eigene Schulbiografie bringt entsprechende Wertungen, Handlungs- und Deutungsmuster, subjektive Theorien und ‚schülerberufsbezogene‘ Überzeugungen hervor, die für die eigenständige Planung und Analyse von 6 Vgl. beispielsweise Esslinger-Hinz/Unseld/Reinhard-Hauck/Röbe/Fischer/Kust/Däschler-Seiler 2007, S.15.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1.2 Mitglied einer ‚Schulfamilie‘ werden
29
Unterricht, bewusst oder unbewusst, handlungsleitend sind. Unterrichtsstunden können beispielsweise in Anlehnung an schulische Vorbilder, aber auch als Gegenentwurf zu erfahrenem Unterricht konzipiert werden. In einem ersten Schritt gilt es, sich dieser Überzeugungen bewusst zu werden, die normativ auf eigene pädagogische Bemühungen wirken. Bei sich zu beginnen bedeutet, sich subjektive Konstruktionen von gutem – aber auch von als belastend, langweilig oder ungerecht empfundenem – Unterricht vor Augen zu führen, um sein individuelles Schulerbe zu reflektieren.
1.2 Mitglied einer ‚Schulfamilie‘ werden Mit dem Arbeitsplatz Schule assoziiert man zunächst vielleicht nur die Personen, die unmittelbar am Unterricht beteiligt sind: Lehrende und Lernende. Erst später stellt man fest, dass zur Schulfamilie ganz unterschiedliche Personengruppen mit verschiedenem Status gehören: das Lehrerkollegium, die Schüler/innen mit ihren Eltern, die Schulleitung, aber auch der Hausmeister, das Personal im Sekretariat und in der Schulsozialarbeit, gegebenenfalls auch weitere Akteure. Sie alle unterscheiden sich hinsichtlich ihres jeweiligen rechtlichen Verhältnisses zur Schule. Dementsprechend variieren die Aufgaben und Erwartungen, mit denen sich die Personen konfrontiert sehen. Das Beschäftigungsverhältnis des nichtunterrichtlichen Personals, wie beispielsweise das des Hausmeisters, der Sekretärin und der Schulsozialarbeit, unterstehen einer anderen Zuständigkeit als die Lehrenden. Im Folgenden werden einzelne Statusgruppen unter dem Fokus „Teil einer Schulfamilie werden“ skizziert. Ganztagsschulen erhöhen die Verschiedenheit des pädagogischen Personals. 1.2.1 Das Kollegium Wie stellt man sich in einem neuen Kollegium vor? Wie inszeniert man diesen rituellen Akt? Sachlich, informativ, knapp oder lieber mit narrativen Ausschmückungen? Wie viel Einblick in berufliche und persönliche Belange sollte man gewähren? Wieviel Nähe und Distanz sind angemessen bzw. lässt man zu? Eine Frage, die einen im pädagogischen Wirken durchgängig begleitet. Werner Helsper (2002) spricht in diesem Kontext von Antinomien, also von widersprüchlichen Anforderungen, die für pädagogisches Handeln gleichermaßen zutreffend sind und ein Oszillieren zwischen beiden Polen – Nähe und Distanz – benötigen. Der erste Eindruck einer Person ist oft entscheidend. Die Worte, mit welchen der Einstand begleitet wird, sollten mit Bedacht gewählt werden. Maren Ade beschreibt in ihrem Film „Der Wald vor lauter Bäumen“ die Anfangszeit der Lehrerin Melanie Pröschle an ihrer ersten Schule in Karlsruhe. M. Ade zeichnet in ihrem Regiedebüt den verzweifelten Versuch der Junglehrerin nach, Anschluss
30
1. Der Arbeitsplatz Schule
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
in der neuen Umgebung zu finden. Sicher eine ganz alltägliche Aufgabe, wenn man eine neue Arbeitsstelle antritt, die meist mit einem Wohnungswechsel einhergeht. Melanie Pröschle stellt sich im Kollegium mit den Worten vor: „Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, also ich möchte mich ganz kurzfassen. Ich habe mein Referendariat in Plochingen gemacht, das ist meine Heimatstadt und ich konnte dort viel ausprobieren an Lehrmethoden und auch an Projekten und ich hoffe, dass Sie nichts gegen ein bisschen frischen Wind haben“ (Pröschle in: Der Wald vor lauter Bäumen).
Ein ungünstigerer Anfang ist kaum vorstellbar, denn Melanie Pröschle rührt mit ihrer Antrittsrede an neuralgische Punkte des Lehrerseins: • Berufserfahrung zählt nichts, • ältere Kolleg/innen sind nicht auf dem neuesten Stand, • das Neue ist immer besser. Dementsprechend reagiert auch das Kollegium im Film mit Skepsis und Argwohn auf ihre Ansprache. Es entsteht ein Konkurrenzverhältnis mit negativen Emotionen. Andererseits hören ‚Junglehrer/innen‘ beim Stellenantritt nicht selten, sie könnten getrost alles vergessen, was sie sich bislang an der Hochschule oder im Referendariat angeeignet haben. So ist gewiss der erste Tag an einer neuen Schule von unterschiedlichen Emotionen, Erwartungen und Empfindlichkeiten begleitet und gerade deswegen lohnt es sich, darüber nachzudenken, was den Schulstart zu Beginn entlasten kann. Sie finden eine Checkliste zur Orientierung für Berufsanfänger/innen und für erfahrene Lehrer/innen, die die Schule wechseln: www.utb-shop.de/978382 5251130. Generell finden sich in nahezu allen Kollegien Personen, mit denen man leichter ins Gespräch kommt, und Personen, die einen im Zwischenmenschlichen stärker herausfordern. Professionalität im Lehrberuf wird unter anderem auch daran gemessen, inwiefern man auch unter erschwerten Bedingungen professionelle Gespräche führen kann, mit Schüler/innen, mit Eltern, mit der Schulleitung und eben auch mit Kolleg/innen. Als Minimalanforderung kann sicherlich die Bereitschaft gewertet werden, ein sachliches Gespräch zu führen, das zum Austausch wichtiger Informationen dient. In den meisten Kollegien treffen die neuen Kolleg/innen auf Personen, die den Einstieg begleiten und Hilfestellungen bieten. Einige Schulen arbeiten mit entsprechenden Mentoren-Programmen, um den Übergang zu erleichtern. Einige Schulen verfügen über Strukturen, die für Neuankömmlinge, aber auch für das gesamte Kollegium Unterstützung bieten. Hilfreich ist es, wenn es Schulen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1.2 Mitglied einer ‚Schulfamilie‘ werden
31
gelingt, die komplexe Schul- und Unterrichtsorganisation in ihren Verflechtungen transparent zu gestalten. Die Informationen geben dann gezielt Antworten und zeigen darüber hinaus schulische Strukturen in ihrem Gesamtzusammenhang. Das entlastet den Schulalltag und verbessert die Kommunikation zwischen den Beteiligten. Aber nicht nur die ersten gesprochenen Sätze können einen guten Start im Kollegium beeinträchtigen. An allen Schulen gibt es eingeschliffene Routinen und Rituale, die nicht im Vorfeld kommuniziert werden. Mindestens so wichtig, wie die Kenntnis über wichtige dokumentierte Informationen, sind ‚stille‘ Agreements und Verhaltensweisen, die den Tagesablauf bestimmen und nicht mehr weiter hinterfragt werden. Erst bei Zuwiderhandlungen treten sie zurück ins Bewusstsein und sorgen dann für Unmut und Stress. Worauf am Anfang besonders geachtet werden sollte, sind eben diese ungeschriebenen Gesetze (‚hidden curriculum‘), die von Schule zu Schule variieren, einem zeitlichen Wandel unterliegen und bei Nichteinhalten Peinlichkeiten hervorrufen. Ein Lehrerzimmer-Knigge, der meist undokumentiert und unhinterfragt existiert Versuchen Sie durch Beobachtung folgende Verhaltensregelungen herauszufinden: • Bleibt man beim Sie oder duzt man sich? Wer bietet das Du an? • Im Lehrerzimmer gibt es keine feste Sitzordnung, aber bestimmte Plätze sind für bestimmte Personen reserviert und deswegen für andere tabu. • Der große Tisch im Lehrerzimmer gehört zwar allen, aber: Wieviel Raum steht dem einzelnen zu? Ist der Tisch auch als Ablage gedacht? Welche Ordnung wird erwartet? • Der Kopierer: Gibt es Kontingente, blockiert meine Kopierarbeit am Morgen die meiner Kolleg/innen? Kann ich Papierstau, Papiermangel selbst beheben oder muss ich das melden? • Gibt es typische Schulrituale und Regelungen: Verabschiedung in die Ferien, Feiern von Geburtstagen, Alkoholgenuss, Handygebrauch, Dresscode? • Essen und Trinken im Lehrerzimmer: Wer stellt zu welcher Zeit Kaffee bereit? Wer besorgt und bezahlt Kaffee, Milch und Zucker? Wer reinigt die Küchenutensilien? Wer ‚wartet‘ den Kühlschrank? Wer spült das Geschirr? • Freundliches Grüßen in und außerhalb der Schule gilt als selbstverständlich. Ein Kollegium mit angenehmer Arbeitsatmosphäre, das sich durch kollegiale Unterstützung auszeichnet, ist für berufliches Wohlbefinden nicht zu unterschätzen. Es kann den pädagogischen Alltag in vielerlei Hinsicht bereichern und erleichtern. Das Lehrerkollegium ist Teil der Schulkultur und gestaltet diese ganz wesentlich mit. Ein kollegialer, respektvoller Austausch über Schüler/innen, ihre Leistungen, ihren Entwicklungsstand, die familiären Verhältnisse, über Stärken
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
32
1. Der Arbeitsplatz Schule
und Schwächen, ist Voraussetzung für schulischen Lernerfolg. Eine gemeinsame Unterrichtsplanung kann entlastend und professionalisierend wirken. Gegenseitige Hospitationen ermöglichen hilfreiche Rückmeldungen zum eigenen Unterrichtsgeschehen. Auch die Kommunikation innerhalb der Pausen ist wichtig, sei sie fachlicher oder ‚kompensatorischer Natur‘. Die Zusammenarbeit im Lehrerkollegium ist selten per se gegeben und dauerhaft beständig. Häufige Fluktuationen und individuelle Profilierungen erschweren nicht selten produktive Kooperationsstrukturen an Schulen. Eine Gruppe von Lehrer/innen macht noch kein Team aus. Johannes Bastian und Otto Seydel (2010, S. 6) kennzeichnen ein Team anhand folgender Bereitschaft und Fähigkeiten: • sich an gemeinsamen Zielen zu orientieren, • sich an einer gemeinsamen Aufgabe abzuarbeiten, • arbeitsteilige Strukturen aufzubauen und offen miteinander zu kommunizieren, • ein Zusammenhörigkeitsgefühl zu entwickeln. Eine gute Zusammenarbeit im Kollegium ist gleichermaßen Ziel und Aufgabe der Schule. Gelingende Kooperation ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit, vielmehr häufig erst das Ergebnis eines Schulentwicklungsprozesses. Wurden früher Lehrer/innen überwiegend als Einzelkämpfer beschrieben, die die vorhandenen Probleme möglichst hinter geschlossenen Türen im Klassenzimmer behielten, sind Lehrkräfte heute zunehmend auf Kooperationen, Austausch und Unterstützung angewiesen: Im Zuge der Inklusion erfordern multiprofessionelle Teams ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft und die Kompetenz, sich professionsbezogen über die Ausgangslage einzelner Schüler/innen auszutauschen, um gemeinsam Unterstützungsmaßnahmen zu generieren. Schulsozialarbeit ist inzwischen an vielen Schulen ein verlässliches Element. Sie birgt ein hohes Potenzial, Sozial- und Selbstkompetenz von Schüler/innen zu stärken, Schwierigkeiten interdisziplinär zu begegnen und präventiv ein Konflikt- und Kommunikationstraining zu installieren. Kooperationen mit Vereinen, kommunalen Einrichtungen und weiteren fachlichen Unterstützungsorganen, wie beispielsweise mit Beratungslehrer/innen, psychologischen Beratungsstellen sind heute unabdingbar. Kooperationsbereitschaft gewinnt zunehmend an Bedeutung und wird von den Lehrkräften als relevant erachtet.
Arbeitsaufgaben 1. Informieren Sie sich über empirische Studien zur Kooperationsforschung von Lehrer/innen (www.utb-shop.de/9783825251130). 2. Welche Kooperationsformen praktizieren Lehrer/innen? Welche Prioritäten zeichnen sich ab?
1.2 Mitglied einer ‚Schulfamilie‘ werden
33
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1.2.2 Die Schulleitung Definitorisch ist es geradezu trivial zu konstatieren, dass die Schulleitung die Schule leitet. Dennoch ist die Aussage nur bedingt richtig und bis zu einem gewissen Grad zu relativieren. Die Leitung einer Schule erfolgt heute zunehmend dezentral. Einzelschulen erhalten eine höhere Autonomie, wobei die innere Schulentwicklung eine bessere Passung von pädagogischen Tätigkeiten an situative und lokale Gegebenheiten ermöglichen soll. Die dezentrale Organisation erfordert einen gemeinsamen Prozess, in den die Schulleitung, Lehrkräfte, Eltern und die Gemeinde eingebunden sind. Steuerungsgruppen an Schulen unterstützen zunehmend die vielfältigen Aufgaben der Schulleitung. Wichtig werden, neben den Aufgaben der Personalführung, pädagogische, administrativ-organisatorische und repräsentative Aufgabenfelder. Mit der bildungspolitischen Maßnahme, die Einzelschulentwicklung zu stärken, steigen auch die Anforderungen an die Schulleitung. Rechenschaftsberichte, Evaluationen, Ganztagesbetrieb, Auflösung der Schulsprengel und variierende Schülerzahlen rücken die pädagogische Arbeit mehr in die Öffentlichkeit. Die Qualität der pädagogischen Arbeit nach außen sichtbar zu machen, gewinnt zunehmend an Relevanz. Die Aufgabenfelder verdeutlichen, wie Schulleitung, Schulklima und Schulkultur zusammenhängen – Missmanagement, fehlende Transparenz hinsichtlich schulischer Entscheidungen, mangelnde Fürsorgepflicht für die ‚Schulfamilie‘ oder auch eine hierarchisch unkollegiale Gesprächskultur können die Arbeitsatmosphäre der Schulgemeinschaft empfindlich beeinträchtigen. Die Schulleitung befindet sich in ihrer Zuständigkeit und in ihrem Handlungsspielraum in einem Interdependenzverhältnis. Sie leitet einerseits die Schule, sie ist aber andererseits an die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Schulaufsicht und gleichermaßen an die Konferenzbeschlüsse gebunden. Die Aussage, die Schulleitung leite die Schule, ist zumindest insofern zu relativieren, dass die Schule sich bis zu einem gewissen Grad selbst leitet. Denn gegen den Willen eines Kollegiums eine Schule zu leiten, ist nahezu unmöglich. Es ist aber auch nicht von der Hand zu weisen, dass das Kollegium in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Schulleitung steht. Denn dieser kommt die Aufgabe zu, den ‚Dienst‘ der Lehrkraft regelmäßig zu evaluieren, in einer Dienstbeurteilung festzuhalten und das wiederum beeinflusst den berufsbezogenen Werdegang. Insbesondere Berufseinsteiger sind dadurch auf das Wohlwollen der Leitung angewiesen, um ihre berufliche Laufbahn kontinuierlich mit Erfolg fortführen zu können. Eine gute Personalführung und -entwicklung trägt maßgeblich zum gelingenden Schulleben bei. Die Schulleitung ist dafür verantwortlich, ob das Kollegium auf Unterstützungsmaßnahmen zurückgreifen kann, ob Teamentwicklung unterstützt und befördert werden, ob die Teilnahme an Fortbildungen unterstützt und goutiert werden, die Schule sich nach außen öffnet, ein dialogischer Führungsstil praktiziert wird, sich Kolleg/innen nicht nur gefordert, sondern auch gefördert fühlen, sich einbringen und ihre Meinung Gewicht erhält. Über soge-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
34
1. Der Arbeitsplatz Schule
nannte schulscharfe Stellenausschreibungen kann Lehrerinnen und Lehrern zum Beispiel ein Mitspracherecht bei Stellenbesetzungen eingeräumt werden. Die Schulleitung trägt somit zu einem gewichtigen Teil zum gelingenden Schulleben bei. Dennoch bleibt festzuhalten: Es gibt gute Schulen wegen ihrer Schulleitung, es gibt aber auch gute Schulen trotz ihrer Schulleitung. Bildung untersteht der Länderhoheit, dementsprechend werden die Dienstaufgaben der Schulleitung in den jeweiligen Schulgesetzen der 16 Bundesländer niedergeschrieben. Schulleiter, Schulaufsicht und Kollegien agieren im günstigen Fall Hand in Hand.
Arbeitsaufgabe Auf der Schulleitung lasten viele Erwartungen. Setzen Sie sich kritisch mit den Thesen von Stephan Huber auseinander. (www.utb-shop.de/9783825251130) 1.2.3 Wichtige Personen im Schulalltag Zur Schulfamilie gehören weitere Akteure, deren Relevanz für die pädagogischen Aufgaben nicht zu unterschätzen ist. Denn so wichtig wie die Unterrichtenden ist die Bereitstellung von weiterem Personal, das zu einem gelingenden Schulleben entscheidend beiträgt. Schulbetrieb und Außenanlagen haben sich im Laufe der Technisierung immer weiterentwickelt und ausdifferenziert. Zahlreiche rechtliche Vorgaben müssen bei der Instandhaltung und Pflege des Schulgebäudes berücksichtigt werden: Brandschutz, Lärmschutz, Gesundheitsschutz, Gefahrstoffverordnungen, Verkehrssicherungspflichten etc. obliegen dem Facility Manager, früher schlicht Hausmeister genannt. War ehemals der/die Lehrer/in selbst für die Instandhaltung und die Reinigung des Schulgebäudes zuständig, nahm im Laufe des 20. Jahrhunderts der Hausmeister kontinuierlich an Bedeutung zu. Das Schulgebäude ist heute mit einer Vielzahl an technischen Geräten ausgestattet, die beim Versagen den pädagogischen Ablauf gravierend beeinträchtigen können. Der Hausmeister kann heutzutage nicht alle Reparaturen selbst erledigen, er organisiert und beaufsichtigt aber die Instandhaltung. Ebenso obliegt ihm die Aufsicht über das Reinigungspersonal der Schule. Ein reibungsloser Schultag hängt für die ganze Schulfamilie von der gewissenhaften Wahrnehmung der hausmeisterlichen Pflichten ab. Ein engagierter Hausmeister resümiert seinen beruflichen Alltag am Ende seines Berufslebens:
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1.2 Mitglied einer ‚Schulfamilie‘ werden
35
Wolfgang W., 65 Jahre, Hausmeister im Ruhestand „Mir war besonders wichtig, das Haus in Schuss zu halten. In den Ferien machte ich einen intensiven Rundgang durch alle Klassenzimmer und fertigte eine Liste mit den Dingen an, die sofort repariert werden mussten bzw. die noch Zeit hatten. Diese Liste wurde dementsprechend abgearbeitet. Ich hatte einen Belegungsplan der Klassenzimmer, wodurch ich kleine Reparaturen machen konnte, wenn die Zimmer frei waren. Das Haus musste nicht nur hinsichtlich der Reparaturen beaufsichtigt und gewartet werden. Beaufsichtigung benötigten auch die Schüler/innen. Es gibt viele Beaufsichtigungslücken im Schulalltag, hier war ich gefragt. Zum Beispiel die Sporthallen. Am Vormittag ging ich zur Halle, die von jeglicher Kontrolle losgelöst war. Wichtig war mir, Präsenz zu zeigen, da die Schüler/innen in den Umkleidekabinen machen konnten, was sie wollten. Eigentlich sollten die Lehrer vor dem Unterricht einmal durch die Umkleiden gehen, was jedoch nicht konsequent gemacht wurde. Die Schüler/innen sollten merken, dass eine gewisse Kontrolle da ist. Auch an der Schule gab es unbeaufsichtigte Bereiche, die besondere Präsenz erforderten. Schüler haben ein Gespür für Nischen. Die Schule hatte einen sehr kleinen Aufenthaltsraum, mit ca. 60 Stühlen, der besonders im Winter und durch den zunehmenden Nachmittagsunterricht ständig überfüllt war. Ohne meine Aufsicht wäre das undenkbar gewesen – auch für die Reinigungskräfte, die das Chaos letztendlich wieder beseitigen müssen. Besonders die jüngeren Schüler nutzten die Eingangshalle zum Herumtoben. In diesen Nischen gab es keine direkte Aufsicht, lediglich die Anwesenheitspflicht eines Lehrers. Es reichte also aus, wenn dieser im Lehrerzimmer saß – in Rufbereitschaft. Der Raum sah nach den Pausen oft wie eine Müllkippe aus. Hier musste ich regelmäßig einschreiten. Nach offizieller Dienstanweisung war ich ja lediglich für das Haus zuständig, für die technischen Anlagen, für die Funktion von Fenstern, Türen, usw., für Reparaturen von kleineren Schäden, bei größeren Schäden beaufsichtigte ich die Reparaturen. Mein Schulalltag hätte allerdings vollkommen anders ausgesehen, wenn ich mich rein an diese Dienstanweisungen gehalten hätte. Die Schule allerdings auch! Die Dienstanweisung war für mich der am wenigsten belastende Teil meiner Arbeit. Was belastete, war der Alltag mit ca. 800-850 Schüler/innen, die mich ablenkten und herausforderten. Eine der Hauptbelastungen war die Erziehung, der Umgang mit ihnen im Alltag. Es war anstrengend, aber ich war bei den Schülern anerkannt. Was ich sagte, wurde befolgt. Wichtig war mir dabei ein respektvoller Umgang und die Gleichbehandlung aller. Das merkten die Schüler, Klarheit und Respekt. Wenn Regeln verletzt wurden, griff ich ein. Wenn man wie manche meiner Kollegen mit ‚Scheuklappen‘ durchs Schulhaus gehen würde, wäre meine Arbeit um einiges leichter gewesen, die Schule aber auch nicht in so einem guten Zustand. Als Hausmeister füllst du eine Lücke: Nachdem die Schüler das Klassenzimmer verlassen und sich im Schulgebäude aufhalten, ist niemand mehr direkt für sie zuständig. Es gibt Lehrer/innen, die schauen einfach weg, wenn sich etwas anbahnt und man eingreifen müsste. Oft kamen aber auch
36
1. Der Arbeitsplatz Schule
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Schüler/innen und Lehrer/innen zu mir und fragten mich um Hilfe: Ich musste schon Fahrradschlösser knacken, weil der Schlüssel verloren ging, zugeparkte Autos ausparken, mit Geodreiecken, Stiften, Taschenrechnern, Regenschirmen, Zeitungen oder anderen Schätzen aus meiner Fundgrube so manchem aus der Patsche helfen.“ Die Tätigkeiten des Hausmeisters betreffen den gesamten Schulbetrieb. Aber auch das Unterrichtsgeschehen im Klassenzimmer wird vom Arbeitsverständnis des Hausmeisters tangiert. Welche Auswirkungen längst angemahnte aber dennoch nicht getätigte Reparaturen auf den Schulalltag haben können, zeigt die Schilderung einer Lehrerin an einer Gemeinschaftsschule: Miriam A., 50 Jahre, Mentorin „Ich weiß nicht mehr, wie oft ich unseren Hausmeister fragte, ob er das instabile Regal befestigen könne. Ich hatte mich bereits daran gewöhnt und war mit der Handhabung des mehrbödigen Regals vertraut. Der Unterrichtsalltag ist so verdichtet, dass ständig irgendetwas los ist. Sicher, das wackelige Regal war lästig, aber das ständige Nachfragen, Bitten und vertröstet werden noch lästiger. In der Lehrprobe meiner Referendarin geschah es dann leider, sie lehnte sich während eines Plenumsgespräches an das Regal an und dieses kippte im Zeitlupentempo zur Seite. Im Nachhinein erzählte mir meine Referendarin, sie konnte zunächst gar nicht einschätzen, was aktuell passierte, sie dachte, sie würde ohnmächtig, da alles in Wanken kam.“ Gleichermaßen sind auch die Anforderungen an das Sekretariat in den letzten Jahren stetig gestiegen. Kompetente interne und externe Kommunikation bedarf an schulischen Institutionen eines hohen Maßes an fachlicher und personaler Expertise. Als Kommunikationspartner von Eltern und Kommune vertritt die Sekretärin die Schule nach außen. Sie prägt durch die Art und Weise, wie sie ein Gespräch unterstützt oder behindert, wesentlich die Beziehungsebene zwischen Elternhaus und Schule. Gerade für Eltern, denen die Innenansichten von Schule nicht vertraut sind, ist nicht zu unterschätzen, welch gewichtiger Anteil der Sekretärin im Aufbau einer guten Gesprächskultur beigemessen werden kann. Aber auch für die Schüler/innen stellt sie eine wichtige Gesprächspartnerin dar, die im Notfall oder im Krankheitsfall aufgesucht wird. Das Sekretariat gleicht einer Schaltzentrale für Informationen und Organisation. An der Schnittstelle zu Schüler/innen – Schule – Lehrkräften – Schulleitung nimmt sie eine Schlüsselrolle ein und kann den pädagogischen Alltag erleichtern oder behindern. Die Schulsozialarbeit unterstützt auf der Grundlage des Kinder- und Jugendhilfegesetzes die Lehrkräfte und die Schulleitung. Sie kooperiert mit Familien
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1.3 Orientierungs- und Handlungsrahmen
37
und Jugendhilfe. Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts werden in Deutschland unterschiedliche Kooperationen erprobt. Die Regelungen der Schulsozialarbeit und ihre gesetzliche Verankerung variieren von Bundesland zu Bundesland. Die Gesetzgebung für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe obliegt grundsätzlich dem Bund, für die Umsetzung sind die Kommunen zuständig. Der schulrechtliche Bereich unterliegt der Länderhoheit (vgl. Alike/Hilke 2012, S. 34). Nicht alle Schulen können das Potenzial, das dieser Kooperation inhärent ist, nutzen. Thomas Olk und Karsten Speck (1999) rekonstruierten aus der Sicht von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern vier Kooperationsverhältnisse: 1. ein additives Verhältnis, das durch ‚Nebeneinanderherlaufen‘ gekennzeichnet ist, 2. eine ablehnende Distanz, 3. Subkoordination, wobei die Schulsozialarbeiter/in eine Arbeitsatmosphäre schaffen sollten, damit die Lehrkräfte sich ihrer unterrichtlichen Tätigkeit widmen können, 4. eine gelingende Kooperation. Schulsozialarbeit kann die pädagogische Arbeit an Schulen bereichern und vertiefen. Insgesamt zeigt sich in Studien ein uneinheitliches, zum Teil widersprüchliches Bild zu Wirkungen und Wirkungszusammenhängen. Besonders heterogen zeigen sich die Einschätzungen bei den wechselnden Akteuren Eltern, Schüler/innen und Lehrkräften (vgl. Olk/Speck 2009, S. 920). Schulen sind gut beraten, wenn sie ihren Alltag durch sozialpädagogische Unterstützung, Vernetzung, Präventions- und Interventionsangebote in gelingenden Kooperationsstrukturen zu erleichtern versuchen.
1.3 Orientierungs- und Handlungsrahmen für Lehrerhandeln Gesellschaft und Schule stehen in einem reziproken Abhängigkeitsverhältnis. Die Gesellschaft benötigt gebildete Bürger/innen bzw. eine gebildete Zivilgesellschaft, um sich zu erhalten bzw. weiterzuentwickeln. Schulen handeln im Rahmen gesellschaftlicher Vorgaben. Sie übersetzen diese in Praktiken und Diskurse. Daraus entwickelt sich eine Schulkultur, die für pädagogisches Handeln differente Ausgangslagen bereitstellt. In welcher Weise sind die gesellschaftlichen und somit die schulischen Vorgaben verbindlich? Auf welche Niederschrift stützt sich die Orientierung? Die Schule ist Teil des Bildungssystems und dennoch bilden Schulen eigene Profile in der heterogenen Schullandschaft aus. Wo befinden sich Freiräume, die für die jeweilige Schulentwicklung genutzt werden können, welche Verbindlichkeiten sind zu berücksichtigen? Diese Fragen sollen im folgenden Kapitel beantwortet werden.
38
1. Der Arbeitsplatz Schule
1.3.1 Das Bildungssystem – eine Konstruktion von Bund, Land und Kommune
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
H. Fend (2008, S. 15) vergleicht das Bildungswesen mit einem Musikstück, an dessen Aufführung viele Menschen mit unterschiedlichen Vorlagen beteiligt sind. Die Abbildung 1.3 verdeutlicht die mehrdimensionale Eingebundenheit des Erziehungs- und Bildungsauftrags im föderalen Staat.
Staatliche Aufsicht Art. 7 (1) GG Befugnisse: Organisation – Leitung – Planung
Kultusministerkonferenz Verwaltungsanweisungen, Erlasse, Gesetze
Bundesland Ministerien Innere Schulangelegenheiten
Gemeinde als Schulträger
Schulaufsicht
Äußere Schulangelegenheiten Fachaufsicht
Rechtsaufsicht
Dienstaufsicht
Schulsystem Abbildung 1.3: Die Schule im föderalen Staat (M. Aicher-Jakob 2015)
Prinzipiell untersteht die Bildungspolitik in einer föderalen Gesellschaft der Länderhoheit; die Entscheidungsgewalt über Bildungsfragen obliegt den Bundesländern. Doch auch die Bundesländer müssen sich in ihrer Bildungsplanung an den Erlassen und Verordnungen übergeordneter Instanzen orientieren. Ihre Handlungsfreiheit wird durch das Grundgesetz, Artikel 7 Absatz 1, der staatlichen Aufsicht festgehalten. Diese impliziert staatliche Befugnisse zur Organisation, Leitung und Planung (vgl. van Ackeren/Klemm 2009, S. 105). Gleichwohl schließt Artikel 3, Absatz 3 zur Chancengleichheit, das Bildungssystem ein. Darüber hinaus gibt es länderübergreifende Belange und bildungsrelevante Fragen,
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1.3 Orientierungs- und Handlungsrahmen
39
die die Verlässlichkeit für den Bund sichern. Diese werden seit 1948 von der Kultusministerkonferenz als „Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland“ (KMK) koordiniert. Die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz werden durch Verwaltungsanweisungen, Verordnungen und Gesetze in den Ländern umgesetzt. So beschloss die Kultusministerkonferenz beispielsweise 2003 als Reaktion auf das schlechte Abschneiden deutscher Schulen bei der ersten PISA-Studie,7 die Einführung bundesweiter Bildungsstandards, die mit einer gravierenden Umgestaltung der Bildungspläne einherging. Bildungsstandards benennen Ziele, die Schüler/innen in der Schule erreichen sollen (vgl. Wernstedt/John-Ohnesorg 2009, S. 2). Die Konkretisierung der bundesweiten Bildungsstandards wird dann aber auf der Länderebene durch die Landesverfassungen festgelegt (vgl. Kap. 4). Land und Kommunen teilen sich die Aufgaben im Bildungswesen. Wie Abbildung 1.3 verdeutlicht, organisiert, lenkt und plant der Staat als oberste Instanz durch das Grundgesetz und beaufsichtigt die Schulangelegenheiten oberhalb der Landesebene. Die Kultusministerkonferenz stellt eine Zwischenebene dar, die über Verwaltungsanweisungen, Erlasse und Gesetze die Schulangelegenheiten der einzelnen Bundesländer rahmt. Und schließlich teilen sich im jeweiligen Bundesland die Ministerien und Gemeinden die Aufgaben, die in innere und äußere Schulangelegenheiten eingeteilt werden. Zu den äußeren Schulangelegenheiten, in der Verantwortung des Schulträgers, gehören zum Beispiel die Errichtung und Pflege des Schulgebäudes, dessen Sachausstattung und Ressourcen für das nicht am Unterricht beteiligte Personal bzw. für die kommunale Schulentwicklungsplanung. Pädagogische Bereiche gehören zu den inneren Schulangelegenheiten, die in die Verantwortung der Ministerien fallen. Die Länder, institutionalisiert in den zuständigen Ministerien, setzen Ziele und Inhalte des Unterrichts fest, erlassen Bildungspläne, erheben Stundentafeln und bestimmen über Versetzung und Prüfungen. Die Schulaufsicht wacht über die jeweilige Schulpolitik, wobei die Schulverwaltungen in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich organisiert sind. Bildungs- und Erziehungsfragen werden in der Bundesrepublik auf unterschiedlichen Ebenen verhandelt, wobei die Aufgaben auf Bund, Länder und Kommunen verteilt werden. Das Handeln wird zum Teil als Auftragshandeln von den Institutionen ‚programmiert‘. 1.3.2 Bildungsföderalismus Das Bildungswesen ist verwoben mit dem Föderalismus. Die Kulturhoheit der Länder resultiert aus Artikel 30 des Grundgesetzes. Der Auftrag der Schule be7 Die Reaktionen der Öfentlichkeit und Politik auf die schlechten Ergebnisse der ersten PISAStudie waren so vehement, dass sich hierfür der Begrif „PISA-Schock“ etablierte.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
40
1. Der Arbeitsplatz Schule
stimmt sich aus der Landesverfassung, auf diese werden Lehrer/innen bei Dienstantritt vereidigt – sie verpflichten sich dadurch, sich in den Dienst des Landes und seiner demokratischen Verfasstheit zu stellen. Zur Konkretisierung des Bildungs- und Erziehungsauftrages erlassen die Ministerien Bildungspläne. Das Curriculum trägt in den einzelnen Bundesländern unterschiedliche Bezeichnungen8 und variiert im Umfang und in der inhaltlichen Ausgestaltung. Bildungspläne intendieren, nachfolgende Generationen zu bilden und zu erziehen.9 Das kulturelle Erbe wird festgelegt, das für nachwachsende Generationen als verbindlich angesehen wird. Kultur wird als Vermittler verstanden, um die Menschen zu einer gewünschten Gestalt zu formen. Hierzu wird Kultur in ein Bildungsprogramm übersetzt, sie wird „rekontextualisiert“ (Fend 2006, S. 40). Doch welche Güter der Kultur lohnen, weitergegeben zu werden? Welche Themen sollen aus der Gesamtheit ausgewählt werden, welche Inhalte sind es wert, vermittelt zu werden? Die Frage nach der Auswahl der Lehrinhalte hat viel weitreichendere Folgen, als vielleicht zunächst angenommen. Die Tragweite beschreibt Erich Weniger bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „Der Kampf um den Lehrplan ist nicht, wie es manchmal scheint, ein Streit um die besten Methoden des Unterrichts oder um die Auswahl und Verteilung eines gegebenen Stoffes, sondern ein Kampf geistiger Mächte, und wie es heute im Geistigen keine einseitigen Machtentscheidungen mehr geben kann, so ist das Ringen um den Lehrplan ein Ringen um eine Lagerung der Kräfte in Schule und Lehre, die den jeweiligen Machtverhältnissen der an der Schule beteiligten Faktoren entspricht“ (Weniger 1930, S. 216).
E. Weniger (1894-1961) führt weiter aus, Aufgabe des Staates sei es, mittels der Planerstellung die unterschiedlichen „Mächte“ zu regulieren. Die Auswahl der Inhalte und Ziele verweist auf die zugrunde gelegte Bildungsidee. Seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts überwiegen bei der Bildungsplangestaltung pragmatische Ansätze. Sie kennzeichnen, welche Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen für die Partizipation an der Gesellschaft erworben werden müssen.10 Im Gegensatz zum traditionellen Bildungskanon, der vornehmlich Bildungsinhalte ausbrachte, wird der Schwerpunkt heute daraufgelegt, welche erwünschten Ler8 Nicht in allen Bundesländern trägt das Curriculum den Namen ‚Bildungsplan‘ wie in Baden-Württemberg, Hamburg oder Bremen. Von Lehrplänen spricht man Rheinland-Pfalz, Sachsen, Saarland, Schleswig-Holstein, Thüringen und Nordrhein-Westfalen; in Bayern von LehrplanPLUS. In Berlin und Brandenburg spricht man von Rahmenlehrplänen, in Mecklenburg-Vorpommern von Rahmenplan, in Hessen von Kerncurriculum, in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt von Rahmenrichtlinien. Jedes Bundesland begründet seinen Begrif mit seinen Überlegungen. 9 So zeigen Studien, dass mit den Steuerungsabsichten Nebenwirkungen einhergehen können, die kontraintentionale Efekte erzielen können (vgl. z.B. Wacker 2008, Aicher-Jakob 2015) 10 Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Geschichte des Lehrplans und die systematische Aufarbeitung historischer Positionen liefert beispielsweise Dolch, J. (1971): Lehrplan des Abendlandes, Ratingen.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1.3 Orientierungs- und Handlungsrahmen
41
nergebnisse bei den Schüler/innen erreicht werden sollen. Dieser Paradigmenwechsel setzt zunehmend auf empirische Überprüfbarkeit. Im pädagogischen Diskurs sind unterschiedliche Positionen nachzuzeichnen. Manfred Fuhrmann (2002, S. 52) bewertet das Ende der klassischen deutschen Bildungsidee seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts negativ, während Heinz E. Tenorth in der Abkehr die Chance sieht, den Kanon aus der Praxis zu gewinnen.11 Für die Unterrichtsplanung relevant ist ein Paradigmenwechsel, der den Bildungsplänen eine andere Blickrichtung einschreibt. Bildungspläne formulieren heute Anforderungen, in Form von Kompetenzen, die für die Zukunftsbewältigung benötigt werden. Für Franz E. Weinert sind Kompetenzen „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert 2001, S. 27f.).
Sprechen wir heute von einer Kompetenzorientierung, darf dabei nicht übersehen werden, welche zentrale Bedeutung Bildungsinhalte aufweisen: Sie bilden die Basis für kompetenzorientierte Bildungspläne (vgl. Kap. 3). Im Gegensatz zum traditionellen Lehrplan, der sich am Input orientierte und hierfür verbindliche Inhalte vorsah, sind heutige Bildungspläne produkt- und outputorientiert. Kompetenzen werden aber nicht im luftleeren Raum gelernt, sondern anhand von Inhalten. Darüber hinaus besitzen Inhalte, und das wird oft ausgeblendet, einen intrinsischen Wert. Sie dürfen nicht als Mittel zum Zweck missverstanden werden. Es ist nicht beliebig, anhand welcher Inhalte Kompetenzen erworben werden. Im Diskurs gewinnen zunehmend kritische Stimmen an Gewicht, die eine Verengung des Bildungsbegriffes anmahnen. Schulen laufen Gefahr, befördert durch die empirische Vergleichbarkeit und zunehmende Konkurrenzsituation, verstärkt Inhalte zu vermitteln, die in Tests überprüfbar sind. Bildungsrelevante Inhalte und Haltungen werden durch „learning and teaching to the test“ in den Hintergrund gedrängt. Heute ist jeder Bildungsplan eines Bundeslandes eine ausdifferenziert konzipierte Grundlage für die Unterrichtsplanung. Die Entwicklung von Bildungsplänen, wie sie heute existieren, führte vom einfachen Konstrukt zur Einführung von komplexeren Bildungsstandards (vgl. von Saldern/Paulsen 2004, S. 70). Bildungsstandards konkretisieren den Bildungsauftrag, indem sie Lernergebnisse 11 Heinz Elmar Tenorth arbeitete 2002 mit zehn anderen Autoren unter der Leitung von Eckhard Klieme eine Expertise aus, die Arbeitsgruppen bei der Entwicklung von Bildungsstandards unterstützen sollte. Das Papier ging als „Klieme-Expertise“ in die Literatur ein und wird als Publikation des Ministeriums für Bildung und Forschung geführt. Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise, Bonn 2003.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
42
1. Der Arbeitsplatz Schule
benennen, die erzielt werden sollen. Sie legen fest, welche Kompetenzen wann erreicht werden sollen (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2003, S. 19). Mit zunehmender Autonomie können bzw. müssen Schulen ihre eigene Schulentwicklung verfolgen. Kontingentstundentafeln, Schulcurricula, Profilbildung, schulinterne Absprachen usw. bieten Spielraum, auf situative und lokale Gegebenheiten besser reagieren zu können. Leitbilder und Profilbildung, im Sinne einer „Corporate Identity“, entwickelten sich ursprünglich im Wirtschaftsbereich, von dessen Wirkungsmächtigkeit der Bildungssektor zunehmend beeinflusst wird. Die pädagogische Orientierung soll so nach außen sichtbar werden, nach innen wird ein schulisches „Agreement“ konstituiert. So werden die Vorgaben auf Bundes- und Länderebene bzw. auf der Ebene der Einzelschule konkretisiert und ergänzt. Schulinterne Regelungen und Konferenzbeschlüsse bilden einen weiteren Handlungsrahmen für Lehrer/innen.
Arbeitsaufgaben 1. Informieren Sie sich über den gültigen Bildungsplan Ihres Bundeslandes. 2. Welche Grundorientierungen/Leitperspektiven können Sie erkennen? 3. Wählen Sie eine Thematik aus einem Fach aus. An welchen Stellen des Curriculums können Sie diese verorten? Über welchen Bildungsinhalt sollen welche Kompetenzen erreicht werden?
1.4 Lehrer sein – Lehrer bleiben? Jedes Jahr am 5. Oktober ist ein besonderer Tag, der sicherlich nicht vielen Menschen bekannt ist – der Weltlehrertag. Anlass für diesen Tag ist die Würdigung einer Tätigkeit, die eine besondere Verantwortung mit sich bringt: die Verantwortung für die Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Die Initiative wurde 1994 von der UNESCO, der Internationalen Arbeitsorganisation und der Bildungsinternationalen veranlasst. Der Beweggrund für die Einführung des Lehrertages war die Erinnerung an die „Charta zum Status der Lehrerinnen und Lehrer“, die 1994 bereits seit 30 Jahren bestand. Die Charta betont, qualifizierte Bildung benötigt qualifizierte Pädagogen. Eine Tatsache, die so in vielen Ländern der Welt noch nicht gegeben ist. Ein Anlass also, die Arbeit des Berufstandes zu würdigen und zu respektieren, da diese Anerkennung im Alltag häufig zu kurz kommt, bisweilen sogar ausbleibt – und das, obwohl die Tätigkeit mit hohen Belastungen einhergeht. Wie steht es um die Lehrerbelastung? Welche Möglichkeiten gibt es, aus- bzw. umzusteigen, zu pausieren? Von welchen Zahlen gehen wir in Deutschland aus?
1.4 Lehrer sein – Lehrer bleiben?
43
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1.4.1 Der Lehrberuf – zunehmend in weiblicher Hand? Im Schuljahr 2016/2017 arbeiteten in der Bundesrepublik insgesamt 807 296 Lehrer/innen an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen als Voll- bzw. Teilzeitbeschäftigte (vgl. Statista 2017a). Davon waren 194 625 Lehrer/innen in der Grundschule beschäftigt. Ca. 2,8 Millionen Schüler/innen besuchten 2016/2017 die Grundschule (vgl. Statista 2016). Im Schuljahr 2017/2018 besuchten ungefähr 11 Millionen Schüler/innen allgemeinbildende und berufliche Schulen (vgl. Statista 2017b). Aktuelle Prognosen gehen davon aus, dass es auch in den nächsten Jahren eine Herausforderung sein wird, Schulen mit ausreichendem Personal zu versorgen.12 Der jährliche Einstellungsbedarf an Lehrer/innen in der Bundesrepublik wird derzeitigen Berechnungen folgend bis zum Jahr 2025 seinen Höhepunkt erreicht haben. Im Grundschulbereich werden in der Bundesrepublik bis dahin ca. 35 000 Lehrer/innen fehlen.13 Dem Lehrer/innenmangel versucht die Politik mit außergewöhnlichen, zum Teil fragwürdigen Lösungswegen beizukommen: Werbekampagnen für den Lehrberuf, Rückruf von Pensionären bzw. Verschiebungen von Frühpensionierungen, Unterricht von Lehramtsstudierenden während der ersten Ausbildungsphase, Seiten- und Quereinsteiger, die zwar ein abgeschlossenes Studium, aber keine pädagogische Bildung vorweisen können. Pädagogische Grundkenntnisse erfolgen dann leider oft in einer „Schnellbleiche“ von wenigen Tagen, da eine fundierte (Aus-)Bildung mit Kosten verbunden ist. Der Lehrermangel hat die Öffentlichkeit wachgerüttelt. Die Medien dramatisieren auf ihre Weise die Entwicklungen in einen Bildungsnotstand. Eine Momentaufnahme der aktuellen Lage liefern die Printmedien. Damit reformuliert sich in gewisser Weise der Bildungsnotstand der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, der mit einer umfassenden Bildungsreform beantwortet wurde.14 Bei näherer Betrachtung der statistischen Zahlen, stellt man eine weitere Schieflage fest: Es zeigt sich, dass sich die deutliche Überrepräsentanz der Erzieherinnen gegenüber den Erziehern bundesweit im Primarbereich fortsetzt. 89,4 Prozent der Lehrkräfte im Grundschulbereich sind weiblich (vgl. Statista 2017a). Die Grundschule ist fest in weiblicher Hand, der Grundschullehrer bleibt die Ausnahme (vgl. Blossfeld/Bos/Lenzen/Hannover 2009). Es herrschen jedoch starke regionale Unterschiede. Während in den neuen Bundesländern nur sechs Prozent männliche Lehrkräfte in der Grundschule arbeiten, sind es in Hessen und im Saarland über 22 Prozent. Im Gymnasialbereich hingegen findet sich ein 12 Prognosen zum Lehrerbedarf und zur Lehrpersonalentwicklung in Deutschland liefert beispielsweise der Landesbildungsserver, https://www.bildungsserver.de/Lehrerbedarf-und-Lehrpersonalentwicklung-in-den-Bundeslaendern-5530-de.html. 13 Die Zahl wird in einem Beitrag der Wochenzeitung „Die Zeit“ mit Verweis auf die BertelsmannStudie benannt. Vgl. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-07/lehrermangel-steigendeschuelerzahlen-bertelsmann-studie-zehntausende-lehrer-fehlen. 14 Vgl. zur Bildungskatastrophe: z.B. Georg Picht (1964) sowie die Wochenzeitschrift „stern“ vom 6.9.2018 (vgl. www.utb-shop.de/9783825251130).
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
44
1. Der Arbeitsplatz Schule
ausgeglicheneres Geschlechterverhältnis. Gänzlich dreht sich das Bild, wenn man die Hochschullehre betrachtet. Der Anteil der männlichen Professoren beträgt in Bayern und Schleswig-Holstein fast 90 Prozent (vgl. Müller-Böling/Prenzel/Wößmann 2009). Leider schlägt sich das deutschlandweit auch in der Bezahlung nieder, denn Grundschullehrer/innen bleiben im Gegensatz zu den weiterführenden Schularten im Verdienst abgehängt. Sie werden im verbeamteten Status in die Besoldungsgruppe A 12 eingestuft, im Gegensatz zu Sekundar-, Gymnasiallehrkräften und den Sonderpädagog/innen, die in der Besoldungsgruppe A13 verortet sind, bzw. dort starten. 1.4.2 Tagtäglich im Lehrberuf – Belastungen und Lösungsansätze Um Aussagen zu Belastungen richtig einordnen zu können, muss man sich vor Augen führen, dass das Lehrdeputat nur einen Teil der Arbeitszeit von Lehrenden darstellt. Die wöchentliche Arbeitszeit für verbeamtete Lehrer/innen liegt in Deutschland zwischen 40 und 42 Stunden;15 für angestellte Lehrkräfte liegt sie zwischen 38,7 und 41 Wochenstunden. Das Lehrerbild in der Gesellschaft stellt sich ambivalent dar. In der Öffentlichkeit findet man einerseits das Bild des halbtags arbeitenden Lehrers, der mittags mit Freizeitbeschäftigungen zugange ist, am letzten Schultag mit gepacktem Wohnmobil vorfährt, um nahtlos in den Urlaub zu starten und für diesen sicheren Arbeitsplatz auch noch gut bezahlt wird. Andererseits findet man auch das Bild des überlasteten Lehrers, der kurz vor dem Burnout steht. Wie steht es um die tatsächliche Belastung im Lehrberuf? Die Universität Potsdam nahm sich dieser Frage an und untersuchte die besondere Belastungssituation von Lehrer/innen im Berufsalltag. Die Ergebnisse zeigen eine deutlich empfundene Überbelastung von Lehrer/innen im Vergleich zu anderen Berufszweigen, wie beispielsweise zur Polizei, zum Pflegepersonal oder zu Erzieherinnen und Erziehern (vgl. Schaarschmidt 2004; Schaarschmidt/ Kieschke 2007). Bei weiblichen Lehrkräften finden sich durchgehend häufiger Risikomuster als bei ihren männlichen Kollegen. Zudem wird ersichtlich, dass die empfundene Belastung mit steigendem Alter zunimmt. Hierbei werden die Anforderungen und Belastungen zum Teil unterschiedlich wahrgenommen und bewertet. Bernd Rudow (1994) bündelt in seiner frühen Untersuchung Faktoren, die im Positiven als auch im Negativen als belastungsrelevant empfunden werden (vgl. Abb. 1.4).
15 42 Wochenstunden sind es in Hessen, 41 Wochenstunden in Baden-Württemberg, SchleswigHolstein und Nordrhein-Westfalen, wobei mit zunehmendem Alter eine Verkürzung einhergeht. Vgl. http://www.kmk.org/ileadmin/Dateien/pdf/Statistik/Dokumentationen/Plichtstunden_der_Lehrer_2013.pdf.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1.4 Lehrer sein – Lehrer bleiben?
Arbeitsaufgaben, schulorganisatorische Bedingungen
Schulhygienische Bedingungen
Soziale Bedingungen
Gesellschaftlichkulturelle Bedingungen
Arbeitsaufgaben Arbeitszeit, Pausen Unterrichtsfach Lehrplan Klassenfrequenz Klassenrekrutierung Stunden-/Raumplan Schultyp/-größe Lehrerfunktionen Unterrichtsmethode Lehr-/Lernmittel Prüfungen Weiterbildung Physische Belastung Sprechbelastung
Lärm Mikroklima Luftbeschaffenheit Beleuchtung Klassenraum Bildschirmarbeit Unterrichtsfach-spezifische Faktoren Pausen-/Entspannungsraum Schulgebäude Schulausstattung Sanitärräume Schulstandort Infektionsgefahr
Schüler/innen Kollegen Schulleitung Eltern/-beirat Schulbehörden Betriebe Sozialarbeiter/ -pädagogen Externe Fachkräfte Schulsekretärin Hausmeister
Schulkultur/klima Schulimage Medien Berufsstatus Berufsimage Gehalt Schulreformen/ -innovationen Gesellschaftliche Erwartungen
45
Abbildung 1.4: Belastungsrelevante Faktoren (nach B. Rudow 1994)
Der Lehrberuf geht mit hohen Belastungen einher. Eine positive Entwicklung zeigt sich dennoch, was das frühzeitige Ausscheiden aus dem Lehrberuf betrifft. Gingen um die Jahrtausendwende noch zwei Drittel der Lehrkräfte wegen Dienstunfähigkeit frühzeitig in Ruhestand, erreichten 2016 ca. 88 Prozent der Lehrer/ innen gesund den Eintritt in die Pensionierung (vgl. Statistisches Bundesamt 2016). Wie belastend sich die Umstände auf die Lehrperson auswirken, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Entscheidend hierfür sind auch die konkreten Gegebenheiten der Schule vor Ort. Wird die Belastung im Lehrberuf zu groß, haben Lehrer/innen im unbefristeten Verhältnis unterschiedliche Möglichkeiten, sich vom Dienst beurlauben zu lassen und den Unterrichtsalltag zu unterbrechen (vgl. Kap. 6). Die Bestimmungen finden sich im jeweiligen Schulgesetz im Landesrecht. 1. Beurlaubungen aus familiären Gründen: Betreuung eigener Kinder unter 18 Jahren bzw. die Pflege von Angehörigen. Die Beurlaubungsdauer hängt vom Lebensalter des Antragstellers ab. 2. Im Anschluss an die Elternzeit bzw. den Mutterschutz, auch die Wiederaufnahme durch Teilzeit oder unterhälftige Teilzeitbeschäftigung ist gegeben. 3. Wenn keine dienstlichen Belange dem Antrag entgegenstehen, kann auch ein Antrag auf Urlaub aus anderen, nichtfamiliären Begründungen, gestellt werden.
46
1. Der Arbeitsplatz Schule
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4. Wechsel in den Privatschuldienst, an sogenannte Ersatzschulen. 5. Eine Pause mit Bezügen kann durch ein Sabbatjahr organisiert werden. Es bietet die Möglichkeit, über mehrere Jahre auf einen Teil des Verdienstes zu verzichten und anschließend für ein Jahr mit Bezügen aus dem Schuldienst auszutreten. 1.4.3 Ein Leben lang im Lehrberuf – Unterbrechungen, Veränderungen Mathilde P., 44 Jahre, Lehrerin „Das neue Schuljahr beginnt – und ich bin nicht dabei. Keine siebte Klasse mehr in Englisch. Keine British Isles, if-clauses und irregular verbs. Keine Frustration am Ende einer Unterrichtsstunde, wenn die äußerst langweilige frontal ausgerichtete Unterrichtseinheit entspannter und harmonischer verläuft als die zuvor aufwendig vorbereitete, handlungsorientierte, ganzheitliche, selbsttätig ausgerichtete Stationsarbeit. Keine Diskussionen um gemachte und nicht gemachte Hausaufgaben, keine Disziplinierung und Sanktionierung von Schüler/innen mehr, die die Existenz und Einhaltung von Regeln jede Stunde neu in Frage stellen. – Keine Dompteurin mehr von kleinen und größeren Pubertierenden. Keine Gesamtlehrerkonferenzen mehr, die sich in Endlosschleifen um die gleichen (nicht zu lösenden) Themen drehen und nie zu Ende gehen wollen. Auch keine fünfte Stundenplanänderung mitten im Schuljahr mehr, die den gesamten minutiös ausgefeilten familiären Betreuungsplan über den Haufen wirft. Keine dritte Vertretung in einer Woche, in der der erkrankte Kollege wieder mal keine Hinweise oder gar Aufgaben in meinem Fach hinterlassen hat. Keine Elterngespräche mehr, in denen mir die engagierte Mutter bzw. der erregte Vater erklärt, wie ich meinen Unterricht zu gestalten habe und wie Pia und Paul wieder in der Arbeit benachteiligt wurden. PAUSE – in der ich wohl diesen Wahnsinn und meine Pubertierenden in ihrer Direktheit, Offenheit und Unverstelltheit vermissen werde.“ Schule und Schulleben erneuern sich fortlaufend. Ein gesellschaftlicher Wandel verändert die Rahmenbedingungen für Kinder und ihre Lebenswelten, innerhalb derer sie aufwachsen. Auch innerhalb einer Gesellschaft sind die Kinder/Jugendlichen und ihre Lebenswelten vielfältig – die Kindheit per se gibt es nicht. Was eine Gesellschaft unter Kindheit versteht, wird sozial konstruiert. Mit gesellschaftlichem Wandel verändern sich auch die sozialen Konstruktionen bzw. die damit einhergehenden Erwartungen, die an Kinder – und an die mit deren Bildung, Erziehung und Betreuung betrauten Personen gerichtet werden. Das Schulsystem reagiert auf gesellschaftliche Transformationen und versucht diesen gerecht zu werden. Die Entwicklung von der Halbtages- zur Ganztagsschule,
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1.4 Lehrer sein – Lehrer bleiben?
47
frühe Institutionalisierung und eine verlängerte Verweildauer in den Institutionen, eine veränderte Lernkultur mit adäquater Lehrerrolle, professioneller Umgang mit Heterogenität sind nur einige Reaktionen des Bildungssystems, die das Wirken in der Schule in den letzten Jahrzehnten beeinflussten. Eine Lehrkraft, die jetzt in Pension geht, konnte bereits in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in das Berufsleben starten. Das bedeutet nahezu ein halbes Jahrhundert Schulalltag mit Reformen, Entwicklungen, Veränderungen, die diese Zeit mit sich brachte. Sich im Laufe der Jahre die Lernfreude zu erhalten und nachfolgenden Lehrkräften, trotz empfundener begünstigender Begleitumstände eine gute und unterstützende Mentorin zu sein, fällt nicht immer leicht. Am Ende ihres Berufslebens wagt eine Grundschullehrerin einen bisweilen leicht ironischen Blick zurück auf ihr berufliches Wirken. In ihren Schilderungen zeigt sich, wie viel Freude ihr in einem erfüllten Berufsleben zuteilwurde. Deutlich wird aber auch, mit welchen Veränderungen, Herausforderungen und eigenen Unzulänglichkeiten Lehrer/innen im Laufe ihres Wirkens konfrontiert werden. Treten Reformen in der Lehrerbildung bzw. im Alltag oft mit einer vermeintlichen Alternativlosigkeit ins pädagogische Leben, relativiert sich diese in der Rückschau: Monika M., Lehrerin, nach 45 Dienstjahren im Ruhestand „1971: Erste Dienststelle in Mannheim. Ich bekam zunächst eine erste, dann eine dritte Klasse, kaum Praxiserfahrung, keinen Mentor, den ich fragen konnte, aber hilfsbereite Kolleginnen, die mich unterstützten und bei Fragen gerne weiterhalfen. Wie ich mich da durchgewurstelt habe, weiß ich nicht mehr. Ich brauchte eine Stunde, um das Milchgeld einzusammeln, aber das Verhalten der Kinder unterschied sich deutlich von dem heutigen. Der Schulrat erschien und wollte von mir einen Stoffverteilungsplan. Das haben wir aber auf der Hochschule nie gelernt und ich schrieb ihn so, wie ich es für richtig hielt. Nach drei Monaten ließ ich mich nach Diedesheim versetzen, da mein Mann dort Arbeit gefunden hatte. Ich bekam eine erste Klasse und unterrichtete sie ohne große Praxiserfahrungen, so, wie ich guten Unterricht verstand. Jedenfalls haben sie Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt. Soweit ich noch weiß, hatte ich 27 Stunden und einen Nachmittag Seminar. Beim Unterrichten hatte ich völlig freie Hand. Ich orientierte mich an den Schulbüchern und lernte in diesen drei Jahren, wie ich am besten die Woche einteilte. Die Kinder respektierten mich, ebenso die Eltern, weil ich ja eine Lehrerin war. Es gab höchstens ein schwieriges Kind in der Klasse und der Rektor half mir selbstverständlich, wenn ich mit ihm nicht klarkam. Mit Eltern hatte ich keine Probleme. Sie nahmen gerne alles an, was ich ihnen sagte. In Diedesheim legte ich meine zweite Dienstprüfung ab. Die Zulassungsarbeit tippte meine Schwester, da ich das Schreiben auf einer Schreibmaschine nicht gelernt hatte. Von einem PC wusste ich damals noch nichts. Arbeitsblätter schrieb man auf eine Matrize. Hatte man Glück, verknitterte sie auf dem Handabzugsgerät nicht und man konnte alles lesen. Der Ge-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
48
1. Der Arbeitsplatz Schule
ruch von Spiritus war noch beim Austeilen sehr stark. Die Erfindung des Kopierers gab es erst später. Ich schrieb viel an die Tafel und die Kinder schrieben es ohne Murren ab. Man brauchte viel Zeit fürs Abschreiben, aber das kam der Schrift der Schüler zu Gute. In Obereisesheim hatte ich das Glück, immer in Kl. 1 und 2 unterrichten zu dürfen. Diese Altersstufe lag mir und es war jedes Mal eine große Freude zu sehen, wie die Kinder lesen lernten. Jeder Schüler bekam von mir eine kleine Pflanze und ich versprach ihnen; „Wenn die Pflanze groß ist, könnt ihr lesen.“ Es war sehr schön, zu beobachten, wie sie sich Mühe gaben, zu lesen, schön zu schreiben und mir mitteilten, wie schön sie die Schule fanden. Dieses Erfolgserlebnis nach zwei Jahren hat mich jedes Jahr fasziniert und die Freude am Unterrichten erhalten.“ Medien erleichterten schon immer den Schulalltag (vgl. Kap. 5) und gaben der Lehrkraft Spielraum für die Arbeit mit den Kindern: Monika M., Lehrerin, nach 45 Dienstjahren im Ruhestand „Es kam der Kopierer und der PC. Nun konnte ich tolle Arbeitsblätter selbst anfertigen und das Differenzieren ging leichter von der Hand. Es wurden Schulberichte verlangt und zu Beginn dieser Ära schrieb ich sie noch mit der Hand und verbesserte Fehler mit dem Tintenkiller. Die Berichtszeugnisprogramme waren dann ein wahrer Segen. Damals arbeitete jeder Lehrer für sich. Man war im Klassenzimmer mit den Kindern allein und es gab keine gemeinsamen Vorbereitungen. Tolle Ideen hat auch niemand mitbekommen, nur die Kinder – aber das war ja das Wichtigste. In einem Jahr musste ich in einer Kirche unterrichten, da sich die Schule im Umbau befand, wir machten das Beste daraus. Je länger ich Lehrerin war, umso mehr arbeitete ich. Wenn ich heute ins Internet schaue, finde ich für viele Themen gute Anregungen. Das habe ich früher alles selbst gemacht. Dafür war ich jeden Nachmittag zu Hause und konnte in Ruhe meinen Unterricht vorbereiten. Sonntags nach dem Kaffee saß ich schon wieder am Schreibtisch und plante die kommende Woche. Es gab nur wenig Konferenzen, keine Dienstbesprechung am frühen Montagmorgen und keine Pädagogischen Tage. Ich hatte genug Zeit, mich für meine Schüler vorzubereiten und gab mir Mühe, es für die Kinder schön zu machen. Die Schule hat sich im Laufe der Jahre sehr geändert. Von Vorteil sind die vielen Medien, die es heute gibt. Auch finde ich das Zusammenarbeiten der Lehrer sehr wichtig und die gegenseitigen Absprachen über pädagogische Belange. Ob die vielen Besprechungen und Konferenzen so unabdinglich wichtig sind, bezweifle ich etwas. Man kann alles auch in kürzerer Zeit abhandeln. Sehr viel wichtiger finde ich die Zeit, sich den Kindern zu widmen, den Unterricht sinnvoll zu planen, die erforderlichen Medien zu beschaffen und den Lernstoff für die
Literatur
49
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Klasse passend vorzubereiten. Und was mir immer ganz wichtig war, die Schüler sollen gern zu mir kommen und Freude in der Schule haben.“ Ein Leben lang Lehrer/in sein eröffnet den einen individuelle Entwicklungschancen für ihre Persönlichkeit, andere nehmen Veränderungs- und Aufstiegsmöglichkeiten wahr. Abwechslung im Lehrberuf ist gewissermaßen ein Selbstläufer, denn Schüler/innen verändern sich fortlaufend. Aber nicht nur sie erfordern eine stetige Weiterentwicklung, ebenso verhindern sich verändernde Bildungspläne, neue Erkenntnisse in den Disziplinen, neu aufkommende Fächer bzw. Fächerverbünde den eigenen Stillstand. Lehrer/innen können auch ganz bewusst neue Tätigkeitsfelder aufsuchen, wenn sie zum Beispiel eine Fachschaftsleitung übernehmen, eine Theater- oder Musik-AG leiten, sich zum/zur Sucht-Präventionslehrer/in oder auch Beratungslehrer/in ausbilden lassen – hier gibt es hinreichend Möglichkeiten für die eigene Weiterentwicklung. Eine Neuorientierung bietet beispielsweise auch das Engagement in der Schul- und Unterrichtsentwicklung. Die Aufstiegsmöglichkeiten im Lehrberuf, die sich auch in der Bezahlung niederschlagen, sind indes begrenzt. Beförderungsstellen, Koordinations- und Funktionsstellen sind und bleiben rar,16 wie Matthias Trautmann konstatiert: „Karriere ist und bleibt im Schulbereich ein Nebenthema; es überwiegt, auch bei Lehrerinnen und Lehrern, eine Präferenz für möglichst flache Hierarchien und wenig differenzierte Entlohnung in den Bahnen einer gesicherten Beamtenlaufbahn. Dieses System hat viele Vorteile. Als Problem bleibt dennoch bestehen, wie überdurchschnittliches Engagement im Beruf belohnt werden kann und wie Leistungsanreize gesetzt werden können, die Reformen des Schulsystems unterstützen“ (Trautmann 2017, S. 40).
Mit Veränderungen umgehen zu können, ist eine Kernkompetenz von Lehrer/ innen, die kontinuierliche Bereitschaft voraussetzt. Hierzu gehört nicht nur der Wandel, der mit bildungspolitischen Belangen einhergeht, gleichwohl sind es gesellschaftliche Entwicklungen, die Auswirkungen auf die Unterrichtsgestaltung mit sich bringen. Denn Veränderungen in der Gesellschaft führen unweigerlich zu Veränderungen in der Kindheit (vgl. Qvortrup 2005, S. 30), aber auch zu veränderten Aufgaben, die Schulen übertragen und zu Herausforderungen für Lehrer/innen werden können. Literatur Ackeren, Isabell van/Klemm, Klaus (2009): Entstehung, Struktur und Steuerung des deutschen Schulsystems. Eine Einführung. Wiesbaden. 16 Eine Übersicht über Beförderungsstellen bietet Tresselt (o.J) für NRW.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
50
1. Der Arbeitsplatz Schule
Aicher-Jakob, Marion (2015): Das Verhältnis von Kindergarten und Schule – ein chronischer Disput. Eine empirisch fundierte Studie zur Implementierung des Orientierungsplans in baden-württembergischen Kindertagesstätten. Bad Heilbrunn. Alike, Tina/Hilke, Marius (2012): Schulsozialarbeit – Analysen, Berichte, Stellungnahmen. Schulsozialarbeit und die Kooperation von Jugendhilfe und Schule im Jugendhilferecht. Expertise im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung. Frankfurt am Main. Online verfügbar unter: https://www.lwl.org/@@ afiles/42551911/01_2012-08_gew_schulsozialarbeit_jugendhilferecht.pdf. Bastian, Johannes/Seydel, Otto (2010): Teamarbeit und Unterrichtsentwicklung. Klärungen der Grundlagen und Hilfen für die Praxis. In: Pädagogik, Jg. 62, H. 1. Weinheim, S. 6-9. Berger, Brigitte/Berger, Peter L. (1976): Wir und die Gesellschaft. Eine Einführung in die Soziologie – entwickelt an der Alltagserfahrung. Reinbek bei Hamburg. Bernfeld, Siegfried (1925/1973): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Leipzig, Wien und Zürich. Blossfeld, Hans-Peter/Bos, Wilfried/Lenzen, Dieter/Hannover, Bettina u.a. (2016): Integration durch Bildung. Migranten und Flüchtlinge in Deutschland. Gutachten. Münster. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.) (2003): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise, Bonn. Diederich, Jürgen/Tenorth, Heinz-Elmar (2000): Theorie der Schule. Ein Studienbuch zu Geschichte, Funktionen und Gestaltung. 4. Auflage, Berlin. Dolch, Josef (1971): Der Lehrplan des Abendlandes. 3. Auflage, Ratingen. Durkheim, Émile (1998): Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt am Main. Eggimann, Ernst (1973): Die Landschaft des Schülers. Zürich. Esslinger-Hinz, Ilona/Unseld, Georg/Reinhard-Hauck, Petra/Röbe, Edeltraud/ Fischer, Hans-Joachim/Kust, Tilmann/ Däschler-Seiler, Siegfried (2007): Guter Unterricht als Planungsaufgabe. Ein Studien- und Arbeitsbuch zur Grundlegung unterrichtlicher Basiskompetenzen. Bad Heilbrunn. Fend, Helmut (2006): Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen. Wiesbaden. Fend, Helmut (2008): Schule gestalten. Systemsteuerung, Schulentwicklung und Unterrichtsqualität. Wiesbaden. Fuhrmann, Manfred (2002): Europas kulturelle Identität. Stuttgart. Helsper, Werner (2002): Lehrerprofessionalität als antinomische Handlungsstruktur. In: Kraul, Margret/Marotzki, Winfried/Schweppe, Cornelia (Hrsg.): Biographie und Profession. Bad Heilbrunn, S. 64-102. Helsper, Werner (2008): Schulkulturen – als symbolische Sinnordnung. In: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 54, H. 1, S. 63-80.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Literatur
51
Hentig, Hartmut von (2003): Die Schule neu denken. Eine Übung in pädagogischer Vernunft. Weinheim. Huber, Stephan Gerhardt (2012): 12 Thesen zur guten Schulleitung. http://www. bildungsmanagement.net/pdf_gesichert/Huber-2012-ZwoelfThesenZurGutenSchulleitung.pdf (Stand 25.06.2017). Kieschke, Ulf/Schaarschmidt, Uwe (2007): Einführung und Überblick. In: Kieschke, Ulf/Schaarschmidt, Uwe (Hrsg.): Gerüstet für den Schulalltag. Psychologische Unterstützungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer. Weinheim und Basel, S. 17-43. Luhmann, Niklas/Schorr, Karl Eberhard (1992): Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik. In: Luhmann, Niklas/Schorr, Karl Eberhard (Hrsg.): Zwischen Technologie und Selbstreferenz: Fragen an die Pädagogik. Frankfurt am Main, S. 11-40. Merkens, Hans (2006): Pädagogische Institutionen. Pädagogisches Handeln im Spannungsfeld von Individualisierung und Organisation. Wiesbaden. Müller-Böling, Detlef/Prenzel, Manfred/Wößmann, Ludger (2009): Geschlechterdifferenzen im Bildungssystem – die Bundesländer im Vergleich. Fakten und Daten zum Jahresgutachten 2009. http://www.aktionsrat-bildung.de/fileadmin/Dokumente/Dokumentation_2009.pdf (Stand 06.09.2017). Münchmeier, Richard (1992): Institutionalisierung pädagogischer Praxis am Beispiel der Jugendarbeit. In: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 38, H. 3, S. 371-384. Nassehi, Armin (2011): Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen. 2. Auflage, Wiesbaden. Olk, Thomas/Speck, Karsten (2009): Was bewirkt Schulsozialarbeit? – Theoretische Konzepte und empirische Befunde an der Schnittfläche zwischen formaler und non-formaler Bildung. In: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 55, H. 6, S. 910927. Parsons, Talcott (1967): Sociological theory and modern society. New York. Preußisches Landrecht (1794): Freie juristische Bibliothek, unter http://opinioiuris.de/quelle/1623#Zwoelfter_Titel._Von_niedern_und_hoehern_Schulen (Stand 01.01.2016). Picht, Georg (1964): Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation. Freiburg im Breisgau. Qvortrup, Jens (2005): Kinder und Kindheit in der Sozialstruktur. In: Hengst, Heinz/Zeiher, Helga (Hrsg.): Kindheit soziologisch. Wiesbaden, S. 27-47. Reyer, Jürgen (2006): Einführung in die Geschichte des Kindergartens und der Grundschule. Bad Heilbrunn. Richter, Dirk/Pant, Hans Anand (2016): Lehrerkooperation in Deutschland. Eine Studie zu kooperativen Arbeitsbeziehungen bei Lehrkräften der Sekundarstufe I. file:///G:/1Publikationen/Lehrersein/Literatur%20Kap1/Studie_IB_Lehrer kooperation_in_Deutschland_2016_final.pdf (Stand 06.09.2017). Rudow, Bernd (1994): Die Arbeit des Lehrers: zur Psychologie der Lehrertätigkeit, Lehrerbelastung und Lehrergesundheit. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
52
1. Der Arbeitsplatz Schule
Saldern, Matthias von/Paulsen, Arne (2004): Sind Bildungsstandards die richtige Antwort auf PISA? In: Schlömerkemper, Jörg (Hrsg.): Die Deutsche Schule: Bildung und Standards. Zur Kritik der „Instandsetzung“ des deutschen Bildungswesens, Jg. 96, Beiheft 8, Weinheim, S. 66-100. Schaarschmidt, Uwe (2004): Halbtagsjobber. Weinheim. Schaarschmidt, Uwe / Kieschke, Ulf (Hrsg.) (2007): Gerüstet für den Schulalltag. Psychologische Unterstützungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer. Weinheim/Basel. Schulgesetz Baden-Württemberg (1996): Schulgesetz Baden-Württemberg. http://www.landesrecht-bw.de/jportal/?quelle=jlink&docid=jlr-SchulGBW198 3V13P41&psml=bsbawueprod.psml&max=true (Stand 06.09.2017). Statista (2016): Anzahl der Schüler/innen an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland im Schuljahr 2016/2017 nach Schulart. https://de.statista.com/ statistik/daten/studie/3377/umfrage/anzahl-der-schueler-nach-einzelnenschularten/ (Stand 20.08.2018). Statista (2017a): Anzahl der voll- und teilzeitbeschäftigten sowie stundenweise beschäftigten Lehrkräfte an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen in Deutschland im Schuljahr 2016/2017 nach Schulart. https://www.destatis.de/ DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/BildungForschungKultur/Schulen/Tabellen/AllgemeinBildendeBeruflicheSchulenLehrkraefte.html (Stand 20.08.2018). Statista (2017b): Anzahl der Schüler/innen an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland im Schuljahr 2017/2018 nach Schulart. https://www.destatis.de/ DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2018/03/PD18_089_211.html Statistisches Bundesamt (2016): Pensionierung wegen Dienstunfähigkeit. https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/2017/12/ PD17_460_742.html (Stand 20.08.2018). TALIS OECD (2014): TALIS 2013 Results: An International Perspective on Teaching and Learning, OECD. http://dx.doi.org/10.1787/9789264196261-en (Stand 06.09.2017). Trautmann, Matthias (2017): Karriere im Lehrberuf. Eine Einführung. In: Pädagogik, Jg. 69, H. 7-8. Hamburg, S. 40-41. Tresselt, Paul (o.J): Beförderungsstellen für Lehrerinnen und Lehrer. https:// www.tresselt.de/befoerderung/ Wacker, Albrecht (2008): Bildungsstandards als Steuerungselemente der Bildungsplanung. Eine empirische Studie zur Realschule in Baden-Württemberg. Bad Heilbrunn. Weinert, Franz Emanuel (2001): Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit. In: Weinert, Franz Emanuel (Hrsg.): Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim und Basel, S. 17-32. Weniger, Erich (1930/90): Ausgewählte Schriften zur geisteswissenschaftlichen Pädagogik. 2. Auflage, Weinheim und Basel. Wernstedt, Rolf/John-Ohnesorg, Marei (Hrsg.) (2009): Bildungsstandards als Instrument schulischer Qualitätsentwicklung. Zementierung des Selektions-
Literatur
53
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
prinzips oder Mittel zur Chancengerechtigkeit? Berlin. Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 55, H. 6, S. 910-927. Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht (Hrsg.) (1920): Die Reichsschulkonferenz in ihren Ergebnissen. Leipzig.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer – Unterricht „So gern der Mensch alles aus sich selbst hervorzubringen wähnet, so sehr hanget er doch in der Entwicklung seiner Fähigkeiten von Andern ab.“ Johann Gottfried Herder (1744-1803)
Abstract Unterricht ist der Kernbereich der Lehrertätigkeit. Aber gilt die Aussage auch heute noch? Widersprechen dem nicht Beobachtungen, die das Lehrersein zunehmend mit Sozialpädagogisierung verbinden und die Lehrkraft eher in der Rolle eines sozialen Helfers sehen? Und hat nicht zugleich der gesellschaftliche Trend der Selbstoptimierung in offenen Angebotsstrukturen längst die Schule erreicht und die Lehrerin und den Lehrer zu einem Coach, Animateur oder Lernfacilitator gemacht? Unterrichten zählt noch immer zur zentralen Aufgabenstellung der Lehrperson. Alle offiziellen Lehrerleitbilder enthalten dazu Aussagen. Sie zeigen zugleich, dass die Anforderungen an den Lehrerberuf unaufhörlich steigen.1 In einer sich dynamisch verändernden Wissensgesellschaft wachsen die Ansprüche an seine Unterrichtsbefähigung in fachlicher, didaktischer wie pädagogischer Hinsicht. Es wird erwartet, dass die neuen Forschungsergebnisse und Reformimpulse zeitnah umgesetzt werden und dass das Pädagogische in der Dynamik der Entwicklungen nicht preisgegeben wird. In dieses Kapitel führen Abbildungen von Unterrichtsszenen aus der Schulgeschichte ein. Sie lassen zeitgeschichtlich geprägte wie überdauernde Merkmale von Unterricht hervortreten und zugleich dessen Wandel erfassen. Die dafür gewählte phänomenologische Zugangsweise vermag die Tiefenstruktur des Unterrichtens freizulegen, lässt aber auch seine Problemstellen und Risikomomente hervortreten. Im folgenden wird an wichtigen, bis heute nachwirkenden Reformphasen thematisiert, wie sehr die Reformbewegungen des Unterrichts mit zeitgeschichtlichen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen einhergehen, welches Veränderungspotenzial sie für das unterrichtliche Handeln mit sich führen und wie sie an die Unterrichtswirklichkeit heranzureichen versuchen. Den Unterricht zu verbessern und zu verändern ist eine Daueraufgabe, die sehr 1 Vgl. Oelkers, Jürgen (2009): „I wanted to be a good teacher …“ – Zur Ausbildung von Lehrkräften in Deutschland. Studie. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
56
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
unterschiedliche Reformkonzepte, aber auch Fehlentwicklungen und Pendelbewegungen hervorgebracht hat. Letztere verfolgen die einmal eingeschlagene Richtung mit missionarischem Eifer, um dann wieder in die entgegengesetzte Richtung zurückzuschlagen. Es ist stets die Lehrperson, die mit ihrem Können, ihrer Fantasie, ihrem Engagement und ihrer Reflexionsarbeit den beabsichtigten Strukturreformen und Reformideen Leben und Gestalt gibt. Dieses Kapitel verweist an mehreren Stellen auf konkrete Unterrichtsdokumente, die als Arbeits- und Diskussionsmaterialien gedacht sind. Aus Platzgründen werden sie im Internet zur Verfügung gestellt; an entsprechenden Textstellen wird auf sie verwiesen.
2.1 Unterricht – der Kernbereich der Lehrertätigkeit 2.1.1 Lehrersein heißt unterrichten Wer die Schulwirklichkeit kennt, weiß, dass sich oft andere Aufgaben vor das Unterrichten schieben. Ehe der Unterricht beginnen kann, wollen zuerst einmal wichtige Konfliktgespräche, digitale Kontakte, Kurzberatungen im Lehrerzimmer, Verhandlungen mit Bildungspartner/innen und kulturellen Einrichtungen u.v.m. erledigt sein. Die vielfach beklagten gesellschaftlichen Entwicklungen, die wachsende Dynamik und Hektifizierung, die zunehmende Unübersichtlichkeit und Pluralität, das Zerbrechen alter Ordnungen und Gewissheiten haben längst die Schule erreicht. Jede Schulklasse ist ein Spiegel der Gesellschaft. An den Kindern/Jugendlichen erleben wir die Rush-Hour ihrer Elternhäuser, die Vielfalt ihrer Lebenswelten, ihre Freuden, Hoffnungen und Ängste. Gleichzeitig hat sich im Windschatten der neoliberalen Selbstoptimierungslogik und der digitalen Programme eine neue Kindheitsnorm herausgebildet, die auch das Jugendalter prägt: Die Kinder von heute werden gerne als ‚optionierte‘ Kinder gesehen, die sich durch besondere „Seinsqualitäten“ auszeichnen: Sie sollen über modernierungskompatible Kompetenzen verfügen, selbständig und gezielt aus offenen Angebotsstrukturen auswählen, die ihnen gebotenen Chancen dankbar ergreifen, mit einem hohen Aktivitäts- und Engagiertheitsprofil glänzen, ein ausgeprägtes Beziehungsprofil und eine hohe Belastungsfähigkeit besitzen. Moderne Schüler/innen sind individualisiert, ich-betont, mit früher biografisch-reflexiver Verselbständigung in Räumen außerhalb der Familie. Die Erwachsenen, auch viele Lehrkräfte, ziehen sich im Vertrauen auf die modernen Selbstbildungskonzepte vom Unterrichten mehr und mehr zurück. Sie folgen der Logik „offener Angebotsstrukturen, die prinzipiell allen Marktteilnehmer/ innen in gleicher Weise offen stehen. Doch sind die faktischen Chancen, am Marktgeschehen tatsächlich teilzunehmen, ganz und gar ungleich verteilt“ (Grell 2010, S. 164).
2.1 Unterricht
57
Hat also die moderne Wirklichkeit das Unterrichten endgültig überholt, in ein Planen von Lernangeboten verwandelt, es überflüssig gemacht? Müssen gar die offiziell geltenden Lehrerleitbilder umgeschrieben werden?
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Exkurs: Aufgaben der Lehrer/innen • Die große Bildungsreform der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts hat fünf zentrale Tätigkeitsfelder für die Lehrerrolle herausgearbeitet: 1. Lehren, 2. Erziehen, 3. Beurteilen, 4. Beraten, 5. Innovieren (Deutscher Bildungsrat 1971, S. 217ff.). Unterrichten wird als Lehren beschrieben. • Rund drei Jahrzehnte später hat die Kultusministerkonferenz (16.12.2004) Unterrichten so erläutert: „Lehrerinnen und Lehrer sind Fachleute für das Lernen; Kernaufgabe der Lehrertätigkeit ist das wissenschaftlich orientierte und gezielte Planen, Organisieren und Reflektieren von Lehr- und Lernprozessen, einschließlich deren Bewertung und Evaluation“ (Sekr.d.ständigen Konf. d. Kultusminister der Länder d. Bundesrepublik Deutschland, S.36ff.). Unterrichten wird heute deutlich auf den Zusammenhang von Lehren und Lernen bezogen. Es geht nicht mehr allein darum, dass Inhalte gelernt werden, sondern dass das Lernen gelernt wird. Dabei muss Beachtung finden, dass Menschen auf unterschiedliche Weise lernen, was Lernen, Denken und Behalten unterstützt und wie man den unterschiedlichen Kindern und Jugendlichen beim Lernen wirksam helfen kann (z.B. Steigerung des Lesetempos, Förderung von „deep reading“). Unterricht bündelt auf Lehrer- wie auf Schülerseite eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungsformen, Absichten, Erwartungen sowie Erfahrungen von Gelingen und Scheitern. Wenn dann Lehramtsstudierende von der Schülerseite auf die Lehrerseite wechseln, bringen sie ein Bündel von Erlebnissen und Erfahrungen mit Lehrpersonen und Unterricht mit: „Die Kandidatinnen für den Lehrerberuf kommen bereits mit einem Koffer voller Muster zum Lehrerinnenhandeln an die Hochschule. Dieser Koffer bleibt während des Studiums weitgehend ungeöffnet. In den ersten komplexen unterrichtspraktischen Anforderungssituationen wird er aufgerissen, Muster werden unbesehen, unbearbeitet herausgezerrt und als Strukturierungshilfe für das eigene Handeln verwendet. Das wird in einer größeren Zahl lehrerbiographischer Untersuchungen bestätigt […]“ (Heinritz 2013, S. 121).
Kaum eine andere berufliche Tätigkeit wird von so vielen erinnerten Handlungsbildern begleitet wie der Lehrerberuf (vgl. Kap. 1). Der Schritt in die ersten Versuche unterrichtlichen Handelns und der Übergang vom Lehramtsstudium in den Lehrerberuf kann durchaus mit der Statuspassage vom Kind zum Schüler verglichen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
58
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
werden. Auch hierbei geht es um das Finden und Ausgestalten einer neuen Rolle mit vergleichbarer Anforderungsstruktur. Dazu gehören: Die Aufnahme von tendenziell distanzierteren, emotional neutraleren und universalistischen Beziehungsstrukturen, „die Einfügung von individuellen, einzigartigen und pluralen Selbstformen in organisatorische Strukturen, die durch Homogenisierung und Generalisierung gekennzeichnet sind“ (Heinritz 2013, S. 121), das Relativieren der subjektiven Selbst- und Weltdeutung im Horizont anerkannter Wissensbestände und Funktionszusammenhänge, das Agieren vor und in einer relativ großen Gruppe, die Bewertung und Veröffentlichung von Leistung und Leistungsmöglichkeiten. 2.1.2 Die Lehrperson im Zentrum von Erwartungen und Anforderungen Die Lehrperson, die relativ dauerhaft mit Unterricht befasst ist, tritt geschichtlich gesehen bereits mit der Erfindung der Schrift in den mesopotamischen und ägyptischen Hochkulturen ca. 3000 v. Chr. auf. Wer sich mit der Geschichte der Schule und des Lehrers befasst, konzentriert sich allerdings meist auf den mitteleuropäischen Raum des 16. Jahrhunderts, da hier sowohl mit der humanistischen wie protestantischen Bewegung eine Art Bildungsrevolution stattfand, die die Elementarbildung und die Einrichtung von Schulen beflügelte und wesentlich von der Erfindung des Buchdrucks geprägt war. Als Junglehrerin oder Junglehrer reiht man sich gleichsam ein in die Lehrergenerationen. Man wird sich vielleicht fragen, was einen denn mit all den Kolleginnen und Kollegen verbindet – trotz individueller und zeitgeschichtlicher Verschiedenheit und Prägung. In der folgenden Erläuterung diese Frage als Frage nach den Sinnmomenten des Unterrichtens bzw. nach der Tiefenstruktur des Unterrichts aufgefasst: • An eine Lehrperson ist explizit die Erwartung gerichtet, dass sie über die Fähigkeit verfügt, „sich zu den Kindern […] so zu verhalten, dass das Verhalten des Erwachsenen seine wesentliche Bedeutung durch seinen Bezug auf die Zukunft des Kindes erhält und eben nicht durch den ausschließlichen Bezug auf die Gegenwart. Es gibt einen historischen Prozess der Ausdifferenzierung der Verhaltensmöglichkeiten Erwachsener gegenüber Kindern. Im Zuge dieser Entwicklung haben Erwachsene gelernt, nicht nur mit den Kindern zu leben, sondern ihre Aufmerksamkeit auf Kinder zu richten, und zwar auf den Lernprozess von Kindern“ (Scholz 2009, S. 168). • Da Erziehung und Bildung „ein von Grund auf soziales Geschehen sind, können sie sich nur in interpersonaler Beziehung vollziehen: […] Etwas vom anderen zu lernen beruht auf der spezifisch menschlichen Fähigkeit zu gemeinsam geteilter Aufmerksamkeit auf die Fragen und Gegenstände der natürlichen und kulturellen Welt“ (Krautz 2017, S. 263). • Unterricht verdankt seine Entwicklung, Institutionalisierung und Faszination der „Bildungs- und Erziehungstatsache“. Diese besagt, dass die Kinder – neben
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.1 Unterricht
59
und mit der Familie – wesentlich auf Lehrpersonen verwiesen sind, die Erziehung und Bildung als Beruf ausüben und deshalb mit grundlegendem Können ausgestattet sein sollten. Der Pädagoge Werner Loch (1928-2010) beschreibt unterrichtsnahe Fähigkeiten wie diese: Aktivierungsfähigkeit, Darstellungsfähigkeit, Kontaktfähigkeit und Bestärkungsfähigkeit. Dieser Aufzählung fügt er ausdrücklich die Selbsterhaltungsfähigkeit im Sinne der ‚Sorge für sich selbst‘ hinzu (vgl. Loch 1990, S. 101ff.). • Unterrichten ist mit der Erfüllung widersprüchlicher Rollenerwartungen verbunden, die stets Balanceakte einfordern, deren Ausgestaltung zum Handlungsprofil der Lehrperson gehören: die Balance zwischen individueller Zuwendung und der Zuwendung zur Klasse bzw. Gruppe, zwischen Nähe und Distanz, zwischen inhaltlicher Vermittlung und emotionaler Befindlichkeit, zwischen normierenden Leistungsanforderungen an die Schüler/innen und deren individuellen Möglichkeiten. Diese besondere Fähigkeit des Umgangs mit Antinomien in der Ausgestaltung der sozialen Beziehungen ist für Werner Helsper nicht lediglich Ausdruck des „geborenen“ und „begnadeten“ Pädagogen, sondern wesentlich Ergebnis eines Professionalisierungsprozesses: „Vielmehr sind die jeweiligen subjektiven Dispositionen im Umgang mit den grundlegenden Antonomien Ausdruck eines zivilisatorisch erworbenen Selbst, das nun gerade kein unveränderbares „Schicksal“ darstellt, sondern durch weitere Sozialisationsund Bildungsprozesse, vor allem aber durch die selbstreflexive Arbeit am eigenen Selbst auch transformiert werden kann“ (Helsper 2002, S. 92).
• Die Lehrperson, ihre Persönlichkeit, der interpersonale Bezug zwischen Schülerinnen und Schüler sowie zu Lehrerin und Lehrer und immer auch die Ebene der Fachlichkeit haben wesentlichen Anteil daran, wie und welches Weltverständnis Kinder gewinnen, welches Wissen und Können, welche Fähigkeiten und Einsichten sie sich aneignen können. Dieser Prozess ist für die Schüler/innen zugleich mit identitätsbildender Selbsterfahrung verbunden. Unterricht entscheidet damit wesentlich über Möglichkeiten, in denen junge Menschen Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gewinnen können, in denen sie erfahren, dass Probleme durch geistige Arbeit bewältigt werden können, die Eigeninitiative wecken, die rationelles geistiges Arbeiten fördern, die Mut und Neugier wecken, die nach intellektueller Ehrlichkeit streben, ehrliches Denken würdigen und die Wichtigkeit für die Gemeinschaft erfahren lassen. 2.1.3 Unterrichtsszenen im Bild In den folgenden Abbildungen von Unterrichtsszenen agiert im Zentrum die Lehrperson. Die Bilddokumente stammen aus unterschiedlichen Zeitepochen und kulturellen Räumen.
60
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Arbeitsaufgaben 1. Woran erkennen Sie, dass und wie die jeweilige Lehrperson unterrichtet? 2. Welche zeittypischen bzw. zeitgebundenen Merkmale können Sie entdecken? 3. Verfügen Sie über Fotos von einer Unterrichtsszene, in der Sie agieren? Wenn nicht, lassen Sie diese anfertigen. Welche Bildinhalte wären Ihnen wichtig? 4. Unterscheiden sich junge Lehrkräfte von älteren beim Unterrichten? Wenn ja, wie? 5. Lässt sich zwischen allen Unterrichsszenen etwas Gemeinsames erkennen? Der Lehrer unterrichtet eine Schülergruppe Im Titelbild des Bildungsappells von Martin Luther an die Ratsherren aller deutschen Städte (1524) dominiert zweifelsohne der Schulmeister. Er steht am Katheder mit Lehrbuch und einladender Geste, die das Bibelzitat unterstreicht. Ihm wird zugetraut, dass er jene geistliche und weltliche Bildung vermitteln kann, die das Leben in einer Zeit des Aufruhrs, der Glaubenkrisen und des Niedergangs von Ordnungen und Moralvorstellungen braucht. Für Martin Luther (1483-1546) ist der Schulmeister Garant für die von ihm geforderte grundlegende Schulreform, die sich von den mittelalterlichen Bildungsvorstellungen radikal abheben und eine Schule für alle sein sollte. Die Freiheit der Person und die Freiheit des Christenmenschen waren nun Abbildung 2.1: Schrift von Martin Luther an die Orientierungsmarken für Schule und Undie Ratsherren aller Städte Deutschlands. terricht. Aus Gründen der Ordnung in der (Holzschnitt 1524). Welt und im Interesse des neuen Glaubens forderte er die weltliche Obrigkeit auf, sich um die Schulen und Lehrer zu kümmern. M. Luther zufolge war die Sprach(en)bildung der Schüler/innen eine zentrale Bildungsaufgabe, zumal er Sprache und Evangelium aufs engste miteinander verknüpft sah. Vom Schulmeister erwartete er, dass dieser mit seiner Sprachkraft dem von ihm beklagten Sprachverfall entgegenwirke. Deshalb appellierte M. Luther an die Verantwortung der politischen Kräfte, das Schulwesen neu zu gestalten und auch den „Döchterlin“ Bildungsteilhabe zu ermöglichen. Die Mädchen waren damals zwar im Unterrichtsraum noch räumlich von den Knaben getrennt, also „besonder gesetzt“. Sie wurden auch mit weiblicher Assistenz
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.1 Unterricht
61
Abbildung. 2.2: Die Bürgerschule. Johann M. Voltz (1823)
unterrichtet, also „geleert“, jedoch in ihrem Bildungsanspruch als gleichberechtigt gesehen. Der Lehrer beginnt, seinen Unterricht zu professionalisieren Dieser Lehrer (vgl. Abb. 2.2), modisch im Biedermeierstil gekleidet, unterrichtet Bürgerkinder in einem hellen, geräumigen Schulsaal. Er ist umgeben von ebenfalls gutgekleideten Schülerinnen und Schülern. Sein Unterrichtsraum zeigt sich zeit- und standesgemäß: Lesepult, Silbentafel, ausgestopfte Vögel, Anschauungshilfen und ein stattlicher Lehrmittelschrank stehen ihm für den Unterricht zur Verfügung. Seine Unterrichtsmethode kennt bereits innere Differenzierung: Während er, mit dem Stock zeigend, an der Silbentafel mit einer Schülergruppe übt, sind die anderen Schüler bereits mit einer Schreibaufgabe beschäftigt. Der Lehrer unterrichtet in vorgefundenen Bedingungen Am Lehrer erkennt man die Dorfschule (vgl. Abb. 2.3). Dieser ist zugleich ein gelernter Handwerker, der neben seinem Lehrerberuf auch den eines Küfers (Fassmacher) ausübt. Darauf weisen die Werkzeuge im übervoll besetzten, ja
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
62
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
Abbildung. 2.3: Dorfschule von 1848. Albert Anker (1896)
bedrängend engen Schulraum hin. Obwohl der Unterricht bereits begonnen hat, muss der Lehrer immer noch für Disziplin sorgen. Zeichen seines autoritären Unterrichtsstils ist die Zuchtrute. Wer sich jedoch sicher wähnt, dass diese ihn nicht mehr erreichen kann, scheint sich für anderes zu interessieren. Während die Schüler der letzten Bankreihe bereits offen aus dem Unterrichtsgeschehen ausgestiegen sind und ihre Nichtaufmerksamkeit offen demonstrieren, zeigt die zweite Bankreihe wenigstens noch die Attitüde aufmerksamer Schüler. Die Mädchen dagegen scheinen der geforderten Unterrichtsdisziplin zu entsprechen, auch wenn ihnen „nur“ Sitzbänke am Rand und ohne Schreibflächen zur Verfügung stehen. Der Lehrer unterrichtet gesellschaftlich bedeutsame Bildungsthemen Dieser Lehrer (vgl. Abb. 2.4a und 2.4b) unterrichtet unter freiem Himmel, wie hier: die Mathematik. Er ist weitgehend frei in seinem Lehrplan und in der Wahl der Inhalte. Ein klarer Schwerpunkt seines Unterrichts liegt in der Pflege der Erzählkultur. Dabei spielen Sprichwörter, Redensarten und Rätsel eine große Rolle, da diese einen fantastischen Reichtum an Wörtern enthalten, die die Haltung zur Natur, insbesondere zu den Tieren, zum Ausdruck bringen. Zum Curriculum gehört auch das Erzählen der Geschichten des Mongolenvolkes, um diese in den Kindern und im Volk lebendig zu halten und zu tradieren (vgl. Laffon 2003, S. 176f.).
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.1 Unterricht
Abbildung 2.4a: Unterricht im Freien mit Nomadenkindern (Mongolei)
63
Abbildung. 2.4b: Ein luftigiger Lern- und Arbeitsplatz (Mongolei)
Die Lehrperson unterrichtet in unterschiedlichen Bildungsgrundformen Wer heute Unterrichtsszenen im Bild festhalten will, muss wahrscheinlich der Lehrperson durch recht unterschiedliche Situationen folgen. Die Lehrer/innen zeigen sich in ihrem Unterricht ‚ortloser‘ und im Handeln und Beziehungsprofil ‚vielgestaltiger‘ (vgl. Kap. 3). So finden sich in aktuellen Fotodokumenten auch jene Unterrichtsszenen, die eher der tradierten Grundform des Klassenunterrichts zugehören. Doch im Unterschied zum Frontalunterricht der ‚Alten Schule‘ scheint die Lehrerin einen verständnisintensiven Lehr-LernDialog mit den Schülerinnen und Schülern zu führen. Abbildung 2.5: Die Lehrerin stellt einen Sachverhalt der Klasse dar.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
64
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
Die Lehrerin integriert in ihren Klassenunterricht offensichtlich verschiedene Sozialformen: Sie lässt die Klasse nach einer gemeinsamsamen Unterrichtsphase, in der sie steuert, in Gruppen- bzw. Partnergruppierung oder einzeln an der eröffneten Thematik weiterarbeiten und die gemeinsam begonnene Lernarbeit weiterführen. Abbildung 2.6: Die Schüler/innen bearbeiten eine Aufgabe in der Gruppe.
Diesen Gesprächskreis bestimmt das Miteinander. Die Lehrperson eröffnet den Schüler/innen ein kommunikativen Raum, in dem eine Themenvielfalt Platz hat. Diese schließt gemeinsame Formen des Musizierens und Erzählens ebenso ein wie den Austausch über Lernund Lebensthemen. Abbildung 2.7: Die Klasse stimmt sich im Morgenkreis auf den Schultag ein.
In Phasen Freier Arbeit/Werkstattarbeit eröffnet die Lehrperson Spielraum in der Aufgabenfindung: In dem vertrauten und strukturierten (Klassen)Raum arbeiten sie an Unterrichtsthemen weiter, indem sie zum Beispiel diese individuell ausgestalten, aufgenommene Impulse in eigene Arbeiten umsetzen, aus Anregungen auswählen, die der Bildungsraum einer Klasse oder Schule bereithält. Die Lehrperson tritt dabei zurück, jedoch nicht ab. Abbildung 2.8: Freie Aktivitäten erlauben eine eigenständige Aufgabenfindung
2.1 Unterricht
65
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.1.4 Die Unterrichtsprinzipien Marie H., 20 Jahre, 2. Semester „Als ich meine erste Unterrichtsstunde im Praktikum vorbereitete, lernte ich gerade auf eine Klausur in Schulpädagogik. Thema war u.a. die Unterrichtsprinzipien. Ich konnte sie bald alle auswendig und auch inhaltlich treffend erläutern. Doch ich fragte mich dabei: „Kann mir dieses Wissen bei meiner Unterrichtsvorbereitung wirklich helfen? Kann ich jetzt alles bedenken und berücksichtigen, was ich bei der Klausur an Wissen abrufen konnte? Wie sollte ich das alles in meiner Unterrichtsplanung berücksichtigen?“ In mir kam die Sorge hoch, dass es mir wie jenem sprichwörtlichen Tausendfüßler ergehen könnte, der sich elegant bewegen wollte und vor lauter Bewusstheit und Vorsatz nur noch so dahinstolperte.“ Die Unterrichtsprinzipien scheinen im Kanon der Lehrerbildungsinhalte traditionell als Grundsätze des Lehrerns und Lernens fest verankert. Gleich einer „universellen Norm“ beanspruchen sie Gültigkeit für jedes Fach, für jede Schulstufe, für jeden Lerninhalt, für jede Lehrperson, für jeden Schüler. Wen wundert es, dass den Unterrichtsprinzipien2 in der schulpädagogischen Literatur entsprechende Buchtitel über die letzten Jahrzehnte streuen, oft in mehreren Auflagen. Ihnen wird Leitliniencharakter für Unterrichtsplanung und -analyse zugeschrieben: Exkurs: Die Unterrichtsprinzipien • Das Prinzip der Alters- und Entwicklungsgemäßheit: Der Unterrichtende muss sich in Sprache, Gestik, Mimik und Handeln auf sein Gegenüber einstellen können. • Das Prinzip der Ganzheit: Weil schulisches Lernen vorwiegend ein Lernen in Fächern und Lernbereichen ist, wird die ganzheitlich wahrgenommene und erlebte Wirklichkeit gegliedert und parzelliert. Das was in der konkreten Lebenserfahrung als Einheit, als Ganzheit erlebt wird, ist nach einer Fächerlogik gesplittet, verfremdet und wird entsprechend fokussiert. Hierin ist auch das Problem begründet, dass schulisches Lernen allzuleicht in ein unverbundenes Nebeneinander zerfällt. Das Prinzip der Ganzheit kann auch auf die Person des Lernenden bezogen werden: Alle menschlichen Grundkräfte (die intellektuellen, sprachlichen,
2 Diese Aufzählung nimmt Bezug auf einschlägige Fachtitel sowie auf einen Eintrag „Unterrichtsprinzipien“ in https://de.wikipedia.org/wiki/Unterrichtsprinzipien (01.08.2018)
66
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
•
•
•
•
•
•
•
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
künstlerischen, emotionalen, sozialen, handwerklichen usw.) sollen im Lernen beansprucht und ausgebildet werden. Das Prinzip der Anschaulichkeit: Dieses Prinzip richtet sich gegen eine zu frühe Formalisierung des Lernens und Abstrahierung von der Wirklichkeit. Die Veranschaulichung zielt darauf, einen Unterrichtsinhalt so in den Horizont der Wahrnehmung zu rücken, dass die Nah- und Fernsinne der Lernenden angesprochen und für die Auseinandersetzung mit dem Lerninhalt aktiviert werden. Das Prinzip der Strukturierung und Progression: Lernen im Unterricht ist kein natürliches Lernen. Es ist an Zielen orientiert und versucht, diese zu erreichen. Einer Unterrichtsstunde liegt deshalb eine Planung zugrunde (vgl. Methode, zeitliche und räumliche Organisation, Lernformen, Medien). Auch der Ablauf ist strukturiert; er beginnt mit einer Eröffnung der Lernsituation, enthält in der Regel eine schrittweise angelegte Erarbeitungsphase, eine Festigungsphase sowie einen Abschluss mit Reflexion über das Gelernte bzw. Erarbeitete. Das Prinzip der Wiederholung und Variation: Soll der Lernerfolg gefestigt und über eine längere Zeit erhalten bleiben, dann bedarf es der Wiederholung, der Übung, des Trainings, der Anwendung des Gelernten in gleichen, ähnlichen oder neuartigen Zusammenhängen. Das Prinzip der Selbsttätigkeit: Vom Lehrer her gesehen zeigt es sich als Prinzip der Aktivierung und Motivierung, das dem Lernenden einen möglichst tätigen Umgang mit den Lerngegenständen bzw. Lernthemen zumutet, aber auch entdeckendes Lernen und sog. Lernumwege ermöglicht. Es ist aufgenommen in die pädagogische Programmatik von John Dewey („Learning by doing“) oder Georg Kerschensteiner („Der Ursprung allen Denkens liegt im praktischen Tun“). Das Prinzip der Sicherheit: Der Unterricht muss ein sicherer Lernort sein. Dies betrifft die Sicherheit vor physischen Gefahren, wenn es um Experimentieren, um sich Bewegen im Klassenzimmer, um Aufsuchen externer Lernorte usw. geht. Die psychische Sicherheit darf, z.B. durch Beschämen in Leistungssituationen oder durch Ausschluss aus dem Sozialleben der Klasse, nicht gefährdet werden. Das Prinzip der Aktualität: Im Unterricht werden Lernthemen verhandelt, deren Zeitpunkt meist durch die Jahres- und Wochenplanung festgelegt ist. Damit Unterricht sich von der Lebenwirklichkeit der Schüler/innen nicht als lebensfremd abkoppelt, wird Gelerntes auf das aktuelle Leben bezogen oder es werden auch Lebensthemen der Kinder/Jugendlichen zum Ausgang bzw. Gegenstand der gemeinsamen Auseinandersetzung im Unterricht gemacht. Das Prinzip der Vorbildwirkung: Das Beispiel der Lehrperson unterstreicht für die Schüler/innen die Verbindlichkeit, die eine von ihnen geforderte Orientierung, Handlung oder Verhaltensweise hat und gibt ihnen die Möglichkeit, die Einlösung ihres Forderungsgehalts beispielhaft zu erleben.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.1 Unterricht
67
Ob Unterrichtsprinzipien den Unterricht verbessern können, hängt entscheidend von ihrer Interpretation ab. Vielleicht sind sie vergleichbar mit Wegweisern, die lediglich in eine Richtung weisen, aber nicht in diese gehen können. Sie erfüllen unterschiedliche Funktionen: • Ein Unterrichtsprinzip zeigt Aufmerksamkeitsrichtungen für die Einschätzung von Unterrichtsqualität. Dabei müssen sie jedoch im Hinblick auf die spezifische Klasse, das Fach,3 den Unterrichtsgegenstand, das Lernthema und die Lernprozesse ausdifferenziert und operationalisiert werden. • Es können nicht alle Unterrichtsprinzipien auf einmal eingelöst werden (vgl. den Bericht von Marie H. zu Beginn von 2.1.4), zumal auch ihnen ein ‚Technologiedefizit‘ anhaftet, d.h. sie können das Gelingen des Unterrichts nicht garantieren, da sich erst auf der Schülerebene entscheidet, ob die gut gemeinten Absichten der Lehrperson angenommen werden und in ihrem Sinne auf das Lernen wirken. • Jedes Unterrichtsprinzip bedarf einer pädagogisch und didaktisch redlichen Übersetzung. Immer wieder neigt gerade der Grundschulunterricht dazu, die Prinzipien bisweilen recht eigenwillig zu übersetzen. Von Studierenden wurden in einem Begleitseminar zur Schulpraxis besondere Beispiele zusammengetragen und kritisch darüber diskutiert, welche Unterrichtsprinzipien darin vermeintlich verfolgt werden sollten bzw. missachtet werden, welche Missverständnisse erkennbar sind und warum Unterrichtsprinzipien alleine noch nicht an das Wesentliche des Unterrichtes heranreichen. Ausgewählte Beispiele: Sabina B., 23 Jahre, Studentin In einer ersten Klasse wurde jeder neu gewonnene Buchstabe von den Kindern in Form des russischen Brotes veranschaulicht und gegessen. Erst dann wurden die Leseübungen begonnen. Das Verspeisen des Buchstabens sollte den Lernerfolg über das Esserlebnis sichern. Ilse R., 58 Jahre, Praktikumslehrerin, 32 J. Berufserfahrung Eine Studentin kündigte im Unterrichtsversuch ihren Ausgangstext für eine Unterrichtseinheit ‚Richtig schreiben‘ als spannendes Urlaubserlebnis an. Als sie dann für die fünfte Klasse die Aufgabenstellung formulierte, reagierten die
3 Jedes Fach hat seine je eigene Ausdiferenzierung und didaktische Rahmung der Prinzipien ausgearbeitet; z.B. benennt die Mathematik für das Prinzip der Anschaulichkeit unterschiedliche Ebenen: die enaktive Ebene (Erkenntnisgewinn durch Handlungen), die ikonische Ebene (Erkenntnisgewinn durch angeschaute oder vorgestellte Bilder), die symbolischen Ebene (Erkenntnisgewinn durch Verwendung v. Umgangssprache und v. mathem. Zeichensprache). Zwischen den drei Ebenen sollten Wechsel erfolgen. Wichtig ist die Befähigung, Transfers in beide Richtungen (konkret zu abstrakt sowie abstrakt zu konkret) vorzunehmen.
68
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Schüler/innen enttäuscht: „Sie haben uns gar kein echtes Erlebnis aufgeschieben! Sie wollen ja nur Rechtschreiben mit uns machen!“ Silvia F., 26 Jahre, Studentin Die Vorbildwirkung der Lehrperson zeigt sich z. B. auch im Smartphonegebrauch. In einer sechsten Klasse nimmt die Lehrerin einem Schüler das Smartphone ab mit dem Hinweis auf das bestehende Verbot. Doch als der Schüler bemerkt, dass die Lehrerin dann selbst zum Smartphone greift und telefoniert, äußert er sich offen kritisch dazu in der Klasse.
Arbeitsaufgaben 1. Welche Unterrichtsprinzipien werden in den obigen Beispielen verfolgt? 2. Diskutieren Sie die Erfahrungsberichte kritisch. 3. Welche ‚missverstandenen‘ Unterrichtsprinzipien haben Sie erlebt?
2.2 Wesensmerkmale von Unterricht Den vorausgegangenen Abbildungen ist gemeinsam, dass sie das Lehrersein in seiner zentralen Tätigkeit des Unterrichtens ins Bild setzen, nämlich in der Grundgebärde des Zeigens (vgl. Prange/Strobel-Eisele 2006). Die Lehrperson steht im Unterricht mit einer Schülergruppe in einem besonderen Interaktionsund Beziehungszusammenhang, dessen bestimmende Merkmale4 im Folgenden knapp erläutert werden. 2.2.1 Unterrichten – ein „Zeigeakt“ Im Unterricht stellt die Lehrperson eine Vielfalt pädagogisch-didaktischer Sachverhalte in unterschiedlichsten Erscheinungsformen dar: als realer Gegenstand, Modell, Abbildung, Skizze, mittels Sprache, Schrift und Bild oder in den Formen einer Erzählung, Beschreibung, Behauptung, widersprüchlichen Aussage, Problemstellung, Frage u.v.m. Über die Operation des Zeigens wollen die Lehrer/ innen auf der Schülerseite einen Aneignungsprozess initiieren, indem sie z.B. Überraschungsmomente schaffen, Neugier wecken, über Verfremdung des Gegenstands Staunen hervorrufen mit der Absicht, die Lernenden in Spannung zum Unterrichtsgegenstand zu bringen. Doch wie die Erfahrung lehrt, gelangt nicht jeder gezeigte Sachverhalt umstandslos in ihren Aufmerksamkeitshorizont. 4 Diese Wesensmerkmale lassen sich auf die im Netz bereitgestellten Unterrichtsdokumente beziehen und eine Konkretisierung erfahren.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.2 Wesensmerkmale von Unterricht
69
Kinder/Jugendliche öffnen und verschließen diesen bisweilen schnell, reagieren eigenproduktiv und selektiv auf das Gezeigte und lassen den Erwachsenen die strukturelle Ungewissheit des unterrichtlichen Handelns spüren. So verwundert es nicht, dass im Unterricht gerade der Initialphase eine große Bedeutung beigemessen wird, entscheidet sie doch wesentlich darüber, ob sich die Schüler/innen für ein Unterrichtsthema öffnen und ihre Aufmerksamkeit entsprechend fokussieren. So verwenden die Lehrkräfte in der Regel viel didaktische Fantasie und methodische Überlegungen, um die Lernneugier der Schüler/innen zu stimulieren, das Lernen in Gang zu bringen und zu halten, die Imaginationskräfte zu fördern, auf Strategien zu achten, einen Lebensweltbezug herzustellen, die soziale Interaktion auszugestalten, um eine Beziehung zum Unterichtsthema und zur Lerngruppe zu stiften und einen Sinnhorizont zu eröffnen. Wer mit Schülerinnen und Schülern arbeitet, weiß aber auch um die Bedeutung von authentischem Lehrerhandeln. Schüler/innen können äußerst aversiv auf verkünstelte methodische Bemühungen reagieren, wenn sie sich überlistet fühlen, wenn ihre Erwartungen getäuscht werden und ihre Sinnsuche nicht positiv beantwortet wird. 2.2.2 Die Unterrichtsthemen • Unterrichtsthemen sind nicht absolut: Sie fokussieren ausgewählte Sachverhalte in ihrer jeweils historisch-kulturellen Prägung, da sie über eine je eigene zeitgeschichtliche und kulturelle Gestalt verfügen. So bezog sich zum Beispiel das Unterrichtsthema „Einkaufen“ vor ca. 70 Jahren auf den Gemischtwarenladen in der kindlichen Lebenswelt und dessen Ausstattung, Warenangebot, die dort üblichen Einkaufspraxen, Kommunikationsformen und Verhaltensweisen. Wird „Einkaufen“ dagegen heute zum Unterrichtsthema, so führt es in die Konsumwelt des Supermarkts, der Einkaufszentren bzw. in das digital abrufbare Warenangebot, wo spezifische Einkaufspraxen gelten, in die bereits junge Kinder einbezogen sind. • Zugleich sind in den Unterrichtsthemen die Inhalte als pädagogisch bedeutsam akzentuiert und deshalb für den Unterricht als wichtig bestimmt. Insofern ‚zeigt‘ die Lehrperson Inhalte oder Gegenstände, die bereits unter einer pädagogischen Zielvorstellung, einer als relevant erachteten Fragestellung für die Behandlung im Unterricht ausgewählt und mit bestimmten Absichten/Zielen ‚aufgeladen‘ sind. Das Unterrichtsthema repräsentiert also den zu zeigenden Sachverhalt. So fällt am historischen Beispiel des Einkaufens (vgl. 2.4.2) auf, dass sich die Schüler/innen einen Überblick über das Warenangebot verschaffen, es genau beschreiben, Einkaufszettel mit Gewichtsangaben schreiben, ein freundliches Verkaufsgespräch üben, die gefüllte Ladenkasse betrachten. Dieses Wissen und Können erlaubte ihnen damals, eigenständige Besorgungen gekonnt in
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
70
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
ihre Lebenspraxis zu integrieren. Im Vergleich dazu ist das Unterrichtsthema „Einkaufen im Supermarkt“ heute mit ganz anderen Zielsetzungen verbunden. Will Unterricht einen konstruktiven Beitrag zur Entwicklung eines kompetenten, aufgeklärten und kritischen Einkaufsverhaltens für heutige Schüler/ innen (wie für Erwachsene) leisten, dann gehören dazu zum Beispiel die räumliche Orientierung in der Einwegstruktur des Supermarktes, ein Überblick über die Fülle des Warenangebots, das Beachten der Information auf Verpackungen, das Kennenlernen wirksamer Werbestrategien, der Verführung offensiver Werbung widerstehen. Die älteren Lehrpläne dokumentieren über ihre Auflistung von Unterrichtsthemen diese vollzogene Verbindung der Ziel- mit der Inhaltsebene (vgl. Klafki 1976). Im Zuge der sich heute durchgesetzten Kompetenzorientierung verzichten die Bildungspläne weitgehend auf Themen- bzw. Inhaltsverweise. Stattdessen benennen sie primär prozessbezogene und inhaltsbezogene Kompetenzen. Für die Konkretisierung im Unterricht werden lediglich Hinweise bezüglich der Unterrichtsorganisation und Arbeitsmittel gegeben. Das bedeutet, dass die Verbindung von anzustrebenden Kompetenzen und Sachinhalt weitgehend der Interpretation und Planung der Lehrer/innen, den Schulbüchern beziehungsweise dem überbordenden Materialmarkt überantwortet sind. • Je nach Verhältnis von Ziel und Inhalt lassen sich zwei Typen von Unterrichtsthemen5 unterscheiden: 1. Es gibt „direkt kritisch emanzipatorische“ Unterrichtsthemen. Ihnen ist bereits aufklärend kritisches Potential eingeschrieben. Sie enthalten zum Beispiel eine kritische Analyse von beängstigenden Entwicklungen und Bedrohungen, Aufklärung von manipulativen Einflüssen, das Erkennen von Manipulationsmechanismen (z.B. Fake News). Diesem Typus kann auch das Unterrichtsbeispiel ‚Einkaufen im Supermarkt‘ zugerechnet werden. 2. Zugleich gibt es „instrumentelle“ Unterrichtsthemen. Sie liegen im breiten Feld des Erwerbs von Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kenntnissen und Einsichten (wie zum Beispiel der Erweb der Lesefähigkeit, das Erarbeiten von grammatikalischem Wissen, das Nachzeichnen der Einwegstruktur des Supermarktes, der Umgang mit digitalen Medien). Sie sind für die Entwicklung zur Selbst- und Mitbestimmungsfähigkeit unverzichtbar und doch kann man ihnen das emanzipatorische oder kritische Potenzial nicht direkt imputieren (vgl. Klafki 1976, S. 86f.). Umso bedeutsamer ist es, dieses Fehlen zu ‚kompensieren‘ durch: • einen Unterrichtsstil, der mit Vollzugs- und Organisationsformen arbeitet, die die Selbst- und Mitbestimmungsfähigkeit fördern, 5 Diese unverlierbare Begrifsdiferenzierung hat Wolfgang Klafki über eine bildungsteoretische Relexion geleistet (vgl. Klafki, W. (1976): Zum Verhältnis von Didaktik und Methodik. In: Zeitschrift für Pädagogik. Jg. 22, 1976, Heft 1, S. 77-94).
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.2 Wesensmerkmale von Unterricht
71
• die Übersetzung in eine Aufgabenkultur, die der sich die lernenden Schüler/ innen als Könner modellieren, Sinn erfahren und Initiative, Gestaltungsund Vollendungswillen entwickeln können, • die Wahrnehmung eines Wächteramts gegenüber der Bindung instrumenteller Themen an vermeintlich harmlose Inhalte, die zwar im Verborgenen, jedoch subtil, beharrlich und unerkannt der Selbst- und Mitbestimmungsfähigkeit entgegenarbeiten (vgl. z. B. ungeschützte Nutzung von Internetportalen, Mobbing im Netz, Beantworten von Anfragen durch bedenkenlose Preisgabe persönlicher Daten). Insofern können hinter der gleichen bzw. ähnlichen Formulierung eines Unterrichtsthemas unterschiedliche Sachverhalte und Zielsetzungen stehen.
Arbeitsaufgaben 1. Wählen Sie selbst ein Unterrichtsthema aus. Vergleichen Sie seine Darstellung in zwei Schulbüchern beziehungsweise Planungsbeispielen. 2. Welche Sachverhalte sind jeweils mit dem Thema verbunden? Gibt es Gemeinsamkeiten und Unterschiede?
2.2.3 Die Lehr-Lerngegenstände Die Lehr-Lerngegenstände sind, bereits von der Grundschule an, nur selten real und in der unmittelbaren Anschauung gegeben. Auch der Sachunterricht, für den ja die Forderung nach Anschaulichkeit, Handlungsorientierung und Lebensnähe traditionell besonders gilt, hat mit den anderen Schulfächern gemein, dass er in unterschiedliche Zeichensysteme und Darstellungsformen einführt: Die Schriftkultur, die Mathematik, die Musik zum Beispiel – sie ‚verpacken‘ ihre Botschaften in Zeichensysteme und konstituieren damit über Schrift, Zahlen, Bilder, ja auch Filme und Computeranimationen (vgl. Prange/Strobel-Eisele 2006, S. 173) eine Wirklichkeit, die es zu entschlüsseln gilt. Hier liegt die Schnittstelle des Unterrichts zur kulturellen Dimension der Gesellschaft. Die Schule wird im Rahmen der Literalität (Schriftlichkeit) zu einem Ort, an dem eine neue, durch Schrift/Zeichen geprägte Lesart der Welt gelehrt und gelernt wird. Dieses neue Verhältnis entsteht vor allem dadurch, dass die Schüler/innen in der Schule aus ihren alltäglichen Lebensverhältnissen herausgelöst, in Distanz zu ihnen gesetzt und in eine indirekte Beziehung zur Wirklichkeit gebracht werden (vgl. Duncker 1994, S. 122). Da sich die Lehrkräfte traditionell engagiert unterrichtsmethodischen Fragen widmen, gerät leicht aus dem Blick, was dieses Buchstabieren der Erfahrung, dieses Strukturieren von Sinneseindrücken und Sinnesdaten, dieses Übertragen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
72
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
in linear angeordnete Zeichensysteme für die Lernenden bedeutet. Die Zeichen zu verstehen heißt, „aus den Zeichen eine Vorstellung von realen Sachverhalten gewinnen und dazu bedarf es den fachkundigen Interpreten, um die Botschaften richtig zu deuten und sowohl das Buch der Natur wie die Ausdruckssprachen der menschlichen Sinnverständigung sachgerecht zu lesen“ (Prange/Strobel-Eisele 2006, S. 173). Insofern zeigen die internationalen und nationalen Studien zur Lesekompetenz, dass Literacy die Schlüsselkompetenz nicht nur für geisteswissenschaftliche, sondern auch für mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen ist. Schule ist in einem weit gefassten Sinn wesentlich „Leseschule“. Den Unterricht bringt diese Tatsache in eine Ambivalenz von immenser Spannung. Zum einen kann das Schrift-/Bildzeichen zwar die Erfahrung verdichten, festhalten, aus der konkreten Lebenssituation herauslösen und objektivieren, zum anderen birgt sie die Gefahr, die ursprüngliche Lebenserfahrung, Konkretheit und Unmittelbarkeit aus dem Blick zu verlieren und auf die Deutung zu verkürzen. Dieses komplizierte Verhältnis von Schule und Wirklichkeit muss vom ersten Schultag an in den Blick genommen und beantwortet werden (vgl. Röbe 2017). 2.2.4 Die Aufgaben Die Lehrperson übersetzt die Unterrichtsthemen in Aufgaben, die von den Schüler/innen bewältigt werden sollen. In der Aufgabe sind Lehrer- und Schülerseite aufeinander verwiesen: Die Lehrer/innen zielen auf Können, Wissen, Einsichten im Sinne „personaler Könnerschaft“ (Wehner 2009, S. 88). Die Schüler/innen hingegen erfahren in den Aufgaben den Realitätsbezug der Erziehung und die Aufgabenhaftigkeit des Lebens überhaupt. Aufgaben kann man sehen, übernehmen, ablehnen, auch abwehren. In jedem Falle führen sie in eine besondere Beziehung zur Welt der Menschen, Sachverhalte, Ereignisse, Zusammenhänge und Anforderungen (vgl. Girmes 2003, S. 6). Unterricht ist mit einer Abfolge von Aufgaben und Anforderungen verbunden, die die Lehrer/innen über ein artikuliertes Tun in den Aufmerksamkeitshorizont der Schüler/innen zu bringen versuchen: Sie arbeiten zum Beispiel mit Denkimpulsen, gezielten Fragen, begründeten Zweifeln, schrittweisem Enthüllen von Zusammenhängen, Problemzuspitzungen, Imaginationen. Sie verfolgen die Absicht, die Lernenden an die Lernthemen und Sachverhalte anzunähern, um Verstehen zu erleichtern, um eine Operation zu wiederholen, zu festigen, sie selbst anwenden oder auch abwandeln zu lassen. Da die meisten Lerngegenstände dem Tradieren kultureller Konventionen (vgl. z.B. Orthographie, Mathematik) gewidmet sind, tritt das echte, selbstentdeckende Lernen notgedrungen zurück. Die Schüler/innen können nicht alles, was Generationen vorher mühsam errungen haben, sich selbst erarbeiten, wohl aber können sie mit Freude nachentdecken
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.3 Probleme des Unterrichtens
73
und sogenannte resonante Weltbeziehungen aufbauen. „Selbstbestimmtes Lernen ist zwar Ziel von Bildung, kann aber aufgrund der Eigenlogik menschlicher Kultur und Entwicklung nicht ihr Ausgangspunkt sein“ (Krautz 2017, S. 267). Für die Zustimmung auf Schülerseite spielen die Zeigemodalitäten der Lehrperson, eine wichtige Rolle. Dazu gehören zum Beispiel eine klar verständliche Sachlichkeit und Sprache, ein angemessenes Sprechtempo, Möglichkeiten für eigenaktives, kooperierendes und kommunikatives Lernen und Arbeiten, für Werkschaffen, Spielraum für eigene Ideen, begründete Zweifel, Aushandlungsprozesse und Sinnfragen. Auch wenn die Aufgabenpräsentation primär der Sach- und Kompetenzebene gilt, so ist sie dennoch eng verbunden mit der Beziehungsebene, mit der Hinwendung zu den einzelnen Schülerinnen und Schülern, mit dem Interesse an ihnen und an der gemeinsamen Sache, die sie miteinander teilen. Dabei reicht das Spiel auf der Klaviatur des direktiven Zeigens6 oft vom freundlichen Anregen, Ermuntern, Erinnern bis zur persönlichen Bitte, zum bedrohlichen Rat, bis hin zur ärgerlichen Namensnennung oder strikten Anweisung.
2.3 Risikomomente/Probleme des Unterrichtens 2.3.1 Die Anforderungsstruktur Die Begegnung mit Aufgaben hat in der Regel im Klassenunterricht7 ihren Ort. Echter Klassenunterricht versteht die Klasse als Kommunikationsgemeinschaft, die sich in gemeinsam geteilter Aufmerksamkeit einem Thema zuwendet und eine Vorstellung davon bildet. Der Klassenunterricht als Unterrichtsform hat einen dynamisch interaktionalen Charakter und ist von der kollektiven Aufmerksamkeit her bestimmt. Doch er stellt die Schüler/innen in eine spezifische Anforderungsstruktur. Für diese ist typisch, dass sie zwischen Lehrperson und Klasse Einigkeit darüber voraussetzt, was sie gerade und warum sie dies tun; explizit wird erst im Konfliktfall darüber gesprochen. Auch die Bedeutung der Handlungen bzw. Handlungsabläufe ist klar geregelt: Warten, bis der letzte eine aufmerksame Haltung einnimmt, aufzeigen, um das Drankommenwollen zu signalisieren, auf eine Frage die gefundene Antwort bis zum Aufgerufenwerden
6 Prange/Strobel-Eisele (2006) unterscheiden einen weiteren Zeigetypus: Das sog. reaktive Zeigen äußert sich in den unterschiedlichen Formen des Rückmeldens seitens der Lehrenden (vgl. S. 84f.). 7 Mit Klassenunterricht ist hier gerade nicht die Karikatur des Frontalunterrichts gemeint, in der der Lehrer über die Köpfe der Schüler/innen hinweg doziert, ihr Verhalten repressiv steuert und Fehlverhalten sanktioniert, den Sachbezug erzwingen will. Vertreter/innen der Selbstoptimierung lehnen unterrichtliche Instruktion weitgehend ab und laufen Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten, indem sie auf klassenunterrichtliche Phasen gänzlich verzichten.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
74
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
zurückhalten, einer plötzlichen Idee nicht nachgehen können. Auch Gestik und Mimik gewinnen in der formalisierten Situation eine spezifische Bedeutung. Aus pädagogischer Sicht bergen solche Anforderungen ein hohes Risikopotenzial: 1. Bereits die Unterrichtskommunikation ist darauf ausgerichtet: So wird z. B. der Beginn der klassenunterrichtlichen Einstiegsphase als ein „Beginn des Plenums“ angekündigt oder die Klasse wird eingeladen, ins ‚Forum‘, in die ‚Arena‘ oder in die ‚Manege‘ zu kommen. Damit wird signalisiert: Wir treffen uns an einem definierten Ort im Klassenraum; wir organisieren eine Sitzordnung, die den direkten Blick zur Lehrperson, aber auch zu den Mitschülerinnen und Mitschülern ermöglicht; wir bringen die Arbeitsutensilien mit, die die Unterrichtsplanung dafür vorschlägt. 2. Eine erfolgreiche Unterrichtsführung läuft stets Gefahr, die Durchsetzung eines Deutungsmusters in Bezug auf den Inhalt zu organisieren, d.h. einen bestimmten Inhalt mit einer bestimmten Sichtweise zu verbinden und andere auszuschließen. Ein Beispiel aus dem Schriftspracherwerb: Die Lehrerin beginnt gerade eine Übung zur Förderung des phonologischen Bewusstseins mit Hilfe von Bildkarten. Bei der Abbildung eines Autos lautet ihre Frage „Was ist beim Auto vorne?“ Sie zielt damit nicht etwa auf die Stoßstange, sondern auf das akustische Wahrnehmen des Diphthongs /au/. Andere Deutungsweisen des Inhalts, z.B. eine semantische Deutung, die Erlebnisse beim Autofahren aktiviert oder eine technische Deutung, die mit der Identifikation von Autotypen verbunden ist, werden aus der gemeinsamen Situation hinausgedrängt und als unerwünscht erklärt. Allerdings würde eine präziser formulierte Lehrerfrage, z.B. „Was klingt bei dem Wort Auto am Anfang?“ die Aufgabenstellung deutlicher hervortreten lassen. Von den Schüler/innen wird eine selbstverständliche Fokusierung bzw. Umorientierung ihres subjekiven Wahrnehmungs- und Bedeutungshorizonts erwartet. Sie sollen einen Habitus entwickeln, der Distanz zu sich selbst herstellen und einen Perspektivenwechsel vollziehen kann. Gerade diese Fähigkeit erweist sich für den Schulerfolg als wichtiger Faktor: „Nicht erfolgreiche Grundschüler zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht in der Lage sind, diese Perspektive auf Wissen und damit auf Lernen einzunehmen. Ein erfolgreicher Schüler kann dagegen zwischen schulischer und nichtschulischer Situation unterscheiden“ (Scholz 2006, S. 240). 3. Die Lehrperson verfolgt ein Ziel. Sie stellt Fragen, erwartet adäquates Meldeverhalten und einschlägige Antworten. Sie blickt in die Runde, ermuntert, ermahnt zum Beispiel: „Fast allen ist schon etwas aufgefallen? Da warten wir doch mal auf die Jessica.“ – „Xavier, wie wär’s mit dir? Ich lass dich nicht aussteigen.“ In einer solchen Situation wird das individuelle Denken, die Antwortsuche, das Lerntempo, die Aufmerksamkeitsspanne in der Klasse veröffentlicht und Reaktionen ausgesetzt. Es gibt Chancen des Lobs wie der Blamage – und diese verteilen sich über die Schüler/innen äußerst ungleich. Die große Gefahr
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.3 Probleme des Unterrichtens
75
ist, dass sich das wiederholt, was einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern bereits im Elternhaus widerfährt: Die Beziehungsebene wird negativ betroffen; das emotionale Verhältnis zur Lehrkraft und zur Klasse wird belastet. Dies kann zu negativen Folgen gerade für die Schüler/innen führen, die einer unbelasteten, stressfreien, emotional positiv gestimmten Lernsituation bedürften, um Leistungserfolge zu erzielen. 4. Die Anforderungsstruktur der geforderten kollektiven Aufmerksamkeit erwartet von allen Beteiligten eine permanente Bereitschaft, das Verhalten selbst situationsangemessen zu steuern. Da jedoch meist nur eine Mitschülerin oder ein Mitschüler mit der Lehrperson direkt interagiert, müssen die anderen, wenn nicht drangekommen, ihren Kontakt zur Lehrperson und zur Klasse gedanklich aufrechterhalten, die Antwort für sich formulieren und selbständig mit der der anderen vergleichen, modifizieren oder auch korrigieren. Die Schüler/innen nehmen also an einer stark delegierenden Kommunikationssituation teil. Wie viel an Selbststeuerung und Anstrengungsbereitschaft sie dafür aufbringen müssen, kennt jeder Erwachsene aus strukturell ähnlichen Situationen wie zum Beisipiel aus dem Verfolgen einer Vorlesung oder eines Vortrags. Wen wundert es also, dass Unterrichtsstörungen auftreten und sich häufen. 5. Das Durchdenken der Anforderungsstruktur ist im Hinblick auf alle Schüler/ innen geboten. Leistungsschwache sind schnell überfordert, wenn die Relation zwischen dem Anforderungsniveau der Aufgabenstellung und ihren individuellen Fähigkeiten und Bereitschaften nicht gegeben ist. Dieses Phänomen der Überforderung grenzt sie nicht nur aus der Teilhabe am gemeinsamen Lerngeschehen aus, sondern treibt sie nicht selten in eine ‚innere Emigration‘. Aber auch die leistungsstarken Kinder sind betroffen. Es sind meist jene, die dem Unterricht aktiv, engagiert und anstrengungsbereit folgen, sich immer wieder den neuen Impulsen, Fragen und Durchhalteappellen stellen, ihre Kräfte mobilisieren, um es der Lehrperson wie den Eltern recht zu machen und den in sie gesetzten Erwartungen zu entsprechen. Das Gefahrenmoment für diese Gruppe liegt in einer Überbeanspruchung der Lernkräfte durch meist gleichförmige Methoden, zeitlich überzogene Aufmerksamkeitsspannen, monotone Aufgabenstellungen, rigide Frage-Antwort-Muster, kurzschrittige Unterrichtstechnik, hohes Blamagerisiko, Abwesenheit von Lernsinn und Lernfreude. Der Klassenunterricht stellt zweifelsohne das pädagogische und didaktische Können und Einfühlungsvermögen der Lehrperson auf eine besondere Probe. Es gilt die Gefahrenmomente zu kennen, um ihnen begegnen zu können. Gewiss gehört dazu eine didaktisch-methodische Versiertheit und ein entsprechendes Handwerkszeug. Und doch ist erfolgreiches Bestehen geradezu auch von Zufällen, persönlicher Verfasstheit, Stimmungen und emotionalen Befindlichkeiten abhängig.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
76
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
Es „gestaltet der Lehrer […] diese Gespräche so, dass Schüler tatsächlich mit der Sache beschäftigt sind, diese selbst denkend und handelnd mitvollziehen, sich einander zuhören, sich in ihren Beiträgen aufeinander beziehen, zur Klärung für andere beitragen, die Sache versuchen selbst darzustellen usw. Auf diese Weise können sich im Unterrichtsgespräch über die gemeinsame Arbeit an der Sache soziale Verbundenheit und geistige Selbstständigkeit bilden. Denn Selbstständigkeit entsteht gerade nicht im „individualisierten“ Bearbeiten von Arbeitsblättern, sondern baut sich über die Schuljahre hinweg langsam auf im aktiven Anteilnehmen am gemeinsamen Denken und praktischen Tun mit anderen, im Argumentieren für oder gegen etwas, im Versuch, anderen etwas zu erklären oder vorzumachen, oder auch in Fragen verständlich zu machen, was man selbst nicht verstanden hat“ (Krautz 2017, S. 271). 2.3.2 Die Unterrichtssprache Das Unterrichtsgeschehen ist ein Kommunikationsprozess im zentralen Medium der Sprache. Als Mittel des Unterrichts wurde sie in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts u.a. auch zum Gegenstand empirischer Forschung. Zurückblickend wurden zwei Problembereiche deutlich: 1. Die frühen Studien zur Lehrersprache im Unterricht8 zeigen vor allem die kritischen Momente auf: Der Redeanteil der Lehrkräfte von über 50% bestätigt durchgängig ihre dominante Rolle. Diese zeigt sich in der Fülle ihrer Fragen, Aufforderungen, Darbietungsmodi, ihrem überbordenden Gebrauch von Funktionswörtern und in ihrer beschränkenden Rolle im unterrichtlichen Kommunikationsprozess. Aktuellere Studien verweisen auf die vorherrschende, enge Dreischrittfolge des Unterrichtsgesprächs von lehrerseitiger Initiierung (z.B. durch eine Frage), von schülerseitiger Antwort und lehrerseitiger Bewertung (vgl. Kleinschmidt 2017, S. 22). Beklagt wird auch die hohe Anzahl von Lehrerfragen sowie deren geringe Offenheit und niederes kognitives Niveau. Diese Forschungsarbeiten haben eine primär aufklärende Funktion. Sie konzentrieren sich auf eine evidenzbasierte, kritische Beschreibung der Lehrersprache, deren Aktualität in der Unterrichtspraxis ungebrochen scheint. 2. Neuere Studien (z. B. Kleinschmidt 2017) beziehen sich auf die Differenz von Alltagssprache und Bildungssprache und nehmen einen „spracherwerbsbezogenen Blick auf die Lehrersprache“ ein. Auch sie betonen die besonderen sprachlichen Anforderungen an die Schüler/innen und gehen davon aus, dass 8 vgl. z.B. Spanhel, Dieter (1971): Die Sprache des Lehrers. Düsseldorf: Schwann Verlag; Kliebard, Bellack/Smith, Hyman (1974): Die Sprache im Klassenzimmer. Düsseldorf: Schwann Verlag; Niggemann, Helmut/Stadler, Silke (2001): Hat noch jemand eine Frage? In: Unterrichtswissenschaft, Heft 2, S. 171-192; Richert, Peggy (2005): Typische Sprachmuster in der Lehrer-SchülerInteraktion. Empirische Untersuchungen zur Feedbackkomponente in der unterrichtlichen Interaktion. Bad Heilbrunn.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.3 Probleme des Unterrichtens
77
bei Schuleintritt viele Schulanfänger/innen noch über eine Alltagssprache verfügen. Die Alltagssprache jedoch dient bei Kindern/Jugendlichen wie Erwachsenen der Verständigung im persönlichen Alltag; sie entwickelt sich in einem vertrauten Beziehungsnetz, vermittelt konkrete, persönliche Erfahrungen und ist häufig fehlertolerant. Die alltagssprachlich vermittelten Inhalte werden in der Regel durch den sozialen und situativen Kontext unterstützt. Allerdings reicht die Alltagssprache nicht aus, um Unterrichtssituationen erfolgreich zu bewältigen. Dies gilt nicht nur für Kinder mit Migrationshintergrund. Lernerfolg hat die Aneignung der Bildungssprache zur Bedingung. Diese bezieht sich auf kognitiv anspruchsvollere, komplexere Inhalte, die in Situationen mit geringerer sozialer und situativer Einbettung kommuniziert werden. Sie wird in formalen Bildungskontexten gesprochen, um Wissen zu erwerben, Zusammenhänge zu verstehen, Fachbegriffe aufzunehmen und anzuwenden. Die Bildungssprache unterscheidet sich vom alltäglichen Sprachgebrauch in Wortschatz, Grammatik, Textorganisation (z.B. etwas beschreiben, erklären, vergleichen), in vielfältigen Satzverbindungen und Nebensatzgefügen (z.B. obwohl, weil, nachdem) sowie im Gebrauch eines eines fachspezifischen und fächerübergreifenden Wortschatzes. Auch grammatische Merkmale (z.B. Passivkonstruktionen) finden sich in der Bildungssprache häufiger als in der Alltagssprache.
Arbeitsaufgaben 1. Diskutieren Sie die folgenden unterrichtlichen Äußerungen von Erstklässler/ innen im Hinblick auf Alltagssprache bzw. Bildungssprache. 2. Welche aktuellen Problemfelder der Schule zeichneten sich bereits vor Jahrzehnten ab? Ein Meerschweinchen zu Besuch in einer ersten Klasse* Tanja hat ihr Meerschweinchen in die Schule mitgebracht. Das Tier darf für eine Schulwoche ins Klassenzimmer einziehen. Die Kinder überbieten sich mit Streicheleinheiten und sie beobachten genau. Im täglichen Gesprächskreis war es der inhaltliche Mittelpunkt. Hier ein Ausschnitt: Sven: „Ich hab au so ein …. ganz wild isses…so.. (Er nimmt dabei seine beiden Arme hoch.) „A Drache is au groß.“ Gloria: „Sven, aber ein Meerschweinchen kann doch kei Drache sein. Der is noch viel, viel größer. (Ihr Redebeitrag klingt entrüstet; andere Kinder lachen laut über Sven’s Größenvergleich). Lehrerin: „Dem Sven kommen eben die Meerschweinchen wild und groß vor. Deshalb vergleicht er das Meerschweinchen mit einem Drachen. Das tut er
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
78
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
in seiner Fantasie. Und in der Fantasie kann man sich einen Drachen so groß vorstellen. Warum denn nicht?“ Silke: „Also ich hab auch Meerschweinchen, das heißt mein Bruder und ich. Genauer gesagt, wir haben Rosettenmeerschweinchen, und zwar jeder von uns eins. Die heißen Hansel und Rosalinde. Wir haben sie von unseren Nachbarn bekommen, weil der nicht alle Jungtiere behalten wollte.“ Sven: „Aber die von meinem Opa haben auch Junge kriegt. Drei oder vier oder …“ Frank: „Silke! Um auf das von dir Erwähnte zurückzukommen, möchte ich doch bemerken, dass es noch ganz andere Arten gibt. Ich war einmal bei einem Züchter. Da kann ich morgen ein Buch mitbringen …“ Lehrerin „Ja, das ist eine gute Idee. Hoffentlich erfahren wir aus deinem Buch interessante Dinge über die Meerschweinchen. Wahrscheinlich steht in deinem Buch auch eine Antwort auf meine Frage von vorhin. Ich fragte: „Warum heißt ein Meerschweinchen Meerschweinchen? Morgen wollen wir dann in das Wort hineinhorchen. Ihr könnt euch bis morgen Antworten überlegen.“ * Diese Mitschrift stammt aus Beobachtungsunterlagen der Verfasserin aus dem Jahr 1971: Klassenstärke 46, davon 11 Schüler/innen mit Migrationshintergrund und mit beginnendem Zweitspracherwerb, Kleinstadtmilieu mit hohem Industriearbeiteranteil und zugleich etablierte Mittelschichtfamilien mit hoher Bildungsaspiration. Es wird deutlich, dass die Schule nicht erst aktuell vor die Herausforderung von Heterogenität und Interkulturalität gestellt ist.
Carmen R., 40 Jahre, Grundschullehrerin, 12 Dienstjahre Frau R. bittet einen ihrer Zweitklässler vor Pausenbeginn: „Maik, öffne doch bitte noch das Fenster, bevor du in die Pause gehst.“ Wie immer erfüllt er prompt diese Aufforderung. Vor dem Verlassen des Klassenzimmers wendet er sich an die Lehrerin: „Ich mach des doch! Sie brauchen net no lang ‚bitte, bitte‘ zu mir sagen. Des sagt bei mir dahoim au niemand.“ „Ich fragte mich: War ihm meine Höflichkeit zu überzogen? Ist ihm eine höfliche Aufforderung gar fremd? Fand er sie nicht ehrlich gemeint?“ Elvira D., 29 Jahre, Grundschullehrerin, 5 Dienstjahre Auf einer gemeinsamen Fortbildung zur Sprachförderung, an der Erzieher/innen und Grundschullehrer/innen gemeinsam teilnehmen, wird über den Sprachverfall von Kindern/Jugendlichen geklagt: „Also, es ist nicht zu fassen. Die kommen zu mir und sagen mit einer Selbstverständlichkeit: ‚Kann ich Blatt?‘ Und jedes Mal frage ich widerständlerisch zurück: „Was heißt das? Willst du ein Blatt haben? Willst du dein Blatt mir geben? Willst du ein Blatt essen?“
2.3 Probleme des Unterrichtens
79
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Anfangs fanden die Kinder meine Reaktion eher befremdlich: Warum kann und will sie das nicht verstehen? Aber ich blieb konsequent und fragte zurück, später reichte mein fragender Blick. Und siehe da! Ganz allmählich begannen sie, sich mir gegenüber differenzierter auszudrücken.“ 3. Erfolgreiches unterrichtliches Handeln muss sprachsensibel sein, d.h. es muss die unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen der Schüler/innen einer Klasse wie die unterrichtliche Kommunikation im Blick haben und spracherwerbsbezogen sein. Selbstverständlich kann dies nicht über ein individualisiertes, passgenaues Sprachverhalten zwischen Lehrer/in und Schüler/innen eingelöst werden. Die verfügbaren Forschungsergebnisse verweisen vielmehr auf Maßnahmen, die sich in einer zweifachen Richtung aufnehmen und weiterentwickeln lassen (vgl. Kleinschmidt 2017, S. 22f.): Inputanpassung: Hier versucht die Lehrperson, die sprachliche Interaktion über ein „fine tuning“ an die sprachliche Kompetenz der Kinder anzupassen bzw. leicht oberhalb des sprachlichen Kompetenzniveaus der Kinder – in der Zone der nächsten Entwicklung – anzusetzen. Dabei bleibt die Verständlichkeit und die Lehrperson als Sprachmodell gewahrt. Sprachlich-interaktionale Stützung: Diese greift auf „Scaffolding-Techniken“ zurück und erweist sich als vielgestaltig. Es kann z.B. auf vorangegangene Äußerungen der Kinder Bezug genomen werden durch Wiederholen oder durch Reformulieren (dabei werden Fehler behoben, ein Begriff nochmals hervorgehoben, etwas nochmals kontrastiv formuliert), was zugleich als implizites, aber nicht beschämendes Feedback für die Schüler/innen zu wirken vermag. Eng mit der Bildungssprache ist der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit verbunden. Auch die Mündlichkeit bezieht sich – wie die Alltagssprache – auf das Hier und Jetzt, hat einen unmittelbaren Handlungs- und Situationszusammenhang, besitzt Spontaneität, erlaubt sich rasche Themenwechsel, hat eine geringere Komplexität usw. Wird Mündlichkeit in die konzeptionelle Schriftlichkeit transferiert, geht es um typische Veränderungen: Zwischen Leser und Schreiber tritt eine raum-zeitliche Distanz, das dialogische Sprechen wird monologisch strukturiert, Wortwahl, Satzbau und Grammatik werden elaborierter. Sprachsensibel unterrichten will den Übergang von der Alltagssprache zur Bildungssprache als Entwicklungsprozess begreifen. Dabei kann der Ansatz auf Empfehlungen des Netzwerks ‚Leichte Sprache‘ zurückgreifen und sich anregen lassen, wie Sprache einfacher gestaltet werden kann, ohne simpel zu werden. ‚Leichte Sprache‘ ist eine speziell geregelte sprachliche Ausdrucksweise des Deutschen, die auf leichte Verständlichkeit achtet. Das zugrundegelegte Regelwerk wird von dem seit 2006 bestehenden Netzwerk ‚Leichte Sprache‘ (Verein seit
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
80
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
2013) herausgegeben. Es umfasst neben Sprachregeln auch Rechtschreibregeln sowie Empfehlungen zu Typografie und Mediengebrauch. Die ‚Leichte Sprache‘ soll Menschen, die über eine geringe Kompetenz in der deutschen Sprache verfügen, das Verstehen von Texten erleichtern und Barrieren abbauen. Diese Initiative wird vom Bundes-Ministerium für Arbeit und Soziales gefördert. Die ‚Leichte Sprache‘ ist an der hochsprachlichen Lautung, nicht am Dialekt oder an der Mundart orientiert. Auf die derzeitige Diskussion um den Stellenwert des Dialekts, auch in der Schule, kann in diesem Zusammenhang nur verwiesen werden. Bei aller Wertschätzung wird er jedoch die hochsprachlich orientierte Unterrichtssprache nicht verdrängen können. Seine Pflege kann jedoch in besonderen Kommunikations- und Spielsituationen erfolgen. 2.3.3 Die Übung In den meisten Fällen schließt an den Klassenunterricht eine eigentätige Auseinandersetzung der Schüler/innen mit dem Unterrichtsthema an, was traditionell mit Verarbeitung und Übung bezeichnet wird. Kritische Stimmen halten Üben für ein notwendiges Übel, für Drill und Unfreiheit. Selbst in der Unterrichtspraxis und in der Lehrerbildung nimmt die Thematik „Üben“ oft eine inferiore Stellung ein, was sich als folgenschwer herausstellt: 1. Üben wird meist als Hausaufgabe verkleidet in das Elternhaus oder in die Nachmittagsbetreuung verlagert, wo sich der Unterricht dann ohne die Präsenz der Lehrperson fortsetzt. Dies erklärt auch, weshalb die außerschulische Zeit der Kinder so sehr von Hausaufgaben bestimmt und diese bald nach Schulbeginn mit Aversion belegt werden (vgl. Kap. 5.). 2. Üben wird oft aus dem unterrichtlichen Lehr-Lern-Zusammenhang gelöst und an unkritisch eingesetzte, lediglich thematisch einschlägige Arbeitsmaterialien delegiert. Diese bestimmen dann nicht nur die Übungsinhalte, sondern führen oft fremde, im Unterricht nicht vertraut gemachte und deshalb die Schüler/innen irritierende Arbeits- und Lernweisen mit sich. Hier ist ernsthaft die Frage zu stellen „Lernen und Üben die Schüler/innen tatsächlich oder werden sie nur beschäftigt?“ Angesichts der Übungspensen, die meist über Wochenpläne verordnet werden, kann so manches Klassenzimmer zu einem sicheren Ort gesellschaftlicher Vollbeschäftigung werden. 3. Üben wird heute mehr denn je den Kindern als Selbstoptimierung verordnet. Es wird zunehmend erwartet, dass sie ihr Übungsthema selbst festlegen, ihren Übungserfolg selbst feststellen, bewerten und bei mangelndem Erfolg ihre Übungsarbeit dort erneut und motiviert aufnehmen, wo es noch Lücken, Hürden oder gar Unverstandenes zu überwinden gilt. Jeder Erwachsene, der sich in seinem Berufsfeld diesem Anspruch stellen müsste, würde die damit verbundene Herausforderung für Selbst- und Sacheinschätzung, Selbstdisziplin, stabiles Selbstbewusstsein und Erfolgszuversicht erfahren.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.3 Probleme des Unterrichtens
81
Auch wenn Üben die Sache des lernenden Kindes/Jugendlichen ist, so bleibt dennoch die Hilfestellung der Lehrkräfte unverzichtbar. Die Metapher des Zeigens wenden Klaus Prange und Gabriele Strobel-Eisele (2006) auch auf das Üben an. Über ‚ostensives Zeigen‘ demonstriert die Lehrperson auch methodisches Wissen: zum Beispiel das Darstellen möglicher Rechenwege, das Einprägen von Wörtern in einer Fremdsprache, die Vorgehensweise beim Übersetzen eines Textes, wie die Schüler/innen auf Dauer über eine Fertigkeit, Fähigkeit oder über Wissen durch Üben verfügen sollen und wie sie diesen Übungsweg gestalten können. Übungssituationen haben eine eigene pädagogische Wertigkeit: Sie beanspruchen die Schüler/innen als ganzen Menschen, verlangen „selbstvergessene Hingabe an das zu übende Tun“ (Bollnow 1978, S. 55). Sie schaffen, selbst wenn es sich um eine begrenzt angesetzte Funktionsschulung im Lesen oder in der Mathematik handelt, Einstellungen, Haltungen, Lernqualitäten und seelische Verfasstheiten, die den Bildungsweg entscheidend mitbestimmen. Konzentration kann dann nicht nur als Voraussetzung für das Üben gesehen werden, sondern auch als deren Ergebnis. Somit hat das Üben eine wichtige Brückenfunktion: Es entscheidet wesentlich darüber, ob die Schüler/innen trag- und ausbaufähige Grundlagen erwerben, über die sie in schulischen und außerschulischen Situationen sicher verfügen können. Üben schließt somit stets auch das Ausüben, das Anwenden des Gelernten und Geübten in neuen Situationen ein. 2.3.4 Die Differenzierung Die Heterogenität einer Klasse in Lerntempo, Aufmerksamkeitsspanne, kognitiven, sprachlichen und sozialen Fähigkeiten, Interessenlagen u. v. m. verlangt individuelle Beachtung und Wertschätzung – das entspricht dem Humanitätsprinzip. Dieses ist dem pädagogischen Auftrag der Schule von Anfang an eingeschrieben und mit der Forderung nach innerer Differenzierung verbunden. Generationen von Lehrkräften haben sich bereits an dieser Herausforderung abgearbeitet, Maßnahmen entwickelt, um den individuellen Förderbedarfen gerecht zu werden, allen eine gleichwertige Grundbildung zu vermitteln und zugleich eine Ausgewogenheit von Individualität und Gemeinsamkeit des Lernens zu erreichen. Die folgenden Anmerkungen zur Differenzierung verzichten auf einen Maßnahmenkatalog zugunsten prinzipieller Hinweise, die aus dem Praxishandeln von Lehrkräften hervorgegangen sind und hier eine thesenartige Zuspitzung und Verkürzung erfahren. 9
9 Die Diferenzierungsthesen wurden bei einer schulhausinternen Lehrerfortbildung zur „Differenzierung – als unverzichtbare Dimension des Lehrerhandelns“ (durchgeführt von E. Röbe 2017) von einem Lehrerkollegium formuliert und in das Leitbild der Schule aufgenommen.
82
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
Innere Differenzierung Thesen des Lehrerkollegiums der Grund- und Mittelschule L.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1.
Jede/r Schüler/in hat ein Recht auf ein aktives, verständnisintensives und tragfähiges Lernen. Sie/er bringt ihre/seine individuellen Vorerfahrungen und Erwartungen in den Unterricht ein und folgt ihrem/seinem individuellen, persönlich geprägten Lernweg.
2. In jeder Klasse ist es normal, verschieden zu sein. Jede/r Schüler/in verfügt über Stärken und Schwächen und ist darauf angewiesen, ein positives Selbstkonzept und Selbstwertgefühl als Schüler/in zu entwickeln. Deshalb braucht jede/r Könnenserlebnisse, Wertschätzung und Respekt. 3.
Das Lernen in der Klasse ist immer ein Lernen in einer Gemeinschaft. Deshalb teilen wir eine Klasse nicht dauerhaft in Leistungsgruppen. Wir bilden, wenn nötig, flexible Lernfortschrittsgruppen. Auch wollen wir nicht jeder Schülerin/jedem Schüler individuelle Häppchen verabreichen. Differenzierung muss die Spannung von individueller Förderung und Gemeinschaftserziehung aushalten.
4. Differenzierungsmaßnahmen haben kein didaktisches Eigenleben. Sie erwachsen aus dem Grundverständnis des Faches, dem sie dienen wollen. Sie sollen qualitativ gleichwertig und für schwächere Schüler besonders motivierend gestaltet sein. 5.
Die tägliche Unterrichtsvorbereitung atmet Differenzierung. Deshalb eröffnet sie individuelle Zugänge zu einem Lernthema, lässt Spielraum in der Aufgabenstellung und im Aufgabenumfang, kennzeichnet Schwierigkeitsgrade und ermutigt zur eigenständigen Fortführung eines Übungsthemas. Sie bezieht auch mediale Hilfsmittel ein, um den Anschaulichkeitsgrad zu erhöhen und operatorisches Lernen zu ermöglichen.
6. Nicht nur die Lehrkraft hilft beim Lernen und Üben. Wer Hilfe braucht, kann sich einen Lernhelfer auswählen und in einem Tandem arbeiten. Auch das Üben in der Kleingruppe ist eine gute Möglichkeit, Differenzierungshilfen gezielt und auf eine begrenzte Zeit anzubieten. 7. Tages-/Wochenpläne stellen auch Übungspläne mit Freiheitsgraden dar. Diese Pläne sind mit Freiheitsgraden verbunden: persönliche Zeiteinteilung, Reihenfolge der Aufgabenbearbeitung, Wahl der Sozialformen, Nut-
2.3 Probleme des Unterrichtens
83
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
zen von Lernmitteln. Die Pläne legen ein Grundpensum fest und lassen Spielraum für selbstgewählte Aufgaben und Übungsthemen. 8. Freies Arbeiten entspringt dem eigenen Interesse der Schüler/innen an einer Sache oder einem Tun. Es ist weitgehend unabhängig von der Aufgabenstellung der Lehrkraft. Die Schüler/innen haben verlässliche Zeiten, in denen sie den Klassenraum/ Schulraum für ihre Entdeckungen, Vorhaben und Ideen nutzen und kooperativ durchführen können. 9. Die Kommunikation mit Klasse/Eltern klärt den Sinn der differenzierenden Unterrichtsarbeit. Sie bietet allen Schülerinnen und Schülern Gleichwertiges: Respekt, Wertschätzung, Hilfe, Beachten der individuellen Ausgangslage. Sie berücksichtigt ihre Verschiedenheit durch Maßnahmen, die Lernen gelingen lassen. 10. Im Kollegium besteht Konsens, dass differenziertes Arbeiten nicht zur Methodenfreiheit einer Lehrperson zählt. Differenzierung wird als Bedingung für einen chancengerechten Unterricht gesehen. Kooperativer Austausch, problemorientierte Gespräche und eine klare pädagogische Grundhaltung prägen an unserer Schule die Differenzierungsarbeit. Auch Maßnahmen der Lehrerfortbildung und Hilfestellung von außen (z. B. Supervision, spezialisierte Hilfestellung und Anleitung durch Experten) sind für uns wichtig und werden realisiert.
Arbeitsaufgaben 1. Diskutieren Sie diese Thesen, die in das Leitbild der Schule aufgenommen wurden. 2. Können Sie eigene Unterrichtserfahrungen mit diesen Thesen verbinden?
2.3.5 Unterricht reflektieren, evaluieren, weiterentwickeln Das Reflektieren des unterrichtlichen Handlungsfeldes ist eine maßgebende Kompetenz der Lehrperson. Die Art und Weise ihres Handelns lässt sich im Hinblick auf konkrete Gesichtspunkte bzw. Qualitätsmerkmale und vor dem Hintergrund pädagogischer Erfahrungen interpretieren. Dabei ist es Ziel, herauszufinden, was ihr wichtig ist und welche Bedeutsamkeit die Gesichtspunkte einnehmen könnten. Das Besondere an einem solchen Reflektieren scheint zu sein:
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
84
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
„Nicht als ob der Lehrer, mitten in der Situation diese als solche erkennend und aus ihr „aussteigend“, mit sich zu Rate ginge, Überlegungen gegeneinander aufwöge und eine Entscheidung herbeiführte. […] Das Handeln […] ist nachträglich explizierbar, und in der hinterherkommenden Reflexion sind die Werte zu erkennen, die dieses Handeln, wie J. P. Sartre sagt. „wie Rebhühner aufscheucht.“ […] Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Reflexion ist […] Hermeneutik einer pädagogischen Wirklichkeit, die im Augenblick des Darübersprechens immer schon vorgegeben ist. Freilich ist ein Ziel solcher Reflexion – neben der Einsicht in Sachverhalte – immer auch Ermöglichung künftigen pädagogischen Handelns“ (Göhlich 2011, S. 139).
Bezug auf Qualitätsmerkmale „Der Blick zurück“ auf konkretes unterrichtliches Handeln kann, je nach schulischem Setting, in unterschiedlichen Formen erfolgen. Gleichgültig, ob es sich um eine individuelle Selbstreflexion, um eine dialogische Reflexion von Lehrperson und Kolleg/in, Seminarbetreuer/in, Rektor/in, Schulaufsicht bzw. Coach handelt oder um eine eher gruppenbezogene Reflexion im Rahmen einer Präsentation, Fortbildung oder Supervision, stets geht es darum, Qualitätsmerkmale10 als reflexive Bezugspunkte auf das unterrichtliche Lehrerhandeln anzuwenden. Checkliste: Zielklarheit 1. Konnten die Schüler/innen das Unterrichtsthema erfassen? Warum ist es für sie von Bedeutung? 2. Konnte ich zu Unterrichtsbeginn das Unterrichtsthema möglichst direkt in die Aufmerksamkeit rücken? 3. Vermittelte ich bereits zu Unterrichtsbeginn ‚Lernlaune‘? 4. Habe ich den Zugang zum Unterrichtsthema so gestaltet, dass weder Angst noch Abwehr aufkam? 5. Wurden die Ziele und Inhalte meines Unterrichts transparent? 6. Traf ich die Lernniveaus meinerSchüler/innen? Welche Differenzierung hatte ich geplant? 7. Gibt es eine Entsprechung von Unterrichtsthema und Bildungsplan? 10 Von der Schulpädagogik wurden in den letzten Jahren evidenzbasierte Qualitätsmerkmale in die Diskussion um Unterrichten eingebracht, die die Lehr-Lernsituation nicht unter subjektiv wahrgenommenen Persönlichkeitsmerkmalen (z.B. Freude am Unterrichten, Geduld) sehen, sondern sich am Professionalisierungsprozess orientieren (vgl. z.B. Helmke, Andreas (20054): Unterrichtsqualität erfassen und bewerten. Seelze: Friedrich). Erst die Hattie-Studie rückte die Lehrperson mit ihren besonderen Professionalsierungskompetenzen wieder entschieden ins Zentrum. Inzwischen inden sehr „gemischte“ Listen von Qualitätsmerkmalen Anwendung. Diese Aulistung entstammt einer praxiserprobten Zusammenstellung im Seminar der 2. Phase von Birgit Illmann, M.A., Kaufbeuren.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.3 Probleme des Unterrichtens
85
Checkliste: Schülerbezug 1. Traf das Unterrichtsthema die Interessenlage der Schüler/innen? Wo ergaben sich Anknüpfungspunkte? 2. Haben die Schüler/innen die Thematik vorgeschlagen, modifiziert, eigene Fragen eingebracht? Haben sie meinen Absichten zugestimmt und diese im Prozessverlauf modifiziert? 3. Konnte jede/r Schüler/in im Unterricht Könnenserfahrungen machen, wenn ja, welche? 4. Ermutigte ich dazu, das Unterrichtsthema zu erweitern, ‚individuell zu brechen‘, aus Fehlern zu lernen? 5. Konnten sich Schüler/innen mit nicht-deutscher Mutter-/Familiensprache am Unterricht beteiligen? 6. Gab es genügend Gelegenheit, sich in der Lerngruppe zu verständigen und auszutauschen? 7. Wie war das Verhältnis meines Redeanteils und dem der Schüler/innen? 8. War Raum für Bewegung, ästhetisches Gestalten, musisches Tun, das Wahrnehmen von Verantwortung usw.? Checkliste: Struktur – Lernorganisation – Lernzeit 1. Welche Gliederung habe ich für die Unterrichtseinheit vorgesehen? 2. Ist der ganze Unterrichtstag so strukturiert, dass sich die Unterrichtsphasen mit lehrergesteuertem Lernen mit denen weitgehend selbst gesteuerten Lernens in einen guten Rhythmus bringen lassen? 3. Welche Sozialformen sieht mein Unterricht vor? 4. Gibt es in meinem Unterricht einen Spannungsbogen, der die Schüler/innen einen inneren Zusammenhang erfahren lässt? 5. Gehe ich mit der Lernzeit der Schüler/innen verantwortungsvoll um (z.B. durch umsichtige Organisation der Lehr- und Lernaktivitäten, des Materials, sinnvolle Vorordnungen)? Checkliste: Arbeitsintensität – Medien – Lernmittel – Weiterführung von Unterrichtsthemen 1. Sind die bereitgestellten Medien sachlich prägnant und zielkonform? Oder dienen sie der Beschäftigung? 2. Wie ist ihre ästhetische Qualität? 3. Welches Unterrichtsergebnis erwarte ich in welcher Darstellungsform? 4. Habe ich das, was ich als mögliches Arbeitsergebnis erwarte, schon einmal selbst ausprobiert? 5. Ist mein Unterrichtsmaterial (vgl. Tafelbild, Whiteboard, Folien, Arbeitsblätter) lernförderlich gestaltet?
86
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
6. Sind die Materialien für Differenzierung, d.h. unterschiedliche Lernpotenziale, geeignet? Checkliste: Lehrerpersönlichkeit 1. Gebe ich in meiner Themenkonzentration und Arbeitshaltung ein gutes Beispiel? Erleben mich die Schüler/innen auch als den Fragenden? 2. Begegne ich meinen Schülerinnen und Schülern mit Respekt und Verständnis? 3. Bin ich klar, konsequent und dennoch humorvoll? Wird wenigstens einmal in meinem Unterricht gelacht? 4. Beachte ich die Schüleräußerungen mit hinreichendem Verständnis? 5. Habe ich von dem Inhalt, den ich zum Unterrichtsthema mache, eine Ahnung bzw. eine Fachkompetenz? Reflexive Formen Die Bedeutung der Selbstreflexion hat in der Moderne in allen gesellschaftlichen Bereichen, so auch in der Schule, zugenommen. Die Optimierung des Handelns ist zu einer selbstverständlichen Daueraufgabe geworden. So können die oben genannten Qualitätsmerkmale in unterschiedlichen Formen reflexiv bearbeitet werden: Die Selbstreflexion: Das Nachdenken über unterrichtliches Handeln bedarf nicht nur einer kritischen „Eichung des Maßstabs“ über die im Konsens gewonnenen und gemeinsam geteilten Qualitätsmerkmale, sondern auch der Bereitschaft, diese im Rückblick auf das eigene Handeln redlich, emotionsarm und offen anzuwenden. Diese Selbstbeobachtung und Selbsteinschätzung kann Ausgangspunkt für mutiges Wagen gezielter Veränderungen und Ausprobieren alternativer Möglichkeiten werden. Allerdings muss zugleich vor einer Übertreibung der selbstkritischen Haltung gewarnt werden. Auch ein gutes unterrichtliches Handeln kann nicht darin bestehen, „auf allen Handlungsfeldern permanent wie ein Tausendsassa tätig zu sein, sondern darin, Akzente zu setzen, nicht das Maximum zu erstreben, sondern das Optimum, mit anderen Worten: stets auch die eigenen Grenzen zu akzeptieren“ (Winkel 2013, S. 253). Die partnerbezogene Reflexion: Die zunehmende Öffnung von Schule und Unterricht hat zugleich partnerschaftliche Formen des Miteinanders auf Schülerwie Lehrerseite begünstigt. Gutes Unterrichten ist vielerorts zu einer gemeinsam geteilten Herausforderung geworden. So sind heute im Unterricht sogenannte reflexive Haltepunkte selbstverständlich, in denen die Lehrer/innen mit den Schüler/innen bzw. die Schüler/innen untereinander ihre Lern- und Lösungswege überdenken, sich die Aufgabenstellungen nochmals bewusst machen, die Lernbedingungen (z.B. die zur Verfügung gestellte Lernzeit) einschätzen. Solche an Qualtiätskriterien orientierten Lerndialoge können sich als aufschlussreich
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.3 Probleme des Unterrichtens
87
für den weiteren Unterrichtsprozess erweisen, zumal sie die globale Frage „Hat es euch denn Spaß gemacht?“ in konkret zu reflektierende Punkte übersetzt und zu gezielten Verbesserungshinweisen führen kann. Die kollegiale Reflexion: Über eine kollegiale Kooperation mit Kolleg/innen der gleichen Klassenstufe, im Beratungsgespräch mit dem/der Seminarleiter/in, im Beurteilungsbesuch mit der Rektorin bzw. dem Rektor oder der Schulaufsicht kann eine Verständigung über die Unterrichtsqualität kommuniziert und eine Modulierung weiterer Entwicklungsschritte entworfen werden. Die Professionalisierung der Reflexionsunterstützung Während die selbstreflexiven Formen noch weitgehend auf der informellen, dialogorienterten, konkreten Ebene angesiedelt sind, hat sich eine Expansion von Reflexionsprofessionellen durchgesetzt, die in Supervision, Coaching und Organisationsberatung agieren. „Die Professionalisierung von Reflexion, genauer: die Professionalisierung der Unterstützung von Reflexion nimmt rapide zu. Es entsteht eine zweite Ebene des Reflexionshandelns: Es geht heute nicht mehr nur um Reflexion als Mittel der Professionalisierung des (z.B. pädagogischen) Handelns, sondern es geht um die Professionalisierung der Reflexion(sunterstützung) selbst“ (Göhlich 2011, S. 139). Supervision, Coaching und Organisationsberatung stellen heute einen Berufszweig dar, der sich als eine tätigkeitsbezogene Beratung und Begleitung versteht, die der notwendigen systematischen Reflexion einer besonders verantworteten Tätigkeit dient (vgl. Kap. 6). Diese liegt nicht ausschließlich in pädagogischen Feldern, sondern auch in nicht-pädagogischen Organisationen, wie Betrieben, Behörden usw. Die Reflexionsarbeit selbst ist damit zu einem pädagogischen Handlungsfeld bzw. Berufsfeld geworden, was die Berufschancen für Absolvent/ innen pädagogischer Studiengänge erheblich steigert. Evaluieren als empirische Grundlage von Unterrichts- und Schulentwicklung Die Evaluation untersucht konkrete Einzelfälle und ist praxisorientiert. Sie ist gekennzeichnet von dem Bemühen um empirische Überprüfbarkeit ihrer Befunde. Die Daten werden dabei methodisch (z. B. über Befragung, gezielte Beobachtung, Fragebogen) erhoben. Die Gültigkeit ihrer Ergebnisse bemisst sich an der Einhaltung jener „Gütekriterien“, die die empirische Forschung ingesamt zu erfüllen hat (vgl. z.B. Objektivität, Reliabilität, Validität, Normierung). Kennzeichnend ist, dass der Blick auf unterrichtliches Handeln aus der Perspektive unterschiedlicher Gruppen gerichtet wird: von Lehrer/innen, Schüler/innen, Eltern. Von den Evaluationsergebnissen wird ein evidenzbasierter Aufschluss erwartet zum Beispiel über Übereinstimmungen wie Abweichungen in der Einschätzung der Unterrichtsqualität, im Feststellen von Entwicklungsnotwendigkeiten, im Anstoßen von Entwicklungsprozessen. Evaluation sollte somit der rückblicken-
88
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
den Wirkungskontrolle, der vorausschauenden Steuerung sowie dem Verständnis von Situationen und Prozessen dienen. Die Zunahme der reflexiven Aktivitäten an Schulen wird zugleich als problematische Entwicklung wahrgenommen: • Gerade für die jüngeren Schüler/innen wird ein Übergewicht an reflexiven Aufgabenstellungen zu ungunsten von aktional-gestaltenden Aufgaben befürchtet, was ihre Spontaneität und Kreativität bremsen könnte. • Evaluation geschieht in der Regel lediglich punktuell. Außerdem fehlt es der Schule an professioneller Beratung für die Umsetzung der Ergebnisse. • Auch besteht Anlass zur Sorge, dass unzureichende Lernbedingungen (z.B. fehlende Lernzeit) und mangelhafter Unterricht (z.B. fehlende innere Differenzierung) zwar thematisiert, aber institutionell nicht verändert werden bzw. verändert werden können, weil dafür die Voraussetzungen fehlen. Damit könnten die Mängel des Systems zementiert werden. • Die fundamentale Kritik zielt auf das System selbst: Indem es die Dilemmata der Infrastruktur in einen kommunikativen Prozess überführt, sollen Individuen lernen, sich selbst pädagogisch zu reflektieren und somit sich zu erziehen, was einem „Verfall in täuschende Machbarkeitfantasien“ gleichkommt (vgl. Winkler in Göhlich 2011, S. 149f.). 2.3.6 Unterrichtliches Handeln zwischen permanenter Überforderung und Sehnsucht nach Berufszufriedenheit Vielleicht lassen die abgebildeten Unterrichtsszenen im Kapiteleingang erahnen, was die zahllosen Berichte und Studien über den Lehreralltag auch beinhalten, nämlich: Es ist „ein weit verbreitetes, auch andernorts anzutreffendes Gefühl der permanenten Überforderung, aber auch die Sehnsucht von diesem Gefühl befreit zu werden“ (Helmes/Rinke 2016, S. 7f.). „Eine Unterrichtsstunde ist halt schon sehr turbulent, da ist also Multi-Tasking von einem verlangt, dass man gleichzeitig von drei oder vier Schülern gefragt wird: Können Sie hier noch mal, ich brauche noch das und ich habe hier ein Problem und agiert nach allen Seiten. Also ich denke, man muss stressresistent sein, wenn man dieses macht und man muss sehr gut strukturiert sein und organisieren können. Sonst geht man baden“ (Heinritz 2013, S. 123).
Die Lehrer/innen sind einer Anforderungsstruktur ausgesetzt, die sie auf eine öffentliche Bühne stellt, keine Rückzugsmöglichkeiten einräumt, permanenter Beobachtung aussetzt, eine aufmerksame Wahrnehmung von detaillierten Vorgängen wie globalen Eindrücken einfordert. Nach Andreas Hillert (2004) muss ein/e Lehrer/in in jeder Unterrichtsstunde bis zu 200 Entscheidungen treffen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.3 Probleme des Unterrichtens
89
und im Durchschnitt 15 erzieherische Konfliktsituationen bewältigen. Hieraus wird deutlich, dass erfolgreiches Unterrichten, so genanntes ‚inspired teaching‘, nicht allein von einem theoretischen Wissen abhängt, sondern vielmehr von Fähigkeiten, die einer Lehrerin oder einem Lehrer ermöglichen, unmittelbar, oft unreflektiert und intuitiv pädagogisch zu handeln. In solchen Situationen verbindet die Lehrperson deutlich den Personenbezug mit dem Sach- oder Inhaltsbezug. Dabei stellt sie deutliche Anforderungen an die Aufmerksamkeit, an das Verhalten sowie die Einsichtsfähigkeit der Schüler/innen. In der gesellschaftlichen Debatte um Schule und Unterricht geht es weniger um Strukturen wie zum Beispiel die Anzahl von Unterrichtsstunden oder die Bildungsstandards, sondern verstärkt um die Lehrerpersönlichkeit und deren Beziehung zu den Schülern und Schülerinnen, eben das, was die Lehrerin oder der Lehrer als Person leistet, wie sie/er mit den Schülerinnen und Schülern ‚klarkommt‘. Dabei ist es selbstverständlich, dass sie/er, bei allem Bemühen, auch Fehlentscheidungen trifft, Erwartungen enttäuscht und sich Schwächen eingestehen muss. Und doch wäre es ein verhängnisvolles Missverständnis, wenn der Eindruck entstünde, dass „gutes Menschsein und der Draht zu Kindern“ schon genügten und die Inhalte sowieso jedem geläufig seien. In einer solchen Sichtweise wird Unterrichten zu einer gering geschätzten Selbstverständlichkeit, eben zu einer „Beschäftigung, von der alle ehemaligen Schüler und Schülerinnen etwas verstehen“ (Reichenbach 2012, S. 57). Es ist eben nicht nur das Fachliche, das den Unterrichtenden über die Schulstufen hinweg herausfordert, damit das unterrichtliche Handeln nicht zur Routine herabsinkt. Vielmehr ist es die menschliche Dimension des Berufes, die für Abwechslung und Faszination sorgt: Das Heranwachsen von Kindern und Jugendlichen mitzuerleben und gar auf Lebenschancen einzuwirken! „Vielen meiner Kollegen geht es indes leider anders, sie wirken verunsichert, sind abgekämpft, suchen ihr Heil in Technisierung und Distanz. Wen wundert’s, wenn viele Schüler dann zu wenig lernen und unter ihren Möglichkeiten bleiben? […] Der Kern heutiger Bildungsnot hat zwei Ursachen, die gerne beschwiegen werden – obwohl sich an ihnen leicht etwas ändern ließe. Einerseits hat der lange Zeit waltende pädagogische Zeitgeist zu einer grundlegenen Verunsicherung im Pädagogischen geführt. […] Andererseits wurde deshalb die Beziehungsdimension des Unterrichtens sträflich vernachlässigt […] Viele Lehrer haben zuwenig Einfühlungsvermögen, wirken ungewollt entmutigend und verstehen die Lern- und Verhaltensstörungen ihrer Schüler nicht wirklich. Meine Gegenbotschaft lautet: Unterrichten ist eine hochkomplexe Menschen-Entwicklungs-Beziehungsarbeit, sie sollte in psychologischer Hinsicht professionalisiert und aufgewertet werden“ (Felten 2013, S. 221).
90
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.4 Unterrichten im Kontext zeitgeschichtlicher Entwicklungen und Umbrüche Unterricht ist wie jeder andere Handlungsbereich des Lehrers Ausdruck seiner pädagogischen Professionalität (vgl. Kap. 6). Professionalität gewinnt ihr Profil wesentlich aus dem Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schulstufe, auf der unterrichtet wird. Alle unterrichtlichen Entwicklungen sind deshalb eingebettet in ein zeitliches Kontinuum, haben ihre eigene Geschichte und ihre Wirkung auf die Gegenwart und Zukunft. Und weil wir als Einzelpersonen die Schule nicht neu erfinden und wohl auch nur in gesetzten Grenzen verändern können, ist es wichtig, das Handlungsfeld auch problemgeschichtlich wahrzunehmen, um seine gegenwärtige Verfasstheit besser einschätzen und verstehen zu können (vgl. Kap. 1). Am Beispiel der Grundschule kann dies besonders deutlich werden. Als diese in der Weimarer Republik 1919/1920 gegründet wurde, waren die Alte Schule11 und die Schulpflicht bereits bis in die letzten Dörfer des Landes eingeführt und verwirklicht. Sie hat deshalb nicht nur avantgardistische Grundzüge, sondern an ihr wird zugleich für die anderen Schulstufen ablesbar, welche Reforminitiativen auf die jetztige Verfasstheit von Unterricht eingewirkt haben, welche Erfolge und Fehlentwicklungen die gegenwärtige Situation prägen und Tag für Tag zu bewältigen sind. 2.4.1 Das schulgeschichtliche Erbe vor 1920 Die Grundschule traf 1920 bereits auf ein vorgängiges Verständnis von Unterricht für alle Schularten und Schulstufen, das durch normierte Anforderungen und normiertes Fortschreiten in Verbindung mit der Einführung des Berechtigungswesens bestimmt war. Dem einflussreichen „General-Landschul-Reglement“ von Johann Ignaz v. Felbiger (1778) zufolge sollte das „Zusammenunterrichten“ die Unterweisung vieler Schüler möglich und effizent machen. Geradezu schwärmerisch berichtet er darüber: Exkurs: Johann Ignaz v. Felbiger (1778): Das Zusammenunterrichten „Alle Kinder einer Klasse müssen nicht nur einerlei Sachen vornehmen, sondern sie müssen es auch zu gleicher Zeit tun […] so sagen sie jetzt alle zugleich auf: sie buchstabieren, lesen, schreiben, rechnen, lernen zugleich auswendig, sie 11 Die Alte Schule folgt jenem Unterrichtstyp, der im Zuge der Aufklärung zur Unterweisung großer Schülergruppen entwickelt wurde. Dieser prägte ab ca. 1800 die Professions- und Lernkultur des „niederen Schulwesens“ nachhaltig (vgl. 2.4.1).
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.4 Unterrichten im Kontext zeitgeschichtlicher Entwicklungen
91
wiederholen und antworten; kurz, sie machen alles zusammen und zu gleicher Zeit“ (S. 57). Wie aber ist methodisch zu verfahren? Folgende Gelingensbedingungen werden benannt: 1. Die Kinder müssen dieselben Bücher haben. 2. Sie müssen gewöhnt werden, alle gleichzeitig mit einer Betonung zu sprechen. 3. Der Lehrer muss manchmal einen anderen Ton angeben, um Monotonie zuvermeiden. 4. Kinder mit gleicher Fähigkeit oder vergleichbarem Lernfortschritt können zu ‚Haufen‘ zusammengenommen werden; auch weitere Unterteilungen der Haufen bis hin zum „Vornehmen“ einzelner sollte praktiziert werden. 5. Der Schulmeister sollte diese differenzierende Unterrichtsarbeit vor allem durch zwei Ordnungsformen begleiten: sich mit einem akustisches Zeichen (Klopfen mit einem Schlüssel) bei den Schülern Gehör verschaffen und die Schüler bei ihrem Namen nennen. 6. Die Schüler sollen auf die Antworten ihrer Mitschüler achten und dem Lehrer signalisieren, dass sie den Fehler berichtigen können (vgl. S. 58f.). Welche Vorteile aber erwartet J. I. v. Felbiger vom Zusammenunterrichten? • Die Förderung der Aufmerksamkeit durch „die Begierde, sich hervorzutun […] und die Abneigung, seine Unwissenheit oder Nachlässigkeit“ den Mitschülern zu zeigen. • Die Förderung des Bestrebens, sich den Ruf und die Ehre eines fleißigen Schülers zu erwerben. • Eine frühe Einübung der Kinder und ihre Gewöhnung an eine Aufmerksamkeit, die für die künftige Lebenszeit unverzichtbar ist. • Die Bewahrung der Kinder vor Leichtfertigkeiten und die Bewahrung des Lehrers vor einem ausufernden Einsatz von Ermahnungen und Drohungen, die das Lernen unterbrechen, Lernzeit vergeuden, Aversionen gegen Lernen begründen und „das Lernen zum Ekel macht“. • Im Zusammenunterrichten werden alle Kinder aktiv eingebunden und dies vorrangig aus zwei Gründen: In keinem Augenblick ist das Kind vor dem Aufgerufenwerden sicher, deshalb tut jedes still das, was andere laut machen, um jederzeit fortfahren zu können. Zum anderen könnten sie die Fehler der Mitschüler nicht wahrnehmen und verbessern (vgl. S.63ff.). So folgte das Zusammenunterrichten einer Unterrichtsmethode, die bereits von Zeitgenossen scharf kritisiert worden war. Der Philosoph, Pädagoge und Psychologe Johann Friedrich Herbart (1776-1841) verwies bereits 1832 in seinen Pädagogischen Schriften auf die Notwendigkeit der Individualisierung und Differenzierung. Bedenklich ist für ihn die Meinung, „als ob der Unterricht schon Erziehung, die Disziplin schon Charakterbildung, als ob überhaupt die Jugend-
92
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
bildung ein Geschäft wäre, das im großen, wie Fabriken durch Maschinenwerk, ohne Berücksichtigung der Individuen, mit Vorteil könnte betrieben werden“ (zit. in Furck 1961, S. 67). Umso mehr mag erstaunen, dass wir bis heute in allen Schularten diese an der Norm orientierte Unterrichtsmethode in ihrer Grundstruktur finden, wenn auch mit anderen Inhalten, Begründungen und in moderner medialer Aufmachung. 2.4.2 Beginnende Demokratisierung Mit der Grundschule wurde eine Schulform institutionalisiert, die auf schulpolitischem Gebiet den politischen Systemwechsel von der Monarchie zur Demokratie nachvollzog. Wenigstens für die ersten vier Schuljahre sollte sich die politische Forderung „Ein Volk, eine Schule!“12 erfüllen, die vorrangig von der Sozialdemokratie und der Einheitsschulbewegung, deren Wurzeln in das 17. Jahrhundert zurückreichen, durchgesetzt wurde. Bis dahin existierte ein höheres Schulwesen (Gymnasium mit eigenen Vorschulen bzw. Eingangsklassen) und ein niederes Schulwesen (Volksschule mit schlechter Qualität und ohne Übergangsmöglichkeiten in das höhere Schulwesen) getrennt voneinander. Zusammenhang von Bildungsauftrag und Unterricht Es war ein erster Einbruch in die Vertikalität des deutschen Schulwesens, das sich in der strikten Trennung von niederer und höherer Bildung in einem „Säulensystem“ eingerichtet hatte.13 Dies geschah gegen den erbitterten Widerstand der national konservativen Schulpolitiker, die eine Fortführung der beschränkten Entfaltungsmöglichkeiten in einer ständisch gegliederten Gesellschaft in die „Herrschaftswelt des Adels, die städtische Welt des ehrbaren Bürgers, der bäuerlichen Lebenskreise“ (Herrlitz/Hopf/Titze 1993, S. 13) befürworteten. Trotz der gegnerischen Ressentiments etablierte sich der neue Schultyp mit neuartigen Funktionsmerkmalen und einem neuen Leitbild für den inneren Ausbau der Grundschule.
12 Den Bauplan der Grundschule der Weimarer Republik an zentralen historischen Texten zu skizzieren, führt an dieser Stelle zu weit. Deshalb werden sie nur kurz benannt: 1. Artikel 146 der Weimarer Verfassung (1919), 2. Das Reichsgrundschulgesetz (1920), 3. Die Richtlinien zur Aufstellung von Lehrplänen für die Grundschule (1921). 13 Der zugrundeliegende Schultyp „Soziales Klassenschulsystem“ wird z.B. in Diederich/Tenorth (1997) erörtert (vgl. S. 68-126).
2.4 Unterrichten im Kontext zeitgeschichtlicher Entwicklungen
93
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Exkurs: Funktionsmerkmale des neuen Schultypus Grundschule • Die Grundschule soll Ort grundlegender Bildung sein. Unter Rückbezug auf die reformpädagogische Bewegung (ca. 1880-1933) und deren neuartigen Schulkonzepte und Schulmodelle (z.B. Maria Montessori, Peter Petersen, Celestin Freinet) ging es ihr um das Wecken und Fördern aller geistigen, seelischen und körperlichen Kräfte. Die Grundschule teilt mit den Reformansätzen die Achtung vor der Individualität des Schüler, die Förderung aktiven Lernens, die Individualisierung und Differenzierung. • Die Grundschule wagt einen gemeinsamen Bildungsausgang für alle Kinder aller Begabungsqualitäten und Gesellschaftsklassen. Somit ist die Grundschule die einzige flächendeckende Gesamtschule. • Die Grundschule soll mehr sein als Unterricht. Sie soll sich als Lebensstätte des Kindes verstehen und ein solides Fundament an Bildung für ein darauf aufbauendes, sich differenzierendes und spezialisierendes Bildungssystem schaffen. • Die Grundschule soll so viele Jahrgänge umfassen, wie für eine gemeinsame Grundbildung aller Schüler notwendig und möglich erachtet werden. (Die Dauer der Grundschule ist bis heute umstritten). Man war überzeugt, dass mit der gesetzlichen Verpflichtung zum Besuch einer gemeinsamen vierjährigen Grundschule die einem demokratischen Staat aufgegebene Verpflichtung zur Chancengleichheit eingelöst werden könne. Der Auftrag, grundlegende Bildung zu vermitteln, setzte allerdings die Revision des alten Schul- und Unterrichtsverständnisses voraus. Ein neues Unterrichtsverständnis als Reformbedingung Der Pädagoge Martin Weise (1891-1952) sah im Verhältnis von Unterricht und Erziehung die „conditio sine qua non“ einer demokratiegemäßen Schule. Er formulierte seine Überzeugung unmissverständlich und leidenschaftlich. Deshalb folgt an dieser Stelle auch ein relativ langes Zitat, das bis heute nichts an Aktualität verloren hat: „Die Schule, die wir uns jetzt zu überwinden anschicken, bot in ihrem Unterricht allen Kindern denselben Stoff, zwang alle nach demselben Ziele, richtete alle mit demselben Maße. In dem Geiste aber, der hinter allem stand, konnte sie nicht individualistischer sein. Ein fortgesetztes Wettrennen um den schönsten Aufsatz, das beste Diktat, die schnellste Rechenlösung, den ersten Platz, die beste Zensur, hat sie unaufhörlich angestachelt. Ein übersteigerter Ehrgeiz, den anderen zu übertreffen, selbst am besten abzuschneiden, sich an die erste Stelle zu setzen, war die Haupttriebfeder in unserer Schule, und Neid und Schadenfreude begleiteten den Schüler nur allzu oft aus der Schule hinaus.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
94
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
So hat unsere Schule dort nivelliert, wo individuelles Wachstum nötig war, im Unterricht, und dort auseinander und gegeneinander erzogen, wo Brüderlichkeit und Helferwillen hätten persönliche Verschiedenheiten überbrücken sollen: im Geiste, der alle Arbeit trug. Soll die gemeinsame Schule einen tiefer liegenden kulturellen Zweck erfüllen, dann muss sie dieses Verhältnis umkehren: Im Unterricht wird sie stärker individualisieren, Freiheit gewähren, die Masse auflockern müssen, damit der werdende Mensch seiner Richtung und Kraft nach zum Ziele gelangt. In dem Geiste aber, der das Ganze durchweht, muss sie den Willen zum Dienen, Helfen, Rücksichtnehmen erziehen, Gemeinschaftsschule im vornehmsten Sinne des Wortes werden […] Dort, wo die Kinder aller sozialen Schichten beieinander sind, in der Grundschule, ist dies besonders dringend, aber auch besonders schwer. Erziehen ist immer schwerer als unterrichten, Gesinnung veredeln erfolgsunsicherer als den Verstand schärfen“ (Weise 1928, S. 73).
In der Grundschule von heute treffen nicht nur die Kinder aller sozialen Schichten, sondern Kinder unterschiedlichster Kulturen und Förderbedarfe aufeinander. Die von ihr zu bewältigende Heterogenität hat durch den Auftrag zur Inklusion weiter zugenommen. Das Diktum „Es ist normal, verschieden zu sein!“ hat die Grundschule und ihre Lehrkräfte seit Bestehen herausgefordert. Kind(er)orientiert unterrichten Reformpädagogisches Denken (ca. 1880-1933), das sich in den klassischen Reformkonzepten z.B. von Maria Montessori (1870-1952) oder Celestin Freinet (1896-1966) manifestiert, reflektiert den Menschen aus der Perspektive seiner frühen Lebensjahre. Auch das Grundschulkonzept ist inspiriert von diesem Ansatz. Es interessieren nun die Kinder in ihren Ausdrucksweisen, Entwicklungszuständen, in ihrer Welt des Spiels und der freien Betätigungen. Aufschlussreich bis heute sind die Aufzeichnungen von kindlichen Sprachäußerungen, Kinderzeichnungen, sprachlichen Erfindungen, die die Hinwendung der damaligen Lehrkräfte zu den Kindern dokumentieren. Die Formel „vom Kinde aus“ weist auf dieses Spannungsverhältnis hin, in dem das Kind und die Schule, sein subjektives Leben und die „objektive“ Kultur, in welche das Kind „hineinwächst, die es sich einverleibt, mit der es sich auseinandersetzt“ (Weise 1928, S. 385), gesehen wurden. Exkurs: Die Spannung zwischen Kind und den schulischen Anforderungen Diese Spannung sollte die Grundschule dadurch bearbeiten, indem sie im Unterricht • die Aktivitätsformen der Kinder (singen, tanzen, reden, gegenreden, zeichnen, ausschneiden, zählen, messen, formen usw.) aufnimmt, diese über die Unterrichtsthemen in eine ‚allseitige Schulung‘ nimmt und so die kindliche
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.4 Unterrichten im Kontext zeitgeschichtlicher Entwicklungen
95
Leistung steigert und zu erfahrungsgesättigtem Wissen führt (‚Arbeitsunterricht‘); • seine Inhalte/Themen aus der „räumlichen und geistigen Kinderheimat“ wählt, weil zwischen dem Kind und den wirklichen Gegenständen, Liedern und sittlichen Werten eine psychische Nähe besteht, sodass die Kinder aktives Wissen und Erkennen, methodisches Sehen, Sachlichkeit und Teilhabe an den Schätzen der Kultur erwerben können. Zugleich soll das Lernen erlebnisgebunden, produktiv und selbsttätig sein und vielfältig Formen des Ausdrucks praktizieren (‚heimatkundlicher Anschauungsunterricht‘). • situativ und flexibel Unterrichtsthemen aufnimmt, die in den Interessenshorizont der Kinder treten (‚Gelegenheitsunterricht‘). Intendiert wird also ein neuartiger Unterricht. Zumindest in den ersten beiden Schuljahren wurden auch die Fächergrenzen aufgegeben; für die dritten und vierten Klassen wurde eine organische, fächerübergreifende Verbindung gesucht, um eine zielbewusste Auseinandersetzung zu sichern und das Unterrichtsthema zugleich unter möglichst vielen Perspektiven zu be- und verarbeiten.
Arbeitsaufgaben Unterrichtsbeispiel: Einkaufen bei Kaufmann Vocke (www.utb-shop.de/978382 5251130) 1. Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen der damaligen kindlichen Lebenswelt und dem Unterrichtsthema? 2. Welche Teilinhalte und welche methodischen Zugriffe können Sie erkennen? 3. Welche Unterrichtsergebnisse werden von den Kindern erreicht? 4. Welche Ziele wurden wohl angestrebt (Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Haltungen)? Es gibt keine belastbare Daten, die belegen könnten, inwieweit es wohl gelungen war, dieses neue Unterrichtsverständnis in die damalige Unterrichtspraxis zu implementieren. Als Indikatoren könnten aus heutiger Sicht zum Beispiel gelten: • die Teilnehmeranzahl der vielen, gut besuchten Fortbildungslehrgänge, Tagungen; • die Bildung von Arbeitsgruppen und Einzelkursen; • die Einrichtung von Versuchs- bzw. Modellschulen in verschiedenen Städten; • das Gewinnen von Initiativgruppen, auch in Verbindung mit der Elternschaft; • die Analyse von Unterrichtsmaterialien und Schulbüchern, die als „Ziel- und Inhaltsträger“ die Unterrichtsreformen transportieren bzw. blockieren, • videobasierte Unterrichtsanalysen.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
96
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
Im Rückblick lässt sich jedoch mit Wilhelm Wittenbruch (1997) feststellen: „Dass der Widerstand gegen die ungeliebte Schulform zwischen 1920 bis 1933 abnahm, ist dem Engagement der Lehrerschaft zu verdanken, die durch eine verantwortliche Arbeit, in die reformpädagogische Impulse aufgenommen wurden, die deutsche Öffentlichkeit überzeugte“ (S. 4). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde in der Bundesrepublik auf das in den 20er Jahren entworfene Leitbild der Grundschule zurückgegriffen und die Konzeption als eine Stätte kindgemäßer Bildung weiterentwickelt. 2.4.3 Unterricht als Ort optimaler Lernprozesse (ca. 1970) Ein großer Teil der heute unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrer hat den Unterricht besucht, der von der Bildungssreform der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts geprägt worden ist. Die Grundschulreform war, wie alle Schularten, Teil eines tiefgreifenden, strukturellen Umbaus des Bildungssystems, das nun einer Stufengliederung folgte, in der die Grundschule zum Primarbereich wurde, der an den Elementarbeich anschließt und dem die Sekundarstufen 1 und 2 folgen. Die konstatierte Reformbedürftigkeit begründete sich in den Herausforderungen des Lebens in einer demokratisch verfassten und fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Außerdem sollte sie dem erreichten Stand an erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Einsichten genügen. Alle Bildungsstufen sollten durch gemeinsame Elemente in einem inneren Zusammenhang stehen; dazu zählen: eine gemeinsame pädagogische Grundlinie im Lehrer-Schüler-Verhältnis, die Wissenschaftsbestimmtheit der Lerninhalte und ihrer Vermittlung sowie den frühen Ausgleich von Chancenungleichheit. Der Strukturplan für das Bildungswesen (1971), der die Empfehlungen der Bildungskommission veröffentlichte, forderte eine neue Qualität des Lernens. Dabei wurden allerdings die bisher gebräuchlichen Begriffe „Erziehung“ und „Bildung“ weitgehendst vermieden.14 Stattdessen wurden die Qualitäten des Lernens beschrieben, die den neuen Unterricht bestimmen sollten, zum Beispiel: • Wissenschaftsbestimmtes Lernen: Die Bildungsgegenstände aus Natur, Technik, Sprache, Politik, Religion, Kunst usw. sollen in ihrer Bedingtheit und Bestimmtheit durch die jeweiligen Bezugswissenschaften erkannt und entsprechend vermittelt werden. Das bedeuetete nicht, dass der Unterricht auf wissenschaftliche Tätigkeit oder auf Forschung abzielen sollte (vgl. Strukturplan 1973, S. 33). 14 Der Verzicht auf diese Begrife begründet sich in deren Missbrauch in der nationalsozialistischen Vergangenheit und in der nicht hinreichend geleisteten Aufarbeitung und Demokratisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft, was auch die Studentenproteste der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wesentlich begründete.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.4 Unterrichten im Kontext zeitgeschichtlicher Entwicklungen
97
• Lernen des Lernens: Dies ist die Konsequenz aus der Wissenschaftsbestimmtheit des Lernens und meint die Fähigkeit, immer wieder neu und weiter zu lernen, jedoch auf einem höherem Anspruchsniveau (vgl. Strukturplan 1973, S. 33f.). • Lernen und Leisten wird als unauflöslicher Zusammenhang gesehen, der beinhaltet, dass der gesellschaftliche Wettbewerb auf den Bildungsprozess des Kindes nicht übertragen werden darf. Die Leistungsforderungen in der Grundschule stehen vielmehr unter dem pädagogischen Prinzip der individuellen Förderung (vgl. Strukturplan 1973, S. 35). Die bildungspolitischen und pädagogischen Statements des ersten bundesdeutschen Grundschulkongesses in Frankfurt (1969)15 erteilten der von der Tradition bestimmten volkstümlichen Bildung sowie dem ungefächerten Gesamtunterricht der 20er Jahre eine klare Absage; sie plädierten für einen „szientifischen“ Charakter des Grundschulunterrichts. Dieser sollte sich durch „Sachlichkeit und Sachangemessenheit der Lerngegenstände und Verfahren“, durch fachspezifische, voneinander getrennte Lehrgänge und einen „rational bestimmten“ Sachunterricht auszeichnen. Wie anders zum Beispiel der Sachunterricht nun konzipiert wurde, kann am Beispiel ‚Einkaufen‘ erfasst werden.
Arbeitsaufgaben Unterrichtsbeispiel: „Einkaufen“ (www.utb-shop.de/9783825251130 ) 1. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der damaligen Lebenssituation der Schüler/innen und dem Unterrichtsthema? Wie wird die Lebenssituation aufgenommen? 2. Welche Teilinhalte hat das Unterrichtsthema? 3. Welche Lernziele werden verfolgt und welche Lernzielstufen kann man erkennen: Reproduktion – Reorganisation – Transfer – problemlösendes Denken? 4. Wie lernen und arbeiten die Schüler/innen? Welches sind die konkreten Unterrichtsergebnisse ?
15 Die Neukonzeption der Grundschule (des „Primarbereichs“) etablierte sich auf unterschiedlichen Ebenen und Bereichen als feste Größe: regelmäßig stattindende Bundes- und Regionalkongresse zu Reformthemen, Zusammenschluss und Organsiation vieler Grundschullehrkräfte im Arbeitskreis GS e.V. mit entsprechenden Publikationsorganen, Akademisierung der Ausbildung und Integration des Studiengangs an die Universitäten (Ausnahme Baden-Württemberg.) Hier erfolgte ein Ausbau der Pädagogischen Hochschulen zu „Universitäten für Bildungswissenschaften“.
98
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.4.4 Fehlentwicklungen – ungewollte Nebenwirkungen Dieser „neue“ Unterricht zeigte jedoch in den Folgejahren bereits Fehlentwicklungen, deren Auswirkung die Schulpraxis und das Selbstverständnis der Grundschullehrerschaft bis heute beeinflussen und sich auch in modernen wie digitalen Formen finden (vgl. Wittenbruch 1997, S. 8): 1. Die Empfehlungen des deutschen Bildungsrates hatten eine Wissenschaftsorientierung des Unterrichts gefordert, die allerdings „Hand in Hand“ mit einer „stärkeren Pädagogisierung der Schule“ gehen sollte (Strukturplan 1973, S. 37). Die Nichtbeachtung dieser Bedingung führte zu verhängnisvollen Verkürzungen, die wir bis heute wahrnehmen als stoffliche Überfrachtung von Lehrplänen und Schulbüchern, als Verlängerung der Schulfächer der Sekundarstufe in die Grundschule, als einen verengten, von Zweckrationalität bestimmten Lernbegriff und als überfordernde, inhaltsleere Fachbegrifflichkeit. 2. Die Verfeinerung der Lernziele und die exaktere Überprüfbarkeit der Lernergebnisse sowie die damit verbundenen, zum Teil sehr detailierten, engen Vorgaben für die Unterrichtsplanung führten zwar einerseits zu einem klaren, eindeutigen und sachlogischen Unterrichtsaufbau, doch zugleich auch zu einer Engführung und Schematisierung der Lehr- und Lernprozesse. 3. Die einsetzende Flut an Arbeitsblättern, die heute aufgrund der digitalen Verfügbarkeit so manchen Grundschulklassenraum zum einzigen gesellschaftlichen Ort der Vollbeschäftigung macht, verdrängte zunehmend das Werkschaffen aus dem Unterricht, d.h. die Kinder sind wenig darin geübt, einen Hefteintrag zu gestalten, eine Sachzeichnung zu fertigen oder gewonnene Erkenntnisse mit eigenen Mitteln festzuhalten. Der ökonomische Umgang mit Lernzeit führte zu einer (Weg-)Rationalisierung des Unterrichtslebens. 4. Dies ging „einher mit einer abschätzigen Interpretation des „pädagogischen Bezugs“ oder der „Grundschule als Schule des Kindes’, die als Formel für eine überholte pädagogogische Auffassung eingestuft wurde“ (Wittenbruch 1997, S. 8). 5. Zugleich wurde die Abkehr von einer Grundschule „als einer Lebensstätte des Kindes“ und damit auch von der Reformpädagogik vollzogen, die pauschalierend, vielleicht auch arrogant und ignorant als lediglich „ganzheitlich-organologisch“, präfaschtoid und ideologisch eingeschätzt wurde. Die sich abzeichnenden, bis heute wirksamen Folgeerscheinungen wurden bald benannt. So urteilte Hartmut v. Hentig wenige Jahre später in die Reformeuphorie hinein: „Die Reform war nicht radikal genug!“ Er meinte, nicht pädagogisch genug, denn: „Vor allem aber hat die pädagogische Reform ihren Kniefall vor der Ökonomie gemacht: sie hat nicht wirklich glauben mögen – und sie tut es bis heute nicht, dass es letztlich andere als wirtschaftliche Maßstäbe des Erfolgs gibt“ (1979, S. 39). Auch Andreas Flitner (1981) bejahte zwar die Notwendigkeit der durchgeführten Grundschulreform, plädierte jedoch zugleich dafür, dass be-
2.5 Die gegenwärtige Reformdynamik
99
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
stimmte Erscheinungsformen einer vernunftgeleiteten Auseinandersetzung bedürfen. Vor allem stellte er die Kernfrage: Erziehen oder verändern wir lediglich die Kinder? Werden sie als veränderbare Objekte gesehen oder als Subjekte, die den Unterricht als soziales Miteinander mitgestalten dürfen?
2.5 Die gegenwärtige Reformdynamik Medien zeigen stets großes Interesse an bildungspolitischen Statements und sensationellen Meldungen über schulische Belange. Sie berichten zum Beispiel über Unterrichtsversorgung, über Leistungserfolge und -versagen, über besondere Projekte, sie führen Klage über Dauerprobleme und präsentieren bisweilen Lösungen, die wegen ihres Heilsversprechens aufhorchen lassen. Insbesondere die Printmedien (meist Lokalseiten von Tageszeitungen) öffnen der breiten Öffentlichkeit ein Fenster in Unterricht und Schule, durch das sie gerne und aufmerksam blickt.
Arbeitsaufgaben 1. Sammeln Sie Zeitungsmeldungen über Unterricht in der Tagespresse oder in Illustrierten in einem bestimmen Zeitraum. 2. Was wird berichtet? Achten Sie auf Überschrfit, Textart und Darstellungsmittel. 3. Diskutieren Sie die unten vorgeschlagenen Lösungen kritisch. Unruhige, hyperaktive Schülerinnen und Schüler finden sich in vielen Klassen. Sie sind bereits die Zielgruppe so mancher, sich oft widersprechender unterrichtlicher Maßnahmen und medizinischer Behandlung (z. B. Verabreichung des Medikaments Ritalin). Unten stehende Zeitungsmeldung wartet nun mit einer neuen „Sensation“ auf: Die Gewichtsweste vgl. Abb. 2.9)! Der Erfindergeist menschen- bzw. kinderverachtender „Hilfsmittel“ gehört in die Schranken gewiesen. Er erinnert in fataler Weise an die sogenannte „Schwarze Pädagogik“ des 18. und 19. Jahrhunderts, die für Zwang, Gewalt und Einschüchterung als Erziehungsmethoden steht und so manche disziplinierende Kinderfolter hervorgebracht hat (zum Beispiel den Schreberschen „Geradehalter“, bestehend aus Gurten und Stangen, um Kopf und Oberkörper zu fixieren). Die folgenden „Zeitungsmeldungen“ wurden von Studierenden verfasst. Auch sie thematisieren darin die Suche nach Unterstützung im Unterrichtsalltag.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
100
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
Abbildung 2.9: Schülerin mit Gewichtsweste
Zappeln war gestern Einfach ein breites Gummiband unter die Tische spannen! Im Klassenzimmer oder zu Hause. Und schon können die Kinder die motorische Unruhe ihrer Beine abreagieren und bezwingen.
Spender für Gummibänder lassen sich leicht gewinnen. Überzeugen Sie sich von der sensationell wirkenden Hilfe! Machen Sie das hyperaktive Kind glücklich!
Unser bester Lehrer ist ein Hund Die Grundschulkinder in N. lieben Jimmy, ihren Schulhund. Und der hat nach den Sommerferien einen wichtigen Job bekommen: Er arbeitet als ‚Lesehund‘. Jimmy besucht die Leseförderkinder, während sie Lesen üben. Als geduldiger Zuhörer hört er sich an, wie die Kinder ihre Texte erlesen und wiederholen, bis
sie diese flüssig und betont lesen können. Das Besondere an Jimmy ist, dass er keine Lesefehler verträgt. Nur wer fleißig übt, kann verhindern, dass ihm übel wird. Man beobachtet übrigens, dass sich die Kinder beim Lesenüben in Gegenwart ihres vierbeinigen Freundes viel mehr anstrengen.
Jenseits der Tagesmeldungen widmen sich selbstverständlich ernsthaft Generationen von Fachbüchern, Fortbildungsveranstaltungen und Studienseminaren der Reform von Unterricht/Unterrichten. Da dieser Band keine systematische Aufarbeitung leisten kann, sei wenigstens der Versuch gemacht, wesentliche Reformschübe zu skizzieren, zumal sie alle auf die Lehrergenerationen einwirkten und einwirken, das Unterrichten mehr oder weniger prägen, aber vor allem
2.5 Die gegenwärtige Reformdynamik
101
das Verhältnis der Lehrerschaft zu neuen Reformen und damit das Reformklima an Schulen nachhaltig bestimmen.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.5.1 Den Unterricht verbessern „Den Unterricht verbessern“16 – das heißt, zu dem machen, was und wie er seiner Bestimmung nach sein soll. „Verbessern ist eine idealistische Denkfigur. Sie setzt einen bleibenden Maßstab voraus, den die Wirklichkeit, also die Erscheinungen und Phänomene, nie erreicht, dem sie sich nur annähert“ (v. Hentig 1993, S. 169). Verbesserungsmöglichkeiten Dies mag die Notwendigkeit erklären, weshalb Unterricht – wie die Schule insgesamt – ständig verbessert werden kann, ja muss. Die Verbesserung von Unterricht kann sich auf vieles beziehen, zum Beispiel: die Alltagsroutinen durchbrechen • methodische Schritte verändern, • ein aktuelles Thema aufnehmen, • die Materialaufbewahrung benutzerfreundlicher organisieren, • die Aufgaben sprachsensibel formulieren, • die Aufgabenfolge und die zur Verfügung gestellte Lernzeit besser aufeinander beziehen, • das Unterrichtsende ohne Zeitdruck gestalten, die Lernerfahrungen der Schüler/innen gezielt erweitern • Kontakt zu Kinder-/Jugendbuchautor/in aufnehmen (Autorenlesung), • Projekte (mit Interviews usw.). im Rahmen des Sachunterrichts arrangieren und einen besonderen Fähigkeitsnachweis erwerben, • ein Projekt mit Experten (z.B. Theaterprojekt) organisieren und gemeinsam durchführen, • eine besondere Qualifikation erreichen (z.B. Fahrradführerschein durch Mitwirkung der Polizei), meine eigenen Unterrichtserfahrungen erweitern über • intensiveren Austausch mit Kolleg/innen meiner Jahrgangsstufe, • Anregen, einen Fortbildungs- bzw. pädagogischen Tag zu einem interessanten Thema durchzuführen, • Unterrichtshospitation bei Kolleg/innen zu gemeinsam erarbeiteten Unterrichtseinheiten, 16 Die Kennzeichnung der Reformansätze orientiert sich an H. von Hentig (1993).
102
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
• Versuch, mit Parallelkolleg/innen Teamteaching in bestimmten Unterrichtseinheiten zu wagen, • Auffrischen meiner Kenntnisse im Spielen eines Musikinstruments, • Neues wagen (z.B. Pilze züchten mittels eines Strohballens mit angelegter Pilzkultur).
Silvia B., 32 Jahre, 5 Dienstjahre Als ich nach zwei Jahren wieder eine fünfte Klasse übernahm, dachte ich: Wie gut, dass ich im letzten Durchgang meine Vorbereitungsordner so gewissenhaft geführt habe. Da kann ich jetzt aus dem Vollen schöpfen. Das war erst einmal ein gutes Gefühl. Die Unterrichtsverläufe, die verwendeten Medien, ja auch die Arbeitsblätter waren ja schon da! Wie viel Zeit hatte ich doch investiert, dies alles zu erarbeiten! Ich war froh, dass ich nach dem Unterricht immer vermerkte, was gelungen war, was nicht so gut ankam. Auch Änderungsideen und Schülerkommentare aus den Reflexionsrunden hatte ich mir notiert. In der neuen Klasse wollte ich manches besser machen und mich im Stufenteam engagieren und austauschen! Auch wollte ich endlich Gitarre spielen lernen.
2.5.2 Den Unterricht verändern Unterricht verändern kann die Folge von Verbessern sein, dann nämlich, wenn das Verbessern verstetigt werden soll und dafür wichtige Voraussetzungen geschaffen werden. Dies zeigt sich zum Beispiel darin, dass • für die aktuellen und persönlichen Themen der Schülerinnen und Schüler bewusst Raum geschaffen wird und wenigstens einmal in der Woche ein Forum stattfindet, für das sie ihr Thema anmelden und ihren Beitrag der Klasse vorstellen können (z.B. über ein Hobby, eine besondere Fähigkeit berichten); • der Klassenraum mit einem zusätzlichen Tisch und Stühlen ausgestattet wird. Daraus kann eine ‚Lerninsel‘ entstehen, an der die Schüler/innen Platz nehmen können, die eine Aufgabenstellung noch nicht verstanden haben oder für die der Sachverhalt aus dem vorausgegangenen Unterricht nicht hinreichend geklärt ist. Hier können sie mit der Unterstützung der Lehrperson, einer helfenden Fachkraft, oder einem Mitschüler rechnen. Dann kann es in der Klasse zur Regel werden, dass niemand das Klassenzimmer mit einer ungeklärten Aufgabe und mit Angst vor Versagen verlässt; • Lernorte außerhalb des Klassenzimmers regelmäßig aufgesucht und erkundet werden (vgl. Abb. 2.10 und 2.11);
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.5 Die gegenwärtige Reformdynamik 103
Abbildung 2.10: Sich als Stadtführer oder Stadtführer qualifizieren
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
104
Abbildung 2.11: An einem besonderen Ort von und mit einem Experten lernen
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
2.5 Die gegenwärtige Reformdynamik
105
• dass mit Experten von außerhalb eine Kooperation gelingt (z. B. „KinderKönnenKunst“ – eine regelmäßige Kooperation mit Künstlerinnen und Künstlern an einer Grundschule mit hohem Migrationsanteil).
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.5.3 Den Unterricht ‚neu‘ denken Es gibt aber auch tiefer greifende Gründe für Veränderungen von Unterricht, nämlich solche, die als umfassendere Antwort auf die gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen, die Veränderungen in der Lebenswelt sowie die wachsende Kritik an den starren, technizistisch geprägten Unterrichtskonzepten zu verstehen sind. Gleichsam im Windschatten der Kritik haben sich immer wieder anders akzentuierte Veränderungswellen herausgebildet und ihre „followers“ gefunden, die euphorisch deren Veränderungspotenzial priesen. Im folgenden werden drei veränderungswirksame Reformbewegungen ausgewählt und im Ansatz erläutert: „Offener Unterricht“ Mit dem Begriff ‚Offener Unterricht‘ verbinden sich seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts vielgestaltige Veränderungsbemühigen. Sie wandten sich gegen die Verschlossenheit der Schule gegenüber den Kindern/Jugendlichen, ihrer Gegenwart, ihrer Lebenswelt, ihren Interessen und gegenüber den zeitgeschichtlich-gesellschaftlichen Herausforderungen. „Macht die Schule auf, laßt das Leben rein!“17 war einer der Slogans. Wie ein an alle Schulen gerichteter Weckruf mahnte er, die Schüler/innen aus der permanenten Lehrersteuerung, der Fremdbestimmung, den von außen gesetzten Lernthemen zu befreien und ihnen einen Subjektstatus zuzugestehen. Das gesetzte Reformthema ‚Öffnung‘ löste vielfältige Initiativen aus und mobilisierte wie kaum ein anderes die Veränderungsbereitschaft vieler Lehrerinnen und Lehrer. In einer Fülle von Publikationen, Fachzeitschriften und praktischen Handreichungen wurde die Thematik bearbeitet und über Erfahrungsberichte ihre Machbarkeit bestätigt und dazu motiviert. So mancher Klassenraum wurde nun in einen strukturierten Lernraum umgestaltet, mit Arbeitsmaterialien ausgestattet, die Zeitabläufe wurden flexibel gehandhabt, aktivierende und partizipative Lernweisen berücksichtigt. Die Erwachsenen öffeten sich zunehmend den Schüler/innen, ihrer Art zu lernen, ihren Fragen und ihren Bedürfnissen. Diejenigen jedoch, die mit der Schulgeschichte, den Reformthemen und mit reform17 Der Bestseller „Macht die Schule auf, lasst das Leben rein!“ mit dem Untertitel „Von der Schule zur Nachbarschaftsschule“ (von Zimmer, Jürgen und Niggemeyer, Elisabeth) erreichte einen Kultstatus. Die Initiativen der engl. Community Bewegung aufnehmend gilt er bis heute als eindrückliches Beispiel einer Öfnung von Unterricht und Schule.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
106
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
pädagogischen Konzepten (z.B. Célestin Freinet) vertraut waren, konnten nun erleben, wie die Thematik ‚Öffnung‘ als neue schulpädagogische Erfindung propagiert wurde. In der theoriegeleiteten und kritischen Auseinandersetzung mit der Umsetzungsvielfalt, der Problemgeschichte und mit der meist damit verbundenen Pendelbewegung ‚von geschlossen zu offen‘ wurden unterschiedliche Studien vorgelegt: Es wurden die historischen Wurzeln der Unterrichtsöffnung freigelegt (z.B. Schernikau 1995); die Unterrichtsrealität wurde in quantitativen (z.B. Hartinger 2005) und qualitativen Studien (z.B. Röbe 1986) untersucht und in eine kritische Auseinandersetzung mit den Wirkungen und ungewollten Nebenwirkungen eingeholt (z. B. Kasper/Haarmann 1989, Lipowsky 2000). „Guter Unterricht“ Während sich ‚Offener Unterricht‘ als sogenannter Antibegriff zum Prinzip des Geschlossenen definierte, trat ‚Guter Unterricht‘ mit einem Qualitätsanspruch an, der ebenfalls mit recht divergenten Vorstellungen und Kriterien verbunden war. Die kritischen Fragen richteten sich nun auf die Faktoren von Unterrichtsqualität, auf die Kriterien, die Unterricht zu erfüllen habe und auf die Wertmaßstäbe, die dabei angelegt werden. Franz E. Weinert (1998)18 formulierte mögliche Beurteilungskriterien. Exkurs: Beurteilungskriterien nach Weinert 1. AKTIVES LERNEN DURCH MOTIVIERENDEN UNTERRICHT „Menschen lernen explizit das und nur das, worauf sich ihre Aufmerksamkeit bewusst oder unbewusst richtet. Gelernt wird als das, was aufmerksam wahrgenommen wird, und jenes, womit man sich intensiv auseinander setzt“ (Weinert 1998, S. 9). Guter Unterricht kann sich folgedessen dort entwickeln, wo es gelingt, inhaltsbezogene Interessen zu aktivieren, subjekthaft bedeutsame Leistungsanreize und emotional verankertes Lernengagement zu wecken. Der Motivationsforschung zufolge entfalten auch extrinsische Anregungen, Anreize und Anerkennungen eine Wirkung, ohne in Widerspruch zu intrinsischen Motiven zu geraten und diese außer Kraft setzen zu können bzw. zu müssen.
18 Franz E. Weinert (1930-2001) hat die deutsche Bildungsdiskussion und -reform wesentlich geprägt. Als Lehrstuhlinhalber für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie hat er u.a. diese beiden Bereiche besonders wirkmächtig geprägt.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.5 Die gegenwärtige Reformdynamik
107
2. SYSTEMATISCHES, VERSTÄNDNISINTENSIVES UND LEISTUNGSORIENTIERTES LERNEN DURCH SYSTEMATISCHEN LEHRERZENTRIERTEN UNTERRICHT „Das Ausmaß der aktiv, motiviert und engagiert verbrachten Lernzeit ist die notwendige Bedingung der Möglichkeit erfolgenreichen Lernens“ (Weinert 1998, S. 11). Im Gegensatz zum bornierten Pauk- und Frontalunterricht, in dem die Lehrperson der alleinige Akteur ist und die Schüler/innen die Rolle der passiven, sich mechanisch zu verhaltenden Rezipienten haben, bedarf guter Unterricht der direkten Unterweisung. Direkte Unterweisung baut auf die verfügbaren Vorkenntnisse der Schüler/innen auf, ist bezüglich Lerntempo, Schwierigkeitsgraden und Medien adaptiv, achtet auf die Leistungsschwächeren, ohne dass die schneller Lernenden „festgehalten“ werden. 3. IMPLIZITES LERNEN DURCH EINEN VARIABLEN ARTIKULATORISCHEN UNTERRICHT „Im Unterricht muss Vieles gelernt werden, was nicht direkt gelehrt werden kann“ (Weinert 1998, S. 12). Diese Einsicht weitet den Blick auf zentrale Momente des Unterrichts, wie zum Beispiel: Lernen lernen: Es lenkt die Aufmerksamkeit auf vom Lernergebnis auf den Lernprozess und den Lernweg. Wie lernen Kinder? Welche Strategien wenden sie an? Welche Zugriffsweisen entwickeln sie? Welche Lerntechniken helfen ihnen, Wissen zu erwerben und zu behalten? Gelerntes anwenden: Der Vorwurf vieler Schüler/innen, dass sie für die Schule und nicht für das Leben lernen würden, resultiert aus der Tatsache, dass das erworbene Wissen systematisch-disziplinär und nicht situativ aufgebaut und gespeichert wird. Den damit verbundenen ‚Anwendungsschwierigkeiten‘ kann dort begegnet werden, wo in Formen des Projektunterrichts Alltagssituationen mit dem erworbenen Wissensfundus bearbeitet werden, wo Schulleben mit schulisch erworbenen Können gestaltet wird, wo Fragen mit schulischem Wissen verknüpft und für die Beantwortung herangezogen werden. Erwerb sozialer Kompetenzen: Das soziale Setting der Klasse ist als permanentes soziales Erfahrungsfeld gegeben. Will es sozialerzieherisch wirksam sein, bedarf es einer Lehrperson, die eine aufklärerische, bewusstseinsbildende Funktion wahrnimmt und sich als Beispiel für soziales Lernen versteht. Aufbau eines positiv-realistischen Selbstwertgefühls durch die Anwendung eines sachbezogenen und individuellen Beurteilungsmaßstabs sowie die „Entkoppelung von Lern- und Leistungssituationen“ (Weinert 1998, S. 16), damit die Lernatmosphäre nicht unter permanentem Prüfungsdruck und damit verbundener Versagensangst leidet.
108
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
„Kompetenzorientierter Unterrricht“ Seit internationale Schulleistungsstudien wie TIMSS und PISA ab 1995 gezeigt haben, dass deutsche Schüler/innen in der mathematisch-naturwissenschaftlichen wie muttersprachlichen Bildung19 nur über mittelmäßige Kompetenzen verfügen, steht das Bildungswesen mit all seinen standespolitischen, schul- und professionalisierungstheoretischen Implikationen auf dem Prüfstand. Die ausgelöste Debatte sollte der Bildungspolitik, den Lehrerinnen und Lehrern wie den Eltern die Augen dafür öffnen, wie problematisch sich unser schulisches Lernen und dessen Erfolg angesichts internationaler Konkurrenz erweist. Die Konsequenzen ließen nicht lange auf sich warten: 1997: Vereinbarung der KMK, dass das deutsche Bildungssystem regelmäßig an internationalen Vergleichsuntersuchungen teilnimmt. 2001 und 2006: Teilnahme an IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung); 2007: Teilnahme an der TIMS-Studie für die Viertklässler (Mathematik und Sachunterricht). Parallel zu den internationalen Studien wurden nationale Ergänzungsstudien durchgeführt und dies auch auf der Ebene der Bundesländer. Mitten in den Erhebungen wurde bereits 2004 die „Reißleine“ gezogen: Es wurden von der KMK die Bildungsstandards für alle 16 Bundesländer verabschiedet. Über die Formulierung von Kompetenzen wurde der Anschluss an die internationale Entwicklung angestrebt und die Unterrichtsqualität auf länderübergreifende Bildungsstandards bezogen. Der Kompetenzerwerb in den Lernbereichen avancierte nun zum großen Thema. Es geht in den Bildungsbereichen nicht mehr um Inhalte, sondern um Kompetenzen, die die Schüler/innen in einem gewissen Zeitraum erreichen sollen. Bildungsstandards prägen zugleich die Aufgabenkultur, die die Bildungschancen und Lerngelegenheiten bieten soll, die zum Kompetenzerwerb führen. Der vieldeutige Leistungsbegriff wird auf Vorschlag der OECD durch das Konzept der Kompetenz ersetzt: „Dabei versteht man unter Kompetenzen die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivatitionalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert 2002, S. 27 f).
19 Eine kritisch konstruktive Auseinandersetzung mit Leistungsmessungen auf internationalem und nationalem Niveau und ihrer Bedeutung für die Qualitätsentwicklung von Schulen ist z.B. enthalten in: Weinert, Franz E./Helmke, Andreas (Hrsg.)(1997): Entwicklung im Grundschulalter. Weinheim und Basel. Weinert, Franz E. (Hrsg.)(2001): Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim und Basel.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
2.6 Bedeutung der Lehrperson
109
Diese Entwicklungen sind seitdem wirksam und bestimmend geworden: Bildungspläne, Schulbücher und Lernmaterialien übersetzen die Kompetenzorientierung in die Lernbereiche, Lehrerfortbildungsveranstaltungen offerieren die neuartige Orientierung den Lehrkräften, Erziehungswissenschaftler/innen arbeiten an Konkretisierungen, entwerfen Aufgabenkulturen und erheben Ergebnisse in den Kulturen des Erforschens, des Erklärens und des individualisierenden Lernens und Leistens.20 Um wieviel anspruchsvoller und zugleich didaktisch herausfordernder nun Unterricht entwickelt werden soll, soll wiederum am themengleichen Beispiel des „Einkaufens“ deutlich werden.
Arbeitsaufgaben Beispiel (Projektentwurf) „Einkaufen im Supermarkt“ (www.utb-shop.de/97838 25251130) 1. Welche Beziehung haben die Schüler/innen zum Einkaufen im Supermarkt? 2. Mit welchen Strategien sollen sie den Supermarkt aus Kundenperspektive erkunden, um sein Verführungspotenzial zu durchschauen (Struktur, des Supermarkts, Einkaufsfallen, räumliche Verteilung des Warenangebots)? 3. Wie setzen die Schülerinnen und Schüler sich mit Werbung und deren Wirkungsweise auseinander? 4. Neben dem Supermarkt werden noch andere Einkaufsmöglichkeiten genutzt. Welche Vorteile bzw. Nachteile sind damit verbunden? (Über die Internetadresse sind noch weitere Unterrichtsbeispiele zugängig.)
2.6 Bedeutung der Lehrperson für das Gelingen von Unterricht In der Diskussion um ‚Guten Unterricht‘ und ‚Kompentenzorientierung‘ richtete sich zunehmend der Fokus auf die Lehrperson und deren Einfluss auf den Lernfortschritt der Schülerinnen und Schüler. Die erfahrungsbasierte, jedoch plausible Aussage „Auf die Lehrer kommt es an!“ ergriff nun in der Debatte Raum. Doch es war nicht mehr hinreichend, ja es galt als unzeitgemäß, von Lehrerpersönlichkeit, Authentizität und Glaubwürdigkeit zu schwärmen und einzufordern. Es mussten vielmehr diese tradierten Kriterien in Professionalitätskategorien überführt und über empirische Studien die Evidenzbasiertheit erreicht werden: 20 Vgl. z.B. GRUNDSCHULE (2008), Heft 4: Mit guten Aufgaben rechnen sowie Heft 10: IGLU. Befunde aus der Forschung – Konsequenzen für die Praxis; Kompetenzen und Kompetenzentwicklung von Lehrerinnen und Lehrern (2006): Ausbildung und Beruf. Zeitschr. für Päd., 51. Beiheft. April. Weinheim und Basel.
110
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
2.6.1 Das Kompetenzprofil
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1. Über ein Tableau von Kompetenzen21 soll die Lehrperson die ihr zugemuteten Aufgaben professionell erfüllen. Renate Girmes (2006, S. 18) zum Beispiel erwartet von einer erziehungswissenschaftlich fundierten Lehrerbildung, dass sie folgendes Kompetenzprofil vermittelt: Diagnostische Kompetenz 1. Lernmöglichkeiten der Adressaten wahrnehmen und berücksichtigen 2. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die eigene Lehrtätigkeit klären Institutionelle Kompetenz 3. Arbeitsbedingungen in Lehrorganisationen und Bildungbereichen von Unternehmen klären und verantwortliche mitgestalten 4. Lernumgebungen/Lernräume gestalten Curriculare Kompetenz 5. Lehrvorhaben sachgerecht und kompetenzorientiert klären und konzipieren (dimensionieren) 6. Lernaufgaben adressaten- und sachgerecht formulieren/Lehr-Lern-Mittel und Medien herstellen Methodische Kompetenz 7. Lehr- und Lernprozesse (Artikulationen) gedanklich, material, medial und in der Zeit vorplanen; Anfänge/Inszenierungen finden Personell-kulturelle Kompetenz 8. In Lernsituationen den eigenen Vorhaben und Prinzipien entsprechend handeln und sprechen 9. Prinzipien für die eigene Rolle/für eigene Haltung gegenüber dem Lernenden finden Reflexive und evaluative Kompetenz 10. Formen der prozessbegleitenden und ergebnisbezogenen Erhebung von Lernund Lehrergebnissen zur Reflexion und zum Lernen nutzen und Ergebnisse im Blick auf Kriterien bewerten.
Die Kompetenzbeschreibung zeigt eine strenge Konzentration auf den Zusammenhang von Lehren und Lernen. Sie verzichtet damit nicht nur auf den traditionellen Zusammenhang von Erziehung und Unterricht, sondern auch auf „die personale und interpersonale Verfasstheit des Pädagogischen“, auf die
21 Eine auf Kompetenzen sich gründende Lehrerprofessionalität muss in einem demokratischen Bildungssystem im Hinblick auf deren Wertehorizont dimensioniert werden. Die Argumentation von Renate Girmes (2006) versucht diesen Anspruch einzulösen.
2.6 Bedeutung der Lehrperson
111
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
„tragende Bedeutung von Beziehung für das Lernen“, auf die „gemeinsame Gerichtetheit von Lehrer und Schüler auf die Objektivationen der Kultur“, „auf die Tatsache, dass der Lehrer als Person für den Kulturgegenstand steht, den er vermittelt“ (vgl. Krautz/Schieren 2013, S. 9ff.). 2. Das zweite Anliegen in der Erforschung der beruflichen Leistungsfähigkeit von Lehrern seit den 1990er Jahren galt dem quantitativen Nachweis, wie stark der Einfluss des Lehres auf die Lernleistung der Schüler/innen ist. Über den sogenannten „value-added approach“ wurde in genauen Analysen untersucht, „wie stark sich die Lernzuwächse auf etwa regionale Faktoren, einzelschulische Faktoren oder eben Lehrerfaktoren durchgesetzt haben. Die Lernzuwächse der Schüler/innen sind gewissermaßen der Wert, den Lehrer, Schulen und Bezirke dem Ausgangs-Lernstand hinzufügen“ (Terhart 2006, S. 71). Es folgte eine breite Rezeption einschlägiger Forschungsarbeiten.22 Allerdings interessierte die Lehrerleistung die empirische Bildungsforschung primär in der Form ihrer Lern- und Unterrichtsmethoden, ihrer strukturellen und curricularen Bedingtheit, in der Passung von Lehr- und Lernstilen. Was bedeutet es jedoch, wenn der Blick auf unterrichtliches Lernen lediglich den „output“ fokussiert, wenn sich Schule auf die getesteten „Hauptfächer“ verengt, wenn künstlerische, handwerkliche, sozialerzieherische Aktivitäten zu Marginalien werden, wenn kommerzialisierte Trainingsprogramme das Lernen instrumentell verflachen, wenn jede Minute für Kopfarbeit verwendet wird, wenn sich die Aufgabenformate als „teaching to the test“ modellieren, wenn die Vielfalt und Verschiedenheit der Schüler/innen sich primär im Testranking abbildet? (vgl. Kap. 4). 2.6.2 Die fundamentale Bedeutung der Lehrperson „In dir muss brennen, was du in anderen entzünden willst.“ Augustinus Aurelius (354-430)
Mitten hinein in die Debatte um die Leistungsmisere avancierte, fast unbemerkt vom Diskussionseifer um die Kompetenzorientierung, der französische Film Etre et Avoir zu einem Kassenschlager und unerwartet zum Sehnsuchtsfilm und Publikumserfolg.
22 Vgl. z.B. die periodische Veröfentlichung von Forschungsarbeiten der AMERICAN EDUCATIONAL RESEARCH ASSOCIATION.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
112
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
Gekrönt als bester französischer Film des Jahres 2002 faszinierte offensichtlich die Nachzeichnung des Alltags in einer französischen einklassigen Dorfschule in langsamen, unspektakulären und eindrücklichen Bildern die Zuschauer (vgl. Klein 2002). In dem Film tritt die Verlässlichkeit eines Lehrers hervor, die sich in einer achtungsvollen Beziehung zu jedem seiner Schüler zeigt, der mit Hilfe von Ritualen einen störungsarmen Schulalltag ermöglicht, der einen ruhigen Umgang mit seinen Schülerinnen und Schülern in intersubjektiver Anerkennung pflegt, der im gemeinsamen Gespräch Konflikte argumentativ aushandelt, mit Gewalt und Aggression der Schüler/innen konstruktiv umgeht und dem selbst in Leistungssituationen respektvoll realistische Rückmeldungen gelingen (vgl. Klein 2002, S. 175). „Der Fokus liegt auf Monsieur Lopez, seiner gewissenhaft unprätentiösen Art und Weise den Lehrberuf auszuüben und Kinder in die „Schule des Lebens“ einzuweihen“ (Klein 2002, S. 176). Die Schule zeigt sich als „Kultivierungsraum“, in dem alles seinen Ort hat und in dem der Lehrer auf die Einhaltung der räumlichen, zeitlichen und verhaltensbezogenen Ordnung bedacht ist. „Der Filmlehrer kultiviert nicht nur den Schulgarten, sondern auch die Schulkinder“ (Klein 2002, S. 180) mit gewissenhafter Selbstverständlichkeit und sehnsuchtweckender Nachsicht, Güte, Einfühlung und Zuneigung. Gerade weil es sich um eine Realreportage mit filmischer Komposition handelt, lassen sich zentrale Fragestellungen an die Wirkungsanalyse seiner Art von Unterricht stellen:
Arbeitsaufgaben 1. Wie unterrichtet Monsieur Lopez? Altmodisch? Modern? 2. Kann man M. Lopez als kompetenten Lehrer bezeichnen? Versuchen Sie, die Kriterien von Girmes (2006) anzuwenden. 3. Was wird vom Kompetenzprofil nicht abgedeckt bzw. gar nicht gesehen? Als 2009 John Hattie seine Metastudie23 vorlegte, in der er nach den wirkungsvollsten Einflussfaktoren auf Lernen fragte, schien die Lehrperson in seiner fundamentalen Bedeutung für das Lernen endgültig wissenschaftlich wiederentdeckt und rehabilitiert. In der Diskussion seiner Ergebnisse wird zentral daran festgehalten, dass sich einige der effektstärksten Einflussfaktoren von Lernen auf Kompetenzen der Lehrperson beziehen im Hinblick auf ihre „Persönlichkeit, ihre Beziehungsfähigkeit und ihre fachlichen und methodischen Kompetenzen“ (Hattie 2016, S. 6). Der Metastudie zufolge zeigen „Experten-Lehrpersonen“ folgende 23 In dieser Studie verarbeitete J. Hattie über 900 Metanalysen unter Einbezug von 50.000 Einzelstudien mit der Frage nach den wirkmächtigen Einlussfaktoren auf den Lernerfolg (vgl. Hattie, John (2009): Visible Learning. A Synthesis of over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement. London – New York.
Literatur
113
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Profilmerkmale: optimale Klassenführung, positives Klassenklima, FeedbackKultur, Respekt, Wertschätzung und Leistungszuversicht für die Schülerinnen und Schüler, Fachexpertise und situative Anpassung, positive Lernergebnisse auf der Wissens- und Könnensebene wie auf der Ebene des Sozialen, Motivationalen und des Vertrauens in die Selbstwirksamkeit (vgl. Hattie 2016, S. 28ff.). Der wohl bedeutsamste Impuls der Hattie-Studie könnte darin liegen, dass sie hilft, die Lehrperson als die nachhaltigste Erfahrung von Unterricht wiederzuentdecken. Ihr zufolge ist sie die eindrücklichste Probe dessen, wie Erwachsene mit den Schülerinnen und Schülern die Aufmerksamkeit auf die Welt richten, wie sie Lernprozesse und Lernsituationen gestalten, welches Beispiel eines sich bildenden, verantwortlich handelnden und sich selbst bestimmenden Menschen sie vermitteln, wie sehr sie auf der Beziehungsebene Nähe und Distanz leben. Wenn es der einzelnen Lehrperson gelingt, mit gleichgesinnten Kolleginnen und Kollegen zu kooperieren, ja gar im Team ein gemeinsames Unterrichtsverständnis zu entwickeln, das in das Schulkonzept gestaltend hineinwirkt und daran beteiligt ist, ein unverwechselbares Schulprofil auszubilden, dann können das oft beklagte Einzelkämpfertum und der Kräfteverschleiß beim Angehen von Widerständen arbeitsteilig bewältigt und mit wechselseitigem Mutmachen überwunden werden. Ein anschaulicher Beleg solch „solidarischer Professionalität“ zeigen zum Beispiel jene Schulen, die jährlich aufgrund der Initiative der Robert Bosch Stiftung und der Heidehof Stiftung mit dem „Deutschen Schulpreis“ ausgezeichnet werden. Literatur Allemann-Ghionda, Cristina/Terhart, Ewald (Hrsg.) (2006): Zeitschrift für Pädagogik. 51. Beiheft: Kompetenzen und Kompetenzentwicklung von Lehrerinnen und Lehrern: Ausbildung und Beruf. Weinheim und Basel. Bollnow, Otto F. (1978): Vom Geist des Übens. Eine Rückbesinnung auf elementare didaktische Erfahrungen. Freiburg i.B.. Deckert-Peaceman, Heike/Seifert, Anja (Hrsg.)(2013): Die Grundschule als Ort grundlegender Bildung? Beiträge zur Neuverortung der Grundschulpädagogik. Bad Heilbrunn. Denner, Liselotte (2000): Gruppenberatung für Lehrer und Lehrerinnen: eine empirische Untersuchung zur Wirkung schulinterner Supervision und Fallbesprechung. Bad Heilbrunn/Obb.. Deutscher Bildungsrat (19713): Empfehlungen der Bildungskommission. Strukturplan für das Bildungswesen. Stuttgart. Diederich, Jürgen/Tenorth, Heinz-Elmar (1997): Theorie der Schule. Ein Studienbuch zu Geschichte, Funktionen und Gestaltung. Berlin. Die Grundschulzeitschrift (2016): Öffnung der Grundschule. 30. Jg., Heft 300.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
114
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
Duncker, Ludwig (1994): Lernen als Kulturaneignung. Schultheoretische Grundlagen des Elementarunterrichts. Weinheim und Basel. Esslinger-Hinz, Ilona/Unseld, Georg/Reinhard-Hauck, Petra/Röbe, Edeltraud/ Fischer, Hans-Joachim/Kust, Tilmann/Däschler-Seiler, Siegfried (2007): Guter Unterricht als Planungsaufgabe. Ein Studien- und Arbeitsbuch zur Grundlegung unterrichtlicher Basiskompetenzen. Bad Heilbrunn. Felbiger v., Johann Ignaz (1778): General-Landschul-Reglement. Eigenschaften, Wissenschaften und Bezeigen rechtschaffener Schulleute. Methodenbuch. Wiederabdruck in: Stanzel, Josef (1976): Die Schulaufsicht im Reformwerk des Johann Ignaz von Felbiger (1724-1788). Schule, Kirche und Staat in Recht und Praxis des aufgeklärten Absolutismus. Paderborn, S. 57-67. Felten, Michael (2013): Unterricht – das unterschätzte emotionale Feld. In: Krautz, Jochen/Schieren, Jost (Hrsg.): Persönlichkeit und Beziehung als Grundlage der Pädagogik. Weinheim und Basel: Beltz, S. 220-229. Fend, Helmut (2006): Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen. Wiesbaden. Flitner, Andreas (1981): Besinnung auf die Grundschule. In: Grundschule, 13. Jg., Heft 11, S. 455-458. Freund, Josef/Gruber, Heinz/Weidinger, Walter (1998): Guter Unterricht – Was ist das? Aspekte von Unterrichtsqualität. Wien. Furck, Carl-Ludwig (1961): Das pädagogische Problem der Leistung in der Schule. Weinheim und Basel. Girmes, Renate (2003): Die Welt als Aufgabe?! In: Ball, Helga/Becker,Gerold/ Bruder, Regina/Girmes, Renate/Stäudel, Lutz/Winter, Felix (Hrsg.): Aufgaben. XXI. Friedrich Jahresheft. S. 6-11. Girmes, Renate (2006): Lehrprofessionalität in einer demokratischen Gesellschaft – über Kompetenzen und Standards in einer erziehungswissenschaftlich fundierten Lehrerbildung. In: Zeitrachrift für Pädagogik, 51. Beiheft: Kompetenzen und Kompetenzentwicklung von Lehrerinnen und Lehrern: Ausbildung und Beruf. Weinheim und Basel: Beltz, S. 14-29. Göhlich, Michael (2011): Reflexionsarbeit als pädagogisches Handlungsfeld. In: Helsper, Werner/Tippelt, Rudolf (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Zeitschr. f. Pädagogik, 57. Beiheft. Weinhein und Basel: Beltz, S. 138-152. Grell, Frithjof (2010): Über die (Un-)Möglichkeit, Früherziehung durch Selbstbildung zu ersetzen. In: Zeitschrift für Pädagogik, 56. Jg., Heft 2, S. 154-167. Gudjons, Herbert (2007): Frontalunterricht – neu entdeckt. Bad Heilbrunn. Hattie, John (2008): Visible Learning for Teachers. Maximizing impact on learning. London. Hattie, John (2016): Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen. Baltmannsweiler. Hardeland, Hanna (2017): Der Klassen-Coach: „Lehrst du noch oder coachst du schon?“ Ein Praxisbuch für die Umsetzung von (Lern-)Coaching in Klassen und Gruppen – für Sekundarstufe I und II. Hohengehren.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Literatur
115
Hartinger, Andreas (2005): Verschiedene Formen der Öffnung von Unterricht und ihre Auswirkung auf das Selbstbestimmungsempfinden von Grundschulkindern. In: Zeitschrift für Pädagogik, 51. Jg., Heft 3, S. 397-414. Heinritz, Charlotte (2013): Biographische Aspekte der Lehrerpersönlichkeit. In: Krautz, Jochen/Schieren, Jost (Hrsg.): Persönlichkeit und Beziehung als Grundlage der Pädagogik.Weinheim und Basel, S. 114-127. Heisterberg, Werner/Horstkemper, Marianne/Messner, Rudolf, Otto Gunter/ Waubert de Puiseau (Hrsg.) (1998): Arbeitsplatz Schule. Friedrich Jahresheft XVI. Seelze. Helmes, Günter/Rinke, Günter (Hrsg.) (2016): Gescheit, gescheiter, gescheitert? Das zeitgenössische Bild von Schule und Lehrern in Literatur und Medien. Hamburg. Helsper, Werner (2002): Lehrerprofessionalität als antinomische Handlungsstruktur. In: Kraul, Margret/Marotzki, Winfried/Schweppe, Cornelia (Hrsg.): Biographie und Profession. Bad Heilbrunn/Obb., S. 64-102. Hentig v., Hartmut (1979): Die Reform der Schule war nicht radikal genug. In: betrifft: erziehung, Heft 10, S. 39-58. Hentig v., Hartmut (1993): Schule neu denken. München-Wien. Herrlitz, Hans-Georg/Hopf, Wulf,/Titze, Hartmut (1998): Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Weinheim und Basel, 2. Erg. Auflage. Hillert, Andreas (2004): Das Anti-Burnout-Buch für Lehrer. München. Kasper, Hildegard/Haarmann, Dieter (Hrsg.) (1989): Lasst die Kinder lernen. Offene Lernsituationen, Braunschweig. Klafki, Wolfgang (1976): Zum Verhältnis von Didaktik und Methodik. In: Zeitschrift für Pädagogik. 22. Jg., Heft 1, S. 77-94. Klafki, Wolfgang (1977): Organisation und Interaktion in pädagogischen Feldern – Thesen und Argumentationsansätze zum Thema und zur Terminologie. In: Zeitschrift für Pädagogik. 13. Beiheft, S. 11-37. Klein, Regina (2002): Die Suche nach einer guten Ordnung – interpretatorische Skizzen zu dem Schulfilm Sein und Haben (Frankreich 2002). In: Heinzel, Friederike/Geiling, Ute (Hrsg.): Demokratische Perspektiven in der Pädagogik. Wiesbaden, S. 174-185. Kleinschmidt, Katrin (2017): In der Zone der nächsten Entwicklung. Lehrer(innen) passen ihre Sprache an den Entwicklungsbedarf der Schüler(innen) an. In: PÄDAGOGIK, 69. Jg., Heft 6, S. 22-24. Klieme, Eckhard (2004):Was sind Kompetenzen und wie lassen sie sich messen? In. PÄDAGOGIK, 56. Jg., Heft 6, S. 10-13. Krautz, Jochen/Schieren, Jost (Hrsg.)(2013): Persönlichkeit und Beziehung als Grundlage der Pädagogik. Weinheim und Basel. Leisen, Josef/Brehmen, Nadine (2017): Von der Defizitorientierung zur Positivsicht. Ein Praxisbericht zum sprachsensiblen Unterricht. In: PÄDAGOGIK, 69.Jg., Heft 6, S. 8-11.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
116
2. Arbeitsplatz Klassenzimmer
Lichtenstein-Rother, Ilse/Röbe, Edeltraud (2005): Grundschule – Der pädagogische Raum für Grundlegung der Bildung. Weinheim und Basel (Neubearbeitung von Röbe, E.). Lichtenstein-Rother, Ilse (überarb. 19697): Pädagogik und Didaktik der ersten beiden Schuljahre. Frankfurt a.M.-Berlin-Bonn-München (Erstfassung 1954). Lipowsky, Frank (2002): Zur Qualität offener Lernsituationen im Spiegel empirischer Forschungen – Auf die Mikroebene kommt es an. In: Drews, Ursula/ Wallrabenstein, Wulf (Hrsg.): Freiarbeit in der Grundschule. Offener Unterricht in Theorie, Forschung und Praxis. Frankfurt a.M.: Grundschulverband, S. 126-159. Loch, Werner (1990): Für Lehrer erforderliche Fähigkeiten. In: Loch, Werner/ Muth, Jakob (Hrsg.): Lehrer und Schüler – alte und neue Aufgaben. Essen. Moosecker, Jürgen (2017): Heil- und sonderpädagogische „Haltung“. Ein essenzieller, jedoch nebulöser Begriff? – Versuch einer Bestimmung. In: spuren. Heft 2, S. 6-14. Peter, Petersen (1972 52./53): Der Kleine Jena-Plan. Weinheim und Basel. Prange, Klaus/Strobel-Eisele, Gabriele (2006): Die Formen pädagogischen Handelns. Stuttgart. Reichenbach, Roland (2012): Die Personalität des Lehrens und das Verschwinden der Lehrperson. InL Koller, Hans Christoph/Reichenbach, Roland/Ricken, Norbert (Hrsg.): Philosophie des Lehrens. Paderborn, S. 47-65. Röbe, Edeltraud (2017): „Kleinen Kindern das bisschen Lesen und Schreiben beibringen“ – Die Einführung in die Schriftkultur als kulturell-anthropologischer Handlungs- und Verantwortungsbereich der ersten Lehrperson. In: Hübner, Edwin/Weiss, Leonhard (Hrsg.): Personalität in Schule und Lehrerbildung. Perspektiven in Zeiten der Ökonomisierung und Digitalisierung. Leverkusen, S. 289-328. Röbe, Edeltraud (2015): Übergänge in pädagogischen Institutionen. In: Griebel, Winfried/Heinisch, Renate/Kieferle, Christa/Röbe, Edeltraud/Seifert, Anja (Hrsg.): Übergang in die Schule und Mehrsprachigkeit.Ein Curriculum für pädagogische Fach- und Lehrkräfte. Hamburg 2013, S. 193-233. Röbe, Edeltraud (1997): (Grund-)Schule ist mehr als Unterricht. In: Lompscher, Joachim: Leben, Lernen und Lehren in der Grundschule. Neuwied, S. 95-110. Röbe, Heinrich (1986): Freie Arbeit – eine Bedingung zur Realisierung des Erziehungsauftrags der Grundschule. Frankfurt a.M.. Schernikau, Heinz 1995): Historische Vorläufer des Unterrichts. In: Die Grundschulzeitschrift 9. Jg., Heft 87, S. 28-32, Heft 88: S. 32-38, Heft 89, S. 5054. Scholz, Gerold (2006): Was ist eigentlich ein Schüler? Pädagogische Ansätze für eine ethnologische Bildungsforschung. In: Andresen, Sabine/Diehm, Isabell (Hrsg.): Kinder, Kindheiten, Konstruktionen. Wiesbaden, S. 229-248. Scholz, Gerold (2009): Lernen als kommunikative Handlung. Überlegungen zu einem erziehungswissenschaftlichen Lernbegriff. In: Strobel-Eisele, Gabriele/
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Literatur
117
Wacker, Albrecht (Hrsg.): Konzepte des Lernens in der Erziehungswissenschaft. Phänome, Reflexionen, Konstruktionen.Bad Heilbrunn, S. 157-171. Schumacher, Eva/Liselotte Denner (2017): Grundschulpädagogik verstehen – Grundschule gestalten. Mit Online-Materialien. Weinheim und Basel. Sekretariat der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland (2005): Standards für die Lehrerbildung. In: Erziehungswissenschaft, 8. Jg., Heft 31, S. 36-47. Steinig, Wolfgang (2017): Grundschulkulturen. Pädagogik – Didaktik – Politik. Berlin. Tenorth, Heinz-Elmar (2000): Die Historie der Grundschule im Spiegel ihrer Geschichtsschreibung. In: Zeitschrift für Pädagogik, 46. Jg., Heft 4, S. 541-554. Terhart, Ewald (2006): Was wissen wir über gute Lehrer? In: PÄDAGOGIK, 58. Jg., Heft 5, S. 42-47. Wehner, Ulrich (2009): Etwas Können – jemand werden. Bildungstheoretische Vermessungen zwischen Qualifikations- und Identitätstheorie. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 85. Jg., Heft 1, S. 81-98. Weinert, Franz E. (1998): Guter Unterricht ist ein Unterricht, in dem mehr gelernt als gelehrt wird. In: Freund, Josef/Gruber, Heinz/Weidinger, Walter (Hrsg.): Guter Unterricht – Was ist das? Aspekte von Unterrichtsqualität. Wien, S. 7-17. Weinert, Franz E. (1999): Konzepte der Kompetenz. Paris: OECD. Weinert, Franz E. (20022): Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim und Basel. Weinert, Sabine/Heppt, Birgit/Dragon, Nina/Berendes, Karin/Stanat, Petra (2012): Beherrschung von Bildungssprache bei Kindern im Grundschulalter. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 7, 3, pp. 349-356. http://nbnresolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-390578 Weise, Martin (1928): Die Grundschule. In: Kongressbericht des Zentral-Institutes für Erziehung und Unterricht unter dem Thema „Die neuzeitliche Volksschule“. Berlin, S. 381-403. Winkel, Rainer (2013): Was ist (k)ein guter Lehrer, (k)eine gute Lehrerin? Anthropologische und pädagogische Provokationen. In: Krautz, Jochen/Schieren, Jost (Hrsg.)(2013): Persönlichkeit und Beziehung als Grundlage der Pädagogik. Weinheim und Basel, S. 248-259. Wittenbruch, Wilhelm (1997): Grundschule. Acht Jahrzehnte zwischen Reformeifer und Ernüchterung. Vortrag am 22.10.1997. Unveröffentlichtes Manuskript. S. 1-17. Ziehe, Thomas (2001): Überbrückungsarbeit – Womit Lehrkräfte heute zurechtkommen müssen. In: PÄDAGOGIK, 53. Jg., Heft 2, S. 8-12.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
3. Gewinnen des Berufsprofils – eine permanente Herausforderung „Der Schüler soll nicht Gedanken, sondern denken lernen; man soll ihn nicht tragen, sondern leiten, wenn man will, dass er in Zukunft von sich selbst zu gehen geschickt sein soll.“ Immanuel Kant (1724-1804)
Abstract Zu den Lehreraufgaben gehören zentral das Unterrichten, aber auch das Erziehen, Beurteilen, Evaluieren und Innovieren. Sie sind die Kernbereiche der Schulund Unterrichtsentwicklung. Dies gilt für alle Schularten und Schulstufen und nicht erst seit Einführung der Ganztagsschulen. Grundsätzlich gilt für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im institutionalisierten Raum Schule, dass die dort von den Kindern und Jugendlichen verbrachte Zeit, von Lehrer/innen pädagogisch geplant und strukturiert wird. Schule ist im engeren und weiteren Sinne für Schüler/innen wie für Lehrer/innen für ihre Entwicklung ein bedeutsamer Raum, der mit ihnen gemeinsam gestaltet wird und Wirkung auf sie hat.
3.1 Verbindliche Handlungsbereiche als Bedingung der Lehrerprofessionalisierung Linda S., Praktikantin, 4. Semester, 25 Jahre „Ich habe oft gemerkt, dass ich vergessene Hausaufgaben oder Lustlosigkeit im Unterricht als Kritik gegen mich selbst wahrnehme. Dabei vergesse ich schnell, dass die einzelnen Kinder auch alle ihr individuelles Elternhaus im Hintergrund haben. Wenn sich also ein Schüler auf eine bestimmte Art und Weise verhält, hat das oft gar nichts mit dem Lehrer zu tun. Die Kinder haben hauptsächlich zu Hause gelernt so zu agieren und dafür kann der Lehrer überhaupt nichts. Den Schülern immer wieder eine Chance geben und mit ihnen in Kontakt zu kommen, ist meiner Meinung nach sehr wichtig als Lehrerin und daran möchte ich arbeiten, vermutlich mein ganzes Berufsleben lang.“
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
120
3. Gewinnen des Berufsproils
Der Erfahrungsbericht der Studierenden, die ihr Praxissemester drei Monate an einer großstädtischen Grundschule absolviert hat, verweist auf die Komplexität des pädagogischen Handelns, gerade unter den Bedingungen einer sich stetig verändernden Gesellschaft und damit sich verändernden Bedingungen des Aufwachsens der Kinder. Ihre Erfahrungen ließen sich auch unter der Überschrift „Herausforderung Heterogenität“, die derzeit die Lehrerdiskurse prägt, einordnen. Zu jeder Zeit gibt es neue Topthemen in der Lehrerbildung und im Nachdenken über Schule und Unterricht. In den letzten Jahren sind der „Umgang mit Heterogenität“, die „Kompetenzorientierung“ und „Digitalisiierung“ sowohl in der Lehrerbildung als auch in der Schule zu Topthemen avanciert. Mit Kompetenzorientierung verbindet sich die Frage nach Standards für schulischen Unterricht wie Lehrerbildung und deren Überprüfbarkeit. Vorausgegangen waren Themen wie zum Beispiel „Erziehung“, „Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden“, „der gute Lehrer/die gute Lehrerin“. Dies zeigt, dass die Handlungsbereiche des Lehrerhandelns historisch bedingt unterschiedlich gesehen werden und man neugierig darauf sein kann, was die Topthemen der Zukunft sein werden. Nicht unwichtig ist die Debatte um den Aufbau und die Struktur des deutschen Schulwesens. Die Grundschule ist als Primarbereich nach unten hin zum Elementarbereich und nach oben hin zum Sekundarbereich gerahmt, zu dem die Pädagogik des Jugendalters gehört. Je nach Stufe des Bildungssystems (Elementarstufe, Primarstufe, Sekundarstufen) arbeiten unterschiedlich ausgebildete Lehrer/innen mit differierenden pädagogischen Konzepten. 3.1.1 Vexierbild Lehrerbildung Gerade im späten 20. Jahrhundert und daran anknüpfend zu Beginn des 21. Jahrhunderts gab es und gibt es große Reforminitiativen im Bildungswesen (vgl. Kap. 2), die zu Umstrukturierungen und zu einer beschleunigten Akademisierung der pädagogischen Fach- und Lehrkräfte führ(t)en. Auch der Elementarbereich hat sich in den letzten Jahren signifikant verändert, da den frühpädagogischen Einrichtungen nunmehr neben dem Betreuungs- und Erziehungsauftrag verstärkt ein Bildungsauftrag zukommt. Es wurden an den Fachhochschulen und Universitäten frühpädagogische Studiengänge eingeführt, mancherorts auch gemeinsame Studiengänge für Kindheits- und Grundschulpädagog/innen (z.B. in Bremen). Von bildungspolitischen Veränderungen sind indes nicht nur die Kindertagestätten, die einen neuen Stellenwert im deutschen Bildungssystem erhalten haben, betroffen, sondern gerade auch die Grundschulen und an diese anschließend die weiterführenden Schulen wie die Förderschulen. Hier ist zum einen die Entwicklung von der Halbtagsschule zur Ganztagsschule zu nennen, in deren Zuge sich auch die Erwartungen und Anforderungen an die jeweiligen Lehrerinnen und Lehrer ändern. Zum anderen fordert die Entwicklung zur inklusiven Schule heraus, in der, wie auch in der Ganztagsschule, neben den ausgebildeten
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
3.1 Verbindliche Handlungsbereiche
121
Lehrerinnen und Lehrern auch andere Professionen bedeutsam sind. Gleichzeitig bleibt dennoch das Ungleichgewicht der Geschlechter erhalten. Je höher die Schulform, desto männlicher wird der Lehrerberuf. Während im Gymnasial- und Berufsschullehramt sehr viele männliche Kollegen arbeiten, sind es im Grundschullehrerberuf bundesweit weniger als 10% (vgl. Kap. 1). Betrachtet man aber aus einer historischen Perspektive (vgl. Kap. 1 und 2) den Grundschullehrerberuf, wird schnell deutlich, dass sich dessen Geschichte als die einer zunehmenden Feminisierung (vom männlichen Schulmeister und Volksschullehrer zur Grundschullehrerin) sowie als die einer zunehmenden Akademisierung und Professionalisierung lesen lässt. Die im 20. Jahrhundert beschleunigte Professionalisierung erfolgte jedoch sukzessive über die letzten Jahrhunderte hinweg. Schulmeister im 18. und 19. Jahrhundert wurden ehemals von Gemeinden eingestellt und verdienten mit ihrer Tätigkeit so wenig, dass sie sich zumeist mit handwerklichen Zweitberufen helfen mussten. Geht man in der Geschichte des Lehrerberufs noch weiter zurück, so wird ferner deutlich, dass die Schulen bis zum 13. Jahrhundert als Kloster-, Dom- und Kathedralschulen unter kirchlicher Aufsicht standen und zunächst als Lateinschulen für den männlichen und klerikalen Nachwuchs und erst später als weltliche Schulen für die Kinder aus Handwerkerfamilien begründet wurden, die dann auch unter städtischer Aufsicht standen (vgl. Zymek 2004). Seit der Bildungsreform in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts werden den anderen Lehrämtern folgend auch Grundschullehrer/innen an Universitäten bzw. gleichgestellten wissenschaftlichen Hochschulen ausgebildet. Nach der mehrheitlichen Abschaffung des früheren Abschlusses „Staatsexamen“ werden gegenwärtig überwiegend Bachelor- und Masterstudiengänge mit einem anschließenden (unterschiedlich langen) Vorbereitungsdienst angeboten. 3.1.2 Neuerungen durch den Bologna-Prozess Mit der Einführung der Bachelor- und Masterstruktur wurden gleichzeitig auch längere Praktika bzw. ein Praxissemester eingeführt, um im Studium den Bezug zur Praxis zu stärken und zu einem früheren Zeitpunkt des Professionalisierungsprozesses die Eignung für den Beruf festzustellen. Zwei Neuerungen sind bemerkenswert (vgl. Abb. 3.1): • Während in anderen Bundesländern der Master für das Lehramt Grundschule vier Semester umfasst, ist in Baden-Württemberg der Master Grundschule nur auf zwei Semester hin angelegt. Damit wird der vollakademische Abschluss mit voller Punktzahl erst während des Vorbereitungsdienstes erreicht. Der Vergleich der Studien- und Prüfungsordnungen für das Lehramt Grundschule, hier exemplarisch aufgezeigt am Bundesland Baden-Württemberg, veranschaulicht, wie sich in kurzer Zeit die Lehrerbildung in Bezug auf Inhalte, Strukturen und die Qualifizierung verändert.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
122
3. Gewinnen des Berufsproils
Vergleich der Studien- und Prüfungsordnungen im Bundesland Baden-Württemberg für das Lehramt Grundschule
2003
2011
2015
Regelstudienzeit
6 Semester
8 Semester
6 Semester (Bachelor) plus 2 Semester (Master)
Schulpraktische Studien
semesterbegleitendes Einführungspraktikum, zwei fachdidaktische Blockpraktika
Orientierungsund Einführungspraktikum, Integriertes Praxissemester, Professionalisierungspraktikum
Orientierungsund Einführungspraktikum, Integriertes Praxissemester, Professionalisierungspraktikum
Wissenschaftlicher Abschluss
Erstes Staatsexamen
Erstes Staatsexamen
Master 1
Vorbereitungsdienst/ Referendariat
24 Monate Zweites Staatsexamen
Monate Zweites Staatsexamen
18 Monate Kein Staatsexamen
Abbildung 3.1: Reform der Grundschullehrerausbildung am Beispiel des Bundeslandes Baden-Württemberg
• Der neue Terminus „Praxissemester“ bedeutet in Baden-Württemberg, dass ein Semesterpraktikum in der Regel im vierten Semester über ein Semester an einer Schule abgeleistet wird. Vier Tage pro Woche finden hierbei an der Ausbildungsschule statt, ein Tag an der Hochschule mit begleitenden Veranstaltungen aus der Fachdidaktik und der Erziehungswissenschaft. Obwohl in Baden-Württemberg 2015 alle Lehramtsstudiengänge auf Bachelor- und Master umgestellt wurden, wird im Grundschullehramt nur ein zweisemestriger Master angeboten, während die Sekundarstufe I einen viersemestrigen Master vorhält. Damit dauert das Studium der Sekundarstufe I ein Jahr länger und legitimiert eine höhere Besoldung. Jedes Bundesland hat hier jedoch eigene Regelungen. In den Nachbarbundesländern Hessen und Bayern, wurde (zunächst) noch die alte Struktur der Staatsprüfungen (Staatsexamina) beibehalten, was eine weitere Erschwernis für einen Wechsel zwischen den verschiedenen Prüfungsordnungen und Hochschulstandorten bedeutet. 1 Der Masterabschluss verschiebt sich damit rechnerisch in das Referendariat.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
3.2 Standards für die Lehrerbildung
123
Der Ruf nach mehr Praxis in der bundesdeutschen Lehrerbildung ist bereits Jahrzehnte alt und wird in regelmäßige Wiederkehr neu formuliert. Das TheoriePraxis-Verhältnis in der Lehrerbildung ist dabei insgesamt betrachtet ein schwieriges, denn sowohl die Schule als auch die Hochschule können als Orte der Theorie wie als Orte der Praxis von Lehrerbildung verstanden werden, wenngleich mit jeweils unterschiedlichen Systemlogiken und Abgrenzungen. Deshalb ist es nur bedingt sinnvoll, sie in entgegengesetzte Ausbildungsorte, einen theoretischen und einen praktischen, zu trennen. Die dahinter liegende Frage, wie und wo die angehenden Lehrer/innen am besten für ihren Beruf ausgebildet werden (sollen) und ihre personalen, methodischen und fachbezogenen Kompetenzen, die für den Beruf als relevant erachtet werden, (besser) entwickeln können, ist damit zwar eine wichtige, aber gleichzeitig nicht eindeutig zu beantwortende Frage, auch wenn zunehmend zu diesem Feld der Lehrerforschung in Studien gearbeitet wird. Die gegenwärtige Schulpädagogik wird hierbei stark beeinflusst durch die Ergebnisse der Lehr-Lern-Forschung, der Lernpsychologie, der Neurobiologie und der Leistungsstudien. Im Zentrum steht dabei die Vermittlung didaktisch-methodischer Basiskompetenzen als Bedingung für einen methodisch abwechslungsreichen, schülerorientierten Unterricht, der zugleich kognitiv stimulierend und strukturiert sein soll.
3.2 Standards für die Lehrerbildung Anfang des 21. Jahrhunderts verständigte sich im Zuge der neuen Reformen in der Lehrerbildung die Kultusministerkonferenz (KMK) auf „Standards für die Lehrerbildung“ (2004/2014), die als Grundlage für Lehrerbildung in der ersten und zweiten Phase dienen sollen, um eine Vergleichbarkeit der Lehrerausbildung im föderalen System zu gewährleisten. Die Standards für die Lehrerbildung beziehen sich modellhaft auf Kompetenzen, die die (angehenden) Lehrer/innen sukzessive erwerben und erweitern sollen. Sie dienen damit als Verständigungsgrundlage und Orientierung dessen, was Lehrer/innen können sollen. In den hier von der KMK-Konferenz benannten Kompetenzbereichen Unterrichten, Erziehen, Beurteilen und Innovieren werden dabei entsprechend für das jeweilige Feld der Lehreraufgaben Standards für die theoretischen und für die praktischen Bereiche der Lehrerausbildung formuliert.
124
3. Gewinnen des Berufsproils
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
3.2.1 Kompetenzbereich Unterrichten „Lehrerinnen und Lehrer sind Fachleute für das Lehren und Lernen. Ihre Kernaufgabe ist die gezielte und nach wissenschaftlichen Erkenntnissen gestaltete Planung, Organisation und Reflexion von Lehr- und Lernprozessen sowie ihre individuelle Bewertung und systemische Evaluation. Die berufliche Qualität von Lehrkräften entscheidet sich an der Qualität ihres Unterrichts“ (Sekretariat der Kultusministerkonferenz).
Das „Kerngeschäft“ der Lehrer/innen bezieht sich auf Unterricht/Unterrichten, worunter ein sach- und fachgerechtes Planen, Gestalten und Reflektieren des Unterrichts verstanden wird. Angehende Lehrer/innen setzen sich in der ersten und zweiten Phase der Lehrerbildung kontinuierlich mit bildungswissenschaftlichen Inhalten, didaktischen Theorien, unterschiedlichen Lernwegen und Lehr-Lern-Methoden, adäquaten Vermittlungs- und Aneignungsprozessen, Medien und Differenzierung u.v.m. auseinander (vgl. Kap. 2). 3.2.2 Kompetenzbereich Erziehen „Lehrerinnen und Lehrer sind sich bewusst, dass die Erziehungsaufgabe in der Schule eng mit dem Unterricht und dem Schulleben verknüpft ist. Dies gelingt umso besser, je enger die Zusammenarbeit mit den Eltern gestaltet wird. Beide Seiten müssen sich verständigen und gemeinsam bereit sein, konstruktive Lösungen zu finden, wenn es zu Erziehungsproblemen kommt oder Lernprozesse misslingen“ (Sekretariat der Kultusministerkonferenz).
Bereits im grundständigen Lehramtsstudium bzw. bei den ersten Praktikumserfahrungen wird deutlich, wie eng Unterrichten und Erziehen im Kontext von Schule zusammenhängen. Da ein Unterrichten in der Schule nie ohne ein gleichzeitiges Erziehen möglich ist, handelt es sich bei den jüngeren Schülerinnen und Schülern stets um einen erziehenden Unterricht. Dass zur Aufgabe des Lehrers/der Lehrerin in allen Schularten und -stufen maßgeblich die Erziehungsaufgabe gehört, ist indes kein neues Phänomen, wenngleich sich die Erziehungsaufgaben vor allem in den letzten Jahren stark erweiterten. Gerade auch in der Ganztagsschule kommen mit der Betreuung des Mittagessens, des Freien Spiels und weiterer Pausen, den AG-Angeboten sowie der Hausaufgabenbetreuung, stärker als in der historisch-tradierten Halbtagsschule, weitere erzieherische bzw. sozialpädagogische Aufgaben auf die Lehrer/innen zu. Im Anschluss an den Pädagogen Johann Friedrich Herbart (1776-1841), der im frühen 19. Jahrhundert das Theorie-Praxis-Verhältnis und Fragen nach dem angemessenen pädagogischen Handeln reflektiert hat, kann begründet werden, dass mit dem eigenen pädagogischen Handeln nicht nur intendierte Wirkungen,
3.2 Standards für die Lehrerbildung
125
sondern auch (nicht intendierte) Nebenwirkungen einhergehen. Es geht im Anschluss an J. F. Herbart damit auch um die Aufgabe, als Lehrer/in eine eigene pädagogische Haltung, einen „professionellen Habitus“ zu entwickeln.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Pädagogischer Takt: Johann Friedrich Herbart (1776-1841) „Es ging ihm um die doppelte Fähigkeit und Bereitschaft, sich in der Theorie kompetent zu machen und dieses Wissen mit Sensibilität für die jeweiligen Besonderheiten einer Situation anzuwenden. Diesen Takt könne man nur erwerben, wenn man „vorher im Denken die Wissenschaft gelernt, sie sich zu eigen gemacht, sich durch sie gestimmt“ hat. Diese Sicht ist als ein „Mittelglied“ zwischen Theorie und Praxis gemeint. Man kann sie auch weiterdenken als Anleitung für den Umgang mit Antinomien in der Theorie wie in der Praxis. Dadurch kann eine Haltung entstehen, die auf ein differenziertes und sich distanzierendes Verständnis des Handelns zielt, das weder die Zwänge und Anforderungen aus den Augen verliert, noch die Ziele und Visionen vergisst“ (Schlömerkemper 2017, S. 252). Die Fähigkeit des Urteilens, welches Handeln wie und warum angebracht ist, ist mit Bezug auf Herbart als „pädagogischer Takt“ in die erziehungswissenschaftliche Literatur eingegangen. Das im Rahmen der Institution Schule verortete Erziehungsverhältnis begründet sich hier, ähnlich wie das in der Familie, mit der Abhängigkeit und der Erziehungsbedürftigkeit der Jüngeren von den Älteren. Erziehung in der Schule ist indes keine „Verhaltenstechnologie“ und kann sich auch nicht an vermeintlich einfachen oder tradierten Vorstellungen orientieren (z.B. das Bild des Kindes als einer Pflanze, die zu gießen sei), sondern es bedarf stets einer reflexiven Auseinandersetzung und eines Verständnisses davon, dass in der Schule ein planvoller Unterricht sowie eine absichtsvolle Erziehung stets zusammengehören (vgl. Kap. 7). Wie bildet sich der Pädagogische Takt? „Er bildet sich erst während der Praxis; er bildet sich durch die Einwirkung dessen, was wir in dieser Praxis erfahren, auf unser Gefühl. Diese Einwirkung wird anders und anders ausfallen, je nachdem wir anders oder anders gestimmt sind. Auf diese unsere Stimmung sollen und können wir durch Überlegung wirken; von der Richtigkeit und dem Gewicht dieser Überlegung, von dem Interesse und der moralischen Würdigkeit womit wir uns ihr hingeben, hängt es ab, ob und wie sie unsere Stimmung vor Antretung des Erziehungsgeschäfts und folglich ob und wie sie unsere Empfindungsweise während der Ausübung dieses Ge-
126
3. Gewinnen des Berufsproils
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
schäfts und mit dieser endlich jenen Takt ordnen und beherrschen werde, auf dem der Erfolg oder Nichterfolg unserer pädagogischen Bemühungen beruht“ (Herbart 1802 zit. n. Krückel/Schüll/Uphoff 2018, S. 37f.). Erst in der gesellschaftlichen Moderne entsteht das „Ideal der intentionalen Erziehung“, das hier als ein theoretischer Bezugspunkt angeführt werden kann. Auch wenn Erziehung in der Schule nicht (immer) direkt beobachtbar ist, so hat doch die Erziehung durch die Lehrer/innen stets mit erzieherischen Orientierungen und Erziehungsmaßnahmen zu tun, auf die sich Lehrer/innen in ihrem Handeln direkt und indirekt beziehen. Es gibt keinen einheitlichen Erziehungsbegriff, auf den sich Lehrer/innen sicher berufen können, vielmehr existieren stets verschiedene Bilder von Erziehung, die sich historisch entwickelt haben und verschiedene Formen des Erziehens gleichzeitig nebeneinander. Die Formengeschichte des Erziehens ist stets eingebettet in kulturelle, soziale, politische und lebensgeschichtliche Kontexte (vgl. Prange 2009). Es ist jedoch nicht gleichgültig, für welchen Erziehungsbegriff sich Lehrer/innen entscheiden und welche Vorstellungen für sie bedeutsam sind. Zu Erziehung gehört immer auch das bisweilen sehr mühevolle Ringen um Einsicht, um innere Zustimmung der Schüler/innen. Es darf bei aller Verschiedenheit im Erziehungsverständnis nicht auf Dressur und Abrichtung rückführbar sein. Beobachtbar im Unterricht sind Wirkungen der Erziehung in unterschiedlicher Weise. Erziehung im Kontext von Schule und Unterricht bezieht sich vor allem auch auf die Gestaltung des Beziehungsverhältnisses zwischen der älteren und der jüngeren Generation (vgl. Flitner 1993). Mit Andreas Flitner ist die Gestaltung des Beziehungsverhältnisses besonders wichtig. Flitners Verständnis von Erziehung verweist darauf, dass Erziehen einerseits als konkrete Handlung (Operation) verstanden werden kann und andererseits stets persönlich zu verstehen ist: „Das Erzieherische ist immer persönlich oder existentiell. Es geht darin stets um einmalige Menschen in einmaligen Lebensumständen und Zeitverhältnissen, die miteinander leben, die einander begegnen, sich verstehen und auch verfehlen, die aneinander Ansprüche stellen und sich gegenseitig beeinflussen“ (Flitner 1982/1993, S. 142). Sein Verständnis von Erziehen als operative Handlung ist damit eine gute Vorstellungshilfe. Exkurs: Dimensionen erzieherischen Handelns Eine pädagogische Haltung bestimmt hochwirksam alle Dimensionen erzieherischen Handelns. Flitner hat in seinem wiederholt aufgelegten Klassiker „Konrad, sprach die Frau Mama …“ über Erziehung und Nichterziehung nachgedacht und die zentralen Bemühungen im erzieherischen Handeln herausgearbeitet.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
3.2 Standards für die Lehrerbildung
127
Sein Verständnis von Erziehung als konkrete Handlung enthält gleichzeitig eine anschauliche Dimension. Die pädagogische Haltung, die alle Dimensionen erzieherischen Handelns bestimmt, ist hochwirksam in dem Bemühen um • die Behütung des Kindes, in den Versuchen, aus der Lebenswelt auszuwählen, die Kinder im praktischen Umgang zu erfahren, zu verstehen, zu fühlen, wie Kinder die Welt verarbeiten können, die wir ihnen anbieten oder in die wir sie mit hineinnehmen, • das Mitwirken und Gegenwirken da, wo sich auf gesellschaftlicher Ebene die Erlebnis- und Bildungswelt für Kinder konstituiert und im pädagogischen Feld, wo im unmittelbaren Handeln die Einstellung auf das subjektive Leben der Kinder gefordert ist, • das Unterstützen, Verstehen, Ermutigen als dem wichtigsten Teil der Erziehung, da die Hilfe der Erwachsenen bei der Deutung der Welt, ihr Beispiel, die gelingende Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kindern, das Bereitstellen von Bedingungen, in denen sich Geduld, Interesse und guter Wille nicht zu bald erschöpfen, Entwicklungsintensität bewirkt“ (vgl. Flitner 1982/1993, S. 64ff.). Auch wenn alle Bundesländer in ihren Schulgesetzen die körperliche Züchtigung bereits seit Jahrzehnten verboten haben (als letztes das Bundesland Bayern im Jahr 1980), gibt es dennoch bis heute undemokratische Verhaltensweisen. Beispielsweise beschäftigt sich das wissenschaftliche Projekt INTAKT2 in Unterrichtsanalysen damit, wie Lehrer/innen sich im Unterricht undemokratisch und missachtend verhalten. In dieser Studie von Annedore Prengel (2013) wurden hierfür in einer teilnehmenden Beobachtung 1100 Unterrichtszenen protokolliert und ausgewertet, die an 55 Beobachtungstagen in verschiedenen Schulen erhoben wurden, um anschließend als Lehrer-Schüler-Interaktionen analysiert zu werden. In der Auswertung wurde festgestellt, dass die meisten Schüler-Lehrer-Interaktionen sich als anerkennend oder neutral beschreiben lassen, jedoch auch etwa ¼ der SchülerLehrer-Interaktionen als undemokratisch und missachtend gewertet werden können. Die Interaktionsszenen zeigen deutlich die Anwesenheit und Abwesenheit von demokratischen und undemokratischen Haltungen beim pädagogischen Handeln der Lehrer/innen im Unterricht auf. Pädagogisches Fehlverhalten kann etwa die Beschimpfung von Schülerinnen und Schülern, das Bloßstellen vor anderen, bewusstes Ignorieren oder Demotivieren oder das Weitergeben von vertraulichen Informationen sein. Interessant an der Analyse ist zudem, dass jede Lehrerin bzw. jeder Lehrer im Unterricht das gesamte Repertoire von Anerkennung bis hin zu neutralem und gar missachtendem Verhalten zeigt, jedoch, und dies ist letztendlich entscheidend, in einer jeweils unterschiedlichen Verteilung und Gewichtung. 2 Vgl. dazu im Internet http://www.rochow-museum.uni-potsdam.de/ileadmin/projects/rochowmuseum/assets/Projektnetz_INTAKT_01.pdf.
128
3. Gewinnen des Berufsproils
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Exkurs: Aus der Forschung INTAKT: Anerkennendes und verletzendes Verhalten im Unterricht Beispiel 1: Anfangsunterricht, sehr verletzend Beobachtung: Die Lehrerin Frau Z. wendet sich zu Stefan, schaut in sein Heft und sagt: „Weißt du, was mich richtig ärgert? Dass du so unglaublich faul bist. Frau Z. zeigt auf uns (die Hospitantinnen). Diese beiden Frauen da denken echt, dass du bescheuert bist. Dabei bist du einfach nur so richtig schön dumm.“ Stefan schaut auf sein Heft und stützt den Kopf auf die Hände (Prengel 2013, S. 106). Beispiel 2: Musikunterricht, 3. Klasse, sehr anerkennend Beobachtung: Die Kinder setzen sich auf Podeststufen und lachen und reden miteinander. Es haben sich kleine Grüppchen gebildet. Der Lehrer Herr B. holt sein Akkordeon und sagt, dass alle, die das Lied kennen, mitsingen sollen. Viele Kinder stimmen schon nach den ersten Tönen in Jingle Bells mit ein und nach wenigen Sekunden singt die ganze Klasse Jingle Bells. Herr B. nickt immer wieder aufmunternd und begeistert seiner Klasse zu, um sie zum lauten Singen zu animieren. Als die Klasse mehrere Strophen gesungen hat, hört Herr B. auf und klatscht begeistert und lobt die Klasse für den lauten und tollen Gesang. Viele Kinder strahlen und sehen glücklich aus (Prengel 2013, S. 110f.).
Arbeitsaufgaben 1. Informieren Sie sich über das Forschungsprojekt INTAKT. 2. Was war die Forschungsfrage? Welche Forschungsmethodik wurde angewandt? Was sind die Ergebnisse des Projektes? 3. Welche Beispiele fallen Ihnen aus dem Unterrichts- und Schulalltag ein? Im Kontext von Unterricht wird schnell deutlich, dass Erziehung durch die Lehrer/ innen absichtsvoll, intentional, aber auch nicht intentional erfolgt. Nicht-intentionale bzw. funktionale Erziehung bezieht sich auf ein Verständnis von Schule als wichtiger Sozialisationsinstanz neben dem Elternhaus, Medien und Peers, die ebenfalls als Miterzieher gelten. Es wird deutlich, wie unverzichtbar die Analyse der unterschiedlichen außerschulischen Lebens- und Bildungswelten der Kinder/ Jugendlichen und der familialen Erziehungsstile und Erziehungsvorstellunge ist. Hierauf verweist bereits das eingangs aufgeführte Zitat der Praktikantin Linda S., die betont, dass Kinder Zuhause gelernt hätten „so zu agieren“, wie sie es tun. Damit kann festgestellt werden, dass sich einerseits im 20. und 21. Jahrhundert vor allem in deutschen Mittelschichtsfamilien die Erziehungsvorstellungen und Erziehungsstile verändert haben. In den 90er Jahren wird ein Wandel vom „Befehlshaushalt“ zum „Verhandlungshaushalt“ beschrieben, gegenwärtig ein Wan-
3.2 Standards für die Lehrerbildung
129
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
del zum „Beratungshaushalt“. Andererseits zeigt die Forschung zu Erziehungsstilen3 deutlich, dass sich diese nicht nur historisch verändern, sondern jede Epoche unterschiedliche „elterliche Erziehungsstile in milieuspezifischer Differenzierung“ (Liebenwein 2008) hervorbringt: „Der elterliche Erziehungsstil bildet keinen singulären Faktor, sondern wird von zahlreichen Aspekten des Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosystems4 beeinflusst und von diesen modifiziert. In einem systemischen Zusammenhang erweisen sich Kindmerkmale hoch einflussreich auf die Genese des elterlichen Erziehungsstils, gleiches gilt für den selbst erfahrenen Erziehungsstil und für weitere biografische Erfahrungen, das soziale Netzwerk, die Partnerbeziehung, die ökonomische und Arbeitssituation, den Bildungsstand, die Gesundheit, vorherrschende gesellschaftliche Erwartungen und Wertorientierungen“ (Liebenwein 2008, S. 49).
3.2.3 Kompetenzbereich Beurteilen und Beraten „Lehrerinnen und Lehrer üben ihre Beurteilungs- und Beratungsaufgabe im Unterricht und bei der Vergabe von Berechtigungen für Ausbildungs- und Berufswege kompetent, gerecht und verantwortungsbewusst aus. Dafür sind hohe pädagogisch-psychologische und diagnostische Kompetenzen von Lehrkräften erforderlich“ (Sekretariat der Kultusministerkonferenz).
Auch beim weiteren Kompetenzbereich „Beurteilen“, der in den KMK-Standards definiert wird, handelt es sich, wie bei den bereits genannten, um einen äußerst komplexen Bereich. Er bezieht sich auf Diagnose und Förderung sowie auf Beratung, sowohl der Lernenden als auch von deren Eltern (vgl. Kap. 4). Auch wenn in den Standards für die Lehrerbildung der Kultusministerkonferenz (2004/2014) die Erwartung formuliert wird, dass Lehrer/innen für ihre „Beurteilungs- und Beratungsaufgabe im Unterricht“ insbesondere über „hohe pädagogisch-psychologische und diagnostische Kompetenzen“ verfügen, besteht hier weiterhin ein Professionalisierungsbedarf, da es zum einen keinen fest umrissenen pädagogischen Diagnostikbegriff gibt, auf den sich die Lehrer/innen beziehen können, und zum anderen kompetent entschieden werden muss, ab wann die Zuständigkeit als Regelschullehrer/in aufhört und eine andere Profession, z.B. die der Sonderpädagog/innen, Ärzt/innen oder Psycholog/innen, zuständig ist. Die Aufgabe des Diagnostizierens bezieht sich hierbei auf die Unterrichtsplanung, die Förderaspekte und ggfs. eine Weiterverweisung an eine spezifische therapeutische Einrichtung, wenn die Grenzen der eigenen pädagogisch-diagnostischen
3 Die Erforschung der Erziehungsstile hat in den 1970er Jahren mit der Untersuchung von Reinhard und Anne-Marie Tausch (1977) begonnen. 4 S. Liebenwein (2007) bezieht sich hier auf Urie Bronfenbrenner und dessen Einteilung in ein Mikro-, Makro- und Mesyosystem.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
130
3. Gewinnen des Berufsproils
Möglichkeiten und Befugnisse als Lehrer/in überschritten sind. Solche Fälle der Überforderung sind bereits vor Beginn der Schule gegeben (Eingangsdiagnostik) und bei dem zweiten Übergang der Grundschule (Grundschulempfehlung). Diese Fragen haben mit dem Anspruch einer inklusiven Schule an Brisanz gewonnen. Der Terminus „Diagnostizieren“ zielt in der Schule in erster Linie auf eine prozessorientierte Lerndiagnostik, die sich auf den Zusammenhang von Unterrichtsplanung und Leistungsentwicklung der Schüler/innen bezieht. Die Beurteilung von individuellen Leistungen findet darüber hinaus immer in einem bestimmten Rahmen statt. In Kapitel 4 werden die Aufgaben und Schwierigkeiten der Leistungsbewertung umfassend bearbeitet. 3.2.4 Kompetenzbereich Innovieren und Schulentwicklung „Lehrerinnen und Lehrer entwickeln ihre Kompetenzen ständig weiter und nutzen wie in anderen Berufen auch Fort- und Weiterbildungsangebote, um die neuen Entwicklungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse in ihrer beruflichen Tätigkeit zu berücksichtigen. Darüber hinaus sollen Lehrerinnen und Lehrer Kontakte zu außerschulischen Institutionen sowie zur Arbeitswelt generell pflegen. Lehrerinnen und Lehrer beteiligen sich an der Schulentwicklung, an der Gestaltung einer lernförderlichen Schulkultur und eines motivierenden Schulklimas. Hierzu gehört auch die Bereitschaft zur Mitwirkung an internen und externen Evaluationen“ (Sekretariat der Kultusministerkonferenz).
Lehrer/innen agieren, was gleichfalls die Idee des Berufsbeamtentums darstellt, in einer Stellvertreterfunktion als Beauftragte des Staates, von dem diese den Bildungsauftrag übernommen haben. Sie agieren vor dem Hintergrund des Grundgesetzes und weiterer Rechtsgrundlagen wie der Schulgesetze nicht als Privatpersonen, sondern als öffentliche Personen und sind damit den menschenrechtlichen und gesellschaftlichen Werten und Normen verpflichtet (vgl. Kap. 1). Abgelegt wird in formaler Hinsicht zudem der Diensteid auf das Grundgesetz. Die KMK-Standards für die Lehrerbildung weisen insbesondere auch unter dem Kompetenzbereich „Innovieren“ darauf hin, dass sich Lehrer/innen „der besonderen Anforderungen des Lehrerberufs bewusst“ sind und „ihren Beruf als ein öffentliches Amt mit besonderer Verantwortung und Verpflichtung verstehen“ (S. 12). Mit Blick auf ein Erziehungsverständnis, das sich auf demokratische Prinzipien bezieht, sind autoritäre Formen der Gesprächsführung und Konfliktbewältigung zu vermeiden. Damit ist es für Lehrer/innen insbesondere bedeutsam, sich in ihrer individuellen Orientierung und Reflexion in Bezug auf das eigene erzieherische Handeln an den Werten, Normen und institutionellen Bedingungen der demokratischen Gesellschaft zu orientieren, auf die sich die Schule als ein institutionelles Subsystem bezieht.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
3.2 Standards für die Lehrerbildung
131
In den Bereich des Innovierens fallen zudem die Aufgaben einer kontinuierlichen Beteiligung an der Schul- und Unterrichtsentwicklung. Hier ist insbesondere neben einer Mitarbeit in konzeptioneller und strukturbezogener Hinsicht (Entwicklung zur Ganztagsschule, Entwicklung zur inklusiven Schule, Entwicklung zur Gemeinschaftsschule, Projektentwicklung, neue Unterrichtsformen), auch die Gestaltung der Übergänge zwischen den Bildungsstufen und die Zusammenarbeit mit den Kooperationspartner/innen außerschulischer Einrichtungen (z.B. Sport- und Musikvereinen, Stadtteilsozialarbeit, Kulturzentren) zu nennen. Unter der Lehreraufgabe „Innovieren“ wird von Seiten der KMK gerade in Bezug auf den ersten und zweiten Bildungsübergang davon ausgegangen, dass die (angehenden) Lehrer/innen „den spezifischen Bildungsauftrag einzelner Schularten, Schulformen und Bildungsgänge“ sowie „die Bedingungen für erfolgreiche Kooperation“ (S. 13) kennen. Um zum Beispiel zu wissen, wie im Elementar- oder Sekundarbereich gearbeitet wird, bedarf es einer Auseinandersetzung mit den anderen Stufendidaktiken sowie einer Verständigung über die (unterschiedlichen) Übergangserwartungen. Das Beispiel der Übergangsgestaltung, in der es die Interessen und Perspektiven unterschiedlicher Akteur/innen, der Erzieher/innen, Lehrer/innen und der Kinder und deren Eltern, zu berücksichtigen gilt, zeigt auch, dass die Bereiche „Innovation“, „Schulentwicklung“ sowie „Professionalisierung“ eng zusammengehören und das Wissen um die anderen Bildungsbereiche zum Ausbildungskanon gehören muss. Der Begriff der „Schul- und Unterrichtsentwicklung“ bezieht sich in einem weiten Verständnis gleichfalls darauf, dass es sich für Lehrer/innen um eine dauerhafte berufsbiografische Aufgabe handelt, die eine stete Weiterentwicklung der eigenen Professionalität (z.B. im Rahmen von Fort- und Weiterbildungen) bedingt und nicht abschließbar ist. Dies schließt auch das Erkennen subjektiver und objektiver beruflicher Belastungen ein. Auch wenn diese Reflexion über die persönliche Berufstätigkeit und das eigene Handeln größtenteils alleine stattfindet, vor allem im Anschluss an den Unterricht, am Wochenende und in den Ferien, können konstruktive Gespräche mit Kolleg/innen, die Teilnahme an Supervisionsstunden oder an thematischen Fortbildungsveranstaltungen Ideen und Entwicklungsimpulse für die eigene Arbeit geben und (neue) Strategien aufzeigen, gerade auch im Hinblick auf die Bearbeitung der belastenden Momente des Lehrerberufs. Auch ein dezidiert praxisorientiertes Studium kann angehende Lehrer/innen nicht auf alles vorbereiten und sie berufsfertig ausrüsten. Deshalb kann es im Lehramtsstudium nicht primär darum gehen, Methoden und Techniken für den Unterricht als Handwerkszeug zu erlernen, die universell in jeden Klassenraum übertragbar wären, sondern um eine theoriebasierte Auseinandersetzung mit einem Theorie-Praxisbezug.
132
3. Gewinnen des Berufsproils
Arbeitsaufgaben
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1. Was ist Ihnen in Bezug auf die Lehreraufgaben, die die KMK für Lehrer/innen aller Schularten formulierte, besonders wichtig? Was ist der besondere Anspruch? Was ist neu? 2. Welche Schwierigkeiten erkennen Sie gerade im Hinblick auf die Erziehungsaufgabe und das Verhältnis von Unterrichten und Erziehen in der Schule?
3.3 Die zeitliche Dimension des Lehrerhandelns 3.3.1 Stundentafeln und Stundenpläne „Zeit ist nur dadurch, dass etwas geschieht, und nur dort, wo etwas geschieht.“ Ernst Bloch (1885-1977)
Ernst Blochs Bestimmung von Zeit untermauert den hohen Anspruch eines sinnvollen Umgangs mit der begrenzten Ressource Zeit in der Schule. Der bewusste Umgang mit Zeit in der Schule bezieht sich hierbei auf unterschiedliche Ebenen, er strukturiert mit Rhythmen und Rhythmisierung den Tag, die Woche und das gesamte Schuljahr. Lehrer/innen agieren damit stets auf der Grundlage eines pädagogischen Verständnisses, das sich auf das Verhältnis von Kindheit/ Jugend und deren Entwicklung in der Schule bezieht und Fragen nach dem Sinn einer zeitlichen Rhythmisierung aus anthropologischer Sicht thematisiert. Die Schule als Institution hat die Aufgabe, die dort verbrachte Lebenszeit der Kinder/Jugendlichen sinnvoll zu gestalten. Deshalb sind Unterrichtsausfälle und Vertretungsstunden eine permanente Herausforderung selbst für erfahrene Lehrer/innen. Auf der Ebene der Unterrichtsplanung geht es vor allem darum, die Lernzeit der Kinder/Jugendlichen sinn- und sinnenhaft mit ihnen zu gestalten. Dieses Vorhaben lässt dementsprechend schnell den chronischen Zeitmangel von Schule erfahren. Die den Lernenden zur Verfügung zu stellende Zeit wird in Stundentafeln abgebildet. Stundentafeln können in zwei Typen eingeteilt werden: • Der erste Typ bezieht sich auf die Lernzeit der Kinder/Jugendlichen, die sie als Lehrerstunden zugesichert bekommen. Es erfolgt eine Zuweisung der definierten Unterrichtsstunden pro Jahrgangsstufe pro Fach (vgl. Abb. 3.2). • Der zweite Typ wird Kontingentstundentafel genannt, da hier die Schule pro Jahrgangsstufe die zur Verfügung stehenden Stunden (Kontingent) verteilen kann. Das folgende Beispiel bezieht sich auf das Gymnasium in Baden-Württemberg und zeigt eine Übersicht über die Gesamtkontingente der Jahreswochenstunden für die Klassen 5 bis 10 (vgl. Abb. 3.3).
3.3 Die zeitliche Dimension des Lehrerhandelns
Fächer
Jahrgangsstufe 1
Jahrgangsstufe 2
Deutsch
Grundlegender
Grundlegender
6
6
Unterricht
Unterricht
5
5
16
16
3
4
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Mathematik Heimat- und Sachunterricht
Jahrgangsstufe 3
133
Jahrgangsstufe 4
Kunst
1
1
Musik
2
2
Sport
2
3
3
3
Religionslehre/Ethik
2
2
3
3
Englisch
–
–
2
2
Werken und Gestalten
1
2
2
2
Flexible Förderung
2
1
1
1
gesamt
23
24
28
29
Abbildung 3.2: Stundentafel für die Grundschule, Bundesland Bayern (2019)
Neben den allgemeinen Kontingentstundentafeln wird an jeder Einzelschule durch die Schulleitung und Stundenplanverantwortlichen jeder einzelnen Lehrkraft, abhängig von ihrer Deputatsgröße (z.B. ein volles oder halbes Deputat), ein spezifisches Stundenkontingent zugewiesen. Die Unterrichtsverpflichtung für Lehrer/innen bei einer vollen Stelle liegt in den meisten Bundesländer (vgl. Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hessen) bei 28 Deputatsstunden pro Unterrichtswoche für die Grundschule sowie bei 24,5/25,5 Deputatsstunden für das Gymnasium. Der Stundenplan der Lehrer/innen ist nicht willkürlich gesetzt, sondern es ist ein genehmigtes und öffentliches Dokument, das zudem juristisch anfechtbar ist.
Arbeitsaufgabe 1. Betrachten Sie die beiden Stundentafeln (vgl. Abb. 3.2 und 3.3) aus der Lehrerperspektive. Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede?
134
3. Gewinnen des Berufsproils
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Unterrichtsfach
Stundenkontingent
Religionslehre
11
Ethik
(7)
Deutsch
24
Erste Fremdsprache
22
Zweite Fremdsprache
18
Mathematik
24
Gesellschaftswissenschaftliches Fächerfeld Geschichte
10
Geographie
7
Gemeinschaftskunde
4
Wirtschaft / Berufs- und Studienorientierung
3
Naturwissenschaftliches Fächerfeld Fächerverbund Biologie, Naturphänomene und Technik
6
Physik
8
Chemie
6
Biologie
5
Aufbaukurs Informatik
1
Musik
9
Bildende Kunst
9
Sport
16
Profile (dritte Fremdsprache, Naturwissenschaft und Technik, gegebenenfalls Musik, Bildende Kunst oder Sport)
12
Poolstunden (für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtend)
4
Pool für Maßnahmen zur Differenzierung und Förderung
9,7
Abbildung 3.3: Kontingentstundentafel für das Gymnasium, für die Klassen 5 bis 10, Bundesland Baden-Württemberg (2019)
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
3.3 Die zeitliche Dimension des Lehrerhandelns
135
Zwar lässt die neue Generation der kompetenzorientierten Bildungspläne unverplante Freiräume für die eigene Schwerpunktsetzung und damit freiere Unterrichtsgestaltung zu, insbesondere als Klassenlehrer/innen in der Grundschule zu, um die einzelnen Stunden zu verteilen. Jedoch müssen sich alle Lehrer/innen, gerade an größeren Schulen, inhaltlich und organisatorisch mit ihren Kolleg/innen abstimmen und mit diesen gemeinsam die Stoffverteilung über das Schuljahr hinweg in ihren jeweiligen Fachkonferenzen planen. Darüber hinaus gilt es zu gewährleisten, dass die durch Bildungspläne curricular gedachte Kompetenzentwicklung der Schüler/innen auch erreicht werden kann. In jedem Stundenplan, gleich welcher Schulform und Schulstufe, gibt es einen chronischen Zeitmangel. Nicht nur Klassenräume müssen hier gewechselt werden, sondern teilweise pendeln Lehrer/innen auch zwischen verschiedenen Gebäuden. Zeitnot charakterisiert den Alltag der Lehrer/innen wie der Schüler/innen. Trotz zeitlicher Engpässe sollte das physische und psychische Wohlbefinden für die Kinder der relevante Fokus für das Lehrerhandeln sein. Im Hinblick auf eine bewusste Gestaltung der gemeinsamen Zeiten und Räume gilt dies hier jedoch nicht nur im Hinblick auf die Schüler/innen, sondern auch im Hinblick auf die Lehrer/innen selbst, denen die Aufgabe zukommt, verantwortlich mit dem gemeinsamen Raum und der zu gestaltenden Zeit in der Schule umzugehen. Angestrebt wird hier auf der Zielebene die Gewährleistung von effektiven Lernzeiten in einem durchdachten Ablauf im Gegensatz zu vergeudeten Zeiten und einem blinden und stressigen Aktionismus. Die individuellen Stundenpläne der einzelnen Schüler/innen können sich zudem auch innerhalb eines Jahrgangs oder selbst innerhalb einer Klasse durch die Ganztagsangebote und die Wahrnehmung außerschulischer (Unterrichts-) Angebote signifikant voneinander unterscheiden, unter Umständen hat ein Schüler fünf oder sogar noch mehr Wochenstunden als ein anderer abzuleisten.
Arbeitsaufgabe 1. Wie viele Fachlehrer/innen sind in der 3b eingesetzt (vgl. Abb. 3.4)? 2. Lesen Sie die Stundenpläne und diskutieren Sie die Konsequenzen für die betroffenen Schüler/innen und Lehrer/innen (www.utb-shop.de/978382525 1130). Es gibt Klassenlehrer/innen, die mit ihrem Stundendeputat alle Fächer abdecken. Daneben gibt es aber auch Fachlehrer/innen, gerade in den so genannten Nebenfächern, die oft in vielen verschiedenen Klassen arbeiten, um so ihr Deputat zu erfüllen. Auch hier macht es einen Unterschied, ob der Fachlehrer/die Fachlehrerin parallele Klassen hat, die unterrichtet werden oder ob man nicht nur von
136
3. Gewinnen des Berufsproils
Zeit
Montag
Dienstag
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Freiarbeit (Müller)
8.15 bis 12.45
(Gottesdienst) Freiarbeit (Müller)
Freiarbeit (Müller)
Sport (Benz)
Englisch (Raihel)
Sport (Benz)
Sport (Benz)
Freiarbeit (Müller)
Englisch (Raihel)
Englisch (Raihel)
Freiarbeit (Müller)
Kunst (Schlüter)
Offener Ganztag
Freiarbeit
Kunst (Schlüter)
13.00 bis 13.45 14.00 bis 14.45
Zeit
8.15 bis 12.45
Lernzeit (Müller)
Mittwoch
Donnerstag
Freitag
Freiarbeit (Müller)
Freiarbeit (Müller)
(Chor) (Benz)
Musik (Projekt) (Tillmann)
Freiarbeit (Müller)
Freiarbeit (Müller)
Freiarbeit (Müller)
Freiarbeit (Müller)
Klassenrat (Müller)
Freiarbeit (Müller)
Englisch (Raihel)
Musik (Tillmann)
Englisch (Raihel)
Sport (Benz)
Schmökerstunde (Müller)
Rechtschreiben (Müller)
Rechtschreiben (Müller)
Musik (Tillmann)
Sport (Benz)
13.00 bis 13.45
Lernzeit (Müller)
14.00 bis 14.45
Lernzeit (Müller)
Lernzeit (Müller)
Abbildung 3.4: Stundenplan einer Ganztagsgrundschulklasse, Klasse 3 b
3.3 Die zeitliche Dimension des Lehrerhandelns
137
Klasse zu Klasse, sondern auch von Jahrgang zu Jahrgang springt. Auch macht es einen Unterschied, ob Lehrer/innen in Vollzeit oder in Teilzeit arbeiten.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Zeit in der Schule Der Vergleich von Stundenplänen verschiedener Schulen zeigt auch, dass die von den Schülerinnen und Schülern in der Schule verbrachte Zeit abhängig von der jeweiligen vorfindbaren konzeptionellen Struktur vor Ort unterschiedlich gegliedert und gestaltet sein kann: 45-Minuten-Einheiten oder größere Zeitblöcke, Stunden definiert als Fachstunden oder einfach als Klassenlehrerstunden, Halbtags- oder Ganztagsunterricht u.a. Laut einer UNICEF-Studie aus dem Jahr 2013 verbringen bereits Grundschulkinder über 30 Stunden in ihrer Grundschule, auch wenn diese nicht explizit eine Ganztagsschule ist. Die Schule ist damit der Ort, an dem die Schüler/innen die meiste Zeit ihres Lebens außerhalb ihrer Familie verbringen. Dieser Anteil hat in den letzten Jahren, nicht zuletzt auch durch die Schulzeitverkürzung am Gymnasium (von G 9 auf G 8) zugenommen. Exkurs: Ergebnisse der UNICEF-Studie Während sich also die große Mehrheit der 2.500 befragten Sechs- bis Elfjährigen in Deutschland sehr wohl fühlt und Zeugnis von einer guten bis sehr guten Lebensqualität ablegt, fällt eine Minderheit auf, die unter relativ benachteiligten Bedingungen aufwächst. Die Kinder bemängeln ihre Situation in Freizeit und Freundeskreis, äußern sich kritisch zur elterlichen Zuwendung und zu den Freiheiten, die ihnen im Familienalltag gewährt werden und sind mit ihrer Situation in der Schule unzufrieden (Bertram 2013, S. 282). Nicht nur die Stundenpläne und schulischen Organisationsstrukturen sind verschieden, sondern auch die Zeiterfahrung der Kinder und Jugendlichen selbst unterscheidet sich von der Zeiterfahrung anderer und vor allem erwachsener Menschen. Sich beim Warten zu langweilen, auch wenn es nur einige Minuten sind, oder beim Spiel oder Beobachten eines Schmetterlings, die „Zeit zu vergessen“, zeichnen hier gerade das kindliche Zeitempfinden aus. Aber nicht nur die subjektiv wahrgenommene Zeit ist eine andere als die sogenannte objektive Zeit, auch hat sich der generelle Umgang mit der Ressource Zeit in den letzten Dekaden stark verändert und die Gesellschaft insgesamt „beschleunigt“.
138
3. Gewinnen des Berufsproils
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Lineare und zyklische Zeitmuster Lehrer/innen und Schüler/innen lernen und leben in der Schule in zwei konträren Zeitmustern: dem linearen und dem zyklischen. Die lineare Zeitstruktur ist in der Schule konkret an die Stundenpläne gekoppelt. Dass aber auch die zyklische Zeitstruktur für Schule und Unterricht bedeutsam ist, zeigt sich beispielsweise an der Orientierung am jahreszeitlichen Ablauf und der Orientierung an wiederkehrenden Elementen und Ritualen. Gerade für den Grundschulunterricht, aber auch für den Unterricht in Förderschulen oder in den unteren Klassen der Sekundarstufe I, kann Rhythmisierung als ein wichtiges pädagogisch-didaktisches Prinzip (vgl. Speck-Hamdan 1992, S. 29) angesehen werden, das leitend ist für die Planung und Durchführung des Unterrichtes auf der Ebene der einzelnen Unterrichtsstunden, aber auch auf der des gesamten Tages, der Wochen und Monate eines Schuljahres. So finden sich in der Schule wiederkehrende Elemente zum Wochenanfang oder -ende, wie z.B. der wöchentliche Klassenrat, die Gesprächskreise, der Wochenabschlusskreis oder Melodien, Sprüche oder Klatschrhythmen u.a. zu den Übergängen nach Pausen oder Arbeitsphasen sowie in regelmäßigen Abständen stattfindende Rituale wie das Singen eines gemeinsamen Liedes und wiederkehrende Feste und Feiern, die gemeinsam vorbereitet und durchgeführt werden. Hier erfahren die Schüler/innen auch in der Schule ein zirkuläres Zeitmuster, das die Wiederkehr von Ereignissen, ein Zeitrhythmus bestimmt. Da bereits jedes dritte Grundschulkind an einer (groß)städtischen Grundschule aus einer Familie mit Zuwanderungshintergrund kommt und seit 2015 viele Kinder aus Flüchtlingsfamilien ins Bildungssystem integriert werden, kommt hier auf die Schule die Aufgabe zu, auszuwählen, welche kulturell-bedeutsamen und religiösen Anlässe im Jahresverlauf gemeinsam gefeiert und auf welche Art und Weise diese in der Schulgemeinschaft begangen werden. Bereits 1992 wird hierbei in der Grundschulpädagogik die Beachtung der interkulturellen Dimension bei der Umsetzung des Anspruches einer Rhythmisierung im „Unterrichtsund Schulleben“ gefordert, bzw. als Selbstverständlichkeit erachtet: „Die Einbeziehung von Festen aus dem Kulturkreis ausländischer Kinder ist im Verständnis interkultureller Erziehung ein Selbstverständnis“ (Müller-Bardorff/Röbe 1992, S. 38). Gerade der Klassenlehrerunterricht, bei dem die Klassenlehrer/innen weniger als die Fachlehrer/innen in ihrer zeitlichen Taktung (z.B. 45-Minuten-Einheiten) gebunden sind und sie mit ihrem zeitlichen Kontingent freier umgehen können, z.B. dadurch, dass die Stundenkontingente eine flexible Verteilung der jeweiligen Stunden in den einzelnen Schuljahren ermöglichen, bietet didaktische Gestaltungsräume für Projekte oder freie Lernzeiten. So können bereits junge Schüler/ innen in der Freiarbeit oder Lernzeit (vgl. Abb. 3.4) im Sinne einer „überantworteten Zeit“ – unterstützt durch die Lehrer/innen – lernen, selbstverantwortlich mit ihrer Zeit in der Schule umzugehen. Dennoch, auch wenn viele Grundschu-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
3.3 Die zeitliche Dimension des Lehrerhandelns
139
len nunmehr auf eine Einteilung in die klassische 45-Minuten Unterrichtseinheit verzichten, die durch einen Schulgong akustisch angezeigt wird, und stattdessen größere Zeitblöcke anbieten sowie nur noch die „große Pause“ und keine weiteren mehr anzeigen, bleibt trotzdem die Bindung an zeitliche Vorgaben, die den Schulalltag gliedern, relevant. Vorgegeben wird, welche Arbeit in welcher Zeit erledigt werden soll und damit werden „Leistungsnormen in Verbindung mit Zeitvorgaben“ (Speck-Hamdan 1992, S. 26) gesetzt. Es bleibt ein Spannungsfeld für alle Lehrer/innen, trotz des notwendigen Blickes auf die Uhr während des Schultages und der Verpflichtung der Gewährleistung, dass die von staatlicher Seite vorgegebenen Bildungsstandards in den vorgegebenen Zeiträumen erreichbar sind, im Sinne der Kinder/Jugendlichen genügend Zeit und Raum für freie Beschäftigungen, selbstgewählte Arbeiten und für das Spiel zu ermöglichen. Die Schüler/innen in der Schule befinden sich weitgehend in einem linearen, getakteten Zeitmuster, was gleichermaßen auch für ihre Lehrer/innen gilt. Beschleunigung und Entfremdung Der Politologe und Soziologe Hartmut Rosa hat sich in den letzten Jahren intensiv den gesellschaftlichen Prozessen der Beschleunigung und Entfremdung gewidmet. „Moderne Gesellschaften sind durch eine systematische Veränderung der Zeitstrukturen charakterisiert, die sich unter den Sammelbegriff der Beschleunigung bringen lässt“ (Rosa 2016, S. 13). Er sieht die Beschleunigungsprozesse eng mit Entfremdungsprozessen gekoppelt. Das Gefühl, keine Zeit mehr zu haben, lange To-Do-Listen abzuarbeiten, die kein Ende finden, keine Zeit und Kraft mehr für Begegnungen zu haben u.a. steigert die Sehnsucht nach Ruhe und Entschleunigung (vgl. Kap. 6). Dass Zeit in der Gegenwartsgesellschaft als ein wichtiges Gut betrachtet wird und Zeit als eine „bewirtschaftete Zeit der modernen Gesellschaft“ verstanden werden kann, hat zudem das Verhältnis von Mensch und Zeit verändert: Es gestaltet sich zunehmend komplex. Bedürfnisse nach Entschleunigung bei einer weiteren Zunahme des Tempos in Arbeits- und Produktionsprozessen zeichnen derzeit gesamtgesellschaftlich das ambivalente Verhältnis von Mensch und Zeit aus, in der gleichzeitig immer früher und immer mehr Lebenszeit in Bildungsinstitutionen und deren (linearen) Zeitmustern verbracht wird. 3.3.2 Bildungsgrundformen und Rhythmisierung Zum Kindsein/Jugendlichsein aus anthropologischer Sicht gehören maßgeblich auch spielerische und schöpferische Ausdrucksformen. An eine anthropologische Argumentationslinie kann auch angeknüpft werden, um die Dimension Zeit zu veranschaulichen, da eine anthropologische Sichtweise sich primär mit der Frage auseinandersetzt, was das Menschsein auszeichnet und was den Menschen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
140
3. Gewinnen des Berufsproils
zum Menschen respektive was das Kind als Menschen ausmacht. Wo und in welcher Weise findet das Kindsein oder das junge Menschsein in der Schule seinen Ort? Gerade aus der anthropologischen und geisteswissenschaftlichen Begründungstradition heraus lässt sich die spezifische Gestaltung der Schulzeit im Kontext von Bildungsgrundformen und Situationen damit im Weiteren bildungstheoretisch als eine spezifische rhythmisierte Schulzeit („Schulzeitpartitur“) verstehen. Bildungsgrundformen Mit Bezug auf den reformpädagogischen Vertreter Peter Petersen (1884-1952) können die Arbeit, das Spiel, das Gespräch sowie die Feier als Bildungsgrundformen angesehen werden (vgl. Peter Petersen (1927/1965). Schüler/innen brauchen Zeit zum Spiel, zur konzentrierten Arbeit sowie zum sozialen und kommunikativen Austausch und für kulturelle Aktivitäten. Gerade zu den Feiern in der Klassen- und Schulgemeinschaft gehören konstituierend musische und kulturelle Aktivitäten, die nicht als nebensächlich erachtet werden dürfen, vielmehr sind sie elementar. Bemerkenswert ist auch, wie facettenreich jede Grundform verstanden wird. Peter Petersen: Der Kleine Jena-Plan „Wenden wir diese Betrachtungen auf Jena-Plan-Schulen an, so läßt sich alles, was ihnen noch aus der Schule als reiner Unterrichtsveranstaltungen anhaftet, abstreifen, und wir finden vier Urformen: Gespräch (Unterhaltung), Spiel, Arbeit und Feier in einer reineren Gestalt. Das kommt daher, daß in Jena bewußt daran gegangen wird, die Formen des natürlichen Lernens, wie sie vor der Schulzeit allein herrschen, von Beginn der Schulzeit an zu erhalten, innerlich fortzuentwickeln und auch dem, was ich das „Aufgaben-Lernen“ nenne, dienstbar zu machen. Sie verteilen sich über die Wochen und Jahre wie folgt: 1. Gespräch: Montags- und Sonnabendskreis, Pflege der Unterhaltung (causerie) während des gemeinsamen Frühstücks im Schulraum zu Beginn jeder Pause; „bildende“ Unterhaltung im Anschluß an einen Lehrspaziergang oder zur Verarbeitung und Ordnung von Gehörtem, Betrachtetem, Erzählungen, Vorträge, Berichten von Besuchern u. dgl. Mehr; belehrende Unterhaltung zwischen Lehrer und Kindern, zwischen den Kindern selbst während der Gruppenarbeit. 2. Spiel: die Spielformen des Lernens mit allerhand Material, besonders während der ersten Schuljahre, einschließlich allerlei Bewegungsspiele zum Erlernen wie zum Einüben in Rechnen, Sprachlehre, Gesang, Dichtung; durch alle Schuljahre hindurch zur „Wiederholung“ sehr beliebt: rhythmische und gymnastische Spiele; Turnen und Sport; Pausenspiele; Geländespiele.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
3.3 Die zeitliche Dimension des Lehrerhandelns
141
3. Arbeit: in allen Kursen, während des Gruppenunterrichts und der Gestaltungslehre als Grundform des Tätigseins, in die sich aber, verschieden nach Gegenstand und Schulalter, Spielformen einfügen und in denen vor allen Dingen der „Unterhaltung“ Raum gewährt ist, da ja in den Tischgruppen die freie, die gesamte Tätigkeit einer Gruppe durch nicht störende Unterhaltung nicht gehemmt wird. Ferner Arbeit im Schulgarten, in der Schulwohnstube, die es in Ordnung zu halten gilt, und anderes mehr. 4. Feier: Montags- und Sonnabendsfeiern; Feier sämtlicher Geburtstage der Gruppenkameraden; an den Festen wie Weihnachten, Karneval, Sommerfest; bei Aufnahme der Schulneulinge nach Ostern, bei ihrer feierlichen Einführung in die große Schulgemeinde am Schulgeburtstage; Feiern, die aus verschiedensten Stoffgebieten während der Arbeit an ihnen entstehen und zu dramatischer Gestaltung Anlaß geben. Es ist keiner Schule untersagt, hier weiterzugehen oder entsprechend Brauch und Sitte ihrer Gegend anders vorzugehen. Alles, was im Volkstum des Ortes gut und wertvoll ist, wird in ursprünglicher oder für die Schuljugend geläuterter Form auch in der Schule seinen Platz haben dürfen. Ja, es wird alsbald eine solche Schule suchen und von sich aus so überzeugend wirken, daß sich diese ihr öffnet“ (Petersen 1927/1965, S. 56f.). Da aus einer (kultur)anthropologischen Sicht das Kind als Mensch in erster Linie ein Sprach- und Symbolwesen (Ernst Cassirer) ist und das Spiel als die Grundform der Kultur (Johan Huizinga) gesehen werden kann, sollte die Schule Zeit und Raum für den kulturellen Ausdruck zur Verfügung stellen, um Bildungsprozesse zu ermöglichen. Wenngleich aus einer anthropologischen Sichtweise heraus betrachtet, grundsätzlich jeder Mensch – der Erwachsene wie das Kind – an Zeit und Raum gebunden ist, gilt in besonderer Weise für die Arbeit mit Kindern /Jugendlichen, dass Rhythmen und Rhythmisierung sowie eine bewusste Entscheidung, wie die Zeit im Raum zweckmäßig gestaltet und verbracht wird, zentrale Merkmale sind. Das Jahr in der Schule ist in Schulwochen und Ferien untergliedert, die das Jahr strukturieren. Damit agieren Lehrer/innen im Rhythmus zwischen Unterrichtszeit/Arbeitszeit und Freizeit bzw. schulfreier Zeit sowie vielen kleineren Zeiteinheiten wie Unterrichtsstunden als Einzel- und Doppelstunden, Unterrichtsreihen oder Projekten und Epochen. Diese können z.B. drei oder mehr Wochen dauern und haben jeweils einen inhaltlichen und zeitlichen Aufbau und einen Anfang und ein Ende. Die räumliche und zeitliche Gestaltung des Unterrichtsund Schullebens in der Schule, und hier insbesondere verstärkt im Kontext der Schulentwicklung zur Ganztagsschule, bezieht sich damit auf der Metaebene der Planung stets auf die Frage, wie und womit die Zeit gefüllt werden soll und was Schüler/innen an grundlegender Bildung erfahren sollen (vgl. Lichtenstein-Ro-
142
3. Gewinnen des Berufsproils
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
ther/Röbe 1982/2005). Umrissen wird damit gleichzeitig der Kern einer eigenen Stufendidaktik, der hier etwa die Primarstufendidaktik ausmacht und aufzeigt, was das Spezifische einer Pädagogik und Didaktik des Primarbereichs im Gegensatz zur Pädagogik und Didaktik des Elementarbereichs oder Sekundarbereichs sein kann. Jenseits vom 45-Minutentakt Gerade in der Ganztagsgrundschule wird das Prinzip der Rhythmisierung besonders deutlich, denn zu klären ist, wieviel unterrichtliches und wieviel außerunterrichtliches Lernen im Vor- und Nachmittagsbereich stattfinden soll. Wenn sich die Ganztagsschule auf ein ganztägiges Schulangebot an mindestens drei Tagen pro Woche im Umfang von mindestens sieben Stunden (vgl. Kultusministerkonferenz 2015) bezieht, liegt es auf der Hand, dass dies für Schüler/innen wie für Lehrer/innen gleichermaßen einen verlängerten Aufenthalt in der Schule bedeutet und Auswirkungen hat auf die Art und Weise, wie an und in der Schule miteinander gelernt, gelebt und gearbeitet wird. Die Lehrer/innen an einer Ganztagsschule unterrichten nicht nur am Vormittag, sondern auch nachmittags und übernehmen zudem Aufgaben, die bislang weniger in den Bereich der Lehreraufgaben fielen, wie etwa die Aufsicht beim Mittagessen oder bei den Hausaufgaben und bei den Arbeitsgemeinschaften. Gerade Lehrer/innen können hier ganz neue Erfahrungen machen, auch wenn mehrheitlich die AGs nicht von ihnen übernommen werden, sondern von anderen Betreuerinnen und Betreuern. Nicht nur in der Ganztagsschule, sondern in der Schule insgesamt, ist es bedeutsam, dass bei der Stunden- und Wochenplanung Überlegungen aus einer „chronobiologischen Perspektive“ Eingang finden und Aspekte der „(Lern-)physiologie“ bzw. des „Zeitempfindens“ berücksichtigt werden. Einschlägige Studien (vgl. z.B. Drews 2008, Stangl 2018) zur Leistungsfähigkeit während des Tagesverlaufs zeigen, dass die Konzentrationsfähigkeit vormittags in der Zeit von 9-12 Uhr besonders groß ist, mit einem Leistungshöhepunkt um 10.00 Uhr, sowie zwischen 12-15 Uhr besonders niedrig. Zudem würde ein späterer Schulbeginn zwischen 8.30 und 9.00 Uhr gerade dem Bio-Rhythmus jugendlicher Schüler/innen entsprechen. „Während nämlich kleine Kinder ihre Eltern früh aus dem Bett werfen, verschiebt sich der Rhythmus in den Jahren des Heranwachsens immer weiter nach hinten“ (Drews 2008, S. 45), worauf die Schule nur wenig Rücksicht nimmt. Im Folgenden wird zwischen einer äußeren und einer inneren Rhythmisierung unterschieden: Bei der äußeren Rhythmisierung geht es vor allem um eine sinnvolle Auswahl und zeitliche Verteilung unterschiedlicher didaktischer Angebote: • Inputphasen und Übungsphasen etc., • Angebote zur Entspannung (wie Achtsamkeitsübungen, Traumreisen),
3.4 Die räumliche Dimension des Lehrerhandelns
143
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
• Nutzen von Ruheräumen und • Räumen zur Bewegung (wie Bewegungsbaustelle, Bewegte Pause mit Kletterund Spielangeboten auf dem Pausenhof). Gleichzeitig ist zu fragen, ob Raum und Zeit für freies Spiel (als nicht didaktisiertes Spiel) und Rückzugsmöglichkeiten vorhanden sind, damit sich Kinder in bestimmten Zeiten auch außerhalb der betreuten und beaufsichtigten Zonen aufhalten und ihrem individuellen Rhythmus folgen können. Trotz alledem, auch bei einer pädagogisch durchdachten Zeitstruktur: Schule bleibt Schule, und dazu gehört auch, dass Kinder im Kontext von Schule als Pflichtveranstaltung täglich ebenfalls Erfahrungen mit Langeweile (im Unterricht, bei Ganztagsangeboten), mit Zeitknappheit (zu wenig Zeit für die Erledigung der Aufgaben, für Pausen) sowie mit einer unterschiedlichen Gewichtung von Ereigniszeit (Einführen von Neuem, Ausnahmezeiten) und alltäglichen Routinen machen.
Arbeitsaufgaben 1. Welche Beobachtung machen Sie bei den Kindern/Jugendlichen? Wie gehen diese mit Zeit um? 2. Warum hat aus Ihrer Sicht ein pädagogischer Umgang mit der Dimension Zeit nicht nur in der Ganztagsschule, sondern generell in der Schule eine große Bedeutung? 3. Kennen Sie Bildungsgrundformen und Rhythmisierung (Spiel, Feier, Gespräch, Arbeit) aus eigener Erfahrung? 4. Welche Erfahrungen haben Sie bereits mit dem Bereich Rhythmisierung in der Schule z.B. im Rahmen von Praktika oder der Schulentwicklung machen können?
3.4 Die räumliche Dimension des Lehrerhandelns Der Schulraum besteht aus Innen- und Außenräumen, zu denen neben den Klassenräumen, Fach- und Mehrzweckräumen, dem Lehrerzimmer und ggf. weiteren Räumen wie Bibliothek, Besprechungs- und Besucherräume auch der Hausmeisterkiosk sowie ausgelagerte Räume wie der Pausenhof, Sportanlagen, Spielplätze etc. gehören. Nicht nur Größe und Lage der Schulen unterscheiden sich deutlich voneinander, sondern auch die Art bzw. der Zustand der Bausubstanz und damit die Verwendung von Farben, Formen, Materialien sowie der Ort, an dem die Schule liegt und damit auch der Schulsprengel, dem die Schule zugeordnet ist, also das Quartier, die Gemeinden, die Wohnungen und Häuser aus denen die Schulkinder kommen, die diese Schule besuchen.
144
3. Gewinnen des Berufsproils
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
3.4.1 Der Schulraum als Lern-, Handlungs- und Gestaltungsraum In der Gestaltung der Schulräume zeigt sich, was im historischen Rückblick besonders deutlich wird, die jeweilige Auffassung von Schule, von Unterricht, von Schülersein und von Lehrersein. Während im Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit die Schüler/innen im Haus oder im Wohnraum oder in der Werkstatt des Lehrers (da viele Lehrer gleichzeitig Handwerker waren) unterrichtet wurden, fand dieser zeitgleich in Preußen bereits in eigenen Schulhäusern statt. Im Gegensatz zu heutigen Schulbauten wurden die Schulen in der Zeit der Industrialisierung (um 1900) kasernenartig (vgl. Abb. 3.5) gestaltet. Dieser Schulraum hatte seine Entsprechung in dem militärischen Unterrichtsstil des Lehrers, der die Schüler/innen in einem zentral gesteuerten Gleichschritt unterrichtete (vgl. Göhlich 2013, S. 33). Vor allem in der Reformpädagogik, die Ende des 19. Jahrhunderts in der Wirkung der Kulturkritik und sozialer Reformbewegungen entstand und sich als Gegenbewegung zur „Zwangs- und Drillanstalt Schule“ versteht, wird die Bedeutung und Nutzung von Räumen in allen reformpädagogischen Konzeptionen zu einem wichtigen Thema. Erstmalig, wenngleich in den verschiedenen Konzeptionen unterschiedlich akzentuiert, wird danach gefragt, welche Rolle ästhetische bzw. künstlerische Ausdrucksformen in der Bildung und Erziehung spielen sollten (Kunsterziehungsbewegung), ob Kinder nicht besser in Internaten auf dem Lande als Reaktion auf die moralischen Verfallserscheinungen und die negativen Auswirkung der Verstädterung erzogen werden sollten (Landerziehungsheimbewegung) und welche Formen körperlicher, geistiger und künstlerischer Arbeit in der Schule relevant sein sollten (Arbeitsschulbewegung). In reformpädagogischen Konzeptionen wurden damit neben der Lage und Bauweise erweiterte Schulräume als Werkstätten, Ateliers und Bühnen sowie spezielle Möbel und Einrichtungsgegenstände zu wichtigen konzeptionellen Elementen von Schule und Unterricht (vgl. z.B. Skiera 2003). Heute verfügt jedes Bundesland über Schulbaurichtlinien, die bautechnisch relevante Daten zur Raumgröße, Wegen, raumabschließenden Bauteilen, Rettungswegen usw. verbindlich festlegen. Auch Regelungen zu Schadstoffen, Lichtund Luftverhältnissen und zum Lärmschutz werden darin ausgebracht. An den Brandschutzbestimmungen scheitert es oft, dass Tische, Regale, Sofas u.Ä. in den Fluren aufgestellt werden dürfen. Während gegenwärtig rechtliche Rahmenbedingungen in Bezug auf den Schulraum durchaus ihre Berechtigung haben, um z.B. Schüler/innen und Lehrer/innen vor Schadstoffen in Wänden und Decken zu schützen, gesundheitsförderliche Licht- und Luftverhältnissen zu schaffen und auch den Lärmschutz zu regeln, gibt es im Schulgesetz der jeweiligen Bundesländer und in weiteren Erlassen keine generellen Aussagen darüber, welche Innenausstattung eine Schule braucht. Die Bereitstellung des Schulraums sowie dessen Ausstattung fällt primär in den Zuständigkeitsbereich der Kommunen; für manche Vorhaben kommen Mischfinanzierungen (Land, Kommune,
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
3.4 Die räumliche Dimension des Lehrerhandelns
145
Abbildung 3.5: Das Schulhaus im Baustil einer Kaserne
Bezirk, Förderverein, Sponsoren) zustande. Bei der Ausstattung des Schulraumes handelt es sich vielmehr um ein historisch-tradiertes Wissen, das beispielsweise auch dann sichtbar wird, wenn jüngere Kinder Schule spielen, Kindergartenkinder Schule malen oder spezifische Ausstattungselemente beim „Schule spielen“ verwenden wie Tafel, Tische und Stühle, die auf bestimmte Weise im Raum angeordnet werden. Diese Beispiele zeigen, wie inkorporiert das Bild von Schule ist. 3.4.2 Raumnutzung und Raumgestaltung Je jünger die Kinder sind, desto relevanter ist der Raum für die konzeptionellen Überlegungen in pädagogischen Institutionen. Das zeigt sich deutlich im Elementarbereich im Hinblick auf die Frage nach der Funktion und der bedarfsgerechten Einrichtung von Räumen in Kinderkrippen, Kindertageseinrichtungen sowie der nach der Gestaltung der dazugehörigen Außengelände mit Spielgeräten etc. In ähnlicher Weise wird auch in Bezug auf den Primarbereich, aber auch den Sekundarbereich thematisiert, welche pädagogisch-didaktischen Funktionen der Raum übernehmen soll und wie sich die konzeptionellen Überlegungen im Raum widerspiegeln und welche Wirkung ihm zukommt.
146
3. Gewinnen des Berufsproils
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Auch ist es abhängig von der jeweiligen Klassenraumgröße, ob Raum vorhanden ist für einen Stuhlkreis bzw. Sitzkreis und damit, ob es regelmäßige Erzählkreise und Kreisgespräche z.B. vor Tafel oder in der Mitte der angeordneten Tische, geben kann oder ob diese stufendidaktische Methode und Sozialform wenig(er) genutzt wird. Häufig sitzen die Grundschulkinder an Gruppentischen oder im „Hufeisen“.
Arbeitsaufgaben 1. Nach welchen Kriterien gestalten Sie eine Sitzordnung? Welche unterschiedlichen Möglichkeiten für die Anordnung der Tische und Stühle kennen Sie? 2. Jede Sitzordnung hat Vor- und Nachteile. Stellen Sie einen Zusammenhang zwischen Sitzordnung und Unterrichtskonzept her. (www.utb-shop.de/978382 5251130)
Als Begründung bietet sich insbesondere eine anthropologische Sicht an, um zu beschreiben, warum die Frage der Raumgestaltung für die Arbeit in der Schule zentral ist. Menschsein ist an den Raum gebunden, jedem „Menschen ist der Raum als unausweichliche Bedingung seiner Existenz gegeben. Er kann sich dem Gespräch entziehen, das Zusammensein mit anderen meiden – dem Raum aber ist er ausgeliefert, ihm vermag er nicht zu entrinnen“ (Röbe 1992, S. 12). Das Zitat verweist auf die Wechselwirkung zwischen Klassenraum und Schülersein. Klassenraumgestaltung und Raumnutzung wirken sich auf das jeweilige methodisch-didaktische Setting des Unterrichts aus. Sie stehen in einer Wechselwirkung. „Wird das Klassenzimmer nicht nur oder primär als Raum für Unterricht mit überwiegend lehrergesteuertem Lernen und gemeinsamem Fortschreiten, sondern als Raum individuellen, aktiven Miteinanderlernens und -lebens verstanden, spiegelt sich das in der Ausstattung und auch in der Weise, wie die Schüler/innen ihn erobern und mitgestalten dürfen“ (Lichtenstein-Rother/Röbe 2005, S. 76).
Hier geht es um mehr als nur um die Frage einer partizipativen Raumgestaltung. Raum und Bildung stehen in einem ursächlichen Zusammenhang gerade im Kontext der Grundschule. So verweisen etwa Ilse Lichtenstein-Rother und Edeltraud Röbe in ihrem Buch „Grundschule. Der pädagogische Raum für Grundlegung der Bildung“ (1982/2005) mit ihrem Titel auf die Wechselwirkung zwischen Raum und Bildung und betonen damit die Gestaltung des pädagogischen Raumes Schule. Die gemeinsame Raumgestaltung mit künstlerischen Exponaten an den Wänden, in Projekten hergestellten Skulpturen oder gar Einrichtungsgegenstände (wie eine Bank oder ein Regal) sind damit nicht nur unter ästhetischen und pragmatischen Aspekten relevant, um die Schule mit Artefakten zu bestü-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
3.4 Die räumliche Dimension des Lehrerhandelns
147
cken oder Aufbewahrungs- und Sitzmöglichkeiten zu schaffen, sondern vor allem auch, um zu zeigen, dass die Schule tatsächlich ein Lern-, Handlungs- und Lebensraum der Kinder/Jugendlichen ist und diese sich dort als selbstwirksam erfahren können. Ein Schulraum sollte mehrere Funktionen erfüllen können, z.B. klassenbezogenes Arbeiten und Unterrichten, kommunikative Gespräche (z.B. Kreisgespräche), selbstorganisiertes Lernen (z.B. Freiarbeit) und er sollte ästhetisch gestaltet sein. Und doch ist nicht zu übersehen, dass die ausgestellten Artefakte (z.B. Zeichnungen, Texte) zugleich Leistungsdokumente und einer Öffentlichkeit zugängig sind. Der Schulraum gewinnt allmählich an Aufmerksamkeit Es brauchte indes schulgeschichtlich lange, bis allgemein anerkannt wurde, dass der Raum in der Schule eine pädagogische Funktion hat und nicht eine beliebige. Wichtige reformpädagogische Konzeptionen sind hierbei die Montessori-Pädagogik sowie die Waldorfpädagogik. So ist etwa an Waldorfschulen die Wandfarbe in den Klassenräumen nicht zufällig gewählt und die Technik des Streichens bzw. Lasierens der Wände und Decken wohlüberlegt. Der Klassenraum der ersten Klasse ist hier bewusst in einer anderen Farbe gestrichen als der in der zweiten Klasse, der der dritten Klasse wiederum anders als in den vorherigen usw. Während sich Rudolf Steiner (1861-1925) intensiv in seiner „Menschenkunde“ oder „Sinneslehre“5 damit beschäftigte, welche Wirkung die Architektur sowie die in Schule und Unterricht gewählten Farben und Formen auf die Entwicklung des Kindes haben, hat sich Maria Montessori (1870-1952) zwar auch für die Nutzung des Raumes als „bildende Lebenswelt“ (Maria Montessori), kindgerechte Möbel und entwicklungsfördernde Materialien interessiert, hier im Unterschied zur Waldorfpädagogik indes weniger im Hinblick auf die Förderung der Kreativität der Kinder und deren ästhetische Bildung. Die reformpädagogische „Metapher vom Raum als dem dritten Pädagogen“ ist ein gängiger Begriff und auch der pädagogische Raum hat zunehmend Einzug in die pädagogischen Diskussionen gefunden. Die Formulierung, den Raum als „dritten Pädagogen“ zu begreifen, stammt von der Reggio-Pädagogik bzw. deren Begründer Loris Malaguzzi (1920-1994). Der Begriff des Raumes bezieht sich hier ebenfalls nicht nur auf die Innenräume der pädagogischen Einrichtungen und ihre pädagogischen Bezüge: „Zum pädagogisch wirksamen Raum gehört vielmehr auch das ganze von den Kindern (überwiegend zu Fuß) erschließbare Umfeld: die Straßen, Plätze, öffentlichen Gebäude der Stadt ebenso wie die Reste von Natur in der Stadt und an ihrem Rand: Parks, Gärten, Äcker, Wiesen, Teiche und Wasserläufe. Mit ihrer Präsenz im Alltagsleben der
5 Vgl. z.B. Steiner, Rudolf (2004): Zur Sinneslehre. Stuttgart.
148
3. Gewinnen des Berufsproils
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Stadt bringen sich Kinder in die Welt der Erwachsenen ein, kommunizieren mit ihr“ (Knauf 2000, S. 195).
Als weitere wichtige reformpädagogische Konzeption ist die Freinetpädagogik zu nennen, die von Célestin Freinet (1896-1966) und seiner Frau Elise (1898-1983) begründet wurde und die sich intensiv mit der Dimension Raum als Lern- und Arbeitsräume sowie als Möglichkeits- und Handlungsräumen beschäftigt. In Schulen, die sich in ihrer Konzeption auf die Freinetpädagogik beziehen, gibt es hier eine Gliederung des Klassenzimmers in einen Klassen- und Gemeinschaftsraum sowie Ateliers oder zusätzliche bzw. weitere Räume, die für die Ateliersarbeit genutzt werden können. Diese werden im schulischen wie im vorschulischen Bereich mit Arbeitsmitteln und Arbeitsmaterialien ausgestattet. Hierbei wurde eine anthropologische Vollständigkeit verfolgt (künstlerische und handwerkliche Ateliers, vgl. Kap. 4). Nicht nur in reformpädagogisch orientierten Schulen, die es in staatlicher und freier Trägerschaft gibt, ist die Kategorie Raum in Bezug auf die Planung und Durchführung von Unterricht zentral. Vielmehr sind die Dimensionen Raum und Zeit eine generelle Voraussetzung für die Unterrichtsplanung der Lehrkräfte an allen Schulen. Gerade im Hinblick auf eine inklusive Schule, die nicht nur über den Lernstoff Unterschiede berücksichtigen will, ist die Frage der Möglichkeiten im Raum, um entsprechend unterschiedliche Materialien und Lernhilfen sowie unterschiedliche (auch nicht kognitive) Lernzugänge anzubieten, zentral. Es ist ein besonderer Vorteil, wenn es dafür zwei Klassenräume gibt. So sind mittlerweile an vielen (vor allem neuen) Schulen zwei Räume pro Klasse vorhanden, womit die Möglichkeit eines differenzierenden Unterrichtens räumlich unterstützt wird, beispielsweise durch einen angrenzenden weiteren Raum oder Tische auf dem Flur vor dem Klassenzimmer. Ausgangspunkt Standardsitzordnung Die Standardsitzordnung (vgl. Abb. 3.6) ist in vielen Klassenräumen zu finden, zugleich gibt es noch andere Formen. Sie stellt zudem die Ausgangsform für verschiedene Variationen möglicher Arbeits- und Sozialformen im Klassenzimmer dar. Der Raum als herausfordernde Gestaltungsaufgabe Der jeweils vom Lehrer/von der Lehrerin vorgefundene Raum kann so gestaltet werden, dass er seinen vielfältigen Funktionen gerecht wird. Auch in einem kleinen Schulraum ist es möglich, regelmäßig Sitzkreise und Kreisgespräche zu etablieren und die Sitzordnung bei Bedarf zu verändern. Grundschulklassen in Deutschland haben, wie Zahlen des Statistischen Bundesamtes beispielsweise für das Bundesland Nordrhein-Westfalen im Jahr 2018 belegen, im Durchschnitt
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
3.4 Die räumliche Dimension des Lehrerhandelns
Abbildung 3.6: Standardsitzordnung Klassenzimmer, Sekundarbereich
Abbildung 3.7: Anordnung der Tische in einem ‚Hufeisen‘
149
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
150
3. Gewinnen des Berufsproils
Abbildung 3.8: Klassenraumgestaltung Konzept „Bewegtes Klassenzimmer“
24 Schüler/innen. Aufgrund des demographischen Wandelns gibt es indes gerade in ländlichen Regionen Grundschulklassen mit weitaus weniger Kindern und großstädtischen Grundschulen Klassen mit mehr als 24 Schüler/innen. Damit ist es stets abhängig von der tatsächlichen Kinderzahl pro Klassenraum, ob dieser mit 60 Quadratmetern als groß oder klein eingestuft werden kann. Die Klassengrößen an Realschulen und Gymnasien sind weitaus größer und liegen je nach Bundesland und Schulart bei einer Obergrenze von 28, 30 oder 32 Schüler/innen pro Klasse. In den letzten Jahrzehnten haben sich zudem bewegungsorientierte Konzepte wie die „Bewegte Schule“,6 in der auch das Schulmobiliar beweglich ist, von Einzelschulen, und damit von der Initiative einzelner Lehrer/innen ausgehend, ausgebreitet. Sitzkissen und Bänke, die die tradierten Schulmöbel, Stühle und Tische, ersetzen, können flexibel für sitzende Tätigkeiten und andere Funktionen genutzt werden und bei Bedarf, etwa wenn die Konzentration nachlässt, schnell von Lehrer/innen und Schüler/innen zu einer Bewegungsbaustelle umgestaltet 6 Bewegte Klassenräume (z.B. nach dem Bochumer Modell) gibt es an vielen Waldorfschulen, aber auch an Regelschulen.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
3.4 Die räumliche Dimension des Lehrerhandelns
151
werden, um Gelegenheit zum Balancieren und Klettern u.a. zu bieten oder als Kulisse für Rollenspiele und Theateraufführungen im Klassenraum zu dienen. Die Öffnung des Raums und damit des Unterrichts und seiner Gestaltung insgesamt bezieht sich in der Schule stets auf Innen- und auf Außenräume, die gemeinsam von Lehrer/innen und Schüler/innen genutzt und gestaltet werden. Gerade für die Arbeit an der Grundschule, aber nicht nur dort, sind außerschulische Lernorte (vgl. Kap. 5) von Bedeutung, die den eigentlichen Schulraum als Lernraum erweitern, wie etwa die Außenräume der Schule, die mehr als nur ein Hof oder Platz für die Pause sein können, sondern vielmehr als Bewegungsräume oder als Schulgärten Raum für Pflanzen und Tiere oder Platz für Projekte (z.B. Projekte zum Recyling/Upcycling oder zu erneuerbaren Energiequellen) oder gerade aber auch als von Kindern gestaltbare (echte) Spiel-Plätze genutzt werden können. Dennoch, auch wenn die Ausstellung von Objekten aus dem Unterricht in den Räumen und an den Wänden unter die Rubrik einer pädagogischen und ästhetischen Raumnutzung fallen, sind die ausgestellten Objekte nicht allein nur illustrativ, sondern als Objekte, die die Schülerinnen und Schüler hergestellt haben, immer auch eine Veröffentlichung von Leistung(en).
Arbeitsaufgaben 1. „Überlegungen einer sinnvollen Raumgestaltung und Raumnutzung beziehen sich stets auf die eigene Haltung zu unterschiedlichen methodisch-didaktischen Ansätzen. Sie sind indes aber auch begründbar mit Überlegungen zur Regulation des Verhaltens der Kinder und stellen eine Form der Disziplinierung dar. Diskutieren Sie diese Aussage und positionieren Sie sich.“ 2. Vergleichen Sie die verschiedenen Möglichkeiten, einen Klassenraum für 24 Schüler/innen einzurichten. Die Schulbauempfehlung sieht zwei Quadratmeter pro Schüler vor. Wo sehen Sie Vorteile, wo Nachteile und Schwierigkeiten? (www.utb-shop.de/9783825251130) Raummangel Unsere Lehrer/innen haben häufig keinen festen Arbeitsplatz im Vergleich zu Kolleg/innen in anderen Ländern und können deshalb hier nur begrenzt ihren Unterricht vor- und nachbereiten sowie ihre Materialien herstellen und aufbewahren. Haben Sie einen eigenen Arbeitsplatz in der Schule, bleibt hier, genauso wie im eigenen Büro zu Hause auch, die Aufgabe, diesen sinnvoll einzurichten und den begrenzten Raum mit einem durchdachten Ordnungssystem, einer geeigneten Beleuchtung usw. optimal zu nutzen (vgl. Haberer/Wolf 2018, S. 25). Gerade die Einführung der Ganztagsschule führt zwar einerseits zu mehr Präsenz der Schüler/innen und Lehrer/innen am Ort der Schule, gleichzeitig verschärft sich dadurch die Raumknappheit und deren Nutzung. Während vie-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
152
3. Gewinnen des Berufsproils
lerorts Neubauten mit Funktionsräumen (Mensa, Spiel- und Bewegungsräume, Gruppenräume) gebaut werden, findet in älteren Schulgebäuden aus Raummangel häufig eine Mehrfachnutzung vorhandener Räume statt (z.B. ein Klassenraum ist zugleich Essraum). Eine multifunktionale Nutzung des Klassenzimmers stellt an Schüler/innen, Lehrer/innen und andere Personen spezielle Herausforderungen beispielsweise die Einhaltung von Nutzungsregeln, Absprachen und Aufgabenverteilungen, Pflege und jahreszeitliche Gestaltung des Raums. Gerade auch, wenn im Bereich der Ganztagsschule unterschiedliche Personengruppen dieselben Räume nutzen, bedarf es einer Klärung der Zuständigkeiten. Jede Schule bearbeitet die Dimension Raum auf ihre Weise, indem gemeinsame Antworten auf die Frage nach Funktionalität der Schulraumgestaltung erarbeitet werden. Anschaffungen und Aufteilungen, wie zum Beispiel Sitzmöglichkeiten und Arbeitsmöglichkeiten oder etwa die Suche nach Lagermöglichkeiten für Materialien, die es anzuschaffen und aufzubewahren gilt, die Einbeziehung weiterer Räume wie beispielsweise der Schulgarten oder flexible Zugänge zu den Außenräumen zu etablieren, kann nur innerhalb eines Kollegiums in Absprache mit allen Beteiligten (Kommune oder Schulträger, Rektor/in, Kollegium, Hausmeister, Schüler/innen, Eltern) geklärt werden. Besonders relevant ist die Frage nach der medialen Ausstattung; dazu gehören auch die Einrichtung von Medienklassen in der Sekundarstufe (z.B. „I-Pad“Klassen) oder die Abschaffung der Overheadprojektoren zugunsten von Beamer und Laptop (vgl. Kap. 5). Während sich kulturell überliefert hat, dass ein Klassenzimmerinventar mindestens aus Tischen, Stühlen und einer Wandtafel mit Kreide besteht, zeigen Beispiele aus Nachbarländern, aber auch aus Nachbarschulen, dass etwa die grüne dreiteilige oder einteilige Wandtafel dort bereits überholt ist. So hat etwa in den niederländischen Grundschulen flächendeckend das elektronische Whiteboard Einzug gefunden und die traditionelle Tafel abgelöst.
Arbeitsaufgaben 1. Warum ist die Gestaltung des Schulraums ein wichtiges Thema? Mit welchen eigenen Beispielen können Sie den Zusammenhang zwischen Raumgestaltung und Lehrerhandeln in der Schule beschreiben? 2. Vergleichen Sie weitere ausgewählte Darstellungen7 zum Thema Schulraum. Welche Kriterien der Schulraumgestaltung sind Ihnen wichtig?
7 Vgl. z.B. die Internetseiten https://www.bmb.gv.at/schulen/sb/raumbildung.pdf; Dreier, Annette/Kucharz, Diemut/Ramseger, Jörg/Sörensen, Bernd (1999): Grundschulen planen, bauen, neu gestalten. Frankfurt/Main.
3.4 Die räumliche Dimension des Lehrerhandelns
153
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
3.4.3 Wirkung von Schulräumen Praktikantin Lilia L. nach ihrem Schulpraktikum, 20 Jahre „Die Schule ist ein typischer 70er Jahre Bau und macht äußerlich einen abgenutzten Eindruck. Sie ist beige gestrichen. Ich war sehr angeregt und nervös, war aber auch gespannt auf das, was mich erwarten würde. Der erste Eindruck von außen von der Schule war, dass die Schule unheimlich groß sein muss. Doch die Eingänge und auch das Innere des Schulgebäudes wirkten sehr klein, auch wegen der kleinen Treppenhäuser. Man hat sofort ein gutes Gefühl und fühlt sich heimisch und familiär.“
Praktikantin Lisa B. nach ihrem Schulpraktikum, 19 Jahre „Die Schule wirkte sehr ungepflegt, heruntergekommen und ekelig. Alles wirkte eher abweisend als einladend, zudem war keine bzw. kaum Beschilderung vorhanden, wodurch ein Zurechtfinden sehr schwierig war. Mein Gefühl an diesem ersten Tag war sehr schlecht und ich hatte wenig Motivation, überhaupt ins Praktikum einzutreten.“ Die Beschreibung der eigenen Gefühlslage beim Ankommen an der Praktikumsschule macht deutlich, dass Schulgebäude unterschiedliche Ausstrahlung und Wirkung haben, die nicht nur bei Kindern/Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen bestimmte Gefühle erzeugen oder Erinnerungen hervorrufen, beispielsweise an das eigene Schulgebäude, in dem man als Kind/Jugendlicher unterrichtet wurde. Das Schulhaus als Gebäude, aber auch bereits die Außenanlagen sowie die Lage der Schule erzeugen damit einen ersten Eindruck, der abgeglichen wird mit eigenen Vorerfahrungen. Diese ersten Zuschreibungen und Konnotationen können positiv oder negativ einstimmen auf das Verweilen bzw. Arbeiten an diesem Ort. Schulen unterscheiden sich gravierend voneinander in Bezug auf Größe, Farbgestaltung und Bausubstanz von außen sowie von innen durch ihre Raumanordnung, Raumgestaltung und Raumnutzung. Ebenfalls sind Schulsprengel, Straßenzüge und Häuser, aus denen die Kinder/Jugendlichen in die Schule kommen, verschieden. Im Alltag der Lehrer/innen ist es an vielen Schulen eine Herausforderung, mit einem Mangel an geeigneten Fachräumen und einer Mehrfachnutzung von Räumen zurechtzukommen bei dem gleichzeitigen Anspruch, die Räume methodisch-didaktisch sinnvoll nutzen zu wollen.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
154
3. Gewinnen des Berufsproils
Gabriele K., Lehrerin im Ruhestand, 70 Jahre Meine Klassenräume waren „meine Räume“, in denen ich mich zuallererst wohlfühlen wollte: Blumen, gemütliche Ecken, manchmal besondere Lampen, meine Bilder und Lieblings CDs bestimmten z.T. den Raum und mein Arbeitsplatz befand sich nicht immer frontal vor der Tafel, sondern am „Kraftpunkt“ des Raumes. Der Klassenraum war unser gemeinsamer Arbeits- und Lebensraum. Zunehmend lernte ich rechtzeitig und sicher, Signale des Klimas in unserer Gemeinschaft wahrzunehmen, mein Repertoire an Handlungsmöglichkeiten erweiterte sich im Verlauf des Berufslebens ebenso wie das Wissen um die Souveränität der eigenen Entscheidungen im Klassenraum. Das Wohlbefinden im Schulraum Das Wohlbefinden im Schulraum und die Möglichkeit, sich aktiv in die Raumplanung und -gestaltung einbringen zu können, sind wesentliche Voraussetzungen, dass Schüler/innen wie Lehrer/innen gerne zur Schule gehen. Wie empirische Studien (vgl. z.B. Herrmann 2014, Hoegg 2017) zeigen, kommt es in der Folge zu weniger Vandalismus in den Räumen. Ein besonderes Beispiel ist die Wartburg-Grundschule in Münster, in der die Schüler/innen in die Planung des Schulbaus einbezogen wurden und sogar die sanitären Anlagen mit ihnen künstlerisch gestaltet wurden. Gerade das Beispiel des Lehrerzimmers, der Jungen- oder Mädchentoiletten, der Sanitärräume, veranschaulicht, dass Räume in der Schule nicht einfach vorhanden sind, sondern auch von Lehrer/innen und Schüler/innen gemeinsam erschaffen, gestaltet, belebt bzw. erlebt werden und damit nie bedeutungslos in ihrer Wirkung bleiben.
Arbeitsaufgaben 1. Wie ging es Ihnen beim ersten Betreten der Schule bzw. der Schulräume? Wie wirkten das Gebäude und die Räume auf Sie? 2. Welche Unterschiede in der Raumgestaltung haben Sie beispielsweise während Ihrer Praktika erlebt? Schulraum und Machtverhältnisse Eine Auseinandersetzung mit dem Raum bezieht sich auch auf Macht- und Verteilungsfragen: Wem steht welcher Raum zu? Wer bekommt welchen Raum? Im Sinne der Sozialraumtheorien (vgl. z.B. Pierre Bourdieu) geht es um das Einnehmen und Definieren von Räumen im Sinne von Machtverhältnissen (sich Raum nehmen, Raum (ein)nehmen). Diese Machtverhältnisse im Raum sind beispielsweise erkennbar daran, dass bei Elternabenden die Eltern der Grundschulkinder häufig auf den kleinen Stühlen der Kinder sitzen, während die Lehrkraft einen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
3.4 Die räumliche Dimension des Lehrerhandelns
155
großen Stuhl hat oder Praktikant/innen keinen eigenen Schul- oder Klassenraumschlüssel sowie keinen festen Platz im Lehrerzimmer bekommen oder Eltern ihre Kinder meist nur bis zum Schuleingang („Ab hier will ich alleine gehen“), nicht aber bis zum Klassenzimmer bringen dürfen. Deutlich zeigt sich an diesen Beispielen, dass es in der Schule auch stets darum geht, sich in einem Machtraum zu bewegen: Wer hat wie viel Raum im Lehrerzimmer, wer darf welchen Platz im Lehrerzimmer nutzen oder (ein)nehmen, wer darf welchen (Fach-)Raum wie gestalten? In der (erziehungs)wissenschaftlichen Sozialraumforschung haben sich insbesondere Fabian Kessel (2008) sowie Jeanette Böhme (2009) mit der Bedeutung von Macht und Raum in der Schule und der Veränderung von Schularchitektur beschäftigt. So verweisen Jeanette Böhme und Ina Herrmann in ihrer Veröffentlichung „Schule als pädagogischer Machtraum. Typologie schulischer Machtentwürfe“ darauf, dass Schulgebäude von außen und von innen implizit und explizit intendierte sowie nicht intendierte (Macht-)Wirkungen haben. Alle Akteur/innen der Schule, die Lehrer/innen, die Schulleiter/innen, die Hausmeister/innen, die Mitarbeiter/innen im Ganztag, agieren dabei in diesem Machtraum Schule. Sie positionieren sich und andere im Raum, indem sie beispielsweise definieren, wo Kinder in welchem Maße einen Raum (zum Spielen, für die Einzelarbeit, für die Gruppenarbeit etc.) finden. Der Zusammenhang zwischen Macht und (Schul) Raum wird ebenfalls sichtbar in Bezug auf Themen, die den Lehreralltag bestimmen, z.B. wer welchen Raum mit welcher medialen Ausstattung hat oder nicht hat, wer langfristig über einen festen Klassen- oder Fachraum als „eigenen“ Raum verfügt bzw. wer einen „Wanderklassenraum“ hat oder wie Zugänge zu spezifischen Räumen geregelt werden (z.B. freier Zugang für alle oder Schlüsselhoheit weniger Lehrer/innen, Praktikant/innen). Darüber hinaus wird die Dimension Raum gerade im Zuge der Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderung zunehmend bedeutsam. Wie sieht es etwa mit der Barrierefreiheit in Schulgebäuden für behinderte Lehrer/innen, Schüler/innen oder Eltern aus, welche weiteren ggf. räumlichen oder ausstattungsbezogenen Veränderungen müssen im Rahmen der inklusiven Schulentwicklung unternommen werden? Damit muss im Hinblick auf die inklusive Beschulung zum einen die moderne Schularchitektur barrierefrei sein, gleichzeitig brauchen Lehrer/innen einen geschärften Blick dafür, wo Kinder in Räumen oder in Bezug auf einen Zugang behindert bzw. eingeschränkt werden können.
Arbeitsaufgabe Diskutieren Sie Fragen zur Raumgestaltung und Raumnutzung: • Von wem dürfen die Wände und Flure genutzt und gestaltet werden? • Dürfen die Lehrer/innen ihre Klassenzimmer selbst ausstatten?
156
3. Gewinnen des Berufsproils
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
• • • • • •
Wer gibt die Sitzordnung vor? Sind die Stühle und Tische den Kindern und den Lehrer/innen angemessen? Welche Ausgestaltungselemente sind wichtig? Wie sind die Lichtverhältnisse im Raum bzw. in den Räumen? Wer putzt das Klassenzimmer und in welchen Abständen? Gibt es die Möglichkeit für einen eigenen Arbeitstisch im Klassenzimmer/im Lehrerzimmer? • Wo werden die Bücher und Materialien für die Schüler/innen und Lehrer/ innen untergebracht? • Gibt es eine Bibliothek oder einen „Bibliothekswagen“?
Literatur Bertram, Hans (Hrsg.) (2013): Reiche, kluge, glückliche Kinder? Der UNICEFBericht zur Lage der Kinder in Deutschland. Weinheim und Basel. Beutel, Silvia-Iris (2000): Leistung ermitteln und bewerten. Hamburg. Bloch, Ernst (1959/1968): Das Prinzip Hoffnung. Fünfter Teil. Frankfurt/ Main. Bloch, Ernst (1977): Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt/Main. Böhme, Jeanette/Herrmann, Ina (2011): Schule als pädagogischer Machtraum. Typologie schulischer Machtentwürfe. Wiesbaden. Burow, Olaf-Axel/Pauli, Bettina (2006): Ganztagsschule entwickeln. Von der Unterrichtsanstalt zum kreativen Feld. Schwalbach/Taunus. Cassirer, Ernst (1994): Philosophie der symbolischen Formen. Darmstadt. Combe, Arno/Helsper, Werner (1996): Pädagogische Professionalität. Frankfurt. De Boer, Heike/Deckert-Peaceman, Heike (Hrsg.) (2009): Kinder in der Schule. Zwischen Gleichaltrigenkultur und schulischer Ordnung. Wiesbaden. Dreier, Annette/Kucharz, Diemut/Ramseger, Jörg /Sörensen, Bernd (1999): Grundschulen planen, bauen, neu gestalten. Frankfurt/Main. Drews, Ursula (2008): Zeit in Schule und Unterricht. Weinheim und Basel. Ecarius, Jutta/Berg, Alena/Oliveras, Ronnie (2019): Gibt es eine neue Erziehung in der Familie? Konturen einer Erziehung des Beratens. In: Zeitschrift für Pädagogik, 65. Jg., Heft 1, S. 95-119. Esslinger-Hinz, Ilona/Sliwka, Anne (2011): Schulpädagogik. Weinheim. Flitner, Andreas (1993): Konrad, sprach die Frau Mama. Über Erziehung und Nicht-Erziehung. München/Zürich. Fölling-Albers, Maria (2003): Grundschulpädagogik, Grundschulforschung und Kindheit. In: Panagiotopoulou, Argyro/Brügelmann, Hans (Hrsg.): Grundschulpädagogik meets Kindheitsforschung. Zum Wechselverhältnis von schulischem Lernen und außerschulischen Erfahrungen im Grundschulalter. Opladen, S. 34-43.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Literatur
157
Göhlich, Michael (2013): Die Entwicklung des Schulraums. Eine historische Skizze. In: Schönig, Wolfgang/ Schmidtlein-Mauderer, Christina (Hrsg.): Gestalten des Schulraums. Neue Kulturen des Lernens und Lebens. Bern, S. 23-43. Haberer, Axel/Wolf, Dagmar (2018): Lernräume der Zukunft. In: Grundschule. Themenheft Arbeitsplatz Schule. Effektive Organisation – im Klassenzimmer, im Lehrerzimmer und zu Hause. Heft 4, S. 22-25. Heinzel, Friederike (2016): Der Morgenkreis. Klassenöffentlicher Unterricht zwischen schulischen und peerkulturellen Herausforderungen. Opladen. Helsper, Werner (2010): Pädagogisches Handeln in den Antinomien der Moderne. In: Krüger, Heinz-Hermann/Helsper, Werner (Hrsg): Einführung in die Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft. Opladen, S. 15-34. Herrmann, Ina (2014): Vandalismus an Schulen. Wiesbaden. Hoegg, Günther (2017): Vandalismus in der Schule – verstehen und eindämmen. Weinheim. Hörster, Reinhard (2010): Pädagogisches Handeln. In: Krüger, Hermann/Helsper, Werner (Hrsg.): Einführung in die Grundbegriffe und Grundfragen der Erziehungswissenschaft. Opladen, S. 35-44. Huizinga, Johann (1956/1981): Homo Ludens. Reinbek bei Hamburg. Ingenkamp, Karlheinz (1971/1976): Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung. Weinheim. Intakt (Projekt): http://www.rochow-museum.uni-potsdam.de/fileadmin/projects/rochow-museum/assets/Projektnetz_INTAKT_01.pdf. Kahlert, Joachim/Nitsche, Kai/Zierer, Klaus (Hrsg.)(2013): Räume zum Lernen und Lehren. Perspektiven einer zeitgemäßen Schulraumgestaltung. Bad Heilbrunn. Kessel, Fabian/Reutlinger, Christian (Hrsg.) (2008): Schlüsselwerke der Sozialraumforschung. Traditionslinien in Text und Kontexten. Wiesbaden. Knauf, Tassilo (2000): Reggio-Pädagogik. In: Fthenakis, Wassilos/Textor, Martin (Hrsg.) Pädagogische Ansätze im Kindergarten. Weinheim und Basel, S. 181201. Kounin, Jacob (1976): Techniken der Klassenführung. Stuttgart. Krückel, Florian/Schüll, Maren/Uphoff, Ina (2018): Basistexte Pädagogik. Darmstadt. Lichtenstein-Rother, Ilse/ Röbe, Edeltraud (1982/2005): Grundschule – Der pädagogische Raum für Grundlegung der Bildung. Weinheim und Basel. Liebenwein, Sylva (2008): Erziehung und soziale Milieus. Elterliche Erziehungsstile in milieuspezifischer Differenzierung. Wiesbaden. Luhmann, Niklas/Schorr, Eberhard (1979): Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Stuttgart. Müller-Bardorff, Helga/Röbe, Edeltraud (1992): Rhythmisierung im Schulalltag – Wiederkehrende Elemente im Unterrichts- und Schulleben. In: Priebe, Hiltrud/Röbe, Edeltraud (Hrsg.): Blickpunkt Grundschule. Bilder einer zukunftsoffenen Schullandschaft. Donauwörth, S. 31-39.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
158
3. Gewinnen des Berufsproils
Petersen, Peter (1965/1927): Der kleine Jenaplan. Weinheim und Basel. Prange, Klaus (2009): Formen des Erziehens in Geschichte und Gegenwart. In: Mertens, Gerhard/ Frost, Ursula/Böhm, Winfried/Ladenthin, Volker (Hrsg.): Allgemeine Erziehungswissenschaft II. Paderborn, S. 345-361. Prengel, Annedore (2013): Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Opladen. Reichenbach, Roland (2011): Erziehung. In: Kade, Jochen/Helsper, Werner/Lüders, Christian/Radtke, Frank-Olaf (Hrsg.): Grundriss der Pädagogik. Stuttgart, S. 20-27. Rittelmeyer, Christian (2013): Einführung in die Gestaltung von Schulbauten. Frammersbach. Rittelmeyer, Christian (2009): Schulbauten als semiotische Szenerien: Eine methodologische Skizze. In: Böhme, Jeanette (Hrsg.): Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs. Wiesbaden, S. 157-170. Röbe, Heinrich (1992): Grundschule – ein pädagogischer Raum. In: Priebe, Hiltrud/Röbe, Edeltraud (Hrsg.): Blickpunkt Grundschule. Donauwörth, S. 12-24. Rödder, Katharina/Walden, Rotraut (2013): Die Interaktion zwischen Mensch und Schulraum aus psychologischer Perspektive. In: Kahlert, Joachim/Nitsche, Kai/Zierer, Klaus (Hrsg.), Räume zum Lernen und Lehren. Perspektiven einer zeitgemäßen Schulraumgestaltung. Bad Heilbrunn, S. 23-34. Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt/ Main. Schlömerkemper, Jörg (2017): Pädagogische Prozesse in antinomischer Deutung. Begriffliche Klärungen und Entwürfe für Lernen und Lehren. Wiesbaden. Scholz, Gerold (1994): Die Konstruktion des Kindes. Opladen. Speck-Hamdan, Angelika (1992): Alles zu seiner Zeit – Rhythmus und Rhythmisierung in der Schule. In: Priebe, Hiltrud/Röbe, Edeltraud (Hrsg.): Blickpunkt Grundschule. Bilder einer zukunftsoffenen Schullandschaft. Donauwörth, S. 25-30. Skiera, Ehrenhard (2003): Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart. München. Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16.12.2004 i. d. F. vom 12.06.2014), http://www.kmk. org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2004/2004_12_16Standards-Lehrerbildung-Bildungswissenschaften.pdf (Stand 15.05.16). Terhart, Ewald (2014): Die Hattie-Studie in der Diskussion. Seelze. Wellenreuther, Martin (2005): Lehren und Lernen – aber wie? Hohengehren. Zymek, Bernd (2004): Geschichte des Schulwesens und des Lehrerberufs. In: Helsper, Werner/Böhme, Jeanette (Hrsg.): Handbuch der Schulforschung. Wiesbaden, S. 203-238.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen „Das Spektrum der Leistungen, die die Schule ermöglicht und anerkennt, ist aus der Perspektive einer pädagogischen Leistungsförderung viel zu schmal. Von dem Reichtum kindlicher Leistungsmöglichkeit, mit dem die Reformpädagogen so vielfältige Erfahrungen gemacht hatten, sind in unserem Schulsystem nur schmale Bewährungspfade übriggeblieben.“ Andreas Flitner (1922-2016)1
Abstract Leistung bezeichnet aus individueller und gesellschaftlicher Sicht etwas Erstrebenswertes und Nützliches und ist in der Regel positiv besetzt. In der Debatte um schulische Bildung jedoch wird Leistung wie kaum ein anderer Begriff gegenüber der nachwachsenden Generation fordernd ins Spiel gebracht. Der Leistungsbewertung wird privat und gesellschaftlich eine hohe Bedeutung beigemessen, da sie maßgeblich die Zukunftschancen der Kinder und Jugendlichen in einer leistungsorientierten Gesellschaft mitbestimmt. Dieses Kapitel nimmt die verschärfte schulische Leistungssituation und die ihr eigene Konfliktstruktur auf. Es wird darin das Spannungsfeld skizziert, in welches die Lehrkräfte, die Schüler/innen und die Eltern gestellt sind. Dabei geht es um die Freilegung der tiefen schulgeschichtlichen Verwurzelung der Problematik und um die Klärung, warum uns die Schulleistungsthematik und damit verbundenen Ungerechtigkeiten im Innersten berühren. Pädagogische Institutionen, in denen die nachwachsende Generation immer mehr Zeit verbingt, stehen gerade in der Leistungsthematik in besonderer Verantwortung. Dabei nimmt die gegenwärtige Entwicklung einen besonderen Stellenwert ein: Die Tatsache, dass die Schule durch internationale, landesweite und regionale Studien der Öffentlichkeit gegenüber rechenschaftspflichtig geworden ist, hat zu einer Umarbeitung der Leistungspraxis geführt. Veränderte Formen der Leistungsbeachtung, -feststellung und -beurteilung sollen eine Rückmeldekultur etablieren, in der die Probleme der Notengebung und deren Konzentration auf abstrakt-symbolische Leistungen entkräftet und Impulse für eine zunehmende Dialogorientierung zwischen Lehrenden, Lernenden und Eltern gegeben werden. Mit hineingenommen in die Reformanstrengungen ist auch der Übergang zwischen Elementar- und Primarbereich. Am Beispiel der Einführung in die 1 A. Flitner, proilierter Pädagoge und Autor, wirkte als Professor für Pädagogik in Tübingen und Jena. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen u.a. Pädagogische Anthropologie, Brennpunkte der Schulpädagogik und der Bildungspolitik. (Zitat entnommen aus: Flitner 1992, S. 13).
160
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Schriftkultur soll thematisiert werden, wie schriftsprachliches Lernen über eine vorschulische Förderung von Vorläuferfähigkeiten Gefahr läuft, den Lern- und Leistungsbegriff zu verengen.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.1 Schulleistung in der Dynamik unterschiedlicher Wirkkräfte Mit dem Erfolg und Misserfolg des Lernens verbinden sich viele Erwartungen, Befürchtungen und Ansprüche. Stets spielen dabei Aufgaben eine Rolle, die Anforderungen stellen und gemeistert werden sollen. Diese können aus allen Bereichen unseres Lebens stammen und sich auf alle Lebensalter beziehen. Eine Leistung kommt durch das Zusammenwirken von Fähigkeit und Anstrengung zustande, wird zu einem verbindlich anerkannten Gütemaßstab in Beziehung gesetzt, daran gemessen und als gelungen oder erfolgreich befunden. Der angelegte Maßstab ist je nach Fähigkeitsbereich, nach dem Entwicklungsstand des Leistenden oder nach dem repräsentierten Wertehorizont inhaltlich unterschiedlich definiert. 4.1.1 Unterschiedliche Leistungserwartungen Die wohl umfänglichsten und gewichtigsten Aufgaben, die Kindern/Jugendlichen gestellt werden und die sie erfolgreich bewältigen sollen, sind die Leistungsforderungen der Schule. Als Lernaufgaben muten sie ihnen ein Stück Welt zur Bearbeitung zu, vergleichbar mit einem Sprung in unbekanntes Terrain. In Form von Übungsaufgaben festigen sie Wissen und Können, fördern die Geläufigkeit und rasche Verfügbarkeit. Als Transferaufgaben üben sie in das Lösen neuer Problemstellungen ein. Prüfaufgaben hingegen stellen das Gelernte und Geübte auf die Probe, wobei meist ein sozialer Vergleichsmaßstab angelegt wird. Diagnostische, kriteriumsorientierte Aufgaben sollen dagegen ein Fenster in individuelle Lernprozesse öffnen und darüber Auskunft geben, ob bzw. welche Hilfe jemand braucht und ob sie angenommen werden kann. Diesen Aufgaben ist gemeinsam, dass sie von außen an die Kinder herangetragen werden, verbunden mit der Erwartung, dass sie diese mit Erfolg erfüllen. „Ich kann es!“ – Frühe kindliche Leistungserfahrungen Es gehört zu den ureigensten Erfahrungen eines Kindes, selber etwas bewirken, etwas herstellen zu können. Die Erwachsenen staunen oft darüber, wie bereits junge Kinder aus eigenem Antrieb in ganz unterschiedlichen, praktischen, sozialen, künstlerischen oder intellektuellen Bereichen Tätigkeiten oder „Werke“ hervorbringen, die ihnen Anforderungen stellen und die zugleich Gütemaßstäben entsprechen: einen Turm bauen, der nicht einstürzt, ein Sommerbild malen, bei
4.1 Schulleistung in der Dynamik
161
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
dessen Betrachtung die Wärme gerade spürbar wird, ein Musikinstrument herstellen, das den Rhythmus hörbar werden lässt. Das sind bereits Leistungen, die mit der „elementarsten Erfahrung ihres eigenen Selbst“ (Flitner 1992, S. 11) verbunden sind: „„Ich kann es“, ist einer der wichtigsten Sätze oder Gefühlsinhalte von Kindern. Selbst ein großer Teil ihrer Spiele in unserem Kulturkreis, vom Sandkasten bis zu Faltblättern oder technischem Gerät, von Hüpf- und Geschicklichkeitsspielen, Ballproben, Sportspielen … steht unter dem Anspruch der Qualität, der Körperbeherrschung, der Schönheit oder anderer Perfektion. Ein Rad schlagen, hoch schaukeln, am Strand eine Burg bauen, die sich möglichst lange gegen die Flut behaupten kann, alles das enthält Leistungs- und Qualitätsmomente, eingebunden in andere Momente des Vergnügens, der Symbolik und Spiels“ (Flitner 1992, S. 11).
Fremdgewollte und selbstgewollte Leistung – kann das zusammengehen? Stehen sich nicht zwei Grundmuster des Leistens, das anthropologisch grundlegende und das gesellschaftlich geforderte, unversöhnlich gegenüber? Gibt es Berührungspunkte zwischen ihnen, bedingen sie sich wechselseitig, ist ihnen etwas gemeinsam? Oder hat gar die Virtuosität auf dem Mountainbike, mit der Hindernisse übersprungen werden, etwas gemein mit der Gedächtnisleistung eines Schülers für Einmaleinsreihen, die strukturiert eingeprägt werden und schlafwandlerisch abrufbar sind? Andreas Flitner (1992) bejaht dies. Er sieht das Verbindende zwischen den beiden Leistungsbereichen im „gemeinsamen Perfektionsmoment und im Sinnzusammenhang“, in dem sie stehen: Die Hirnforschung2 sowie die sozial-kognitive Entwicklungstheorie argumentieren hier mit dem Konzept der Selbstwirksamkeit. Dieses schreibt dem Kind/Jugendlichen eine psychische Disposition zu, die seine Leistungserwartungen wie seine motivationalen und volitionalen Kräfte maßgeblich beeinflusst. Sie bezieht ihre Wirkkraft und Stärke im Wesentlichen aus drei menschlichen Grundbedürfnissen: Aus dem Bedürfnis nach Autonomie, nach sozialer Eingebundenheit in eine Gemeinschaft und nach Kompetenzerfahrung. Somit ist die Möglichkeit, etwas leisten zu können, stets zurückgebunden in eine Leistungssituation, die Handlungsspielraum lässt, die mit positiven Sozialerfahrungen verbunden ist und die einen Könnenszuwachs erleben lässt. Frühe Erfahrungen mit Bewerten Kinder begegnen Bewertungen in nahezu allen Lebensfeldern bereits vor der Schule. Es wird gemessen, gezählt und gewogen. Es scheint ein „Feedback- und Evaluationshype“ ausgebrochen zu sein, begleitet von einem Bewertungsboom. Auch die Kinder sind dabei, wenn es um „Daumen hoch – Daumen runter geht“. 2 vgl. z. B. Gebauer, Karl/Hüther, Gerald (Hrsg.)(20116): Kinder brauchen Wurzeln. Neue Perspektiven für eine gelingende Entwicklung. Ostildern.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
162
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Solange sich ihre Bewertung auf Produkte bezieht, halten Erwachsene sie für wünschenswert, räumen großzügig Mitbestimmung ein, wenn sie mit den Kindern im Urteil übereinstimmen. Schwieriger wird es dann schon, wenn die einfachen Bewertungsmuster (größer – kleiner, schneller – langsamer, teuer – billig, in – out, cool – doof) nicht mehr ausreichen und die Bewertung über Kriterien in einem Aushandlungsprozess erarbeitet werden muss (vgl. Kinderschutz aktuell 2012): „Kinder und Jugendliche sind im Aufwachsen von widersprüchlichen Werten umzingelt, die den verschiedenen Interessen und Lebensstilen in unserer Gesellschaft geschuldet sind. Auch Eltern verleihen ihren Anschauungen Ausdruck durch Bewertungen. Das Bewerten gestaltet die Beziehungen entscheidend mit. Deshalb besteht die große Herausforderung für die Erwachsenen vor allem darin, dass sie sich als Bewertende ihrer machtvollen Position bewusst sind und auch selbstkritisch fragen, ob und ggfs. wie sie diese machtvolle Position missbrauchen. Das ist auch eine Frage der Erziehungskompetenz, sowohl von Eltern als auch im insitutionellen pädagogischen Bereich“ (Andresen 2012, S. 18).
So erfahren Kinder in ihrem Aufwachsen zweierlei: Ich werde mit anderen verglichen. Ich werde von anderen bewertet. Und dazu gehört auch, „dass bestimmte Fähigkeiten meist nur mit Übung, also Anstrengung erworben werden können“ (Andresen 2012, S. 18). Gerade in der letzteren Erfahrung, die ja für schulisches Leisten als besonders relevant gilt, besteht zwischen Kindern und Erwachsenen nicht selten ein Dissens, in dem die Kinder durchaus selbstbewusst andere Deutungsmuster als Erwachsene zur Anwendung bringen. Exkurs: Brav und still sein? Im untenstehenden Beispiel begründet eine Schulanfängerin gleichsam ihre Nicht-Anstrengung mit einer Selbstverständlichkeit, die überraschen mag. Sie plappert nicht einfach etwas nach, sondern benutzt ein Deutungsmuster, das frühere Kinder nicht so selbstverständlich gebraucht hätten. Konnten früher die Anfangsklassen noch mit ‚braven‘, die Lehrkraft als Autorität respektierenden Kindern rechnen, beklagt sie heute, dass bald nach dem feierlichen Schulbeginn viele Kinder ihre Contenance verlieren würden und nur mit großem Kraftaufwand in die Schule eingeführt werden könnten. Maite, seit zwei Monaten in einer ersten Klasse, bekommt ihre Hausaufgabe von der Lehrerin mit dem Kommentar zurück: „Du hast deine Aufgabe vollständig gemacht. Das habe ich gesehen. Aber ich denke, dass du noch viel sorgfältiger arbeiten kannst, wenn du mit einem gespitzten Stift schreibst und nicht so oft radierst.“
4.1 Schulleistung in der Dynamik
163
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Sobald sich die Lehrerin von Maites Gruppentisch entfernt hat, sagt Maite halblaut zu ihrer Tischnachbarin: „Mei i war halt gestern net guat drauf… Ich hab echt koin Bock ghabt.“ Es muss bewusst sein, dass das oft nostalgisch beschworene schulkonforme, autoritätsrespektierende Verhalten früherer Schülergenerationen weitgehend den allgemein, kulturell verankerten Autoritätsstrukturen entsprach und dass die Schule von dieser Gratisproduktion anerzogenen und angepassten Verhaltens ‚profitierte‘. So waren zum Beispiel bereits die Schulanfänger/innen durch einen pflicht- und regelmäßigen Gottesdienstbesuch eingeübt in langes Stillsein, in ein Mittun ohne wirkliches Sinnverstehen, in das Zeigen einer ‚braven‘ Attitüde sowie in die Erfahrung, dass Fehlverhalten und mangelnde Disziplin streng sanktioniert werden. Für die Kinder/Jugendlichen haben sich im Vergleich zu früheren Generationen nicht nur die Leistungsanforderungen erheblich verändert, sondern auch das Erziehungshandeln vieler Erwachsener. Es ist widersprüchlich geworden: „Einerseits werden Partnerschaftlichkeit, Liberalität und Selbstständigkeit als Erziehungsprinzipien proklamiert (und weitgehend auch praktiziert); dies schließt aber für die Kinder nicht die Freiheit ein, keine Leistung zu erbringen – und was als Leistung akzeptiert und wie sie honoriert wird, wird letztlich doch von Erwachsenen definiert“ (Fölling-Albers 1999, S. 14).
Auch die Kinder/Jugendlichen haben sich verändert. Sie wachsen in einer Lebenswelt auf, die ihnen zunehmend „Leistungsfelder“ mit ganz anderen Sinnmöglichkeiten und Seinsdimensionen anbietet als die Schule und mit denen gerade die Schulleistung in ein Konkurrenzverhältnis tritt. Die moderne Kinderkultur führt weit über die traditionelle Spiel- und Fantasiewelt hinaus, ist bestimmt von Konsum, Selbstmodellierung, Verselbständigung mit digitalen Möglichkeiten und und Erfahrungen in virtuellen Räumen. Der Wunsch, sich als Kind zum Beispiel als Prinzessin zu „modellieren“, führt in die Glitzerwelt des Warenangebots, die alles anbietet, was diese Figur perfektioniert: ein pinkfarbenes Schmuckset, ein Glitzerdiadem, ein vielteiliges Schloss für den Prinzessinnenhofstab, einen Spezialtee für strahlendes Aussehen, passende Servietten und Geschirr, Hör-CDs u.v.m. Die perfekt ausgestattete Prinzessin kann nun ihre Rolle prinzessinnenhaft ausfüllen. Oder der Star-Wars-Held, der im fiktiven Universum gegen das Böse und für das Gute erfolgreich mit seinem Laser-Schwert kämpft und Stärke und Macht erfährt. Oder die überbordend vielen digitalen Fotos- und Filmspots, in denen die Kinder posen, sich inszenieren, darbieten und ihr Ich in Stellung bringen. Schule und Schulleistung sind mit veränderten Wahrnehmungs- und Erlebnismaßstäben konfrontiert, in denen die Orientierung an Genuss, Nichtarbeit
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
164
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
und Ich-Zentrierung dominante Züge angenommen hat. Gerade für den Leistungsbereich gilt, dass die gutgemeinten Appelle nach mehr Anstrengungsbereitschaft („Zähne zusammen beißen“) oder Verzicht auf Freizeit meist ins Leere laufen, so lange die Kinder/Jugendlichen ihr Lernen und Leisten als Sinnvakuum erfahren und sich den „Stoff“ für ihre Selbstdeutungen und Identifikationsmöglichkeiten aus anderen Bereichen wählen. Dabei spielen heute die Figuren der Medienwelten oder die psychischen Befindlichkeiten nicht erst bei Jugendlichen (vgl. z.B. Antwort von Maite: „Mei i war halt gestern net guat drauf […]. Ich hab echt koin Bock ghabt“) eine große Rolle. Das Leistungsverhalten von Kindern/ Jugendlichen spiegelt bereits die Folgen der kulturellen Modernisierung, die mit epochalen Entwertungen der tradierten Maßstäbe und Ambivalenzen verbunden ist. Gerade dem Leistungsbereich müssen große Anstrengungen gelten, dass nicht regressive Sicherheitsbedürfnisse die Oberhand gewinnen und die großen Herausforderungen der Schule nur vordergründig bearbeitet werden. Schulleistung als Elternthema Die Sorge der Eltern um das Wohlergehen und die optimale Entwicklung der Kinder hat oft Vorrang vor ihrem eigenen Daseinsinteresse. „Eltern sehen ihre eigene Existenz durch alles bestätigt, was ihre Kinder zustande bringen […] Deshalb deuten sie bereits die Äußerungen des Kleinkindes im Hinblick auf die spätere Leistung: Wann lernt es laufen? […] Wann singt es das erste Lied?” (Rauschenberger 1999, S. 20f.).
Schon im frühen Kindesalter stellen sie heimlich Leistungsvergleiche mit anderen Kindern an und erhoffen sich Hinweise auf besondere Zukunftschancen. Hoffnungsvoll deuten sie körperliche Gewandtheit als sportliche Begabung, frühes Beherrschen der Kulturtechniken gar als Hochbegabung! Das naturwüchsige Interesse der Eltern an der Bildung ihrer Kinder verbindet sich heute mehr denn je mit der Überzeugung, dass schulische Bildung die Teilhabe am zivilisatorischen Wohlstand und kulturellen Angebot ermöglicht und eine Anhebung der Bildungsniveaus die Zukunftschancen erweitert und sichert. Dies lässt die Kinder zu einem Projekt werden, das gelingen muss. Exkurs: Interessen der Eltern „Was die Kinder unbewusst und spontan leisten, das machen sich Eltern bewusst; es wird kommentiert. Bald danach wird es belohnt, und dann erwartet man die Leistung von vornherein; zuletzt wird sie zum Bestandteil einer Planung. Was vorher reine elterliche Freude am Gelingen zu sein schien, wird nun auf einmal eingefordert […] ist zum Kalkül geworden. Manche Kinder lernen von ihren Eltern früh, an sich zu arbeiten; […] andere widersetzen sich […]; weder die
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.1 Schulleistung in der Dynamik
165
einen noch die anderen überblicken die Tragweite des Elternwunsches“ (Rauschenberger 1999, S. 21). In diesem Zusammenhang wird von einem gesellschaftlichen Fahrstuhleffekt gesprochen. Dieser besagt, dass die Gesellschaft insgesamt wie in einem Fahrstuhl eine Bildungsetage höher fährt – ohne dass dadurch die sozialen Ungleichheiten innerhalb des Fahrstuhls wesentlich verringert oder gar abgebaut würden. Diese Spannung zwischen dem, was die Eltern hoffnungsvoll und besorgt zugleich macht, und dem, was als Erwartung auf den Kindern lastet und von ihnen Beachtung fordert, verschärft sich in vielen Familien bereits bei Schulbeginn. In Bezug auf Schulleistung unterscheidet eine relativ frühe Studie drei Elterntypen (Gartner/ Jirasko 1999, S. 276): • Die Gruppe der Eltern, die angstfrei fordernd, selbstbewusst und unaufgeregt ihr Kind einschulen: Sie verfügen in der Regel selbst über eine hohen Schulabschluss, erwarten von ihrem Kind selbstverständlich Leistungsstärke und Abbildung 4.1: Erwartungsvoller Schulstart zeigen sich angstfrei fordernd. Sie selbst haben eine niedrige kindbezogene Leistungsangst. • Die Gruppe der Eltern, die sich ängstlich fordernd und besorgt in Bezug auf die Schulleistung des Kindes verhalten: Sie verfügen in der Regel selbst über gute Schulabschlüsse, wünschen sich für ihr Kind eine hohe Schulbildung, zeigen Angst und Sorge und eine hohe kindbezogene Leistungsangst und emotionale Betroffenheit. Sie erleben mehr Stress durch die Schule und zeigen sich bei schlechten Noten bedrückter. • Die Gruppe der Eltern, die ‚angepasst‘ bzw. resignativ fordern, wünschen sich eine deutlich weniger hohe Schulbildung, sie zeigen mehr Angst, kennen schlechte Schulerfolge aus eigener Erfahrung, stellen weniger Anforderungen an die Kinder, neigen zu bildungsaversivem, desillusioniertem Leistungsverhalten und laufen Gefahr, ihren Kindern Leistungschancen vorzuenthalten.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
166
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Für eine große Anzahl von Kindern/Jugendlichen ist das Thema Leistung in Schule und Familie allgegenwärtig. Es finden permanente und meist unausgesproche Leistungsdialoge statt. Viele wünschen sich von ihren Kindern Leistungen, die sie schon lange selbst nicht erbringen bzw. noch nie erbracht haben. Die emotionale Involviertheit der Eltern richtet sich dann oft gegen das Kind und spiegelt sich u.a. in sogenannten Leistungsritualen, die entweder belohnenden oder bestrafenden Charakter haben. Cornelia, 6. Schuljahr „Also bei uns ist es so: man kommt entweder weiß oder schwarz heim. Mit ‘ner Vier, Fünf oder Sechs kommt man schon schwarz nach Hause, mit ‘ner Eins, Zwei oder Drei kommt man weiß nach Hause. Das ist so ein Spruch in unserer Familie. Und auf ‘ne Eins oder Zwei kann man dann auch stolz sein, auf ‘ne Drei nicht so. Bei ‘ner Drei muss man nämlich aufpassen, dann ist man schon fast schwarz oder man kann wenigstens schnell in schwarz reinrutschen. Da ist dann schon Alarm angesagt.“
Ariane P., 58 Jahre, Großmutter von Fabian Fabian besucht die dritte Klasse. Dieses Wochenende soll besonders schön werden. Er darf zu Oma. Die Mathematikhausaufgabe erledigt er noch schnell vor der Abfahrt. Ein ganzes Wochenende weit weg von Muttis ständigen Mahnungen, doch Einmaleins, Lesen, Flöte … zu üben! Stattdessen: Baumhaus weiterbauen und mit Freunden spielen. Bei Oma war man vor Übungsappellen sicher. Mit ihr konnte Florian über vieles, auch über Schule reden – und über die Übungsstress zu Hause! Er wusste Oma auf seiner Seite. Aus Florian bricht es plötzlich hervor: „Oma, ich würde ja gern mehr üben. Aber ich komm gar nicht dazu. Immer wenn die Mama sagt, dass ich endlich üben soll, kann ich nicht mehr…“. Als Florian schon fast im Dunkeln noch im Baumhaus sitzt und in einem Buch liest, muss Oma schmunzeln. Florian liest! Am Sonntagnachmittag fährt Oma Florian zurück. Die Mutter öffnet die Türe und begrüßt beide erfreut: „Schön, dass es nicht so ganz spät geworden ist, dann kann Florian ja noch Lesen üben!“ Die Leistungsthematik hat einen expandierenden privaten Unterrichts- und Nachhilfemarkt hervorgebracht, der die Schule seit Jahrzehnten einer Konkurrenzsituation aussetzt und zusätzlich bedrängt. An kommerziellen Interessen orientiert ist dieser Bildungsmarkt offensiv; Anonymität und Diskretion, jahrzehntealte Attribute der Nachhilfe, sind aufgegeben. Es locken Schnupperkurse und Sonderangebote. Der Markt der Nebenschulen hat alles zu bieten, was auch
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.1 Schulleistung in der Dynamik
167
zum schulischen Programm gehört. Diese ‚Nebenschulen‘ scheuen sich nicht, mit ihrer Angebotspalette immer weiter in das traditionelle Kerncurriculum der Schule einzudringen und Lernfelder gleichsam doppelt zu besetzen. Sie gehen offenbar davon aus, dass die Schule ihre Aufgabe als Bildungsort nicht ausreichend erfüllen kann und dieser Mangel auf dem Nachhilfeweg und mit großem finanziellen Einsatz durch das Elternhaus kompensiert werden muss (vgl. Hagstedt 1998, S. 20ff.). Die Sorge um die Schulleistung mobilisiert vor allem die Mittelschicht; es können nur die besser gestellten und die am Bildungsaufstieg interessierten Familien das Angebot in Anspruch nehmen, was in hohem Maße den Schereneffekt vergrößert. Ob der Ausbau der Ganztagsschulen/ganztägigen Betreuung diese Problematik lösen und umfassend kompensatorisch wirken kann, hängt weitgehend von der Qualität ihrer Arbeit und deren Bedingungen ab.
Arbeitsaufgaben 1. Mit welchen Erfahrungen im Elternhaus verbinden Sie Ihre eigene Leistungsbiografie? 2. Kennen Sie Schülerinnen und Schüler, die unter elterlichem Leistungsdruck stehen? Woraus schließen Sie dies? Worauf legen Sie Wert im Elterngespräch?
4.1.2 Schulleistung – geschichtliche Aspekte Die Leistungsdebatte ist durch Eigentümlichkeiten geprägt, die wesentlichen Anteil daran haben, dass Schulleistung und Leistungsbeurteilung die wohl widerständigste Reformbaustelle unseres Bildungssystems ist: • „Über kaum einen Bereich der Schule wird so unerschöpflich geredet, geschrieben und gestritten wie über die Zensuren. Seit Generationen ist die Zensurengebung in der Schule Gegenstand scharfer Kritik […]. Der Praxis in den Schulen hat das wenig anhaben können. Sie ist ein träges System und hat sich über den Wandel der Generationen und der vielfältigen Veränderungen der Schulwelt hinweg erstaunlich zähllebig behauptet. • Selbst wenn wir um ihre Fragwürdigkeit wissen, so behalten sie doch ihr mit dem Prädikat gleichsam verschmolzene Ausstrahlungskraft. Ein „sehr gut“ bleibt ein „sehr gut“; der stille Triumph des Erfolges hallt nach. Einem „mangelhaft“ bleibt ein gewisser Makel ankleben. Die eigentümliche Aura der Zensur sichert Aufmerksamkeit und zieht in hohem Maße unser persönliches Interesse auf sich. Zensuren lassen uns nicht kalt; sie werden innerlich erlebt“ (Titze 2000, S. 49).
168
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Herausbildung des modernen Zensuren- und Schulleistungsbewusstseins Das Werden unseres Zensuren- und Schulleistungsbewusstseins hängt mit einer langfristigen gesellschaftlichen Entwicklung der letzten ca. 200 Jahre zusammen: nämlich dem Wandel von der relativ geschlossenen vorindustriellen Ständegesellschaft zur demokratisierten, offenen Industriegesellschaft. In der ständisch gegliederten Gesellschaft (Stand der Adeligen, der Bürger, der Handwerker, der Bauern, der leibeigenen Abhängigen) waren die Rechte und Pflichten an den Stand gebunden. Jeder war auf die Möglichkeiten seines Standes verwiesen und wurde gleichsam in ihm festgehalten. Solange die Statusverteilung als natürlicher Prozess aufgefasst wurde, war die Annahme selbstverständlich, dass sich die besonders befähigten Nachkommen nach dem Zufallsprinzip über die ganze Gesellschaft und über alle Stände verteilen. Man war davon überzeugt, dass sich die besonders Fähigen innerhalb ihres Standes durchsetzen würden. Damit herrschte eine natürliche Auslese. In der gesellschaftlichen Entwicklung lassen sich analytisch zwei Prozesse unterscheiden, die eng miteinander verflochten waren (vgl. Titze 2000, S. 50ff.): Der erste Entwicklungsprozess verwandelte die Ständegesellschaft in eine demokratisierte „offene Gesellschaft“ mit gravierenden Veränderungen: Der Lebenslauf des Einzelnen löste sich weitgehend von den ständischen Vorgaben und Fesseln, er verselbständigte sich. „Die Gestaltung des eigenen Lebens hängt in einem hohen Maße vom einzelnen selbst ab“ (Titze 2000, S. 56). Entscheidende Bedingungen für diese Verselbständigung des Lebenslaufs und die Erweiterung der individuellen Entfaltungschancen waren die Alphabetisierung und die lange vorher ausgesprochene staatliche Schul- und Unterrichtspflicht. Seither gilt eine gewisse Sockelniveau-Bildung, die vor allem die fraglose Beherrrschung der Kulturtechniken umfasst, als unumgängliche Mindestvoraussetzung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die Brauchbarkeit und Tüchtigkeit der Bürger gilt als das große Thema der Aufklärung und des Merkantilismus. In einem zweiten Prozess (ab ca. 1830) wurde die höhere Bildung, die über die Aneignung der Kulturtechniken hinausführte, fortschreitend normiert und über Berechtigungsnachweise (Zeugnisse) mit dem Zugang in Ämter und Berufe verknüpft. Nun begann ein historisch folgenreicher Prozess, der zuerst die Juristen, Theologen und Ärzte, dann die in der Verwaltung im mittleren und höheren Dienst Tätigen sowie die Apotheker, Tier- und Zahnärzte usw. betraf. Damit dehnte sich das Prüfungswesen von oben nach unten aus mit der Einführung des Gymnasialabiturs in Preußen als Voraussetzung für ein Studium (1834) sowie der Verteilung des Lehrstoffs des Gymnasiums vom Abitur her auf die einzelnen Jahrgänge (ab 1837). Von da an bestimmt das Grundmuster der Normierung mehr und mehr das Schulwesen. Es hat auch vor der ‚jungen‘ Grundschule nicht Halt gemacht. Wir nehmen dies wahr in der • Einführung von Lehrplänen, die die Lerninhalte, Lernziele und Lernmethoden in den Jahrgangsstufen zunehmend bestimmen,
4.1 Schulleistung in der Dynamik
169
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
• Normierung der Lernbedingungen: Stundentafeln, Unterrichtszeit, Schulbücher dienen der Sollerfüllung, d.h. der genormten Pensen, • mündlichen und schriftlichen Leistungskontrolle: Sie stellt Erfolg und Versagen in der Klasse fest und veranschaulicht dies im Schaubild der Gauß’schen Normalverteilung, • Akzeptanz von Erfolg und Versagen als ‚Leistungsnormalität‘. Die schulische Leistungsbeurteilung wirkt auf die Schüler/innen seit Generationen. Die Noten prägen Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl; sie suggerieren, ein nützlich-erfolgreiches oder eher erfolgloses Mitglied unserer Gesellschaft zu werden bzw. zu sein. Sie erweisen sich in hohem Maße ‚ego-besetzt‘. „Sie sind Ausdruck der Tatsache, dass wir im Innern, wo wir Selbst zu sein glauben, vergesellschaftet sind. Zensuren sind ein zuverlässig institutionalisierter Modus unserer Vergesellschaftung. Das gesamte System der schulischen Notenpraxis könnte keinen Tag länger funktionieren, wenn es nicht auch im psychischen Apparat der Menschen zuverlässig verinnerlicht wäre. In der Schule lernt der moderne austauschbare Mensch seinen Wert richtig einzuschätzen. Und dabei spielen die Zensuren eine wichtige Rolle“ (Titze 2000, S. 51). ‚Überlegenheit‘ der Bildungsselektion In der Diskussion um die Problemhaftigkeit der Bildungsselektion haben sich verschiedene Argumentationslinien herauskristallisiert. Die untenstehende Zusammenfassung zeigt, in welch einem umfassenden, gesellschaftlich-historisch lange währenden, bildungspolitischen und pädagogischen Kontext die Leistungsthematik steht. Es mag deutlich werden, dass eine bloße Veränderung von Beurteilungsformen dem Kern von verfestigten Haltungen, ideologischen Verkrustungen und lieb gewordenen egoistischen Privilegien („Von oben geht’s immer nach oben!“) wohl kaum etwas anhaben kann.
Arbeitsaufgabe Diskutieren Sie die folgenden Argumente zur ‚Überlegenheit‘ der Bildungsselektion kritisch. Gründe für die problemhafte ‚Überlegenheit‘ der Bildungsselektion über die „natürliche Auslese“ • In einer demokratischen Gesellschaft gibt es kein Zurück zur „natürlichen Auslese“. • Die strukturelle Überlegenheit der Bildungsselektion gegenüber der natürlichen Auslese begründet sich wie folgt: Die formale Gleichbehandlung ge-
170
•
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
• • • •
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
schieht nach den Regeln des Leistungsprinzips. Diese Regeln legitimieren die Teilhabe als auch den Ausschluss. Die Vergabe gesellschaftlicher Positionen erfolgt mit Hilfe des Leistungsvergleichs. Dies soll dem Prinzip der Chancengleichheit entsprechen. Die Situationen der Verteilung schließen auch immer zugleich Situationen der Ablehnung und Versagung von Chancen ein. Das moderne Schulsystem fungiert vermeintlich „sozial neutral“ wie ein „großes Rüttelsieb zwischen den Generationen“ (Helmut Fend). Es besteht heute hohes Interesse an einem langen Offenhalten von Bildungswegen. Dabei gibt es Mobilisierungs- und Abkühlungsprozesse. Insbesondere die Abkühlungsprozesse verdienen große Aufmerksamkeit. Denn sie offenbaren zugleich das Dilemma, das jede Lehrerin und jeder Lehrer kennt: Sie/Er muss nicht nur an der Verteilung der gesellschaftlichen Chancen mitwirken, „sie hat vor allem die Aufgabe, die zum Zutritt zu den privilegierten Schulformen Aussortierten zu einer konfliktfreien Akzeptanz ihrer Ausgeschlossenheit zu bringen“ (Hüttenberger in Beck 2002, S. 27).
4.2 Reform des Schulleistungsbegriffs Der ersten, für alle Kinder verbindlichen Schulart, ist seit ihrer Gründung 1919 ein Ja zur Heterogenität eingeschrieben. Die Grundschule ist angetreten mit dem Anspruch, die Kinder weitgehendst unausgelesen aufzunehmen und grundlegende Bildungsarbeit für jedes Kind zu leisten. Dies schließt u.a. für den Unterricht die Aufgabe der Differenzierung und Individualisierung ein (vgl. Kap. 3). Doch um die Gründungsabstimmung im Weimarer Parlament für sich entscheiden zu können, mussten ihre Befürworter/innen folgenreiche Kompromisse eingehen, die einen pädagogischen Leistungsbegriff von Anfang an gefährdeten und die Bildungsselektion begünstigten, z.B.: • Begrenzung der Schuldauer auf vier Jahre, • Mitwirkung der Grundschule bei der Schullaufbahnentscheidung (Auslese), • Akzeptanz von meist unzureichenden Rahmenbedingungen (z.B. Stundentafel, Lehrerstunden), • unzureichende Lehrerbildung in der Tradition des „niederen Schulwesens“, die gegenüber den neuen Herausforderungen im Leistungsdenken in hergebrachten Mustern verhaftet blieb. 4.2.1 Reformpädagogische Schulkonzepte Bereits vor der Gründung der Grundschule etablierten sich im europäischen Raum reformpädagogische Schulkonzepte. Rudolf Steiner (1861-1925), Maria Montessori (1870-1952) und Célestin Freinet (1896-1966) zum Beispiel traten
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.2 Reform des Schulleistungsbegrifs
171
bei aller Unterschiedlichkeit im Begründungszusamenhang, im Konzept und in der Konkretisierung mit ähnlichen Prämissen an: • Die Stärkung kindlicher Individualität in der Gemeinschaft der Klasse und Schule. Sie suchten mutig nach Wegen, um die Spannung zwischen Normierung und Heterogenität sowohl im Unterrichtskonzept als auch in der Leistungspraxis zu gestalten. Bis heute haben diese alternativen Schulkonzepte nicht an Strahlkraft verloren. Als Schulen in privater Trägerschaft oder mit staatlicher Genehmigung erfreuen sie sich großer Beliebtheit und sind längst zu einem „Sauerteig“ für die Regelschulen geworden. • Die Reformkonzepte etablierten zugleich eine neue Leistungspraxis. Sie sahen darin die entscheidende Bedingung für das Gelingen ihres Reformansatzes. Der Grundschule hingegen, die seit ihrer Gründung zwar diese Prämissen teilt, war jedoch die Umarbeitung der Leistungspraxis verwehrt bzw.sie scheiterte an den damals vorgefundenen eingeschränkten Reformmöglichkeiten und institutionellen Zwängen. Exkurs: Célestin Freinet (1896-1966) Célestin Freinet hat die verbindlichen Lehrplanpensen der französischen Schule umgearbeitet in Lern- und Arbeitskarteien, Themenhefte usw.3 und eine Unterrichtskultur entwickelt, in der aktivierende und individualisierende Verfahren und Arbeitstechniken, die Rücknahme der lehrergesteuerten Unterweisung zugunsten von selbstgesteuertem Lernen in Einzel- und Gruppenarbeit, das Drucken, manuelle Tätigkeiten, Werk- und Gartenarbeiten, musisches und künstlerisches Schaffen, ein zu Ateliers umgestalteter Klassenraum bestimmend wurden. Der Unterricht orientierte sich an den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Interessen der Schüler/innen und ihrer Individualität. Freinet strebte eine dreifache Öffnung des Unterrichts/der Schule an: gegenüber der konkreten Umwelt vor allem im Sachlernen, gegenüber der Gemeinschaft und im Sich-Selbst-Erfahren über die Anderen. Dieses Sich-Öffnen wurde zusätzlich gestützt und strukturiert durch sogenannte institutionelle Techniken wie die regelmäßige Klassenversammlung, die Wandzeitung, das tägliche freie Gespräch sowie die Klassenkorrespondenz. In seinem pädagogischen Konzept bildet das Lernen und Leisten einen engen Zusammenhang. Die individuellen Beurteilungskurven („graphiques personelles“) beziehen sich auf das verbindlich zu erreichende Kerncurriculum, die „brevets“ eröffnen – trotz verbindlicher Leistungskriterien – individuelle Spielräume bezüglich des gewählten Themas, des Umfangs, der Terminierung und der Ausgestaltung.
3 Umfassendere Darstellung. (www.utb-shop.de/9783825251130)
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
172
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Abbildung 4.2: Wochenarbeitsplan eines Schülers: Für jedes Fach sind die Lern- und Übungsthemen individuell geplant. Die Beurteilung erfolgt in einer fünfstufigen Skala und wird gegengezeichnet.
Abbildung 4.3: „brevet“ – Die Fähigkeitsbescheinigung bezieht sich auf individuelle, eigenständige ‚Projekte‘ mit klarer Anforderungsstruktur. Dabei ist eine Anzahl von Themen verpflichtend („obligatoire“), andere individuell („accessoire de specialités“).
4.2.2 Beginnender Rückbau der Selektionspraxis Der Strukturplan, das zentrale Dokument der einzigen großen Bildungsreform der Bundesrepublik in den 70er Jahren des vorigen Jahrunderts, formulierte zukunftsweisende Kernaussagen für eine Revision des Leistungsverständnisses und für das Schaffen eines positiven Leistungsklimas. „Das Leistungsprinzip, wie es im gesellschaftlichen Wettbewerb gilt, kann nicht auf den Bildungsprozess des Jugendlichen oder gar des Kindes übertragen werden. […] Die Ursachen für einen Leistungsmangel oder einen Leistungsabfall sind vom Kind gar nicht und vom Jugendlichen durchweg nicht allein zu verantworten.“ ,,Gleichwohl sind von den Lernenden in Schule und Ausbildung Leistungen zu fordern. Die Erfah-
4.2 Reform des Schulleistungsbegrifs
173
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
rung dieser Herausforderung ist für den Lernenden unentbehrlich, denn die Forderung von Leistungen steht unter dem Prinzip der individuellen Förderung“ (Deutscher Bildungsrat 1971 , S. 35).
Die Einführung von Berichtszeugnissen im ersten Schuljahr (vgl. KMK 1970) war der erste instituionelle Schritt in eine flächendeckend sich verändernde Beurteilungspraxis. Nun gab es in keinem Land der alten Bundesrepublik mehr im ersten Schuljahr Zeugnisse mit Ziffernnoten, stattdessen Entwicklungsberichte (vgl. Benner/Ramseger 1985, S. 156). Die Umstellung von Auslese auf Fördern wird an folgenden Festlegungen ablesbar: • Es werden keine Probearbeiten geschrieben. • Das Vorrücken in die zweite Klasse ist die Regel; Ausnahmen müssen umfassend begründet werden. • Die Erziehungsberechtigten erhalten als Zwischen- und Jahreszeugnis einen (Schul-)Bericht zum sozialen Verhalten, zum Lernverhalten und zum Leistungsstand. • Es werden vorrangig erkennbare Fähigkeiten und Fortschritte festgehalten. Es soll berichtet werden, ob und wie ein Kind die angebotenen Hilfestellungen und Maßnahmen annehmen kann. • Eine Mitteilung von Mängeln und Schwierigkeiten soll mit Hinweisen auf mögliche Hilfen verbunden werden (vgl. Lichtensein-Rother 1976b, S. 6f.). In jedem Bundesland folgten entsprechende Verwaltungsvorschriften, Formulierungshilfen, Beobachtungsinstrumente, die die Realisierung stützen und die Bildungsselektion zurückdrängen sollten,4 die sich bis ins letzte Dorf ausgebreitet und hartnäckig in den Haltungen und Überzeugungen von Schule und Öffentlichkeit festgesetzt hatte. So war die Problematik nicht zu übersehen, dass der Weg zum Entwicklungsbericht, wie er heute verstanden wird, noch ein langer sein würde. Diesen ersten Schritt in der Umstellung der Leistungsbeurteilung begleitete aber auch die berechtigte Sorge, dass so mancher Entwicklungsbericht lediglich einer verbalisierten Übersetzung von Ziffernnoten gleiche, der Unterricht sich weiterhin der Auslese verpflichtet fühle und die individualisierenden und differenzierenden Maßnahmen, die für eine grundlegende Bildungsarbeit Bedingung sind, nicht erfolgen würden.
4 Wie die Schülerstatistiken dokumentieren, waren bis dahin die Zurückstellungen, Sitzenbleiberzahlen und Überweisungen an Sonderschulen alarmierend hoch. Dies veranlasste die Länder in den Folgejahren zu entsprechenden Projekten (z.B. Baden-Württemberg: „Schulanfang auf neuen Wegen“), in denen neue Wege der Grundschularbeit erprobt und evaluiert wurden. Demnach sei im Schuljahr 1993/94 die Quote der Zurückstellungen von 10,4 Prozent auf 5,2 Prozent im Schuljahr 2004/05 gesenkt worden sein. Gleichzeitig konnte die Quote der vorzeitig eingeschulten Schülerinnen und Schüler von stetigen 1,5 Prozent auf 12,3 Prozent gesteigert werden.
174
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.2.3 Relativierung der Zensuren Die Erschütterung des Glaubens an die Noten mittels empirischer Forschung kam einem ideologischen Erdbeben gleich; sie befeuerte die Leistungsdebatte nachhaltig. Karlheinz Ingenkamp (1925-2015) hatte in seiner klassischen Expertise „Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung“ (1971) evidenzbasiert festgestellt, „dass die Zensuren keine Vergleichsfunktionen bei schulexternen Adressaten erfüllen können und dass damit unser gesamtes schulisches Berechtigungswesen auf einer Fiktion beruht […] Je mehr Untersuchungen ich las, desto provozierender empfand ich die Kluft zwischen den Mängeln der schulischen Beurteilung und der durch die Befunde nicht erschütterten und weitgehend unkritischen Praxis der Zensurengebung“ (Ingenkamp 1971, S. 7). Ingenkamp fasste den damaligen Forschungsstand zur Praxis der Zensurengebung zusammen und benannte schonungslos und unmissverständlich die lange nicht erkannten Schwachstellen. Exkurs: Schwachstellen der Zensurengebung Der Mangel an Objektivität verbunden mit vielen subjektiven Fehlerquellen: Es kommt zu logischen Fehlern und unzulässigen Generalisierungen (Wer lügt, der stiehlt auch.), zu Beurteilungstendenzen (Tendenz zur Milde – Tendenz zur Strenge), zum Halo-Effekt (Ein gefälltes Urteil aufgrund eines Merkmals tendiert dazu, dieses Urteil auf andere Merkmale zu übertragen.), zur Wirksamkeit von Sympathie/Antipathie (Ein sympathisches Kind kann mit dem Wohlwollen der Lehrerin bei der Punkteverteilung und bei der Festlegung des Klassendurchschnitts rechnen.), zum Pygmalioneffekt (Eine anfänglich positive Einschätzung bestätigt sich im späteren Verlauf.). Der Mangel an Validität: Es wird nicht wirklich die Leistung gemessen, die gemessen werden sollte. Zugleich geht es um den Grad der Exaktheit, mit dem das zu beurteilende Merkmal tatsächlich erfasst wird (Wie wird zum Beispiel eine komplexe Leistung wie das Richtigschreiben definiert?). Der Mangel an Reliabilität bezieht sich auf die Genauigkeit, mit der ein Merkmal gemessen wird. (So wird die gleiche Arbeit bei wiederholter Zensierung z.B. zu einem späteren Zeitpunkt von derselben Lehrperson unterschiedlich benotet.) Die traditionell erteilten Zensuren sind vor allem am Bezugsrahmen der Leistung der internen Klasse orientiert. Außerdem werden sie nach der Gauß’schen
4.2 Reform des Schulleistungsbegrifs
175
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Normalverteilung vergeben. Über die jeweilige Klasse bzw. auch Schule hinaus haben sie wenig Gültigkeit. Ingenkamps Kritik führte zu einem fatalen Urteil über die Notengebung: 1. Die Zensur sei kein primär pädagogisches Instrument. Ihre Funktion im staatlichen Berechtigungswesen habe die didaktischen und pädagogischen Aufgaben überwuchert und belaste das pädagogische Verhältnis zu Lehrperson und Klasse. 2. Auch wenn im Prinzip alle Schüler/innen die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben, werden – gerade wenn es um Wissen und Können geht – die Unterschiede innerhalb der Schülergruppe betont, was Fragen wechselseitiger Anerkennung aufwirft. 3. Bereits der Anfang der Grundschule setze die frühen positiven Sozialbeziehungen zwischen den Kindern dann aufs Spiel, wenn sie in ihrem Leistungsverständnis einer „Mentalität des Gewinnens“ (Rauschenberger 1999, S. 77) folge, die allzu schnell dabei sei, ein formelles System in der Klasse zu etablieren, das durch die in der Schulleistung eingenommene Position und das darauf bezogene Selbstbild bestimmt sei. Immer wieder wird belegt, dass das informelle System der sozialen Beziehungen davon empfindlich betroffen sei: Leistungsschwächere Kinder sind weniger beliebt, leistungsstärkere belegen hohe Rangpositionen. Gabriele Faust-Siehl (2007) formulierte es so: „Das leistungsstarke, dem Lehrer nahe stehende Kind ist durch die soziale Anerkennung entlastet und kann mehr Aufmerksamkeit auf das Lernen verwenden […] Umgekehrt entbehren die leistungsschwächeren Außenseiter die Aufmerksamkeit der Lehrerinnen und der Mitschüler, sind also so mit mehreren Problemen gleichzeitig belastet“ (Faust-Siehl 2007, S. 44). 4. Wer Bildung mit Leistungssport verwechselt und Lernen zum Wettkampf macht, produziert notwendigerweise Verlierer. Jedes Kind hat einen Anspruch auf Lernen verbunden mit der Stärkung seines Selbstvertrauens gerade dann, wenn sein Lernen ins Stolpern gerät. Es bedarf in besonderer Weise der sensitiven Responsivität seiner Lehrkraft, „die neue Strategien des Lernens und der Erfahrungserweiterung aufzeigt und neue Gelegenheiten der Könnenserfahrung eröffnet“ (vgl. Grundschulverband 2003, S.3). 5. Außerdem gibt es in vielen Grundschulklassen Leistungsrituale, die kindgemäß getarnt (zum Beispiel als lachendes, weinendes oder gleichgültiges Smiley, als Fehlerralley, als „Mathe-King“ u.v.m.) lediglich Ausdruck subtiler Selektionsmechanismen und eines tiefsitzenden Mangels an achtungsvollem Umgang mit den leistenden Kindern sind. 6. Aber auch das ziffernlose Zeugnis bzw. Berichtszeugnis ist nicht „automatisch“ objektiver, zuverlässiger, gültiger, vergleichbarer und pädagogischer als die Ziffernzensur. Es vermag keine Kompensation der aufgezählten Mängel, so lange diese „via Text“, also lediglich sprachlich verkleidet, daherkommen.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
176
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Doch konstatiert Ingenkamp (1993) dem Berichtszeugnis Vorzüge gegenüber dem Ziffernzeugnis: Das Berichtszeugnis erleichtert differenzierte Stellungnahmen zu den Leistungsprozessen, Leistungsergebnissen und pädagogischen Einwirkungen. Allerdings kann es nie differenzierter sein als die pädagogische Praxis selbst, in der die Schülerinnen und Schüler die zu bewertende Leistung hervorbringen. Insofern muss eine veränderte Beurteilungspraxis stets mit einer Unterrichtsreform verbunden sein, da in der Leistungsbeurteilung direkt wie indirekt über diese mit berichtet wird.
4.3 Leistungsbegriff und Gesellschaft In den letzten Jahren wird die Debatte um die Schulleistung in einem noch nie dagewesenen fordernden Ton geführt. Auslöser war die TIMS-Studie, eine internationale Vergleichsstudie zu mathematisch-naturwissenschaftlichen Basiskonzepten (Third International Mathematics und Science Study), die 1995 für Deutschland einen recht unbefriedigenden Platz im unteren Mittelfeld ergeben hat: „Das rief die KMK, die Kultusministerien der Länder, die Bildungspolitiker, die Elternverbände, Pädagogen und Wissenschaftler, die Bildungs- und Systementwickler auf den Plan, die auf ihre je eigene Weise um die Leistungsfähigkeit der Kinder besorgt waren“ (Ramseger 2000, S. 80).
Mit dem sogenannten Konstanzer Beschluss (1997) war die Entscheidung der Bundesrepublik gefallen, an internationalen Vergleichsunteruntersuchungen teilzunehmen, die in geheimnsvollen Begriffen daher kamen, z.B.: PISA (Programme for International Student Assessment), PIRLS (Progress in International Reading Literacy Study), IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung). Parallel zu den internationalen Studien wurden nationale Ergänzungsstudien eingeführt und dies auch auf der Ebene eines jeden Bundeslandes. Damit war eine externe Evaluation von Schulleistung und Schule akzeptiert und etabliert, was von breiten Teilen der Lehrerschaft und der kritischen Öffentlichkeit bis heute heftig beklagt wird. Neu und irreversibel bleibt: „Schule als Veranstaltung des Staates ist der Öffentlichkeit rechenschaftspflichtig [… Sie] muss ihre Arbeit pädagogisch legitimieren. Das Verhältnis von Schule und Öffentlichkeit hat sich offensichtlich geändert“ (Ramseger 2000, S. 80): Die Schule ist gegenüber der Gesellschaft rechenschaftspflichtig geworden.
4.3 Leistungsbegrif und Gesellschaft
177
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.3.1 Garanten für Leistungssteigerung? Die Antworten seitens des Staates auf das schlechte Abschneiden der Bundesrepublik ließen nicht lange auf sich warten: Noch mitten in den Erhebungen wurden von der KMK für alle 16 Bundesländer die Bildungsstandards verabschiedet. Eine Neukonzeption der Lernbereiche, die Formulierung von Kompetenzen und eine Qualitätsoffensive in der Schulentwicklung sollten den Anschluss an die internationalen Standards ermöglichen (vgl. Kap. 2). In der Folgezeit wurden die Lernbereichsprofile und die Bildungspläne fachdidaktisch im Sinne der Kompetenzorientierung und Bildungsstandards umgearbeitet. Ihre Neukonzeption folgte einer doppelten Zielsetzung: Sie sollte den Prozess der Unterrichtsentwicklung (Input) voranbringen und zugleich den Output (Standards) optimieren.
Arbeitsaufgaben 1. Wählen Sie einen Lernbereich aus. Lesen Sie in zwei Bildungsplänen eines Bundeslandes (vor und nach der Kompetenzorientierung) nach, wie sich der Anspruch verändert hat. 2. Nehmen Sie dazu Stellung. Der Unterricht folgt nun dem Grundmuster der Standardisierung (vgl. 4.3.2). Die Bildungsstandards sind mit länderspezifischen Besonderheiten formuliert; sie schreiben die vergleichbaren und überprüfbaren Leistungen fest und verlangen durchgängige Beachtung ihres Anspruchs. Die Bildungspläne, die Schulbücher, die Lernmaterialien und die Handreichungen übersetzen die Kompetenzorientierung für die Handlungsebene der Lehrer/innen. Die Implementierung in der Schulpraxis erfolgt über ein dichtes Netz an Lehrerfortbildungsveranstaltungen und praxisnahe, pragmatische Publikationen. Erziehungswissenschaftler/innen konzentrieren sich zunehmend auf Bildungsforschung, entwerfen neue Aufgabenformate und Lernkulturen, die forschendes, aktives und zielerreichendes Lernen und Leisten zum Leitbild haben. Die Notengebung wird durch veränderte Formen der Leistungserbringung und Rückmeldekultur ergänzt, damit der Output der Lernprozesse möglichst objektiv, valide und reliabel erfasst und dokumentiert wird. Nach den Ergebnissen der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU), der ersten für Deutschland repräsentativen Untersuchung zu Kompetenzen von Grundschulkindern am Ende der vierten Jahrgangsstufe zeigte sich für die Schullaufbahnempfehlungen eine deutliche Diskrepanz zwischen den Empfehlungen der Lehrkräfte und dem Kennwert im Lesetest, ebenso bei den mathematischen Kompetenzen. „Die Schullaufbahnempfehlung der Lehrkräfte korreliert mit der Deutschnote mit r = -0,76 und r = -0,72 mit der Mathematiknote“
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
178
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
[… Dieses Ergebnis belegt erneut,] „dass Noten die tatsächliche Fachleistung oft nicht widerspiegeln und die Noten nicht vergleichbar sind“ (Blossfeld u.a. 2007, S. 49f.). Inwieweit die Ergebnisse aus den Vergleichsarbeiten für die Schullaufbahnempfehlung herangezogen werden, unterliegt länderspezifischen Regelungen. Das, was sich durchaus wie eine Erfolgsmeldung über den inneren Umbau von Schule und Leistungspraxis liest, muss sich zu Recht kritische Fragen gefallen lassen, zum Beispiel: • Braucht die Schule nicht andere Standards? Wo bleiben die Standards, die sich auf die Schulgebäude, die sachliche und personelle Ausstattung, den Schulbetrieb, die Sicherheit beziehen, die auf der Ebene der Lehrpersonen, die Ausbildungsqualität, die Fortbildung, die Berufspraxis fokussieren, die in die Leistungsbeurteilung die Anstrengungen der Schülerinnen und Schüler, ihre Selbsteinschätzung und ihre Persönlichkeitsentwicklung im Fokus haben (vgl. Herrmann 2004)? • Bewirkt die Verpflichtung auf verbindlich vorgezeichnete Standards eine Ermutigung der Schulen, vielartige Wege zur Realisierung dieser Kompetenzen zu erproben und zu realisieren? Oder ersticken die Standards, die bis zu den Tests konkretisiert werden, die pädagogische und didaktische Vielseitigkeit und die selbstverantworteten Verstehens- und Realisierungsbemühungen (vgl. Rumpf 2006, S. 1)? • Ist mit der häufig gebrauchten Formel „Teaching to the test!“ nicht gerade die Gefahr verbunden, dass der Unterricht unter dem Diktat der Effizienzsteigerung allzuleicht mit einer methodischen Reduktion des Lernens auf messbares Wissen Hand in Hand geht? Bedroht dies nicht gerade vieles andere, was die eigentliche Qualität pädagogischer Arbeit und vermehrter Leistungschancen ausmacht? • Ist nicht gerade die Sorge berechtigt, dass da, wo Zahlen und Vergleichsdruck regieren, schnell gleiche Anforderungen für alle und gleichmäßiges Fortschreiten im Unterrichtsstoff gelten? Aber dann wäre doch einer Rückkehr der „Museumsstücke einer überholten Vorstellung von Lernen und vordemokratischer Pädagogik“ (v. d. Groeben 2001, S. 9) Tür und Tor geöffnet, die dann in Verbindung mit einer Mentalität des Gewinnens den Schulerfolg einer relativ großen Schülergruppe vorenthält. • Schaffen die Basiskompetenzen gar eine „Pseudo-Gleichheit“ und trotz unterschiedlicher Lernvoraussetzungen eine tragfähige Grundlage, auf der intensiveres und individualisierendes Lernen aufbauen kann, oder unterdrücken sie durch ihre inhalts- und subjektneutrale Art jede sachspezifische Initiation in Lern- und Kulturbereichen (vgl. Rumpf 2006, S.1)? • Können die Bildungsstandards die Anerkenntnis der Vielfalt von Begabungen zulassen und als Ausgangslage und Ziel ihrer Bestrebungen akzeptieren und Verständnis für die individuellen Bedarfe an Lernhilfen bei den Verantwortlichen befördern? Oder verstärken sie die exklusive Logik einer Wettbewerbsge-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.3 Leistungsbegrif und Gesellschaft
179
Abbildung 4.4: Länderwettkampf um Rechtschreib-Kenntnisse
sellschaft, die so funktioniert: „Sie grenzt aus und versteht es nicht, die vielen, die Beachtliches, wenn auch nicht das Höchste erreicht haben, als Gleichberechtigte und Gleichwürdige anzusprechen“ (Rauschenberger 1999, S. 79)? • Schenken nicht gerade die öffentlichen Medien den Befunden eine erschreckend hohe Aufmerksamkeit? Sie publizieren die Ranking-Skalen auf Schlagzeilenniveau (vgl. Abb. 4.4), steigern die Konkurrenz zwischen den beteiligten (Bundes-)Ländern und führen oft zu vordergründigen Maßnahmen und Aktionismus. Dabei wird die Botschaft der Daten oft missverstanden, ihre Erklärungskraft überschätzt und komplexe Problemlagen unzulässig vereinfacht. Auf Schulen und Lehrkräfte hat dies eher einengende als ermutigende Wirkung.
180
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.3.2 Kritik am gesellschaftlichen Leistungsbegriff „In der Einstellung auf das subjektive Leben liegt das pädagogische Kriterium. Was immer an Ansprüchen aus der objektiven Kultur und den sozialen Bezügen an das Kind herantreten mag, es muss sich eine Umformung gefallen lassen, die aus der Frage hervorgeht: Welchen Sinn bekommt diese Forderung im Zusammenhang des Lebens dieses Kindes für seinen Aufbau und die Steigerung seiner Kräfte, und welche Mittel hat das Kind, um sie zu bewältigen?“ Hermann Nohl5 (1879-1960)
Schülerleistungen, gefasst in Zensuren, Zeugnisse und Leistungspunkten, gelten in Schule und Öffentlichkeit als Kriterium für erfolgreiches pädagogisches Wirken. Ihre Indienstnahme für die Auslesefunktion und die Aufgabe der Schulbahnlenkung führt bis heute zu einer Diskrepanz zwischen einem schulisch verkürzten, gesellschaftlichen und einem pädagogischen Leistungsbegriff. Die kritischen Fragen richten sich gegen ein Verständnis von Leistung, das sich auf die Erfüllung von Anforderungen, die der Bildungsplan, die Schule, die Lehrkräfte stellen, reduziert. Sie wenden sich gegen einen Leistungsbegriff, der die Schulleistungen auschließlich an festen Zielsetzungen und Lernpensen orientiert, der sich bereits in der Prüfsituation auf intransparente Gütemaßstäbe bezieht, der von Verrechtlichungstendenzen durchwirkt ist und sich auf messbare und belegbare Effekte beschränkt. Folgt die Schule einem solch „verdinglichten“ Leistungsverständnis, dann dominieren Norm, Sollerfüllung und Leistungsmessung. Wenn die Zensur als die Gegenleistung für das Lernen erscheint und zum alleinigen Motto und Antrieb für schulisches Lernen, für Anstrengung und Arbeiten wird, haben wir es mit einem funktional verkürzten Leistungsbegriff zu tun. Dieser hat Noten und Zensuren für die weiteren schulischen Wege zur zentralen Orientierung und ist begleitet von der permanenten Klage der Sinnlosigkeit im Lernen, dass das Gelernte und Abgeleistete äußerlich bleibe und nicht die Welt begreifen helfe. Der „gesellschaftliche“ Leistungsbegriff bedarf einer pädagogischen Gegeninitiative, die aus einem pädagogisch-anthropologischen, demokratischen Verständnis von Schule hervorgeht. Dieses Ansinnen ist keinesfalls revolutionär oder gar subversiv. Stimmen nicht geradezu alle Präambeln unserer bundesdeutschen Bildungspläne darin überein, dass Schule als pädagogische Institution die Kinder und Jugendlichen auf ihr individuelles und gesellschaftliches Leben vorzubereiten habe, dass Erziehung Vorrang vor der Vermittlung von Lerninhalten habe, 5 H. Nohl, ehemaliger Professor an der Universität Göttingen, zählt zu den bekanntesten Vertretern der Reformpädagogischen Bewegung und der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Das Zitat ist seinem Hauptwerk entnommen: Die Pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. Frankfurt/M. 1949, S. 127.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.3 Leistungsbegrif und Gesellschaft
Gesellschaftlicher Leistungbegrif Grundmuster: Standardisierung
Pädagogischer Leistungsbegrif Grundmuster: Vielfalt
Bildungsstandards: Worüber die Schüler/innen am Ende der Klassenstufen verfügen sollen
Anerkenntnis der Vielfalt individueller Begabungen, Fähigkeiten, Interessen;
Bildungspläne: neue Modellierung und Strukturierung der Lernbereiche, Formulierung von Kompetenzen
individuelle Bedarfe an Lernhilfen und Lernzeit
Entwicklung von Schul-/Unterrichtsqualität und veränderten Aufgabenformaten Noten und veränderte Formen der Leistungserbringung und -beurteilung (Rückmeldepraxis)
Outputorientierung
181
individuelle Leistungsselbstkonzepte (Fähigkeitsproile, Anspruchsniveaus …) Bedeutung der Beziehungsebene und sozialen Einbettung Leistungsentwicklung als Dimension der Persönlichkeitsentwicklung
entwicklungsfähige Grundlagen für ein langes Leben
Abbildung 4.5: Gesellschaftlicher und pädagogischer Leistungsbegriff (E. Röbe)
dass die Heranwachsenenden im geschützten Raum der Schule selbständig und verantwortlich handeln lernen und Initiative und Lernbereitschaft entwickeln sollten. In der aufmerksamen Zuwendung zur Welt sollten sie Welt- und Selbstsicht, Maßstäbe, Orientierung, Weltumgang und Hilfen zur Sinngebung ihres eigenen Lebens gewinnen können. In dieser Sichtweise geht es also nicht primär um das Gewinnen von Berechtigungen, sondern um das Einlösen einer grundlegenden Entwicklungsaufgabe gegenüber der nachwachsenden Generation, weil Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit, Anstrengung und Erfolg unaufhebbare Bedingungen für die Identitätsbalance der Person und damit ein integrativer Bestandteil menschlicher Bildung sind. Gerade am Problem der Leistung kann und muss sich zeigen, ob, dass und wie die Schule die Herausforderung durch die veränderte gesellschaftliche Situation pädagogisch beantworten kann. Oder zugespitzter formuliert bzw. gefragt: Kann Schule die Notwendigkeit der Leistungssteigerung, die auch unter dem Aspekt der Humanisierung durchaus besteht, so wenden und einlösen, dass diese für die
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
182
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
gesamtmenschliche Entwicklung der Kinder und Jugendlichen fruchtbar wird. Diese Frage ist seit der reformpädagogischen Bewegung virulent (vgl. 4.2.1) und stellt sich in der aktuellen Qualitätsdiskussion verschärft. Die mögliche pädagogische Antwort zielt aber nun gerade nicht auf eine bloße Verlängerung und Ausdifferenzierung der schulischen Aufgaben- und Lernfelder, sondern auf ein Neuvermessen der schulischen Bildungsarbeit unter pädagogischer Verantwortung. Ilse Lichtenstein-Rother6 gehört zu den exponierten Pädagog/innen, die angesichts formaler Neuerungen, übersteigerter Leistungserwartungen und ungewollter Nebenwirkungen für die Betroffenen eine Leistungserziehung als zentrale Bedingung für die Einlösung des pädagogischen Auftrags der Schule gefordert hat. Das von ihnen vertretene pädagogische Verständnis von Schule und Schulleistung, das schultheoretisch gesehen geisteswissenschaftlich und bildungstheoretisch geprägt ist, verweist die Leistungsthematik in das Grundverhältnis von Enkulturation und Individuierung und löst es damit aus der Gefahr funktionalistischer Verengung.
Arbeitsaufgabe Welche Argumente aus den folgenden Textauszügen könnten Sie für eine aktuelle pädagogische Stellungnahme gegenüber Vertreter/innen eines verengten Leistungsbegriffes nutzen? Exkurs: Schulleistung und Lebenstauglichkeit „Groteskerweise kann aber gerade der im Schulunterricht geltende Leistungsbegriff nicht auf das Leben übertragen werden. Im Zusammenhang mit normierten Anforderungen streuen die Leistungen, ablesbar an den Noten der Schüler, von sehr gut bis mangelhaft. Außerhalb und nach der Schulzeit ist es aber doch wohl so: • Jedes Werkstück, jede Teilleistung soll und muss gut, genau, zuverlässig sein. Darauf basierte jede Arbeitsteilung. Jeder von uns vertraut darauf, dass sich Handwerker, Zahnärzte, Busfahrer usw. an solche Gütekriterien halten und dass sie das von ihnen Geforderte tatsächlich können und auch zuverlässig erfüllen. • Im Leben zählen aber auch noch andere Leistungen, die nicht messbar sind, wie das selbstverständliche, verlässliche Besorgen und Versorgen der Familie, der Kinder durch die Mutter, den Vater. 6 Durch das Werk von I. Lichtenstein-Rother (1917-1992) zieht sich die Thematik der Leistung wie ein roter Faden. Sie setzt mit Beharrlichkeit und argumentativer Schärfe dem gesellschaftlichökonomisch orientierten Leistungsbegrif einen pädagogisch-anthropologischen entgegen als Konsequenz einer Verbindung von Erziehung und Unterricht, von Kind(er)orientierung und Bildungsauftrag der Schule. Ihre Analytik richtet sich immer wieder auf die Diskrepanzen zwischen pädagogischer Idee und vorgefundener Leistungspraxis.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.3 Leistungsbegrif und Gesellschaft
183
Die Anforderungen, die an jeden im Leben gestellt werden, verlangen Einstellungen, Haltungen und Fähigkeiten wie Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft, Verlässlichkeit, soziale Sensibilität, fachliches Können: Im Leben steht jeder immer in der Zuordnung zu anderen. Der in der Schule herrschende Leistungsbegriff hat in Lebenssituationen keine Entsprechung. Auch die von der Öffentlichkeit vorgebrachte Forderung, Schule müsse, da sie auf das Leben in der Leistungsgesellschaft vorbereitet, Leistungsschule sein, ist eine Verkürzung […]“ (Lichtenstein-Rother 1983, S. 38). Das Problem liegt als nicht im bloßen Fehlen von Leistungsbereichen.7 Dies ließe sich über das Hinzufügen neuer Fächer und Anforderungen einfach lösen. Es geht vielmehr um die strukturelle Identität von Schul- und Lebensleistung: Exkurs: Schulleistung und gesellschaftliche Umbrüche „Wenn wir von unserer Kenntnis der gegenwärtigen Lebenssituation her durchdenken, was auf die Schüler nach der Schulzeit wartet, so wird deutlich, dass sie kaum mehr rational feste, gewohnheitsmäßig stabilisierte Lebensordnungen, Verhaltensformen und Leistungsgefüge vorfinden, in die sie […] einfach dadurch hineinwachsen können, dass sie Glied einer solchen in sich geschlossenen Lebenswelt werden. Die Schule muss deshalb eine sittlich-geistige Haltungssicherheit und Verantwortlichkeit anbahnen und die Jugendlichen mit freier Verfügbarkeit ihrer Kräfte und persönlich verantworteter Lebenshaltung ausrüsten […]. Es geht um qualitativ sehr viel höhere Leistungen. Die unbedingt notwendige Steigerung der Leistungen der Schule kann dann nicht durch eine Vermehrung sachlich-inhaltlicher Leistungsforderungen erreicht werden, sondern sollte im Anstreben einer anderen Leistungsform gesucht werden. Es geht heute um die von der Sache her bestimmte, selbständig durchgeführte und eigenverantwortliche Leistung des Schülers – nicht um die von der Last des Pensums und dem Druck der Zensur gesteuerte oder erzwungene Leistungen. Letzten Endes geht es um Leistung als sachliche, geistige und körperliche Selbstbeanspruchung in sozialer und sittlicher Verantwortung“ (Lichtenstein-Rother 1989b, S. 7). Kinder und Jugendliche scheinen heute mehr denn je „verdammt zum Erfolg“,8 geraten unter Druck, arbeiten um der guten Noten willen, strukturieren Denken 7 Mögliche Beispiele wären: ein Schulfach „Glück“ oder „Digitalisierung“. 8 vgl. Ilse Lichtenstein-Rother: Verdammt zum Erfolg – Schule als Lebenshilfe? (Ulm 14.04.1989 – Vortragsmanuskript).
184
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
und Anstrengung von den erwarteten, praktischen Folgen her, von den Chancen im Konkurrenzkampf, von der noch ungewissen Zukunft.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Exkurs: Schulleistung und Zukunftsfähigkeit „Eine Konzentration der Leistungsmotive auf Zensuren und Berechtigungen führt aber häufig zu einer Vorstellung oder der Erfahrung, dass Lernen, Können, Anstrengung ihre Begründung nicht in sich selbst, also im Gewinn neuer Einsichten und Interessen, in der Liebe zu Sachverhalten, in der Bewährung vor Aufgaben, in der Lösung von Problemen liegt, sondern in den angestrebten guten Noten für eine fiktive Zukunft. Die Sinnerfahrung und die Sinngebung von Schule kulminiert dann in den zu erwerbenden Zeugnisssen und Berechtigungen […] Und viele Eltern unterstützen diese Orientierung, fordern sie regelrecht heraus – aus Sorge um die Zukunft der Kinder. Aber welcher Zukunft? Was wissen wir eigentlich von der Zukunft, auf die unsere Kinder vorbereitet werden sollen? Die zukünftigen Lebensbedingungen sind nur als Trend der Entwicklung vorausbestimmbar, und dieser trifft den einzelnen in der je individuellen Lebenssituation sehr unterschiedlich. Aber die heute bereits deutlichen Zukunftsperspektiven ergeben sich aus zwei Tatsachen: • die rapide technologische Entwicklung und die daraus resultierenden Veränderungen der natürlichen Umwelt und der Arbeitswelt, • der bevorstehende Zusammenschluss Europas sowie die allen Völkern der Welt gemeinsamen Folgen der technischen Zivilisation. Das verlangt heute einen Verantwortungshorizont für den Umgang miteinander und mit dem Sachwissen im Sinne eines kritischen und sozialverantwortlichen Daseinsverständnisses“ (Lichtenstein-Rother 1989a, S. 8). Warum kann eine pädagogisch verantwortungsvolle Leistungsdebatte auf die Klärung des Bildungsbegriffes nicht verzichten?9 Exkurs: Schulleistung und Bildungsverständnis „Das Kernproblem scheint mir darin zu liegen, dass mit Begriffen wie Erfolg oder Effizienz weder die zentralen Funktionen und Ziele pädagogischer Institutionen noch die Wirkung von Unterricht und Erziehung angemessen erfasst werden können. Warum nicht? Weder der Umgang mit Menschen noch die
9 Die geforderte Rückbindung an einen ethisch begründeten Bildungsbegrif, ist in der neu entfachten kritischen Auseinandersetzung mit „Bildung als Weltbeherrschung“ ein zentrale Forderung (vgl. z.B. Probst 2017).
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.4 Rückmeldekultur
185
Vorbereitung auf die Zukunft dürfen auf das Berechenbare, auf praktischen Nutzen reduziert werden. Begriffe wie Erfolg und Effizienz sind in der Ökonomie zu Hause. Ihre Verwendung bedarf in der Pädagogik einer Vergewisserung, in welchem Begründungszusammenhang sie pädagogisch zu entfalten und zu interpretieren sind und welches Begriffsverständnis wir in pädagogischer Verantwortung zurückweisen müssen. Der Pädagoge und die Schule gewinnen ihre Verantwortungsstruktur aus der Orientierung am Humanum, an der Personagenese des einzelnen. Dem ordnen sich alle anderen Aufgaben unter; sie sollten es zumindest […]“ (Lichtenstein-Rother 1989b, S. 3) Diese verbindliche und verbindende Orientierung am Humanum bezieht sich auf die verfassungsmäßig garantierte Unverletzlichkeit der Würde der Person. Das heißt einerseits: auf die Bestimmtheit des Menschen durch Freiheit und Verantwortung als Voraussetzung der Selbstkompetenz, andererseits auf die Mitmenschlichkeit als Bedingung für die Sozialkompetenz im persönlichen Miteinander und das heißt auch als Grundlage für Völkerverständigung und Kooperation. Der demokratisch verfasste Staat, der pädagogische Auftrag und die christliche Sinnorientierung zeigen Gemeinsamkeiten und müssen uns bewusst sein… Die pädagogische und gesellschaftliche Funktion der Schule wäre dann, einen Modus menschlichen In-der-Welt-seins als möglich zu erfahren und üben zu lassen und dafür auch das Ermöglichen des Ich-Aufbaus; das erfolgt entscheidend im Unterricht, in der Selbsterfahrung beim Lernen und im Umgang miteinander“ (Lichtenstein-Rother 1989b, S. 8).
4.4 Rückmeldekultur als Resonanzraum für Leistung „Neben Stolz fehlt uns Zutrauen in die Leistungsfähigkeit und erst recht in die Leistungslust der Kinder und Jugendlichen. Zwischen Selbstbewusstsein und Leistung gibt es einen engen Zusammenhang.“ Reinhard Kahl10
4.4.1 Leistungserwartungen und Aufgaben Die Schule begegnet den Schülerinnen und Schülern mit Aufgaben in vielgestaltiger Form und Absicht. In der Aufgabe wird der Forderungsgehalt der Sache (z.B. Einen Lesetext für den Vortrag zuhörerbezogen üben) oder der in einer Situation liegende Anspruch (z.B. Eine Präsentation eines Mitschülers aufmerksam verfolgen und Rückmeldung geben) konkret fassbar. Aufgaben stellen Anforderungen und fordern Responsitivität heraus. In der Aufgabe begegnet uns 10 Reinhard Kahl, geb. 1948, freier Journalist, Filmemacher und Autor, schreibt regelmäßig kritische Kolummen in der Zeitschrift PÄDAGOGIK.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
186
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
gleichsam ein Stück Welt,11 das unsere Wahrnehmungs- und Deutungsarbeit auf der kognitiv-bewussten wie auf der emotional-affektiven Ebene aktiviert und die Reaktionsweisen mit steuert. Unberücksichtigt kann zunächst bleiben, ob es sich um fremd- oder selbstgestellte Aufgaben handelt.12 • Das sachlich-inhaltliche Moment einer Aufgabe: Welche „Natur“ hat die Aufgabe? Welche Wissenselemente und Einsichten will sie vermitteln? Welche Vorstellung/Assoziation/Imagination weckt sie? Welche Lösungsstrategien und welche Arbeitstechniken erfordert ihre Bearbeitung? Welche Zugänge und Herangehensweisen bieten sich an? Welche Sprache „spricht“ sie? • Situative Momente einer Aufgabe bewirken wesentlich, dass die Schüler/innen mit Neugier, Interesse, Anstrengungsbereitschaft, Durchhaltevermögen und Leistungsneugier sich auf eine Bearbeitung einlassen. Dazu zählen: prägnante Aufgabenformulierung, angemessener Schwierigkeitsgrad, Aufgabenumfang, Gestaltungsspielraum, Neuigkeitsgrad, gewährte Bearbeitungszeit, graphisch-ästhetische Aufgabenpräsentation. • Soziale Momente einer Aufgabe betreffen vor allem die Beziehungsebene: die Möglichkeit der Kooperation und Kommunikation in der Aufgabenerfüllung, das Angebot an Unterstützung bei Nichtverstehen, das Geltenlassen von individuellen Vorgehens- und Lösungsweisen, eine wertschätzende, authentische Rückmeldung, das Vermeiden von Stress oder gar Bloßstellen bei überfordernden Aufgaben … Sowohl im kognitionspsychologischen Denkmodell von Jean Piaget (1896-1980) wie im bildungstheoretischen Denken in der Tradition von Wolfgang Klafki (1927-2016) treffen wir auf eine „dialektische“ Verschränkung von Subjekt und Objekt: In der Begegnung des Menschen mit der Welt gewinnt er nicht nur Antworten auf die Frage „Was geht hier vor?“, sondern auch auf die Frage: „Was geht mit mir vor?“. Die Selbsterfahrung in der Aufgabensituation hat wesentlichen Anteil am Gewinnen von Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl, Interesse für eine Sache, Leistungszuversicht, Mut zu neuen Herausforderungen, Ichstärke, aber auch Toleranz und Wertschätzung für andere. Wenn die Kinder in die Schule kommen, haben sie bereits sechs Jahre ihres Lebens ihr Können entwickelt und begonnen, ihre individuelle Leistungsbiografie auszuprägen. Jedes Kind hat bereits sein typisches Muster herausgebildet, wie es zum Beispiel an eine Aufgabe herangeht, wie es sich bei Schwierigkeiten
11 Diese von Martinus J. Langeveld (1960) vertretene und hier übernommene essentialistische Sichtweise wurde für die Erörterung der Leistungsthematik weiter entfaltet (vgl. z.B. Röbe 2017). 12 Die hier verkürzt vorgetragene Argumentation wurde im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsprojekts „Wie Grundschulkinder ihre Schulleistung sehen und verstehen“ (2000-2006, unter Leitung von Prof. Dr. Edeltraud Röbe) an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg entwickelt und in Teilprojekten für den Lernbereich Deutsch konkretisert und untersucht.
4.4 Rückmeldekultur
187
verhält, wie und ob es sich Hilfe holt, wie es sich Erfolg und Misserfolg erklärt, wo es sich stark fühlt.13
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Zentrale Einsichten aus der Schulleistungsforschung • Grundschulkinder bilden ein Tüchtigkeitskonzept aus, in dem lange nicht zwischen zeitvariabler Anstrengung und zeitstabiler Fähigkeit unterschieden wird. Wer sich seinen Misserfolg durch zeitstabile Einflüsse verursacht erklärt, wird schnell entmutigt sein, da er weder seine Begabung noch die von außen gestellte Aufgabe verändern kann. Wer den Grund eher in den zeitvariablen Faktoren (zufällige Einflüsse und Anstrengung) sieht, kann sich der Aufgabe erneut mit mehr Anstrengung zuwenden (vgl. Karlheinz Heckhausen). • Im günstigsten Falle erwirbt ein Schüler/eine Schülerin die Strategie der Selbstbekräftigung, vergleichbar einer inneren Spur, eines Entfaltungspfades, auf dem sich das Kind als erfolgszuversichtliche Person selbst aufbauen kann (vgl. Hans Rauschenberger). • Misserfolge sind schwerer zu erklären als Erfolge. Besonders schwierig ist die nachträgliche Erklärung von unterschiedlichen Leistungsergebnissen bei unterschiedlicher Anstrengung. Genau um diese Situation handelt es sich aber bei schulischen Erfolgen (vgl. Gabriele Faust-Siehl). • In der Grundschulzeit liegen kritische Entwicklungen: Die individuellen Lerneinstellungen, die die Kinder im Kindergarten und bei Schulbeginn ausgebildet haben, verändern sich zwischen dem ersten und zweiten Schuljahr drastisch. Auch das zweite und dritte Schuljahr bleiben kritisch: Das subjektiv erlebte Selbstkonzept nimmt im Durchschnitt ab; die Versagensängste verstärken sich (vgl. Franz E. Weinert und Andreas Helmke). • Das Fähigkeitsselbstkonzept hat einen schwachen Einfluss auf die Schulleistung. Es führt nicht direkt zu einer günstigeren Leistung, sondern erst mit Hilfe dazwischenliegender Mechanismen. Die Erhellung dieser Mechanismen ist eine zentrale Aufgabe der Leistungserziehung (vgl. Andreas Helmke). • Am günstigstens ist, wenn sich Kinder mäßig überschätzen. Die optimistische Selbsteinschätzung wirkt wie ein Zusatzmotor (vgl. Andreas Helmke). • Kinder/Jugendliche brauchen, auch in der Schule, ‚subjektive Leistungsnischen‘, in denen die Schülerinnen und Schüler selbstbestimmt lernen und leisten können (vgl. Andreas Helmke).
13 Die Grundlagenforschung zur kindlichen Leistungsentwicklung ist noch ausbaufähig. Die zitierten Einsichten sind im Wesentlichen den umfassenden Studien von Franz E. Weinert und Andreas Helmke entnommen.
188
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.4.2 Leistungshandeln beachten Die Beachtung des Leistungshandelns von Schüler/innen im Unterricht geht der Leistungsbewertung voraus und hat Vorrang, weil sie in der unterrichtlichen Kommunikation, im Leistungsdialog, verortet ist. Hans Rauschenberger versteht darunter „eine Haltung der Lehrenden, die den Prozess nach der Kenntnisvermittlung begleitet. Sie beschränkt sich nicht auf die didaktisch zubereitete Information, sondern verfolgt den Aneignungsprozess weiter – und zwar gerade auch im Hinblick auf die Leistungen, die sich erst in der Anwendung des Gelernten zeigen können, also erst dann, wenn der primäre Lernprozess zu Ende ist“ (Rauschenberger 2002, S. 364). Sie ist Grundlage dafür, dass Schüler/innen verständnisintensives und freigebendes Lernen in selbstgewollte Anstrengung und Leistungsneugier hinein entwickeln. Mündliche Leistungen bestätigen Die spontanen Leistungsbestätigungen gehen als informelle Bewertungsakte der Erfahrung mit Benotung voraus. Sie sind es, die im Schulalltag das schulische Leisten wesentlich begleiten, unterstützen, würdigen und bewerten.14 Sie beziehen sich auf die individuellen ‚Leistungshervorbringungen‘, erfassen deren ‚Leistungsgestalt‘ und gleichen das Ergebnis mit den Erwartungen und Normen ab: „Jedes Kind, das sich Mühe gibt, hat Anspruch darauf, dass gewürdigt wird, was es sagt, spielt oder schreibt. Nicht erst die „Notenfindung“, sondern schon für die „Rückmeldung“ an die Lernenden brauchen Lehrer Kriterien: Wie sollten sie sonst Schülern eine (mündliche oder schriftliche) Antwort geben?“ (Rauschenberger 2002, S. 231).
Nach einer frühen Untersuchung zur Prozessqualität von Unterrichtsgesprächen haben die mündlichen Leistungsbestätigungen mit 23,1% bereits einen hohen quantitativen Anteil (vgl. Peltzer-Karpf/Zangl 1998, S. 83), was ihnen gegenüber den Betroffenen ein besonderes Gewicht verleiht. Betrachtet man jedoch die Lehreräußerungen kritisch, dann sind sie meist pauschalierend und sprachlich stereotyp formuliert. Wer seine eigene Lehrersprache schon einmal aufgezeichnet hat, dem werden nicht nur seine bevorzugten Bewertungsmuster (z. B. „Super!“) auffallen, sondern auch deren inflationärer Einsatz. Pädagogisch wertvoller sind jene Formulierungen, die den Schüler/innen zeigen, dass es ihrer Lehrerin nicht egal ist, was aus den Lerninhalten wird, an denen sie miteinander arbeiten.
14 Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass so mancher Leistungskommentar für die Betrofenen menschlich zutiefst verletztend und vernichtend sein kann, „gleich einem Gift, dass du einsaugst“. Kurt Singer berichtet davon in seinem Bestseller: „Die Würde des Schülers ist antastbar. Vom Alltag in unseren Schulen – und wie wir ihn verändern können. Reinbek bei Hamburg 1998.
4.4 Rückmeldekultur
189
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
„Wie gut, dass du so gründlich nachgedacht hast!“ – „Deine Antwort passt genau zu meiner Frage!“ – „Da hast du wirklich etwas ganz Wichtiges erkannt!“ – „Überdenke deine Antwort noch einmal.“ – „Du kommst jetzt gut voran!“ – „Ich hätte eigentlich gedacht, dass du mehr hinkriegst!“ – „Ich habe den Eindruck, du hast vorzeitig aufgegeben. Versuch’s doch nochmal!“ … Erst über komplexere sprachliche Äußerungen können die Schüler/innen erfahren, wie ihre Leistung bei der Lehrperson ankommt, wie sie sie einschätzt, was sie zu ihrem Leistungskommentar veranlasst. Komplexe sprachliche Praktiken entstehen erst dann, wenn Begründungen und Erklärungen herausgefordert werden. „Denn beide Praktiken erfordern … größere diskursive Zusammenhänge und Kausalitäten herzustellen; das geht nicht mit Einwortsätzen oder einzelnen Begriffsfragmenten“ (de Boer 2017, S. 4). Qualifizierte Leistungskommentare, die sich der Bildungssprache bedienen, helfen den Kindern, die Leistungssituation differenzierter wahrzunehmen, zu verstehen, sich mit anderen über die Leistungshervorbringung und -einschätzung auszutauschen und zu verständigen (vgl. Kap. 2). Leistungsdialoge Im handlungsorientierten Arbeiten ist die Aufmerksamkeit vorrangig auf den Prozess gerichtet. Doch das dabei entstehende Produkt darf nicht unbeachtet bleiben: „Eine leider nicht selten angewandte Strategie ist die des Weglobens: die Lehrkraft lobt zwar (hoffentlich) die Lernenden für ihren Einsatz und Ideenreichtum und lässt Produkte vielleicht auch aufhängen, äußert sich aber inhaltlich wenig dazu und betreibt damit unbewusst die Entwertung der Schülerleistungen, die hier sichtbar und doch nicht gesehen werden. Sie zu sehen, setzt Kriterien voraus“ (Abraham/Knopf 2013, S. 230).
Blicken Lehrperson und Schüler/in gemeinsam auf die entstandene Arbeit, dann kann ein Leistungsdialog entstehen, in dem sich die Schülerin/der Schüler ernst genommen fühlt. Ein solcher gibt Gelegenheit, sich selbst zu explizieren, was eine wirksame Hilfe auf dem Weg zunehmender Leistungsbewusstheit ist. Der Erwachsene kann zum Beispiel Details aus der Arbeit hervorheben, sich diese erklären lassen, seine Überraschtheit über besondere Ideen ausdrücken oder auch seine ‚eingeschränkte‘ Sichtweise verändern. Der Schüler, der im Schaffensprozess sein Werk intuitiv gestaltet hat, kann es daraufhin mit mehr Aufmerksamkeit ansehen und gar Freude an weiterer differenzierter Betrachtung haben: „Das Kind wird also nicht animiert, von seiner eigenen Arbeit wegzusehen, um zuvörderst auf das Urteil seiner Lehrerin zu hören, sondern umgekehrt: Gemeinsam mit der
190
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Lehrerin wendet es sich erneut seiner Arbeit zu, die es dabei differenzierter und bewusster zu erkennen lernt“ (Garlichs 2000, S. 19).
Es sollte zumindest in der Grundschule deshalb gute Gepflogenheit sein, dass wenigstens einmal am Schultag jede Schülerin/jeder Schüler mit seiner Lehrerin auf eine vollbrachte Leistung blickt, sich mit ihr über das Erreichte austauscht und seinen Lernfortschritt oder auch sich seine Schwierigkeiten bewusst macht. Wenn Rückmeldungen selbstständiger, selbstbewusster und selbstkritischer machen sollen, dann müssen sie verstehen dürfen, was ihre Leistung zu einer guten macht. Dann sollte • eine Aufgabenstellung mit transparenten Kriterien ausgestattet sein, • man bei Unsicherheiten fragen können, • die Korrektur als Lernhilfe gestaltet sein, • ein Fehler als Fenster in die kindliche Lern- und Leistungsentwicklung genutzt werden, • der Blick vor allem auf das Gelungene gerichtet werden. Exkurs: Hefteinträge – ein Spiegel des Leistungshandelns In manchen Bundesländern wird auf Schrift und Gestaltung von Hefteinträgen, Hausaufgaben und Plakaten für Präsentationen besonderer Wert gelegt (vgl. Abb. 4.6). „In den Klassen 3 und 4 erhalten die Schülerinnen und Schüler in der Halbjahresinformation eine schriftliche Information im Jahreszeugnis sowie im Abschlusszeugnis eine Note nach § 5 der Notenbildungsverordnung für Schrift und Gestaltung. Die Note ist nicht für die Versetzung maßgebend“ (vgl. § 5, Art. 2 der Verordnung des Ministeriums für Unterricht und Kultus Baden-Württemberg über die Leistungsbeurteilung für die Grundschule und sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren). Die Befürchtung, dass die Digitalisierung das Schreiben mit der Hand gänzlich verdrängen könnte, hat zugleich eine Art Gegenbewegung geweckt. Nachdem es die letzten Jahren still um das Handschreiben geworden ist, wird es gegenwärtig als eine der wichtigsten Kulturtechniken und als grundlegender Teil der Schreibkompetenz wiederentdeckt (vgl. Speck-Hamdan 2018). 4.4.3 Leistungsbeobachtung und -dokumentation „Die aktuelle Leistungsdiskussion ist durch widersprüchliche Tendenzen gekennzeichnet: Während einerseits standardisierte Tests, unter dem Anspruch von Vergleichbarkeit stehende und daher besonders formalisierte Wissensabfragen, zunehmend an Bedeutung gewinnen, entsteht andererseits gegenüber diesen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.4 Rückmeldekultur
Abbildung 4.6: Schülerarbeit 4. Schuljahr: „Adjektive stehen oft zwischen Artikel und Nomen.“ (In der Übung werden die Symbole von M. Montessori verwendet).
191
192
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Formen […] zunehmend Skepsis. Es wird nach Leistungsnachweisen gesucht, die komplexere Arbeitsstrukturen ermöglichen, differenzierte Reflexionsvorgänge eröffnen und umfassende Methodenkompetenzen fördern“ (Höhmann/Stockey 2002, S. 117).
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Lerntagebücher Lerntagebücher eignen sich, prozesshafte Entwicklungen von Lernleistungen gegenstands- und erlebnisnah zu dokumentieren. Dabei wird der Blick auf die Kontexte gerichtet, innerhalb derer die Leistungszuwächse zustandekommen. Formen von Lerntagebüchern sind (vgl. Braun 2002, S. 80ff.): Das (meist tägliche) Lerntagebuch: In der Regel gestalten die Schüler/innen am Unterrichtsende einen Eintrag in einer offenen Textform (als Bild/Text/BildText-Collage usw.), abhängig von der erreichten Schreib- und Lesekompetenz. Dem Eintrag kann eine meditative Phase vorausgehen, in der die Lehrerin nochmals den Tag Revue passieren lässt, etwaige Stimmungen thematisiert oder Besonderheiten hervorhebt. In manchen Klassen wird diese ruhige Rückschau auf den Tag mit meditativer Musik unterlegt. Der Eintrag am Tagesabschluss lässt zu, dass bereits während des Schulvormittags Eintragungen begonnen und dann
Abbildung 4.7: Ein Schulvormittag im Rückblick im Lerntagebuch
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.4 Rückmeldekultur
193
am Unterrichtsende zum Abschlussgebracht werden können. Einträge, die subjektiv wichtige Momente aus dem Unterrichtsleben festhalten, beschränken sich meist nicht auf den chronologischen Ablauf (vgl. Abb. 4.7). Sie berichten auch darüber, was der Unterricht an Emotionen auslöst, wie wichtig soziales Erleben ist, wie „eigensinnig“ die Absichten der Lehrer/innen gebrochen werden können. Die Abbildung 4.7 ist die analoge Übersetzung eines digitalen Tagebucheintrags (Smartphone) einer Schülerin der sechsten Klasse eines Gymnasiums, die diese Praxis aus ihrer Grundschulzeit kennt und für sich weiterführt. Im Tagebucheintrag (vgl. Abb. 4.8) tritt ein Schüler mit seiner Lehrerin gleichsam in einen Dialog, um ihr seine belastete Situation zu schildern. Er hat offensichtlich sein früheres, vollgeschriebenes Tagebuch bei ihr deponiert, und erwartet ihre Reaktion. Auch erklärt er, dass er aus Sorge vor Versagen und öffentlicher Blamage sich nicht am mündlichen Matheunterricht oder am Vorlesen beteiligt. Auf eine schriftliche Arbeit im Fach Deutsch kann er jedoch positiv verweisen, bevor er sich in die Ferien verabschiedet. Die Abbildungen 4.9, 4.10 und 4.11 zeigen, wie individuell, persönlich und zugleich sachorientiert Lerntagebucheinträge sein können.
Abbildung 4.8: Erleben von Leistungsschwäche dem Lerntagebuch anvertraut
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
194 4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Abbildung 4.9: Große Zahlen können faszinieren
Abbildung 4.11: So kann ich Verben beweisen Abbildung 4.10: Eine Fortsetzungsgeschichte entsteht
4.4 Rückmeldekultur
195
Arbeitsaufgaben
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1. Überdenken Sie die folgenden Gestaltungsvorschläge für das Lerntagebuch. 2. Haben Sie Lust, ein ‚Lehrertagebuch‘ zu beginnen? Versuchen Sie es eine Schulwoche lang, egal ob analog oder digital. Tauschen Sie sich über Ihre Erfahrungen aus. Vorschläge für die Gestaltung eines Lerntagebuchs 1. Jeder Eintrag beginnt auf der nächsten freien Seite. 2. Jeder Eintrag braucht ein Datum. 3. Wenn du an einem Auftrag arbeitest, dann klebe ihn ein, bevor du mit dem Arbeiten beginnst. Du kannst ihn auch abschreiben. 4. Du kannst dir auch selbst ein Thema überlegen, worüber du berichten willst. Finde auch eine Überschrift. 5. Gib dir Mühe beim Schreiben, Malen, Einkleben und Gestalten. 6. Dein Tagebuch zeigt deine Lernspuren. Sie erzählen Geschichten von dir, deiner Arbeit, deinen Fragen und Gefühlen. 7. Nimm dir Zeit zum Lesen, Erinnern und Freuen. Portfolio Ein Portfolio kann eine sinnvolle Sammlung von Lern- und Arbeitsdokumenten sein, die aus einem dynamisch-kommunikativen Prozess hervorgeht. Die darin enthaltenen Arbeiten beschreiben und veranschaulichen den persönlich-biographischen Lernweg (vgl. Müller 2005). Nicht nur für die Grundschule scheinen sich zwei gängige Formen zu bewähren: Ein Arbeitsportfolio ist ein Sammlungsort für alle relevanten Dokumente (Artefakte), die im Zusammenhang mit einem Thema/Vorhaben/Projekt entstehen. Wie in einem Container oder einer Sammelmappe werden sie – zunächst noch wenig kritisch gesichtet und ungefiltert – darin aufbewahrt. In dieser „statu nascendi“ ist das Portfolio noch ein recht ungeschiedenes Nebeneinander von Wichtigem und weniger Wichtigem, von Fertigem und noch nicht Fertigem, von lediglich Geplantem und bereits Realisiertem, von Fähigkeitsnachweisen und frei assoziierten, für subjektiv wichtig erachteten Dokumenten, also ein Arbeitsportfolio ist noch ein „work in progress“. Ein Präsentationsfolio hat bereits einen vielschichtigen Optimierungsprozess durchlaufen: Der Schüler/die Schülerin gibt seinen besten Arbeiten ein Bleiberecht, eben jenen, die er/sie für sich aufbewahren und den anderen zeigen möchte. Er/sie trennt sich von den weniger bedeutsamen oder missglückten Arbeiten, vollendet die noch nicht fertigen, steigert deren ästhetische Erscheinung (akurates Aufkleben von Texten, Bildern, Zeichnungen auf Tonpapier, Ausbringen von Überschriften, Einkleben von Fotos u.v.m.), setzt individuelle Akzente. Nicht nur
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
196
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
die Grundschüler/innen bedürfen in diesem Vollendungsschritt der Assistenz (Lehrperson bzw. Helfer), damit sie inhaltliche Struktur, redaktionelle Verbesserungen und technische Organisation bewältigen können. Ein Präsentationsfolio kann sehr unterschiedliche Dokumente bzw. Leistungsformen beinhalten: • konkrete Werke, digitale Aufzeichnungen von praktischen Arbeiten u.Ä., • Sachzeichnungen, Skizzen, Fotos, diverses Bildmaterial, • schriftliche Aufzeichnungen, Protokolle von Arbeits- und Entwicklungsverläufen u.Ä., • unterschiedliche Textarten (Sachtexte, literarische Formen (Gedichte), Sagen u.Ä., • Nachweis besonderer Leistungsdokumente (vgl. 4.2.1): „brevets“ (Fundamentum und Additum) • Prüfaufgaben: Quizz, Rätsel usw. mit Beurteilung. Ein Portfolio verbindet mehrere Ziele: • Die Lernenden dokumentieren Lernergebnisse. Das Ziel ist jedoch nicht, einer Sammelleidenschaft zu frönen, um möglichst viel Material wie Trophäen zu einem Thema zusammenzutragen, sondern das Lernen: Die Dokumente sollen „Ausgangs- und Knotenpunkte“ (Müller 2005, S. 12) für weitere Lernaktivitäten sein. • Die Leistungsdokumente können dazu dienen, Erkenntnisse zu generieren und damit den Dokumenten einen Sinn zu geben. Die konkreten Leistungsvorlagen lassen sich in reflektierende Leistungsdialoge (mit Lehrperson oder Mitschüler/innen) einholen: Sie können forschende Neugier wecken nach Fragen zum Inhalt, zur Vorgehensweise, zu herstellerischen Kniffen und Ideen, was einer differenzierenden Wertschätzung gleichkommt. Deshalb wird oft der Portfoliomappe ein Kriterienblatt (vgl. Abb. 4.12) mit einer Ratingskala beigefügt, das der Selbstbewertung und Fremdbewertung durch die Lehrkraft und einen/r Mitschüler/in dienen und kriterienbezogene Leistungsgespräche erleichtern kann (vgl. Schönknecht u.a. 2006, S. 31). • „Lernportfolios bergen ein erhebliches Potenzial an emotionaler Energie. Denn jedes Dokument erzählt im Prinzip eine kleine Erfolgsgeschichte. Damit verbinden sich Erlebnisse auf der Schüler- wie Lehrerseite, Erfolgserlebnisse eben. […] Das bewusste Nachdenken über das, was gelungen ist, stärkt den Glauben an die eigenen Fähigkeiten“ (Müller 2005, S. 13). Dafür steht im Fachdiskurs der Begriff der Selbstwirksamkeit („self efficacy“), die Überzeugung, eine Herausforderung aus eigener Kraft, aus eigener Kompetenz bewältgt zu haben. Hier liegen wesentlich emotionale Zugänge zur Leistung und zum Leisten.
4.4 Rückmeldekultur So habe ich in meinem Portfolio gearbeitet:
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1.
So habe ich meinen Umschlag gestaltet:
Das denke ich:
sehr schön
schön
es geht so
Das denkt ............................. Das denkt Frau ………………….
es kann noch besser sein
2.
So ist das Inhaltsverzeichnis geworden:
Das denke ich: Das denkt ............................. Das denkt Frau …………………. 3.
fast alles aufgeschrieben
manches fehlt
vieles fehlt
alles ist durcheinander
So habe ich die Blätter in meiner Mappe geordnet:
Das denke ich: Das denkt ............................. Das denkt Frau …………………. 4.
alles sehr genau aufgeschrieben
genau nach dem Inhaltsverzeichnis
es geht so
manches ist in der Reihenfolge
nicht alle Texte sorgfältig geschrieben und kaum illustriert
nicht ordentlich geschrieben und gar nicht illustriert
So habe ich die Seiten gestaltet:
Das denke ich:
sorgfältig die Texte geschrieben und sehr schön illustriert
Das denkt ............................. Das denkt Frau ………………….
fast alle Texte sorgfältig geschrieben und schön illustriert
5.
Diese Seiten sind in meinem Portfolio enthalten:
Das denke ich: Das denkt ............................. Das denkt Frau …………………. 6.
die Seiten sich vollzählig, weitere sind vorhanden
alle Seiten sind vorhanden
manche Seiten fehlen
erst wenige Seiten sind vorhanden
mir hat es manchmal gefallen
es hat mir nicht gefallen
So hat mir die Arbeit mit dem Portfolio gefallen:
Das denke ich:
ich habe sehr viel Freude gehabt
es hat mir gefallen
7. Meine schönsten Seiten sind:
Abbildung 4.12: Teambezogene Beurteilung einer Portfoliomappe
197
198
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Arbeitsaufgaben
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
1. Über welche Erfahrungen mit Portfolio-Arbeit aus Ihrer Schul- oder Studienzeit verfügen Sie? 2. Bestätigen bzw. modifizieren Sie die dargelegte Zielsetzung? Präsentation Präsentationen gehören gegenwärtig in jeder Schulstufe zu den als modern und positiv konnotierten Leistungsformen. Von ihnen wird im Wesentlichen eine „subjektbezogene Kompensation“ eines Unterrichts erwartet, der das Lernen auf die Aneignung von Wissen und das Ablegen von Kontrolle beschränkt. Jedoch vor einem Publikum einen Vortrag halten, dessen Aufmerksamkeit für ein Thema gewinnen und über eine Zeitspanne fesseln, ihm einen Sachverhalt verständlich darzulegen und seine Ausführungen gestisch, mimisch und prosodisch angemessen zu gestalten – dieses rhetorische Vermögen soll bereits in den ersten Schuljahren grundgelegt werden.15 Im Gegensatz zu den schriftlichen Arbeiten, die man nachlesen, korrigieren, sammeln, und vorzeigen kann, werden die mündlichen Beiträge oft unterschätzt. Die Themenfindung wird dem Schüler oder der Schülerin zugemutet, auch wenn dabei Hilfestellung gewährt wird: • Innerhalb eines Themenrahmens kann ein Thema gewählt oder präzisiert werden, zum Beispiel: Mein Haustier – Das ist mein Lieblingssport! – Ein Ferienerlebnis, das ich nicht vergesse! – Mein Lieblingsbuch. • Die Schüler/innen überlegen sich ein individuelles Thema, ohne einen Zusammenhang mit anderen, zum Beispiel: Frankreich, Italien, Dinosaurier. • Ein Unterrichtsthema wird eigenständig so weitergeführt, dass es zu einem individuellen, persönlich bedeutsamen Thema wird, zum Beispiel: Diese Sehenswürdigkeit finde ich in meinem Ort besonders interessant. – Bei uns im Ort lebt eine berühmte Sportlerin. – Das ist an meinem Wohnort die älteste Haustüre. Die geforderte Selbstständigkeit im Arbeiten ist dennoch auf Unterstützung angewiesen bzw. sie muss erst erworben und eingeübt werden können. So kann zum Beispiel ein Grundgerüst aus Leitfragen das inhaltliche „Umkreisen“ einer Thematik fördern und zugleich eine Gliederung der Präsentation bewirken. So können jüngere bzw. leistungsschwächere Schüler/innen in ihrer Arbeit unterstützt werden. Die Schüler/innen bekommen die Fragen auf einem Blatt und schneiden diese aus. Sie schreiben die Antworten auf Zettel. Diese werden korrigiert und ggfs. nochmals möglichst „fehlerarm und präsentabel“ abgeschrieben. 15 Die Präsentation wird in allen Bildungsplänen für die unterschiedlichen Schulstufen erwähnt und als eine ergänzende Leistungsform vorgeschlagen.
4.4 Rückmeldekultur
199
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Zur gestalterischen Arbeit kann gehören: Bildmaterial sammeln, Zeichnungen/Skizzen fertigen, ein Gedicht oder einen Text suchen, damit das Plakat an inhaltlichem Reichtum gewinnt. Dafür werden die Klassen- und Schulbücherei genutzt, mit Unterstützung auch das Internet. Die Erarbeitung findet schwerpunktmäßig im Raum der Schule statt; lediglich eine eigenständige, überschaubare Ergänzung und Fertigstellung kann zu Hause erfolgen. Dieser Künstler/diese Künstlerin ist klasse • Zu welcher Kunstsparte gehört sie/er? • Welche großartige Leistung macht sie /ihn bekannt? • Was weiß ich über ihr/sein Leben? • Woher bekomme ich Informationen? • Was kann ich von ihm/ihr zeigen? • Was schätze ich an ihr/ihm besonders? Wenn eine Präsentation von der Themenfindung bis zur Fertigstellung schwerpunktmäßig ins Elternhaus verlagert bzw. delegiert wird, nimmt die Schule einen Verstoß gegen das Gebot der Chancengerechtigkeit billigend in Kauf, auch wenn dies seitens der Schule gerne mit Mangel an Lernzeit, an Material und an Möglichkeiten der Hilfestellung begründet wird. Dabei wird jedoch verkannt, dass es in jeder Schule/Klasse Schüler/innen gibt, die ganz auf sich bzw. auf die Schule verwiesen sind. Sie haben zu Hause keine Hilfestellung für die Materialrecherche, für die Strukturierung des Materials, für die Erstellung eines Posters oder gar einer Powerpointpräsentation. Wenn dann diese ungünstigen häuslichen Voraussetzungen auch noch eine schlechtere Bewertung zur Folge haben, dann erfahren sie eine doppelte Benachteiligung (vgl. Kap. 5). Gerade in Schulen mit Ganztagsbetreuung sollte eine „kulturelle“ Unterstützung der Schüler/innen zur Selbstverständlichkeit werden, wenn Präsentationen nicht die de facto gegebene Bildungsbenachteiligung noch weiter aufgipfeln wollen. Lern- und Entwicklungsdokumentation Eine Lern- und Entwicklungsdokumentation bezieht sich auf die einzelne Schülerin/den einzelnen Schüler. Sie dokumentiert unterrichtsrelevante, kontextbezogene Dispositionen, Fähigkeiten und Lernfortschritte. Auf dekontextualisierte und generalisierende Aussagen, die lediglich eine pauschale Charakterisierung abgeben, sollte dabei verzichtet werden. Zentrale Dokumentationsbereiche sind: • das Arbeits- und Lernverhalten (z.B. motivationale Aspekte, Lernstrategien, Aufmerksamkeitsspannen, Bereitschaft zur Selbstbeanspruchung),
200
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
• das Sozialverhalten (z.B. Verhaltensmöglichkeiten in Situationen der Kooperation, der Kommunikation, des Umgangs mit Regeln und Regelfindung), • die schulische Lernentwicklung als Dimension der Persönlichkeitsentwicklung; die Aussagen stehen in dem Spannungsfeld von curricularen Erwartungen und individueller Ausgangslage, von schulischen Lernangeboten und individuell ergriffenen Lernchancen. Die Lern- und Entwicklungsdokumentation stützt sich im Wesentlichen auf Dokumente der bisher dargestellten Leistungsformen, ferner auf diagnostische Instrumente (vgl. z.B. „Das leere Blatt“ für die Einschätzung der Ausgangslage im Schriftspracherwerb) und auf Beobachtungen in unterrichtlichen Lern- und Leistungssituationen. Die Sprachdidaktiker Ulf Abraham und Julia Knopf weisen insbesondere für den Deutschunterricht auf die Gefahr hin, dass in Gesprächen mit Schüler/innen eher das in der primären Sozialisation Angelegte bewertet wird als die tatsächlichen Fortschritte im Unterricht: „Das sprachlich gewandte, fast dialektfreie Mittelschichtkind, dessen Interaktionsverhalten auf Dialog und Verhandlung gepolt ist, wird zunächst fast zwangsläufig bessere mündliche Leistungen erzielen als das aus einem bildungsfernen Elternhaus stammende Kind, das die Hochsprache kaum beherrscht und womöglich auch nicht gewohnt ist, mit Erwachsenen zu diskutieren […]“ (Abraham/Knopf 2013, S. 231). Diese Feststellung unterstreicht einmal mehr die Notwendigkeit klarer Kriterien, die die Schülerbeobachtung leiten und die subjektiven Wahrnehmungsfehler der Beobachtenden minimieren helfen, ohne „empathiefrei“ zu werden.Von Abraham/Knopf (2013, S. 231) werden eine Reihe von Beobachtungsrichtungen empfohlen. Beobachtungskriterien Mündliche Kommunikation Sich anderen zuwenden und zuhören • Zeigt die Schülerin/der Schüler mimisch und körpersprachlich Interesse an anderen? • Wie lange kann sie/er anderen zuhören? • Kann sie/er Gehörtes verstehen und verarbeiten? Sich in Gesprächen äußern • Äußert sich die Schülerin/der Schüler im Gespräch, wenn sie/er das für notwendig hält? • Ist sie/er dabei akustisch und inhaltlich verständlich? • Nimmt sie/er andere wahr und lässt sie/er sich auf deren Äußerungen ein?
4.4 Rückmeldekultur
201
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
• Versucht sie/er beim Thema zu bleiben? • Begründet sie/er eine vorgebrachte Meinung? Sich an Gesprächregeln halten und über Gespräche reflektieren • Stellt sie/er sich auf die Situation ein und trägt Gesprächsrituale aktiv mit? • Hält sie/er sich an basale Regeln (z.B. „nur einer spricht“), ist sie/er gar imstande, solche Regeln mitzuentwicken? • Beteiligt sie/er sich an Phasen der Metakommunikation? • Akzeptiert sie/er Meinungen anderer ? Lässt er/sie sich auf eine stimmige Argumentation ein? • Kann sie/er eine Moderationsaufgabe (teil-)erfüllen? (nach Abraham/Knopf 2013, S. 231f.) Beobachtungen im Zusammenhang mit der Lern- und Entwicklungsdokumentation sind prozessorientiert zu gestalten: Es bedarf mehrerer, über das Schuljahr verteilte Beobachtungssituationen, damit „Entwicklung“ überhaupt wahrgenommen werden kann. 4.4.4 Leistungserhebung durch Prüfaufgaben Unterrichten ist stets mit der Ungewissheit verbunden, ob die Anstrengungen der Lehrer/innen auch wirklich die Schüler/innen erreicht haben, ob sie einen Sachverhalt verstanden und eine tragfähige Lernbasis für das Weiterlernen gewonnen haben. Selbstprüfaufgaben Selbstprüfaufgaben (vgl. Abb. 4.13 a+b) können Leistungsneugier sowohl auf Schüler- wie auf Lehrerseite herausfordern. Das Aufgabenformat überführt die im Unterricht erarbeiteten Lerninhalte in kongeniale Aufgabenstellungen, d.h.: • Die Aufgaben orientieren ihre Anforderungen an den erarbeiteten Lerninhalten. • Sie benutzen eine geklärte Begrifflichkeit und lassen die erworbenen Lernstrategien und Arbeitsweisen anwenden. • Sie können Leistungsneugier wecken, erworbenes Wissen und Können zu erproben und sich in einen neuen Anwendungszusammenhang zu wagen. • Sie zeigen den individuellen Lernfortschritt wie den individuellen Förderbedarf (vgl. sachliche bzw. kriteriumsorientierte und individuelle Bezugsnorm). • Der Zeitpunkt der Bearbeitung kann dann angesetzt werden, wenn Schüler/ innen hinreichend Sicherheit für eine Selbstprüfung erworben haben.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
202 4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Abbildung 4.13a: Selbstprüfaufgabe (Teil 1) aus dem Englischunterricht (7. Schuljahr)
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.4 Rückmeldekultur
Abbildung 4.13b: Selbstprüfaufgabe (Teil 2) aus dem Englischunterricht (7. Schuljahr)
203
204
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Kollektive Leistungserhebungen in der Klasse In Leistungsvergleichen innerhalb einer Klasse ist neben der sachlichen Bezugsnorm auch die soziale Bezugsnorm wirksam, d.h. es werden die Leistungen von Schüler/innen, die unter den gleichen schulischen Bedingungen gelernt haben, miteinander verglichen. Kollektive Leistungserhebungen (mit Benotung) gehen davon aus, dass sich die Schüler/innen einer Klasse das gleiche Schulbuch, das gleiche Übungsheft, die gleichen Lernmaterialien, die gleiche Lehrkraft, das gleiche soziale und institutionelle Setting teilen. Dies schließt selbstverständlich ein, dass manche von ihnen in der Lernsituation zusätzliche Lehrerhilfe, zusätzliche Lernzeit und zusätzliche Medien im Sinne innerer Differenzierung und individualisierenden Maßnahmen erhalten haben. In der Prüfsituation aber sind die Bedingungen weitgehend normiert. Bearbeitungszeit, Aufgaben, Sozialform sowie Hilfsmittel (z.B. Nachschlagewerke) sind verbindlich festgelegt. Die Prüfarbeiten werden nach der Korrektur in der Regel normierend, d.h. unter Verwendung der Sach- und Sozialnorm) beurteilt. Exkurs: Kennzeichen einer fairen Leistungserhebung In Prüfsituationen besteht die Gefahr der „pädagogischen Schrumpfung“, wenn folgende Selbstverständlichkeiten aus dem Blick geraten: • Die Schüler/innen können in einer ruhigen Umgebung konzentriert arbeiten. Einzelne, besonders ablenkbare Schüler/nnen können für sie ‚günstige‘ Arbeitsplätze nutzen. • Der Zeitdruck wird nicht zusätzlich erhöht (z.B. durch Nummerieren und Notieren des Abgabezeitpunkts auf der Arbeit, ständiges Verweisen auf Zeitknappheit und Drängen auf beschleunigtes Arbeitstempo. • Schüler/innen, die schnell aufgeben und Oberflächlichkeiten in Kauf nehmen, erfahren einen mutmachenden Zuspruch, der ihre Selbstbeanspruchung stützt. • Soll ein Leistungstest wirklich das Können (und nicht das Nichtkönnen!) prüfen, dann kann zu einer ermutigenden Leistungspraxis gehören, dass es zum Beispiel mehrere Zeitpunkte gibt, an denen eine Probearbeit geschrieben werden kann. Im Gespräch mit einzelnen Schüler/innen können Termine abgesprochen werden, wann sie sich sicher fühlen, eine Arbeit in einem gesetzten Zeitraum zu schreiben. • Aufgrund der Unterschiede in den Lern- und Leistungsbedingungen ist eine ‚Parallelschaltung‘ von Probearbeiten innerhalb einer Jahrgangsstufe, also in mehreren Parallelklassen gleichzeitig, fragwürdig und auch institutionell nicht gewollt. • Die Aufgabenformate beziehen sich auf das Unterrichtscurriculum: Es kann nur das Wissen und Können abgeprüft werden, was vorher Gegenstand des schulischen Lernens war und worüber die Schüler/innen mit ziemlicher Si-
4.4 Rückmeldekultur
•
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
• •
•
205
cherheit verfügen. Dabei spielen die in der Unterrichtssprache verwendeten Arbeits- und Fachbegriffe eine wichtige Rolle. Die Aufgabengestaltung ist sachlich korrekt und eindeutig. Die Prüfaufgaben sind verständlich formuliert, klar strukturiert und ästhetisch ansprechend gestaltet. Die Aufgabenfolge ist im Schwierigkeitsgrad transparent und behutsam ansteigend. Schüler-Reinfall-Prüfaufgaben, die es auf Verwirrung der Schüler/innen anlegen, dem gesunden Sachverstand zuwiderlaufen und den didaktischen Standard negieren, gehört die Rote Karte. Der Aufgabenumfang muss der Bearbeitungszeit und dem Durchhaltevermögen der Schüler/innen entsprechen.
Für viele Schüler/innen entsteht damit eine prekäre Situation. Deshalb ist das didaktische und pädagogische Bemühen um eine faire Leistungserhebung eine entscheidende Gelingensbedingung.
Arbeitsaufgaben 1. Untersuchen Sie eine Leistungserhebung (www.utb-shop.de/9783825251130 oder eine selbstgewählte) hinsichtlich ihrer Anforderungsbereiche und der Auswertungsmodalitäten. 2. Welche Unterschiede stellen Sie zu der von Ihnen erlebten Leistungspraxis fest? Praktische Arbeiten Die Erfahrung des individuellen Leistungsspektrums wird reicher, wenn sich die Würdigung nicht auschließlich auf Leistungen beschränkt, die auf der abstraktsymbolischen Ebene liegen. Denn diese sind für Schüler/innen oft schwer fassbar, verschwinden als Konglomerat hinter der Ziffernnote und werden als sofortige Belohnung verrechnet. Leistungen können hingegen für andere „sichtbar“ werden, wenn ein geschaffenes Werk (z.B. eine selbst erfundene Maschine) oder eine praktische Tätigkeit (z.B. Nähen eines Kleidungsstücks) präsentiert werden, wenn sie ein Arbeitszeugnis einer übernommenen, verlässlich zu erfüllenden Verpflichtung (z.B. als Bücherfreundin oder als Pausenengel im Einsatz sein) bekommen, in Hilfsprojekten (z.B. Müllprofi, Energiedetektiv), in demokratischen Einrichtungen mitwirken (z.B. Klassensprecher, Schülervertretung, Streitschlichter) oder Leistungen aus Kunst, Musik und Sport ausstellen bzw. fototechnisch und filmisch über den Moment hinaus fest- und verfügbar halten.
206
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Leistungen „veröffentlichen“ Leistungen vor einer größeren Öffentlichkeit zu zeigen, stellt für Schüler/innen eine starke Motivation und zugleich eine neue Herausforderung an ihr Leistungsvermögen dar. Wird eine Leistung von der Klassengemeinschaft, den Eltern, einer Jahrgangsgruppe oder der ganzen Schulgemeinde wahrgenommen und anerkannt, kann neues Selbstbewusstsein wachsen. Leistungen öffentlich zu zeigen und anzuerkennen bedeutet auch eine Chance für das soziale Miteinander: Man fühlt sich mit seinem Können als wichtiges Mitglied der Gruppe bestätigt, selbstbewusst ihr zugehörig und übernimmt für deren gemeinsames Leben Mitverantwortung. Diese Erfahrung wird dann gestärkt, wenn die Schulkultur in verlässlicher Wiederkehr dafür Gelegenheiten schafft: zum Beispiel in der Monatsfeier mit Eltern/Familie, in der Versammlung der Jahrgangsstufen oder im gemeinsamen Wochenabschluss der Schule. Der Veröffentlichung von Leistungen erhält durch die Nutzung digitaler Medien (vgl. z.B. Moodle-Plattform, What’s-App-Gruppen) neue Möglichkeiten. Zugleich bewundern Schüler/innen aller Schulstufen, einschließlich von Grundschulklassen „follower“ bzw. „influencer“, deren Erfolg ebenfalls auf dem Prinzip der Leistungsveröffentlichung beruht. Ricky, 8 Jahre, 3. Schuljahr „Heute habe ich meine Traumgeschichte im ‚Klassentreffen‘ aller dritten Klassen vorgelesen. Ich habe aufgeschrieben, wie ich in einer Höhle war und wie ein Wahnsinniger gekämpft habe gegen ein wildes Ungeheuer. Das hatte ich in eine Falle aus Ästen und Zweigen gelockt und plumps, da war es weg und ich war erlöst! … Da haben alle laut und lang geklatscht. Jemand sagte, dass ich meinen Traum super spannend erzählt habe. Da war ich so froh und der ganze Tag war einfach nur noch schön.“
Arbeitsaufgaben 1. Welche Formen der Leistungsveröffentlichung kennen Sie aus Ihrer Schulzeit? 2. Welche neuen Möglichkeiten stehen heute den Schüler/innen zur Verfügung? Worin liegen die Vorteile bzw. die Nachteile?
4.4 Rückmeldekultur
207
4.4.5 Kompetenzbasierte Leistungsgespräche/Zeugnisformen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Zeugnisse gelten als komprimierte Fassung von Aussagen über die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Schüler/innen. Die jeweiligen Formen sind für die Schuljahre- und Schularten verbindlich und bundeslandspezfisch geregelt. Lern- und Entwicklungsgespräche Lern- und Entwicklungsgespräche ersetzen weitgehend nach dem ersten Schulhalbjahr in den ersten und dritten Klassen das Ziffernzeugnis. Inzwischen ist die Praxis verbreitet, dass die Schule in einem definierten Zeitraum Eltern und Kind jeweils zu einem Gespräch über die Schulleistungsentwicklung einlädt. Zur Vorbereitung wird meist seitens der Lehrerin bzw. des Lehrers eine Rating-Skala vorbereitet, in der er/sie den momentanen Leistungsstand entlang der inhaltlich ausdifferenzierten Kompetenzbereiche einträgt. In sprachlich etwas abgewandelter Form erhält auch jede Schülerin/jeder Schüler ein Fomular „Kompetenzprofil“, auf dem er/sie sich ebenfalls, meist vierstufig, einschätzen kann (vgl. Abb. 4.14a+b). Im Lern- und Entwicklungsgespräch, an dem die Eltern mit ihrem Kind teilnehmen, geht es dann darum, dass sich Schüler und Lehrperson (vgl. Abb. 4.15a+b) über ihre Einschätzung wechselseitig austauschen, Übereinstimmungen und Abweichungen feststellen und darüber ins Gespräch kommen.
Arbeitsaufgabe Vergleichen Sie die Leistungseinschätzung aus Schüler- und Lehrerperspektive. Von den Schüler/innen wird eine abstrakt generalisierende Leistungseinschätzung erwartet. Die Erfahrung zeigt, dass nur selten konkrete Leistungsvorlagen (vgl. Vierlinger 1999), auf die gemeinsam geblickt wird, eine Rolle spielen. Damit droht die Schülerperspektive aus dem Gespräch zugunsten der Erwachsenenperspektive zu verschwinden. Das Gespräch mündet stattdessen für die teilnehmenden Schüler/innen meist in eine Zielvereinbarung, in der sie per Unterschrift versichern, eine mit der Lehrkraft und den Eltern besprochene Vereinbarung einlösen zu wollen. Zweifelsohne verändern Leistungsgespräche mit Kind und Eltern die herkömmliche Zeugnispraxis. Die Lehrperson wird von Eltern und Kind in ihrer professionellen Rolle erlebt. Sie kann ihre differenzierte Wahrnehmung in einen Dialog einbringen und ihrerseits Gegenperspektiven ihrer sozialen Wahrnehmung erfahren, Veränderungen verstehen, Zweifel und Fragen klären. Ist dann die Zielvereinbarung Ergebnis eines freundlich-konstruktiven Gespräches und vor allem nah an den individuellen Verstehens- und Handlungsmöglichkeiten
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
208
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
des Kindes, kann sie den nächsten Entwicklungsschritt anbahnen und durch die Schule unterstützen. Schulberichte (vgl. Abb. 4.16a+4.16b) werden vorwiegend gegen Ende des ersten und zweiten Schuljahres verfasst. Sie enthalten Aussagen zum Arbeitsund Sozialverhalten und beschreiben die Leistungsentwicklung in den einzelnen Fächern aus der Perspektive des Kompetenzerwerbs. Strukturgebend sind dabei die Kompetenzbereiche und -beschreibungen in den Bildungsplänen. Ab dem zweiten Schuljahr bereits werden die Leistungen nicht nur inhaltlich kommentiert, sondern zugleich in einer Ziffernnote zusammengefasst (vgl. Abb. 4.17 a+b). Im dritten und vierten Schuljahr werden Ziffernzeugnisse zunehmend zur Regel. Eine besondere Funktion hat das Übertrittszeugnis (vgl. Abb. 18a+b), da es die Schullaufbahnempfehlung enthält. Einen gewissen Routinecharakter in der Abfassung von Zeugnissen spiegeln die Abbildungen (Abb. 4.19, und 4.20).16
Arbeitsaufgaben 1. Vergleichen Sie die Zeugnisse der verschiedenen Jahrgangsstufen. 2. Diskutieren Sie den Vorzüge und die Bedenken gegenüber der Entwicklung?
Exkurs: Besonderheit: Inklusion Eine Umorientierung unseres selektionsorientierten Schulwesens ist durch die verpflichtende Umsetzung der Behindertenrechtskonvention (2009) auf allen Ebenen herausgefordert. Inklusion meint die Selbstverständlichkeit, dass eine Vielfalt von Schüler/innen mit unterschiedlichen Fähigkeiten, Begabungen, Stärken, Schwächen und Beeinträchtigungen in einer Klasse/Schule zusammen lernt und miteinander lebt. Eine inklusive Pädagogik, von der Kindertagesstätte über die Schulen und Hochschulen bis hin zu Einrichtungen der Weiterbildung, soll spezielle Ressourcen bereitstellen und Realisierungsansätze entwickeln, um die Bedürfnisse aller Lernenden zu berücksichtigen und ihnen eine gemeinsame kulturelle Grundbildung zu ermöglichen (vgl. Kap. 6). Diese Anerkennung von Verschiedenheit, die einem ethischen Begriff von Gleichheit verpflichtet ist, stellt den Unterricht wie den Leistungsbereich vor die Frage: Wie kann es gelingen, gemeinsame Unterrichtsthemen so zu elementarisieren, dass alle Schüler/innen einen Zugang gewinnen, dass sie über Aufgabenstellungen an den Lerngegenstand heranreichen, dass (Forts. vgl. S. 219) 16 Inwieweit die Ergebnisse regionaler Vergleichs-/Orientierungsarbeiten berücksichtigt werden, ist unterschiedlich geregelt. An Gymnasien ist es bereits Praxis, dass die Schüler/innen in regelmäßigen Abständen einen Notenauszug bekommen, in welchem – ähnlich einem Kontoauszug der Bank – alle Fächer mit den erreichten mündlichen und schriftlichen Einzelnoten aufgeführt sind.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.4 Rückmeldekultur
Abbildung 4.14a: Selbsteinschätzungsbogen einer Erstklässlerin (Seite 1)
209
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
210 4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Abbildung 4.14b: Selbsteinschätzungsbogen einer Erstklässlerin (Seite 3)
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.4 Rückmeldekultur
Abbildung 4.15a: Vorbereitung des Lern- und Entwicklungsgesprächs durch die Lehrerin (Seite 1)
211
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
212 4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Abbildung 4.15b: Vorbereitung des Lern- und Entwicklungsgesprächs durch die Lehrerin (Seite 3) mit Zielvereinbarung
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.4 Rückmeldekultur
Abbildung 4.16a: Schulbericht 1. Schuljahr (Seite 1)
213
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
214 4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Abbildung 4.16b: Schulbericht 1. Schuljahr (Seite 2)
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.4 Rückmeldekultur
Abbildung 4.17a: Schulbericht 2. Schuljahr mit Ziffernnoten ergänzt (Seite 1)
215
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
216 4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Abbildung 4.17b: Schulbericht 2. Schuljahr mit Ziffernnoten ergänzt (Seite 2)
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.4 Rückmeldekultur
Abbildung 4.18a: Übertrittszeugnis mit Schullaufbahnempfehlung (Seite 1)
217
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
218 4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Abbildung 4.18b: Übertrittszeugnis mit Schullaufbahnempfehlung (Seite 2)
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.4 Rückmeldekultur
Abbildung 4.19: Jahreszeugnis 9. Klasse Realschule
219
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
220 4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Abbildung 4.20: Regelmäßiger ‚Kontoauszug‘ als Überblick über die Notenentwicklung (5. Klasse)
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.5 Leistung fördern
221
die angebotenen Arbeitsmodalitäten ihnen entsprechen, dass sie gemeinsames Lernen als bereichernd erleben können? Auch dem Bedarf an zusätzlicher Lernzeit, Unterstützung, Zuwendung, Ermutigung, eigene Ideen zu wagen und einen individuellen Lernweg zu gehen, soll selbstverständlich entsprochen werden.17 Was die Leistungsbeachtung-, bewertung und -beurteilung betrifft, können die in diesem Kapitel (4.4) erläuterten Möglichkeiten Anregung sein, sie im Hinblick auf einen besonderen Schüler/eine besondere Schülerin zu durchdenken und zu überarbeiten.
4.5 Leistung fördern – In der Kindertagesstätte beginnen?! Das Verhältnis von Kindertagesstätte und Grundschule erweist sich traditionell als „sensible Druckstelle“ (Aicher-Jakob 2015, S. 13). Beide Institutionen haben im letzten Jahrhundert in ihrer jeweiligen Zugehörigkeit zum Sozial- bzw. Kultusministerium in den Bundesländern ihre je eigene Professions- und Lernkultur entwickelt. Das Ringen um eine Annäherung der beiden Institutionen wurde in der Debatte um die Bildungsqualität von Kindertagesstätte und Schule erneut virulent. Die Verständigung der Erzieher/innen und Grundschullehrer/innen über die Anschlussfähigkeit der kindlichen Bildungsprozesse erweist sich darin als ein kontrovers diskutiertes Thema. Die Erzieherinnen sehen sich der Forderung seitens der Grundschule und Eltern ausgesetzt, im Elementarbereich schuldienlich zu arbeiten. Sie beklagen, dass die Lehrer/innen unterrichtsnahe Fertigkeiten und Vorläuferfähigkeiten erwarten und die Vielschichtigkeit der Bildungsarbeit in der Kindertagesstätte nicht hinreichend wertschätzen würden. Dieses Dilemma wird im folgenden Exkurs aufgenommen. 4.5.1 Eine Spielszene im Kindergarten: „Die Tante zu Besuch“ Zwei etwa fünfjährige Mädchen, Merle und Anna, spielen Mutter und Kind im Gruppenraum, in der Reichweite von Spielküche und Essplatz. Sie haben sich in einem dynamisch verlaufenden Spiel darauf verständigt, dass die Lieblingstante von Anna, Tante Marejke, zu Besuch kommen wird.18
17 In diesem Zusammenhang kann lediglich darauf verwiesen werden, dass die Umsetzung der Herkulesaufgabe Inklusion noch am Anfang steht und sich erst allmählich und auf auf die einzelne Schule bezogen Praxen entwickeln (z.B. Einsatz von Inklusionshelfer/in, Kooperation mit Förderzentren, Mobile Sonderpädagogische Fachkräfte, Unterrichtsstunden mit doppelter Lehrerbesetzung). 18 Die Situation ähnelt in Thema, Struktur und Verlauf einer Aufzeichnung von Helga Andresen (vgl. Andresen, Helga 2005): Sprachentwicklung und Bildung in den Vorschuljahren. In: E&WSH 12, S. 10 und 11).
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
222
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Merle: „Die Tante ist da, Anna, die Tante von dir … sie ist da … da ist sie … mach doch mal auf!“ Anna: „Deng…deng…dennnngggg… „ (simuliert mit einer Handbewegung das Öffnen der Tür). „Marejke! Marejke??? Keiner da? … Ist da keiner? Ich ruf mal an … ach wo ist denn nur mein Telefon?“ … (nimmt eine Haarbürste vom Verkleidungstisch und hält sich die Haarbürste ans Ohr). Anna: „Hallo Marejke! Kommst du heute? … Ja? Kommst du gleich? Gut! … Tschüss!“ Merle: „Du hast ja mit der Haarbürste gesprochen.“ Anna: „Ja … Ich kann ja zaubern … ich soll einfach zaubern können … sie hat mir gesagt … gleich kommt sie… und einen Caffolatto will sie haben.“ Merle: „Okay… Caffolatto…Caffolatto … Caffolatto“ (Merle beginnt, halb singend halb murmelnd, den Tisch zu decken … zuerst mit einer Tasse, dann mit zwei weiteren… Außerdem holt sie ein DIN A4-Papier und beginnt zu schreiben: „M… m … m… wie bei mir.“ Sie malt ein großes M auf das Zeichenblatt und wandert nun das Wort Marejke,langsam vor sich hinsprechend, in seiner Lautstruktur ab. „Mar… Marr…ke….“ Merle kann die von ihr als dominant wahrgenommenen Laute mit Großbuchsuchstaben fixieren. Es entsteht in Skelettschreibung der Name (MAREK). Dann wird die Namenskarte unter Beobachtung von Anna mit Glitzerfarben bunt ausgestaltet. Anna: „Ja oke! … oke!“ Anna registriert zufrieden das Geschriebene. Sie faltet das Blatt zu einer Tischkarte, stellt Blumen dazu und sucht ihre eigene Tischkarte. (Es ist in dieser Kindertagesstätte üblich, dass die Kinder ihren Essensplatz über Tischkarten zuweisen. So übernimmt jeden Tag ein anderes Kind den begehrten Job, „Platzbestimmer“ beim Mittagessen zu sein.) Die Spielszene spiegelt, analytisch betrachtet, zentrale Komponenten der Sprachentwicklung.19 Prosodische Komponente: Die beiden Mädchen verfügen über die phonologischen Kategorien, d.h. die typischen Laute der deutschen Sprache und „sprengseln“ gekonnt einen italienisch klingenden Begriff („Caffolatto“) ein. In der Aussprache wird dem Wort ein italienischer Klang verpasst, der sie zu einem kleinen „Sprach-Singsang“ veranlasst, während der Tisch gedeckt und der Kaffee zubereitet wird. Unterstützt durch Gestik und Mimik erzeugen sie im Medium der 19 Die Erläuterungen orientieren sich an Hannelore Grimm/Weinert 20086.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.5 Leistung fördern
223
Sprache für den/die Zuhörer/in eine fiktive, grammatikalisch bereits treffend strukturiert dargestellte Situation. Die linguistische Komponente blitzt ebenfalls auf: Der Spracherwerbsprozess der beiden Mädchen scheint auf dem semantischen Gebiet bereits fortgeschritten. Der erwartete Gast „Marejke“ wünscht sich einen „Caffolatto“, wohl einen „Caffè latte“. Es ist ihnen klar: Dies ist der italienische Name für einen besonderen Kaffee. Der Prozess der Bedeutungsentwicklung vollzieht sich über das ganze Leben hinweg. Ein Begriff in diesem Sinne ist nie abgeschlossen, sondern wird durch neue Erfahrungen immer wieder ergänzt, erweitert oder korrigiert. Die Assoziationskette „Besuch – Kaffee – Blumen“ lässt die Ordnung der Wörter nach semantischen Bezügen im mentalen Lexikon aufscheinen. Gleichzeitig wird eine kulturelle Praxis in Sprache gehoben: Ein Gast wird bewirtet; man versucht, dessen Vorlieben zu berücksichtigen! Dies sichert gleichsam Gastfreundschaft als Kulturgut ab. Die pragmatisch-kommunikative Komponente: Die Mädchen weisen sich im Gespräch Rollen zu. Sie leben sich in ihre jeweilige Rolle hinein und agieren in der durch die Sprache geschaffenen neuen Realität. Dabei nehmen sie Umdeutungen der Wirklichkeit vor, die der Interpretation bedürfen. So zeigt zum Beispiel die Bemerkung, „mit einer Haarbürste zu telefonieren“, dass diese fiktive Bedeutung nicht von beiden durchgängig geteilt wird. Deshalb muss die Fiktion nachgebessert werden. Und wieder erweist sich die Sprache als „Zauberhand“. Äußerungen wie „im Spaß“ oder „in Echtigkeit“ oder „Das soll jetzt so sein“ stehen für Versuche, die Umformungen der Wirklichkeit mittels Sprache abzusichern. Die sprachlichen Äußerungen zeigen morphologische Qualität: Numerus, Genus, Kasus und Tempus werden korrekt abgebildet. Ferner weist das Gespräch bereits eine kohärente sequenzielle Organisation auf, die auf eine stringente Argumentation und klare Begrifflichkeit gerichtet ist. Auch eine Befehlsform fällt bei Anna auf („Ich soll einfach zaubern können“), was mehr einem Wunsch gleichkommt. Beginnendes Sprachbewusstsein im engeren Sinne ist bei Merle feststellbar. Sie hat bereits begonnen, einzelne Phoneme im Lautkontinuum des gesprochenen Wortes zu identifizieren und zu diskriminieren. Ihre Konzentration gilt der Lautebene. Das Fixieren des Namens lässt einen besonderen Umgang mit Sprache aufkommen. Der expressive Gebrauch der Sprache wird nun reflexiv. Der Lautstrom des Wortes Marejke muss angehalten werden. Er wird zum phonologischen „Gegenstand“, der nach seinen Einzellauten abgetastet werden kann. Schließlich steht MAREK auf dem Papier, was immerhin wichtige phonologische Teile des Wortes skelettartig wiedergibt. Hier spüren wir beginnendes Sprachbewusstsein. Es ist blitzt dann auf, wenn Sprache selbst (in diesem Falle die phonologische Struktur) zum Gegenstand des Entdeckens und des Sich Wunderns wird und damit eine neue Zugangsweise zu Sprache eröffnet.
224
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
4.5.2 Der Kindergarten – vieldimensionale Aufgabenfelder von Sprachbildung und Spracherziehung Die Kinder sind auf eine anregende Sprachmitwelt oder ein Sprachbad angewiesen! So oder ähnlich lauten Beschwörungsformeln, die sich an die frühkindliche Bildungseinrichtung und an die Eltern richten. Sie zielen darauf ab, dass die Fähigkeit und Bereitschaft der Erzieher/innen, die die alltäglichen Interaktionen mit den Kindern als sprachlich bedeutsame Lern- und Übungssituationen gestalten, eine elementare Daueraufgabe ist. Eine Schlüsselfunktion kommt dabei dem „öffnenden Kontakt“ und der Grundgestimmtheit zu. Wesentlich für das Kind ist eine stimmige menschliche Verbindung mit den Erwachsenen, gegen die es sich nicht verschließen oder abschotten muss. Allerdings gilt für die Kindertagesstätte wie für die Schule im Vergleich zur Familie eine Besonderheit: Während die Familie primär einen alltagsanalogen Sprachkontext darstellt, sind die pädagogischen Institutionen für die Kinder wesentlicher Ort der Kulturaneignung und -auseinandersetzung. Von ihnen wird erwartet, dass sie im täglichen informellen Miteinander den Kindern sprachliche Qualität, aber auch bewusste sprachliche Bildungsgelegenheiten und Inszenierungen anbieten.20 Dazu lassen sich, ohne diese weiter inhaltlich auszudifferenzieren, Situationstypen benennen, z. B.: • informelle Gespräche entlang freier (Spiel-)Akivitäten in der überschaubaren Kindergruppe, • „öffentliche“ Gespräche im Stuhl-, Morgen- oder Gesprächskreis sowie in der Kinderkonferenz, die der Verständigung, Partizipation und Gemeinschaftspflege dienen, • Vorlesen und aktive Auseinandersetzung mit dem Gelesenen, • Erzählen und Sich-Erzählen lassen. Komponenten von Sprachbildung und Sprachförderung im Kindergarten Die Abbildung 4.21 soll verdeutlichen, wie vieldimensional und vielschichtig die sprachlich-kommuni-kative Förderung der Kindergartenkinder bereits angelegt ist und interpretiert werden kann. Die sprachlichen Entwicklungsbereiche dienen im Schaubild als Strukturierungshilfe für die Komplexität im Hinblick auf die vorgefundene Entwicklungsintensität und die zu gestaltende Handlungsebene. In den letzten Jahren wurde gerade die Sprachförderung ins Zentrum der Kindergartenarbeit gerückt; die Bundesländer haben mit hohem finanziellem 20 Vgl. Vortrag und praktische Beispiele zu „Sprache und Kommunikation als vorschulische Entwicklungs- und Bildungsaufgabe (www.utb-shop.de/978325251130). Auch besteht ein Zusammenhang zu „Bildungssprache“ (vgl. Kap. 3).
4.5 Leistung fördern
225
Komponenten von Sprachbildung und Sprachförderung (Kindergarten)
Vorlesen In Büchern schmökern Kommunizieren/ sich verständigen (in Gespräch, Spiel und Handlungen)
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Erzählen Fabulieren
Gestik Mimik die Muttersprache und ihre Laute erkennen grammatikalische Strukturierung
Beginnendes ‚Suchen‘, ‚Sammeln‘ und ‚Festhalten‘ von Sprache
Sprache intentional gebrauchen
…
Kind(er)
Wortschatz (Lexik)
Sich über Sprache wundern
inneres Lexikon
…
(Bildsymbole, Schriftsymbole, Schriftsysteme)
Beginnende Wahrnehmung (z. B. der phonologischen Komponente der Sprache, sie entdecken, untersuchen)
Miteinander über Sprache und Sprechen sprechen Abbildung 4.21: Komponenten von Sprachbildung und Sprachförderung (E. Röbe)
Aufwand und relativ bescheidenem Erfolg21 bildungspolitisch die Förderarbeit forciert. Dabei liegt in vielen Förderansätzen der Schwerpunkt auf der Förderung der „phonologischen Bewusstheit“, da dieser ein hoher Voraussagewert für erfolgreiches Lesen- und Schreibenlernen zugesprochen wurde. Wenn jedoch mit den Fördereinheiten allzuleicht Verschulungstendenzen einhergehen und schon einzelne Übungen zur lautlichen Wahrnehmungsdifferenzierung (mit Arbeitsblättern) als hinreichende Sprachförderung befunden werden, bleibt diese hinter ihren Möglichkeiten. Jedes Kind braucht vielschichtige, handlungsbezogene, kreative und individuelle Zugänge zur „ganzen“ Sprache.22 Ilka S., Grundschullehrerin, 52 Jahre, 26 Jahre Berufserfahrung „Als Kooperationslehrerin habe ich viel Kontakt mit den Kindergärten in unserem Schulsprengel. Und da denke ich gerade an eine Einrichtung, die sich sehr
21 Vgl. z.B. Baden-Württemberg 22 Dieser Anspruch gilt für alle Kinder, mit deutscher wie nichtdeutscher Herkunftssprache.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
226
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
um die Schulvorbereitung müht. Doch mir geht das wirklich schon zu weit. Die Erzieher/innen holen sich sogar die Arbeitsblätter von der Schule, wenn die Kooperationsstunde der Lehrerin ausfallen muss. Dann bearbeiten sie die Aufgaben mit den Kindern und bringen sie zur Korrektur der Grundschullehrerin. Meistens geht es dabei um Lesen oder Rechnen. Auch im Kindergarten hat die Schule für meine Vorstellungen sich viel zu weit eingeschlichen. Da hängen Anlauttabellen an den Wänden und die Bücher stehen ganz oben in einem Regal, wo kein Kind mehr selber hinkommt. Da muss sogar ich als Lehrerin sagen, dass das zu weit geht … Das kann es doch nicht sein. Aber die Erzieher/innen sagen, die Eltern finden das gut, dass wir in Richtung Schule so viel tun … und kaufen selbst noch Trainingsmaterial“.
Phonematisches Bewusstsein – eine übbare Vorläuferfähigkeit? Phonematisches Bewusstsein – was ist das? In der sogenannten Scholastik-Studie wird von der Annahme ausgegangen, dass der Schriftspracherwerb von vorausgehenden schriftsprachspezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten beeinflusst wird (vgl. Weinert/Helmke 1997, S. 101). Gleichsam zurückschauend, retrospektiv, wurden folgende Fähigkeiten/Fertigkeiten herausgearbeitet: Einsicht in die phonologische Struktur der Sprache, d.h. Sprache hat eine lautliche Komponente, nicht nur eine Inhaltskomponente (Beispielwort ‚Hase‘); Bewusstmachung der Verarbeitungsrichtung (Anfang und Ende eines Wortes, eines Satzes); Aufmerksamkeitskontrollierte Beachtung der relevanten Merkmale bzw. Einzellaute (wenn ich die phonologische Struktur Wortes „Hase“ abhören kann) und aktive Nichtbeachtung der irrelevanten Informationen erforderlich“ (z. B. Ob der Hase ein braunes oder schwarzes Fell hat). Diese hier aufgeführten Fähigkeitskompononenten werden bereits der phonologischen Bewusstheit im engeren Sinne zugerechnet. Der phonologischen Bewusstheit im weiteren Sinne geht jedoch dieser Fähigkeit voraus: Sie bezieht sich auf die beginnende Aufmerksamkeit für die lautliche Komponente der Sprache, die Kinder z.B. im Reimen, in Sprachspielen (Beispiel: Susanne – Gießkanne) zeigen, wobei es ihnen auf den Inhalt gar nicht ankommt. Eine zentrale Frage für die Schulvorbereitung ist: Ist die „phonologische Bewusstheit“ in einem Förderprogramm vor der Schule übbar? Kann man „phonologische Bewusstheit“ auf Vorrat und im Vorgriff gezielt lernen? Doch dazu gibt es Warnungen, die die übersteigerten Erwartungen an entsprechende Programme dämpfen.
4.5 Leistung fördern
227
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Exkurs: Üben von Vorläuferfähigkeiten im Schriftspracherwerb in der Kindertagesstätte – Bedenken • Die Ausprägung des Arbeitsgedächtnisses ist zentrale Bedingung, dass ein Kind mehrere Informationen vorübergehend speichern, präsent halten und als relevante Information verarbeiten bzw. wiederholen kann. „Das innere Nachsprechen ist nicht von Anfang an automatisiert… Erst im 6. Lebensjahr kommt es bei den meisten Kindern zur entsprechenden Automatisierung“ (Hasselhorn 2005, 79). • Auch Lernstrategien, Metakognition als das „Gefühl, das sie ahnen lässt, in welcher Lernsituation plötzlich verstärkte Konzentration aufzubringen ist“ und epistemisches Wissen, das über den Stand des bereits verfügbaren Wissens Bescheid weiß, sind erst im Zunehmen begriffen (vgl. Hasselhorn 2005, 82). • Als weitere Entwicklungsbesonderheiten benennt M. Hasselhorn den in der Regel vorherrschenden Überoptimismus, „der bei den Kindern eine Bereitschaft auslöst, Zeit und Anstrengung in Lernprozesse zu investieren“ (S. 86), der aber in der Trainingssituation oft schnell verbraucht ist. • Dazu kommt eine Verletzlichkeit, wenn Anstrengung und Erfolg nicht als positiver Zusammenhang erfahren werden. • In diesem Alter liegt auch die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses, das die Bedeutung der Ereignisse für das Selbst organisiert und die Selbstkonzeptbildung beflügelt. Schlimm ist es, wenn dann Unzulänglichkeiten und Überforderung in der Fördersituation fälschlicherweise als Unlust oder als Inkompetenz der Kinder interpretiert werden. Schließlich scheinen die Aufgaben aus Erwachsenenperspektive ganz einfach und kindgemäß zu sein. • Die Vier- bis Sechsjährigen lernen noch unbeabsichtigt und beiläufig. Sie haben ein großes Potential für implizite und inzidentelle Lernprozesse; in schulisch angelegten, formalisierten Fördersituationen wird oft die Eigenlogik des Lernens von Vorschulkindern verkannt. • „Die Tatsache, dass der subvokale Prozess des „inneren Nachsprechens“ im phonologischen Arbeitsgedächtnis vor dem 7. Lebensjahr bei der Mehrzahl der Kinder noch nicht automatisiert erfolgt, setzt dem expliziten Lernen jüngerer Kinder deutliche Grenzen. Bisherige Konzepte bauen sehr stark auf explizites und intentionales Lernen, das im Alter zwischen 4 und 6 Jahren nur sehr eingeschränkt umsetzbar“ (Hasselhorn 2005, S. 86) ist. • Kinder aus Armutsverhältnissen werden (möglicherweise) durch Programme zur Vorbereitung auf die Schule weniger angesprochen. Sie werden schon im Kindergarten nicht mitgenommen auf dem Weg in das schulische Lernen und sind möglicherweise trotz des Besuchs einer Kindertageseinrichtung in der Schule von Anfang an benachteiligt. Die erhofften kompensatorischen Effek-
228
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
te bleiben aus. Vielmehr kommt eine weiteres Mal das Matthäus-Prinzip zum Tragen: „Wer hat, dem wird gegeben“ (Strehmel 2007, S. 77). • Schließlich versorgen Lernmittelverlage nicht nur den Anfangsunterricht, sondern auch verstärkt den Kindergarten mit Test- und Fördermaterial. Sie nützen geschickt die ‚Sogwirkung‘ der Schule für ihren Absatzmarkt.
4.5.3 Die Anschlussfähigkeit des schulischen Lernens braucht auch eine currulare Entsprechung „Die Schule behandelt das Kind, als käme es mit dem Eintritt ins Schulzimmer neu auf die Welt. Sie setzt nicht fort, sondern bricht ab und fängt etwas ganz Neues von vorn an. Was dabei zugrunde geht, hat sie, selbst wenn sie es wollte, im ganzen Verlauf des Schullebens nicht die Macht zu ersetzen.“ Alfred Lichtwark23 (1852-1914)
Gerade am Beispiel des Schriftspracherwerbs kann deutlich werden, dass es eine alte Forderung an die Schule ist, ihre Erwartungen an die Eingangsvoraussetzungen der Kinder und ihr Unterrichtskonzept zu überdenken. Der Anfangsunterricht ist schon immer in der Gefahr gewesen, sich auf bloße methodische Fragen zu konzentrieren und Lesen- und Schreibenlernen auf den Erwerb einer bloßen Kulturtechnik zu reduzieren. Dies bestimmt dann auch die Außenwahrnehmung der Lehrerleistung. Dies widerspricht dem bildungspolitischen und kulturellen Auftrag, der sich auch in den aktuellen Bildungsplänen widerspiegelt. Die Abbildung 22 ist ein Ergebnis einer vergleichenden Analyse; sie veranschaulicht die Struktur der sprachlichen Komponenten, die sich als vernetzte Arbeitsbereiche eines kompetenzorientierten Deutschunterrichts darstellen lassen. Alle Lern- oder Zugriffsweisen auf die Schriftsprache sollen für die Schüler/ innen im Erwerb einer neugierig entdeckende Haltung, in der Freude an Sprache/Geschriebenem und in einer ausdifferenzierten (schrift-)sprachlichen Bildung gründen. Darin gründet die strukturelle Identität der Bildungsplanaussagen für alle Schulstufen. • „Sprechen“ bindet das schriftsprachliche Lernen in die Mündlichkeit zurück. Die mündliche Kommunikation bleibt die Basis. In ihr bilden sich grundlegende sprachliche Erfahrungen aus: Zum einen befördert sie die Fähigkeit zu 23 A. Lichtwark, der Hamberger Pädagoge, Kunstervermittler, visionäre Museumsleiter und –gestalter der Hamburger Kunsthalle, war zugleich ein scharfer Kritiker des Bildungswesens seiner Zeit. Die konsequente Heranführung an die Betrachtung der Kunstwerke, die Plege der künstlerischen Bildung sowie die Etablierung einer Lebenskultur waren seine zentralen, radikal vertretenen Anliegen. („Der kostenspieligste Luxus, den eine Stadt leisten kann, ist Beschränktheit und Unwissenheit!“). Zitat entnommen: Kühnel, J.: Moderner Anschauungsunterricht. Leipzig 19072, S. 2.
4.5 Leistung fördern
Sprechen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Entwicklung einer Gesprächskultur kreativer, spielerischer Umgang mit Sprache
Vernetzte Arbeitsbereiche des Deutschunterrichts
Lesen/Umgang mit Texten und Medien
n ne te ex pin e T ts bt . for ext ü T e ng n u m , u he zu eit he te n erz ac vers rage f ind ten n , F i - e sen che rten esen ch. K sset le fa o orl Bu ka r in tw v - e ean ren zum Hö d b de g n an n un a g - u fte n - Z chri nne s wi ge
-v - v ers - G on tän E d e d s rl li - S em prä ebn che c s i p au rüc Ver hsr sse pre sw he ha ege n e ch en , V lten ln rzä en di er sw / hl g se en ler u eis ne nd en n Ge di ch te
229
Kind(er)
Schreiben Texte schreiben Rechtschreiben
eln ick tw en hten n ee ac bid lge n rei fo lle ch e Ab ste iten ene S e ne lich Text arbe und en r b ige eit nw r - e uf z n an übe / ver n a rte - a rage exte rift ben egie nwö - F nd T ksch hrei strat Ler n u uc sc ib ige ibe r e re t ft - D chri tsch wich schr t S ch d e un rech R - en ge d rm no
-S c ü hr - W ber iftsp - m ört sie rach e - F it S r s nac e e ac pr am hd nt hb ac m en de eg he el ke cke n riff sp n nu e k ie nd en len ne nl ern en
Sprachbewusstsein entwickeln
Abbildung 4.22: Vernetzte Arbeitsbereiche im kompetenzorientierten Deutschunterricht der Grundschule (E. Röbe)
sach-, partner- und situationsbezogenem Sprachhandeln verbunden mit der Erfahrung, dass dieses immer zugleich soziales Handeln ist. Zum anderen geht es in der gesprochenen wie dann auch in der geschriebenen Sprache darum, die prosodische Kompetenz einzusetzen, um Sprache expressiv zu gestalten. Dazu sind verlässliche Erzählzeiten und die Förderung einer narrativen Kultur wichtige Bedingungen. • „Lesen/Umgang mit Texten und Medien“ zielt auf eine konsequente Weiterentwicklung der pragmatisch-kommunikativen Kompetenz. Sie ist verbunden mit dem Erwerb von Lesestrategien, von Sinnverstehen, von Leseinteresse und von Freude an Lesen und am Buch. Bereits im Schriftspracherwerb begegnen Schüler/innen die unterschiedlichen Textsorten und Kinderliteratur, lernen sie unterschiedliche Verfahren für den Umgang mit Texten kennen, bekommen regelmäßig vorgelesen und tauschen sichüber Leseerfahrungen aus. Verlässliche freie Lesezeiten, Buchvorstellungen und das Nutzen von Bibliotheken sind dafür wesentliche Bedingungen (vgl. „reading literacy“ und „deep reading“). • „Schreiben (Texte schreiben und Richtig schreiben)“ gründet in der linguistischen Kompetenz und in der Aufmerksamkeit für die Schrift- und Bildsymbo-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
230
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
le. Mit der Schrift erwirbt das Kind ein Verfahren, das ihm erlaubt, außerhalb der momentanen Situation zu sein. Die Möglichkeit, das Hier und Jetzt zu verlassen, eine andere Perspektive einzunehmen und zugleich zu einer realen Situation in Distanz zu treten. Dies ist ein Grund dafür, dass Menschen ihre Vorstellungen, ihre Bilder, Wünsche, Träume, Ängste, Visionen immer wieder zu gestalten versuchen, für sie eine Form zu finden suchen, indem sie sie malen, formen, aufschreiben, auf vielerlei Weise in Szene zu bringen suchen. Dass sie dabei normgerecht schreiben lernen, ist Ausdruck des Hineinwachsens in eine „Schreibgemeinschaft‘. • „Sprachbewusstsein entwickeln/Sprache untersuchen“ ist eine wichtige, sich durch alle sprachlichen Bereiche ziehende didaktische Leitfigur, die ein Gespür für die Schriftsprache entwickelt und sprachliche Entdeckungen ermöglicht. Sprache wird damit zu einem Gegenstand, den man untersuchen und über den man staunen kann, ohne dabei an ein Ende zu kommen, weil Sprache immer wieder für Überraschungen gut ist. Kinder sind auf alles neugierig, auch auf die Sprache und die Schrift. Die in diesem Exkurs thematisierten Gefahren von formal vorgezogenen Bildungsbemühungen in der Kindertagesstätte sind ein altes Thema in der Pädagogik. Der US-amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey (1849-1952), der Lernen als eine über das ganze Leben sich erstreckende Ausdifferenzierung des Erfahrungsprozesses versteht, äußerte sich bereits vor mehr als 100 Jahren deutlich zu den formal vorgezogenen Bildungsbemühungen: „Es ist sprichwörtlich, dass Kinder in der Gegenwart leben […]. Sich für etwas fertig zu machen, von dem man das Was und Warum nicht kennt, heißt, die vorhandenen Triebkräfte verschwenden und in einer unbestimmten Möglichkeit nach motivierenden Kräften zu suchen […]“(Dewey 1916, S. 81). „Es ist selbstverständlich keine Frage, dass Erziehung für die Zukunft vorbereiten soll. Der Vorgang des Wachstums erfolgt nicht in vereinzelten Augenblicken: er ist eine ununterbrochene Hineinführung in die Zukunft […]. Der Fehler liegt […] darin, dass […] sie zur Hauptquelle für die gegenwärtigen Bemühungen gemacht wird. Gerade weil die Notwendigkeit der Vorbereitung für ein sich ununterbrochen weiterentwickelndes Leben so groß ist, sollten alle Kräfte herangezogen werden, um die gegenwärtige Erfahrung so reich und bedeutsam wie möglich zu machen. Indem dann die Gegenwart unmerklich in die Zukunft hinüber fließt, wird der letzten alles zuteil, was ihr Not tut“ (Dewey 1916, S. 82).
Das Thema„Vorläuferfähigkeiten“ zeigt den Verständigungsbedarf beider Institutionen auf Augenhöhe über das Entwicklungs- und Bildungsverständnis, weil an ihm ideologische Verkrustungen und hegemoniale Zumutungen kleben: Ist phonematisches Bewusstsein lediglich eine weitgehend isoliert übbare Vorläuferfähigkeit auf dem Weg eines Kindes in die Schriftkultur? Wo aber bleiben die anderen sprachlichen Entwicklungskomponenten?
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Literatur
231
Übertragen auf andere Entwicklungsbereiche wäre zu fragen (vgl. Dehn 2017): Ist das Lallen des Kleinkindes dann auch nur eine Vorläuferfähigkeit zum Sprechen? Nein, es ist die volle performative Sprache eines circa sechs Monate alten Kindes. Ist das Krabbeln eine Vorläuferfähigkeit zum Gehen? Nein, es ist das volle performative Sich-Fortbewegen eines gerade zehn Monate alten Kindes. Ist das Kindergartenkind ein Vorläuferwesen zum Schulkind? Nein, es ist bereits ein vollwertiges Kind. Der Weg in die Sprache und Schriftkultur versteht sich als ein Kontinuum an Erfahrungen, das mit den Erzählungen der Mutter und der Familie beginnt, sich im Betrachten der Bilderbücher und im Vorlesen fortsetzt, erste Schreibversuche wagt und mit der Unterstützung der Erzieher/innen schon vor der Einschulung zu einer reichen Literacy-Erfahrung werden kann. Phonematisches Bewusstsein ist dann auch keine zu isolierende Vorläuferfähigkeit, sondern bleibt eingebettet in das vollwertige und zugleich entwickelbare Können eines Kindes im Übergang in die Sprach- und Schriftkultur der Schule. Literatur Abraham, Ulf/Knopf, Julia (2013): Einschätzen, Rückmelden und Bewerten – Zum Umgang mit Unterrichtsergebnissen. In: Abraham, Ulf/Knopf, Julia (Hrsg.): Deutsch. Didaktik für die Grundschule. Berlin, S. 230-235. Ahnert, Lieselotte (2006): Anfänge der frühen Bildungskarriere. Familiäre und institutionelle Perspektiven. In: Frühe Kindheit. Die ersten sechs Jahre. 9. Jg., Heft 6, S. 18-23. Andresen, Sabine (2012): Machtvolle Position. In: Kinderschutz aktuell (KSA). Deutscher Kinderschutzbund, Bundesverband e.V. (Hrsg.): Bewertungen überall. 4. Quartal, S. 18-19. Aicher-Jakob, Marion (2015): Das Verhältnis von Kindergarten und Schule- ein chronischer Disput. Bad Heilbrunn. De Boer, Heike (2017): Dialogische Unterrichtsgespräche führen. In: Grundschule aktuell. Zeitschrift des Grundschulverbandes. Heft 139, S. 3-6. De Boer, Heike/Bonanati, Marina (Hrsg.)(2015): Gespräche über Lernen – Lernen im Gespräch. Wiesbaden. Beck, Gertrud (2002): Den Übergang gestalten. Wege vom 4. ins 5. Schuljahr. Seelze-Velber. Becker, Kai/von der Groeben, Annemarie/Lenzen, Klaus-Dieter/Winter, Felix (Hrsg.) (2002): Leistung sehen, fördern, werten. Tagungsdokumentation. Bad Heilbrunn. Benner, Dietrich/Ramseger, Jörg (1985): Zwischen Ziffernzensur und pädagogischem Entwicklungsbericht: Zeugnisse ohne Noten in der Grundschule. In: Zeitschrift für Pädagogik. 31. Jg., Heft 2, S. 151-174.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
232
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Biermann, Christine (2017): Von Lernberichten zu Noten „…auch sollten Noten jeden Einzelnen berücksichtigen: In: PÄDAGOGIK, 69. Jg., Heft 9, S. 28-31. Binder, Gertrud (2010): Grundschulkinder zwischen Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung – Leistungsbereich Texte schreiben. Hamburg. Blossfeld, Hans-Peter/Bos, Wilfried/Lenzen, Dieter/Müller-Bölling, Detlef/Oelkers, Jürgen/Prenzel, Manfred/Wößmann, Ludger (Hrsg.) (2007): Bildungsgerechtigkeit. Jahresgutachten. Hrsg. vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (Hrsg.). Wiesbaden. Braun, Karin (2012): Liebes Tagebuch, ich habe eine Frage … In: Becker, Kai/von der Groeben, Annemarie/Lenzen, Klaus-Dieter/Winter, Felix (Hrsg.): Leistung sehen, fördern, werten. Tagungsdokumentation. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 80-87. Dehn, Mechthild (2007): Kinder & Lesen und Schreiben. Was Erwachsene wissen sollten. Seelze-Velber. Deutscher Bildungsrat (19713): Strukturplan für das Bildungswesen. Stuttgart. Dewey, John (1916), Deutsche Übersetzung 1929/1949 von Erich Hylla): Demokratie und Erziehung. Braunschweig, Berlin und Hamburg. Endres, Wolfgang/Bernard, Elisabeth/Kuhn, Viktoria (2013): Präsentieren und frei sprechen lernen in der Grundschule. Weinheim und Basel. Fabricius-Schmidt, Sandra (2011): Lerntagebuch: Einfach und praktisch. In: Die Grundschulzeitschrift, 25. Jg., Heft 244, S. 30-35. Faust-Siehl, Gabriele (2007): Leistung und Leistungsbeurteilung aus der Sicht des Individuums. In: Ludwig, Harald/Fischer, Christian/Fischer, Reinhard (Hrsg.): Leistungserziehung und Montessori-Pädagogik. Münster-HamburgLondon, S.36-56. Fend, Helmut (2006): Neue Theorie der Schule. Wiesbaden. Flitner, Andreas (1992): Leistung ist mehr als Schulleistung. In: Bartnitzky, Horst/Portmann, Rosemarie (Hrsg.): Leistung der Schule – Leistung der Kinder. Beiträge zur Reform der Grundschule Bd. 87. Frankfurt a.M.: Arbeitskreis Grundschule- Der Grundschulverband e.V., S. 29-45. Fölling-Albers, Maria (1999): Die Freiheit, mehr zu leisten. Anforderungen im Kinderalltag. In: Behnken, Imbke/Fölling-Albers, Maria/Tillmann, Klaus-Jürgen, Wischer, Beate (Hrsg.): Leistung. Seelze, S. 10-15. Freinet, Célestin (1979): Die moderne französische Schule. Übersetzt und besorgt von Hans Jörg. Schöninghs Sammlung Pädagogischer Schriften. Paderborn. Frommelt, Bernd/Klemm, Klaus/Rösner, Ernst/Tillmann, Klaus-Jürgen (Hrsg.) (2000): Schule am Ausgang des 20. Jahrhunderts. München. Gartner, Friederike/Jirasko, Marco (1999): „Ehrgeizige“ Eltern und schlechte Schülerleistungen. In: Report Psychologie, 24. Jg., Heft 4, S. 272-279. Garlichs, Ariane/Röbe, Edeltraud (2000)(Hrsg.): Leistungen fördern und bewerten. Themenheft Die Grundschulzeitschrift. Seelze.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Literatur
233
Garlichs, Ariane (2000): „Heute habe ich das zweitbeste Bild gemalt!“ In: Garlichs, Ariane/Röbe, Edeltraud (Hrsg.):Leistungen fördern und bewerten. Themenheft Die Grundschulzeitschrift, 14. Jg., Heft 135/136, S. 18-20. Graf, Ulrike (2004): Schulleistung im Spiegel kindlicher Wahrnehmungs-und Deutungsarbeit. Hamburg. Grimm, Hannelore/Weinert, Sabine (2008): Sprachentwicklung. In: Oerter, Rolf/ Montada, Leo (Hrsg.) Entwicklungspsychologie. 6. vollst. überarbeitete Auflage. Weinheim, S. 502-534. v. d. Groeben, Annemarie (2001): Leistung wahrnehmen, Leistung bewerten. Rede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Fakultät der Pädagogik der Universität Bielefeld am 21.10.1998 (Redemanuskript). Grundschulverband – Arbeitskreis Grundschule (2015): Lernkulturen im Deutschunterricht. Frankfurt/M., Heft Nr. 132. Hagstedt, Herbert (1998): Nebenschulen. In: Die Grundschulzeitschrift. 12. Jg., Heft 116, S. 19-23. Hasselhorn, Marcus (2005): Lernen im Altersbereich zwischen 4 und 8 Jahren: Individuelle Voraussetzungen, Entwicklung, Diagnostik und Förderung. In. Guldimann, Titus/Hauser, Bernhard (Hrsg.): Bildung 4- bis 8-jähriger Kinder. Münster/New York/München/Berlin. S. 77-88. Heckhausen, Karlheinz (1980, weitere Auflagen bis 2010): Motivation und Handeln. Lehrbuch der Motivationspsychologie., Berlin und Heidelberg. Helmke, Andreas (1998): Vom Optimisten zum Realisten? Zur Entwicklung des Fähigkeitskonzepts vom Kindergarten bis zur 6. Klassenstufe. In: Weinert, Franz E./ (Hrsg.): Entwicklung im Kindesalter (LOGIK-Studie). Weinheim: Beltz, 115-132. Herrmann, Ulrich: Schule braucht andere Standards (2004). In: Die Grundschulzeitschrift Jg. 19, Heft 177, S. 4. Höhmann, Katrin/Stockey, Andres (2002): Anleitung und Bewertung „Besonderer Lernleistungen“. In: Becker, Kai/von der Groeben, Annemarie/Lenzen, Klaus-Dieter/Winter, Felix (Hrsg.): Leistung sehen, fördern, werten. Tagungsdokumentation. Bad Heilbrunn, S. 117-129. Ingenkamp, Karlheinz (1971): Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung. Weinheim. Ingenkamp, Karlheinz (1993): Der Prognosewert von Zensuren, Lehrergutachten, Aufnahmeprüfungen und Tests während der Grundschulzeit für den Sekundarschulerfolg. In: Olechowski, I.R./Persey, E. (Hrsg.): Frühe schulische Auslese. Frankfurt a. M., S. 68-101. Jachmann, Michael/Tillmann, Klaus-Jürgen (2000): Sind Noten gerechter als Berichtszeugnisse? Wie Lehrer, Schüler und Eltern die schulische Beurteilungspraxis sehen. In: PÄDAGOGIK, 52. Jg., Heft 9, S. 36-43. Kinderschutz aktuell (KSA) (2012). Deutscher Kinderschutzbund, Bundesverband e.V. (Hrsg.): Themenheft: Bewertungen überall. 4. Quartal, S. 18-19.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
234
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
KMK: Empfehlungen zur Arbeit in der Grundschule. Internetfassung vom 11.06.2015 Langeveld, Martinus J. (1960): Schule als Weg des Kindes. Braunschweig. Lichtenstein, Ilse/Röbe, Edeltraud (2005): Grundschule – Der pädagogische Raum für Grundlegung der Bildung. Weinheim und Basel. Lichtenstein-Roter, Ilse (1989 a): Verdammt zum Erfolg – Schule als Lebenshilfe? Vortragsmanuskript. Ulm. Lichtenstein-Roter, Ilse (1989b): Leistung – pädagogisch gesehen. In: unterrichten und erziehen. Heft 1, S. 7-12. Lichtenstein-Rother, Ilse (1983): Leistung und Leistungsbeurteilung – ein pädagogisches Problem der Schule. In: Schulanzeiger, 16. Jg., Heft 2, S. 35-42. Lichtenstein-Rother, Ilse (Hrsg.)(1976a): Schulleistung und Leistungsschule. Bad Heilbrunn. Lichtenstein-Rother, I. (1976b): Leistung und Leistungsbeurteilung im ersten Schuljahr. In: Schulreport, Heft 5, S. 6-7. Liegle, Ludwig (2008): Kann (und soll) der Kindergarten auf die Schule vorbereiten? Ein Plädoyer für eine jeweils eigenständige Lern- und Bildungskultur. In: kindergarten heute – das Leitungsheft. Heft 1, S. 14-19. Lipowsky, Frank (2006): Auf den Lehrer kommt es an. Empirische Evidenzen für Zusammenhänge zwischen Lehrerkompetenzen, Lehrerhandeln und dem Lernen der Schüler. In: Zeitschrift für Pädagogik (2006): Kompetenzen und Kompetenzentwick-lung von Lehrerinnen und Lehrer: Ausbildung und Beruf. 51. Beiheft. Weinheim und Basel, S. 47-70. Morys, Regine (2007): Die Leistungsselbstsicht von Grundschulkindern im Beziehungsgeflecht von Elternhaus und Schule. Hamburg. Müller, Andreas (2005): Erlebnisse durch Ergebnisse. Das Lernportfolio als multifunktionales Werkzeug im Unterricht. In: Grundschule 2005, Heft 6, S. 9-18. Probst, Maximilian (2017): Umdenken oder untergehen! Auf der Suche nach einem neuen Bildungsbegriff: Das Ideal der Aufklärung ist am Ende – es hat den Planeten zerstört. Der Mensch muss lernen, seine eigene Freiheit zu begrenzen. In: DIE ZEIT, Nr. 44, S. 44. Ramseger, Jörg (2000): Grundschule unter Leistungsdruck. In: Garlichs, Ariane/ Röbe, Edeltraud (Hrsg.): Leistungen fördern und bewerten. Themenheft Die Grundschulzeitschrift. Velber-Seelze, S. 80-84. Rauschenberger, Hans (1999): Umgang mit Schulzensuren. Funktionen – Entwicklung – Praxis. In: Grünig, Barbara u.a.: Leistung und Kontrolle. Die Entwicklung von Zensurengebung und Leistungsmessung in der Schule. Weinheim und München: S.11-99. Rauschenberger, Hans (2002): Leistungserziehung als Lerndialog. In: Becker, Kai/von der Groeben, Annemarie/Lenzen, Klaus-Dieter/Winter, Felix (Hrsg.) Leistung sehen, fördern, werten. Tagungsdokumentation. Bad Heilbrunn, S. 362-369.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Literatur
235
Röbe, Edeltraud (2017): Die Aufgabe als Brücke zur Welt. In: Krautz, Jochen (Hrsg.)(2017): BEZIEHUNGSWEISEN UND BEZOGENHEITEN. RELATIONALITÄT IN PÄDAGOGIK, KUNST UND KUNSTPÄDAGOGIK. München: kopaed, S. 257-273. Röbe, Edeltraud (2016): Warte doch, ich kann es auch!“ – Schulische Bildung im Spannungsfeld zwischen Individuation und Kulturaneignung. In: Schiefele, Christoph/Menz, Mathias (Hrsg.) Der Blick auf einzelne Kinder und Jugendliche – handlungsorientierte Perspektiven des Förderschwerpunktes Sprache. Hohengehren, S. 11-22. Röbe, Edeltraud (2012): Kindgemäße Leistungserziehung in der Grundschule. In: Wolf, Willi/ Freund, Josef/Boyer, Ludwig (Hrsg.): Beiträge zur Pädagogik und Didaktik der Grundschule. Wien, S.285-294. Röbe, Edeltraud (2007): Anschlussfähigkeit wagen. Bildungspläne für Kindergarten und Grundschule. In. Die Grundschulzeitschrift. 21. Jg., Heft 209, S. 12-15. Röbe, Edeltraud (2005): Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Sprachbildung im Elementar- und Primarbereich. In: Dokumentation Deutscher Lehrertag 2005. Verband Bildung und Erziehung VBE. Berlin, S. 129-177. Röbe, Edeltraud (1992): Leistung in der Grundschule. Argumentationslinien von Ilse Lichtenstein-Rother. In: Bartnitzky, Horst/Portmann, Rosemarie (Hrsg.): Leistung der Schule – Leistung der Kinder. Beiträge zur Reform der Grundschule Bd. 87. Frankfurt a.M.: Arbeitskreis Grundschule. Der Grundschulverband e.V., S. 29-45. Röbe, Edeltraud (1980): Förderung bewussten Lernens und Leistens in FreinetKlassen. In: Lichtenstein-Rother, Ilse: Jedem Kind seine Chance. Freiburg i.B., S. 76-98. Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin. Ruf, Urs/Gallin, Peter (1995): Ich mache das so! Wie machst du es? Das machen wir ab. Sprache und Mathematik. 1.-3. Schuljahr. Zürich. Ruf, Urs/Ruf-Bräker, Regula (2002): Von Ort zu Ort – Dialogisches Lernen durch fachliche Herausforderungen und durch Austausch mit anderen. In: Becker, Kai/von der Groeben, Annemarie/Lenzen, Klaus-Dieter/Winter, Felix (Hrsg.) (2002): Leistung sehen, fördern, werten. Tagungsdokumentation. Bad Heilbrunn, S. 50-79. Rumpf, Horst (2006): Belebung oder Erstarrung. In: Bildungsstandards – Schule als Produktionsbetrieb? In: Erziehungskunst. 70. Jg., Sonderheft. Schady, Wulf (2015): Notenzeugnis oder Kompetenzbericht. In: Humane Schule. Zeitschrift des Bundesverbandes Humane Schule. 41. Jg., Heft September, S. 14ff.. Schönknecht, Gudrun/Ederer, Bianca/Klenk, Gabriele (2006): Sachunterricht. Pädagogische Leistungskultur: Materialien für Klasse 3 und 4. Grundschulverband. Arbeitskreis Grundschule e.V. Frankfurt/Main.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
236
4. Leistungen beachten, bewerten, beurteilen
Speck-Hamdan, Angelika (Hrsg.) (2018): Handschreiben. Themenheft Die Grundschulzeitschrift. 32. Jg., Heft 308. Steinig, Wolfgang (2017): Grundschulkulturen. Pädagogik – Didaktik – Politik. Berlin. Stern, Elsbeth (2008): Je früher, desto besser? Über Lernstrategien von Vorschulkindern. In: Fried, Lilian/Büttner, Gerhard (Hrsg.): Weltwissen von Kindern. Zum Forschungsstand über die Aneignung sozialen Wis-sens bei Krippen- und Kindergartenkindern. München, 21-36. Strehmel, Petra (2007). Der Einfluss vorschulischer Betreuung auf den Schulerfolg. In: Alt, Christian (Hrsg.): Kinderleben – Start in die Grundschule. Band 3: Ergebnisse aus der zweiten Welle (Schriften des Deutschen Jugendinstituts – Kinderpanel). Wiesbaden, S. 61 – 79. Titze, Hartmut (2000): Zensuren in der modernen Gesellschaft. Zur Selbstbeurteilung und Fremdbeurteilung schulischer Leistungsdifferenzen. In: Schlömerkemper, Jörg (Hrsg.): Differenzen. 6. Beiheft: Die Deutsche Schule. Weinheim und Basel, S.49-62. Thurn, Susanne (Hrsg.)(2017): Leistungsbewertung und Leistungsvielfalt. Themenheft PÄDAGOGIK. 69. Jg., S. 6-35. Vierlinger, Rudolf (1999): Leistung spricht für sich selbst. „Direkte Leitungsvorlage“ (Portfolios) statt Ziffernzensuren und Notenfetischismus. Heinsberg. Weinert, Franz E.: (Hrsg.) (2002): Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim und Basel. Weinert, Franz E./ (Hrsg.) (1998): Entwicklung im Kindesalter (LOGIK-Studie). Weinheim. Weinert, Franz E./Helmke, Andreas (Hrsg.)(1997): Entwicklung im Grundschulalter (Scholastik Studie). Weinheim.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten im Handlungsspektrum der Lehrperson „Um klar zu sehen reicht oft ein Wechsel der Blickrichtung.“ Antoine de Saint-Exupéry (1900-1944)
Abstract Kernaufgabe einer jeden Lehrerin/eines jeden Lehrers ist das Unterrichten. Unterricht findet auf vielfältige Weise in unterschiedlichen Formaten statt (vgl. Kap. 2). Sein Erfolg, wie auch immer dieser definiert sein mag, beruht auf unterschiedlichen Faktoren, von denen manche vielleicht als vermeintliche Nebensächlichkeiten erscheinen mögen. In diesem Kapitel werden zwei Aspekte thematisiert, die sowohl das Unterrichten als auch das Lernen maßgeblich beeinflussen und jeder Lehrerin/jedem Lehrer im Blick sein müssen und eine Positionierung erfordern. Den Blickrichtungen folgend, zeigen die Themen exemplarisch die wechselseitige Wirkung auf: • Aus der Schule heraus in die Familie: Die Hausaufgabenpraxis, die meist unreflektiert über Lehrergenerationen hinweg tradiert wird und bereits die Erwartungshaltung der Schulanfänger bestimmt. Sie hat eine Selbstverständlichkeit gewonnen und setzt unhinterfragt den Unterricht im Elternhaus fort. • Aus der Familie/der außerschulischen Lebenswelt heraus in die Schule: Die Medienentwicklung und Digitalisierung drängen in die Schule. Sie beeinflussen den Unterricht und bedürfen einer Beantwortung.
5.1 Hausaufgaben – die ins Elternhaus verlängerte ‚lehrerfreie‘ Schule 5.1.1 Ungleiche Startbedingungen als Grundproblem Beispiel Sophia, 9 Jahre Sophia besucht die dritte Klasse der Grundschule ihres Wohnortes. Eine kleinere einzügige Grundschule in bevorzugter ländlicher Gegend. Sophia macht sich jeden Morgen mit ihrer Freundin Leah auf den Schulweg und freut sich auf den Unterricht. Sie bewundert ihre Lehrerin Frau W.. Später möchte sie selbst einmal Lehrerin werden. Ihre Noten sind durchweg sehr erfreulich, sie werden es ihr
238
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
schon bald ermöglichen, wichtige Weichen für die Erfüllung ihres späteren Berufswunsches stellen zu können. Beispiel Leon, 10 Jahre Leon besucht die mehrzügige Grundschule einer Großstadt. Leons Leistungen waren schon zu Schulbeginn eher mittelmäßig. Insbesondere nach dem Lehrerwechsel von Klasse 2 in Klasse 3 sind seine Leistungen stark abgefallen und stellen den Übergang in Klasse 4 zunehmend in Frage. Die Ausschnitte zweier so unterschiedlicher Fälle werfen wichtige Fragen auf: Ist das Unterrichts- und Schulleben im ländlichen Raum, im Gegensatz zu dem in Großstädten ein anderes? Sichert die eher ‚familiäre‘ Schule mit ihren kleinen Klassen den Lernerfolg der Schüler/innen? Liegt es an der bevorzugten Wohngegend, die die Leistungsstärke erklärbar macht? Ermöglicht die hohe Bildungsaspiration des Elternhauses zusätzliche Bildungsangebote und frühzeitige Förderung? Kann die Schule die kontinuierliche elterliche Unterstützung bei der Schularbeit in einem wohlsituierten Wohnumfeld selbstverständlich ins Kalkül ziehen? Ist die Lehrerin für die Leistungen verantwortlich, weil es ihr gelingt, Lernfreude zu wecken und weil sie Inhalte so darbietet, dass diese verständlich werden? Alltagstheoretisch finden wir rasch stimmige Erklärungsansätze für schulischen Lernerfolg, die zwar logisch erscheinen, in ihrer monokausalen Zuordnung wissenschaftlichen Erkenntnissen aber nicht standhalten können. Andreas Helmke, ein Vertreter der empirisch orientierten Unterrichtsforschung, verdeutlicht in seinem sogenannten Angebot-Nutzungs-Modell (vgl. Abb. 5.1), das Zusammenspiel unterschiedlicher Einflüsse, die auf den Unterricht wirken. Es wird ersichtlich, dass schulischer Lernerfolg nicht an einem bestimmten Kriterium festzumachen ist. Er wird vielmehr von verschiedenen Faktoren beeinflusst, auf die Lehrpersonen nur bedingten Einfluss haben.1 Unterricht wird demnach als Angebot beschrieben, das von Schülerinnen und Schülern mehr oder weniger gewinnbringend wahrgenommen und genutzt wird. Unterricht zeitigt dementsprechend aber nicht selbstredend Erfolge. Die Abbildung 5.1 zeigt, Unterrichtswirksamkeit ist multifaktoriell begründet. Dieses Modell mag zunächst ernüchternd auf Pädagog/innen wirken, die ihren Beruf in der Überzeugung ausüben, großen Einfluss auf die Entwicklung der Kinder/Jugendlichen nehmen zu können. Deutschsprachige Studien (vgl. Hosenfeld u.a., zit. nach Helmke 2002, S. 266) zeigen, dass sich Leistungsvarianzen zu 50 bis 60 Prozent durch individuelle Schülermerkmale erklären lassen, also durch eine Größe, auf die Lehrende nur begrenzten Einfluss ausüben können. Diese 1 Helmut Fend brachte das Modell, das ursprünglich aus der Wirtschaft stammt, 1981 erstmals in die Erziehungswissenschaft ein.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
5.1 Hausaufgaben 239
Abbildung 5.1: Das Angebot-Nutzungs-Modell nach A. Helmke (2007)
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
240
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
Tatsache entlässt Lehrer/innen aber nicht aus ihrer pädagogischen Verantwortung. Denn diese Studien zeigen ferner, und das ist für pädagogisches Handeln entscheidend, dass es Lehrerinnen und Lehrern gelingen kann, ungleiche Bildungschancen in einem gewissen Maße zu kompensieren (vgl. Lipowski 2006, S. 48). Auch wenn Schüler/innen mit unterschiedlichen Begabungen in einer Klasse zusammenkommen und dementsprechend differente Lernvoraussetzungen für ihre Leistungsentwicklung mitbringen, liegt es an der Lehrkraft und am Unterricht, Schüler/innen dessen ungeachtet zu ‚begaben‘. Wenn nämlich von Begabung gesprochen wird, ist nicht nur die Anlage einer Person bzw. ihr Talent gemeint, die einer Person in die Wiege gelegt wird. Die individuellen Potenziale entwickeln sich vielmehr in Abhängigkeit von ihrer Umwelt. Lehr- und Lernprozesse befördern die Begabung, sie ‚begaben‘ das Individuum. Der Begabungsbegriff ist demnach dynamisch. Mit dem Wandel vom statischen zum dynamischen Begabungsbegriff verbindet man Heinrich Roth, der in der Bildungsreform der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts ein umfassendes Gutachten vorgelegte (vgl. Roth 1969). In der Publikation „Begabung und Lernen“ stellt er einen pädagogischen Begabungsbegriff ins Zentrum seiner Betrachtungsweise, der die Zusammenhänge von Begabung und Umwelt herausarbeitet. Lehrer/innen haben durch ihre Kompetenzen und ihr Wirken einen erheblichen Einfluss auf die Leistungsentwicklung von Schülerinnen und Schülern (vgl. Lipowski 2006, S. 64). „Auf den Lehrer kommt es an“, diese vielgepriesene Formel findet sicherlich weitreichende Zustimmung bei Lehrkräften, bei Schüler/innen, aber auch bei den Eltern. Auf die eigene Schulzeit zurückblickend, bleiben wohl nahezu jedem Schulabsolventen Lehrer/innen im Gedächtnis, die ein Interesse für das Fach wecken konnten, einen zum Lernen bewegten, die eigenen Gedanken inspirierten oder den Anschluss an ein längst verdrängtes Fach ermöglichten. Marianne K., 32 Jahre, Lehrerin „Biologie war nie meine Stärke, es langweilte mich, doch dann bekam ich Herrn R. als Lehrer. Er schaffte es, mich für die Zusammenhänge des Lebens zu interessieren. Das Lernen fiel mir zunehmend leichter und machte mir auf einmal wieder Spaß. Meine Noten verbesserten sich. Heute bin ich selbst Biologielehrerin und versuche die Faszination für die Zusammenhänge des Lebens an die Schüler/innen weiterzugeben.“ John Hattie, ein neuseeländischer Bildungsforscher, ging in seiner Metastudie „Visible Learning – Lernen sichtbar machen“ der Frage nach, welche Faktoren schulischen Lernerfolg beeinflussen. Hierzu sichtete er weltweit über 800 englischsprachige Studien zum Bildungserfolg in den zentralen Bereichen: Lernende, Schule, Elternhaus, Curriculum, Lehrperson und Unterricht (vgl. Kap. 2). In seiner Synthese kam er zu dem Schluss, was Schüler/innen lernen, bestimmt der
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
5.1 Hausaufgaben
241
einzelne Lehrer. Relevant hierfür seien allerdings weniger seine Persönlichkeitsmerkmale, vielmehr konkretisiert Hattie das Lehrerhandeln als wirkkräftiges Kriterium: „What teachers do matters“ bzw. noch präziser „what some teachers do matters“ (Hattie 2009, S. 22). Lehrerhandeln schließt eine kritische Reflexion des eigenen pädagogischen Tuns mit ein. Diese noch recht vage Aussage, lässt sich anhand von Beispielen konkretisieren. So macht Hattie in seinen Ausführungen deutlich, dass viele Lehrer/innen, die mangelnden Lernfortschritte ihrer Schüler/ innen mit Faulheit bzw. mit mangelnder Unterstützung aus dem Elternhaus erklären, anstatt zu hinterfragen, was sie selbst anders machen könnten. Hier lohnt es sich, genauer hinzusehen. Denn hinter vermeintlicher Faulheit können sich ganz unterschiedliche Ursachen verbergen, die pädagogische Konsequenzen erforderlich machen: Über- bzw. Unterforderung im Schulunterricht, Konflikte in der Klasse, mangelnde Arbeitshaltung, Schwierigkeiten im Elternhaus, um nur einige Begründungen zu benennen. Unbestritten behindern alle diese Vorkommnisse das Lernen, sie erfordern aber unterschiedliches Lehrerhandeln. Die Auswirkung eines Missstandes auf das schulische Verhalten ausschließlich zu beschreiben, greift sicherlich zu kurz und verhilft dem Schüler nicht zu einer verbesserten Arbeitshaltung. Ebenso verhält es sich mit mangelnder Unterstützung aus dem Elternhaus. Sind nicht gerade Kinder ohne entsprechende häusliche Unterstützung besonders auf die Lehrkraft und auf einen Unterricht angewiesen, durch welchen sie die fehlende Begleitung ausgleichen können? In diesem Spannungsfeld bewegen sich die Unterrichtsbemühungen: Einerseits haben Kinder durch ihre individuellen Voraussetzungen, ihre familiäre Mitgift, die mit unterschiedlichen vorschulischen Erfahrungen einhergehen, ungleiche Bildungschancen. Sie verhalten sich mehr oder weniger schulkonform. Andererseits können durch entsprechendes Lehrerhandeln Voraussetzungen für eine erstrebenswerte Zukunft geschaffen werden, indem der Unterricht Kindern das bietet, was ihnen außerschulisch verwehrt bleibt. 5.1.2 Hausaufgaben – ein pädagogisches Allheilmittel? Amelie M., 6 Jahre, Kindergartenkind kurz vor Schuleintritt „In der Schule lernt man lesen, schreiben und rechnen, nach der Schule machst du Hausaufgaben. Da musst du Blätter ausfüllen, rechnen oder in ein Heft schreiben. Das sind Aufgaben, die zuhause gemacht werden müssen. Die Eltern helfen dir aber dabei, wenn du es nicht alleine kannst.“ Am Ende ihrer Kindergartenzeit können Kinder in der Regel problemlos Unterschiede zwischen Kindergarten und Grundschule benennen, insbesondere dann, wenn ältere Geschwister Formen schulischen Handelns in der Familie sichtbar
242
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
machen. Mit dem Statuswechsel vom Kindergarten- zum Schulkind geht das Anfertigen von Hausaufgaben einher. Lesen, Schreiben, Rechnen will gelernt sein, denn schließlich ist ja noch kein Meister vom Himmel gefallen. Und bekanntlich macht ja gerade Übung den Meister. Lernen und Üben bedingen sich gegenseitig, das wussten Lehrkräfte schon immer: „Alle nacht sollen die kinder scripturas schreiben, iren latein den elttern anheim sagen. Vnd an dem morgen die schriefft in der schule weysen vnd ire latein wider aufsagen“ (Schulordnung 1464). 2
Abgesehen von den theologischen Vorstellungen, die die Schulordnung Preis gibt, interessieren hier insbesonders die Aussagen über die Aufgaben, die im häuslichen Umfeld erbracht werden mussten und dort gewissermaßen eine Fortführung des Unterrichts ohne den Lehrer darstellten. Wer eine Sprache lernt, weiß, wie wichtig Übungsphasen sind, um den Wortschatz auszuweiten bzw. zu verstetigen. Das gilt aber nicht nur für Fremdsprachen wie beispielsweise Latein, sondern vielmehr für alle ‚Sprachen‘, die den Kindern die Welt begreiflich machen. In der Reggio-Pädagogik, einer Konzeption für städtische Kindertageseinrichtungen in der italienischen Stadt Reggio nell‘Emilia, spricht man von 100 Sprachen eines Kindes. Bei diesen Sprachen sind aber keine Fremdsprachen gemeint. Es geht vielmehr um ‚Sprachen‘, „mit denen Kinder Wirklichkeit und Fantasie, ihre Träume und Wünsche nach Erkenntnis ebenso wie nach Zuneigung artikulieren“ (Knauf 2000, S. 186). Es geht um die Suche nach Weltverstehen, nach Mitteilung und Ausdruck von Gefühlen, nach individueller Unverwechselbarkeit und sozialer Zugehörigkeit (vgl. Knauf 2000, S. 186). Ohne Gelerntes zu festigen, bleiben Weltsicht und Können vage, das steht außer Frage. Häufig finden Übungsphasen in Form von Hausaufgaben außerunterrichtlich statt. Im heutigen Verständnis beschreiben Hausaufgaben „durch Aufgaben im Unterricht veranlasste, vom Lehrer nicht unmittelbar gelenkte Tätigkeiten, die außerhalb des Unterrichts erledigt (zumeist in der Wohnung des Schülers) und nach Möglichkeit im Unterricht überprüft werden. Sie sind insofern als Fortsetzung des Unterrichts ein wesentliches selbst organisiertes Element des Lernprozesses“ (Keck 2004, S. 194).
Von einer eng gefassten Hausaufgabendefinition können häusliche Lerntätigkeiten wie zusätzliches Lernen, Klassenarbeitsvorbereitungen etc. als ‚Arbeitszeit für die Schule‘ getrennt werden (vgl. Haag/Streber 2015, S. 87). Noch verwirrender wird es, wenn man sich die Terminologie in den einzelnen Bundesländern vor Augen führt. So spricht man von Hausaufgaben, gleichwohl auch von Schulaufgaben. Gemeint ist dasselbe, allerdings werden Hausaufgaben in der Schule
2 Auszug aus der Schulordnung der Lateinschule in Bayreuth von 1464 (Müller 1886, S. 82).
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
5.1 Hausaufgaben
243
erteilt – Schulaufgaben indes zu Hause für die Schule angefertigt, wobei man in Bayern unter Schulaufgaben Leistungskontrollen versteht, die in der Schule angefertigt werden (vgl. Haag/Streber 2015, S. 87). Dass schulisches Lernen vertieft, geübt, gefestigt, angewandt werden muss und einer Einbindung in die außerschulische Lebenswelt bedarf, ist unumstritten. Für den pädagogischen Diskurs werfen Hausaufgaben allerdings Fragen auf. Betrachtet man die Funktionen von Hausaufgaben, lassen sich zweierlei Aufgabenbereiche ausmachen: 1. Die didaktisch-methodische Funktion: Abschluss, Vertiefung bzw. Fortführung von schulischen Lernprozessen. Anwendung und Übung von Erlerntem, individuelle Auseinandersetzung mit Gelerntem und Vorbereitung neuer Inhalte. 2. Die erzieherische Funktion: Befähigung zur Selbständigkeit und Entwicklung einer lernförderlichen Haltung sowie Einübung der Bereitschaft, das Können in sozialen Zusammenhängen anderen zur Verfügung zu stellen. Unterstützt von der Forschung kristallisieren sich im Umgang mit Hausaufgaben neuralgische Punkte heraus, die beide Funktionen betreffen. Jutta Standop (2013) betrachtet Aspekte, die sich auf die didaktisch-methodische Funktion beziehen. Sie vergleicht die institutionellen und rechtlichen Rahmenvorgaben von Hausaufgaben der Bundesländer in Deutschland und stellt fest, dass länderübergreifend die Festigung schulischer Inhalte und die Fortsetzung der Lernprozesse als zentrale Ziele benannt werden (vgl. Standop 2013, S. 41). Hausaufgaben sollen dabei inhaltlich, didaktisch-methodisch an den Unterricht anschließen und darauf zielen, diesen vor- bzw. nachzubereiten (vgl. Standop 2013, S. 11). Diese Angaben decken sich weitgehend mit Aussagen von Lehrkräften. In einer von ihr durchgeführten empirischen Studie wurden im Jahr 2009 Grundschullehrer/ innen, Eltern und Schüler/innen an 17 Grundschulen mit offenem Ganztagsangebot in Nordrhein-Westfalen zu Hausaufgaben befragt. 94 Prozent der befragten Grundschullehrkräfte sehen im Wiederholen und Vertiefen des Unterrichts eine zentrale Aufgabe von Hausaufgaben. 89 Prozent stellen fest, dass Hausaufgaben die Lerninhalte ihres Unterrichts ergänzen (vgl. Standop 2013, S. 132). Strittig bleibt aber, inwiefern Hausaufgaben tatsächlich didaktisch-methodisch in den Unterricht eingebunden sind und dessen Vor- bzw. Nachbereitung bewirken können. Wem kann diese Form der Fortführung des Unterrichts gerecht werden? Kinder einer Schulklasse sind trotz der Jahrgangsklasse sehr unterschiedlich. Sie unterscheiden sich in vielfältiger Weise: Alter, Geschlecht, soziale, regionale, kulturelle Herkunft, hinsichtlich ihrer geistigen und körperlichen Konstitution. Ebenso variieren die Familiensprachen, nicht nur bei Kindern mit Migrationshintergrund. Auch das Sprachniveau deutschsprachiger Familien variiert immens. Die kindlichen Lernvoraussetzungen differieren somit stark. Eine Vor- bzw. Nachbereitung des Unterrichts, die in das Elternhaus verlagert wird, bringt dementsprechende Probleme mit sich, denn in der Regel werden ein und dieselben Hausaufgaben für alle Kinder erteilt. Hausaufgaben stellen dergestalt
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
244
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
gleichwohl eine Über- als auch eine Unterforderung für einen Teil der Schüler/ innen dar, weil sie die unterschiedlichen Lernausgangslagen nicht berücksichtigen (vgl. Keck 2004, S. 195). Diesen unterschiedlichen Dispositionen versucht man in Unterrichtskonzeptionen durch innere Differenzierung gerecht zu werden (vgl. Kap. 2). Umso erstaunlicher ist es, dass Aufgaben, die ohne die kompensatorische Begleitung der Lehrkraft, außerhalb der Schule zu bewerkstelligen sind, dessen ungeachtet im Gleichklang eingefordert werden. Um die unterschiedlichen Lernausgangslagen zu berücksichtigen, müssten Hausaufgaben so gestellt werden, dass alle Schüler/innen diese ohne häusliche Begleitung bewältigen können. Forschungen zur Wirksamkeit von Hausaufgaben bestätigen ihre didaktischen und strukturellen Mängel. Ältere Untersuchungen fokussieren überwiegend auf didaktische Fragestellungen und betrachten den Lerneffekt von Hausaufgaben, jüngere Untersuchungen setzen überwiegend am Leistungszuwachs an (vgl. Standop 2013, S. 82). Karlheinz Ingenkamp (1989) zeigte bereits Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts den Zusammenhang beider Forschungsrichtungen auf, denn nur Hausaufgaben, die einen Lerneffekt erzielen, führen schließlich auch zu Leistungszuwachs. Zu klären bleibt, wie die hohen Erwartungen in der Praxis tatsächlich erfüllt werden können. Denn die Forschungslage zeichnet hinsichtlich der Wirksamkeit von Hausaufgaben kein einheitliches Bild. Die Frage, ob Hausaufgaben lernwirksam sind, lässt sich nicht abschließend beantworten. Das ist nicht gerade verwunderlich, hängt die Wirksamkeit der Hausaufgaben doch ganz entscheidend davon ab, wie diese gestellt werden und wie Schüler/innen die Aufgaben angehen und bewältigen können. Die Wirksamkeit hängt demnach von der Aufgabenqualität ab (vgl. Lipowski 2007) und diese unterscheidet sich gravierend in den schulischen Praktiken. Es ist also unabdingbar, das Forschungsinteresse auf die Aufgabenqualität zu verlagern. Relevant in diesem Kontext wird die Frage: Wie kann die Aufgabenqualität so verändert werden, dass Schüler/innen mit unterschiedlichen Lernausgangslagen ihre Leistungen weiterentwickeln können? Sowohl die didaktisch-methodische Funktion als auch die erzieherische Funktion von Hausaufgaben bedarf hinsichtlich ihrer Zielsetzungen einer deutlichen Nachbesserung. 5.1.3 Hausaufgaben – eine erneute Quelle sozialer Ungleichheit? Hausaufgaben gleichen einem Scharnier, es verbindet das Lernen im Unterricht mit dem Elternhaus. Der Familie wird dabei die Verantwortung für die gewissenhafte Erledigung schulischer Aufgaben übertragen. Maria Fölling-Albers und Friederike Heinzel sprechen in diesem Kontext von der schulbestimmten Zeit in der Familie (vgl. Fölling-Albers/Heinzel 2007, S. 313) und diese ist beachtlich. Die Angaben, welche Zeit für die Hausaufgabenerledigung anberaumt wird, schwanken in den Schulgesetzen. Aber selbst bei übereinstimmenden Zeitfenstern, wie beispielsweise in Bayern und Sachsen-Anhalt, die die Hausaufgabenzeit
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
5.1 Hausaufgaben
245
mit einer Stunde angeben, bleibt zu hinterfragen, für wen die Zeitangabe zutreffend sein soll bzw. welche Auswirkungen diese Angaben im Hinblick auf die unterschiedliche Schülerschaft bedeutet. Dürfen Schüler/innen, die in dieser Zeit die Aufgaben nicht bewältigen können, dann den Stift aus der Hand legen und ihrer Freizeit nachgehen, weil sie ihr zeitliches Pensum erfüllt haben? Fehlen ihnen dann wichtige Erkenntnisse, um dem weiteren Unterricht zu folgen? Die schulbestimmte Zeit betrifft alle Familien, die Ausgestaltung und die Kontrolle über zu Hause erbrachte Leistungen variiert von Familie zu Familie allerdings erheblich. Wie Schule und Eltern ihrer Erziehungsaufgabe nachkommen (sollten), findet in gesellschaftlichen Diskussionen unterschiedlicher Disziplinen seinen Niederschlag. Edeltraud Röbe beschreibt die Hausaufgabe als Kristallisationspunkt der Beziehung von Elternhaus und Schule: „In der Hausaufgabe begegnen sich Familie und Schule. Sie hebt gleichsam den vor mehr als 300 Jahren einsetzenden Prozess der Familialisierung und Scolarisation ins Bewusstsein. In diesem hat sich die Familie zunehmend zu einem Raum der Privatheit, Intimität und Emotionalität entwickelt. Die Schule dagegen ist zum gesellschaftlichen Ort für professionell begleitete Entwicklungs- und Aneignungsprozesse der nachwachsenden Generation geworden“ (Röbe 2008, S. 120).
Wie die Begegnung von Schule und Familie aussieht, unterscheidet sich immens. Für manche Familien kommt diese Begegnung einem freudigen Ereignis gleich, das beruhigend wirkt, einem schmeichelt und im eigenen familiären Tun bestätigt. Andere Familien wollen schulische Begegnungen am liebsten vermeiden. Das Grundphänomen, die Berührungspunkte schulischer Belange mit dem Elternhaus, ist keinesfalls neu. Die Selbstverständlichkeit einer inhaltlichen Nachbereitung im häuslichen Umfeld findet sich bereits in der Bayreuther Schulordnung, denn die Kinder sollten ihre Sprach- und Leseübungen in Gegenwart der Eltern vornehmen – „den elttern anheim sagen“. Die häusliche Unterstützung war also bereits im 15. Jahrhundert gefragt, die sicherlich neben einem korrektiven Ohr hin und wieder auch eine deutliche appellative Sprachbotschaft benötigte. Hierin scheint sich bis heute nicht viel verändert zu haben – oder vielleicht doch? Vergleichen wir die Schulbildung damals und heute wird rasch klar, dass Bildung für alle Kinder im 15. Jahrhundert noch kein Thema war. Auf Johann Amos Comenius (1592-1670) große Didaktik,3 mit seiner Forderung allen Menschen alles rasch, zuverlässig und gründlich zu lehren (vgl. Comenius 1659, S. 3), mussten die niedrigen Stände noch fast zwei Jahrhunderte warten. Bildung war überwiegend für Geistliche und später für den Adel und das Bürgertum vorgesehen. Mit der Grundschule als Schule für alle Kinder stieg ab 1920 somit nicht nur die Heterogenität der kindlichen Lernausgangslagen, sondern natürlich auch die 3 Comenius Didactica magna wurde erstmals 1657 veröfentlicht.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
246
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
Heterogenität der Elternschaft, deren Lernbegleitungskompetenz dessen ungeachtet, gleichermaßen eingefordert wird. So kann der elterliche Beitrag, die Kinder in ihren Bildungsprozessen durch gezielte Unterrichtsvor- bzw. -nachbereitung zu unterstützen, je nach Elternhaus ganz unterschiedlich ausfallen. Von Akademikerfamilien bis zu ‚bildungsfernen‘ Familien wird diese oft stillschweigend vorausgesetzt, ohne dass Schulen die Auswirkungen ungleicher elterlicher Unterstützung konsequent hinterfragen. Wird Kindern keine elterliche Unterstützung zuteil, interpretieren das Lehrer/innen gern als mangelndes Interesse (vgl. Sacher 2014). Hierbei ist das Risiko nicht von der Hand zu weisen, dass die Institution Schule durch diese Form der Vor- und Nachbereitung, Bildungsungleichheit weniger kompensiert als vielmehr reproduziert. Der Erklärungsansatz für Bildungsungleichheit von Pierre Bourdieu wird in diesem Kontext besonders augenfällig. Bourdieus Kapital-Theorie folgend (1983, S. 183ff.), stehen Familien unterschiedliche materielle, soziale und kulturelle Ressourcen zur Verfügung. In Bezug auf die häusliche Unterstützung und somit für Hausaufgabenpraktiken werden alle drei Kapitalsorten relevant. Exkurs: Die feinen Unterschiede bleiben! 1. Das ökonomische Kapital versteht Bourdieu als Kapital, das direkt in Geld konvertierbar ist: der Besitz, das Eigentum. Kinder großzuziehen kostet Geld. Der Soziologe Martin Werding errechnete, dass ein Kind von der Geburt bis zum 18. Lebensjahr im Durchschnitt ca. 284 400 Euro „kostet“, wovon über die Hälfte der Kosten von den Familien getragen werden (vgl. Werding 2005, S.35).4 Dass sich die materielle Lage auf Bildung auswirkt, ist hinlänglich bekannt. Bildungsreisen, zusätzliche Bildungsangebote, Nachhilfeinstitutionen, Bücher, Lernmaterialien verschlingen einiges an finanziellen Mitteln. Mit wesentlich schlechteren Voraussetzungen starten Kinder aus sozial schwachen Familien und das betrifft in Deutschland viele Familien: 21% aller Kinder leben in Armut (vgl. Dräger 2017). 2. Das kulturelle Kapital wird in drei Teilbereiche differenziert: • Objektiviertes kulturelles Kapital, hierzu zählen u.a. Bücher, Schriften, Maschinen, Gemälde. Im Kontext von Hausaufgaben stellt das objektivierte Kapital somit die Basis für die Bearbeitung von Hausaufgaben dar. Bei Unklarheiten stehen Nachschlagewerke, für Rechercheaufträge digitale Medien zur Verfügung, Anschauungsmaterialien können mit in den Unterricht eingebracht werden, bei Buchvorstellungen schöpfen Kinder aus einem reichhaltigen Fundus. Das objektivierte kulturelle Kapital bildet im günstigen Fall eine solide Grundlage für die Anfertigung von Hausaufgaben. 4 Aktuellere Rechnungen gehen von einem Betrag von 340 000 Euro aus, wenn man die Teuerungsrate mitberücksichtigt (vgl. Kurz 2012).
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
5.1 Hausaufgaben
247
• Inkorporiertes kulturelles Kapital, ist zu verstehen als verinnerlichtes kulturelles Kapital im Sinne von Bildung. Hierzu kann beispielsweise das Auftreten einer Person, ihr Habitus, ihre kognitive Kompetenz gewertet werden. Allein die Präsenz oben benannter Medien bringt noch keinen Vorteil, hierzu wird eine adäquate ‚Handhabung‘ erforderlich. Die Digitalisierung hat längst in nahezu alle sozialen Bereiche des Kinderzimmers Einzug gehalten. Mit einer bildungsförderlichen Handhabung geht diese aber nicht gleichermaßen einher. Wie können Medien zur Recherche genutzt werden? Was sind hilfreiche Seiten für Rechercheaufträge? Wie können Unklarheiten angegangen werden? Auch die Sprache gehört zum inkorporierten kulturellen Kapital, wobei hier nicht nur die deutsche Sprachkompetenz gemeint ist, vielmehr der Gebrauch einer Bildungssprache und diese ist gerade an den Schnittstellen und Übergängen ausschlaggebend. • Institutionalisiertes kulturelles Kapital, zeigt sich beispielsweise in Form von Zeugnissen. Sie dienen zur Umwandlung von kulturellem Kapital in ökonomisches. Ob mit oder ohne einer verbindlichen Schulempfehlung, Zeugnisse sind für die weiterführenden Schulen und für gesellschaftliche Positionen relevant. 3. Schließlich versteht Bourdieu unter dem sozialen Kapital mehr oder weniger institutionalisierte Beziehungen. Hierzu gehört auch das tragfähige Netz, das Familien für Schulbelange zur Verfügung steht: Auf welche ‚Hilfslehrer/in‘ kann die Familie zurückgreifen? Wer kann bei welchen Schwierigkeiten weiterhelfen und dadurch den institutionellen Werdegang der Schülerin/des Schülers unterstützen? Wo können Praktika absolviert werden? Wo kann der Berufseinstieg durch Beziehungen erleichtert werden? Die Ausgangslage für elterliche Unterstützung differiert hinsichtlich ihrer materiellen, kulturellen und sozialen Ressourcen gewaltig. Diese Erkenntnis ist keinesfalls neu. Bereits in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde der Zusammenhang zwischen Armut und Bildung von Uri Bronfenbrenner (1974), einem amerikanischen Entwicklungspsychologen, benannt: Armut führt zu geringerer Schulbildung und diese wiederum zu Armut. In diesem Kontext wurde die Hausaufgabenthematik verstärkt als Forschungsgegenstand interessant (vgl. z.B. Wittmann 1972, Kamm/Müller 1977, Eigler/Krumm 1972). Das hohe Interesse an Hausaufgaben, hinsichtlich ihrer Wirkung auf soziale Ungleichheit, verwundert nicht, denn die Bildungsreform in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts zielte mit der Neuordnung des Bildungssystems deutlich auf Chancengleichheit von Bildung. In der Präambel des Strukturplans findet sich hierzu: „Das Recht auf schulische Bildung ist dann verwirklicht, wenn Gleichheit der Bildungschancen besteht und jeder Heranwachsende so weit gefördert wird, daß er die Voraussetzungen besitzt, die Chancen tatsächlich wahrzunehmen. Der Strukturplan will
248
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
deshalb darauf hinwirken, daß bestehende Ungleichheiten der Bildungschancen so weit wie möglich abgebaut werden. […] Die Chancengleichheit soll nicht durch eine Nivellierung der Anforderungen angestrebt werden. Die Aufgabe ist vielmehr, frühzeitig die Chancenunterschiede der Kinder auszugleichen und später das Bildungsangebot so zu differenzieren, daß die Lernenden ihren Lerninteressen und Lernmöglichkeiten entsprechend gefördert werden und entsprechende Angebote weiterführender Bildung antreffen“ (Deutscher Bildungsrat 1971, S.30).
Die einführenden Gedanken des Strukturplans machen deutlich, welche hohe Aktualität die Forderung nach Bildungsgerechtigkeit auch heute noch aufweist. Im engen Zusammenhang hierzu stehen ebenfalls die erzieherischen Funktionen von Hausaufgaben, die gleichwohl nicht halten, was sie bewirken möchten. Erzieherische Ziele verfolgen insbesondere die Selbstständigkeit der Schüler/ innen beim Lernen. Auch wenn Hausaufgaben auf Selbstständigkeit zielen, so ist zumindest für den Grundschulbereich offensichtlich, dass ein Großteil der Hausaufgaben nicht ohne elterliche Hilfe angefertigt wird bzw. werden kann (vgl. Fölling-Albers/Heinzel 2007, S. 105). Die Elternmitwirkung reicht von der Bereitstellung von Informationen über eigenständige Erklärungsansätze bis hin zu zusätzlichen Aufgaben, in Form von ‚Privatunterricht‘, der von 20 Prozent der Elternschaft geleistet wird (vgl. Roßbach 1995, S. 105). Bemerkenswert ist auch die Unterstützung, die über finanzierte Nachhilfe eingeholt wird. Mit 14,1 Prozent liegt der Anteil in Deutschland im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hoch (vgl. Wolf 2008, S. 184)5. Die unterschiedliche familiäre pädagogische Mitgift wird für die Entwicklung einer Bildungsbiografie allerdings nur selten als ungerecht oder gar als diskriminierend bewertet. Mangelnde elterliche Unterstützung wird mitunter sogar als Begründung für eine schlechtere Bildungsempfehlung herangezogen. Insofern sind Schüler/innen mit ungünstigen sozialen Ausgangslagen doppelt benachteiligt. Argumentiert wird dann von schulischer Seite, dass die Kinder zwar gute Leistungen aufweisen, sie diese aber in den weiterführenden Schulen, aufgrund fehlender häuslicher Unterstützungssysteme nicht halten können (vgl. Geißler 2006, S. 44). Tatsächlich ist der Zusammenhang zwischen häuslicher Unterstützung und Bildungserfolg längst belegt. Der Einfluss der Familie auf den Lernerfolg wird als doppelt so stark eingeschätzt wie der von Schule, Lehrkräften und Unterricht (vgl. Sacher 2006). Die PISAErgebnisse zeigen seit 2000 einen signifikanten Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Insofern ist nicht von der Hand zu weisen, dass eine unreflektierte Hausaufgabenpraxis Bildungsbenachteiligungen weiter verschärft.
5
Im Jahr 2016 beträgt das Ausgabevolumen für Nachhilfe 879 Mio. €; davon entfallen ca. 360 Mio. auf Nachhilfeinstitutionen und ca. 640 Mio. auf den Schwarzmarkt (vgl. www.bertelsmannstiftung.de/de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung/pid/eltern-geben-jaehrlich-fast900-millionen-euro-fuer-nachhilfe-aus/
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
5.1 Hausaufgaben
249
Unterrichtsvor- bzw. -nachbereitung im häuslichen Umfeld muss die differente Unterstützungskompetenz von Familien berücksichtigen, insbesondere dann, wenn Schüler/innen die Aufgaben nicht selbstständig erledigen können und über ungleiche ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen verfügen. Sonst laufen Hausaufgaben Gefahr, soziale Ungleichheit unreflektiert zu reproduzieren. Der Umgang mit Hausaufgaben muss vor diesem Hintergrund prinzipiell kritisch reflektiert und hinterfragt werden. Kritische Fragen zur Hausaufgabenpraxis • Ist die Hausaufgabe sinnvoll? Dient sie der Vor- bzw. Nachbereitung des Unterrichts? • Zu welchem Zeitpunkt werden die Hausaufgaben gestellt? Zu Beginn, während oder am Ende einer Unterrichtseinheit? • Ist die eigentliche Aufgabe klar und eindeutig formuliert? Verstehen alle Schüler/innen, was sie tun müssen? Gibt es Beispiele für leistungsschwächere Schüler/innen? Auf welche Hilfestellungen können Leistungsschwächere zurückgreifen? • Erhalten Schüler/innen Hilfe, wenn sie die Aufgaben nicht verstehen? • Wie wird sichergestellt, dass Schüler/innen die Hausaufgaben notiert haben? Haben alle ausreichend Zeit, diese zu notieren? Gibt es ein Hausaufgabenheft? • Können alle Schüler/innen dieselbe Hausaufgabe bewerkstelligen oder muss die Aufgabe differenziert ausgebracht werden? Gibt es Spielräume in der Aufgabenstellung für eigene Ideen und Lösungen? • Werden Hausaufgaben in der Folgestunde ausreichend gewürdigt? Bedarf es individueller Rückmeldungen? Werden Hausaufgaben kontrolliert? • Hausaufgaben geben Rückmeldung über den individuellen Leistungsstand. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für den Unterrichtsalltag? • Welche Konsequenzen zeitigen nicht gemachten Hausaufgaben?
Arbeitsaufgaben Als Hausaufgabe sollen Kinder der Klasse 2 eine Buchbesprechung vorbereiten und ein Buch der Klasse präsentieren. 1. Diskutieren Sie in der Gruppe die Auswirkungen unterschiedlicher Kapitalsorten im Sinne Bourdieus für diese Hausaufgabe. 2. Welche Maßnahmen können Sie treffen, damit alle Kinder einer Klasse die Hausaufgabe gut bewältigen können? Diskutieren Sie Schwierigkeiten, die es zu überbrücken gilt.
250
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
5.1.4 Die ‚Rabenmutter-Metapher‘ reloaded Abgesehen von der ungleichen Unterstützung, die Kinder im häuslichen Umfeld erfahren, birgt die Erledigung der Hausaufgaben ein hohes Maß an Konfliktpotenzial. Häufige Streitfragen sind beispielsweise, wann Hausaufgaben angefertigt werden sollen, in welcher Form sie zu erledigen sind, wie vertieft die Aufgaben angegangen werden sollen, die Darstellung des Erarbeiteten, aber auch inhaltliche Aspekte können zu Konflikten führen. Insbesondere Mütter nehmen sich der häuslichen Unterstützung bei den Hausaufgaben an und unterliegen damit in der Regel einer Doppelbelastung. Bereits in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts vertrat Uta Enders-Dragässer (1981) in ihrer Studie die These, dass Mütter durch die Hausaufgaben zur Hausarbeit sozialisiert werden. Enders-Dragässer spricht von einer paradoxen Situation, in der Mütter im Umgang mit Schule stehen, denn die Mutter „ist unsichtbar Erziehungsexpertin und sichtbar Laienerzieherin, sie ist unsichtbar öffentliche Schularbeiterin und sichtbar ‚Privatperson‘ Mutter, sie ist ein weibliches Individuum und wird dennoch als Eltern depersonalisiert und entkörpert. Als angebliche ‚Laienhelferin‘ wird von ihr als ‚Hilfslehrerin‘ unbezahlte qualifizierte Aufsichts-, Beziehungs- und Unterrichts-Arbeit verlangt, für die sie wie eine Expertin die Verantwortung zu tragen hat. Aber sie darf sich weder als Expertin erfahren noch einbringen“ (Enders-Dragässer 1981, S. 179).
Die Erledigung der Hausaufgaben ist auch heute ein zentrales Familienthema. Das Familienleben jedoch unterlag seit den 80er Jahren des 20. Jahrhundert gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen. Trotz pluralisierter Lebensformen in der Familie, veränderter Erwerbstätigkeit, vor allen Dingen bei den Müttern, fast 60% sind erwerbstätig (vgl. Krack-Rohberg/Rübenach/Sommer/Weinmann 2016, S. 55), veränderter Kinderbetreuungsgesetze, sehen sich dennoch insbesondere Mütter für die Erledigung der Hausaufgaben zuständig. Auch Väter nehmen sich heute den Hausaufgaben an. Bei Pflichtverletzung werden aber insbesondere Mütter heute nahezu unverändert mit Vorwürfen konfrontiert. Vorwürfe, die bereits vor 100 Jahren, am traditionellen bürgerlichen Familienidyll orientiert, auf die natürliche Bestimmung der Mutter rekurrierend, die Metapher der Rabenmutter hervorbrachte. Bis heute verfehlt dieses Bild seine Wirkung nicht: Mütter nehmen sich den Hausaufgaben an, schließlich sollen die Kinder ja nicht unter ihrer Berufstätigkeit leiden. Hausaufgaben sind in Familien ein emotionsbeladenes Thema. Nicht nur ein Arbeitstag ist anstrengend, auch ein Schultag bringt viele Herausforderungen mit sich, die nicht zu unterschätzen sind. Gehen die Hausaufgaben nicht leicht von der Hand, entstehen Konflikte, die in die Familien hineingetragen werden. Für Hans-Peter Vogeler, ehemaliger Vorsitzender des Bundeselternrates, sind Hausaufgaben „Hausfriedensbruch“ (vgl. Himmelrath 2015). Er verweist auf die zahlreichen Streitigkeiten, die durch Hausaufgaben in Familien entstehen und diese schädigen. Viele Unstimmigkeiten sind durch transparente Kommunikationsstrukturen in der Bildungs- und Erziehungs-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
5.1 Hausaufgaben
251
partnerschaft von Schule und Eltern abzufedern. Einige Schulen versuchen durch die verbindliche Einführung von ‚erweiterten‘ Hausaufgabenheften, den Eltern Einblicke in die schulische Arbeit der Tochter/des Sohnes zu gewährleisten. In den sogenannten Aufgabenheften, Mitteilungsheften, Schulplanern, Schulkalendern etc. ist neben dem Hausaufgabenvermerk ein Informationsaustausch zwischen Schule und Elternhaus vorgesehen. In der Regel geschieht dieser dadurch, dass die Lehrkraft Rückmeldungen zu ausgewählten Schüler/innenleistungen gibt, möglicherweise ergänzt durch die eigene Einschätzung der Schülerin/des Schülers. Hausaufgabenhefte sind besonders bei Fragen hilfreich, die sich konkret auf die Aufgabenbewältigung bzw. den Lernstand beziehen: Welche Aufgaben sind zu erledigen? Bis wann müssen die Aufgaben erledigt sein? Woran arbeitet der/ die Schüler/in aktuell? Wo sollte er/sie sich vertiefen? Wird gezielte Hilfe benötigt? Konflikte ergeben sich aber auch dann, wenn sich Eltern zu sehr in die Hausaufgaben einmischen und Kinder dadurch eher behindern, als unterstützen. Bei überzogenen Leistungsvorstellungen der Eltern können Kinder/Jugendliche durch zusätzliche übertriebene Förderung überfordert werden. Hausaufgabenhefte können dann rigide Aufsicht und Kontrolle durch die Eltern begünstigen. Studien bestätigen, dass diese direktiven Formen des Elternengagements zu Verunsicherungen insbesondere schwacher Schüler/innen führen können, die dann zu einer weiteren negativen Leistungsentwicklung führen (vgl. z.B. Lipowski 2004, S. 44). 5.1.5 Hausaufgaben – Kompensationsmöglichkeit schulischen Zeitmangels? Schließlich bleibt zu hinterfragen, wie ökonomisch Hausaufgaben sind. Machen diese doch nur Sinn, wenn sie von der Lehrkraft begutachtet und pädagogische Konsequenzen erkannt werden. Hierfür benötigt man aber durchaus sehr viel Zeit, die dann wieder von der eigentlichen Unterrichtszeit abgeht. Empirische Studien zur Unterrichtsqualität zeigen die Relevanz der echten Lernzeit, die für gute Schülerleistungen ausschlaggebend ist. Es macht also wenig Sinn, Lernzeiten nach Hause auszulagern, um Unterrichtszeit ‚einzusparen‘, wenn diese dann wieder für die Kontrolle der ausgelagerten Aufgaben benötigt wird. Um den Kreislauf zu durchbrechen, müssen Hausaufgaben didaktisch und methodisch in eine veränderte Lernkultur eingebettet werden, die deren Bearbeitung und Begutachtung konsequent mitberücksichtigt. Hausaufgaben sind eine gute Möglichkeit festzustellen, wo Schüler/innen Stärken und Schwächen aufweisen und gegebenenfalls eine Unterstützung benötigen. Dergestalt lassen Hausaufgaben konkrete Rückschlüsse auf die Leistungsentwicklung zu und können für individuelle Entwicklungsaufgaben genutzt werden. Es kann über Hausaufgaben ein Feedback zum individuellen Leistungsstand gegeben werden, das konkrete Schritte zur Verbesserung der Leistung zum Ziel hat. Hierzu müssten Lehrende aber ihren Umgang mit Hausaufgaben verändern. Von Interesse sollte nicht nur die Kontrolle über das Anfer-
252
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
tigen von Hausaufgaben sein, sondern vielmehr muss die Bewältigung der Aufgaben bzw. die Qualität des Erarbeiteten im Fokus stehen. Der Umgang mit Hausaufgaben bedarf somit einer Planung und festen Verortung im Schulalltag. Formen der Hausaufgabenbeachtung und -rückmeldung: • Hausaufgaben einsammeln und außerhalb des Unterrichts kontrollieren und kommentieren • ausgewählte Hefte einsammeln und Rückmeldungen geben • Fragen im Unterricht stellen und ein Unterrichtsgespräch führen, das die Hausaufgaben einbezieht • einzelne Schüler/innen das Erarbeitete vortragen lassen • Schüler/innen sich gegenseitig in der Kleingruppe austauschen lassen • Selbstkontrollen mit Unterstützungsangeboten anbieten • Hausaufgaben im Unterricht in Lerndialoge einbinden, während Schüler/ innen anderen Aufgaben nachkommen, u.Ä. Doch Hausaufgaben bringen nicht nur Lehrer/innen in Zeitnot. Im Zuge der Umstrukturierung zur Ganztagsschule wird die Frage relevant, wie Ganztagsschulen mit der Hausaufgabenpraxis umgehen. Müssen zum Ganztagsbetrieb zusätzliche Aufgaben extern, also zu Hause erbracht werden, bringt das Schüler/ innen in Zeitnot. Denn, endet der Unterricht erst am Nachmittag, benötigen die Schüler/innen auch einen Ausgleich, sich mit Freunden zu treffen und ihren Freizeitbeschäftigungen nachzugehen. Oder gelingt es Ganztagsschulen auf Hausaufgaben zu verzichten? Die Entwicklung zur Ganztagsschule verlagert die Anfertigung der Hausaufgaben von der Familie zurück in die Schule. Die Aufgaben können dann additiv, durch zusätzliche Unterrichts- und Lernzeiten, oder integriert, wenn Unterricht und Lernzeit in den Schultag eingegliedert sind, erledigt werden. Ganztagsschulen setzen zunehmend auf individuelle Lern- und Betreuungszeiten, die traditionelle Hausaufgaben ersetzen sollen (vgl. Lüke 2013). Britta Kohler betont, Lernzeiten können die Funktionen von Hausaufgaben ersetzen: „Zu nennen wären hier dann einerseits Übung, Festigung und Vertiefung, also Funktionen, die mit traditionellen Hausaufgaben in Verbindung gebracht werden, aber auch individuelle Unterstützung und Förderung sowie die Ermöglichung eines interessanten Lernens“ (Kohler in Lüke, 2013, S. 2).
Interessanterweise hat die Verlagerung zwar tatsächlich ausgleichende Wirkung, denn die Leistungsunterschiede in der Ganztagsschule werden geringer. Andreas Wiere betrachtet die Wirksamkeit von Ganztagsschulen und macht deutlich, dass sich die Leistungsunterschiede dort verringern, sich dabei aber das Leistungsniveau
5.1 Hausaufgaben
253
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
senkt (vgl. Wiere 2011). Erklärt wird diese Tatsache durch den Wegfall häuslicher Unterstützungssysteme, denn durch die Hausaufgabenbetreuung am Nachmittag sind die Schüler/innen nicht mehr schwerpunktmäßig auf die Hilfe der Eltern angewiesen. Andererseits wird die Hausaufgabenbetreuung an vielen Ganztagsschulen nicht von Lehrpersonen beaufsichtigt. Inwiefern auftretende Schwierigkeiten sachgerecht und pädagogisch verhandelt werden, bleibt somit fraglich. Dagmar, 45 Jahre, Mutter eines Sohnes am Gymnasium „Als mein Sohn am Ganztagsgymnasium einen Platz bekam, freuten wir uns zunächst riesig über die Aussicht, dass alles Schulische auch dort erledigt werden sollte und es extra Hausaufgabenzeiten mit Betreuung dafür gab. Dann mussten wir den Antrag für die AG-Wahl, darunter auch die ‚Hausaufgaben-AGWahl‘, ausfüllen. Das wollte gut überlegt sein, denn es gibt an dieser Schule zweierlei Optionen: Entweder eine Hausaufgabenbetreuung in der großen Gruppe – das heißt, die Kinder machen die Hausaufgaben allein und werden lediglich beaufsichtigt – oder die „bessere“ Variante, die allerdings extra zu bezahlen ist. Für 50 Euro kann das Kind in der Kleingruppe von einem Studenten/einer Studentin begleitet die Hausaufgaben erledigen. Es gibt die Möglichkeit, individuell nachzufragen und Hilfe zu bekommen. Das haben wir dann natürlich gemacht, auch wenn wir diese Unterscheidung irritierend finden.“ Strukturelle Probleme ergeben sich auch bei der offenen Ganztagsschule, da sie eine konsequente Einbettung der Hausaufgaben in den Schulalltag erschwert. Eine generelle Neuausrichtung der Hausaufgabenthematik ist durch die Ganztagsschule mit additiven Angeboten nicht möglich, vielmehr verschärfen sich Probleme, wenn nicht fertiggestellte Hausaufgaben dann nach dem Ganztagsbetrieb wieder in der Familie bearbeitet werden müssen (vgl. Deckert-Peaceman 2007, S. 18). Hausaufgaben werfen vielfältige Fragen auf. Obwohl sich die Forschung erneut der Thematik annimmt und vielfältige relevante Forschungsergebnisse hervorbringt, finden diese jedoch nicht hinreichend Niederschlag in den Hausaufgabenpraktiken. Das liegt mitunter daran, dass sich die Thematik kaum in der Lehrerbildung wiederfindet (vgl. Standop 2013, S. 319). Für eine wirksame und gerechte Vorgehensweise müssen sich Lehrer/innen bei der Erteilung der Hausaufgaben über die verfolgten Ziele und die didaktische Aufbereitung im Klaren sein. Besondere Beachtung verdient hierbei ganz zentral die Aufgabenstellung der Hausaufgaben – angemessene Aufgaben zu formulieren, bleibt ein hehres Ziel. Auch das Pensum der Aufgaben muss bedacht werden und hierbei zeigt sich deutlich, viel muss nicht viel helfen. In diesem Sinne hat die Schule sicherlich noch einiges selbst an Hausaufgaben zu erledigen, damit der theoretische Entwurf in der Praxis den erwünschten Erfolg zeitigt.
254
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Arbeitsaufgaben Diskutieren Sie in der Gruppe: 1. Welche Hausaufgaben machen Sinn? 2. Welche Gründe können zu einer nicht gemachten Hausaufgabe führen? 3. Welche Maßnahmen erachten Sie als pädagogisch verantwortbar im Umgang mit nicht erledigten Hausaufgaben? 4. Es gibt Schulen, die auf Hausaufgaben verzichten. Begründen Sie, wie alternative Lernzeiten von Schulen gesichert werden.
5.2 Sich verändernde Medien – ein pädagogischer ‚Dauerbrenner‘ Laura K., 21 Jahre, 2. Semester „Digitale Medien in der Grundschule würde ich weitgehend vermeiden, damit werden die Kinder doch noch früh genug konfrontiert, da muss die Grundschule nicht auch noch mitmischen. Zuerst sollen die Kinder einmal ihre eigenen Erfahrungen machen können, bevor sie alles vorgefertigt dargeboten bekommen.“ Kaum eine Thematik polarisiert so stark wie die Frage, welchen Stellenwert digitale Medien in der Schule einnehmen sollen. Ein Leben ohne moderne Kommunikationsformen ist für den weitaus größten Teil unserer Gesellschaft unvorstellbar. Digitale Medien sind omnipräsent und bestimmen unseren Alltag, daher verwundert es kaum, dass der Kontakt mit ihnen immer früher erfolgt. Nahezu alle Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren besitzen in Deutschland ein Smartphone und nutzen es täglich (vgl. Jim-Studie 2016, S. 12). Mehr als die Hälfte der 12- und 13-Jährigen verfügen über einen Computer, ein Notebook oder Tablet. Aber auch jüngere Kinder wissen mit digitalen Medien umzugehen, denn die Mediennutzung von Kindern nimmt generell zu. Laut der Bitkom-Studie (2014) „Kinder und Jugendliche 3.0“ sind zehnjährige Kinder täglich 22 Minuten online. Selbst ein Fünftel aller 6- und 7-jährigen Kinder nutzen Smartphones zum Spielen bzw. um Videos anzusehen. Jüngere Studien verfolgen die Mediennutzung in der frühen Kindheit und verweisen auf Verhaltensauffälligkeiten durch den frühen Medienkontakt. So warnt beispielsweise die BLIKK-Studie (2017)6, 70 Prozent aller Kindergartenkinder nutzen das Smartphone ihrer Eltern mehr als eine halbe Stunde täglich.
6 Das Institut für Medienökonomie und medizinische Versorgungsforschung und der Berufsverband der Kinderärzte haben das Projekt BLIKK – Bewältigung, Lernverhalten, Intelligenz, Krankheiten – Kinder und Jugendliche im Umgang mit elektronischen Medien entwickelt.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
5.2 Sich verändernde Medien
255
Medien stellen einen festen Bestandteil in der Erfahrungswelt von Kindern und Jugendlichen dar. Umso mehr überrascht es, dass ein nicht unbeachtlicher Teil der Studierenden den Einzug digitaler Medien in die Grundschule vehement ablehnt. Steht hier etwa die Fürsorge für die Grundschüler/innen im Vordergrund? Müssen Schüler/innen vor digitalen Medien bewahrt werden? Der Pädagoge Andreas Flitner kritisierte bereits in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts die alltägliche Medienpräsenz und spricht in diesem Kontext von „Umweltverschmutzung“, der man tagtäglich ausgesetzt sei. Seinen Überlegungen folgend, sollen Kinder vor der Medienpräsenz „behütet“ werden, auch in der Auswahl ihrer „geistigen Umwelt“ (vgl. Flitner 1985, S. 94). Andere Stimmen mahnen hingegen, die Wirklichkeit hätte die Bildungsinstitutionen längst überholt und Schulen seien in der Digitalisierung abgehängt. Massenmedien greifen das Thema mit erstaunlicher Präsenz auf und befeuern eine Polarisierung.7 In der Kontroverse wird ein grundlegender pädagogischer Diskurs über das Verständnis von Schule und ihre Funktionen sichtbar: Soll sich Schule als Schonraum konstituieren, der Kinder vor Gefahren und entwicklungshemmenden Einflüssen bewahrt? Oder zielt Schule vielmehr auf eine realitätsnahe Lebensvorbereitung und stellt sich so in den Dienst der Propädeutik?8 Je nach Standpunkt entwirft sich Schule und damit einhergehend die Idee eines zeitgemäßen Unterrichts ganz unterschiedlich. Die Positionen zum Medieneinsatz in der Schule geben Auskunft über den jeweiligen Standpunkt in der Kontroverse. So findet die Schonraum-Vorstellung ihren Niederschlag in dem bewahrpädagogischen Ansatz der Medienerziehung. Dementsprechend sollen Kinder vor schädlichen Medieneinflüssen abgeschirmt werden. Die Prämisse, Medien gefährden ihre Nutzer, kann auf eine lange Tradition zurückblicken, nur die kritisierten Medien veränderten sich beständig. 5.2.1 Hinkt die Akzeptanz von Medien ihrer Zeit immer hinterher? Ein Streifzug im Zeitraffer 1. Frühes Lektüreverbot Platon (427-347 v.Chr.) verbot dem Stand der Polizisten und Soldaten die Lektüre von Homer, damit die Berufsstände nicht zu gewalttätig werden (vgl. Sacher 2003, S. 23). Heute gehören Homers frühe Epen Ilias und Odyssee längst zur Weltliteratur und gelten als Bildungsgut.
7 Nicht nur wissenschaftliche Beiträge vertreten diese Sichtweise, auch Alltagsmedien greifen die Diskussion gerne auf, stellvertretend hierfür sei die Süddeutsche Zeitung vom 13.2.2017 mit ihrem Beitrag „Schulen müssen nachziehen“ benannt. 8 Diese grundlegende Frage tangiert zentrale pädagogische Arbeitsfelder wie beispielsweise Leistung, Leistungsgesellschaft, Leistungsbewertung (vgl. Kap. 6).
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
256
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
2. Bücher – das größte Unglück In Rousseaus (1712-1778) „Emile“ werden Bücher als das größte Unglück des Kindes beschrieben, da Bücher nur von dem reden, was man nicht wisse. Sie stellen demnach gefährliche Pfade für die Jugend dar (vgl. Rousseau 1762).9 3. Lesen als Suchtphänomen Im Allgemeinen warnte man im 18. Jahrhundert vor Literatur, die den Geist verderbe oder von der Arbeit ablenke (vgl. Wittmann 1999, S. 446). Der Lektüre wurden körperlich schädigende Eigenschaften unterstellt, wohingegen Lesen heute nicht nur in pädagogischen Belangen als wertvoller Zeitvertreib gilt. Aus medizinischer Sicht wird die Beschäftigung mit Lektüre als gesundheitsförderlicher Zeitvertreib erachtet, der sogar Demenzprophylaxe bescheiningt wird.10 In früheren Zeiten hingegen wurde insbesondere die ‚schöngeistige‘ Literatur als gefährdend dargestellt, für die sich gerade Frauen und Kinder anfällig zeigten. Es entstand eine Diskussion um Lesesucht, die zu „Müßiggang und Langeweile“ erziehe – Untugenden, die man strikt ablehnte (vgl. Wittmann 1999, S. 440). Die Abbildung 5.2 zeigt ein Kindermädchen, das völlig in die Lektüre vertieft nicht bemerkt, dass das zu betreuende Kind aus dem Kinderwagen fällt. Bibliotheken galten als ‚Brutstätten‘ dieser Untugend. Vorstellungen, die heute schwer nachzuvollziehen sind. Ein Kind mit Vorliebe für schöngeistige Literatur lässt heute vielmehr auf ein bildungsaspiratives Elternhaus schließen. Müßiggang erfährt derzeit als Gegenentwurf zur Dauerbeschäftigung und blindem Aktionismus eine Renaissance. 4. Ein neues Printmedium betritt die Weltbühne – das Comicheft Nachdem das Buch als Bildungsgut rehabilitiert wurde, richtete sich die Kritik gegen das neu aufkommende Printmedium, das Comic. Der Gymnasiallehrer Richard Bamberger11 beschreibt 1958 in seinem Beitrag „Das Kind vor der Bilderflut des Alltags“ die Gefahren einer neuen Schreibgattung: „Was aber ist aus dieser Bildwirkung durch die Technik der photomechanischen Bildwiedergabe und der Rotationsschnellpresse geworden? Extreme sprechen am deutlichsten. Sehen wir uns daher den Extremfall der Bildersprache, nämlich der Erscheinung der Comic-books und Comic-strips genauer an. […] Wer hat nicht in Kiosken, Papierhandlungen (leider manchmal auch in einer Buchhandlung) Stöße von Heften gesehen, die bunte Bilder als Hauptinhalt haben? Die wenigen Zeilen Text entströmen meist in Wölkchen oder Ballons dem Mund der sprechenden Personen. Immer wieder fesseln einzelne Rufwörter die Aufmerksamkeit: Tschin, Bum, Ha, Wumm, Krach, Peng! Wir sprechen daher auch von einer Pengsprache, in der unsere Jugend aufwächst“ (Bamberger 1958, S. 137).
9 Im Erziehungsroman „Emile“ wird die Gefahr durch Lesen und Literatur thematisiert. 10 Diese Erkenntnis ist weitgehend medizinisch abgesichert und wird beispielweise von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft erklärt (vgl. Deutsche Alzheimer Gesellschaft 2018). 11 Bamberger unterrichtete ab 1945 als Gymnasiallehrer in Wien. Er gab als Mitwirkender des Österreichischen Buchclubs der Jugend mehr als 50 Klassenlektüren heraus.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
5.2 Sich verändernde Medien
257
Abbildung 5.2: „Das leselustige Kindsmädchen“ von Heinrich Jenny
Er konkretisierte die Gefahren, die von dieser Lektüregattung ausgehen: „Die eigentliche Gefahr der Comicflut liegt darin, daß sie die Entwicklung der seelischen Anlagen hemmt. Ganz konkret auf die Lektüre bezogen: Der Mensch verliert die Geduld, die Ausdauer, die Bereitschaft, die jedes gute Buch braucht, es gehen die Kräfte der Phantasie, des Fühlens und Wollens, die jede Begegnung mit wertvollem Menschtum verlangt, verloren“ (Bamberger 1958, S. 144).
Bildergeschichten und Comics sind in unserem heutigen Verständnis ein Medium, das Literatur und Kunst vereint. Sie finden Einzug in zeitgenössischen Unterricht.12 Nicht nur bei Kindern und Jugendlichen sind die Bildergeschichten populär. Eine Weiterentwicklung erfuhren die Bildergeschichten seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts in Form von sogenannten Graphic
12 Als ein Beispiel unter vielen sei hier auf das Comic Calvin und Hobbes verwiesen, dessen Protagonisten in Anlehnung an den Reformator Johannes Calvin und den Philosophen Thomas Hobbes, unterschiedliche Sichtweisen im menschlichen Dasein in Bildfolgen darstellen.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
258
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
Novels. Im Gegensatz zu herkömmlichen Comics sind die Handlungsstränge komplexer und sprechen dementsprechend das Erwachsenenpublikum an. 5. Die Konkurrenz der bewegten Bilder Natürlich erstreckte sich die Kritik nicht nur auf die Bildwirkung von Comics, sondern auch auf bewegte Bilder. Stand zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Kino im Zentrum der Kritik, richteten sich fortan die Kritikpunkte auf die Beschäftigung mit weiterentwickelten Medien: Fernsehen, Video- bzw. Computerspiele etc. Die pädagogischen Einwände knüpften in der Stoßrichtung unmittelbar an Rousseaus Argumentation an: Erfahrungen aus zweiter Hand überlagern kindliche Primärerfahrungen. Konkret standen die zufälligen medialen Erfahrungen in Kritik, die wertvolle Primärerfahrungen verdrängen (vgl. Moser 2006, S. 11). 6. Der Verlust des kindlichen Schutzraumes durch Medien Einen Höhepunkt der Medienkritik stellt Neil Postmans (1987) Publikation „Wir amüsieren uns zu Tode“ dar. Postman konstatiert das Verschwinden der Kindheit, da Kindern überall ungeschützter Zugang zur Erwachsenenwelt zuteilwird. Seine kulturpessimistische Argumentation trat in den letzten Jahren in den Hintergrund. 7. „Digitale Demenz“ durch frühe Mediennutzung Vertreter der Hirnforschung, einer stärker an der Medizin orientierten Forschungsrichtung, beschreiben Krankheitsbilder einer digitalen Demenz (vgl. Spitzer 2014) oder mahnen, dass Medien gewalttätig, dumm und dick machen (vgl. Spitzer 2005, S. 245). Sie stützen sich dabei überwiegend auf amerikanische Studien. Die Medienkritik macht deutlich: Die rasante Entwicklung der Medien und Digitalisierung lässt sich nicht aufhalten. Gleichwohl liest man die Befürchtungen aus heutiger Sicht mit ambivalenten Gefühlen, zeigen sie doch zweierlei: Die Medienentwicklung ist weit vorangeschritten. Einerseits sind George Orwells düstere Visionen aus seinem Zukunftsroman „1984“, von einer individuellen Überwachung, die auch die Registrierung persönlicher Interessen und Handlungsräume einschließt, heute längst existent. Ein Großteil der Gesellschaft begrüßt diese Praktiken sogar in Form profilgerechter Offerten von Online-Plattformen, die für uns eine Vorauswahl an Lektüre, Kleidung, Musik und Ähnlichem trifft. Andererseits lassen sich die vorgetragenen Kritikpunkte eben auch nicht von der Hand weisen, da alle Argumente bis zu einem gewissen Grad Entwicklungen vorwegnahmen und ein Grundanliegen enthalten, das zweifelsohne Berücksichtigung verdient (vgl. Sacher 2003, S. 32). Ein kritisch reflektierter Medienumgang ist also unumgänglich. Einseitig verkürzte Sichtweisen sind für Überlegungen zum Medieneinsatz in der Schule sicherlich hinderlich.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
5.2 Sich verändernde Medien
259
Konzepte der Medienerziehung sind vielfältig und verfolgen je nach Akzentuierung unterschiedliche Ziele: • Der bewahrpädagogische Ansatz bewertet Kinder und Jugendliche noch überwiegend als Rezipienten. Die kreativen Möglichkeiten von Kindern im Umgang mit Medien blendet er, wie auch der behütend pflegende Ansatz,13 komplett aus. • Bedürfnisorientierte Medienbildung stellt die Frage in den Mittelpunkt, welche Grundbedürfnisse durch den Medienkonsum verfolgt und befriedigt werden sollen. Der Versuch, den Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen zu verstehen, ohne diesen zu verurteilen, steht hierbei im Fokus. Allerdings bleibt dabei außen vor, welche Grundbedürfnisse erst von Medien geweckt werden (vgl. Sacher 2003, S. 27). • Dieser Frage nimmt sich die Medienkritik an und verfolgt stärker ihre manipulativen Strategien. Medien werden in dieser Akzentuierung als Herrschaftsmittel betrachtet, durch die Menschen manipuliert und instruiert werden können. • Weitaus positiver bewertet der Handlungs- und Kommunikationsorientierte Ansatz die Medien. Er setzt darauf, die Kommunikation zwischen Menschen einer Gesellschaft durch Medien zu verbessern. Für die Schule sind alle beschriebenen Richtungen nur begrenzt einsetzbar. • Die integrative Medienerziehung versucht das Feld der Medienerziehung für die Schule anschlussfähig zu machen, indem außerunterrichtliche Medienerfahrungen und -kompetenzen berücksichtigt und in den Schulalltag integriert werden, wobei eine Trennung von Mediendidaktik und Medienerziehung weitgehend vermieden wird. Die Ausführungen legen nahe, nicht eine Konzeption als den ‚zukunftsweisenden Königsweg‘ zu favorisieren. Vielmehr verfolgen alle Richtungen im Kern ein Anliegen, welches in einer zeitgenössischen fundierten Medienerziehung Berücksichtigung finden sollte. Demnach sind Fragestellungen, ob moderne Medien in die Grundschule einziehen sollten oder nicht, heute obsolet. Wertvoller sind Überlegungen, wann der Einsatz welcher Medien Sinn macht bzw. zu welchem Zweck Medien ausgewählt werden und welche Funktionen sie dabei erfüllen sollen.
13 Für diesen Ansatz steht nach 1945 Martin Keilhacker. Kinder und Jugendliche sollen mit Medien vertraut gemacht werden.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
260
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
Abbildung 5.3: Hanns Guck-in-die-Luft (H. Hoffmann 1845)
Abbildung 5.4: Schulkinder heute
Arbeitsaufgaben 1. Vergleichen Sie beide Abbildungen (vgl. Abb. 5.3 und 5.4) und diskutieren Sie zeittypische und zeitüberdauernde Phänomene. 2. Diskutieren Sie Potenziale und Gefahren im Einsatz digitaler Medien in unterschiedlichen kindlichen Lebenswelten?
5.2.2 Medienkompetenz – eine Bringschuld der Schule?! Das vorangestellte Kapitel machte deutlich, Medien verändern sich beständig. Es fällt zunehmend schwer, den Überblick über die Medienvielfalt zu bewahren. Ein professioneller, pädagogisch wertvoller Umgang mit Medien kann ebenso wenig vorausgesetzt werden wie eine kritische Reflexion der Informationsvermittlung. Medienkompetenz zählt im 21. Jahrhundert zu den Kernkompetenzen, da sie für die zukünftige Generation eine hohe Relevanz aufweist. Der Umgang mit Medien wird dabei zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, der sich auch Schulen nicht entziehen können. Denn ganz gleich, ob wir den frühen Medienkontakt bei Kindern im Vor- und Grundschulalter begrüßen oder nicht, Kinder mit außerschulischen Medienerfahrungen allein zu lassen, ist sicherlich keine akzeptable Lösung. Nachdem Medien zunächst in ihren verschiedenen Erscheinungsformen sichtbar gemacht wurden, soll der Terminus konkretisiert werden: Ein Medium ist zunächst ein Informationsträger, wobei die Informationen in unterschiedlichen Formaten transportiert werden können. Werner Sacher definiert Medien als: „Symbolische Darstellungen aller Art: Gesten, Zeichnungen, Gemäl-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
5.2 Sich verändernde Medien
261
de, rituelle Handlungen, Signale, gesprochene Sprache, Texte, Filme, Webseiten usw.“ (Sacher 2003, S. 1). Allerdings handelt es sich bei den Informationsträgern nicht um Realitätsabbildungen. Medien geben vielmehr einen Realitätsausschnitt wieder, wodurch eine ‚Realitätsvariante‘ sichtbar wird und die Wirklichkeit in einem bestimmten Licht erscheinen lässt. Medien erzeugen also vielmehr Realitäten, als dass sie sie abbilden. Das wird rasch klar, wenn wir die Informationen von unterschiedlichen Tageszeitungen vergleichen, die einzelne Sachverhalte durch Wortwahl, Akzentuierungen, Kommentare etc. ganz unterschiedlich aufbereiten. Aber nicht nur Worte konstituieren Realitäten. Bildmedien können durch eine geschickte Auswahl eines Bildausschnittes die Wirklichkeit verzerren und dadurch manipulativ wirken. Exkurs: Medien schaffen Realitäten Der Historiker Gerhard Paul (2013) zeigt in seiner Publikation „Bildermacht“ populäre Bilder, die ein kollektives Bewusstsein prägten. Als Vertreter der ‚Visual History‘ veranschaulicht er in seinen Analysen, wie Bilder instrumentalisiert wurden, um bestimmte Realitäten zu schaffen. Große Popularität errang insbesondere seine Analyse zu der Fotografie „Napalm-Mädchen“, die während des Vietnamkrieges entstand. Abgebildet ist Kim Phúc, ein nacktes Mädchen, das 1972 schreiend auf der Straße nach Trang Bang vor dem Napalm-Angriff flieht.14 Der vietnamesische Fotograf Nick Út erhielt für die Aufnahme den Pulitzer Preis. G. Paul erklärt die Entstehung des Bildes und verdeutlicht, wie es für politische Zwecke instrumentalisiert wurde. Er resümiert, dass Bilder im Allgemeinen viel weniger die Realität in Szene setzen, sondern sie vielmehr durch Bearbeitung zur Vermarktung und Instrumentalisierung genutzt werden. Der von N. Út bewusst in Szene gesetzte Bildausschnitt wurde sogar im amerikanischen Wahlkampf eingesetzt. Die Analysen von G. Paul heben die Notwendigkeit hervor, bei medienpädagogischen Überlegungen nicht nur die Medienwirkung auf Menschen in den Blick zu nehmen, sondern die Einwirkung von Menschen auf Medien gleichermaßen zu berücksichtigen. Einen Schritt weiter gehen ‚Wirklichkeitsvarianten‘, die durch eine gezielte Nachbearbeitung von Fotografien erfolgen. Im Gegensatz zu einem bewusst ausgewählten Bildausschnitt erfolgt die Manipulation in dieser Variante durch einen direkten Eingriff, eine Transformation der Darstellung selbst. Die Veränderungsmöglichkeiten eines Bildes durch Bildbearbeitungsprogramme sind vielfältig, populär und finden eine breite Resonanz. In einigen Berufszweigen ist sie fester, und wie manche meinen, unverzichtbarer Bestandteil, beispielsweise in der Modebranche. Mit diesem Wissen begegnen wir Abbildungen zunehmend kriti14 Inzwischen liegen mehrere Publikationen über das Bild vor, ebenfalls ein Dokumentarilm von Marc Wiese über die Entstehung des Bildes.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
262
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
scher, da zwischen Sein und Schein kaum mehr unterschieden werden kann. Auch im Film ist die Bandbreite an Manipulationsmöglichkeiten groß. Filmtricktechniken verblüffen durch Spezialeffekte, aber auch durch Nachbearbeitungen in der Postproduktion (z.B. durch Schnitt, Animationen etc.). In der Unterhaltungsbranche geben wir uns gern Illusionen hin. Aber im Filmgenre verwischen verlässliche Grenzen. Fühlte man sich bislang bei der Einschätzung von Nachrichten und Dokumentationen weitgehend sicher, da das demokratische Grundverständnis eine Manipulation dieser Informationsgaranten durch Spezialtechniken und Postproduktionen verbietet, es als unmoralisch einstuft. Die Manipulationsmöglichkeiten waren bislang begrenzt. Hier ist zunehmend Vorsicht geboten. Filmsequenzen in Nachrichten und Dokumentationen verlieren ihre Überzeugungskraft, wenn die Entwicklung von Computerprogrammen, die Manipulationen von Videografien zulassen – und diese sind inzwischen weit entwickelt. Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts und der Universität Stanford haben eine entsprechende Technologie entwickelt, die es möglich macht, Gesichtsausdrücke auf Personen zu übertragen. Die Mimik und Bewegungen eines aufgenommenen Gesichtes wird dann in Echtzeit auf ein Gesicht eines Menschen in einer Videoaufnahme übertragen.15 Programmierer können dadurch das Gesicht gewissermaßen fernsteuern. Im Bereich der Sprache gelingt das schon länger. Personen können beliebige Texte in den Mund gelegt werden. Welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die Glaubwürdigkeit von Reportagen, Nachrichten etc. haben wird, liegt auf der Hand: Die Grenzen zwischen realer Darbietung und Manipulation sind nicht mehr festzustellen. Die Frage, welche Aufgabe die Schule im Kontext von Medien wahrzunehmen hat, weist somit zwei Überlegungsrichtungen auf, die beide eine Fülle von Teilfragen implizieren: 1. Was machen Medien mit den Menschen? Welche Medien eignen sich wann zu welchem Zweck? Ist der frühe Einsatz von Medien sinnvoll oder nimmt das Kind Schaden? Durch welchen Medieneinsatz können kindliche Lernprozesse am besten unterstützt werden? Müssen Schulen Schüler/innen schon frühzeitig an digitale Medien heranführen oder folgen sie hierbei einem Diktat der Wirtschaft, das es zu hinterfragen gilt? Wie können Schüler/innen zu einem sachdienlichen Umgang mit Medien angeleitet werden, der auch die Gefahren von Medien verdeutlicht und sie davor schützt? Wie sollte Unterricht konzipiert sein, dass er nicht auf ‚Entertainment‘ reduziert wird? Wieviel Visualisierung ist in einer von Bildern bestimmten Gesellschaft nötig? Gleichwohl interessiert die Frage, was Medien mit Lehrern, Eltern und der Gesellschaft machen. 15 Justus Thies arbeitete ursprünglich in einem medizintechnischen Projekt zu Erkrankungen von Mund-Kiefer-Gaumenspalte. Er entwickelte dabei das Programm ‚Face2Face‘.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
5.2 Sich verändernde Medien
263
2. Was machen Menschen mit den Medien? Diese Überlegung wurde lange Zeit außer Acht gelassen, nimmt aber zunehmend im Schulkontext an Relevanz zu. Welche Sicht auf die Dinge wird dargeboten? Welcher Realitätsausschnitt wird ausgewählt? Was machen Menschen in den Medien? Wie werden sie dargestellt? Welcher Teil der Identität, welcher Charakterzug wird eingefangen, verabsolutiert? Auf welche Sichtweisen wird bewusst verzichtet? Ist das Dargebotene real? Die Frage, wie früh diese Überlegungen mit Kindern thematisiert werden können, ist recht einfach zu beantworten. Wenn die Mediennutzung von Schülerinnen und Schülern zunimmt, muss ihnen vergegenwärtigt werden, wie Medien, durch bewusste oder unbewusste Handlungen befördert, wirken. Beide Themenkomplexe sind Bestandteile einer zeitgemäßen Medienkompetenz. Diese impliziert die Kompetenz, Medien für schulisches Lernen in rezeptiver und interaktiver Weise nutzen zu können. Grundvoraussetzung dafür ist eine solide Wissensbasis über Medien und Medieneinsatz. Medienkompetenz kann dabei aber nicht auf Medienkritik verzichten. Diese zielt darauf, Kinder und Jugendliche für den Umgang mit Medien zu sensibilisieren, ihre Wirkkraft zu verdeutlichen und auf damit einhergehende Gefahren hinzuweisen. Schüler/ innen kommen mit unterschiedlichen Medienerfahrungen in die Schule. In einer von zunehmender Digitalisierung geprägten Gesellschaft wird Medienerziehung zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, die auch von den Bildungsinstitutionen wahrgenommen werden muss. Als überregionales Steuerungsorgan gibt die Kultusministerkonferenz für alle Bundesländer einen festen Rahmen vor: „Schulische Medienbildung versteht sich als dauerhafter, pädagogisch strukturierter und begleiteter Prozess der konstruktiven und kritischen Auseinandersetzung mit der Medienwelt. Sie zielt auf den Erwerb und die fortlaufende Erweiterung von Medienkompetenz; also jener Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die ein sachgerechtes, selbstbestimmtes, kreatives und sozial verantwortliches Handeln in der medial geprägten Lebenswelt ermöglichen. Sie umfasst auch die Fähigkeit, sich verantwortungsvoll in der virtuellen Welt zu bewegen, die Wechselwirkung zwischen virtueller und materieller Welt zu begreifen und neben den Chancen auch die Risiken und Gefahren von digitalen Prozessen zu erkennen“ (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister 2012).
Die Vorgaben der Kultusministerkonferenz werden durch jedes Bundesland konkretisiert. Medienbildung ist in den Bildungsplänen ein fester Bestandteil. So findet sich beispielsweise im aktuellen baden-württembergischen Bildungsplan von 2016 in den Leitperspektiven: „Die Entwicklung unserer Gesellschaft zu einer Mediengesellschaft macht Medienbildung zu einem wichtigen Bestandteil allgemeiner Bildung. Ziel von Medienbildung ist es, Kinder und Jugendliche so zu stärken, dass sie den neuen Anforderungen sowie
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
264
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
den Herausforderungen dieser Mediengesellschaft selbstbewusst und mit dafür erforderlichen Fähigkeiten begegnen können. Dazu gehören eine sinnvolle, reflektierte und verantwortungsbewusste Nutzung der Medien sowie eine überlegte Auswahl aus der Medienvielfalt in Schule und Alltag. Um diese Kompetenzen zu vermitteln, muss Medienbildung fächerintegriert unterrichtet werden. Die grundlegenden Felder der Medienbildung sind Information, Kommunikation, Präsentation, Produktion, Analyse, Reflexion, Mediengesellschaft, Jugendmedienschutz, Persönlichkeits-, Urheber-, Lizenzrecht und Datenschutz“ (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport, Baden-Württemberg, 2016).
Die Streitfrage, ob Kinder im frühen Alter besser oder schlechter mit digitalen Medien lernen, bleibt wissenschaftlich ungeklärt.16 Unstrittig jedoch bleibt die Notwendigkeit, Kinder mit außerschulischen Medienerfahrungen nicht allein zu lassen und sie im Umgang mit diesen zu unterstützen. Für die Lehrerbildung gilt es, sich über einen pädagogisch sinnvollen Umgang, insbesondere mit digitalen Medien, Klarheit zu verschaffen und Einsatzmöglichkeiten abzuwägen, ohne damit einhergehende Gefahren aus den Augen zu verlieren. In einer sich technisch rasant entwickelnden Gesellschaft müssen diese Überlegungen zwar als grundlegend, jedoch nicht als abschließend geführte Reflexion verstanden werden. Darüber hinaus ist zu prüfen, wie unterschiedliche Disziplinen ihre Argumentationen zum schulischen Medieneinsatz stützen und welche Interessen sie damit verfolgen. Es gilt die zugrundeliegenden Interessen zu erkennen, deren Positionen zu durchschauen und sich entsprechend begründet zu positionieren. Offensichtlich führen nämlich unterschiedliche Logiken zu diametral entgegengesetzten Handlungsempfehlungen: 1. Die Gesellschaft für Informatik e.V. fordert in ihrer Dagstuhl-Erklärung (2016)17 eine starke Akzentuierung digitaler Bildung in Schulen. 2. Das Bündnis für humane Schule beschreibt die Digitalisierung in einem offenen Brief an die Kultusministerkonferenz (2017) als Irrweg und ruft zur Besinnung auf.
Arbeitsaufgaben 1. Analysieren Sie jeden Text nach • Urheber/ Verfasser • Forderungen • Begründungen 2. Nehmen Sie kritisch begründet Stellung. 16 Die Frage, wie digitale Medien im Unterricht wirken, ist nicht isoliert auf die Wirksamkeit des technischen Mittlers zu beantworten, Wirkungsweisen sind von unterschiedlichen Faktoren abhängig (vgl. Herzig 2014, S. 22). 17 Die Dagstuhl-Erklärung ist nach dem Tagungsort des Gremiums benannt. Der Austausch indet regelmäßig auf dem Schloss Dagstuhl in Wadern statt.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
5.2 Sich verändernde Medien
265
Die Gesellschaft Informatik e.V.: Dagstuhl-Erklärung (2016) Auf dem Schloss Dagstuhl in Wadern tagt regelmäßig ein Gremium, bestehend u.a. aus Hochschul- und Wirtschaftsinformatikern und Pädagogen, mit dem Ziel, das Bildungssystem im 21. Jahrhundert in punkto „informatorischer Bildung“ auf gesellschaftliche Veränderungen vorzubereiten. 2015 wurde die 3. Dagstuhl-Erklärung vorgelegt, deren Forderungen unterschiedliche Bereiche einbeziehen: 1. Bildung in der digitalen vernetzten Welt (kurz: Digitale Bildung) muss aus technologischer, gesellschaftlich-kultureller und anwendungsbezogener Perspektive in den Blick genommen werden. 2. Es muss ein eigenständiger Lernbereich eingerichtet werden, in dem die Aneignung der grundlegenden Konzepte und Kompetenzen für die Orientierung in der digitalen vernetzten Welt ermöglicht wird. 3. Daneben ist es Aufgabe aller Fächer, fachliche Bezüge zur Digitalen Bildung zu integrieren. 4. Digitale Bildung im eigenständigen Lernbereich sowie innerhalb der anderen Fächer muss kontinuierlich über alle Schulstufen für alle Schülerinnen und Schüler im Sinne eines Spiralcurriulums erfolgen. 5. Eine entsprechend fundierte Lehrerbildung in den Bezugswissenschaften Informatik und Medienbildung ist hierfür unerlässlich. Dies bedeutet: a. Ein eigenständiges Studienangebot im Lehramtsstudium, das Inhalte aus der Informatik und aus der Medienbildung gleichermaßen umfasst, muss eingerichtet werden.
Technologische Perspektive: Wie funktioniert das?
Gesellschaftlich-kulturelle Perspektive: Wie wirkt das? Digitale vernetzte Welt: Phänomene, Gegenstände und Situationen
Anwendungsbezogene Perspektive: Wie nutze ich das?
Abbildung 5.5: Modell der Gesellschaft Informatik e.V. Modell der Gesellschaft Informatik e.V. (2015)
266
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
b. Die Fachdidaktiken aller Fächer und die Bildungswissenschaften müssen sich der Herausforderung stellen und Forschung und Konzepte für Digitale Bildung weiterentwickeln. Umfassende Fort- und Weiterbildungsangebote für Lehrkräfte aus technologischer, gesellschaftlich-kultureller und anwendungsbezogener Perspektive müssen kurzfristig eingerichtet werden. Bündnis für humane Bildung: Irrweg der Bildungspolitik Kurzfassung Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat sich zu den Eckpunkten einer BundLänder-Vereinbarung bekannt, die im Bereich der Schule Bildung in der digitalen Welt unterstützen will („DigitalPakt Schule“). Diese Entscheidung ist wissenschaftlich, wirtschaftlich und pädagogisch falsch. Zum Nachlesen: Wer den Stand der wissenschaftlichen Forschung kennt, weiß, dass Smartphones, Tablets und WLAN als Lernmittel im Unterricht eher schaden als nützen. Wer Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit erhöhen möchte, investiert nicht in Technik, sondern in die Ausbildung und Anstellung von Lehrkräften und stärkt die Vermittlung der traditionellen Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen. Das ist die Basis für Bildungsprozesse mit analogen wie digitalen Medien. Zum Nachrechnen: Die im Digitalpakt zugesagten 5 Milliarden Euro führen bei den beteiligten Schulen zu deutlich höheren Kosten als sie vom Pakt abgedeckt sind. Nach einer Berechnung der Universität Bremen sind maximal 35% der Investitionskosten finanziert (bei der Minimalausstattung: 5 Kinder teilen sich einen Rechner) oder sogar nur zwischen 10% und 7% (jedes Kind hat einen Rechner oder Tablet). Zum Nachdenken: Fünfjahrespläne wie der Digitalpakt Schule, Zentralisierung und Zwangsdigitalisierung schädigen die Schulen. Lern- und Bildungsprozesse sind individuelle und soziale Prozesse, die an die eigene Persönlichkeit und das soziale Umfeld gebunden sind. Wer Chancen durch Bildung ermöglichen will, stärkt die Autonomie der Schulen und der Lehrkräfte vor Ort. Lehrkräfte, Mentoren und Tutoren sichern Lernerfolge, nicht Digitaltechnik. Wer die öffentlichen Bildungseinrichtungen in Deutschland fördern will, stärkt den Föderalismus. Die Bundesrepublik Deutschland ist durch die föderale Struktur der Länder und Regionen erfolgreich, nicht durch Zentralismus. Wer die öffentlichen Schulen stärken will, sorgt für mehr Autonomie vor Ort statt technischer und curricularer Standardisierung durch Informationstechnik und Software. Schulträger und Schulen müssen vor Ort entscheiden können, welche Investitionen notwendig sind und welche Medientechnik sinnvoll ist. Das orientiert sich an der Altersstufe, der Schulform und den zu unterrichtenden Fächern. Wer die Bildungseinrichtung vor Ort stärken will, unterstützt Erzieher/innen und Lehrer/innen durch Vertrauen und Akzeptanz der Vielfalt an Lehrpersönlichkeiten und Methoden. Ausgebildete und/oder studierte Lehrkräfte müssen selbst ent-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
5.2 Sich verändernde Medien
267
scheiden können, mit welchen Methoden und Medien sie ihren Unterricht gestalten, wenn sie Kinder und Jugendliche zu mündigen Bürgern erziehen sollen. Daher unser Appell: Besinnen Sie sich. Machen Sie öffentliche Bildungseinrichtungen zukunftsfähig, indem Sie Schulen als Sozialverbund stärken. Nicht Medientechnik oder Computer, sondern der Mensch ist des Menschen Lehrer! Mit kollegialen Grüßen Bündnis für humane Bildung 5.2.3 Medieneinsatz zwischen ‚Kreidezeit‘ und Digitalisierung Digitale Medien, so möchte man vermuten, sind längst fester Bestandteil im Schulalltag. Umso mehr überraschen sowohl nationale als auch internationale Studien, die das Gegenteil belegen (vgl. Eickelmann 2010; Senkbeil/Wittwer 2008; Bos et. al 2014). Der internationale Vergleich macht sichtbar, dass Deutschland weit weniger auf digitale Medien zurückgreift als beispielsweise Australien, Kanada, Dänemark, Norwegen oder die Niederlande. Die „International Computer and Information Literacy Study“ (ICILS 2013) erklärt die ‚digitale Abstinenz‘ durch mangelnde Vorbereitung. Deutsche Schulen fallen in der Ausstattung im internationalen Vergleich deutlich ab. Lehrerbefragungen stützen diese Annahme. Ein Großteil der Lehrer/innen sehen zwar große Vorteile im Einsatz digitaler Medien, allerdings fehle es an den Schulen an den notwendigen Rahmenbedingungen. Darüber hinaus wird ersichtlich, dass sich Lehrer/innen auf den Umgang mit digitalen Medien im Schulalltag nicht ausreichend vorbereitet fühlen. Sie beklagen fehlende Schulungen und Weiterbildungen, 82% der Lehrerinnen und Lehrer fordern Fort- und Weiterbildungen in diesem Bereich (vgl. Bitkom 2014). Nicht zu unterschätzen sind hierbei regionale Unterschiede, die Schulen mit differenten Ausgangslagen hervorbringen. In finanzkräftigeren Gemeinden finden sich Schulen, die eine gute Basis für den digitalen Medieneinsatz aufweisen, während weniger finanziell begünstigte Regionen über geringere Handlungsspielräume verfügen. Walter J. ist Sekundarlehrer im 25. Dienstjahr. Er unterrichtet in einer Gemeinde, die durch die konzentriert angesiedelte Industrie und damit einhergehenden hohen Steuereinnahmen, Schulen mit einem bemerkenswerten Standard ausstatten kann. Den Einsatz digitaler Medien hat er im Unterricht fest verankert. Im Interview benennt er Stärken des digitalen Medieneinsatzes in der Schule: Walter J., Sekundarlehrer, 25 Dienstjahre, 50 Jahre „Das Leben in einer digitalisierten Welt erfordert von unseren Schüler/innen ein hohes Maß an Kompetenz im Umgang mit aktuellen Medien und der dadurch verbundenen Auseinandersetzung mit der realen, vernetzen und globalisierten
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
268
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
Welt. Ich sehe große Vorteile in einem zeitgemäßen Unterricht, der sich auf digitale Medien stützt. Das Potenzial liegt vor allem darin, dass sich die Schüler/ innen direkt und indirekt im Umgang mit digitalen Medien üben und es ihnen auf leichte Weise ermöglicht wird, Wissen ,live‘ und ,up-to-date‘, wann immer nötig zu sammeln und auf vielfältige Weise zu verarbeiten und weiterzugeben. Meine Schüler/innen lernen bei mir, auf vielfältige Medien zurückzugreifen, sie nutzen diese auch kreativ, erstellen kleinere Filmsequenzen, führen Umfragen durch, erstellen Dokumentationen etc. Durch den Einsatz des interaktiven Whiteboards kann ich Tafelaufschriebe speichern, das ist prima, insbesondere, wenn nach meinen Stunden weiterer Fachunterricht stattfindet. In der Folgestunde rufe ich mein Tafelbild auf und kann direkt daran weiterarbeiten, das macht meinen Unterricht sehr flexibel und lässt sich auf einzelne Klassen abstimmen. Meine Schüler/innen werden interaktiv miteinbezogen und sind oft fasziniert von den dynamischen Tafelaufschrieben. Digitale Medien sind ein Teil des Schulalltags, der zur Verfügung stehenden Medien und dem Zugang zur Welt. Ob nun Stift und Heft, Buch, Notebook, oder I-Pad, klassische Tafel oder Whiteboard – alle Medien haben ihre Daseinsberechtigung. Im Unterrichtsalltag bieten digitale Medien für Lehrende und Lernende ein erweitertes Kompendium an Optionen für das Unterrichtsgeschehen in dem interaktives, individuelles, fächerübergreifendes und soziales Lernen seinen Platz findet (Enzyklopädien, Wörterbücher, Lernprogramme, Office-Anwendungen, Planung, Social-Media, Audios, Videos, Grafiken, Beiträge zu aktuellen Themen, usw.). Der Unterricht wird so nicht abgekoppelt vom außerschulischen Leben und der Welt von morgen. Die ‚erweiterte Tafel‘ bietet ein höchst motivierendes Repertoire an Möglichkeiten: dynamische, interaktive Tafelbilder ohne Eingrenzung der gestalterischen Freiheit, Animationen, Filmsequenzen, usw. Eine Dokumenten-Kamera kann nicht nur Kopien projizieren, es ist eine Echtzeit-Kamera. Schüler/innen präsentieren beispielsweise selbsterstellte ‚Easy-Learning Videos‘, wie sie sie selbst gerne nutzen, und die Mitschüler/innen sehen ihre Produktionen wie ein YouTube-Video. Medien wie IPads, Notebooks und auch Smartphones erweitern als sinnvoll genutzte Wissensdatenbanken und Kontaktmedien den Horizont. Als Lehrer arbeitet man im Unterricht als ‚Vorbild-User‘, angefangen beim Betriebssystem (mit all seinen Tücken) über die Nutzung sämtlicher StandardSoftware bis hin zur sinnvollen und umsichtigen Nutzung des Internets (OnlineRessourcen, Social-Media, Recherche, usw.). Der Kreativität hinsichtlich der Unterrichtsvorbereitung sind kaum Grenzen gesetzt: Tafelbild, Hintergründe, Materialfülle, Schüleraktivitäten, usw. Das eigentliche Potenzial digitaler Medien liegt darin, positiv genutzt zu werden und eine derartige Nutzung zu vermitteln.“
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
5.2 Sich verändernde Medien
269
Allerdings weist der Lehrer Walter J. auch darauf hin, dass sich im Einsatz der digitalen Medien ebenso deutliche Schwachstellen abzeichnen. Denn die Unterrichtsvorbereitung bleibe zeitintensiv. Er bemängelt Materialien, die von den Verlagen für den digitalen Medieneinsatz angeboten werden. Es koste ihn viel Zeit, interaktives Material vorzubereiten, denn interaktive Einsatzmöglichkeiten seien kaum vorgesehen. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, warum interaktive Whiteboards viel weniger interaktiv als vielmehr in Frontalphasen zum Einsatz kommen (vgl. Irion 2014, S. 37). Zudem führt Walter J. an, die Durchführung eines Unterrichts mit digitalen Medien sei auf einen reibungslosen Ablauf der Technik angewiesen. Das Whiteboard erweise sich aber leider oft als störanfällig. Prinzipiell müssen digitale Medien, das Whiteboard, Tablets etc., kontinuierlich von professioneller Hand gewartet werden und dafür fehle in Schulen häufig die Zeit. Ein weiteres Hindernis sieht er in den fehlenden Fortbildungen zum Umgang mit digitalen Medien der Kolleg/innen. In seinem Kollegium wüssten viele Kolleg/innen um die Stärken der medialen Ausstattung, schreckten aber vor der Nutzung wegen mangelnder Kenntnisse zurück. Forschungsergebnisse zum Lernen mit interaktiven Whiteboards zeigen, dass der Einsatz allgemeindidaktische, fachdidaktische und technische Kompetenzen der Lehrkräfte erfordert und die sinnvolle Nutzung des Mediums kein Selbstläufer ist (vgl. Irion 2014, S. 39). Sein abschließendes Fazit zum Umgang mit digitalen Medien: Walter J., Sekundarlehrer, 25 Dienstjahre „Ein digitalisiertes Klassenzimmer sollte heute der Normalfall sein. Man muss sich aber bewusstmachen, dass das ganze digitale Equipment nur ein kleiner Teil des Unterrichts und vor allem kein Allheilmittel gegen schlechten Unterricht darstellt. Der Unterricht ist nicht automatisch besser, weil er auf zeitgemäße Medien setzt. Richtig genutzt, stellt der Medieneinsatz aber sicher eine Arbeitserleichterung mit besserer ‚Bild-Qualität‘ dar.“
Arbeitsaufgaben Digitale Bildung in der Grundschule 1. Diskutieren Sie die sieben Handlungsansätze zur Digitalen Bildung in der Grundschule. (www.utb-shop.de/9783825251130) 2. Auf welche Erfahrungen mit digitalen Medien können Sie zurückgreifen? Die bisherigen Ausführungen legen den Schluss nahe, ein zeitgenössischer Unterricht setze nur dann auf den Einsatz einer traditionellen Wandtafel, wenn Schulen mit der Aufgabe finanziell überfordert sind, Klassenzimmer mit entsprechender medialen Ausstattung zu versorgen oder aber Lehrer/innen aufgrund
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
270
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
mangelnder Medienkompetenz darauf zurückgreifen müssen. Das ist sicherlich nicht der Fall. Aus diesem Grunde sollen an dieser Stelle ganz explizit Argumente für den Einsatz eines herkömmlichen Tafelbildes herausgestellt werden, denn dieses ist keinesfalls unzeitgemäß. Eine Kreidewandtafel bietet ein breites Handlungsfeld und wird von Lehrerinnen und Lehrern ganz bewusst eingesetzt. Dennis J. befindet sich in seinem ersten Dienstjahr nach Beendigung seines Referendariats. Er unterrichtet in der Klassenstufe 1/2 in einem sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum mit dem Schwerpunkt Lernen. Er unterstreicht die Vorzüge des Mediums und spricht sich gleichzeitig für einen bewussten Einsatz von ‚handangefertigten‘ Tafelbildern aus. Damit räumt er auch mit dem gängigen Vorurteil auf, jüngere Lehrer/innen setzten als ‚Digital Natives‘18 völlig andere Schwerpunkte in der Medienwahl und könnten mit herkömmlichen Methoden wenig anfangen. Auch ihn baten wir in einem Interview, die Argumentation für den Einsatz einer herkömmlichen Kreidetafel sichtbar zu machen. Dennis J., Sonderpädagoge im 1. Dienstjahr, 28 Jahre Mein erstes Tafelbild entstand aus der Not heraus. Ich wollte in Klasse 1/2 Lernwörter, passend zum gerade thematisierten Buchstaben in Klasse 2, einführen. Doch morgens war der Farbdrucker defekt und ich konnte die Wortbilder nicht drucken. Also malte ich jedes Wortbild einfach selber (Igel, Insel, Indianer etc.). Dabei fiel mir auf, wie ansprechend und motivierend der Malvorgang selbst für die Schüler/innen war. Aus Zeitgründen hatte ich die Wortbilder in den Folgestunden teilweise schon an die Tafel gemalt. Auch hier fiel mir die große Faszination der Kinder für meine Bilder auf. Das Interesse der Schüler/ innen, sich mit dem Unterrichtsinhalt auseinanderzusetzen, verselbstständigte sich, da sie es mir gleichtun und die Bilder mit dem jeweiligen Wort in ihr Heft übernehmen wollten. Ich wunderte mich oft darüber, warum die Kinder meine Bilder so faszinierend fanden, obwohl die kopierten Bilder in der Regel farbenreicher sind und professioneller aussehen. Bis dahin malte ich mit normaler Schreibkreide. Die Kinder konnten sich die Wörter so, mit all ihren orthographischen Besonderheiten (‚ie‘ oder ‚nn‘ etc.), durch die emotionale Verknüpfung besser einprägen als in früheren Worteinführungen, in denen ich nur kopierte Bilder verwendet hatte. Zu guter Letzt machte mir das Malen und auch die Worteinführungen selbst so viel mehr Spaß. Ich begann mich mit der Tafelmalerei über Literatur und via YouTube zu beschäftigen und probierte mich darin aus. Als ich die Tutorials verfolgte und sah, wie die Tafelbilder sukzessive entstanden, konnte ich an mir dieselbe Begeisterung feststellen, wie sie meine Schüler/innen empfunden haben mussten, was mich weiter in meinem Vorhaben zur Tafelmalerei bestärkte. Daraufhin begann ich prägnante Szenen aus 18 Der Ausdruck ‚Digital Native‘ beschreibt Vertreter einer Generation, die in der aktuellen Mediengesellschaft aufwachsen.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
5.2 Sich verändernde Medien
271
Geschichten in etwas aufwändigerer Form und mit richtiger Tafelmalkreide an die Tafel zu malen. Im Schulalltag freuen sich die Kinder regelmäßig auf einen neuen Buchstaben, weil sie schon auf das neue Tafelbild gespannt sind, das ich nur für sie an der Tafel anfertigen werde. Die Tafelbilder sind dabei so ausgewählt, dass sie bei Buchstabeneinführungen entweder den Buchstaben oder die Lautgebärde im Bild enthalten und zur Geschichte passen. Auch zu längeren Geschichten oder Märchen male ich prägnante Szenen, um die Inhalte lebendiger und greifbarer zu machen. Ich denke, selbstgemalte Tafelbilder sind eine große Unterstützung beim Lernen, weil so der Gegen- Abbildung 5.6: Tafelbild im 1. Schuljahr stand, das Tier, der Mensch, die selbstgemalte Szene für die Lernenden noch ein Stück greifbarer und lebendiger werden. Gerade Kindern der Klasse 1/2, die sich noch in der Phase des konkreten Denkens befinden, hilft es, sich einen zunächst sehr abstrakten Unterrichtsinhalt anzueignen. Die Bilder haben auch eine emotionale Wirkung auf die Kinder: Ein selbstgemaltes oder mit den Lernenden gemeinsam entwickeltes Tafelbild kann mehr Emotionen transportieren als eine Kopie oder ein projiziertes Bild. Die Kinder empfinden es oftmals als ausdrucksstärker und lebendiger – vor allem, wenn man anschließend aus den Bildern Buchstaben o.ä. zum Leben erwecken kann. Auch das Verwischen der Kreide bzw. das Nachfahren des Buchstabens/der Zahl im Tafelbild empfinden die Kinder als sehr lustvoll, wobei sie sehr genau darauf achten, dem Bild nicht zu schaden. Auch hier kann zunächst das Tafelbild und anschließend der Unterrichtsgegenstand konkret greifbar für sie werden – egal auf welchem Lernniveau sich ein Kind befindet. Meine Schüler/innen bauen im Laufe eines Schuljahres eine enge Beziehung zu mir auf. Sie erkennen, dass das jeweilige Bild nur für sie an die Tafel gemalt wurde. Und im Gegensatz zur Bildkopie zielt das Tafelbild nicht nur auf die Motivation für den jeweiligen Inhalt, sondern auch auf die Wertschätzung der Kinder ab: Ich male etwas an die Tafel, weil ich euch eine Freude bereiten möchte, weil ihr jede Mühe wert seid. Zudem unterstützt die Gestaltung eines Tafelbildes sowie das anschließende Abzeichnen grundlegende feinmotorische Fertigkeiten sowie pränumerische und kognitive Fähigkeiten.“ Auch sein Fazit verzichtet auf Schwarz-Weiß-Malerei. Er betont, dass er auch digitale Medien im Unterricht einsetze und als gleichwertig wichtig im Schulleben erachte, da Smartphones, Tablets und PCs zur Lebenswelt seiner Schüler/
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
272
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
innen gehören, und sie Kompetenzen in den Unterricht einbringen, auch bereits in Klasse 1. Er verweist auf unterschiedliche Lernarrangements, die die Medienvielfalt ermöglichen. Tafelbilder finden nicht nur in der Grundschule eine Daseinsberechtigung. In allen Schulstufen ist die Tafelgestaltung didaktisch und methodisch wichtig, deren Aufgabenspektrum nicht unterschätzt werden sollte. Prinzipiell sind zwei Vorgehensweisen zu unterscheiden: 1. Stegreiftafelaufschriebe sind ungeplant und entstehen aus der Situation heraus. • Auf der „Arbeitstafel“ werden Äußerungen, Stichworte oder Hypothesen von Schüler/innen festgehalten, visualisiert und ggf. überprüft. • Ein Thema wird durch ein Mind-Map erschlossen bzw. visualisiert. • Ein Klassengespräch wird in Stichworten festgehalten. • Zwischenschritte von komplexen Gedanken werden visualisiert. Sachverhalte werden entschleunigt und veranschaulicht. • Notizen für Arbeitsvorgänge, Arbeitsanweisungen bleiben als Merkhilfe über Arbeitsphasen hinweg sichtbar. • (Stumme) Impulse werden in Form von Symbolen, Schrift oder Bild skizziert. • Ad hoc auftretende Verständnisprobleme werden für alle sichtbar aufgegriffen und geklärt, wenn beispielsweise eine Rechenaufgabe exemplarisch gelöst wird etc. • Stegreiftafelaufschriebe können dynamisch und interaktiv gestaltet werden. 2. Strukturierte Tafelaufschriebe sind fester Bestandteil der Unterrichtsplanung (vgl. Abb. 5.7). • Statische Tafelbilder sind bereits komplett ausgearbeitet und werden von den Schülerinnen und Schülern übernommen. • Dynamische Tafelaufschriebe werden gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern entwickelt. • Interaktive Tafelaufschriebe beziehen die Schüler/innen beispielsweise in Übungsphasen ein. Der strukturierte Tafelanschrieb wird zunehmend durch den Einsatz von Arbeitsblättern verdrängt. Das genießt in der aktuellen Bildungslandschaft eine hohe Akzeptanz, da es vordergründig Arbeitszeit einspart und auch im Unterricht weniger zeitintensiv erscheint. Verlage liefern passend zum Lehrwerk Kopiervorlagen, die Differenzierungsaufgaben, zum Teil auf unterschiedlichen Lernniveaus, erleichtern (sollen). Die Fülle an Unterrichtsmaterialien, die die Unterrichtsvorbereitung zu einem Lerninhalt erleichtern sollen, erschweren zunehmend eine sachlogische Orientierung. Für Lehrer/innen wird es immer wichtiger, kritisch zu hinterfragen: Für welche Lerngruppe ist das Arbeitsmaterial geeignet? Lohnt eine Kopie? Bietet das Material eine qualitative Differenzierung, beispielsweise auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus (vgl. Kap.2)? Wann bewirkt eine
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
5.2 Sich verändernde Medien
273
Abbildung 5.7: Strukturierter Tafelaufschrieb im Fach Englisch für Klassenstufe 8
quantitative Differenzierung nicht nur eine (ruhigstellende) Beschäftigung? Sind die Materialien editierbar? Das Übernehmen des Tafelbildes ist zwar etwas ‚aus der Mode gekommen‘, in seinen lerntheoretischen Überlegungen jedoch keinesfalls antiquiert. Das Abschreiben erleichtert beispielsweise das Memorieren, es schärft den Blick für Unklarheiten, Rechtschreibung und Handschrift werden ‚trainiert‘, Schüler/innen übertragen die Einteilung von der Tafel auf Papier, lernen Wichtiges durch Unterstreichen oder durch unterschiedliche Farben hervorzuheben, mit Pfeilen und Symbolen Texte sprachlich zu entlasten. Das sind unverzichtbare Kompetenzen für alle Schüler/innen, die von Lehrer/innen aus allen Schulstufen und darüber hinaus bis in den Hochschulbetrieb hinein längst angemahnt werden. Ein Tafelanschrieb, wie er in Abbildung 5.6 zu sehen ist, bedarf der Übung. War die sachgerechte und ästhetische Gestaltung des Tafelbildes früher ein verpflichtendes Seminar in der Lehrerbildung,19 bleibt es heutigen Lehrer/innen weitgehend selbst überlassen, aus Erfahrungen zu lernen. Aller Anfang ist schwer: Maria, Sekundarlehrerin, 32 Jahre Mein erstes Tafelbild war ein Fiasko. Ich hatte mir im Vorfeld einfach nicht überlegt, wie ich mir die Tafel einteilen sollte. Meine Handschrift ist zwar gut, doch war sie an der Tafel leider viel zu klein, wie ich erst am Ende der Stunde bemerkte. Meine geschriebenen Zeilen wurden von einem unsichtbaren Magnet 19 Vgl. z.B. Sandtner, Hilda (1968): Tafelzeichnung und Hefteintrag in Grund- und Hauptschule. Donauwörth.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
274
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
Abbildung 5.8: Handangefertigtes Tafelbild
geradezu an den rechten unteren Rand gezogen. An ein Lineal hatte ich auch nicht gedacht. In der Regel kann ich gerade Striche ziehen und benötige kein Lineal. Die Größenverhältnisse an der Tafel sind aber einfach anders. Mein Stundenergebnis, das ich kurz und prägnant, gut strukturiert angedacht hatte, verlor sich im Nirwana. Im Laufe der Jahre habe ich viel mit unterschiedlichen Tafelanschrieben gearbeitet und kann heute sowohl aus dem Stegreif als auch einen im Vorfeld geplanten Anschrieb gut strukturiert und sauber an die Tafel bringen.“ Die Fähigkeit zu einer gut strukturierten Tafelgestaltung sollte sich jede Lehrkraft aneignen. Als Minimalkonsens hierfür steht eine sauber geputzte Tafel, eine klare Handschrift, korrekte Orthografie, Strukturierungshilfen durch Unterstreichen und farbige Kreide/Stifte. Der Präzision und künstlerischen Gestaltung sind keine Grenzen gesetzt, wie Till Walther20 in seinen künstlerischen Tafelbildern eindrücklich verdeutlicht. T. Walther fertigt aufwändige Tafelbilder (vgl. Abb. 5.8) für seine Schüler/innen an, die diese dann in ihre Epochenhefte übernehmen. Medien bieten unterschiedliches Potenzial. Der Medieneinsatz bedarf dabei einer gründlichen Reflexion. Sowohl der Einsatz digitaler Medien als auch das Erstellen herkömmlicher Tafelbilder sind wichtig, können Schüler/innen motivieren und stützen Lernprozesse in vielfältiger Weise – ein professioneller Medieneinsatz ohne die notwendigen Kompetenzen ist dabei nicht möglich. Diese reichen von malerischen und zeichnerischen Fähigkeiten über eine saubere Handschrift, im Übrigen mit guten Orthografie-Kenntnissen, bis hin zum technischen Knowhow für die Handhabung digitaler Medien im Unterricht, der sich die Lehrerbildung annehmen muss, die aber auch in der Lehrerfort- und Weiterbildung einen festen Platz zukommen muss.
20 Till Walther ist Lehrer an einer Waldorfschule nahe Fulda und unterrichtet Erdkunde und Biologie bis zum Abitur.
Literatur
275
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Arbeitsaufgaben „An unserer Schule herrscht generelles Smartphone-Verbot, was viele Eltern nicht verstehen können. Wenn ich einen Schüler mit seinem Smartphone erwische, muss ich es ihm abnehmen und die Eltern können es dann nach Schulende wieder abholen. Das Handy muss ausgeschaltet sein und in der Schultasche. Ich finde die Regelung richtig, wir hatten einfach schon zu viele Zwischenfälle damit.“ (Ulrike B., Lehrerin an einer Grundschule) 1. Teilen Sie die Einstellung der Lehrerin? Mit welchen Argumenten wurde die Lehrerin wohl von Elternseite konfrontiert? 2. Recherchieren Sie die rechtliche Lage dieses Sachverhaltes. 3. Welchen Umgang mit Smartphones würden Sie an ihrer Schule favorisieren? 4. Welche Regelungen kennen Sie in Bezug auf den Smartphone-Gebrauch?
Literatur Bamberger, Richard (1958): Das Kind vor der Bilderflut des Alltages. In: Bamberger, Richard (Hrsg.): Das Kind in unserer Zeit. Band 262. Stuttgart, S.136-150. Bildungspläne Baden-Württemberg (2016). http://www.bildungsplaene-bw. de/,Lde/Startseite/BP2016BW_ALLG/BP2016BW_ALLG_LP_MB. (Stand 10.02.2018). Bitkom-Studie (2014): Kinder und Jugend 3.0. https://www.bitkom.org/Presse/ Presseinformation/Smartphone-und-Internet-gehoeren-fuer-Kinder-zum-Alltag.html. (Stand 10.9.2017). BLIKK (2017): Stiftung Kind und Jugend. http://www.drogenbeauftragte.de/presse/pressekontakt-und-mitteilungen/2017/2017-2-quartal/ergebnisse-derblikk-studie-2017-vorgestellt.html. (Stand 10.02.2018). Bos, Wilfried/Eickelmann, Birgit/Gerick, Julia/Goldhammer, Frank/Schaumburg, Heike/Schwippert, Knut/Senkbeil, Martin/Schulz-Zander, Renate/ Wendt, Heike (Hrsg.): ICILS 2013 – Computer- und informationsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern der 8. Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich. Münster. Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt. Sonderband 2. Göttingen, S. 183-198. Bronfenbrenner, Uri (1974): ,Wie wirksam ist kompensatorische Erziehung?‘. Stuttgart. Comenius, Amos (Original 1657): Große Didaktik. Die vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren. Herausgegeben v. Flitner, Andreas (2008), 10. Aufl., Stuttgart. Deckert-Peaceman, Heike (2007): Haus-Aufgabe in der Schule? In: Lernende Schule Jg. 10, H. 39, S. 18-19.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
276
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
Deutsche Alzheimer Gesellschaft (2018). https://www.deutsche-alzheimer.de/ unser-service/archiv-alzheimer-info/vorbeugung-gegen-demenz.html. Deutscher Bildungsrat (1971): Strukturplan für das Bildungswesen. Stuttgart. Dräger, Jörg (2017): Kinderarmut in Deutschland oft ein Dauerthema. https:// www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2017/oktober/kinderarmut-ist-in-deutschland-oft-ein-dauerzustand/ (Stand 10.02.2018). Eickelmann, Birgit (2010): Digitale Medien in Schule und Unterricht erfolgreich implementieren. Münster. Eigler, Gunter/Krumm, Volker (1972): Zur Problematik der Hausaufgaben. Über die Mitarbeit der Eltern bei Hausaufgaben. Ergebnis einer Befragung von Eltern von Gymnasiasten der Klassen 5 bis 8 und einer Befragung von Gymnasialrektoren. Weinheim/Basel. Enders-Dragässer, Uta (1981): Die Mütterdressur. Eine Untersuchung zur schulischen Sozialisation der Mütter und ihre Folgen am Beispiel der Hausaufgaben. Basel. Flitner, Andreas (1985): Konrad sprach die Frau Mama. Über Erziehung und Nicht-Erziehung. München und Zürich. Fölling-Albers, Maria/Heinzel, Friederike (2007): Familie und Grundschule. In: Ecarius, Jutta (Hrsg.): Handbuch Familie. Wiesbaden, S. 300-320. Geißler, Rainer (2006): Bildungschancen und soziale Herkunft. In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, Jg. 37, H. 4, S. 34-49. Haag, Ludwig/Streber, Doris (2015): Hausaufgaben in der Grundschule. In: Zeitschrift für Grundschulforschung. Bildung im Elementar- und Primarbereich, Jg. 8, H. 2, S. 86-99. Hattie, John Allan Clinton (2009): Visible Learning. A synthesis of over 800 metaanalyses relating to achievement. London/New York. Helmke, Andreas (2002): Kommentar: Unterrichtsqualität und Unterrichtsklima: Perspektiven und Sackgassen. In: Zeitschrift für Lernforschung, Jg. 30, H. 3, S. 261-277. Helmke, Andreas (2007): Guter Unterricht – nur ein Angebot? Interview mit dem Unterrichtsforscher Andreas Helmke. In: Meyer, Hilbert/Terhart, Ewald: Friedrich Jahresheft 2007 (unterrichtsdiagnostik.info [PDF]). Herzig, Bardo (2014): Wie wirksam sind digitale Medien im Unterricht. https:// www.bertelsmannstiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Studie_IB_Wirksamkeit_digitale_Medien_im_Unterricht_2014.pdf. (Stand 10.02.2018). Himmelrath, Armin (2015): Hausaufgaben nein danke! Warum wir uns so bald von wie möglich von Hausaufgaben verabschieden sollten. http://www.hepverlag.de/media/import/preview/hausaufgabenneindanke.pdf. Hoffmann, Heinrich (1845): Der Struwwelpeter. Köln. Ingenkamp, Karlheinz (Hrsg.) (1989): Was wissen unsere Schüler? Überregionale Lernerfolgsmessung aus internationaler Sicht. Weinheim.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Literatur
277
International Computer and Information Literacy Study. ICILS. (2013). https:// www.bmbf.de/de/icils-international-computer-and-information-literacy-study-921.html Irion, Thomas (2014): Lernen mit interaktiven Whiteboards und Tablets. In: Die Grundschulzeitschrift. Jg. 28, Heft 275, S. 35-39. Jim-Studie (2016): Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, Jugend, Information, (Multi-) Media. https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/ JIM/2016/JIM_Studie_2016.pdf (Stand 10.09.2017). Kamm, Helmut/Müller, Erich (1977): Hausaufgaben sinnvoll gestalten, 2. Auflage. Freiburg. Keck, Rudolf (2004): Hausaufgaben. In: Keck, Rudolf/Sandfuchs, Uwe/Feige, Bernd (Hrsg.): Wörterbuch Schulpädagogik. Ein Nachschlagewerk für Studium und Schulpraxis, 2. völlig überarbeitete Auflage. Bad Heilbrunn. Knauf, Tassilo (2000): Reggio-Pädagogik. In: Fthenakis, Wassilios E./Textor, Martin R. (Hrsg.): Pädagogische Ansätze im Kindergarten. Weinheim und Basel, S. 181-201. Krack-Roberg, Ellen/Rübenach, Stefan/Sommer, Bettina/Weinmann, Julia (2016): Lebensformen in der Bevölkerung, Kinder und Kindertagesbetreuung. In: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Auszug aus dem Datenreport 2016: Familie, Lebensformen und Kinder, S. 43-59. https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Datenreport/Downloads/Datenreport2016Kap2.pdf?__blob=publication File (Stand 10.02.2018). Kurz, Peter (2012): Teurer Spaß, was kostet ein Kind?. http://www.wz.de/home/ ratgeber/specials/meine-familie/teurer-spass-das-kostet-ein-kind-1.1101611 (Stand 10.02.2018). Lipowski, Frank (2004): Dauerbrenner Hausaufgaben. Befunde der Forschung und Konsequenzen für den Unterricht. In: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 12, H. 4, S. 40-44. Lipowski, Frank (2006): Auf den Lehrer kommt es an. Empirische Evidenzen für Zusammenhänge zwischen Lehrerkompetenzen, Lehrerhandeln und dem Lernen der Schüler. In: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 52, Beih. 51, S. 47-70. Lipowski, Frank (2007): Hausaufgaben. Auf die Qualität kommt es an! Ein Überblick über den Forschungsstand. In: Lernende Schule, Jg. 10 , H. 39, S. 7-9. Lüke, Stefan (2013): Von Hausaufgaben zu Lernzeiten: ein langer Prozess. http:// www.ganztag-nrw.de/fileadmin/Dateien/Bilder/Forum_GTS_NRW_2016/Foren/Forum_F/Schulminsiterium_Lernzeiten.pdf (Stand 10.02.2018). Ministerium für Kultus, Jugend und Sport, Baden-Württemberg (2016): Bildungspläne Baden-Württemberg. http://www.bildungsplaene-bw.de/,Lde/ Startseite/BP2016BW_ALLG/BP2016BW_ALLG_LP_MB Moser, Heinz (2006): Einführung in die Medienpädagogik. Aufwachsen im Medienzeitalter. 4., überarbeitete und aktualisierte Auflage, Wiesbaden. Müller, Johannes (1886): Ordnung für die Lateinschule zu Bayreuth um das Jahr 1464; gesammelt in: Israel, August/Müller, Johannes (Hrsg.): Sammlung sel-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
278
5. Vermeintliche Nebensächlichkeiten
ten gewordener pädagogischer Schriften früherer Zeiten. 13. Vor- und frühreformatorische Schulordnungen und Schulverträge in deutscher und niederländischer Sprache, 2. Abteilung, 1505-1523. Paul, Gerhard (2013): BilderMACHT: Studien zur Visual History des 20. und 21. Jahrhunderts. Göttingen. Postman, Neil (1987): Wir amüsieren uns zu Tode: Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt/Main. Reggio Children (Hrsg.) (2002): Hundert Sprachen hat das Kind: Die deutschitalienische Originalausgabe zur Ausstellung. München. Röbe, Edeltraud (2008): Hausaufgaben! Hausaufgaben? Hausaufgaben. In: Diskowski, Detlef/Pesch, Ludger (Hrsg.): Familien stützen – Kinder schützen. Was Kitas beitragen können. Weimar und Berlin, S. 119-134. Roßbach, Hans-Günther (1995): Hausaufgaben in der Grundschule. In: Die Deutsche Schule, Jg. 87, H. 1, S. 103-112. Roth, Heinrich (1967): Begabung und Begaben. In: Ballauff, Theodor/Hettner Hubert (Hrsg.): Begabungsförderung und Schule. Darmstadt, S. 18–36. Roth, Heinrich (Hrsg.): Begabung und Lernen. Ergebnisse und Folgerungen neuer Forschungen, Klett Verlag, Stuttgart 1969 (Gutachten und Studien der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates, Band 4). Rousseau, Jean-Jacques (1762/1993): Emile oder Über die Erziehung. Vollständige Ausgabe in der neuen deutschen Fassung, Paderborn, München, Wien und Zürich. Sacher, Werner (2006): Elternhaus und Schule. Bedingungsfaktoren ihres Verhältnisses, aufgezeigt an der bayerischen Studie vom Sommer 2004. In: Bildung und Erziehung. Jg. 59, H.3, S. 302-322. Sacher, Werner (2014): Elternarbeit als Erziehungs- und Bildungspartnerschaft. Grundlagen Gestaltungsvorschläge für alle Schularten, 2. Auflage. Bad Heilbrunn. Sacher, Werner/Asbrand, Barbara/Eberle, Annette/Heyder, Friedrich/KräußleinLeib, Karina/Kegelmann, Udo/Kleber, Edith/Kohlhof, Christiane/Lang-Wojtasik, Gregor/Lohrmann, Katrin/Metzger, Klaus/Metzger, Susanne/Pfeiffer, Wolfgang/Schmidt, Christine/Schulz, Georg/Vogel, Klaus/Weishart, Heike/ Werner, Karl-Hermann (2003): Medienerziehung konkret. Praxisbeispiele für die Grundschule. Bad Heilbrunn. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister (2012). Kultusministerkonferenz. Medienbildung in der Schule. http://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2012/2012_03_08_Medienbildung. pdf (Stand 10.02.2018). Senkbeil, Martin/Wittwer, Jörg (2008): Antezedenzien und Konsequenzen informellen Lernens am Beispiel der Mediennutzung von Jugendlichen. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 10, Sonderheft 10, S. 107–128. Spitzer, Manfred (2005): Vorsicht Bildschirm. Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft. Stuttgart.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Literatur
279
Spitzer, Manfred (2014): Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. München. Standop, Jutta (2013): Hausaufgaben in der Schule. Theorie, Forschung, didaktische Konsequenzen. Bad Heilbrunn. Werding, Martin/Hofmann, Herbert (2005): Die fiskalische Bilanz eines Kindes im deutschen Steuer- und Sozialsystem, München 2005. http://www.cesifogroup.de/DocDL/ifo_Forschungsberichte_27.pdf (Stand 10.02.2018). Wiere, Andreas (2011): Wie wirkt die Ganztagsschule? Forschungsfragen und Befunde. In: Gängler, Hans/Markert, Thomas (Hrsg.): Vision und Alltag der Ganztagsschule: Die Ganztagsschulbewegung als bildungspolitische Kampagne und regionale Praxis. Weinheim, S. 13-32. Wittmann, Bernhard (1972): Vom Sinn und Unsinn der Hausaufgaben. Empirische Untersuchungen über ihre Durchführung und ihren Nutzen; aus der Arbeit des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung. 2., durchges. und erg. Auflage. Neuwied. Wittmann, Reinhard (1999): Gibt es eine Leserevolution am Ende des 18. Jahrhunderts?. In: Chartier, Roger/Cavallo, Guglielmo (Hrsg.): Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Frankfurt/Main, S. 419-454. Wolf, Norbert (2008): Hausaufgaben an der Ganztagsschule. In: Appel, Stefan/ Ludwig, Harald/Rother, Ulrich/Rutz, Georg (Hrsg.): Leitthema Lernkultur. Schwalbach/Taunus, S. 184-201.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
6. Entwickeln der Lehrerpersönlichkeit – trotz gegebener Spannungsverhältnisse „Zu lernen ist schwer. Zu lehren noch schwerer. Mir ist dieses Thema gut bekannt. Ich kenne den deutschen Volksschullehrer aus erster Hand.“ Erich Kästner (1899-1944)
Abstract Da sich das unterrichtliche und außerunterrichtliche Arbeiten sowohl auf Kinder/Jugendliche als auch auf Erwachsene bezieht und „störungsanfällig“ ist, bedarf die professionelle Beziehungsgestaltung einer kontinuierlichen Reflexivität von Seiten der Lehrer/innen. Diese arbeiten zudem häufig, vor allem im Kontext der inklusiven Schule oder der Ganztagsschule, nicht nur mit der eigenen Profession, sondern auch mit anderen Berufsgruppen eng zusammen. Gerade die mitgebrachten und erworbenen normativen Überzeugungen, Einstellungen und Haltungen der Lehrer/innen sowie die damit korrespondierende Entwicklung eines pädagogischen Ethos prägen das eigene Arbeiten in der Schule. Diese wirken handlungsleitend in Bezug auf den Umgang mit schulischen Akteur/innen und mit schulischen Inhalten, auch wenn dies mehrheitlich nicht bewusst geschieht. Reflexivität stellt somit für alle Lehrer/innen eine wichtige Kategorie für das professionelle Handeln dar, um die eigene Lehrerpersönlichkeit weiterzuentwickeln und auch mit kritischen Ereignissen konstruktiv umgehen zu können. Die Professionalisierung erfolgt ein Berufsleben lang und kann zu keinem Zeitpunkt als endgültig abgeschlossen gelten.
6.1 Person und Profession im Beziehungsgeschehen Maria S., Lehrerin, 3 Jahre Berufserfahrung, 37 Jahre „Meine Teamkollegin war damals vierzig und hatte bereits viele Jahre an einer anderen Grundschule im Team gearbeitet. Sie schien immer genau zu wissen, was sie macht, während ich direkt nach dem Referendariat als Lehrerin noch keine große Erfahrung hatte und dann gleich mit ihr gemeinsam eine erste Klasse mit fünf behinderten Kindern übernehmen durfte. Ich habe mich häufig
282
6. Entwickeln der Lehrerpersönlichkeit
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
als passiv im Unterricht erlebt, weil meine Kollegin immer schnell ihre Ideen einbrachte und es für mich schwierig war, dagegen zu halten.“ Selbst die Zusammenarbeit mit Kolleg/innen der gleichen Hierarchieebene ist, wie das Eingangszitat verdeutlicht, nicht ohne Konfliktpotential und kann asymmetrisch verlaufen. Es kann keine einfachen Antworten darauf geben, wie sich in optimaler Weise das Lehrer/in-Werden, Lehrer/in-Sein und Lehrer/in-Bleiben gestalten und ausgestalten kann, da der Lehrerberuf ein hochkomplexer ist und auch in Bezug auf die Zusammenarbeit mit Kolleg/innen aus der gleichen Berufsgruppe nicht vorausgesetzt werden kann, dass die Teamarbeit per se gelingt (vgl. Kap. 1). Besonders deutlich können die Machtverhältnisse zwischen Lehrer/innen, in der Zeit als Junglehrer/in (vgl. Erfahrungsbericht) sowie im Referendariat erlebt werden, nicht zuletzt wegen des Erfahrungsvorsprungs von berufserfahrenen Kolleg/innen. Gerade im Vorbereitungsdienst sind die angehenden Lehrer/innen zudem in einem asymmetrischen Verhältnis in das Kollegium eingebunden. Sie üben zwar alle nach der Zeit der Hospitation im selbstständigen Unterricht Lehreraufgaben aus, verbleiben aber gleichzeitig im Seminar in der Schülerrolle und sind abhängig von Bewertungen durch Mentor/innen und Schulleiter/innen. Lehrer/innen agieren stets in einem institutionellen Rahmen, in dem unterschiedliche Formen von Gewalt eingelagert sind, zum Beispiel die strukturelle Gewalt (in Form von Hierarchien) sowie die physische und psychische Gewalt (zwischen Schüler/innen und Schüler/innen bzw. zwischen Schüler/innen und Lehrer/innen). Schule als Institution umfasst damit nicht nur „allgemein sozial verankerte Deutungs- und Handlungsmuster“ (Maurer 2012, S. 86), sondern auch offene und verstecke Machtverhältnisse. 6.1.1 Wege zur Professionalität Es ist nicht einfach zu bestimmen, was professionelles Lehrersein inhaltlich umfasst. Lehrer/in ist man auf der individuellen Ebene immer in der Spannung zwischen Profession und Person. Auf der strukturellen Ebene, vornehmlich der Lehrerbildung, wird seit Jahrzehnten debattiert, wo und wie Lehrer/innen für die komplexe Praxis vorbereitet werden können und in welchem Verhältnis die theoretischen und praktischen Inhalte der Lehrerbildung stehen. Auf der Theorieebene werden die Idee und Argumentation vertreten, dass der Beruf des Lehrers erst im Praxisfeld Schule und nicht schon im Studium an der Hochschule erlernt werden kann. Insgesamt bleibt dies aber auch nach einer jahrzehntelangen wissenschaftlichen Debatte über das Theorie-Praxis-Verhältnis weiterhin theoretisch wie empirisch ungeklärt.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
6.1 Person und Profession
283
Es ist fraglich, ob sich die Lehrerbildung durch einen höheren quantitativen Praxisanteil während des Studiums qualitativ verbessern lässt. In der Lehrer- und Lehrerbildungsforschung wird je nach quantitativem oder qualitativem Forschungsansatz unterschiedlich argumentiert. Es gibt hierbei zwei Hauptgruppen von Professionstheorien: • Lehrerwissensmodelle und kompetenzorientierte Ansätze • Struktur-, system-, reflexions- und berufsbiographische Ansätze Lehrerwissensmodelle und kompetenzorientierte Ansätze Kompetenzorientierte professionstheoretische Zugänge haben sich im Anschluss an Lee Shulman (vgl. Shulman 1986) herausgebildet. Gerade im Kontext der eher psychologischen und fachdidaktisch orientierten Lehr-Lern-Forschung wird davon ausgegangen, dass sich professionelles Lehrerhandeln auf unterschiedliche Wissensformen bezieht. Neben fachwissenschaftlichem, fachdidaktischem und pädagogischem Wissen werden gerade auch berufsbezogene Überzeugungen als relevant erachtet. Exkurs: Lehrerwissensmodell nach Lee Shulman Der Professor der Stanford Universität in Amerika, Lee Shulman (1986), gilt als einer der Urbegründer der englischsprachigen und deutschen Forschung zu Lehrerwissen und Lehrerwissensmodellen. Es gibt in Anknüpfung an Shulman eine Reihe von deutschen Studien zum Lehrerwissen. Es wird jedoch nur wenig Forschung zur ersten Phase der Lehrerbildung vorgelegt, die überdies stark von der Fachdidaktik (z.B. Mathematikdidaktik) dominiert wird. Neuere Studien aus dem Bereich der kompetenzorientierten Professionsforschung und der fachdidaktischen Forschung – wie etwa die COACTIV-Studie (Professionswissen von Lehrkräften, kognitiv aktivierender Mathematikunterricht und die Entwicklung mathematischer Kompetenz) oder die TEDS-M-Studie (Teacher Education and Development Study. Learning to Teach Mathematics) – sind in ihren Ergebnissen zwar interessant, jedoch nur bedingt übertragbar zum Beispiel auf die Situation der (angehenden) Grundschullehrer/innen, die weniger als Fachlehrer/innen, denn als Klassenlehrer/innen sowohl fachübergreifend, vor allem im Sachunterricht, aber auch in anderen Fächern, fachfremd unterrichten müssen. Der Terminus „Professionalität“ wird in der erziehungswissenschaftlichen Literatur ganz unterschiedlich verstanden und gefüllt. Er bezieht sich grundsätzlich auf ein spezifisches Verständnis davon, was berufliches Wissen und professionelles Handeln sein soll (vgl. Reh 2004). Aus der Sicht einer kompetenzorientierten Lehrerforschung wird von spezifischen Domänen des Lehrerwissens bzw. einer Einteilung
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
284
6. Entwickeln der Lehrerpersönlichkeit
in ein fachwissenschaftliches, fachdidaktisches und methodisches Wissen ausgegangen und auch auf den hohen Einfluss von Werthaltungen und Überzeugungen der Lehrer/innen auf ihr unterrichtliches Handeln hingewiesen. Überzeugungen sind feste Meinungen, die durch Erfahrungen gewonnen wurden und von deren Richtigkeit man überzeugt ist, sie wirken handlungsleitend im Alltag der Lehrer/ innen (vgl. z.B. Reusser/Pauli/Elmer 2013). Die kompetenzorientierte Lehrerforschung geht von einem engen Zusammenhang zwischen Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität aus und orientiert sich an fachlichen Professionsstandards. Zu den Hauptvertreter/innen einer professionsorientierten Unterrichtsforschung in Deutschland gehört Andreas Helmke, der sich aus psychologischer Sicht mit Unterrichtsdiagnostik und -evaluation befasst (z.B. Helmke 2012). Struktur-, system-, reflexions- und berufsbiographische Ansätze Konzepte, die sich wie die kompetzenzorientierte Professionsforschung mit dem sogenannten Professionswissen beschäftigen (vgl. z.B. Baumert/Kunter 2006), beziehen sich im Kern auf die Theorie und Forschung des US-Amerikaners Lee Shulman (1986) und stellen die Frage, was es bedarf, um diesen Beruf auszuüben bzw. was professionelles Lehrerwissen ist. Ein weiterer US-amerikanischer Vertreter, Donald Schön, fokussiert in seinem Ansatz den „reflektierenden Praktiker“ („The reflective practioner“). Dieser Ansatz weist zentral auf die Bedeutung der professionellen Reflexivität hin und unterscheidet eine Reflexion während des praktischen Handelns (reflection-in-action), eine Reflexion im Anschluss an das Handeln (reflection-on-action) und eine Reflexion bezüglich des zukünftigen Handelns (reflection-for-action) (vgl. z.B. Esslinger-Hinz/Sliwka 2011). Reflexivität wird damit eine Grundvoraussetzung von Professionalität. In der Lehrerforschung gibt es ausgehend von verschiedenen Professionsbegriffen ganz unterschiedliche Professionstheorien und Professionsmodelle, zu denen neben den erwähnten auch ausgewiesene Ansätze wie der strukturtheoretische, der systemtheoretische, der handlungstheoretische oder der interaktionistische (vgl. z.B. Reh 2004) gehören. Damit wird je nach Bezugstheorie der Terminus der Lehrerprofessionalität unterschiedlich verortet und daran anknüpfend unterschiedlich geforscht, z.B. existiert eine system- sowie eine strukturtheoretische Professionsforschung, die beide eher soziologisch orientiert sind. Die systemtheoretische Professionstheorie geht hierbei auf den Soziologen Niklas Luhmann zurück, während sich die strukturtheoretische Professionstheorie auf den Soziologen Ulrich Oevermann bezieht, der die Methode der Objektiven Hermeneutik entwickelt hat. Die strukturtheoretische Professionstheorie (vgl. Helsper 2007), kann hier als ein wichtiger theoretischer Referenzrahmen dienen. Sie kann dazu beitragen, problematische Verarbeitungsformen im Sinne einer falschen Vereindeutigung der Widersprüche zu verhindern. Werner Helsper, ein Hauptvertreter der strukturtheoretischen Professionstheorie, verweist mit seinen Arbeiten (vgl. Helsper
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
6.1 Person und Profession
285
2002, 2007, 2010) etwa darauf, dass die mit dem Lehrersein einhergehenden Spannungsfelder wie „Autonomie und Zwang“, „Nähe und Distanz“, „Pädagogisches Handeln in der Spannung von Organisation und Interaktion“, „Pädagogisches Handeln in den Spannungen kultureller Pluralisierung“, „Pädagogik zwischen der Entfaltung kindlicher Natur und Disziplinierung“ und „Pädagogisches Handeln zwischen Allgemeinbildung und Brauchbarkeit“ nicht aufzulösen sind, sondern vielmehr systemimmanent dazugehören. Dies erklärt sich aus der Tatsache, dass jedes „pädagogische Handeln in den Antinomien der Moderne“ stattfindet (Helsper 2010) und zwischen Wissen und Können ein grundlegender Unterschied besteht (vgl. Helsper 2002). Lehrer/in sein bedeutet damit das Aushalten vorhandener Spannungen und Ambivalenzen in der Schule, es beinhaltet zudem ein Handeln und ein Erziehen in Hierarchien zwischen Lehrer/innen und Schüler/innen bei einem gleichzeitig notwendigen Anspruch an die Lehrer/ innen, die Kinder wertzuschätzen und als Personen anzuerkennen. Exkurs: Welcher professionstheoretische Ansatz ist der richtige? Seit den 1980er Jahren findet mit Bezug auf die Arbeiten von Lee Shulman 1980er und Donald Schön eine theoretische und forschungsbezogene Auseinandersetzung, zunächst im anglo-amerikanischen Raum, später auch in Deutschland statt, die sich vor allem in der Schulpädagogik abbildet. Strukturtheoretische und kompetenzorientierte Ansätze sind unterschiedliche professionstheoretische Ansätze, die wenig gemeinsam haben und an denen methodisch und methodologisch der alte Grundsatzstreit ‚qualitative versus quantitative Forschungsmethoden‘ neu ausgetragen wird. Während in der struktur- und systemtheoretischen Professionstheorie die Prämisse gilt, dass es sich beim Lehrerberuf um einen „unmöglichen“ Beruf handelt und das Lehrerhandeln „unbestimmbar“ ist, gehen kompetenzorientierte Ansätze grundsätzlich vom Gegenteil aus. 6.1.2 Kooperation: Herausforderung und Konflikt Schule erfordert die Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteur/innen. Dass dies nicht ohne Konflikte gelingen kann, liegt dabei auf der Hand. Vorgaben wie die KMK-Standards für die Lehrerbildung (2004/2014), die die Aufgabenfelder der Lehrer/innen definieren (vgl. Kap. 3), und die Herausforderung der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Bezug auf eine inklusive Bildung von Kindern mit und ohne Behinderung machen zwar deutlich, wie wichtig die Zusammenarbeit und Kooperation der Lehrer/innen ist. Gleichzeitig besteht hier jedoch sowohl in der Praxis als auch in der Theorie und Forschung noch ein großer Handlungsbedarf (vgl. Kap. 1).
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
286
6. Entwickeln der Lehrerpersönlichkeit
„Kooperation“ ist zu einem wichtigen Stichwort für die Schul- und Unterrichtsentwicklung sowohl in Bezug auf den Unterricht (kooperative Lernformen) als auch in Bezug auf das Lehrerhandeln allgemein geworden. Kooperation als eine „konstruktive Zusammenarbeit zwischen Organisationseinheiten zur Erreichung gemeinsamer Ziele“ (Kullmann 2010, S. 18) wird in der Schule in den letzten Jahren zunehmend bedeutsam für die Arbeit als Lehrer/in an allen Schulformen und dies auch im Hinblick auf alle Gruppen, mit denen sie im Alltag zu tun haben. So vor allem in Bezug auf andere Lehrer/innen, Eltern, aber auch in Bezug auf außerschulische Partner/innen. Kooperation stellt indes keine neue Anforderung an Lehrer/innen dar, sondern ist ein Teil des schulpädagogischen Professionsverständnisses insgesamt. Im Bereich der Übergangsgestaltung gilt es etwa, eng mit den aufnehmenden oder abgebenden Institutionen, so etwa im Grundschulbereich den Einrichtungen aus dem Elementar- bzw. dem Sekundarbereich, zusammenzuarbeiten. Meist werden dafür Kooperationslehrkräfte im Rahmen des Kollegiums bestimmt, die sich insbesondere um die Kooperation mit dem Kindergarten oder den weiterführenden Schulen kümmern sollen. Bei der Idee der Anschlussfähigkeit von Kindergarten und Grundschule geht es hier zusätzlich immer auch um eine professionsbezogene Reflexion und Auseinandersetzung mit dem jeweils eigenen Erziehungs- und Bildungsauftrag bzw. den Erziehungs- und Bildungsvorstelllungen der anderen Bildungseinrichtung: „Wir haben es aufzunehmen mit den leitenden Vorstellungen und Bildern über das Kind […] und mit dem, was eine Pädagogin ist, sein kann und sein sollte“ (Röbe 2007, S. 13). Damit können Reibungen und Machtkämpfe einhergehen, die gerade durch unterschiedliche Professionsverständnisse, Erfahrungen und pädagogische Überzeugungen bestimmt werden. Machtkämpfe können aber auch die Folge unterschiedlicher Ausgangsprämissen sein, die außerhalb der Verantwortung der eigenen Person liegen, z.B. die unterschiedliche Bezahlung, die mit dem Absolvieren unterschiedlicher Ausbildungsgänge begründet wird. Damit wird gleichfalls die Frage aufgeworfen, ob es tatsächlich eine hierarchiefreie und auf Augenhöhe stattfindende Zusammenarbeit geben kann. Neben einer Kooperation mit außerschulischen Akteur/innen wie den Erzieher/innen in Bezug auf den ersten Übergang oder den Lehrer/innen der weiterführenden Schulen in Bezug auf den zweiten Übergang nach der Grundschule, gibt es auch schulintern unterschiedliche Kooperationen. In diesem Forschungsfeld der unterrichtsbezogenen Zusammenarbeit innerhalb der eigenen Schule liegen indes kaum Studien vor (vgl. Kullmann 2010, Steinert/Klieme/Maag/ Merki/Döbrich/Halbherr/Kunz 2006). Einzelne Studien wie die Untersuchung „Sonderschullehrer an Grundschulen als Präventionslehrer in der Stadt Frankfurt am Main“ von Marc Willmann (2007) verweisen lediglich für den Bereich der Zusammenarbeit an integrativen bzw. inklusiven Schulen darauf, dass es bei der unterrichtlichen Zusammenarbeit von zwei Lehrer/innen schwierig ist, auf Augenhöhe miteinander Unterricht zu planen, durchzuführen und zu besprechen. Ebenso scheint es komplex, auch die anderen Lehreraufgaben gleichbe-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
6.1 Person und Profession
287
rechtigt zu teilen, denn schnell wird eine Aufteilung in eine „Expertenlehrkraft“ (für auffällige Kinder), die der anderen Lehrergruppe Tipps geben kann und den „wirklichen Lehrer/innen“, vorgenommen. Die Erfahrungen mit Team-Teaching im Kontext integrativer/inklusiver Schulen, die in Deutschland seit 40 Jahren vor allem im Grundschulbereich gemacht werden, beziehen sich zudem mehrheitlich auf Versuchs- oder Modellschulen (vgl. Müller/Prengel 2013). Sie sind damit nicht verallgemeinerbar und dies aus zwei Gründen: Zum einen haben sich diese Schulen und Lehrerkollegien freiwillig und bewusst für diese Form der Erprobung und die intensive Schul- und Unterrichtsentwicklung entschieden (im Gegensatz zur aktuellen Situation); zum anderen konnten diese Schulen auch mit Ressourcen und Unterstützung von anderen Trägern rechnen und sich intensiv mit der Frage einer veränderten Methodik und Didaktik im Rahmen der Kooperation befassen. An kleinen Schulen oder an Modell- und Versuchsschulen waren günstige Bedingungen gegeben, z.B. eine durchgehend vorhandene Doppelbesetzung mit Lehrkräften und kleine Klassen. Deshalb eignen sich die Ergebnisse nur bedingt zum Vergleich mit einer städtischen, mehrzügigen Schule oder einer Schule mit Personal- und Raumknappheit und den damit einhergehenden Problemlagen. Symmetrien und Asymmetrien – Macht und Ohnmacht Nehmen wir an, eine Sozialpädagogin arbeitet im Umfang einiger Unterrichtsstunden in einer Regelschulklasse mit. Aus theoretischer Sicht sind hier Probleme gegeben. Teamarbeit in der Schule kann in einer asymmetrischen (ausbildungsungleichen) oder symmetrischen (ausbildungsgleichen) Zusammensetzung und Arbeitsteilung erfolgen. Besteht die Kooperation an einer inklusiven Schule mit einer ambulanten Sonderpädagogin als stundenweise Kraft, die oft an mehreren Schulen gleichzeitig verpflichtet ist, ergeben sich aus systemischer Sicht (vgl. Luhmann 2009) Schwierigkeiten, da jede Schule sowie jede Klasse ein in sich geschlossenes System darstellt. Aus einer sozialraumtheoretischen Perspektive (vgl. Kessl/Reutlinger 2010) lässt sich auf Störungen und Machtkämpfe schauen. Sitzt der Sonderpädagoge in einem kleinen Extraraum außerhalb des normalen Unterrichtsraumes oder im Klassenraum? Arbeitet er an einem ‚Katzentisch‘ im Flur? All das hat eine Wirkung. Aber die Zusammenarbeit mit weiteren Akteur/innen wie Integrationshelfer/innen und Erzieher/innen lässt fragen: Wer hat welchen Platz im Klassen- und Lehrerzimmer oder ggf. keinen eigenen Platz? Es muss geklärt werden, welche Positionen die einzelnen Teammitglieder einnehmen, wie sie sich den Unterrichtsraum oder Schulraum als Raum aneignen und welchen bzw. wie viel Raum und Deutungsmacht sie sich innerhalb der Beziehungsausgestaltung nehmen (vgl. Kap. 3). Machtfragen danach, wer im Klassenraum für was zuständig ist u.Ä. sind im schulischen Kontext immer vorhanden und werden durch die Inklusion weiter
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
288
6. Entwickeln der Lehrerpersönlichkeit
verstärkt. Sie treten bereits auf, wenn unterschiedliche Fachlehrer/innen sich einen Klassenraum oder die Klassenleitung für eine Klasse teilen. Symmetrien und Asymmetrien in einem Team können sich einerseits durch unterschiedliche strukturelle Ausgangsvoraussetzungen wie etwa eine unterschiedliche Bezahlung bzw. Eingruppierung ergeben, andererseits auch situativ zum Beispiel durch unterschiedliche Kompetenzzuschreibungen. Anknüpfend an soziologische Theorien zu sozialer Ungleichheit und Sozialraum (vgl. z.B. Sozialraumbegriff und Habituskonzept von Pierre Bourdieu) kann gefragt werden, welche Personengruppen im schulischen Raum über mehr oder weniger Macht verfügen und wie sie diese Macht im Raum inszenieren. Teilweise zeigen sich Asymmetrien und Abwertungen auch in Elterngesprächen durch eine Dominanz oder Abwertungstendenz von Seiten der Lehrkraft. Dieses Verhalten kann aber auch durch einzelne Eltern erfolgen, die sich beispielsweise aufgrund der eigenen akademischen Ausbildung der Klassenlehrer/in überlegen fühlen. Ein pädagogisches Verstehen dieser Prozesse braucht ein Wissen um (Wechsel-) Wirkungen und Nebenwirkungen, um die Ursache möglicher Störungsquellen des eigenen pädagogischen Handelns im Umgang mit Kindern, Eltern u.a. sowie eine begleitende Reflexion. Voraussetzung dafür ist Aufmerksamkeit, die Ergebnis einer psychoanalytisch-pädagogisch geschulten Aufmerksamkeit ist und Ergebnis eines methodisch gestützten Lern- und Übungsprozesses. Konflikte mit Eltern und als Eltern Gerade für Studierende und angehende Lehrer/innen ist das Wissen wichtig, dass viele Störungen und Machtkämpfe in der Schulfamilie darin gründen, dass Schule ihnen mit einem eigenen Ordnungs- und Regelsystem begegnet. Es tritt eine andere Ordnung neben die Familienordnung oder bereits vertrauten institutionellen Ordnungen (vgl. Prange 2009). Die kommunikative Struktur unterscheidet sich von den bereits vertrauten Strukturen außerhalb der Schule, was zu Irritationen führen kann. Dazu zählen beispielsweise Kontaktaufnahmen mit Lehrer/innen zu nicht vereinbarter Zeit, verspätete Krankmeldungen. Lehrer/innen sind oftmals nicht nur Lehrer/innen, sondern zugleich auch Mutter oder Vater und agieren in einer Doppelfunktion. Sie bringen zum Beispiel selbst morgens als berufstätige Eltern ihr Kind in die Kinderkrippe, Kindertagesstätte oder Schule. Ihnen sind einerseits elterliche Nöte vertraut, andererseits ärgern sie sich über solche Eltern, die sich zu sehr in schulische Angelegenheiten einmischen und damit ihren Alltag erschweren. Insgesamt hat der Anteil an Kindern/Jugendlichen, die ihren Schulweg zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit einem öffentlichen Verkehrsmittel allein bewältigen, abgenommen. Dafür haben der elterliche Fahr- und Transportdienst und die Abhängigkeit von den Eltern zugenommen. Manche Schulen haben sogar „Kiss and Go Areas“ eingerichtet, in denen die morgendliche Verabschiedung stattfindet. Auch hat die Verkehrspolizei vor manchen Schulen Halteverbotsschil-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
6.2 Haltung und Haltungen
289
der ausgebracht. Der morgendliche Verkehr vor der Schule beim Bringen der Kinder führt somit paradoxerweise gerade dann zu chaotischen und gefährlichen Situationen, wenn Kinder/Jugendliche sicher an der Schule ankommen sollen. Während man als Mutter/Vater selbst dieser ‚Zubringergruppe angehört, ist man unter Umständen als professionelle/r pädagogische/r Akteur/in im System Schule zugleich genervt davon, dass Kinder/Jugendliche überbehütet werden und man lehnt ein derartiges Elternverhalten ab. Diese Tendenzen eines überfürsorglichen und schützenden Verhaltens fallen auch in der außerschulischen und bereits der vorschulischen Erziehung auf.
6.2 Haltung und Haltungen Maria S., Lehrerin, 3 Jahre Berufserfahrung „Für mich ist das Wichtigste, dass man in meinem Unterricht Spaß am Lernen hat und etwas Neues entdecken kann, öfter ein Aha-Erlebnis hat oder auch mal nachdenklich wird.“
Gabriele K., Lehrerin, über 30 Jahre Berufserfahrung „Wenn jemand fragend der Welt begegnet, dann sind es Kinder. Ich fühle mich Kindern fragend nah, es ist die Sehnsucht, sich Räume zu eröffnen. Wenn man die Freude daran teilt und zugleich in der Lage ist, entweder viele Kindheitssituationen selbst zu erinnern oder sich selbst in das Denken von Kindern hineinzuversetzen, dann hat man gute Voraussetzungen pädagogische Situationen hilfreich anzugehen.“ Die Haltung des Lehrers/der Lehrerin zeigt sich in vielen Gelegenheiten (z.B. in der konkreten Gestaltung von Gesprächen, von Beziehungen zu Kolleg/innen, Schüler/innen und Eltern, im Umgang mit Heterogenitätsdimensionen – wie Migration und Behinderung). Deshalb ist es wichtig, sich mit den Einstellungen und Überzeugungen von Lehrer/innen zu beschäftigen. Das pädagogische Handeln professioneller Akteure wird häufig nicht durch Bezugnahme auf eine spezifische Theorie oder Konzeption begründet, sondern auf erworbene Alltagstheorien (vgl. Knauer/Eberwein 1997, S. 425) bezogen. Soziologische und philosophische Handlungstheorien betonen, dass die Einstellungen, Orientierungen und Überzeugungen der Lehrkräfte maßgeblich ihr Handeln prägen. Die sogenannten epistemologischen Überzeugungen beeinflussen ihr Handeln allgemein wie fachspezifisch (vgl. Reusser/Pauli/Elmer 2011, S. 486) und wirken auf alle für den Unterricht relevanten Bereiche nachhaltig.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
290
6. Entwickeln der Lehrerpersönlichkeit
Wenn das Lehrersein als Profession verstanden wird und nicht mehr als bloßes Handwerk oder lediglich als Beruf, entspricht dies einer kulturellen Notwendigkeit: Die zeitgemäße Enkulturation der nachwachsenden Generation in einer zunehmend komplexer werdenden Welt erfordert von den Lehrer/innen eine vollgültige Profession, „die so wie die der anderen Professionen – Ärzte, Juristen, Ingenieure – nur in einem langen wissenschaftlichen Studium der hohen Bedeutung ihrer Aufgabe entsprechend angemessen ausgebildet werden können und eine exklusive Kompetenz in dem doppelten und miteinander verbundenen Sinn von Fähigkeit und Zuständigkeit haben und beanspruchen dürfen“ (Nieke 2017, S.119). Für Wolfgang Nieke konstituiert sich die Lehrerprofession wesentlich aus Wissenskulturen. Er versteht darunter ein Insgesamt an Wissen, das durch innere Kohärenz und eine eindeutige Grenzziehung nach außen gegen andere Wissenskulturen gekennzeichnet ist […]“ (Nieke 2017, S. 121). Exkurs: Professionelle Wissenskultur – pädagogische Handlungskompetenz – Reflexivität Mit der Professionalisierung des Lehrerberufs ist seit drei Jahrzehnten die Debatte um „die Spezifik pädagogischen Wissens“ (Lenzen/Tenorth 1991) verknüpft. Gemeint ist damit eine Unterscheidung von Wissensformen auf einer Metaebene, die sich nicht mit einer Entgegensetzung von Theorie und Praxis begnügt, sondern die die Vielfalt des erzeugten, pluralen Wissens zu analysieren und zu ordnen versucht. 1. Wolfgang Nieke (2017)verbindet in seiner Systematik die von ihm benannten Wissensformen mit berufsspezifischen Handlungsformen. Diese werden von den Wissensformen beeinflusst und geprägt: • Änderungswissen: Dazu zählen abrufbares Handlungs- bzw. Verfügungswissen im beruflichen Alltag, Berufsroutinen, die meist unhinterfragt bleiben, der praktischen Intuition entspringen ebenso wie didaktisch-methodische Planung und Durchführung von (unterrichtlichen) Handlungen); Fallbeispiel: Die Hausaufgabenpraxis soll an einer Schule mit Ganztagsangebot überdacht werden. • Bedingungswissen: Diese Wissensform bezieht sich auf die Ebene des nomothetischen Regelwissens. Dies ist jenes evidenzbasierte Wissen, das vor allem die empirische Erziehungswissenschaft bereitstellt. Dieses Wissen ist in der Regel über experimentelle Forschung ermittelt, widerspricht meist dem Alltags- und Routinewissen und muss sich selbst gegen konkurrentes Wissen behaupten. Fallbeispiel: „Lesen durch Schreiben“, ein vielgepriesener, offener Ansatz des Schriftspracherwerbs, wird in seiner Leistungsfähigkeit angezweifelt
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
6.2 Haltung und Haltungen
291
und für die unzureichende Rechtschreibfähigkeit der Schüler/innen verantwortlich gemacht. • Orientierungswissen: Es dient der Bestimmung von Handlungszielen, der Einordnung in einen größeren, wertorientierten Sinnzusammenhang. Dieser stellt einen Referenzrahmen dar, aus dem das Handeln seine Orientierung und Rechtfertigung bezieht. Auch diese Wissensform zeigt sich plural und ist auf Verständigung, Wertentscheidungen und Verantwortung angelegt. Fallbeispiel: Soll der Einsatz von Smartphones an der Schule selbstverständlich sein? 2. Dieter Lenzen (1991) thematisierte bereits zu einem früheren Zeitpunkt das Dilemma, dass auch die Wissensformen selbst Alternativen in sich tragen und dem Pluralitätsgebot der Moderne folgen. Mit Rekurs auf die Kritische Erziehungswissenschaft,1 deren Anliegen es war, die erfahrungswissenschaftlichen und theoretischen Akzente der Pädagogik zu einer neuen Qualität pädagogischer Theorie und Praxis zu führen, ordnet Dieter Lenzen den bereits existenten Wissensarten reflexive Formen zu. Diese gewinnt er wesentlich aus der Reflexion der Krisenmomente der Wissenschaften, der Wissensproduktion, der Entkontextualisierung von Wissen usw. In seiner Argumentation unterscheidet er drei Formen reflexiver erziehungswissenschaftlicher Tätigkeit, die er bildhaft als „zurückbeugende Bewegung“ (S. 116) bezeichnet. • Risikowissen als reflexives Pendant zu Handlungs- bzw. Änderungswissen Die Tatsache, dass „die Wissenschaften durch die Art ihres Umgangs mit zivilisatorischen Risiken in vielen Bereichen ihren historischen Kredit auf Rationalität verspielt haben“ (Beck in Lenzen 1991, S. 117), stellt das generierte Handlungs- bzw. Verfügungswissen auf den Prüfstand. Das Risikowissen umfasst mehrere Dimensionen, zum Beispiel: • Als prognostisches Wissen achtet es auf die möglichen Implikationen des Verfügungswissens, gibt Informationen darüber, was die empfohlenen Maßnahmen gewollt, aber auch ungewollt bewirken, es muss Entscheidungs- und Belastungsträger zusammenführen usw. • Als kausalistisches Wissen definiert es das Risiko, das mit dem angewandten Wissen eingegangen wird und hat die Folgenabschätzung im Blick. Das Zweck-Mittel-Denken wird in ein Anlass-Folge-Denken überführt, was für eine Übernahme von Verantwortung Voraussetzung ist.
1 Die Kritische Erziehungswissenschaft bezieht sich im Wesentlichen auf die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno begründete ‚Frankfurter Schule‘. Ihr zentraler Kritikpunkt ist der Verlust der Vernunft und ihrer aufklärerischen Funktion in der Erkenntnisproduktion. Deshalb würden die Menschen in der modernen Welt, die durch wissenschaftlich-technische Naturbeherrschung und Bürokratisierung bestimmt ist, mehr und mehr zu bloßen Objekten und Vollzugsorganen. Wichtige Vertreter/innen sind zum Beispiel: Andreas Gruschka, Heinz-Joachim Heydorn, Wolfgang Klafki, Klaus Mollenhauer.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
292
6. Entwickeln der Lehrerpersönlichkeit
Beispiele für die Notwendigkeit von Risikowissen bzw. des Ernstnehmens der Implikationen und damit des Verhinderns von Fehlentscheidungen finden sich zuhauf: Die Anwendung von Entwicklungsnormen für Kinder, die Einführung des achtjährigen Gymnasiums usw. • Mythenwissen als reflexives Pendant von praktischem Orientierungswissen Menschen streben in ihrem Denken und Handeln nach Sinn. Ein Blick in die Schulgeschichte zeigt jedoch, dass das, was Lehrer/innen für ihre berufliche Arbeit anstreben und wie sie ihr Handeln begründen und gestalten, zeitgeschichtlichen Entwicklungen, ideologischen Strömungen, gesellschaftspolitischen Systemen und Strukturen unterliegt. Lenzen fordert dazu auf, sich zu diesen „Mythen“ reflexiv zu verhalten und die „Historizität des Gegenstandes, des Analysegesichtspunktes und der Resultate“ über eine Rekonstruktion herauszuarbeiten. „Sie hat die Aufgabe, solche Diskurse zu untersuchen, in denen sich historisch die je herrschenden erzieherischen Mythen herausgearbeitet haben“ (Lenzen 1991, S. 121). Als Beispiele können die Geschlechter- und Generationenverhältnisse, die Bilder von Kind und Kindheit, das Verhältnis von Staat und Individuum genannt werden. • Poietisches Wissen als reflexives Pendant zu Bedingungswissen Poietisches Wissen ist begrifflich zu verstehen, da jede Handlung eine praktische wie auch poietische Perspektive hat. Poietisch ist auf Herstellen und Produzieren gerichtet, um etwas zu erreichen; autopoetisch verweist auf einen Prozess der Selbsterschaffung bzw. -erhaltung. In diesem Argumentationszusammenhang bezieht sich poietisches Wissen auf die Gestaltung von Wirklichkeit im Sinne einer Idee, auf den Übergang von Wissen zum praktischen Tun, auf die Transgression von der Idee zur Realisierung. Da die Pädagogik stets Gefahr läuft, ihre Erziehungskunst im Sinne einer ‚techné‘ handwerklich zu deuten und zu verkürzen, bleibt es eine permanente Herausforderung, die Gestaltung der Erziehungs- und Bildungswirklichkeit an der Idee, die es zu verwirklichen gilt, neu auszurichten und zu ‚eichen‘. Die reflexive Dimension des Professionsverständnisses kleidet Lenzen in eine Metapher, die dem Stammverb des Reflexiven eigen ist: „Das Sich-Zurückbeugen lässt Menschen, Wissenschaftler und Künstler, vor unserem Auge erscheinen, die nicht über ihren Objekten stehen, sondern, um deren Implikationen zu begreifen, ein Zweifaches tun müssen: sich zurückwenden zu den etablierten Formen pädagogischen Wissens, das sie nicht zerstören wollen, und sich beugen, um die Attitüde des Besserwissens zu vermeiden“ (Lenzen 1991, S. 123).
6.2 Haltung und Haltungen
293
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Forschung zu berufsbezogenen Einstellungen im Kontext von Heterogenität und Inklusion Forschungsmethodisch werden Einstellungen als „langfristig erworbene subjektive Haltungen gegenüber einem Objekt oder einem Sachverhalt“ (Huth 2011, S. 298) verstanden. In der Lehrerforschung werden diese bevorzugt in quantitativen Einstellungsstudien untersucht, während die Forschung zu Überzeugungen (Beliefs) quantitativ wie qualitativ arbeitet. Aus der englischsprachigen Forschung zu Einstellungen und Haltungen von Lehrer/innen in Bezug auf den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung wird zum Beispiel belegt, wie wichtig es ist, dass Lehrer/innen positive Erfahrungen in Praktika etc. machen, um die eigene Haltung (weiter) zu entwickeln und zu verändern bzw. zu festigen, um in inklusiven Settings unterrichten zu können (vgl. Heinrich/Urban/Werning 2013, S. 86). Forschungslücken bestehen hinsichtlich der Professionalisierungsprozesse in der ersten und zweiten Phase der Lehrerbildung für die Frage, welches Wissen angehende Lehrkräfte für die inklusive Schule brauchen und wie sich bereits erworbene Einstellungen ändern (lassen). Auf die Frage, welche Weiterbildungsangebote ausgebildete Lehrer/innen sowie Qualifizierungsangebote Quereinsteiger/innen in den Lehrerberuf brauchen, gibt es noch keine eindeutigen Antworten. Hier ist der Blick der Lehrkräfte sowohl auf die Teamarbeit als auch auf den Unterricht im inklusiven Lernsetting unverzichtbar, zumal dazu wenig empirische Erfahrungen vorliegen. Entgegen weitverbreiteter Vorurteile sind jüngere Lehrer/innen nicht per se offener und innovationsfreudiger als ihre älteren Kolleg/innen. Es gibt seit 20 Jahren Forschungsergebnisse, die das vorhandene Innovationspotential von Grundschullehrer/innen im Bereich der Schul- und Unterrichtsentwicklung herausarbeiten (vgl. Schönknecht 1997), wobei in den frühen Forschungsarbeiten eher der Bezug zum Offenen Unterricht und zur reformpädagogischen Orientierung der Lehrerinnen untersucht wird. Eine explizite Bezugnahme auf das gemeinsame Unterrichten von Kindern mit und ohne Behinderung fehlt. In der Studie von Gudrun Schönknecht (1997) wird darauf verwiesen, dass ein Teil der Lehrerschaft auch im höheren Alter noch zu den Innovationsfreudigen gehört, während es auch in jeder Altersgruppe Beobachter/innen und Skeptiker/Innen gibt. Die jüngere Studie von Bettina Amrhein (2010), die Regelschullehrkräfte im inklusiven Unterricht zu ihren Einstellungen befragt hat, bestätigt das Ergebnis. Attitudes and Beliefs sind auch beeinflusst vom eigenen Bild vom Kind, von Kindheit/Jugend und Jugendzeit, was wiederum den Unterricht und die Unterrichtsgestaltung prägt.
294
6. Entwickeln der Lehrerpersönlichkeit
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Bilder von Kindheit und Jugendlichsein als Konstruktionen in den Köpfen der Erwachsenen Lehrer/innen haben, wie alle Erwachsenen, ihren je eigenen Blick auf die Generation heutiger Kinder und Jugendlichen, denen sie in der Schülerrolle begegnen. Was sie dabei wahrnehmen, wie sie ihre Bilder deuten, hängt stark von ihrem eigenen Kindsein und Jugendlichsein, von ihren Sehnsüchten, Ängsten und Lebenserfahrungen ab. Dies hat eine Vielfalt von Bildern und Deutungen hervorgebracht. „Die Zuweisungen, die sie vornehmen, erfolgen nicht zufällig. Diese begründen oder rechtfertigen ihren Umgang mit Kindern [und Jugendlichen] und ihre Wertschätzung dieser Lebensphase“ (Behnken 2004, S. 40). Sie prägen aber vor allem das pädagogische Handeln von Lehrerinnen und Lehrern in allen Schulstufen, von Eltern, von Pädagoginnen und Pädagogen im vorschulischen wie außerschulischen Institutionen. Sie wirken auf die bildungspolitischen Diskussionen und Entscheidungen und erweisen sich in vielen Hinsichten als handlungsrelevant. Die Dekonstruktion dieser Bilder gehört zu den bedeutsamen Themen in Studium und Beruf. Sie dienen der Bewusstmachung der leitenden Wahrnehmungsmuster, Bewertungen und Handlungsfolgen. Sie hinterlassen zum Beispiel Spuren in den Raum- und Zeitstrukturen der Institutionen, in den Aufgabenkulturen, im Gebrauch von Medien. Exkurs: Perspektiven der Kind- und Jugendorientierung Die Äußerungen über Kindsein und Jugendlichsein sind stets Versuche, wahrnehmbare Besonderheiten zu einer Aussage über den Menschen (anthropos) in jeweiligen Entwicklungsphasen zusammen zu fassen. Seit der Reformpädagogik hat sich zunehmend die Einsicht durchgesetzt, dass Kindsein und Jugendlichsein nicht lediglich Vorstufe zum eigentlichen Menschsein sind, sondern bereits eine vollkommene Existenzstufe Der Hauptgedanke besteht darin, dass Kinder und Jugendliche nicht mehr als Objekt der Bearbeitung und Einpassung in die Erwachsenenwelt gesehen werden, sondern als Zentrum pädagogischer Reflexion. Die wissenschaftsbasierte Auseinandersetzung hat in den letzten Jahrzehnten unterschiedliche Sichtweisen ausdifferenziert: • Die Rezeption des anthropologisch-pädagogischen Ansatzes: Die Anerkennung des Kindes und Jugendlichen als Person eigener Würde und Entwicklung Diese Hauptaussage des reformpädagogischen Denkens markiert, pathetisch gesprochen, eine „kopernikanische Wende“ in der Pädagogik, die den Weg frei macht „für ein Verständnis des Kindes/Jugendlichen als Subjekt seiner Erziehung […], als Mittelpunkt des Nachdenkens darüber, wie es [sie/ er] leben und lernen soll (Flitner 1992, S.30). Seitdem sind Zuschreibungen bzw. Grundgegebenheiten im kulturellen Gedächtnis konsensfähig verankert,
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
6.2 Haltung und Haltungen
295
die gleich Axiomen Gültigkeit beanspruchen und durch neurowissenschaftliche Forschung bestätigt werden. Dazu zählen zum Beispiel die Dynamik der Entwicklung, die wesentlich durch Geborgenheitserfahrungen, Exploration und Autonomiestreben in Bewegung gehalten wird. Auch die Bedürfnisse nach sozialen Kontakten, nach Anerkennung, Verantwortung, Könnenserfahrung usw. fordern ihre Einlösung durch die Schule geradezu heraus, wenn sie der Verpflichtung folgen will, durch ihr Wirken das Kindsein und Jugendlichsein nicht einzuschränken und zu hemmen, sondern zu erweitern und zu bereichern. • Die Generierung der Bilder von Kindsein und Jugendlichsein in der erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Forschung Die geistes- und sozialgeschichtlichen Arbeiten wie auch die erziehungs- und sozialwissenschaftliche Forschung haben epochaltypische Veränderungen im Verhältnis der nachwachsenden und erziehenden Generation herausgearbeitet und historisch spezifische Formen freigelegt. Im Entwicklungsprozess der Familialisierung und Scolarisierung wird deutlich, wie sie die Institutionaliserung der Kinder und Jugendlichen vorantreiben und eigene Kontexte für das Aufwachsen sich herausbilden. Die Familie gewinnt an Privatheit, Intimität und Emotionalität, die Schule führt zu sozialer Separierung vom Leben in spezialisierten Lernwelten, in denen Erwachsene Bildung und Erziehung zum Beruf haben. • Modernitätstheoretische Zugänge thematisieren die lebensweltlichen Aufwachsbedingungen und die damit verbundenen Chancen und Risiken. „Kinder/Jugendliche sind Kinder/Jugendliche ihrer Zeit und ihrer Umwelt, sie sind ihr entlarvendster Spiegel!“ Dieses Diktum von Hartmut v. Hentig legt Generationsgemeinsamkeiten nahe, die bei aller individuellen Ausprägung beim einzelnen Kind/Jugendlichen die unterschiedlichen Lebensbereiche in vielen Dimensionen bestimmen. Wenn die Erwachsenen zum Beispiel über die Medienkindheit, Konsumkindheit, den Wandel in den Erziehungspraktiken, den Verlust der abenteuerlichen Straßenkindheit, der Feminisierung der Erziehungsarbeit in Schule und Elternhaus, die Herausforderung durch zunehmende Heterogenität und Kulturkontakte wie -konflikte klagen, übersehen sie meist, dass auch sie in diese veränderten, globalisierten Lebenswelten verstrickt sind und ihre Lebensgestaltung ebenfalls dadurch auf vielfältige Weise herausgefordert ist. • Repräsentative Befragungsergebnisse von Kinder- und Jugendstudien geben den Kindern und Jugendlichen das Wort. Die sozialstrukturelle Kindheitsforschung nimmt die spezifischen Lebensbedingungen und die damit verbundene Lebensqualität in den Blick unter Einbeziehung der Kinder- bzw. Jugendlichen Sichtweise. Inzwischen erscheinen periodisch Studien und Berichte, die z.B. umfassend über Werte, Wünsche, Ziele von Kindern/Jugendlichen und ihre Lebenssituation berichten. Die Ergebnisse basieren in der Regel auf repräsentativen Befragungen; sie werden
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
296
6. Entwickeln der Lehrerpersönlichkeit
vor dem Hintergrund von Daten der Sozialforschung diskutiert und in den Diskurs eingeordnet (vgl. z. B. World Vision-Kinderstudie). • Die Bestimmung des Erziehungs- und Bildungsauftrags im Horizont des Rechts auf Bildung und Erziehung als Grundlage der Persönlichkeitsentwicklung Ideologiekritische, dekonstruktivistische Forschungszugänge richten ihr Augenmerk auf die gesellschaftliche Konstruktion der Bilder von Kindsein und Jugendlichsein. Sie kritisieren diese im Hinblick auf das Generationenverhältnis und suchen die gesellschaftlich-öffentliche Aufmerksamkeit. Als Beispiel kann die Entwicklung der Kinderrechte dienen, die nicht im Belieben des Gesetzgebers stehen, sondern als unveräußerlich gelten. Die Formulierung der 54 Artikel, die Beschlussfassung in der UN-Kinderrechtskonvention 1989 und die sich anschließende Ratifizierungsverpflichtung präzisiert die Menschenrechte unter drei Leitgedanken: Protection (Schutz), Provision (Förderung), Partizipation (Beteiligung). Am Beispiel der Inklusion wird deutlich, wie viel an Engagement, Zeit und Ausdauer der Umarbeitungsprozess in Schule in Schule und Gesellschaft bedarf. Nachbemerkung: Die Bilder von Kindheit und Jugend beziehen sich auf Generationsgemeinsamkeiten, die in den individuellen Biographien ihre spezifische Ausprägung erfahren. Das Aufwachsen von Kindern/Jugendlichen wird von zeittypischen Merkmalen mit bestimmt, da ihre Lebenswelt in gemeinsame zeitgeschichtliche, kulturelle und politische Kontexte eingelagert ist. Die Entwicklung einer eigenen Haltung schließt normative Überlegungen ein, die zugleich auf ein Ethos verweisen. Gerade nach dem Studium wird die Vorstellung vom Kind/Jugendlichen durch die konkrete Arbeit in der Schule bisweilen radikal in Frage gestellt. Sind die aus dem Studium mitgebrachten Bilder vom motivierten und sich selbst optimierenden Kind/Jugendlichen stimmig? Die Hauptgruppen der Förderkinder in der inklusiven Grundschule sind beispielsweise nicht die Kinder, die eine körperliche Beeinträchtigung haben oder eine Sinnesschädigung, sondern Kinder mit einer Beeinträchtigung im Bereich des Lernens (43%), der geistigen Entwicklung (16%), der emotionalen und sozialen Entwicklung (16%) und der Sprache (30%). Doch auch grundsätzlich besteht jede Lerngruppe aus unterschiedlichen Kindern, die jeweils spezifische (soziale, kognitive etc.) Ausgangsvoraussetzungen mitbringen. Berufsethos – Ethos im Lehrerberuf Es ist ein Mythos, dass es den „geborenen Lehrer“ gibt, eine Wunschvorstellung, die auch medial verarbeitet wird (z.B. Filme wie „Die Feuerzangenbowle“ oder „Fuck you Goethe“). Der geborene Lehrer besitzt eine Naturbegabung und ist
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
6.2 Haltung und Haltungen
297
auch ohne Ausbildung der bessere Lehrer, der die Schüler/innen zu gewinnen versteht. Dahinter steht die Sehnsucht nach einem guten Lehrer. In der Erziehungswissenschaft findet eine langjährige Auseinandersetzung über das „professionelle Leitbild“ statt (vgl. z.B. Giesecke 2001). Es wird stets darauf verwiesen, dass es sich beim Lehrerberuf um einen schwierigen Beruf handelt, der über keine Technologien als Handwerkszeug verfügt und der schwer kalkulierbare, hoch komplexe Anforderungen beinhaltet. Trotz aller Schwierigkeiten kann jedoch beim Lehrerberuf von einer Profession mit eigenen Regeln und Standards gesprochen werden (vgl. z.B. Herzmann/König 2016). Unabhängig vom gewählten Lehramt gilt für alle Lehrer/innen, dass Selbstvertrauen in das eigene professionelle Tun, dessen Reflexion wie der so genannte „pädagogische Takt“ (vgl. Kap. 2) relevante Elemente professionellen Lehrerhandelns sind (vgl. Kap. 7). Professionelles Handeln hat im Lehrerberuf stets mit Wertorientierungen zu tun und kann damit als ein ethisches Handeln verstanden werden. Der Terminus „Ethos“, abgeleitet von Ethik, bedeutet „sittliches Handeln“. Dabei geht es nicht um einen einheitlichen und abrufbaren Ethiktypus, vielmehr existieren verschiedene Ethiktypen nebeneinander: • die prinzipienorientierte Ethik, die sich dadurch auszeichnet, dass das eigene Handeln an festen Wertvorstellungen gemessen werden kann, • die folgenorientierte Ethik, die nach den möglichen Folgen des eigenen Handelns fragt, • die Diskursethik, bei der die Position in einem Aushandlungsprozess unterschiedlicher Beteiligten gefunden wird, • die advokatorische Ethik, bei der man die Interessen eines anderen stellvertretend verfolgt, unterschieden werden (vgl. Biewer 2008, S. 98). Die Fragen nach dem eigenen Berufsethos im Hinblick auf ein professionelles Lehrerhandeln haben zu tun mit der Beobachtung der Wirkung des eigenen Handelns als Lehrer/in, der eigenen emotionalen und sozialen Intelligenz, dem eignen Handlungsrepertoire im Unterricht, der eigenen Routinebildung sowie einer klaren Zielorientierung, einem Bezug auf Berufssprache und eine Referenz auf Expertenwissen (vgl. z.B. Meyer 1997, S. 38ff.). Betrachtet man aus einer historischen Perspektive die Veränderungen der Schule, insbesondere der Grundschule seit ihrer Einführung im letzten Jahrhundert, so zeigen sich gleichermaßen Kontinuitäten wie Brüche. So wird seit ihrer Gründung bis in die Gegenwart der Auftrag der Grundschule immer wieder reformuliert, eine „Schule für alle“ zu sein. Zugleich werden die Schwierigkeiten fortgesetzt, diesen Auftrag zu erfüllen, ohne dass die Realisierungsschwierigkeiten bis heute bewältigt sind. Grundschullehrer/innen sind seit der Gründung der vierjährigen Grundschule 1919/1920 Lehrer/innen für alle Kinder des deutschen Volkes – unabhängig von deren Herkunft oder sozialen Hintergründen. Alle Schüler/innen in ihren
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
298
6. Entwickeln der Lehrerpersönlichkeit
Lern- und Bildungsprozessen zu fördern und zu unterstützen, ist seitdem die gesetzte Prämisse grundschulpädagogischen Denkens und Handelns. Während es aber etwa in Bezug auf die Rolle der Sonderpädagog/innen, gerade in den letzten Jahren im Kontext schulischer Inklusion, eine intensive Auseinandersetzung mit dem alten und neuen Berufsverständnis gibt, wird deutlich weniger danach gefragt, was sich etwa für das grundschulpädagogische Handeln verändert und was das spezifische Ethos einer Grundschullehrer/in ausmacht. „Seit es praktizierende Sonder- und Heilpädagog/innen gibt, existieren auch Vorstellungen darüber, von welchen moralischen Maßstäben sie sich leiten lassen sollen. Das Eintreten für Bedürftige, Schwache oder Gebrechliche wurde bereits im 19. Jahrhundert mit der Hilfsschullehrer/innenrolle assoziiert“ (Biewer 2008, S. 114). Es hat sich in der Folge eine eigene Lern- und Professionskultur herausgebildet, die sich verselbstständigt hat. Während sich die Sonderpädagogik seit ihrem Beginn auf bedürftige Kinder konzentriert und eine kohärente Berufsethik formuliert hat, ist die Schulpädagogik in der Explikation einer Ethik zurück geblieben.
Arbeitsaufgaben 1. Welche Situationen im Umgang mit den Schülerinnen und Schülern im Praktikum waren für Sie schwierig? 2. Welche Situationen im Umgang mit den Kolleginnen und Kollegen waren für Sie schwierig? 3. Lesen und diskutieren Sie den Text von H. Röbe (www.utb-shop.de/9783825 251130)
6.3 „So eine Lehrerin möchte ich gerne sein!“ – Vorbilder, Vorsätze, der nächste Schritt! Lil K., Lehrerin, 35 Berufsjahre, 71 Jahre „Ich vermute, dass mein Grundschullehrer mich in den ersten Grundschuljahren besonders wahrgenommen hatte, weshalb ich ihn herzlich liebte, besonders aber wegen seiner speckig glänzenden Lederhose und weil er so viel mit uns sang. Darüber hinaus konnte dieser Lehrer so schön Bäume zeichnen und das tat er immer, wenn ich ihn im Kunstunterricht darum bat. Er zeichnete sie so flott, dass ich bis heute darüber lächeln muss, wenn ich immer mal wieder für mich solche Bäume aufs Papier bringe. Vor ca. 15 Jahren habe ich diesen Lehrer ausfindig machen können. Ich habe ihm einen Brief über seine Bedeutung für mein Leben geschrieben, über den er sich offensichtlich sehr gefreut hat. So prägend kann die Begegnung mit dem ersten Lehrer für ein Grundschulkind sein.“
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
6.3 Vorbilder, Vorsätze, der nächste Schritt!
299
Die Frage danach, was für ein Lehrer oder was für eine Lehrerin ich sein möchte, ist bis zum letzten Dienstjahr (neu) zu stellen und zu beantworten. Bezugspunkte einer berufsbiographischen Reflexion sind hierbei der eigene erlebte Unterrichtsalltag in der Gegenwart als Lehrer/in, aber auch die eigenen Erfahrungen als Schüler/in, die Jahre zurück liegen. Lehrer/innen der eigenen Schulzeit, die als abschreckendes oder positives Beispiel dienen, können der Suche nach dem Lehrerideal Orientierung bieten. Die Suche nach dem eigenen Ideal ist gleichzeitig ein Nachdenken über sich und den eigenen Werdegang. Dies gilt nicht nur für jüngere, sondern auch für ältere Lehrer/innen und jene, die als Quereinsteiger/innen aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern in den Lehrerberuf kommen. Alle ehemaligen Schüler/innen sind hierbei bewusst oder unbewusst geprägt von der eigenen Schulzeit, die meist Jahre hinter ihnen liegt. In Erinnerung bleiben den Lehrer/innen am Ende der Berufstätigkeit ebenfalls primär emotional-besetzte Erlebnisse, schöne gemeinsame Momente im Unterricht und humorvolle Schüleräußerungen, aber auch frustrierende zum Beispiel, wenn die mühsame und aufwändige Unterrichtsplanung bei den Schüler/innen nicht ankam. Eine Lehrperson ist immer auch ein „Momentensammler“. Die Antwort auf die Frage, welche Momente schön und als stärkend erlebt werden, bringen die eigene Zielsetzung und Fokussierung zum Ausdruck. Maria H., Lehrerin, 3 Jahre Berufserfahrung, 52 Jahre, Quereinsteigerin „Als ich an der Schule anfing, war eine meiner Prämissen für die Arbeit mit Kindern: Hilf mir, es selbst zu tun (M. Montessori). Jetzt gehe ich weiter und sage: Ich muss den Kindern helfen, es gemeinsam mit anderen zu tun. Sich unterstützen, sich helfen, sich beraten, sich austauschen, sich verbessern, den Kindern untereinander dieses Arbeiten zu ermöglichen, ist für mich zentral im Unterricht geworden. Und die Kinder meiner 2. Klasse freuen sich, sich unter ‚Helferkind‘, ‚Worterklärerin‘, ‚Worterklärer‘ an der Tafel eintragen zu können oder ihre Mitschüler/innen fragen zu können. Ich wollte vor einiger Zeit am Wochenende im Hinterhof einer Werkstatt unbeobachtet meine Autoreifen wechseln. Da kamen auf einmal zwei Mechaniker… ich habe mich davongeschlichen, da ich nicht viel Übung hatte. So wie es mir ging beim Autoreifenwechseln, kann es den Kindern gehen. Sie haben nicht viel ‚Übung‘ im Lesen, Schreiben, Rechnen. Hoffentlich schleicht sich keines davon. Was ich tun kann und muss: Ermutigen, ermutigen, ermutigen und jede angezogene Schraube wertschätzen.“ Auch wenn sich das eigene pädagogische Selbstverständnis bereits entsprechend der individuellen Voraussetzungen, Erfahrungen und Anforderungen konstituiert hat, bedarf es einer kontinuierlichen und auch theoriebezogenen Auseinandersetzung, um die notwendige handlungstheoretische Reflexion weiter zu un-
300
6. Entwickeln der Lehrerpersönlichkeit
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
terstützen: Wie handle ich als Lehrer/in (richtig)? Wie bin ich als Lehrer/in? Wie will ich als Lehrer/in sein? (vgl. z.B. Reh 2004). Reflexivität im Lehrerberuf bedeutet, die eigenen Prämissen und Erfahrungen zu reflektieren und eigenes Handeln immer wieder zu justieren, Vorsätze zu fassen und Neues zu wagen. Reflexivität ist damit eine zentrale Formel zur Verbesserung des Lehrerhandelns. Die Entwicklung der Lehrerpersönlichkeit bedarf der Inspiration. Wirksame Impulsgeber können sein: • Austausch von Unterrichtserlebnissen mit Kolleg/innen, • ansprechende Fachliteratur, • Supervision, Fallbesprechungen etc. Auch eine Auseinandersetzung mit medialen Formaten wie Dokumentationen über Schulprofile, Lehrerbiografien oder Filme2 und mit populärwissenschaftlicher Literatur zum Thema „Lehrerpersönlichkeit“ sowie Lehrerbiografien (z.B. Loki Schmidt). Nennenswert ist hier auch die Biografie Entre les murs/Die Klasse des französischen Lehrers Francois Begaudeau, die verfilmt wurde und welche auf Begaudeaus eigenen Unterrichtserfahrungen in einer schwierigen Großstadtklasse beruht. Von allen Impulsgebern sind Filme über Schule/Lehrer auch in der außerschulischen Öffentlichkeit sehr beliebt. Gabriele K., Lehrerin, über 30 Jahre Berufserfahrung „Die Lehrerpersönlichkeit zu entwickeln ist eine permanente Herausforderung. Dieser Aspekt ist der schwierigste, weil ich es für unsere Aufgabe ansehe, in der Performanz unseres Lebens ohnehin als Persönlichkeit/Person erkennbar zu werden, das bedeutet ja ständige Entwicklung. Als Lehrerin bin ich stets bezogen auf das Gegenüber des Lernenden sowohl als Gruppe wie auch als Einzelner. Fühlte ich mich als ‚Beginnerin‘ fraglos eng verbunden mit der Lerngruppe, weil ich ja eben gerade das Studium, die Ausbildung absolviert hatte, so veränderte sich im Laufe der Jahre – und natürlich auch abhängig von den zu unterrichtenden Jahrgangsstufen sowie deren Themen – meine Persönlichkeit. Und obgleich ich wahrhaftig in aufgeschlossenen Kollegien arbeitete, entdeckte ich zunehmend für mich, wie wenig mutig, ja angepasst, obrigkeitshörig und verwaltungsbezogen sich einige Kolleginnen und Kollegen verhielten. Überforderung, Unwillen und Unmut machten sich immer wieder Luft nach dem Motto: Das kann man heute doch gar nicht mehr leisten! Man kann es doch aber versuchen, indem man nicht alles, sondern Weniges auswählt und vertritt. Wenn die Schu2 Beispielsweise Der Wald vor lauter Bäumen von Maren Ade als abschreckendes Beispiel, oder der Sein und Haben/Etre et Avoir über eine Dorfschule und einen Dorfschullehrer im jahrgangsgemischten Unterricht.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
6.3 Vorbilder, Vorsätze, der nächste Schritt!
301
le doch die Hälfte meines Lebens ausmacht, dann präge ich diese Hälfte nach meinen Fähigkeiten, Neigungen und Einsichten, jedenfalls in der Grundschule. D.h., ich wähle aus dem vorgegebenen Lehrplan genau das heraus, was ich für mich noch nicht gänzlich erkundet habe, vertiefe es, so dass die Schüler beispielhaft Methoden der Erkundung, Reflexion, Darstellung, Vernetzung sowie soziale Erfahrungen lernen können. Im nächsten Schuljahr wähle ich einen anderen Schwerpunkt. Mein eigenes Interesse an der Sache macht das Lernen als Prozess spannend, erzeugt Lernlust und Freude am gemeinsamen Tun. Die Reduktion fachlich-wissenschaftlicher Begriffe, Vorgänge und Einsichten auf das „Zugrundeliegende“ reizte mich immer. Um mir die Arbeit zu erleichtern, versuchte ich mein eigener ‚Unterrichtsfan‘ zu sein, ich stellte mir vor, ich säße und arbeitete als Kind in meinem Unterricht. Was würde mir Freude bereiten, was wäre spannend? Zuweilen schmunzelte ich deshalb bei meinen eigenen Unterrichtsvorbereitungen. Methodisch baute ich immer wieder kleine Überraschungen in den Unterricht ein, er sollte möglichst vielfältig sein.“ Der Erfahrungsbericht verweist auf die Anstrengungsbereitschaft, aber auch auf die Freude daran, sich selbst weiterzuentwickeln und andere in ihrem Entwicklungsprozess zu unterstützen. Im wissenschaftlichen Diskurs findet seit den frühen 1990er Jahren eine permanente Auseinandersetzung mit der Theorie der Anerkennung statt. Als Hauptvertreter ist hier Axel Honneth zu nennen, der der Kritischen Theorie angehört. In der Erziehungswissenschaft profilierte vor allem Annedore Prengel mit ihrem Konzept Pädagogik der Vielfalt (1993) den Begriff der Anerkennung und Anerkennungspädagogik. Sie weist der egalitären Differenz, also dem gleichberechtigten Nebeneinander ohne Hierarchie, eine hohe Relevanz für die Schule zu. Es ist die Kategorie der Anerkennung, mit der viele sozialphilosophische Ansätze arbeiten, die sich als eine „grundlegende anthropologisch vorfindliche Gegebenheit“ verstehen lässt und „die von der frühen Kindheit an in allen Lebensphasen und -bereichen und in allen gesellschaftlichen Sphären wirksam ist“ (Prengel 2013, S. 38). In der Reflexion des eigenen Lehrerseins kann daran anknüpfend gefragt werden, wo im Unterricht noch deutlicher wertschätzende Rückmeldung gegeben oder den Schüler/innen Teilhabe gewährt und Anerkennung großzügiger und warmherziger ausgedrückt werden können. Auch innerhalb der Schulfamilie kann Anerkennung positiv wirken, den Beitrag Einzelner zum Gelingen der Gemeinschaft ins Bewusstsein heben, Teamgeist, Engagement und berufliche Zufriedenheit stärken.
302
6. Entwickeln der Lehrerpersönlichkeit
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Exkurs: Gestaltung pädagogischer Beziehungen Kinder in vielen Einrichtungen des Elementarbereichs genießen eine Pädagogik mit großer Offenheit für ihre Themen und Interessen, während in weiten Bereichen – keineswegs in allen – des Schulunterrichts und des Schullebens sowie in schulpädagogischen Diskursen der für Menschenrechte, Demokratie und politische Theorie in der Moderne zentrale Wert der Freiheit kaum beachtet wird (Prengel 2013, S. 85). Auch sind unprofessionelle Umgangsweisen mit problematischem Verhalten von Kindern und Jugendlichen an der Tagesordnung. Verfehlte, schädliche Formen von Strafe sowie der Einsatz von Noten, Sitzenbleiben und Abstufungen als Disziplinierungsmittel verhindern gelingende Sozialisation und eine Unterbrechung des Kreislaufs der Gewalt (Prengel 2013, S. 81f.). Schulische Erziehung bezieht sich auf „pädagogische Interaktionen“, in denen Lehrer/innen auf die „Lernprozesse Heranwachsender in der Absicht einwirken, Bildungsprozesse in Gang zu setzen“ (Benner 2018, S. 108). Es ist deshalb für die professionellen Pädagog/innen wichtig, aktiv an der eigenen Beziehungsdidaktik zu arbeiten und Möglichkeiten des Gesprächs, des Austausches und der Beziehungsgestaltung (Kreisgespräche, Interaktionsspiele und Kommunikationsanlässe) zu schaffen. Die Schule als wichtiger gesellschaftlicher Ort der Kommunikation, die der Gemeinschaftsbildung und der Einübung demokratischer Praxen dient, vermittelt implizit und explizit zentrale Werte. Dies ist insbesondere bedeutsam, da jede Schule/Klasse ein Abbild der Vielfalt der Gesellschaft darstellt und eine Gesellschaft im Kleinen ist. Die Vorstellung der Schule als Gemeinschaft geht u.a. auch auf die Reformpädagogik (ca. 1880-1933) zurück. Reformpädagogische Vorstellungen einer „Schulgemeinschaft“ oder Schulgemeinde, wie sie etwa von Peter Petersen oder Rudolf Steiner ausführlich thematisiert wurden, prägen bis in die Gegenwart schulpädagogisches Denken. Unterschiedlich gesehen wird indes von dem einzelnen Lehrer/innen, welche Bedeutung sie tatsächlich den Schüler/innen bei der Mitgestaltung in Schule und Unterricht zuschreiben und ob sie einen Begriff wie „Schulgemeinschaft“ überhaupt negativ oder positiv konnotieren und ein Teil dessen sein wollen. Begriffe wie „Gemeinschaft“, „Schulgemeinschaft“, „Schule als Lebensgemeinschaft“ sind keine rein deskriptive, sondern zugleich ideologisch belastete Begriffe (vgl. Röbe 2005, S. 12).3 Gerade Fragen nach der (vorhandenen oder fehlenden) Motivation sind solche, die insbesondere für das Verstehen der eigenen berufsbiographischen Prozesse und Professionalisierungsprozesse im Lehrerberuf relevant sind, auch wenn sie 3 Begrife wie Gemeinschaft, Schulgemeinschaft, Schule als Lebensgemeinschaft sind historisch konnotiert und wurden politisch vor allem im Nationalsozialismus instrumentalisiert.
6.4 Salutogenese im Lehrerberuf
303
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
häufig tabuisiert werden. Das Gegenmodell einer Schule als Schulgemeinschaft kann für Lehrer/innen im Bild „Schule als Job“ gesehen werden, wenngleich sich diese Einstellung im Laufe des Berufslebens auch (mehrfach) verändern kann. Zu stellen bleibt damit bis zum Eintritt in den Ruhestand die Frage nach der eigenen Lehrerrolle respektive nach dem Verständnis des eigenen Lehrerseins.
Arbeitsaufgaben 1. Wann ist für Sie ein Lehrer/eine Lehrerin ein positives oder negatives Beispiel? 2. Diskutieren Sie: Brauchen Lehrer/innen Vorbilder? 3. Beschreiben Sie die Mindmap zur Klassengemeinschaft. Welche Beschreibungsmerkmale sind Ihnen wichtig? (www.utb-shop.de/9783825251130)
6.4 Salutogenese im Lehrerberuf Dagny K., Grundschullehrerin im Ruhestand, 67 Jahre „Ein Schulwechsel nach einigen Jahren der Arbeit an derselben Schule ist unbedingt zu empfehlen, auch um das eigene pädagogische Profil für sich und auch an dem neuen Kollegium zu überprüfen. Ein Aufenthalt im Ausland beispielsweise als Landesprogrammlehrkraft, wie ich es tat, oder auch der vollkommen neue Aufbau einer Klinikschule, beispielsweise in einem Kinderkrankenhaus, erfordern eine besondere Bereitschaft zum Risiko sowie zum Neubestimmen der eigenen Arbeit.“
Matthias B., Lehrer für die Sekundarstufe, 25 Jahre Berufserfahrung, 55 Jahre „Das letzte Jahr war für mich ein besonderes Jahr. Ich war im Sabbatjahr und davon acht Monate auf Gomera. Ich kam total erholt zurück. Natürlich. Die Erholung hat gutgetan und hielt auch ein Schulhalbjahr an. Jetzt habe ich meine Stunden reduziert und arbeite statt 27 Stunden 18 Stunden und habe immer den Mittwoch frei.“ (Berufs-)Leben heißt Kontinuität und Veränderung, Konstanz und Umbrüche. Dies bedeutet ein Abklären und Fragen nach dem eigenen Wohlbefinden, nach den Wünschen für persönliche wie berufliche (Weiter-)Entwicklung, und damit ein ständiges Neujustieren der eigenen Ziele und Prioritäten. Die Zitate der beiden Lehrer/innen verweisen darauf, dass sich ihre Berufstätigkeit im Laufe ihres Lehrerseins hinsichtlich des Stellenwerts im eigenen Leben verändern
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
304
6. Entwickeln der Lehrerpersönlichkeit
kann. Für Quereinsteiger/innen in den Lehrerberuf ist die Frage, ob der Lehrerberuf besser ist als der vormals ausgeübte, zudem besonders relevant. Auch wenn ein lebenslanges (Beamten-)Arbeitsverhältnis angestrebt wird, ist es gerade im Lehrerberuf wichtig, individuelle Ausgleichsmöglichkeiten zu den schulischen Belastungen zu finden und sich Alternativen zuzugestehen. Kinder/Jugendliche zu unterrichten und einen ganzen Schultag in der Öffentlichkeit zu wirken, den damit häufig hohen Lärmpegel auszuhalten und dennoch konzentriert zu bleiben, kostet viel Kraft und Energie. Es ist damit eine persönliche und institutionelle Daueraufgabe, sowohl für die einzelnen Lehrer/innen als auch für die Schule als Organisationsform selbst, für die Beteiligten gesundheitsförderliche Strukturen zu schaffen und zu erhalten. Gestaltungsempfehlungen, die sich auf Ergebnisse der Lehrerbelastung wie z.B. die Potsdamer Lehrerstudie beziehen, gehen hierbei von der Prämisse aus, dass es wichtig ist, das Koordinieren und Regeln der Arbeitszeit als eine kontinuierliche „Gestaltungsaufgabe“ (vgl. Schaarschmidt/Kieschke 2007, S. 83) und eine Entwicklungsaufgabe zu begreifen (vgl. Kap. 1). Gerade auch im Kontext der Teamarbeit in inklusiven Grundschulen und in der Ganztagesschule treten diese Professionalisierungsaufgaben (vgl. Stecher/Krüger/Rauschenbach 2011; Speck 2012) besonders deutlich zum Vorschein. Sich gemeinsam in Bezug auf den Unterricht und damit verbundene weitere Tätigkeiten zu besprechen, braucht vor allem auch zeitliche Ressourcen zur Abstimmung über das, was im Unterricht geschehen soll. Die notwendige Elternarbeit braucht Zeit und auch der Unterricht kann nur mit ausreichend vorhandener Zeit für die Planung und Reflexion des Geschehenen kontinuierlich (weiter) entwickelt werden. Einen wichtigen Bezugspunkt der Lehrerbelastungsforschung stellt der Ansatz der Salutogenese von Antonovsky (1997) dar, da er unter anderem deutlich macht, dass das Selbstverständnis und die Einstellung zu den Lehreraufgaben wichtig für einen „gesundheitserhaltenden Umgang mit den Anforderungen im Lehrerberuf“ (Kosinar 2010, S. 3) sind. Die größte Berufsgruppe unter Arbeitnehmer/ innen, die an einem Burnout leiden, ist die Gruppe der Lehrer/innen. Auch wenn es kaum empirische Untersuchungen in diesem Feld der Lehrerforschung gibt, so gibt es doch Hinweise darauf, dass die Burnoutquote deshalb so hoch ist, weil Lehrer/innen während ihrer Arbeitszeit kaum eine eigene Kontrolle über ihre Zeit haben, die Tagesstruktur und die Stundenverteilung vorgegeben sind, die Arbeit häufig unter Zeitdruck und Stress erfolgt, was weiteren Stress erzeugt. Zudem besteht häufig nur eine geringe kollegiale Unterstützung (vgl. Bromme/ Haag 2008) oder Unterstützung durch Dritte. Die Stressforschung liefert einen wichtigen Rahmen für die Erklärung von Belastungsreaktionen. Zum Beispiel wird in der Stresstheorie von Lazarus (1995) davon ausgegangen, dass Stress dann vermehrt entsteht, wenn Veränderungen als zu groß erachtet werden und Situationen als unkontrollierbar und unvorhersehbar erachtet werden. Zu den Belastungsfaktoren und den Entwicklungsaufgaben im Lehrerberuf zählen in den letzten Jahren vor allem auch die Verlänge-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
6.4 Salutogenese im Lehrerberuf
305
rung bzw. Ausdehnung der Arbeitszeit auf den Nachmittag und über den Ort Schule hinaus. Gerade die inklusive und die Ganztagsschule werden mit Fragen der Raumorganisation, Rhythmisierung der Zeit, Personalentwicklung und Kooperation mit außerschulischen Partnereinrichtungen konfrontiert, deren intensive Bearbeitung für eine nachhaltige Schulentwicklung relevant sind (vgl. Holtappels 2009). Gerade aber die für die Schule notwendige Elternarbeit und die Zusammenarbeit mit Vertreter/innen anderer Professionen benötigen aber ausreichende zeitliche Kontingente. Lehrer/innen, die schon länger im Beruf sind, klagen hier zurecht über eine Zunahme an Aufgaben und Erwartungen an das Lehrerhandeln bei der gleichzeitigen Entwicklung dahingehend, kontinuierlich weniger Zeit für die einzelnen Lehreraufgaben zu haben. Diese Feststellung berufserfahrener Lehrer/innen entspricht der Feststellung der „Beschleunigung“ von Hartmut Rosa (2016), die sich insbesondere auch am Arbeitsplatz und in der Arbeitsmarktpolitik zeigt, in der sich die gesamtgesellschaftlichen Beschleunigungsprozesse widerspiegeln. Hartmut Rosa: Beschleunigung und Psychokrise „Und dies ist der Punkt, an dem Beschleunigung zum Problem wird: Ein zielloser und unabschließbarer Steigerungszwang führt am Ende zu einer problematischen, ja gestörten oder pathologischen Weltbeziehung der Subjekte und der Gesellschaft als ganzer. Diese Störung lässt sich heute instruktiv studieren an den großen Krisentendenzen der Gegenwart: an der sogenannten ökologischen Krise, an der Krise der Demokratie und an der ‚Psychokrise‘, die sich beispielsweise in wachsenden Burnoutraten manifestiert. Die erste Krise signalisiert eine Störung im Verhältnis zwischen Mensch und nichtmenschlicher ‚Umwelt‘ oder Natur, die zweite eine Störung in der Beziehung zur Sozialwelt und die dritte eine Pathologie im subjektiven Selbstverhältnis. Mehr noch, ein problematisches Weltverhältnis ist nicht nur die Folge der Beschleunigung beziehungsweise des Steigerungszwangs moderner Gesellschaften, sondern zugleich auch deren Ursache, so dass wir es mit einem sich selbst verstärkenden Problemzirkel zu tun haben. Als Problem, ja als tendenzielle Pathologie ist dieser Zusammenhang nur deshalb beschreibbar, weil von der Art und Weise der menschlichen Weltbeziehung das Gelingen oder Misslingen des Lebens abhängt“ (Rosa 2016, S. 14). Zu den negativen Auswirkungen, die nicht gleich in ein Burnout-Syndrom, eine Depression oder psychosomatische Erkrankung münden (müssen), gehören bereits das Gefühl, nie fertig zu werden und keine positive Strategie im Umgang mit den (nie enden wollenden) Anforderungen der Unterrichtsplanung entwi-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
306
6. Entwickeln der Lehrerpersönlichkeit
ckeln zu können oder das Gefühl, nicht ausreichend von der Schule abzuschalten zu können. Wer als Lehrer/in unter einer kontinuierlichen Belastung und Überforderung leidet, ist stärker gefährdet, krank zu werden und neigt eher zu einem vorzeitigen Aufhören vor dem Renten- oder Pensionseintrittsalter (vgl. z.B. Rothland 2013, Rothland/Terhart 2007, Rudow 1994). Wenn Ängste oder Probleme dominieren oder die Reserven einfach aufgebraucht sind, sind keine Ressourcen mehr vorhanden für andere, auch nicht für die Schüler/innen. Verständlicherweise kann dann, wenn man nur mit sich selbst beschäftigt ist oder sich schlichtweg leer und müde fühlt, wenig Empathie oder Kraft für andere, vor allem auch die Schüler/innen, aufgebracht werden. Eine für die die Arbeit in der Schule mit Kindern/Jugendlichen notwendige Beziehungsdidaktik (vgl. Kap. 3 und 7) ohne Empathie ist indes nur schwer möglich. Zwar gibt es im Bereich der Lehrerbelastungsforschung eine Reihe an einschlägigen Untersuchungen (vgl. u.a. Rothland/Terhart 2009), die sich mit der Frage nach einer dauerhaften und wirksamen Bewältigung des berufsbedingten Stresses im Lehrerberuf beschäftigen und in diesem Rahmen das unterschiedliche Belastungserleben der Lehrer/innen im Beruf empirisch erforschen. Dennoch liegen bislang kaum Veröffentlichungen vor, die sich mit der Wirksamkeit beispielswiese von sogenannten Sabbaticals – um wieder Kraft und Motivation zu schöpfen – oder der Bedeutung von Übergangsritualen beschäftigen, die unter anderem dafür geeignet sind, die beruflichen und privaten Rollen sichtbar zu trennen. In allen Bundesländern gibt es derzeit die Möglichkeit sowohl für angestellte als auch für verbeamtete Lehrer/innen, ein Sabbatjahr oder Freijahr zu nehmen (vgl. das Eingangszitat des Lehrers Matthias B.). Geregelt ist dies bei den Beamten in den jeweiligen Landesbeamtengesetzen der Länder. So kann sich ein/e Lehrer/ in z.B. über ein Zweidrittelmodell oder ein Siebenachtelmodell am Ende des Ansparzeitraumes ein ganzes Schuljahr bei Bezahlung von der Arbeit befreien lassen und diesen Freiraum wahlweise für Freizeit, Reisen, zur Erholung Zuhause oder zur Ausübung eines zeitintensiven Hobbies nutzen. Ein Sabbatical kann auch zum Beispiel während eines 30-jährigen Berufslebens mehrmals genommen werden (vgl. auch Kap. 1). Doch auch wenn die rechtliche Möglichkeit besteht, für ein ganzes Schuljahr „auszusteigen“ sowie in Teilzeit zu arbeiten, bleibt doch trotz allem von allen Lehrer/innen im Schuldienst die Frage zu klären, wie sie ihr berufliches und ihr privates Leben miteinander gestalten wollen oder können und inwieweit sie vor allem auch mit der Gestaltungsform der häuslichen Vor- und Nachbereitung des Unterrichts ressourcenorientiert und ressourcenschonend umgehen können. Wichtig ist hier, die jeweils eigene Strategie zu finden, um sich Distanz zur Arbeit zu verschaffen. Es bleibt damit stets sehr individuell, wie mit beruflichen Beanspruchungen umgegangen wird. Während die eine Lehrkraft einen Stressabbau im Sport (z.B. Joggen, Schwimmen etc.) sucht, ist Yoga, Meditation oder Qi-Gong, Thai-Chi richtig für die andere. Jede/r einzelne Lehrer/in benötigt hierbei eine
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
6.4 Salutogenese im Lehrerberuf
307
eigene Strategie, die es frühzeitig zu entwickeln gilt, um mit der alltäglichen Lehrerbelastung umzugehen. Auch Übergangsrituale, sowohl kollektiver als auch individueller Natur, können hier eine Hilfestellung darstellen. In einigen Lehrerkollegien finden beispielsweise zum Schuljahresanfang oder an Freitagen als Auftakt ins Wochenende sowie als Auftakt in die Ferien gemeinsame Essen oder „Umtrunke“ statt, um sich als Gruppe bzw. Kollegium (wieder) zu finden oder zu verabschieden sowie eine eigene Arbeitshaltung oder Berufsrolle einzunehmen und damit den informellen privaten Teil abzulegen. Rituale wie diese haben damit eine innerliche und eine äußerliche Form. Für viele Lehrer/innen können auch weitere äußerlich sichtbare Zeichen sinnvoll sein, wie das Anlegen einer eigenen Berufskleidung (z.B. Blazer, Jackett, Fliege/Krawatte etc.) und das Ablegen dieser, um sich nach der Schule für den Freizeitteil des Tages nicht nur anders anzuziehen, sondern sich auch anders zu fühlen. Ziele und Inhalte dessen, was im eigenen Leben bestimmend ist, sind individuell und verändern sich im Laufe der Zeit. Damit einhergehend entwickelt sich auch die Frage nach der eigenen Work-Life-Balance und nach der jeweils passenden Nähe und Distanz zur Arbeit und zum Arbeitsplatz Schule. So ist es durchaus kein Ausnahmefall, wenn eine Lehrkraft, die über eine lange Zeit hinweg engagiert gearbeitet und viel Freude an ihrem Beruf erfahren hat, feststellt, dass sich die Prioritäten verschoben haben. Es ist vielmehr unwahrscheinlich, dass über Jahrzehnte hinweg eine „Übereinstimmung von individuellen und kollektiven Interessen und Zielen“ (Kuper/Kapelle 2012, S. 41) konstant bleibt. Wenn auf Lehrerseite das Gefühl überwiegt, in der eigenen Schule nicht mehr wirksam sein zu können oder zu wollen, bzw. sich im Kontakt mit den anderen Kolleg/innen oder der Schulleitung unwohl oder ausgebremst zu fühlen, also kein Teil einer gemeinsamen professionellen Arbeitsgemeinschaft (mehr) zu sein, dann ist es naheliegend, über einen Dienstortwechsel nachzudenken und Alternativen zum bisherigen Arbeitsplatz zu suchen. Es wäre jedoch ein Glücksfall und in der Realität eher unwahrscheinlich, ein Kollegium zu finden, in dem sich jedes Kollegiumsmitglied gleichermaßen wohl fühlt und der Einzelne sich mit allen Kolleg/innen eine enge Zusammenarbeit vorstellen kann. Bei auftretenden Problemen können im Kollegium (wenn dies möglich ist) oder auch in einer privaten Supervisionsgruppe oder einem Einzelcoaching zur Fallberatung, neben individuellen Formen wie dem Schreiben eines Arbeitstagebuches, schwierige Themen reflektiert werden. Nicht nur die eigenen berufsbezogenen Überzeugungen (vgl. Reusser/Pauli/Elmer 2011, S. 486), sondern auch die strukturellen und institutionellen Schwierigkeiten müssen hier berücksichtigt werden, um damit die Voraussetzungen für mögliche Veränderungsprozesse zu schaffen. Zu Handlungsstrategien und Perspektiven der eigenen Weiterentwicklung, zumal in krisenhaften Momenten der Berufsbiographie, wird in der Forschung nur partiell gearbeitet, wenngleich gerade in der populärwissenschaftlichen Literatur eine zunehmende Anzahl an Ratgebern zu den Themen „Lebensführung“, „Erfolg im Beruf“ und „Work-Life-Balance“ zu finden ist.
308
6. Entwickeln der Lehrerpersönlichkeit
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Auch im Fortbildungsbereich gibt es eine Spezialisierung, bezogen auf die Berufsgruppe der Lehrer/innen mit spezifischen Entspannungs- und Antistressangeboten, aber auch mit Angeboten dafür, sich mit den rechtlichen Rahmenbedingungen für Beurlaubungen für Eltern- und Pflegezeiten, Altersteilzeit oder der Frühpensionierung auseinanderzusetzen. Hanne K., Lehrerin im Ruhestand, 65 Jahre „Meine große Familie (sechs Kinder) erforderte ein hohes Maß an verlässlichen Strukturen und Absprachen. Eine Zusatz-Hilfe kam morgens ab 7.30 h und ging, wenn ich mittags aus der Schule kam, solange die Kinder noch klein waren. Dann stand ich allerdings ohne Einschränkungen bis 20.30h/21.00h der Familie zur Verfügung. Anschließend bereitete ich meinen Unterricht vor, sonst hätte ich nicht ruhig schlafen können. Als dann die Kinder erst nachmittags nach Hause kamen, weil sie auf weiterführende Schulen gingen, arbeitete ich bis etwa 15.30 h in der Schule, bereitete den Unterricht vor, traf Absprachen mit Kollegen/ Ämtern oder schrieb Berichte. Diese Zeit war sehr effektiv, weil sie zeitlich klar begrenzt war und ich anschließend alles „Berufliche“ hinter mir lassen konnte. Das tat meiner Seele gut. Dieses, wie ich denke, hohe Maß an Disziplin konnte ich für mich nur durchhalten, weil ich morgens ganz früh mindestens 30 Minuten Qi Gong übte und mittags unbedingt eine Ruhepause von 30 Minuten einhielt. Mit der täglichen Teezeit um 16.00 Uhr zuhause gehörte ich dann der Familie. Distanz zur Arbeit schuf ich durch meine familiären Aufgaben, aber auch dadurch, dass ich Orte aufsuchte, die mir guttaten: Theater, Konzerte, Tanzveranstaltungen, Workshops und Seminare unterschiedlichster Themen und eben das Studium in Münster. Wenn ich darüber nachdenke, vermute ich, dass ich zwar auch pädagogische Fortbildungen wahrnahm, aber ansonsten eher den Kontakt zu Kollegen in meiner Freizeit vermied.“ Im Vergleich zu anderen Berufsgruppen ermöglicht der Lehrerberuf dennoch Freiräume bzw. eine Flexibilisierung. Es gibt die Möglichkeit, Teilzeit zu arbeiten, sich beurlauben zu lassen oder für ein paar Jahre als abgeordnete Lehrer/in an einer Hochschule/Universität tätig zu sein. Das Recht auf ein Sabbatjahr – und das auch mehrmalig im Verlaufe des Berufslebens – ist dabei keineswegs selbstverständlich in anderen „verwandten“ Berufsfeldern, beispielsweise bei akademischen Mitarbeiter/innen im Hochschuldienst oder bei Erzieher/innen im Elementarbereich. Sich an eine andere Schule versetzen zu lassen, eröffnet ebenfalls die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen und andere schulkulturelle Strukturen zu erleben, was jedoch im Bedarfsfall genau geprüft werden sollte. Nicht nur die Höhe der Unterrichtsdeputate und der Besoldung der Lehrer/innen unterscheidet sich hier von Bundesland zu Bundesland, womit Lehrer/innen sich bei einem Wechsel damit verbessern oder verschlechtern können, sondern bereits
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Literatur
309
innerhalb eines Bundeslandes können sich die jeweiligen (räumlichen, personellen, monetären) Voraussetzungen von Schule zu Schule unterscheiden. Damit wirken sich die strukturellen Bedingungen stets auf das individuelle Lehrerhandeln aus und können auch direkte methodisch-didaktische Konsequenzen für den Unterricht bzw. die Möglichkeiten der Unterrichtsgestaltung haben (z.B. bei Raummangel, Unterbesetzung). Lehrer/innen sind als Akteure der Institution Schule bei ihren Entscheidungen über den eigenen beruflichen Werdegang von den gesetzlichen Rahmenbedingungen und Möglichkeiten abhängig. Einem Antrag auf Versetzung zu einer anderen Schule muss nicht stattgegeben werden. Wenn ein Versetzungsantrag indes mehrmals abgelehnt wurde, muss er abhängig von der Gesetzeslage im jeweiligen Bundesland in der Regel jedoch abschließend bewilligt werden. Auch Beurlaubungen oder Freistellungen müssen auf dem Dienstweg beantragt werden und können damit jeweils positiv oder negativ beschieden werden. Dabei gibt es allerdings eine klare Rechtslage, die regelt, dass für die Wahrnehmung von Erziehungspflichten (Familienzeit) bis zum Alter der Kinder von zwölf Jahren oder zur Pflege von Angehörigen sowie zur erwähnten Abordnung an wissenschaftliche Hochschulen (z.B. bis zu sechs Jahren im Bundesland BadenWürttemberg) eine Freistellung von der bisherigen Dienstpflicht beantragt werden kann, die in der Regel auch problemlos bewilligt wird. Diese Beurlaubungen oder Abordnungen, auch wenn sie längerfristig angedacht sind, müssen jedoch häufig Jahr für Jahr wieder über den Dienstweg neu beantragt bzw. verlängert werden, was im Einzelfall mühsam sein kann.
Arbeitsaufgaben 1. Überlegen Sie, von wem Sie eine Rückmeldung von außen zu Ihrem Unterricht oder Ihrem Lehrersein bekommen haben? 2. Wie könnte hier aus Ihrer Sicht eine wertschätzende Rückmeldekultur aussehen? 3. Wo haben Sie von Ihren Lehrer/innen Anerkennung und Wertschätzung erfahren?
Literatur Amrhein, Bettina (2014): Professionalisierung für Inklusion. In: Kiel, Ewald (Hrsg.): Inklusion im Sekundarbereich. Stuttgart, S. 140-165. Amrhein, Bettina (2010): Inklusion in der Sekundarstufe. Eine empirische Analyse. Bad Heilbrunn. Antonovsky, Aaron (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
310
6. Entwickeln der Lehrerpersönlichkeit
Baum, Elisabeth/Idel, Till-Sebastian/Ullrich, Heiner (Hrsg.) (2012): Kollegialität und Kooperation in der Schule. Wiesbaden. Baumert, Jürgen/Kunter, Mareike (2006): Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 9, H. 4, S. 489520. Behnken, Imke (2004): Bilder von Kindheit. Konstruktionen in den Köpfen der Erwachsenen. In: Friedrich Jahresheft: Heterogenität. Unterschiede nutzen – Gemeinsamkeiten stärken. Seelze, S.40-42. Bellenberg, Gabriele/Höhmann, Katrin/Röbe, Edeltraud (Hrsg.) (2011): Übergänge. Friedrich Jahresheft XXIX. Seelze. Benner, Dieter (2018): Über drei Arten von Kausalität in Erziehungs- und Bildungsprozessen und ihre Bedeutung für Didaktik, Unterrichtsforschung und empirische Bildungsforschung. In: Zeitschrift für Pädagogik, Jg 64, Heft 1, S. 197-119. Biewer, Gottfried (2008): Grundlagen der Heilpädagogik und Inklusiven Pädagogik. Bad Heilbrunn. De Boer, Heike/Deckert-Peaceman, Heike (Hrsg.) (2009): Kinder in der Schule. Zwischen Gleichaltrigenkultur und schulischer Ordnung. Wiesbaden. Bohl, Thorsten/Wacker, Albrecht (2016): Die Einführung der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg. Münster. Bromme, Rainer/Haag, Ludwig (2008): Forschung zur Lehrerpersönlichkeit. In: Helsper, Werner/Böhme, Jeanette (Hrsg.): Handbuch der Schulforschung. Wiesbaden, S. 803-817. Brügelmann, Hans (2015): Vermessene Schüler – standardisierte Kinder. Zu Risiken und Nebenwirkungen von PISA, Hattie und VerA & Co. Weinheim und München. Budde, Jürgen/Dlugosch, Andrea/Sturm, Tanja (2017): (Re-)Konstruktive Inklusionsforschung. Differenzlinien – Handlungsfelder – Empirische Zugänge. Opladen. Combe, Arno/Kolbe, Fritz-Ulrich (2007): Lehrerprofessionalität, Wissen, Können, Handeln. In: Helsper, Werner/Böhme, Jeanette (Hrsg.): Handbuch der Schulforschung. Wiesbaden, S. 833-850. Combe, Arno (1996): Pädagogische Professionalität, Hermeneutik und Lehrerbildung. In: Combe, Arno/Helsper, Werner (Hrsg): Pädagogische Professionalität. Frankfurt, S. 501-520. Czerwenka, Kurt/Nölle, Karin (2010): Forschung zur ersten Phase der Lehrerbildung. In: Terhart, Ewald/Bennewitz, Hedda/Rothland, Martin (Hrsg.): Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf. Münster, S. 362-380. Eberwein, Hans/Knauer, Sabine (2009): Rückwirkungen integrativen Unterrichts auf Teamarbeit und Lehrerrolle. In: Eberwein, Hans/Knauer, Sabine (Hrsg.): Handbuch Integrationspädagogik. Weinheim, S. 422-433. Eberwein, Hans/Knauer, Sabine (1997/2009): Handbuch Integrationspädagogik. Kinder mit und ohne Behinderung lernen gemeinsam. Weinheim/Basel.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Literatur
311
Esslinger-Hinz, Ilona/Sliwka, Anne (2011): Schulpädagogik. Weinheim/Basel. Feindt, Andreas/Klaffke, Thomas/Röbe, Edeltraud/Rothland, Martin/Terhart, Ewald/Tillmann, Klaus-Jürgen (Hrsg.) (2010): Lehrerarbeit – Lehrer sein. Friedrich Jahresheft XXVIII. Seelze. Fend, Helmut (2006): Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen. Wiesbaden. Flitner, Andreas (1992): Reform der Erziehung. Impulse des 20. Jahrhunderts. München. Fölling-Albers, Maria (2003): Grundschulpädagogik, Grundschulforschung und Kindheit. In: Panagiotopoulou, Argyro/Brügelmann, Hans (Hrsg.): Grundschulpädagogik meets Kindheitsforschung. Zum Wechselverhältnis von schulischem Lernen und außerschulischen Erfahrungen im Grundschulalter. Opladen, S.34-43. Friend, Marilyn/Cook, Lynne/Hurley-Chamberlain, DeAnna/Shamberger, Cynthia (2010): Co-Teaching: An illustration of the Complexity of Collaboration in Special Education. In: Journal of Educational and Psychological Consultation. Taylor and Francis, S. 9-27. Giesecke, Hermann (2001): Das Professionelle Leitbild: Der gute und der schlechte Lehrer. In: Giesecke, Hermann (Hrsg.): Was Lehrer leisten. Porträt eines schwierigen Berufes. Weinheim/München, S. 179-186. Götz, Margarete (2016): Bilder vom Kind – Kindheitsbilder. Zeitschrift für Grundschulforschung Heft 2/2016. Bad Heilbrunn. Götz, Josephine/Hauenschild, Katrin/Greve, Werner/Hellmers, Sabine (2015): Einstellungen von Lehrerinnen und Lehrern zur inklusiven Grundschule. In: Blömer, Daniel/ Lichtblau, Michael/Jüttner, Ann-Kathrin/Koch, Katja/Krüger, Michaela/Werning, Rolf (Hrsg.): Perspektiven auf inklusive Bildung. Gemeinsam lehren und lernen. Wiesbaden, S. 34-39. Hascher, Tina (2004): Wohlbefinden in der Schule. Münster. Hartinger, Andreas/Kleickmann, Thilo/Hawelka, Birgit (2006): Der Einfluss von Lehrervorstellungen zum Lernen und Lehren auf die Gestaltung des Unterrichts und auf motivationale Schülervariablen. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 9, H. 1 , S.110-126. Hattie, John (2009): Visible Learning. London und New York. Heinrich, Martin/Urban, Michael/Werning, Rolf (2013): Grundlagen, Handlungsstrategien und Forschungsperspektiven für die Ausbildung und Professionalisierung von Fachkräften für inklusive Schulen. In: Döbert, Hans/Weishaupt, Horst (Hrsg): Inklusive Bildung professionell gestalten. Situationsanalyse und Handlungsempfehlungen. Münster, S. 69-134. Heinzel, Friederike (2016): Der Morgenkreis. Klassenöffentlicher Unterricht zwischen schulischen und peerkulturellen Herausforderungen. Opladen. Helmke, Andreas (2012): Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Wolfenbüttel.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
312
6. Entwickeln der Lehrerpersönlichkeit
Helsper, Werner (2002): Wissen, Können, Nicht-Wissen-Können: Wissensformen des Lehrers und Konsequenzen für die Lehrerbildung. In: Breidenstein, Georg/Helsper, W./Kötters-König, Catrin (Hrsg.): Die Lehrerbildung der Zukunft – eine Streitschrift. Opladen, S. 67-86. Helsper, Werner (2007): Eine Antwort auf Jürgen Baumerts und Mareike Kunerts Kritik am strukturtheoretischen Professionsansatz. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 10, H. 4, S. 569-579. Helsper, Werner (2010): Pädagogisches Handeln in den Antinomien der Moderne. In: Krüger, Heinz-Hermann/Helsper, Werner (Hrsg.): Einführung in die Grundbegriffe und Grundfragen der Erziehungswissenschaft. Opladen, S. 1533. Helsper, Werner/Böhme, Jeanette (Hrsg.) (2004): Handbuch der Schulforschung. Wiesbaden. Herzmann, Petra/König, Johannes (2016): Lehrerberuf und Lehrerbildung. Bad Heilbrunn. Höhmann, Katrin (2012): Ganztagsschule als Lern-, Lebens-, Erfahrungs- und Kulturraum. In: Appel, Stefan/Rother, Ulrich (Hrsg.): Jahrbuch Ganztagsschule 2012. Schulatmosphäre – Lernlandschaft – Lebenswelt. Schwalbach/Ts, S. 1118. Holtappels, Heinz (2009): Qualitätsrahmen für Ganztagsschulen. In: Kamski, Ilse (Hrsg.): Qualität von Ganztagsschule. Konzepte und Orientierungen für die Praxis. Münster, S. 61-88. Huth, Rudoslaw (2011): Einstellungen. In: Horn, Klaus-Peter/Kemnitz, Heidemarie/Marotzki, Winfried/Sandfuchs, Uwe (Hrsg.): Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft. Bad Heilbrunn, S. 298. Kessl, Fabian/Reutlinger, Christian (2010): Sozialraum. Wiesbaden. König, Johannes/Seifert, Andreas (2012): Lehramtsstudierende erwerben pädagogisches Professionswissen. Ergebnisse der Längsschnittstudie LEK zur Wirksamkeit der erziehungswissenschaftlichen Lehrerausbildung. Münster. Kosinar, Julia (2010): Belastungserleben im Referendariat: verbesserter Umgang mit Anforderungen durch Entwicklung überfachlicher personaler Kompetenzen? In: Schulpädagogik heute, Jg. 1, H. 2, S. 1-15. Kullmann, Harry (2010): Lehrerkooperation. Ausprägung und Wirkungen des naturwissenschaftlichen Unterrichts an Gymnasien. Münster. Kuper, Harm/Kapelle, Nicole (2012): Lehrerkooperation aus organisationstheoretischer Sicht. In: Baum, Elisabeth/Idel, Till-Sebastian/Ullrich, Heiner (Hrsg.): Kollegialität und Kooperation in der Schule. Wiesbaden, S. 41-50. Lazarus, Richard (1995): Stress und Stressbewältigung – ein Paradigma. In Filipp, Sigrun-Heide (Hrsg.): Kritische Lebensereignisse. Weinheim, S. 198-232. Lenzen, Dieter (1991): Pädagogisches Risikowissen, Mythologie der Erziehung und pädagogische Methexis – Auf dem Weg zu einer reflexiven Erziehungswissenschaft. In: Oelkers, Jürgen/Tenorth, Elmar (Hrsg.): Pädagogisches Wissen. In: Zeitschrift für Pädagogik. 27. Beiheft, S. 109-128.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Literatur
313
Luhmann, Niklas (2009): Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg. Matthies, Aila-Leena/Skiera, Ehrenhard (Hrsg.) (2009): Das Bildungswesen in Finnland. Geschichte, Struktur, Institutionen und pädagogisch-didaktische Perspektiven. Bad Heilbrunn. Maurer, Andrea (2012): Institutionen. Klinkhardts Lexikon Erziehungswissenschaft. Bad Heilbrunn, S. 86-88. Meyer, Hilbert (1997): Schulpädagogik. Band II: Für Fortgeschrittene. Berlin. Müller, Frank/Prengel, Annedore (2013): Empirische Zugänge zu Inklusion in der Früh- und Grundschulpädagogik. In: Zeitschrift für Grundschulforschung, Jg. 7, H. 1, S.7-20. Nieke, Wolfgang (2017): Lehrersein als Handwerk, Beruf oder Profession – Die Relevanz der reflexiven Persönlichkeitsbildung. In: Hübner, Edwin/Weiss, Leonhard (Hrsg.): Personalität in Schule und Lehrerbildung. Perspektiven in Zeiten der Ökonomisierung und Digitalisierung. Opladen – Berlin – Toronto, S. 119-141. Prengel, Annedore (2006/1993): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Wiesbaden. Oevermann, Ulrich (1996): Organisationszwänge und hoheitsstattliche Rahmenbedingungen im Sozialwesen. Ihre Auswirkung auf die Paradoxien des professionellen Handelns. In: Combe, Arno/Helsper, Werner (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt, S. 70-182. Oser, Fritz (2011): Wirkung und Wirkungselemente im Lehrerberuf: Leistungen, Grenzen und Perspektiven aktueller Forschung. In: Terhart, Ewald/Bennewitz, Hedda/Rothland, Martin (Hrsg.): Handbuch der Lehrerforschung. Münster, S. 592-602. Prange, Klaus (2009): Formen des Erziehens in Geschichte und Gegenwart. In: Mertens, Gerhard et al. (Hrsg.): Allgemeine Erziehungswissenschaft II. Paderborn, S. 345-361. Prengel, Annedore (2013): Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Opladen. Preuss-Lausitz, Ulf (2006): Integrationsforschung, Ansätze, Ergebnisse und Perspektiven. In: Eberwein, Hans/Knauer, Sabine (Hrsg.): Handbuch Integrationspädagogik. Weinheim, S. 458-470. Reusser, Kurt/Pauli, Christine/Elmer, Anneliese (2011): Berufsbezogene Überzeugungen von Lehrerinnen und Lehrern. In: Terhart, Ewald/Bennewitz, Hedda/ Rothland, Martin (Hrsg.): Handbuch der Lehrerforschung. Münster, S. 478-495. Reh, Sabine (2004): Abschied von der Profession, von Professionalität oder vom Professionellen? In: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 50, H. 3, S. 358-372. Röbe, Edeltraud (2007): Anschlussfähigkeit wagen. Bildungspläne in Kindergarten und Schule. In: Die Grundschulzeitschrift, Jg. 21, H. 209, S. 13-22.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
314
6. Entwickeln der Lehrerpersönlichkeit
Röbe, Edeltraud (2005): Klassengemeinschaft. In: Die Grundschulzeitschrift, Jg. 19, H. 190, S. 8-13. Röbe, Heinrich (2010): Im „Beziehungsgewitter“. Zum Spannungsfeld von Person und Profession im Beziehungsgeschehen zwischen Lehrer und Schüler. In: Feindt, Andreas/Klaffke, Thomas/Röbe, Edeltraud/Rothland, Martin/Terhart, Ewald/Tillmann, Klaus-Jürgen (Hrsg.): Lehrerarbeit – Lehrer sein. Friedrich Jahresheft XXVIII. Seelze, S. 23-25. Rosa, Hartmut (2016): Resonanzen. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin. Rothland, Martin (2013) (Hrsg.): Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf. Modelle, Befunde, Interventionen. Wiesbaden. Rudow, Bernd (1994): Die Arbeit des Lehrers. Zur Psychologie der Lehrertätigkeit, Lehrerbelastung und Lehrergesundheit. Bern. Schaarschmidt, Uwe/Kieschke, Ulf (Hrsg.) (2007): Gerüstet für den Schulalltag. Psychologische Unterstützungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer. Weinheim. Schön, Donald (1983): The reflective practioner. Basic. Schönknecht, Gudrun (1997): Innovative Lehrerinnen und Lehrer. Berufliche Entwicklung und Berufsalltag. Weinheim. Seifert, Anja/Reichmann, Elke (2014): Lernen in heterogenen Lerngruppen – Welches Rollenverständnis und welche Vorstellungen von Lernen haben angehende Kindheitspädagogen und Grundschulpädagogen? Eine vergleichende Studie. In: Blömer, Daniel/Lichtblau, Michael/Jüttner, Ann-Kathrin/Koch, Katja/Krüger, Michaela/Werning, Rolf (Hrsg.): Gemeinsam anders lehren und lernen. Tagungsband Grundschulforschungstagung 2013. Wiesbaden, S. 40-45. Shulman, Lee (1986): Those who understand: Knowledge Growth in Teaching. Educational Researcher, Jg. 15, H. 3, S. 4-14. Speck, Karsten (2012): Lehrerprofessionalität, Lehrerbildung und Ganztagsschule. In: Appel, Stefan/Rother, Ulrich (Hrsg): Jahrbuch Ganztagsschule 2012. Schulatmosphäre – Lernlandschaft – Lebenswelt. Schwalbach/Ts, S. 55-66. Stecher, Ludwig/Krüger, Heinz-Hermann/Rauschenbach, Thomas (Hrsg.) (2011): Ganztagsschule – Neue Schule? Eine Forschungsbilanz. Zeitschrift für Erziehung. Sonderheft 15, S.25-42. Steinert, Brigitte/Klieme, Eckhard/Maag, Katharina/Merki, Peter/Döbrich, Peter/Halbherr/Kunz, Andre (2006): Lehrerkooperation in der Schule: Konzeption, Erfassung und Ergebnisse. In: Zeitschriften für Pädagogik, Jg. 52, H. 2, S. 184ff. Terhart, Ewald/Bennewitz, Hedda/Rothland, Martin (Hrsg.) (2011): Handbuch der Forschung zum Lehrerberuf. Münster. Willmann, Marc (2007): Sonderschullehrer an Grundschulen als Präventionslehrer in der Stadt Frankfurt am Main – ein Beispiel der integrierten schulischen Einzelhilfe. In: Reiser, Helmut/Willmann, Marc/Urban, Michael (Hrsg.): Sonderpädagogische Unterstützungssysteme bei Verhaltensproblemen in der Schule. Bad Heilbrunn, S. 139-173.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns „Unser Menschengeschlecht bildet sich wesentlich von Angesicht zu Angesicht, von Herz zu Herz menschlich.“ Johann Heinrich Pestalozzi1 (1746-1827)
Abstract Wer in der pädagogischen Praxis arbeitet, muss Tag für Tag mit vielfachen Herausforderungen zurechtkommen und gleichzeitig der selbstverständlichen Erwartung entsprechen, dass sein Handeln der Persönlichkeitsentwicklung der Schüler/innen dient – und dies allen kritischen Qualitätsanalysen, unzureichenden Bedingungen und so manchen Aufgeregtheiten des Moments zum Trotz. In diesem Kapitel steht die praktische Pädagogik im Zentrum und zwar die Auseinandersetzung mit sogenannten ‚Schlüsselsituationen‘. Damit sind Wirklichkeitsausschnitte gemeint, die im Handeln von Lehrer/innen etwas aufscheinen lassen, das den Betrachter berühren, nachdenklich stimmen und ihm ‚unter die Haut gehen‘ kann. Die ausgewählten Alltagssituationen wollen dazu einladen, der Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit nachzuspüren, die für die Wahrnehmung und Deutung von pädagogischem Handeln typisch sind. Es ist die Frage nach der zugrundeliegenden pädagogischen Haltung zu stellen, aus der heraus das Handeln Orientierung gewinnt, Energie schöpft und sich pädagogisch legitimiert. Eine solche Haltung trägt man nicht vor sich her – sie konkretisiert sich im Handeln, oder wie es die Lyrikerin Hilde Domin ausdrückt: „Sie muss sich heimisch machen im TUN“. Dieses Kapitel hat die Funktion, lautes Nachdenken über konkretes Lehrerhandeln anzuregen, nach dessen Orientierung zu fragen, Irrwege zu benennen, Lösungen zu entwerfen und sich in gemeinsamen Verständigungsversuchen darüber klarzuwerden, welche Kriterien die Handlungsweisen wohl bestimmen bzw. bestimmen sollten. Es geht also gerade nicht um eine Fixierung von eindeu-
1 Er gilt als einer der größten Klassiker der Pädagogik und wird als Wegbereiter einer Allgemeinen Bildung für alle Menschen gesehen (vgl. Pestalozzi, J. H. (1815/1977): An die Unschuld. Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Band 24A. Berlin, S. 19).
316
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
tigen Handlungsvorschriften, sondern um ein reflexives Be- und Hinterfragen von konkretem Handeln unter pädagogischem Anspruch.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.1 Persönlichkeitsentwicklung und Beziehung in pädagogischer Verantwortung Seit die internationalen und nationalen Leistungsstudien einen Leistungsnotstand des Bildungssystems ausgerufen haben, hat sich der Druck auf die Lehrer/ innen und Schüler/innen verstärkt, quantifizierbare und messbare Schulleistungen zu erzeugen (vgl. Kap. 4). Die Tendenz, dass ein ‚Teaching to the test‘ nun in hohem Maße die Unterrichtssituation prägt und sich ein technologisches Bildungs- und Lernverständnis zunehmend durchsetzt, ist spürbar. Dieses setzt auf Effektivität, technokratische Reformen sowie einen Unterricht, der sich primär als Inszenierung von Lernumgebungen versteht, in denen die Schüler/innen vorwiegend selbstgesteuert arbeiten und sich selbst optimieren sollen. „Wie die Leistung zustande kommt und welche Rolle die am pädagogischen Geschehen beteiligten Personen dabei spielen, bleibt jedoch weitgehend ausgeklammert […]. Gerade Praktiker empfinden einen unlösbaren Widerspruch zwischen verordneten technokratischen Reformen und ihrer anspruchsvollen Arbeit in der Begegnung mit konkreten jungen Persönlichkeiten, denen sie in größer werdenden Klassenverbänden zu Bildung verhelfen möchten“ (Krautz/Schieren 2013, S. 7f.). Eine solche Entwicklung rückt die grundlegende Dimension der Pädagogik in den Hintergrund und lässt geschehen, dass die interpersonalen Bezüge, die Bildung ausmachen und ermöglichen, einem falsch verstandenen Selbstmanagement der Schüler/innen preisgegeben werden. Eine Wiedergewinnung des Pädagogischen jedoch setzt eine Reflexion dessen voraus, was das ‚Pädagogische‘ im Wesentlichen ausmacht. 7.1.1 Das ‚Pädagogische‘ im Lehrerhandeln – Versuch einer Bestimmung • Pädagogisches Handeln und Geschehen ist stets ein personales und interpersonales. In ihm treten „Menschen unterschiedlichen Alters in eine Beziehung sowohl zu sich selbst als auch zu den Inhalten, mit denen sie sich gemeinsam beschäftigen“ (Hübner/Weiß 2017, S. 9). Die personale Qualität dieser Beziehung wird grundsätzlich positiv gesehen. Sie gilt als wesentliche Bedingung für das Lehrersein. Deshalb hat die pädagogische Beziehungsgestaltung für Erziehung und Bildung eine tragende Bedeutung. Dies bestätigen neurowissenschaftliche Forschungen ebenso wie die Biografieforschung. Letztere belegt evidenzbasiert die nachhaltige Wirkung dieses Bezugs, auch wenn sich die Form alters- und entwicklungsentsprechend verändert. Die Beziehung zwischen Lehrperson und Kind/Schüler löst sich nicht einfach auf; sie kann bis ins hohe Alter be-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.1 Persönlichkeitsentwicklung und Beziehung
317
stehen bleiben. Damit bleiben auch die oft tiefgreifenden und langfristigen Wirkungen, die Lehrpersonen entfaltet haben. • Eine Besonderheit des pädagogischen Handelns ist, dass sich die in der pädagogischen Situation Agierenden gemeinsam auf ein Drittes, auf die Welt, beziehen. Es geht dabei um einen Modus des Verstehens, den Ludwig Liegle (2006) einen ‚Modus der Verflechtung‘ nennt. Dieser konstituiert sich im Umgang miteinander und im gemeinsamen Bezug auf die Erfahrungswelt der Dinge und Menschen, in der Erfahrung der durchlässigen Grenze zwischen Nähe und Ferne, zwischen Vertrautheit und Fremdheit. Dieses Verhältnis zeichnet sich durch seine besondere Form sozialen Verstehens aus und ist durch eine Differenz bestimmt. Es ist jene Differenz zwischen Lehrer/innen und Schüler/ innen, „die dann entsteht, wenn Individuen etwas lernen sollen oder wollen, was sie aus eigener Kraft aus irgendeinem Grund nicht lernen können […]. Deshalb kann man die Funktion der Erziehung im menschlichen Leben als Lernhilfe bestimmen“ (Loch 1978, S. 11), die zugleich die Personalität der Lernenden zu stärken vermag. Aber auch der Erwachsene befindet sich in einer besonderen Situation. Nach Siegfried Bernfeld (1925) ist ihm eine psychische Grenze gesetzt, da hat er es stets mit zwei Kindern zu tun hat: „Dieses Kind vor ihm ist er selbst als Kind. Mit denselben Wünschen, denselben Konflikten, denselben Schicksalen. […] Er ist in dieser pädagogischen Paargruppe zweimal enthalten: als Kind und als Erzieher. […] So steht der Erzieher vor zwei Kindern: dem zu erziehenden und dem verdrängten in ihm. Er kann gar nicht anders, als jenes zu behandeln wie er dieses erlebte“ (Bernfeld 1925, S. 140). • Die Beziehung zwischen Lehrer/innen und Schüler/innen hat eine besondere Dynamik. Sie steht unter dem „Wirbel von Affekten“ (vgl. Bernfeld 1925), da die Erwachsenen die eigenen, meist verdrängten Wünsche, Konflikte, Schicksale im Gegenüber entdecken. So begegnet eine Lehrperson vielleicht dem ängstlichen Schüler, deren Hilfe auch er als damaliger Schüler gerne beansprucht hätte, der entscheidungsfreudigen Schülerin, die sie selbst nie war, dem frechen Kind/Jugendlichen, das/der er vielleicht selbst gerne gewesen wäre und nun mit beruflicher Autorität einzugrenzen bereit ist usw.. Dies erklärt die nachdrückliche Forderung nach psychoanalytisch orientierten Lehrer/innen, die zu einer „regressiven und progressiven Bewegung“ in der gemeinsamen Arbeit des Lehrens und Lernens fähig sind. Die regressive, zurückgehende Bewegung ermöglicht, dass sich die Beteiligten empathisch verstehen können. Die gegenläufige progressive, nach vorne schauende Bewegung hingegen zielt auf eine aufgabenbezogene Verarbeitung eigener Erfahrungen, was zu einer neuen Sichtweise und Situationsbewertung führen und das Selbst erweitern kann. • Pädagogisches Handeln ist ein Handeln unter prinzipieller Unsicherheit. Versteht man mit Ewald Terhart (1998) pädagogisches Handeln als ein Handeln unter prinzipieller Unsicherheit (Terhart 1998, S. 467), kommt es dem fortgesetzten Versuch gleich, die Differenz zwischen Erwachsenen und Kin-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
318
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
dern/Jugendlichen, Lehrkräften und Schüler/innen anzuerkennen und das Besserverstehen zwischen den Beteiligten wechselseitig voranzubringen. Hier tritt sein Technologiedefizit zu Tage. Da Menschen in Anerkenntnis ihrer unveräußerlichen Würde prinzipiell dem anderen unverfügbar sind, ihm ein Nein entgegensetzen und sich ihm verwehren können, kann es keinen Masterplan, keine technologische Machbarkeit, keine Garantie für Gelingen geben. Doch diese ethische Besonderheit will den Handelnden weder Ohnmacht noch Hilflosigkeit unterstellen, wohl aber die Notwendigkeit unterstreichen, sich fortgesetzt des Maßstabs zu vergewissern, der ihrem konkretem Handeln zugrunde liegen könnte und zu klären, welche Begründungzusammenhänge zu dessen Rechtfertigung bzw. Revision aufgerufen werden können. • Pädagogischem Handeln ist eine Zukunftsdimension eingeschrieben. Es ist ein Wesensmerkmal der Pädagogik, über sich hinaus und in den Zeithorizont hinein zu denken. Ihre Zukunftsbezogenheit besagt, dass gegenwärtiges Handeln nicht nur in seiner Stimmigkeit mit dem gegenwärtigen Moment, dem Hier und Jetzt, sondern in seinen Wirkungen in der Zukunft gesehen und auch verantwortet werden muss (vgl. Jonas 1986). Somit muss sich pädagogisches Handeln danach befragen lassen, welche Gegenwart und Zukunft der Kinder und Jugendlichen es begründet. Dann genügen nicht nur gründliche Analysen gesellschaftlicher Faktoren, das Entwerfen einfacher Handlungsmuster und die bloße Verstärkung von Verantwortungsdruck und -rhetorik. „Beim Thema Verantwortung geht es […] zunächst darum, was vor der Antwort steht: Das Ernstnehmen der Fragen und Unsicherheiten, das Suchen nach Wegen, die zu Antworten führen, das Probieren und das Fehler machen dürfen. Dies fordert den einzelnen und überfordert ihn gleichzeitig. Deshalb gehört zum Nachdenken über Verantwortung die gemeinsame Verständigung darüber, für wen und für was ich als Pädagoge verantwortlich bin und vor wem ich verantworten will, was ich tue. Gespräche darüber gibt es in berufsbegleitenden Supervisionen, in Klassenlehrer- und Jahrgangsteams, in Kollegien […]“ (Bastian 1995, S. 9).
Insofern gewinnt auch die folgende Auseinandersetzung mit Schlüsselsituationen eine besondere Funktion. Sie kann zu Verständigungsversuchen anregen, deren Wert im gemeinsamen, lauten Nachdenken über konkretes Lehrerhandeln liegt, in dem Versuch, sich gemeinsam Rechenschaft abzulegen, Irrwege zu benennen, Veränderungen einzuleiten. Die Perspektive auf Verantwortung kann das trügerische Gefühl, ‚alles sicher im Griff zu haben und im Recht zu sein‘ zurückdrängen und Räume für reflexive Denk- und Handlungsformen öffnen.
7.1 Persönlichkeitsentwicklung und Beziehung
319
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.1.2 Schlüsselsituationen als methodische Zugriffsweise Während in der Unterrichts- und Bildungsforschung eher die inhaltlichen, methodischen, medialen und kompetenzbezogenen Fragen und Analysen dominieren, richtet die pädagogische Forschung ihre Aufmerksamkeit auf die Kinder/ Jugendlichen als die aktiv Beteiligten sowie auf die Erwachsenen, die das Beziehungsverhältnis entwicklungs- und lernförderlich auszugestalten versuchen. Wenn in diesem Kapitel von ‚Schlüsselsituationen‘ pädagogischen Handelns die Rede ist, so sind damit Fragmente, Wirklichkeitsausschnitte oder Handlungsszenen gemeint , in denen der beidseitige, offene Sensibilisierungs- und Verstehensprozess in besonderer Weise direkt oder indirekt herausgefordert wird und unerlässlich scheint. ‚Schlüsselsituationen‘ werden methodisch meist über teilnehmende Beobachtung oder auch aus Gedächtnisprotokollen gewonnen, über Videographien, Aufzeichnungen in Wort, Schrift und Bild dokumentiert und stehen als Material für die Rekonstruktion, Interpretation und Ausdeutung ihrer Bezugshorizonte und normativen Orientierung zur Verfügung. Im Umgang mit den Dokumenten kann man Mechthild Dehn nur beipflichten, wenn sie feststellt: „Wir sind immer wieder erstaunt, wie in den […] Ausschnitten nicht bloß alle typischen Merkmale der Personen, ihre Gestik und Mimik, ihr Tonfall, ihre Körpersprache enthalten waren, sondern auch die konstitutiven Elemente der ‚ganzen‘ Interaktion, das Selbstverständnis und das Bild vom Gegenüber, die Zuschreibungen und die Widerstände, […] das Interesse am Inhalt, erkennbar und erschließbar waren“ (Dehn 1994, S. 15).
In der Pädagogik hat der Situationsbegriff als Kategorie eine lange Tradition. Je nach Erkenntnisinteresse und wissenschaftstheoretischem Ansatz unterscheiden sich jedoch das Grundverständnis und der Sinnzusammenhang. So betont zum Beispiel die geisteswissenschaftliche Position die Situation als Personenverhältnis und die ethische Dimension des Handelnden (vgl. z.B. Peter Petersen). Die kommunikationstheoretische Position versteht hingegen ‚Situation‘ forschungsmethodologisch als kleinste Protokolleinheit, die noch sinnvoll interpretationsfähig ist (z.B. Klaus Mollenhauer). Mechthild Dehn verwendet den Begriff ‚Schlüsselszenen‘ für Situationen kindlichen Schriftspracherwerbs, um die Ambivalenz von Vertrautem und Unerwartetem im Lernprozess erschließbar werden zu lassen (vgl. Mechthild Dehn 1994 und 2013). Die damit vollzogene Wende zum Interaktionsgeschehen zwischen Kindern und Erwachsenen in einem Lernbereich greift zum Beispiel Ulrike Graf (2004) auf, indem sie ‚Schlüsselsituationen‘ der Leistungsentwicklung untersucht, in denen sich die Schüler/innen selbst zu ihrem Leistungsselbstkonzept äußeren und ihre Äußerungen zum Bestandteil des gemeinsamen Verständigungs- und Rückmeldeprozesses werden. Auch die interdisziplinäre, mathematikdidaktisch-pädagogisch angelegte
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
320
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
Forschungsarbeit von Birgit Gysin (2017) fokussiert ‚Schlüsselszenen‘ in Gestalt kindlicher Lerndialoge im jahrgangsgemischten Mathematikunterricht, um dem kindlichen Aushandeln von Bedeutungen, Strukturierungen und Geltungsnormen nachspüren und ihre Hervorbringungen besser verstehen zu können.2 Die für dieses Kapitel ausgewählten Schlüsselsituationen zeigen das Lehrerhandeln in sehr unterschiedlichen Situationen. Das Handeln scheint einerseits vertraut, andererseits überraschen auch ungewöhnliche Reaktionen. In allen Handlungen sind Ambivalenzen im Spiel, die latent für Spannung sorgen und bearbeitet sein wollen. Deshalb können sie unseren Blick aufschließen für bewusste und unbewusste Anteile in unserem Wahrnehmen und Urteilen, für institutionelle und personale Bedingtheiten, für kognitive und emotionale Handlungsanteile, für das Ringen um eine pädagogische Haltung, aus der heraus gehandelt wird und die sich in konkreter, widersprüchlicher Situation zu bewähren hat. 7.1.3 Haltung und pädagogisches Handeln Der Begriff „Haltung“ hat im aktuellen pädagogischen Diskurs wieder an Bedeutung und Gewicht gewonnen.3 Mit Haltung verbindet sich die Erwartung, dass sie dem pädagogischen Denken und Handeln Orientierung gibt, damit die Denk-, Verhaltens- und Reaktionsweisen von Erzieher/innen und Lehrer/Innen nicht in ein unverbundenes Neben- oder gar widersprüchliches Gegeneinander zerfallen. Der vielschichtige Begriff „Haltung“ lässt sich mit folgenden Bestimmungsmerkmalen profilieren, die sich, übertragen in den pädagogischen Raum, als erklärungsmächtig erweisen (vgl. Reinhard/Vasek/Hürter 2017, S. 19f.): • „Man könnte Haltung definieren als einen inneren Kompass, der die Richtung auf ein bestimmtes ethisches ‚Sollen‘ weist, etwa niemals aufzugeben, Rückschläge in Kauf zu nehmen, immer wieder aufzustehen und weiterzumachen […] Wer Haltung hat, zeigt ‚Rückgrat, […] dreht sich nicht wie ein Fähnchen im Wind […] Auch deshalb kann eine Haltung ein Leben gleichsam zusammenhalten, indem sie eine Lebensform mitkonstituiert“ (Reinhard/Vasek/Hürter 2017, S. 20 und 23).
2 Diese stellvertretend ausgewählten Forschungsarbeiten können als Beispiele für qualitative pädagogische Forschung gelten, die heute neben der quantitativen Forschung als legitime Form der Erkenntnisbildung, ihrer forschungsmethodischen Verfahrensweisen und Standards wissenschaftlich voll anerkannt ist (vgl. z.B. Reh & Rabenstein 2013). 3 Begrifsbestimmungen mit sehr unterschiedlichen Annäherungen sind zum Beispiel enthalten in: Combe/Helsper 2016, Fegert/Solzbacher (2014), Häussler 2000, Moosecker 2018, Röbe 2015, Reinhard/Vasek /Hürter 2017. Außerdem verwenden zunehmend bildungspolitisch-pädagogische Kampagnen den Begrif, z.B. „Haltung zählt!“ – so der Titel eines aktuellen Manifests des BLLV (Bayerischer Lehrerinnen- und Lehrerverband).
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.1 Persönlichkeitsentwicklung und Beziehung
321
• „Eine Haltung ist umfassender als eine Einstellung, sie muss gelebt und auch anhand objektiver Kriterien beurteilt werden können. Sie gibt uns Halt, wenn alles andere wegbricht“ (Reinhard/Vasek/Hürter 2017, S. 21). • „Haltung ist meist die lang gereifte Frucht von Erfahrungen und Gewohnheiten. Sie ändert sich nicht von heute auf morgen. Und ebenso wenig lassen wir uns ohne weiteres dazu bewegen, unsere Haltung aufzugeben. Jede Haltung ist charakterisiert durch ein gewisses Beharrungsvermögen. […] Eine Haltung ‚hat‘ man nicht einfach. Man muss sie in der Auseinandersetzung mit seinen Mitmenschen gleichsam ständig ‚trainieren‘ und weiterentwickeln“ (Reinhard/Vasek/Hürter 2017, S. 23). • „Eine Haltung ist weder beliebig, noch darf sie dogmatisch sein. Sie darf nicht blind machen und dazu führen, dass wir Fakten nicht zur Kenntnis nehmen oder sie einseitig interpretieren, dass wir in Vorurteile und Stereotype, ja sogar in Hass verfallen“ (Reinhard/Vasek/Hürter 2017, S. 21). • „Wer Haltung zeigt, muss nicht jede Situation bis ins Letzte durchdenken. In einer komplexen Welt ist das oft auch gar nicht möglich. Eine Haltung schützt uns nicht vor Fehlern. Aber sie ermöglicht es uns, unser Leben auf verantwortungsvolle Weise zu reduzieren und die innere Grundorientierung in Handeln zu übersetzen“ (Reinhard/Vasek/Hürter 2017, S. 22). • „Eine Haltung schützt nicht vor Fehlern […] Dazu gehört die Praxis regelmäßiger Selbstreflexion […] Was wir heute daher brauchen, das ist die Fähigkeit, mit unserer eigenen ‚haltlosen‘ Haltung und jener der anderen zurechtzukommen. Die ‚philosophische‘ Haltung kann uns dabei helfen. Sie ist eine zutiefst demokratische Haltung. Die Demokratie lebt vom Streit der Meinungen, vom Respekt für andere Menschen und deren Überzeugungen – und davon, dass keine Meinung oder Einstellung einen absoluten Geltungsanspruch stellen kann“ (Reinhard/Vasek/Hürter 2017, S. 24). Eine pädagogische Haltung ist nicht lediglich ein ‚Gelingensfaktor‘ (Moosecker 2018) neben anderen für pädagogisches Handeln, sondern gleichsam die Bindekraft zwischen der theoriegeleiteten pädagogischen Reflexion und dem konkreten Handeln. Insofern gründet das Ringen um Haltung4 in einem nicht abschließbaren Verständigungsprozess, in dem reflexive Fragen gestellt, Argumente ausgetauscht und Begründungen offengelegt werden. Es geht im Wesentlichen darum, pädagogische Grundbegriffe über das Befragen von Alltagssituationen zu differenzieren und zu interpretieren, damit sich der Blick auf die zugrundeliegende Haltung schärfen und im Wirken von Beispielen erkannt werden kann.
4 Dieses Verständnis von Haltung rückt in die Nähe des Begrifes „Pädagogischer Takt“ (vgl. Schlömerkemper 20022, vgl. Kap. 3).
322
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.1.4 Pädagogische Schlüsselsituationen – Deutungsperspektiven Geht man nun davon aus, dass für die Wirksamkeit von Schule entscheidend ist, wie die Lehrer/innen das pädagogische Verhältnis zu ihrem menschlichen Gegenüber sehen und gestalten, dann gilt es, der Signatur5 pädagogischen Handelns nachzuspüren. Die in diesem Kapitel enthaltene Auseinandersetzung mit den Schlüsselsituationen erfolgt jeweils entlang von fünf Perspektiven mit der Absicht, vor allem Fragen hervorzubringen, um einen Verständigungsprozess anzuregen und zu strukturieren: Die ‚Gegenwärtigkeit‘ im pädagogischen Handeln Wenn eine erzieherische Situation mit uns Erwachsenen etwas tut, „so setzt sie uns in Gegenwart, fordert unseren Einsatz heraus, zwingt uns zur Entscheidung und zum Handeln. Sie stellt uns unentfliehbar in eine Handlungssituation, bindet uns an das Hier und Jetzt und macht es uns unmöglich, uns aus der Verantwortung zurückzuziehen …“ (Lichtenstein-Rother 1992, S. 103). Dieses unmittelbare „In-die-Situation-Gestellt-Sein“, dieses Betroffen- und Herausgefordertsein kennzeichnet das pädagogische Handeln von Berufsanfänger/innen wie Berufserfahrenen. Doch diese „Unentfliehbarkeit“ trifft auch die Schüler/innen. Sie sind als Handlungssubjekte ebenfalls ‚unentfliehbar‘ in die Situation hineingebunden, auch wenn ihnen oft nur ein Objektstatus, ein reaktives Handeln oder ein Nichthandeln zugestanden wird. Empathie – Vom Anderen her denken und handeln Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1878-1965) hat das Phänomen der Ich-Du-Beziehung wesentlich in die Pädagogik eingebracht. Gemeint ist damit eine Beziehung der Gegenseitigkeit, in der der Mensch das Gegenüber gleichsam umfasst, sich selbst vom anderen her wahrnimmt und erlebt. In diesem „Prinzip der Umfassung“ sieht er die Grundlage für das Ernstnehmen des Anderen in seinem Sosein und zugleich für das Erfahren des Andersseins als Grenze. Die Bedeutung solch empathisch interpersonaler Begegnung wird heute von der neurowissenschaftlichen Forschung evidenzbasiert bestätigt. Seit einigen Jahren entwickelt sich ein Forschungsbereich, die sogenannte Embodied-Cogni-
5 Es wird zwar an die Argumentation von Ernst Lichtenstein (1900-1971), einem Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, der seine anthropologisch-philosophischen Studien bereits auf die Erziehungsrealität bezogen und Konstituenten pädagogischen Handelns herausgearbeitet hat (vgl. Reprint in Ilse Lichtenstein-Rother 1992) angeknüpft. Diese wird jedoch zeitkritisch und dem aktuellen Diskurs entsprechend für die Interpretation erweitert und ausdiferenziert.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.1 Persönlichkeitsentwicklung und Beziehung
323
tion-Forschung. Sie zeigt, dass unsere sämtlichen Erkenntnisprozesse ihre Wurzeln in elementaren körperlich-sinnlichen Resonanzprozessen auch außerhalb des Gehirns haben (vgl. z. B. Rittelmeyer 2014). So wurden zum Beispiel in Arealen des Gehirns sog. Spiegelneuronen nachgewiesen, die die wechselseitige Wahrnehmung mit der Eigenbewegung, also mit unserer Körperlichkeit, verknüpfen. Dies bewirkt, dass wir ein fotografiertes Gesicht nicht nur als Foto wahrnehmen. Bei seinem Betrachten werden vielmehr dieselben Neuronen aktiviert, die diese Gesichtszüge hervorbringen. D.h.: Wir nehmen zugleich die emotionalen Botschaften, die seelischen Zustände anderer wahr, wir erkennen Trauer, Freude, Glück und verfügen über eine sogenannte ‚Embodied Cognition‘. Zugleich gehört zu den traurigen Forschungsbefunden, dass bei Kindern/Jugendlichen mit einer aggressiven Kontaktstörung nur wenige Spiegelneuronen (noch) aktiv sind. Diese Einsichten steigern geradezu die Bedeutung personaler Begegnung für die Persönlichkeitsbildung von frühestem Alter an. Vertrauen als Basis pädagogischen Handelns „Vertrauen“ geht auf die Sprachwurzel zurück, in der auch „Treue“ steckt. „Vertrauen“ meint, die Zuversicht hegen, dass von einem Menschen Gutes kommt. Sie gibt der pädagogischen Beziehung die Bindungskraft (vgl. Lichtenstein-Rother 1992, S. 84). Es ist bemerkenswert, dass nach langer Abstinenz „Vertrauen“ als zentrale Prämisse pädagogischen Handelns und der Beziehungsqualität in den erziehungswissenschaftlichen Diskurs zurückgekehrt ist.6 Vertrauen wird wieder … „als Basis einer wohlwollenden Atmosphäre im Erziehungsverhältnis charakterisiert, um Geborgenheit zu schaffen, Selbstsicherheit zu fördern und Lernbereitschaft zu wecken“ (Fabel-Lamla u.a. 2012, S. 801). Das Neue an der heutigen Sichtweise von Vertrauen ist allerdings die normativ kritische Reflexion und eine Ausdifferenzierung von Vertrauen in pädagogischen Beziehungen (zum Beispiel nach Alter, Milieu, Sozialisationsinstanzen, institutionellen Rahmungen). Es wird die meist angenommene positive Konnotation hinterfragt und die bisher implizit angenommene gleichwertige Reziprozität der Vertrauensbeziehung zwischen Erzieher/Lehrperson und Kind auch kritisch gesehen: Das Vertrauen des professionellen Erziehers/Lehrers und des Kindes/ Jugendlichen bezieht sich jeweils auf andere Aspekte: Die Lehrerin zum Beispiel setzt Vertrauen in die Mitarbeit, Autonomie-Entwicklung oder Lernbereitschaft. Die Schülerin/der Schüler hingegen setzt Vertrauen in die Fürsorgehaltung, in 6 Das Verschwinden von Vertrauen aus dem anerkannten Kanon pädagogischer Kategorien erklärt, weshalb systematische Analysen, Relexionen und Bestimmungen ein Desiderat sind. Deshalb ist es bemerkenswert, dass die Zeitschrift für Pädagogik 2012 mit dem Heft 6 den thematischen Schwerpunkt auf „Vertrauen als pädagogische Grundkategorie“ gesetzt hat (vgl. Fabel-Lamla/Welter 2012).
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
324
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
die Kompetenz der Lehrerperson, in die Erwartung, von ihr gemocht und akzeptiert zu werden oder auch Schutz zu finden. Die von den Kindern/Jugendlichen zu leistenden Vertrauensvorschüsse sind mit einem weitaus höheren Risiko verbunden als für die Professionellen (vgl. Fabel-Lamla/Welter 2012, S. 807). Die Forschungsthemen der aktuellen Vertrauensforschung befassen sich mit den kindlichen Vertrauensbildungsprozessen, den Entstehungsbedingungen von Misstrauen, der Brüchigkeit von Vertrauensbeziehungen, der gebotenen Transparenz von Vertrauensarbeit – all dies kann gewiss die tradierte anthropologischpädagogische Reflexion von Vertrauen erweitern und in einem kritischen Diskurs einholen. Gewähren von Lernchancen und Lernhilfen Geht man davon aus, dass die Funktion von Erziehung im menschlichen Leben als umfassende Lernhilfe bestimmt werden kann, dann ist es von entscheidender Bedeutung, dass und wie sich Lehrer/innen und Schüler/innen im Umgang miteinander auf ein Drittes, die Welt der Dinge und Menschen, beziehen. Es ist die bildungstheoretische Didaktik, die das Nachdenken über Persönlichkeit und Beziehung als integralen Bestandteil ihres Ansatzes sieht und einen personal bezogenen wie interpersonal verankerten Bildungsprozess fordert. „Bildung wäre so verstanden dann die ‚gemeinsame Entwicklung von Menschen miteinander“ (Schwaetzer/Vollet in Krautz/Schieren 2013, S. 9). Wenn in der pädagogischen Ratgeberliteratur die Formel ‚Lernen durch Beziehung‘ oder ‚Beziehungsdidaktik‘ stark verbreitet ist, so weist dies möglicherweise auf ein erkanntes Defizit bzw. Desiderat hin. Gefordert werden darin zum Beispiel das rechte Maß zwischen Offenheit zur Welt und Rücksicht auf die leiblich-seelische-geistige Entwicklung, das Ernstnehmen von Fragen und Sichtweisen der Schüler/innen, die Balance zwischen Nähe und Distanz, Räume, die vor gesellschaftlichem Druck schützen, eine Kommunikation, die von Verstehen und Ermutigen geprägt ist. Die Lehrperson – ein Beispiel für Gelingen Eine Schlüsselsituation öffnet zweifelsohne weit ein Fenster in die Erziehungsarbeit der Lehrer/innen. Da die beteiligten Handlungssubjekte, die Konstellationen und Bedingungen einer Handlungssituation jeweils einzigartig sind, kann es keine fertigen Handlungsmodelle geben. Weil die gegebene Grunddynamik pädagogischer Situationen einerseits das Erzieher-/Lehrersein so anspruchsvoll und schwierig, andererseits so spannend und lebendig macht, gilt die Lehrperson als das stärkste Element darin. Ihr Beispiel steht für die Erwartung, dass an ihm/ ihr die Kinder/Jugendlichen erfahren können, was es heißt, sich für etwas zu begeistern, andere Menschen zu respektieren, sich um Geduld zu bemühen, mit Heiterkeit Herausforderungen zu begegnen, die Kümmernisse von Schüler/in-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.1 Persönlichkeitsentwicklung und Beziehung
325
nen ernst zu nehmen ohne sie überheblich zu bagatellisieren oder zu steigern, sich auf eine fremde Denkweise einzulassen usw. Die Verwendung des alten Begriffes „Wahrhaftigkeit“ mag in diesem Zusammenhang für manche moralisch aufgeladen klingen. Und doch mangelt es oft im Erziehungsalltag an Wahrhaftigkeit: Wenn zum Beispiel Schülerantworten permanent mit einem inflationär gebrauchten „Super!“ quittiert und die Schüler/ innen gleichsam ‚weggelobt‘ werden, ohne dass ihre Arbeit wirklich Interesse findet. Wenn eine erste Klasse einen Schreiblehrgang zur selbständigen Erarbeitung ausgehändigt bekommt mit dem Versprechen, dass sie sich nach der ihnen selbst überantworteten Bearbeitung aller Seiten als Genie bezeichnen dürften. Wenn ein Fremdsprachenlehrer am Gymnasium empfiehlt, sich im Merken der Vokabeln ein Beispiel am Gedächtnisweltmeister zu nehmen, ohne dass er selbst in Lerntechniken einführt. Dabei werden die vielen kleinen Schritte des Lernens und Übens sowie der lange Atem verschwiegen, der notwendig ist, um zum Ziel zu gelangen. Es besteht die Gefahr, dass die Erziehenden in ihrer eigenen Strukturlosigkeit und Unverbindlichkeit tendenziell den Schüler/innen Sicherheit, Geborgenheit und Transparenz verwehren und lediglich deren Selbstbezogenheit verstärken.7 Aus Schülersicht leistet eine Lehrperson die Erziehungsarbeit im Zustand der Professionalität, was auch Gefühle von Distanz, Unterlegenheit und Ohnmacht auszulösen vermag. Deshalb sind Kinder/Jugendliche stets auch interessiert an sogenannten ‚narrativen‘ Schlüsselsituationen, in denen die Erwachsenen davon berichten, wie sie als Kinder, Jugendliche oder Schüler/innen in vergleichbaren Situationen agierten: „Erzählen Sie doch, wie Sie auch einmal ganz frech waren. – Wie du einmal gelogen hast und was du dann gemacht hast? – Wie einmal Ihr Lehrer von Ihnen sehr enttäuscht war. – Wie Ihr Lehrer Sie ungerecht behandelt hat und was Sie dann unternommen haben“. Die Kinder/Jugendlichen wollen über solche Szenen die Erwachsenen in ihrem Entwicklungsprozess nacherleben und ihnen gleichsam dabei zusehen, wie sie damals Schwierigkeiten überwunden haben, wie ihnen Erwachsene dabei halfen, was ihnen schwerfiel und wie sie dann von ihnen ermutigt worden sind. Wie die traditionellen Begriffe „Wahrhaftigkeit“ und „Aufrichtigkeit“ stehen sie für die schwere Forderung, dass die Lehrperson ihren erzieherischen Anspruch in erster Linie an sich selbst zu stellen hat. Sonst bliebe es bei lediglich antrainierten Reaktions- und Verhaltensweisen, bei äußerlichen Attitüden, denen Sinn, Überzeugungskraft und menschliche Verbindlichkeit fehlt.
7 Diese oft beklagte Abwesenheit von Erwachsenen, ihre fehlende körperliche, geistige und emotionale Präsenz, wird nicht selten als Ausdruck „liberaler Erziehung“ gewertet und von kindertherapeutischer Seite aus hart kritisiert (vgl. z. B. Dieter Eberhard (2015): Kinder an der Macht. Die monströsen Auswüchse liberaler Erziehung. München.)
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
326
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
„Unter allen Verhältnissen der Menschen untereinander gehört das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern, das Erziehungsverhältnis, in besonderem Maße zu denjenigen, welche die Individualität der beteiligten Personen tiefgreifend und dauerhaft berühren. […] [Eine ethische Haltung ist] eine zweifache Selbstbegrenzung pädagogischer Machtausübung: Das Eingeständnis, dass uns das vollkommene Wissen um die Individualität des Kindes versagt ist, und die Entscheidung, dass die Individualität eines jeden Kindes nicht auf einen Fall des Allgemeinen zu reduzieren ist“ (Liegle 2006, S. 19).
7.2 Schlüsselsituation: „Nein, ich bin dran! Das hast du mir versprochen!“ Turbulenzen im Interaktionsgefüge einer dritten Klasse 7.2.1 Situationsbeschreibung Der Unterrichtsvormittag neigt sich dem Ende zu. In den verbleibenden ca. 15 Minuten soll noch einiges erledigt werden: Notieren der Hausaufgabe, Ablage benutzter Arbeitsmittel, Aufräumen des Arbeitsplatzes; Ben’s Geburtstagsfeier ist als letzter Programmpunkt vorgesehen. Zum ritualisierten Ablauf gehören das Bereitstellen des Geburtstagssessels und eines Tischchens mit Kerze und Blumen. Gleich wird die Klasse mit der Lehrerin im Kreis sitzen, das Geburtstagslied anstimmen und die Glückwünsche darbringen. Doch in der Vorbereitungsdynamik kommt Streit auf. „Nein, du nicht! Lenny, du bist nicht dran! Ich darf den Geburtstagsbriefkasten8 leeren!“ ruft Cyrano entrüstet. Er will Lenny von einem Briefkasten, der im hinteren Teil des Klassenraums hängt, mit Körpereinsatz verdrängen. Als Cyrano den entschlossenen Widerstand von Lenny spürt, steigt seine Gegenwehr. „Mir hat Benni heute Morgen versprochen, dass ich seine Geburtstagspost bringen darf! Ich bin sein bester Freund! Doch nicht du!“ Mit einem kräftigen Stoß in die Seite versucht Cyrano seinen Konkurrenten aus dem Feld zu drängen. „Gell, Benni, das stimmt. Ich darf!“ Ben jedoch gibt keine Antwort, blickt finster auf die beiden. Cyrano ruft nun seinerseits Zeugen herbei: „He, ihr habt doch auch gehört, dass Benni mir gesagt hat, dass ich den Briefkasten leeren darf!“ Bald werden die 8 Der Geburtstagsbriefkasten soll die Klasse dazu anregen, das Geburtstagskind mit einem selbst gestalteten Glückwunsch zu überraschen. Auch die Lehrerin hat bereits ihren Glückwunsch in den Briefkasten gesteckt. In diesem Schuljahr erhält jedes Kind neben ihrer Karte ein kleines Taschenbuch, vom Elternbeirat gespendet. Auf dem Briefkasten, einem künstlerisch gestalteten Karton, wird der nächste Geburtstag bereits am Wochenabschluss angekündigt, um rechtzeitig mit den Vorbereitungen beginnen zu können. Die äußerst begehrte Briefkastenleerung wird von einem Mitschüler/einer Mitschülerin vorgenommen, der/die vom Geburtstagskind bestimmt wird.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.2 Schlüsselsituation: „Nein, ich bin dran! Das hast du mir versprochen!“
327
drei Hauptakteure von mehreren umringt. Vier befreundete Jungen und drei Mädchen ergreifen Partei für Cyrano und stimmen lautstark gegen Lenny: „Das stimmt! Der Lenny will sich einfach vordrängeln! Der ist ja gar nicht dran!“, entrüsten sie sich vielstimmig. Lenny ist den Tränen nahe; er kann sich gegen die lautstarke Übermacht seiner Kontrahent/innen nicht durchsetzen. Ben kann sich zu keiner klaren Aussage durchringen und sieht tatenlos zu, wie die anderen Lenny der Unehrlichkeit bezichtigen und Cyrano geradezu anfeuern, seine Position durchzusetzen. Da nähert sich die Lehrerin der aufgebrachten Schülergruppe. Ihr deutlich artikuliertes „Stopp“ kann die Dynamik anhalten. Die drei Hauptakteure, Lenny, Cyrano und Ben, stehen sich nun in Abstand zueinander gegenüber. Die bezeugenden Kinder formieren sich hinter Cyrano, der das Problem aus seiner Sicht erkennbar verärgert darstellt. Weitere Mitschüler/innen werden auf den Konflikt aufmerksam, treten hinzu. Ben jedoch schweigt beharrlich. Er kann sich weder zu einem klärenden Wort noch zu einem Blickkontakt durchringen. Die Lehrerin bedrängt ihn nicht, zu sprechen. Lenny dagegen berichtet unter Tränen und sichtlich erregt seine Version des Geschehens. Frau Z. wendet sich zunächst ruhig und bestimmt an die ‚parteiischen Zeugen‘: „Wer von euch hat eigentlich gehört, dass Ben dem Cyrano versprochen hat, dass er den Geburtstagsbriefkasten leeren darf? Wer von euch kann sich ganz genau erinnern?“ Einzelne nicken eifrig, blicken sich zustimmend an. Manche werden zögerlich, sehen auf Ben, der weiterhin keine Stellung bezieht, obwohl sich Cyrano mit einem eindringlichen, fast beschwörenden „Gell, ich hab Recht!?“ an ihn richtet. Nach einer Pause betretenen Schweigens wendet sich Frau Z. Lenny zu, legt ihre Hand auf seine Schulter: „Beruhige dich Lenny. Ich kann verstehen, dass das jetzt sehr schwierig ist für dich – und für uns alle … Ich glaube, dass wir das Problem jetzt nicht klären können.“ Sie sieht auf die vor ihr in ‚Anklage- wie in Zeugenstimmung‘ versammelten Mitschüler/innen und sagt: „Wisst ihr was? – Ich vertraue jetzt Lenny, wenn er sagt, dass ihm Ben versprochen hat, den Briefkasten leeren zu dürfen. Doch morgen werden wir nochmals über das, was wir jetzt erlebt haben, miteinander sprechen. Deshalb meine dringende Bitte: Jeder denkt nochmals darüber nach, was er wirklich gehört, gesehen und gesagt hat. Seid ehrlich zu euch und den anderen… Nun lasst uns in den Sitzkreis kommen und Geburtstag so wie immer feiern – heute ist Ben dran.“
Arbeitsaufgaben 1. Betrachten Sie die Schlüsselsituation aus der Perspektive der Lehrerin. Können Sie das Lehrer handeln nachvollziehen? Was sehen Sie kritisch? 2. Nehmen Sie die Perspektive der einzelnen agierenden Schüler/innen ein. Was könnte in diesen vorgehen? 3. Wie würden Sie pädagogisch handeln? Warum?
328
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.2.2 Interpretationsversuch Die Situation: Ein ‚harmloser‘ Konflikt, der in dieser Klasse während der Vorbereitung eines Geburtstagsrituals entsteht und auch noch außerhalb des Unterrichtsgeschehens liegt!? Er muss beendet werden, da wohl sonst das gewohnte Ritual ‚Geburtstagsfeier‘ in der dafür zur Verfügung stehenden Zeit nicht mehr stattfinden kann. Die Lehrerin mit ihrem Tagesprogramm gerät in Zeitnot. Würde man nach den für alle Lebensbereiche erwünschten und im Lehrerhandeln gezeigten ‚soft skills‘ fragen, würde Frau Z. gewiss gut abschneiden: Sie zeigt ein höfliches, freundlich zugewandtes Auftreten, agiert unaufgeregt, spricht klar und verständlich, erkennt, dass Kinder auf unterschiedliche Weise in das Problem involviert sind, bewahrt in der Dynamik der Reaktionen den Überblick und stellt für sich fest, dass der Konflikt nicht unter Zeitdruck gelöst werden kann. Um allen Betroffenen eine faire Chance zur Mitwirkung an der Lösung zu geben, vertagt sie die Auseinandersetzung und geht zur Tagesordnung über. Zweifelsohne sind ‚soft skills‘ auch für pädagogisches Handeln eine wesentliche, aber längst nicht hinreichende Bedingung! Nettes Auftreten, Wahrnehmen eines Konfliktes, Zulassen unterschiedlicher Sichtweisen, Zeitgewinnen für mögliche Lösungen, Verdecken von emotionalen Ausnahmezuständen der Schüler/ innen durch die Rückkehr zu routiniert funktionierenden Abläufen – all dies gehört eher in den Bereich eines schematisierten Verhaltenskodex, der das Handeln der Beteiligten jedoch nur an der Oberfläche tangiert. Folgen wir der Suchbewegung, die aus der Signatur der pädagogischen Situation gewonnen wurde (vgl. 7.1), ergibt sich eine andersartige Nachdenklichkeit. Die Gegenwärtigkeit im pädagogischen Handeln Zweifelsohne agiert die Lehrerin in der Situation. Sie mahnt nicht lediglich zur Ruhe, sondern erkennt den Konflikt, stoppt dessen Eskalation und gibt den Beteiligten eine Äußerungsmöglichkeit. Sie setzt auf Deeskalation und appelliert zuerst an die Erinnerungsfähigkeit der Zeugen, ohne die Bedeutung von deren Aussagen für Lenny, Ben und Cyrano zu unterstreichen. Sie erlebt Cyrano, wie er sein Privileg der Briefkastenleerung vehement verteidigt, da er davon ausgeht, Ben habe es ihm zugesprochen. Sie beschwichtigt Lenny durch körperliche Nähe und einen Vertrauensvorschuss, der bis zur Konfliktbearbeitung am folgenden Tag seine Gültigkeit haben soll. Erwartet aber ‚Gegenwärtigkeit‘ als Kategorie pädagogischen Handelns von der Lehrperson nicht mehr als eine zeitnahe Moderation des Konfliktes? Selbst wenn die Situationsbeschreibung so manche Details offenlässt, diese nur ausschnitthaft zur Verfügung stellt und der Verweis auf die Konfliktbearbeitung am folgenden Unterrichtstag zur Entkräftung von kritischen Anmerkungen akzeptiert wird, so sollten dennoch grundlegende Fragen aufgeworfen und reflektiert werden:
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.2 Schlüsselsituation: „Nein, ich bin dran! Das hast du mir versprochen!“
329
• Warum geht Frau Z. nicht in die ‚Gegenwärtigkeit der Konfliktsituation‘ hinein und strukturiert für die Klasse mitvollziehbar die Entstehung des Konfliktes? Würde sie nicht gerade so die gemeinsame ‚Bezogenheit auf ein Drittes‘ (vgl. 7.1), das es nun gemeinsam mit den Schüler/innen zu bearbeiten gilt, fokussieren und ins Bewusstsein heben? • Warum schickt sie die beteiligten Schüler/innen in eine Warteschleife, die diese aus ihrem Handlungsraum, ihrer Aufmerksamkeit und Verantwortung hinaus führt? Kann die Lehrperson sicher sein, dass die Kontrahent/innen den Konflikt nach dem Unterricht nicht wieder befeuern und gar gewalttätig lösen? • Welche Gründe könnte die Lehrperson für das Verschieben der Konfliktbearbeitung auf den nächsten Tag anführen? • Wo bleibt die Einleitung eines Verständigungsprozesses, der zugleich Impulse für die Persönlichkeitsentwicklung und die Beziehung der Schüler/innen untereinander setzen kann? • Ist es sinnvoll, eine Geburtstagsfeier, die ein für Schüler/innen herausgehobenes, subjektiv bedeutsames Ereignis ist, an das Unterrichtsende und nicht in die Eröffnung des Schultags zu legen? Wie kann dann ein Geburtstagsbriefkasten o.ä. mit den entsprechenden ‚Regeln‘ in die Tagesorganisation integriert werden? … Aus Schülerperspektive bedeutet die Signatur der Gegenwärtigkeit ebenfalls „Unentfliehbarkeit“. Sie sind als Handlungssubjekte in diese Konfliktsituation hineingestellt, auch wenn ihnen nur ein Objektstatus, ein Nichthandeln, zugestanden wird. Sie nehmen reaktive Rollen ein: Ben reagiert mit hartnäckigem Schweigen, Cyrano verteidigt sein Privileg auf Briefkastenleerung, Lenny bewahrt nur mit Mühe seine Fassung, die Zeugengruppe versucht ihren ‚Kandidaten‘ Ben zu stützen und die übrigen werden allmählich zu Zaungästen des konflikthaften Geschehens. • Warum bleiben die Schüler/innen, was das Durchschauen und Lösen des Konflikts anbetrifft, als Handelnde an der Peripherie? • Warum darf Ben als einer der Hauptakteure im Schweigen als Handlungsweise verharren, ohne dass er darin irritiert wird? • Warum gilt für diese Kinder nicht ihr ‚Recht auf den heutigen Tag‘9 (J. Korczak)? Warum müssen sie in der ungeklärten, emotional aufgewühlten Situation bis zum nächsten Tag verbleiben?
9 J. Korczak (1878-1942), der polnische Arzt, Waisenerzieher und Schriftsteller, hat die Rechte der Kinder gegen die Fehlhaltungen der Erwachsenen gesetzt, z. B. Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag! Dieses richtet sich gegen die weit verbreitete ‚Erziehungssünde‘, dass alles, was für die unbekannte Zukunft der Kinder als wichtig erachtet wird (Zur Schule gehen, Rechtschreiben üben etc.) ihre sinnerfüllte Gegenwart verhindert.
330
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Empathie – Vom Anderen her denken und handeln Ist die pädagogische Haltung der Lehrerin von Empathie bestimmt? Im Rückblick auf die Schlüsselsituation liefert die Lehrerin selbst einen augenfälligen Beleg: Frau Z. erkennt durchaus die psychische Notlage, in die Lenny geraten war. Schützend legt sie die Hand auf seine Schulter und versichert Verständnis für seine Schwierigkeit, aus der misslichen Lage aus eigenem Vermögen herauszukommen. Cyrano hingegen lässt sie in seinem Ringen um Rechtfertigung allein und ohne Einspruch gewähren. Es drängen sich Fragen auf: • Warum unternimmt Frau Z. keinen Versuch, die Gefühle, die innerpsychischen Vorgänge, von den Beteiligten selbst in Sprache heben zu lassen? Sollten sie nicht gerade über diese Innensicht des Konflikts und ihr so unterschiedliches Darin-Verstrickt-Sein sprechen? • Kann es denn übersehen werden, wie Cyrano seinem Ärger und seiner Wut Luft macht, wie Lenny in seiner Hilflosigkeit mit Körperkontakt und einem blinden Vertrauensvorschuss ‚am Konflikt vorbei‘ getröstet wird und dabei Gefahr läuft, in den Augen der Mitschüler/innen zum bevorzugten kleinen ‚Schätzchen‘ zu werden, oder wie sich Ben schweigend, ja ungerührt die von ihm ausgelöste Dynamik ansieht, und wie vielleicht – bei strenger Betrachtung – die Nähe der Zeugen zu Mobbingverhalten verharmlost wird? • Vielleicht hätte jemand von den Beteiligten die Stärke gehabt, seinen Anspruch auf die Briefkastenleerung zurückzunehmen und einen Verzicht zu leisten, wenn er /sie dazu ermuntert worden wäre? • Bekommen die Schüler/innen Gelegenheit zum Wahrnehmen und Senden empathischer Botschaften? Welche Signale werden gesetzt? • Lenny wird von der Lehrerin unter ihren machtvollen Schutz gestellt. Die Briefkastenleerung ist ihm zugesichert. Wozu sollte man sich noch um Lenny bemühen, da er sich ja bereits in der Obhut der Lehrerin ‚sonnen‘ kann? • Die Zuschauergruppe agiert für Ben. Müsste aber sie nicht lernen, sich nicht ohne Weiteres einem ‚Starken‘ anzuschließen und zunächst gedankenlos für jemanden votieren? • Ben sieht sich und seine Blockadehaltung als adäquate Antwort. Wie von einem unsichtbaren Panzer geschützt steht er abwartend, emotionsarm und unbeteiligt mitten im Konfliktfeld. Muss nicht gerade er wahrnehmen lernen, dass er an der Konfliktentwicklung den entscheidenden Anteil hat und rasch eine Lösung herbeiführen könnte? • Muss nicht jede/r am Konflikt Beteiligte/r sich darüber selbst klar werden, wie sie/er den Konflikt sieht, wie ihn aus der Perspektive von anderen wahrnimmt, zu welcher Position er/sie findet, wie er sie begründet und mit welchen Folgen zu rechnen ist? …
7.2 Schlüsselsituation: „Nein, ich bin dran! Das hast du mir versprochen!“
331
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Vertrauen als Basis pädagogischen Handelns Frau Z. ist durchaus um Vertrauen als Basis einer wohlwollenden Klassenatmosphäre bemüht. Sie spricht einem Schüler explizit ihr Vertrauen aus. Sie tut dies entgegen der emotional aufgebrachten Stimmung und ohne Lennys ‚Unschuldsbeweis‘. Frau Z. traut ihm zu, dass er die Wahrheit sagt, dass Ben ihm das Briefkastenleerungs-Privileg auf seine Bitte hin zugesichert habe und sich deshalb nun zu Recht darum betrogen sieht. Sie glaubt Lenny und geht zugleich das Risiko ein, dass dieser möglicherweise seinen eigenen Wunsch bereits als eine feste Zusage Bens für sich gedeutet hat und nun um die Erfüllung bangen muss. Dies bringt ihn in eine Stresssituation. Wofür und wem gewährt die Lehrerin ihr Vertrauen? • Die Lehrerin gewährt dem Schüler Lenny einen explizit benannten Vertrauensvorschuss, um seinen emotionalen Stress zu reduzieren. Die Lehrerin setzt damit gleichsam ein deutlich beschwichtigendes Zeichen gegen die offen defensiv agierenden Mitschüler/innen, um dem Streit ein vorläufiges Ende zu setzen. Aber läuft die Lehrerin nicht zugleich Gefahr, die Klasse in Befürworter und Gegner ihrer Entscheidung zu spalten? • Warum belässt sie Cyrano mit seinem von ihm als berechtigt angenommenen Begehren gleichzeitig ohne Vertrauensvorschuss? Muss dies nicht sein Gerechtigkeitsempfinden tangieren und Misstrauen auslösen? • Warum wird kein Vertrauen in die Kraft der Schüler/innen gesetzt, sich aktiv am Finden kreativer Lösungen zu beteiligen, die an Kommunikation, Verantwortung und sozialer Anerkennung orientiert sind? • Warum wird den Schüler/innen die positive Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung vorenthalten, die zugleich als zuversichtsorientierte Erfahrungsgrundlage für die Bewältigung künftiger Konflikte gelten kann? Worauf setzen die Schüler/innen ihr Vertrauen bzw. Hoffnung? • Lenny scheint vom Vertrauensvorschuss der Lehrerin nicht überrascht zu sein. Vielleicht ermöglicht er ihm, Stress abzubauen, die Zeit bis zum nächsten Tag emotional sicher zu verbringen und angstfrei in die angekündigte Konfliktbesprechung am folgenden Tag hineinzugehen? Hat er die ‚schützende Hand‘ von Frau Z. schon öfters erfahren dürfen? • Cyrano vertraut auf die klärende Aussprache, die ihm zu seinem Recht verhelfen kann. Er ist davon überzeugt, dass sie seine Beauftragung der Leerung des Geburtstagsbriefkastens legitimieren wird. • Und Ben? Er vertraut wohl darauf, dass sich bis zum nächsten Tag die Situation längst beruhigt hat und die Lehrerin dem bereits vergangenen Konflikt keine größere Bedeutung mehr beimisst, sondern zur Tagesordnung übergehen wird.
332
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Das Gewähren von Lernchancen und Lernhilfen Geht man davon aus, dass die Funktion von Erziehung im menschlichen Leben als umfassende Lernhilfe (vgl. 7.1) bestimmt werden kann, dann ist in dieser Schlüsselsituation entscheidend, dass sich Lehrerin und Klasse gemeinsam auf diesen sozialen Konflikt beziehen. Es geht um Dissens, Widerspruch, Über- und Unterlegenheit, Bedrohung des sozialen Friedens in der Klasse – aus demokratischer Perspektive keineswegs eine triviale Angelegenheit. Bereits die ersten pädagogischen Institutionen gelten als bedeutsame Orte des Demokratielernens und -lebens. Von ihnen wird erwartet, dass sie eine Gleichsinnigkeit herstellen zwischen den Grundprinzipien der Demokratie und der pädagogischen Orientierung, die ihre Arbeit bestimmt. Die demokratische Qualität zeigt sich nicht nur in der Art ihrer institutionellen Verfasstheit (z.B. Partizipation) und in ihrer Inhaltlichkeit (z.B. Unterrichtsthemen), sondern vor allem in der sozialen Kultur im Zusammenarbeiten und Miteinanderleben (vgl. Abb. 7.1). So kann auch diese Schlüsselsituation dahingehend befragt werden, welche demokratiepädagogischen Lernhilfen gewährt werden. Haben sie Potential, die Kommunikation mit Lehrperson und Klasse, den Gemeinsinn und die Sozialität zu fördern und eine demokratische Persönlichkeitsentwicklung zu stärken? • Das Handlungsgewicht der Lehrerin ist bestimmend. Es steht außer Zweifel, dass die Eskalation des Konfliktes gestoppt werden musste. Doch könnte in einer konfliktsensiblen Klasse das „Stopp“ gegen ein eskalierendes Konfliktgewitter nicht bereits von Schülerseite gesetzt werden (z.B. durch ein akustisches Signal, ein Symbol)? So könnte der dringend gebotener Handlungsbedarf aller (und nicht nur ein Hilferuf an die Lehrerin) signalisiert werden. • Warum werden die Schüler/innen nicht ermutigt, den Konflikt in Entstehung und Verlauf zu durchschauen? Dabei können nicht nur die unterschiedlichen Perspektiven hervortreten, sondern auch die Modellierungsarbeit an prodemokratischen Lösungen. • Vermag die Lehrperson das Selbstbewusstsein aller Schüler/innen zu stärken oder gehen nur Sieger und Verlierer aus der Situation hervor? … Welche Lernhilfe brauchen die Schüler/innen? • Erleben die Schüler/innen, dass es in der Lösung eines Konfliktes kein fertiges, mechanisches, einfach abzurufendes Regelwerk gibt? • Können die Schüler/innen auch die Anstrengung, den langen Atem spüren, der allen Beteiligten abverlangt wird, um zu einer, für alle zufriedenstellenden Lösung zu finden? • Wird den Kindern die Spannung zwischen individuellem Verhalten und dem sozialen Leben der Gemeinschaft, von individueller Freiheit und sozialer Verantwortung erfahrbar?
7.2 Schlüsselsituation: „Nein, ich bin dran! Das hast du mir versprochen!“
333
Demokratische Erziehung in der Schule im Einklang mit den Prinzipien, auf denen der demokratische Rechtsstaat beruht: Wertorientiertes, verantwortliches Handeln
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
im privaten und öffentlichen Raum
Menschenwürde
Partizipation
Gleichheit, Offenheit, Toleranz, Achtung des Rechts, friedliche Konfliktlösung
Mitbestimmung, Verhältnisse hinterfragen und ggfs. verändern, Mehrheitsentscheidung akzeptieren
unter Beachtung der kindlichen bzw. jugendlichen Bedürfnisse nach … Körperlichkeit und Bewegung
Geborgenheit und Sicherheit
neuen Erfahrungen und Selbstwirksamkeit Verantwortung
sozialen Kontakten und Geselligkeit
Anerkennung und Bestätigung
‚Urheberschaft‘ und neuen Herausforderungen
Zusammenhang von Anstrengung und Erfolg
Durchschaubarkeit von Lern- und Lebensverhältnissen
Menschen, um menschlich zu werden
Unverzichtbar sein und Gebrauchtwerden
erfüllte Gegenwart und Zukunftschancen
Lebenssinn
Unterrichts- und Schulleben als soziale Kultur Lerninhalte/Lernthemen als – Knotenthemen der Welterkundung, die in der Verfassung begründet sind (z. B. Achtung v. d. anderen Geschlecht, Erhaltung d. Lebensgrundlagen d. Natur) – kleiner, gemeinsamer, deutschsprachiger Bestand an kultureller u. historischer Überlieferung (Grundkanon)
Soziale Formen und Stile des Arbeitens, Lernens, Erkundens, Miteinander Sprechens, Helfens, Feierns, Spielens über ihre didaktische Bedeutung hinaus als Beziehungsformen mit Lehrperson und Klasse einüben und pflegen
Teilhabe an – politischen Informationen (Thematisieren von Erlebnissen, Nachrichten, Unverstandenem) – Entscheidungen, die das Zusammenleben in Klasse und Schule betreffen (vgl. z. B. Klassenrat, Schulversammlung, Klassensprecher/in, Schulsprecher/in ) – Konfliktlösungen mit einzelnen, Gruppe, Klasse (Klassenrat, Streitschlichter) – Projekten/Lerngelegenheiten (innerhalb und außerhalb der Schule)
Abbildung 7.1: Dimensionen demokratischer Schulkultur (E. Röbe)
Der Konflikt dieser Schlüsselsituation, ein Beispiel einer ‚Peerinteraktion‘, könnte gewiss mit aktiver, kompetenter Mitwirkung der Gleichaltrigengruppe über sorgfältiges Zuhören und Zuschauen, schrittweises Nachvollziehen der Details, Anhören der unterschiedlichen Argumente so rekonstruiert werden, dass die Klasse in einen Verständigungsprozess hineinfindet, der das soziale Miteinander selbst zum Lernthema macht und konstruktive Lösungen hervorbringt. Der institutionelle Ort kann jedoch nur dann der Klassenrat sein, wenn dieser wirklich pädagogisch geprägt ist und nicht in formalisiert starren Regelungen den Kindern überantwortet wird.
334
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Die Lehrperson – ein Beispiel für Gelingen? Vielleicht ist es für Frau Z. enttäuschend, dass der geplante feierliche Abschluss des Schultages in Form der Geburtstagsfeier in Turbulenzen geriet und sich ein ‚Nebenschauplatz‘ in der Klasse auftat, den sie nicht mehr ignorieren konnte? Ihr deutlich artikuliertes „Stopp“ zeigt Wirkung und kann eine weitere Eskalation des Streits aufhalten. Frau Z. betritt selbst die Streitszene, um sich einen Einblick in deren Dynamik zu verschaffen: Sie lässt sich von den Hauptakteuren in die entstandene Situation einführen und reagiert abwartend, emotional gelassen, ja fast unbeeindruckt. Offensichtlich müssen die Schüler/innen keine spontane, autoritär durchgeführte Disziplinierungsaktion befürchten, die sie schnell in die geplante Tagesordnung zurückbringen würde. Schließlich ‚ordnet‘ sie den Streit, bis ein ‚modus vivendi‘ von ihr herbeigeführt ist: Die Zuschauergruppe wird unsicher, Cyrano verliert seine Glaubwürdigkeit, weil ihm Ben sein Versprechen nicht bestätigt und Lenny fühlt sich von Ben betrogen! Welch eine emotional aufwühlende Situation doch für die daran Beteiligten entstanden ist! Wut, Enttäuschung und Unsicherheit machen sich breit. Doch für deren Ausdruck gibt Frau Z. wenig Raum. Stattdessen beendet sie abrupt und fast geschäftsmäßig routiniert die Auseinandersetzung mit zwei Maßnahmen: 1. Sie vertraut Lenny, dass seine Aussage wahr ist. 2. Sie vertagt die Auseinandersetzung über den Streit auf den folgenden Tag. • Ist es nicht erstaunlich, dass Ben von der Lehrerin unbehelligt bleibt? Warum darf er, offensichtlich das Zentrum und der Auslöser des Konflikts, sich abschirmen und in seiner sozialen Starre verbleiben? • Warum geht sie – ohne einen Gestus der Sorge um den Klassenfrieden zu zeigen – zum Tagesordnungspunkt der Geburtstagsfeier über, dessen Ritual unbeeindruckt von dem vorausgegangenen Streit abläuft? Entsteht nicht dadurch die Gefahr, dass Frau Z. Ben‘s Selbstbezogenheit geradezu verstärkt? • Wäre es nicht naheliegend, mit Ben unter Umständen außerhalb der Situation zu sprechen und ihn auf seine besondere Verantwortung im Lösen des Konflikts hinzuweisen und ihm die ehrliche Aussprache am folgenden Tag als Chance ‚einer Rückkehr aus seiner Sackgasse in die Klassengemeinschaft‘ anzubieten? • Warum stellt sie Lenny so spontan unter ihren Schutz? Tritt der schwache, weinende, unsichere Lenny gar in Zwiesprache mit dem ‚inneren Kind‘, das die Lehrerin selbst war? Warum ergänzt sie diese regressive Bewegung nicht durch eine progressive, aufgabenbezogene Bewegung, in der Lenny an Verhaltensstärke gewinnen kann? Aus Schülerperspektive könnte aus demokratiepädagogischer Sicht bedenkenswert sein: • Im Geburtstagsritual ist die Klassengemeinschaft gefragt. Doch hat sie sich nicht eben noch äußerst divers gezeigt? Aber wie kann man aufrichtig feiern,
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.3 Schlüsselsituation: „Immer bekommt Tim mehr Zeit als wir, das ist ungerecht!“
335
wenn gerade ein Beziehungsgewitter über die Klasse zieht, wenn die Beziehungen zueinander belastet sind, wenn Bereitschaft zu verleumderischen Verhalten so selbstverständlich eingefordert wird, um unter Zeitdruck ‚auch noch die Geburtstagsfeier abzuarbeiten‘? Welche Priorität hat die Erfüllung eines Tagesplans? • Fällt es Lehrer/innen gar leichter, in Routinen zu handeln statt Konflikthaftes zu benennen, Unrecht aufzudecken und sich dem Unangenehmem bzw. Ungewissem zu stellen? Wird das Bedürfnis zu harmonischem Miteinander gar von einer Konfliktscheu begleitet, allzu leicht asoziale Neigungen überdeckt, unfaires Verhalten toleriert, Ungerechtigkeiten akzeptiert und mit äußerer Ordnung die innere Unordnung zu verdecken versucht? • Bleibt nicht das Entscheidende unerledigt? Die Einsicht in den Konflikt, dessen Entstehung, Verlauf und das Suchen von Lösungsansätzen, aber auch das Zugeben von Irrtum bzw. Täuschung, das Vermeiden blinder Gefolgschaft? Ein Beispiel von Gelingen wird dort erfahrbar, wo sich das Lehrerhandeln von bloßer Disziplinierung, Belehrung und formalisierter Reaktion unterscheidet und Mut zur Erziehung unter Beweis zu stellen vermag.
7.3 Schlüsselsituation: „Immer bekommt Tim mehr Zeit als wir, das ist ungerecht!“ Gleich- und Ungleichbehandlung von Schülerinnen und Schülern im Schulalltag 7.3.1 Situationsbeschreibung Nachdem die Klassenarbeit geschrieben und eingesammelt wurde, steht in der nächsten Unterrichtsstunde der Klassenrat der achten Klassenstufe an. Die Lehrerin fordert die Schüler/innen auf, sich im Stuhlkreis zu versammeln. Die Formierung des Kreises verläuft schleppend, dennoch routiniert und bedarf zunächst keiner weiteren Aufforderungen vonseiten der Lehrerin. Die anfängliche Unruhe, die sich aus der unterschiedlichen Bewältigungsmöglichkeit in der Klassenarbeit und den dadurch ausgelösten Emotionen speist, ebbt allmählich ab. Die Lehrerin wartet, bis sich die Schüler/innen mit ihrem Stuhl im Kreis einfinden, beruhigt, ermahnt und moderiert einen Konflikt, um einen Sitzplatz im Kreis. Nachdem einige Zeit verstrichen ist, kehrt Ruhe ein. Nur Tim bringt noch mit der ihm an die Seite gestellten Unterrichtsbegleitung seinen Arbeitsplatz in Ordnung. Jonas beobachtet kurz das Geschehen und fordert Tim ungehalten auf, er solle „jetzt endlich mal Gas geben, er hätte keine Lust, ständig auf ihn zu warten“. Die Lehrerin beschwichtigt Jonas, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis auch Tim so weit sein wird. Die anderen Schüler/ innen nutzen den vermeintlichen ‚Leerlauf‘, um sich zu unterhalten, herumzu-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
336
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
albern oder um sich erneut über die Klassenarbeit äußern. Jonas will sich nicht über die Klassenarbeit austauschen, sein Ärger steht ihm sichtlich ins Gesicht geschrieben. Ungehalten schimpft er in Richtung Tim: „Immer darf der sein eigenes Ding machen und bekommt eine Extrabehandlung!“ Im Stuhlkreis verebben die informellen Gespräche und ein Teil der Schüler/innen blickt neugierig zu Jonas, ein anderer Teil erwartungsvoll zur Lehrerin. Die Lehrerin lässt sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Sie fragt Jonas, ob es ihm um die augenblickliche Situation gehe oder ob ihn etwas anderes geärgert habe. Sichtlich wütend und mit den Tränen kämpfend bricht es aus ihm heraus: „Immer bekommt Tim mehr Zeit als wir, das ist ungerecht! Jetzt, in den Klassenarbeiten, immer! Ich bin auch nicht fertig geworden in der Stunde, aber das interessiert hier ja niemanden!“
Arbeitsaufgaben 1. Betrachten Sie die Schlüsselsituation aus der Perspektive der Lehrerin. Können Sie ihr Handeln nachvollziehen? Entdecken Sie darin ‚pädagogische Highlights‘? Was sehen Sie kritisch? 2. Nehmen Sie die Perspektive der Schüler/innen ein. Was und wie erleben sie die Situation? 3. Wie würden Sie handeln? Warum?
7.3.2 Interpretationsversuch Die Situation: Tim ist seit diesem Schuljahr neu in der Klasse. Er kam von einer anderen Schule, an welcher er nicht mehr weiter unterrichtet werden konnte, weil er, wie seine Eltern beim ersten Gespräch erklärten, dort ständig gemobbt wurde. Bei Tim wurde eine autistische Störung diagnostiziert. Aufgrund seiner Beeinträchtigungen bekam er zur Unterstützung im Schulalltag eine Unterrichtsbegleitung an die Seite gestellt. Über den sogenannten Nachteilsausgleich erhält Tim zusätzliche Hilfs- und Unterstützungsleistungen vonseiten der Schule. Der Nachteilsausgleich steht Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf bzw. mit Beeinträchtigungen im Lesen und Rechnen zu. Eine Beschulung an der Regelschule soll dadurch ermöglicht und der Chancengleichheit Rechnung getragen werden. Welche Erleichterungen zum Tragen kommen, ist auf den individuellen Fall abzustimmen. Im Fall von Tim ist es u.a. ein höheres Zeitkontingent bei Klassenarbeiten. Die achte Klasse, der Tim zugeteilt wurde, ist an den Umgang mit Kindern mit autistischen Störungen gewöhnt. Andreas, ebenfalls ein Schüler mit einer Autismus-Spektrum-Störung, besucht bereits seit vier Jahren diese Klasse. Nach anfänglichen Schwierigkeiten ist er gut in die Klassengemeinschaft integriert. Auch
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.3 Schlüsselsituation: „Immer bekommt Tim mehr Zeit als wir, das ist ungerecht!“
337
er hatte eine pädagogische Begleitung, die ihm bei den Unterrichtsbelangen half. Andreas ist ein sehr stiller, oft geistig abwesend wirkender Schüler, er driftet immer wieder mit den Gedanken weg und muss sorgsam ins Geschehen zurückgeführt werden. Die pädagogische Hilfskraft war geübt im Umgang mit ihm und gut in die Klasse integriert. Sie half auch anderen Kindern, wenn Andreas nicht ihre Hilfe benötigte. Andreas ist ein etwas schmächtiger, stark introvertierter Schüler und bietet kaum Konfliktpotenzial. Durch sein zurückhaltendes Auftreten und seine zierlich wirkende Statur, ruft er eher Unterstützungsbemühungen hervor. Ganz anders Tim. Mit ihm kam eine neue Dynamik in die Klasse. Tim ist laut, er provoziert, eckt an und verhält sich immer wieder, wie seine Mitschüler/innen es ausdrücken, sehr ‚unappetitlich‘. Er ist groß und kräftig, wirkt durch seine spontanen Wutausbrüche eher bedrohlich. Er provoziert die ‚Wortführer‘ der Klasse mit verbalen aber auch mit handgreiflichen Ausbrüchen. Mit ihm kam Frau L., eine andere pädagogische Begleitung, in die Klasse. Seit diesem Schuljahr ist Frau L. beiden Schülern, Andreas und Tim, zugeordnet. Sie wirkt immer wieder überfordert, wird schnell ungeduldig und empfindet das Verhalten der Mitschüler/innen als Provokation, der sie offensiv begegnet. Immer wieder lässt sie sich auf deren bisweilen pubertierendes Verhalten ein, so dass nicht nur die Inklusion von Tim, sondern auch die der pädagogischen Begleitung zur Herausforderung für Klassenlehrerin und Klasse wird. Gegenwärtigkeit im pädagogischen Handeln Alltagsroutinen unterliegen immer wieder Störungen und verdeutlichen, wie situationsabhängig pädagogisches Handeln ist. In der skizzierten Schlüsselsituation gestaltet sich der Übergang von einer Prüfungssituation in eine Gesprächssituation als Herausforderung. Dass hier Unstimmigkeiten auftreten, kann unterschiedliche Ursachen haben: Zur Schau getragene Freude und Erfolgszuversicht einiger Schüler/innen nach der Klassenarbeit treffen auf Frustrationserlebnisse und Misserfolgsängste anderer. Überlegenheitsgefühle der einen verstärken Versagens- und Zukunftsängste der anderen. Diese Momentaufnahme zeigt, dass nicht nur Unterrichtssituationen einer Reflexion bedürfen, sondern gleichermaßen die Tagesstruktur selbst, da die Anordnung pädagogischer Handlungsformen, Konfliktpotenzial befördern kann. Die Schlüsselsituation ereignet sich im Übergang von einer Prüfungssituation zu einer Klassenratsstunde – eine Abfolge, die bei genauerer Betrachtung äußerst fragwürdig erscheint. Eine Klassenarbeit ist von klaren hierarchischen Strukturen gekennzeichnet, die mit einer eindeutigen Rollenverteilung – Prüfer und zu Überprüfendem – einhergeht. Der im Anschluss anberaumte Klassenrat wird durch die vorangestellte Klassenarbeit gewissermaßen konterkariert, schließlich steht der Klassenrat für eine Form der demokratischen Erziehung und zielt auf Mitbestimmung und Partizipation.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
338
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
Wie lässt sich die Gegenwärtigkeit im Lehrerhandeln wahrnehmen? Lehrer/innen müssen im Schulalltag immer wieder derartige Widersprüchlichkeiten ausbalancieren, insbesondere dann, wenn organisatorische Gegebenheiten pädagogische Überlegungen überlagern. Die pädagogische Arbeit der Lehrerin besteht dabei nicht nur in der Inszenierung und im ‚Inganghalten‘ einer äußeren Handlung, die durch den jeweiligen Unterricht bestimmt wird. In der Schlüsselsituation kann die eigentliche pädagogische Handlung, der Klassenrat, ja noch gar nicht aufgerufen werden. Vielmehr existiert zum äußeren Geschehen immer auch eine innere Handlung, die das pädagogische Geschehen rahmt. Das pädagogische Handeln kann dadurch getragen, überlagert oder wie in diesem Fall auch unmöglich werden. Die Herstellung der inneren Ordnung wird dann selbst zum Gegenstand pädagogischen Handelns. Die Schilderungen lassen unterschiedliche Überlegungen zu. Einerseits ist der Lehrerin sicherlich bewusst, dass die vorausgehende Klassenarbeit den Übergang zu Routinehandlungen erschwert. Die Aufforderung, sich im Stuhlkreis zusammenzufinden, wurde von ihr bereits ausgesprochen. Die Formation benötigt in diesem Moment aber mehr Zeit als üblich, darüber hinaus macht Tim keinerlei Anstalten, sich auf den Weg in den Stuhlkreis zu begeben. Ihre Anweisung wird von der Klasse noch zögerlich ausgeführt, von Tim gar ignoriert. Zweierlei Reaktionen der Lehrerin sind an diesem Punkt denkbar: Entweder sie ermahnt Tim, es den Mitschüler/innen gleichzutun oder aber sie lässt ihn gewähren und verschafft durch die damit einhergehende Verzögerung allen ein größeres Zeitfenster zur Herstellung der Ordnung. Es ist anzunehmen, eine langjährige Lehrkraft ist sich über Chancen und Gefahren eines vermeintlichen ‚Leerlaufes‘ bewusst. Hier wartet die Lehrerin dennoch zunächst ab, bis Tim seine Aktion abgeschlossen hat. Sie gewährt dadurch auch der Klasse einen Spielraum, um zur Alltagsroutine zurückzukehren. Die Lehrerin verzichtet auf ungeduldiges Drängeln und zusätzliche Ermahnungen, sondern unterstützt an notwendigen Stellen. Die Schüler/innen erhalten so eine ‚Verarbeitungszeit‘ des Geschehenen, die sie für Gespräche, Albereien, drängende Fragen und zum Auflösen der Spannung nutzen können. Die Überlegungen der Lehrerin sind nachzuvollziehen, dennoch bleiben Fragen offen: • Ist sich die Lehrkraft dessen bewusst, dass die Aufeinanderfolge von Klassenarbeit und Klassenrat konfliktträchtig ist? Wenn ja, warum wird daran festgehalten? • Welche Spielräume haben weiterführende Schulen, die in der Regel nicht über das Potenzial des Klassenlehrerprinzips verfügen, um derartige Abläufe zu vermeiden? • Welche Schwierigkeiten bringt ein fixer Klassenrat-Tag, der von allen Klassenstufen zum gleichen Zeitpunkt abgehalten wird, mit sich? Was veranlasst Schulen, sich auf diese Form zu verständigen? • Gibt es andere Möglichkeiten, Arbeitsphasen nach Klassenarbeiten im Tagesgeschehen zu entschärfen?
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.3 Schlüsselsituation: „Immer bekommt Tim mehr Zeit als wir, das ist ungerecht!“
339
Auch die Schüler/innen sind unmittelbar in die Handlung eingebunden. Sie begeben sich zwar weniger zielstrebig, eher zögerlich in die aufgerufene Ordnung, folgen mehr oder weniger beherzt dem Aufruf der Lehrerin. Gleichermaßen nutzen sie die ‚Wartesituation‘ für informelles Schülerinnenhandeln und verschaffen sich somit ‚Luft‘ von der Überprüfungssituation. Bevor die LehrerSchüler-Interaktion nach Plan weiterverlaufen kann, kommt es zum Zwischenfall. Dabei ist nicht zu übersehen, dass die ‚Sonderrechte‘ des Mitschülers Tim Fragen aufwerfen, die zwar nicht für alle Mitschüler dieselbe Dringlichkeit aufweisen, aber dennoch für alle Beteiligten relevant sind. Für Jonas zumindest lassen sie sich in diesem Moment nicht aufschieben. Vielleicht stimmen ihm einige Mitschüler/innen mehr oder weniger stillschweigend zu und freuen sich über die offen geäußerte Kritik und hoffen auf entsprechende Sanktionen. Vielleicht sind einige genervt oder geradezu dankbar, weil der „Fall Tim“ wieder einmal zu Verzögerungen im Tagesgeschehen führt. Jonas wendet sich direkt an Tim und übernimmt die Zurechtweisung, die er von der Lehrerin vermisst hat. Er fordert Tim ungehalten auf, sich zu beeilen. Die Schüler/innen wissen, dass jetzt eine weitere Reaktion der Lehrerin notwendig wird. Empathie – Vom anderen her denken und handeln Reagiert die Lehrerin in der geschilderten Situation empathisch? Die Lehrerin, die in diesem Moment gewissermaßen das Geschehen beobachtet, nimmt Jonas Unmut wahr und versucht ihn zu beruhigen. Doch der Versuch scheitert zunächst, Jonas Unmut ist zu groß. Er fühlt sich ungerecht behandelt im Vergleich zu seinem Mitschüler Tim. Jonas reagiert auf die Beruhigungsversuche mit erneutem Unmut und klagt: „Immer darf der sein eigenes Ding machen und bekommt eine Extrabehandlung!“ Es wäre ein leichtes für die Lehrerin, Jonas an dieser Stelle zurechtzuweisen und somit seine Äußerungen zu ignorieren. Der Lehrerin gelingt es aber, sein verletztes Gerechtigkeitsempfinden, das sich durch seine Wut entlädt, als etwas für ihn Unaufschiebbares wahrzunehmen. Sie nimmt ihn ernst, indem sie das Gesagte nicht ‚wegkritisiert‘ oder durch eine erneute Aufforderung signalisiert, dass für diesen Einwand jetzt keine Zeit zur Verfügung stehe. Hinter seiner Unzufriedenheit erkennt sie ein Anliegen, das für die gemeinsame weitere Arbeit relevant ist und die Klasse immer wieder beschäftigt. Sie lässt zu, das Geschehen aus seiner Perspektive wahrzunehmen. Dabei vergewissert sie sich noch einmal, ob Tims momentanes Verhalten auf Unverständnis stößt oder vielmehr stellvertretend für die prinzipielle Frage nach Gleichbehandlung steht. Die Lehrerin hat an dieser Stelle die Möglichkeit das Ungerechtigkeitsempfinden selbst zum Thema zu machen oder aber dieses abzufedern, indem sie Tim zur Ordnung ruft. Durch die Nachfrage gelingt es ihr, die pädagogische Tragweite seines Ausbruches wahrzunehmen. Hierbei drängen sich folgende Fragen auf:
340
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
• Warum unterbricht die Lehrerin nach Jonas Aufforderung nicht Tims Bemühungen, seinen Arbeitsplatz in Ordnung zu bringen, statt zum Sitzkreis zu kommen? • Könnten nicht Mitschüler/innen Tim helfen, seinen Arbeitsplatz zu ordnen und den Vorgang dadurch beschleunigen? Rainer Winkel, ein Vertreter der kritisch kommunikativen Didaktik, stellt Unterricht als einen kommunikativen Prozess dar, in dem Störungen als Möglichkeit betrachtet werden, Schieflagen in der Kommunikation auszumachen (vgl. Winkel 2011, S. 6ff). Störungen verdienen in diesem Verständnis eine Reflexion und müssen entschlüsselt werden: • Durch welchen Umstand wurde die Störung hervorgerufen? • Welche Rückschlüsse auf den Unterricht lassen sich ausmachen? • Welche Störungen sind nicht aufschiebbar? • Wie erkenne ich, welche Unterbrechungen ernst genommen werden müssen? Welche vielleicht aber auch einmal ignoriert werden können oder gar müssen? • Wieviel Zeit räume ich für Unstimmigkeiten ein? • Welche Diskussionsforen sind dabei hilfreich? • Werde ich der Klasse gerecht, wenn einzelne Anliegen in den Vordergrund gerückt werden? In der geschilderten Schlüsselsituation wird deutlich sichtbar, dass die ‚Störung‘ des geplanten Ablaufes verlangt eine Reaktion vonseiten der Lehrerin. Die eigentliche Frage steht im Raum und bedarf einer erneuten Bearbeitung: Ist es gerecht, wenn Schüler/innen ungleich behandelt werden? Vertrauen als Basis pädagogischen Handelns: Vertrauen ist in dieser Schlüsselsituation auf zweierlei Ebenen auszumachen. Einerseits setzt die Lehrerin Vertrauen in die Klasse, dass diese mit ihrer Hilfe die aufkeimende Frage nach Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit bearbeiten kann. Sie ist zuversichtlich, dass Jonas‘ Anliegen gelöst werden kann, denn sie fordert ihn mit ihrer Rückfrage auf, sein Ungerechtigkeitsempfinden auszusprechen. Dabei setzt sie Vertrauen in die Fähigkeiten ihrer Schüler/innen, sich über die Situation so auszutauschen, dass kein Schüler beschämt wird bzw. Schaden für die Klassengemeinschaft entsteht. Hier liegt der Schluss nahe, die Lehrerin vertraue in die Fähigkeit der Klasse, die unterschiedlichen Ausgangslagen der Schüler/innen anzuerkennen. Das würde ein prinzipielles Verständnis implizieren, dass Schüler/innen Aufgaben unterschiedlich umsetzen (können). Falls dieser Interpretationsansatz zu wohlwollend sein sollte, zeigt die Lehrerin durch ihr Handeln doch zumindest Zuversicht, ein Gespräch mit der Klasse darüber führen zu können. Andererseits setzt die Lehrerin aber auch Vertrauen in Jonas, der durch sein Verhalten das weitere Geschehen auslöst. Sie vertraut
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.3 Schlüsselsituation: „Immer bekommt Tim mehr Zeit als wir, das ist ungerecht!“
341
darauf, dass seine Äußerungen, wenngleich von Wut geprägt, Berechtigung haben und Gehör verdienen. Wir können an dieser Stelle nicht den weiteren Verlauf der Situation en detail widergeben. Allerdings zeigt das Gesprächsprotokoll, dass die Fragestellung direkt Eingang in den Klassenrat fand. Mit der Klasse wurde anschließend einmal mehr thematisiert, wie erreicht werden kann, dass Schüler/innen Gleichberechtigung erfahren, auch oder gerade, weil ihnen eine Ungleichbehandlung zuteilwird. Eine Fragestellung, die in der Institution Schule einen hohen Stellenwert genießt. Die Kultusministerkonferenz benennt Chancengleichheit als zentrales bildungspolitisches Ziel. Sie soll eingelöst werden, indem jedem Kind bzw. Erwachsenen in Deutschland die bestmöglichen Bildungschancen zuteilwerden, unabhängig von dessen kulturellen, sozialen und materiellen Möglichkeiten (vgl. KMK, 2016). Was von der KMK als Idealtypus beschrieben wird, verdient sicher das Prädikat ‚gerecht‘: Kein Kind soll bevorzugt bzw. benachteiligt werden. Wie schwierig das in der Umsetzung ist, verdeutlicht die Schlüsselsituation. Hierbei drängen sich weitere grundlegende Fragen auf: • Wann dient Gleichbehandlung als Garant für Gerechtigkeit? Nach Thomas Schramme liegt Gleichheit zwischen Dingen und Personen vor, wenn sich diese in hohem Maße ähnlich sind oder übereinstimmen (vgl. Schramme 2003, S. 256). Kann es gerecht sein, alle Kinder, die höchst ungleich sind, gleich zu behandeln? • Was dient als Vergleichsmaßstab, um festzustellen, ob Gleichheit tatsächlich eingelöst wird? • Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit meinen Unterschiedliches. Welcher Ansatz wird Schülerinnen und Schülern eher gerecht? Über Gerechtigkeit wird seit der Antike nachgedacht, was zu verschiedenen Theorieansätzen führte. Aktuell wird der Diskurs zentral von zwei Positionen, dem Egalitarismus und Nonegalitarismus, geführt. Exkurs: Egalitarismus Vertreter des Egalitarismus verstehen Gerechtigkeit als Gleichheit und sehen diese als Ziel der Gerechtigkeit an. Als Maßstab werden dabei keine absoluten Werte angeführt, vielmehr ergibt sich der Anspruch aus der Relation zu anderen: „Person P steht Gut G zu, weil andere Personen G auch haben oder bekommen haben“ (Krebs 2000, S.10). Um Gleichheit sicherzustellen, müssten alle bestehenden Ungleichheiten ausgeglichen werden, zumindest diejenigen, die sich nicht legitimieren lassen. Ausgenommen davon sind Ungleichheiten, die selbst verschuldet sind. Das Ideal der Egalitaristen folgt dem Leitspruch „jedem das Gleiche“ und „gleiches Recht für Alle“ (Herwig 1984, S.37). Ausgelöst wurde die Debatte um Gleichheit wesentlich von John Rawls mit seiner „Theorie der Ge-
342
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
rechtigkeit“ (1971).10 Um Gerechtigkeit herzustellen, führt Rawls ein Verfahren an, bei welchem die Akteure, die Gerechtigkeit festlegen, hinter dem „Schleier des Nichtwissens“ stehen sollen, um Kategorien wie Geschlecht, Herkunft etc. auszublenden. Ungleichverteilungen dürfen nur in Ausnahmefällen bestehen und bedürfen einer Begründung: „Alle Betroffenen sind ungeachtet ihrer deskriptiven Unterschiede numerisch oder strikt gleich zu behandeln, es sei denn, bestimmte Typen von Unterschieden sind in der anstehenden Hinsicht relevant und rechtfertigen durch allgemein annehmbare Gründe erfolgreich eine ungleiche Behandlung oder ungleiche Verteilung“ (Rawls 2012, S. 34). Der Gleichheit wird dabei ein „intrinsischer Wert“ (Schramme 1999, S.173) beigemessen, sie wird als ‚an sich gut‘ verstanden. Derek Parfit erläutert diese Annahme anhand eines Gedankenexperimentes: Man denke sich eine Weltbevölkerung, die aus zwei Hälften bestehe, die durch den Atlantik getrennt sind und nichts voneinander wissen. Szenario 1: Einem Teil der Weltbevölkerung geht es wesentlich besser als dem anderen. Die Teilpopulationen besitzen davon keine Kenntnis. Szenario 2: Beiden Teilen der Weltbevölkerung geht es gleich gut, im Durchschnitt aber schlechter als im ersten Szenario. Parfit betont, wenn man behaupte, dass das zweite Szenario besser sei, muss man davon ausgehen, dass Ungleichheit an sich schlecht sei (vgl. Parfit 2000, S.86). Exkurs: Nonegalitarismus In der kritischen Auseinandersetzung mit den Ausführungen der Egalitaristen entstand eine Richtung, die als Nonegalitarismus bezeichnet wird. Vertreter dieser Theorie werten Gleichheit nicht als Garant für Gerechtigkeit. Diesen Positionen folgend wird Gerechtigkeit nicht dadurch eingelöst, dass alle das Gleiche erhalten, vielmehr wird jedem das gewährt, was er zur Bedürfnisbefriedigung benötigt. Im Vordergrund steht ein menschenwürdiges Leben, unabhängig, auf welche Weise das Individuum in eine Notlage geriet. Natürliche und soziale Ungleichheiten, auch Leistungsunterschiede werden anerkannt. Gleichheit wird übersetzt als proportionale Gleichheit, verstanden als „Gleiches gleich“ (Herwig 1984, S. 37). Der Leitsatz der Non-Egalitaristen lautet „Jedem das Seine“. Annette Krebs verdeutlicht den Unterschied einer proportionalen Gleichheit im Gegensatz zur absoluten, indem man einen Kuchen nicht so aufteilt, dass alle 10 Rawls gilt als Vertreter eines moderaten, pluralistischen Egalitarismus, da er zum Eigenwert der Gleichheit noch weitere Werte, z.B. Freiheit, ergänzt.
7.3 Schlüsselsituation: „Immer bekommt Tim mehr Zeit als wir, das ist ungerecht!“
343
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Beteiligten ein gleich großes Stück erhalten, sondern die Aufteilung vielmehr so erfolgt, dass alle Beteiligten satt werden (vgl. Krebs 2000). Die Bezüge zur Schlüsselsituation liegen auf der Hand. Die Forderung nach Chancengleichheit meint eben nicht die absolute Gleichbehandlung aller Schüler/ innen im Sinne von „Jedem das Gleiche“. Selbstredend ist Gleichheit in Institutionen unabdingbar. Die Forderung nach Gleichheit zeigt sich beispielsweise, wie Andreas Flitner hervorhebt, in der „gleichen Elternliebe den verschiedenen Kindern, gleiche Schulbedingungen und -qualität, gleiche Geduld und Zuwendung, […] gleicher Zugang zum Schulangebot, gleiche Geltung der Zeugnisse, die man dort erworben hat“ (Flitner 1985, S. 1f). Eine vermeintliche Gleichbehandlung aller Schüler/innen entpuppt sich aber bei näherer Betrachtung als höchst ungerecht. Denn Schüler/innen sind eben nicht gleich, vielmehr unterscheiden sie sich in vielerlei Hinsicht, eben auch in ihren Bedürfnissen. So ergänzt Flitner, und das ist in pädagogischen Belangen unabdingbar, dass Gleichheit als Grundforderung nur dann sinnvoll wirkt, wenn sie mit der „unterscheidenden Gerechtigkeit“ verbunden wird (Flitner 1985, S. 2). Er verdeutlicht: „Denn kleine und große Kinder bekommen natürlich nicht das gleiche. Starke und Schwache, Genies und Sonderschüler, gesunde und behinderte, einheimische und fremde Kinder können sich nicht gerecht behandelt sehen, wenn ihnen jeweils dasselbe angeboten wird wie den anderen“ (Flitner 1985, S.2).
Verteilt man beispielsweise die Förderung und Unterstützung im ‚Gießkannenprinzip‘ gleichermaßen auf alle, wird rasch klar, dass Chancengleichheit dadurch nicht eingelöst werden kann. Der Grundsatz „Jedem das Seine“, das heißt jedem die Unterstützungen angedeihen zu lassen, die für eine bestmögliche Entwicklung benötigt wird, löst hier die Forderung nach Chancengleichheit wesentlich besser ein. Für Schulen bleiben dennoch dabei Fragen offen: • Was passiert mit leistungsstarken Schülerinnen und Schülern, wenn bei beschränkten Ressourcen die Förderung überwiegend leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern zuteilwird? • Auch wenn gleiche Zugangschancen zur Bildung verfolgt und eingelöst werden, finden sich nicht dieselben Chancen zum sozialen Aufstieg, denn das Leistungsprinzip wird durch andere Kriterien gestört. Die Leistungsentwicklung von Schülerinnen und Schülern hängt von vielen weiteren Faktoren ab (vgl. Kap. 4). Wie gehen Schulen mit dieser ernüchternden Tatsache um? • Wie viel Ungleichbehandlung können Schüler/innen aushalten, ohne dass sie sie als ungerecht empfinden? • Ist der Nachteilsausgleich für Schüler/innen mit Beeinträchtigungen für alle Mitschüler nachzuvollziehen, auch dann noch, wenn es um die Leistungsbeurteilung geht, die später über den beruflichen Werdegang und damit über die soziale Position in der Gesellschaft entscheiden kann?
344
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Gewähren von Lernchancen Die geschilderte Schlüsselsituation macht eine große Bandbreite an möglichen Lernchancen für Schüler/innen aber auch für die Lehrerin sichtbar. An dieser Stelle wird das Augenmerk auf mögliche Lernchancen gerichtet, die durch eine kritische Reflexion der Leistungsfeststellung gegeben ist. Zeigt doch Jonas Reaktion, dass die Praxis der Leistungsfeststellung und Leistungsbeurteilung einer gründlichen Prüfung hinsichtlich ihrer Funktionen und Zielsetzungen bedarf (vgl. Kap. 4). Der Zeitpunkt des Vorfalls überrascht keineswegs. Denn es ist anzunehmen, dass auch Jonas in weiten Teilen des Schulalltags akzeptieren kann, wenn Schüler/innen ungleich behandelt werden. Erfährt er doch jeden Tag, dass beispielweise Schüler zu Wort kommen, obwohl er sich selbst auch meldet. Dieser vielleicht für eine einfache Antwort gelobt wird, während andere Schüler/ innen für gute Antworten kaum ein Wort der Zustimmung erfahren. Insbesondere während der Wochenplanarbeit wird die unterschiedliche Unterstützung durch die Lehrkraft sichtbar. In alltäglichen Situationen ist die ungleiche Zuwendung und Unterstützung meist verständlich und unproblematisch. Erfahren Mitschüler/innen zusätzliche Hilfestellung bei den täglichen Aufgaben, führt das den Unbeteiligten doch ihre Selbstständigkeit vor Augen und geht mit Freude einher, ohne weitere pädagogische Unterstützung selbst handlungsfähig zu sein. In den wenigsten Fällen führen diese Situationen zu Konflikten. Schulen haben neben pädagogischen aber auch gesellschaftliche Aufgaben wahrzunehmen. So verteilen Schulen Schüler/innen bereits nach der vierten Klasse auf die weiterführenden Schulen, wodurch unterschiedliche gesellschaftliche Positionen mehr oder weniger wahrscheinlich werden. Mit dem Zeugnis der weiterführenden Schulen bewerben sich Schüler/innen um einen Studienplatz bzw. um eine Ausbildungsstelle. Die Aufgabe der Selektion ruft folglich unweigerlich die Schüler/innen als Konkurrenten auf, denn am Ende der Schullaufbahn konkurrieren Schulabsolventen um kontingentierte Stellen. Noten werden als Vergleichsmaßstab für Schülerleistungen herangezogen, auch wenn wir seit nahezu einem halben Jahrhundert wissen, dass sie dem nicht standhalten können, insbesondere dann nicht, wenn sie über eine Schulklasse hinweg in Bezug gesetzt werden (vgl. Ingenkamp 1989, S. 189). Pädagogische Aufgaben von Schulen und somit von Lehrerinnen und Lehrern werden im Lichte der Konkurrenz neu bewertet. Sie verlieren immer dann verstärkt an Akzeptanz, wenn die Zuversicht in den eigenen erfolgreichen Lebensweg schwindet. Es erstaunt folglich nicht, dass die Ungleichbehandlung gerade nach der Klassenarbeit in dieser Form vehement in Frage gestellt wird. Die Schlüsselsituation kann nun daraufhin befragt werden, wie die Leistungen von Schülerinnen und Schülern festgestellt bzw. beurteilt werden können, damit Schulen nicht nur der gesellschaftlichen Aufgabe der Selektion gerecht werden, sondern vielmehr wie Schüler/innen von den Rückmeldungen profitieren können:
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.3 Schlüsselsituation: „Immer bekommt Tim mehr Zeit als wir, das ist ungerecht!“
345
• Woraus legitimiert sich ein derart enges Zeitkorsett für Leistungsfeststellungen in Form von Klassenarbeiten? Gilt es nicht viel mehr zu hinterfragen, ob alle Schüler/innen eine Überprüfung zum selben Zeitpunkt in derselben Zeit ablegen müssen? • Gibt es Praktiken, bei denen Schüler/innen sich zu einer Überprüfung melden können, wenn sie die Zeit hierfür reif sehen? Wie ermutigt man dann aber auch Schüler/innen, die sich hierzu nicht melden? • Welche verschiedenen Formate gibt es, die Leistungen von Schülerinnen und Schülern festzustellen und zu beurteilen? • Sind Aufgaben einer Klassenarbeit valide? Prüfen sie tatsächlich das, was sie beabsichtigen oder werden vielmehr komplexe Sprachkompetenzen überprüft, da diese zwingend notwendig zur Lösung der Aufgabe sind? • Welche Lernhilfen brauchen die Schüler/innen? Selbst wenn an der fragwürdigen geschilderten Praxis festgehalten wird, gibt es Möglichkeiten und Spielräume den Schülerinnen und Schülern gerechter zu werden, indem hinterfragt wird, ob alle Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit haben, die Aufgaben bestmöglich zu bearbeiten. • Wie kann sichergestellt werden, dass alle Schüler/innen die Aufgabenstellung wirklich verstehen und angehen können? • Haben alle Schüler/innen ausreichend Zeit für die Beantwortung der Aufgaben? • Werden die Rückmeldungen zu den Leistungen so ausgebracht, dass sich Schüler/innen tatsächlich verbessern können? • Gibt es Leistungsdialoge und Lernentwicklungsgespräche? Wie muss Unterricht strukturiert sein, dass hierfür ausreichend Zeit zur Verfügung steht? • Welche Möglichkeiten haben Schüler/innen die Stärken ihrer Leistungen sichtbar zu machen? Die Lehrperson – ein Beispiel für Gelingen? Blicken wir noch einmal auf das Verhalten der Lehrerin. Die Lehrerin geht routiniert mit der verzögerten Formation des Stuhlkreises um. Sie gewährt Zeit, sich von den Strapazen der Klassenarbeit zu regenerieren, um sich dann wieder dem Tagesgeschehen zuwenden zu können. Sie greift Jonas Ausbruch auf, um an Ungereimtheiten zu arbeiten. Allerdings übersieht sie selbst, so ins Geschehen involviert, pädagogische Unstimmigkeiten, die dadurch, dass sie in Institutionen häufig auftreten, nicht pädagogisch wertvoller werden. An dieser Stelle sollen oben skizierte fragwürdige Praktiken der Leistungsbeurteilung nicht erneut thematisiert werden, vielmehr soll problematisiert werden, wie schwierig es sich für Lehrkräfte gestaltet, eine nötige Distanz zum Tagesgeschehen herzustellen, um eigene oder institutionelle Praktiken kritisch zu hinterfragen. Die Eingebundenheit ins Geschehen erschwert einen distanzierten Blick. Das Gesprächsprotokoll der Schlüsselsituation zeigt, dass Jonas‘ Ungerechtigkeitsempfinden im Klassen-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
346
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
rat bearbeitet wurde. Im Gespräch konnten Wege gefunden werden, wie die praktizierte Form der Leistungsbeurteilung zukünftig gerechter durchgeführt werden kann. Im Gespräch wurden Schwachstellen benannt und Auswege hierfür gefunden. Die prinzipielle Vorgehensweise der Leistungsbeurteilung wurde zu diesem Zeitpunkt allerdings noch gar nicht in Frage gestellt. Hierzu drängen sich weitere Fragen auf: • Wie können Lehrer/innen mit Distanz auf pädagogische Situationen blicken, in die sie tagtäglich eingebunden sind? • Wo finden sie Hilfestellungen, um an eigenen blinden Flecken zu arbeiten? • Welche fachliche Unterstützung erhalten Lehrer/innen, um an der eigenen Professionalität zu arbeiten und sich stetig weiterzuentwickeln? • Wie können Lehrer/innen Schwachstellen und Diskriminierungsformen in institutionellen Routinen entdecken und an diesen arbeiten, wenn sie in die Strukturen eingelassen sind und deswegen selten hinterfragt werden? • Wie können sich Lehrer/innen über organisatorische Begebenheiten pädagogische Spielräume erhalten, die dann zu einem gelingenden Schulalltag beitragen? Die Schlüsselsituation verdeutlicht darüber hinaus, welche Lernchancen in einer gemeinsamen Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung gegeben sind. Denn auch wenn die Momentaufnahme an einem Punkt des Geschehens nachgezeichnet wird, die konfliktreich ist, darf dabei nicht übersehen werden, dass die Situation für den weitaus größten Teil der Klasse eine Form von Normalität darstellt, an der es nichts auszusetzen gibt. Die Klassenlehrerin erklärt, das sei nicht immer so gewesen. Von Klasse 5 an wurden regelmäßig Gespräche geführt, um die immer wieder aufkommenden Problemlagen zu beleuchteten. Sie schildert die anfänglichen Schwierigkeiten bei den Gesprächen, die sie als sehr anstrengend empfand und in welchen sie selbst eine professionelle Unterstützung vermisste. Heute sei vieles selbstverständlich, um was anfänglich gerungen werden musste. Die Klasse zeichne sich jetzt durch ein hohes Reflexionsvermögen aus, das sie bisher bei keiner anderen Klasse so erlebte. Davon profitieren inzwischen alle Schüler/innen und das Klassenklima in hohem Maße. Einen klaren Vorteil sieht die Klassenlehrerin in der Entwicklung einer Gesprächskultur, die Zusammenlernen und Miteinanderleben der Klasse erleichtert. Die Klasse sei daran gewöhnt, Dinge anzusprechen, die Schwierigkeiten darstellen, und respektvoll miteinander umzugehen. Allerdings erfordert dies eine demokratische Hartnäckigkeit, • die eine prinzipielle Wertschätzung des anderen auch bei Fehlverhalten nicht gefährdet, • die immer wieder nach Möglichkeiten sucht, jeden/jede in die Gemeinschaft einzubinden und keine/keinen verloren gibt, • deren Solidarität nicht nur im stark formalisierten Gespräch des Klassenrats gründet, sondern in den vielen Situationen des Schulalltags eine durchgängige und verlässliche menschliche Grundlinie hat (vgl. Schlüsselsituation 7.5).
7.4 Schlüsselsituation: „Das Thema Ritter ist garantiert kindorientiert!“
347
7.4 Schlüsselsituation: „Das Thema Ritter ist garantiert kindorientiert!“ Kindorientierung als unreflektierte Selbstverständlichkeit
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.4.1 Situationsbeschreibung Die dritte Klasse, in der die folgende Szene im Unterricht beobachtet wurde, besteht aus 25 Schüler/innen, von denen viele Zuhause andere Familiensprachen als Deutsch sprechen und deren Familien eine Migrationsgeschichte haben. Die Klasse ist zudem eine inklusive Klasse, in der Kinder mit und ohne Förderbedarf gemeinsam unterrichtet werden. Der Schüler David hat eine eigene Schulbegleiterin, die neben ihm sitzt und ihm die Aufgabenstellungen nochmals kleinschrittig erläutert. Seit zwei Wochen arbeitet die Lehrerin im fachübergreifenden Unterricht mit der Klasse zum Thema ‚Mittelalter‘. In der heutigen Unterrichtsstunde zeigt sie in den ersten zehn Minuten Schwarzweißzeichnungen von Handwerkern, Rittern und Mägden aus dem Mittelalter. Sie erläutert diese inhaltlich kurz im Sitzkreis. Dabei werden die Abbildungen von Kind zu Kind weitergereicht. Jede/ jeder hat dabei nur Zeit für eine flüchtige Betrachtung. Nach dem Stuhlkreis setzen sich die Kinder wieder an ihre Gruppentische und das ‚Austeilkind‘ Mia teilt im Auftrag der Lehrerin ein Arbeitsblatt für die kommende Arbeitsphase aus. Die Schüler/innen, die an Gruppentischen sitzen, sollen in ihrer Tischgruppe jeweils mit ihrem unmittelbaren Sitznachbarn den ersten Textteil des Arbeitsblattes zum Thema „Kleidung im Mittelalter“ lesen, sich über den Text austauschen und im Text mit dem Lineal Wichtiges unterstreichen. Die Schüler/innen holen ihre Lineale und Buntstifte heraus und beginnen zu arbeiten. Emmanuel am Gruppentisch 4 beginnt mit dem Lesen und unterstreicht ein Wort in der ersten Zeile, dann hört er auf mit dem Lesen. Er schaut zu seinem Tischnachbarn Tom hinüber und beobachtet, wie dieser Wörter in einem schnellen Tempo unterstreicht, indem er die Zeilen des Textes zügig durchgeht und Begriffe markiert. Emmanuel wendet sich wieder seinem Blatt zu und zählt dann die Wörter ab, indem er mit dem Finger Wort für Wort in den Zeilen nachfährt, diese leise vor sich hinmurmelt, ohne jedoch ein Wort zu unterstreichen. Die Lehrerin sieht, dass Tom und einige weitere Schüler/innen an den anderen vier Gruppentischen bereits mit dem Unterstreichen fertig sind. Sie beendet diese Arbeitsphase, um im Plenum weiterzumachen: „Legt alle eure Stifte weg. Ihr habt jetzt alle den Text gelesen und unterstrichen. War alles klar oder hat ein Kind noch eine Frage?“ Es meldet sich niemand. Sie geht nach einem kurzen Warten dazu über, den nächsten Arbeitsschritt einzuleiten: „Dann machen wir weiter. Im Mittelalter haben alle immer den Beruf erlernen müssen, den die Eltern hatten. Hier an der Tafel hängen verschiedene Begriffe für Berufe als Wortkarten. Welche sind wich-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
348
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
tiger als andere?“ Drei der Kinder, darunter auch Tom, die bereits mit dem ersten Arbeitsauftrag fertig sind, schauen zur Tafel, um die Begriffe Bauer, Glasmacher, Sattler, Hufschmied, Goldschmied, Ritter, Knappe zu lesen und sich zu melden. Emmanuel an Tisch 2 schaut nicht zur Tafel, sondern spielt mit seinem Stift unter dem Tisch. Daniel von Tisch 5 legt den Kopf auf den Tisch, Max von Tisch 4 steckt sich das Lineal in den Mund und lutscht daran, Felix von Tischgruppe 3 gähnt und streckt sich. Sein Nachbar Luca muss unmittelbar danach ebenfalls gähnen.
Arbeitsaufgaben 1. Betrachten Sie die Schlüsselszene aus der Perspektive der Lehrerin. Können Sie ihr Handeln nachvollziehen? Entdecken Sie pädagogische Highlights? Was sehen Sie kritisch? 2. Nehmen Sie die Perspektive der Schüler/innen ein. Was und wie erleben diese die Situation? 3. Wie würden Sie handeln?
7.4.2 Interpretationsversuch Die beobachtete Szene aus den ersten 15 Minuten der Sachunterrichtsstunde zum Thema: „Kleidung und Berufe im Mittelalter“ lässt sich unter verschiedenen Perspektiven betrachten. Die Gegenwärtigkeit im pädagogischen Handeln Mit der Kategorie der Gegenwärtigkeit kann hier sowohl danach gefragt werden, ob die Lehrerin gegenwärtig ist, mitbekommt, dass sie Drittklässler/innen unterrichtet, die vielfach einen anderen sprachlichen und kulturellen Hintergrund als sie selbst haben, und zum anderen, ob der Unterrichtsgegenstand einen Gegenwartsbezug für die Kinder hat. Gerade die Lebenswelt- und Kind(er)orientierung sind die großen didaktischen Parameter, die die Sachunterrichtsdidaktik wie die Grundschuldidaktik generell in ihrer Inhalts- und Methodenwahl leiten. Das Kind wird hierbei als ein lernendes oder sich bildendendes Subjekt verstanden und in der Folge wird im Unterricht auf der Planungs- und Durchführungsebene eine Schüler/innen-Zentrierung angestrebt (vgl. auch Kap. 6). Bei der Auswahl der Sache ist kritisch zu fragen: Ist das Primat der Kindorientierung schon erfüllt durch die Annahme, dass alle Neun- und Zehnjährigen, unabhängig von ihrer kulturellen Herkunft, sich für Ritter und Burgen interessieren? Ist das Primat der Lebensweltorientierung schon damit erfüllt, dass die Kinder dieser Klasse in einer Stadt leben, die eine Burg hat? Oder braucht es eine
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.4 Schlüsselsituation: „Das Thema Ritter ist garantiert kindorientiert!“
349
tiefere Auseinandersetzung der Lehrer/in in der Unterrichtsplanung im Hinblick darauf, was Lebenswelt- und Kindorientierung bedeuten? Für eine professionelle Unterrichtsplanung und Unterrichtsdurchführung bedarf es einer gegenwärtigen Lehrerin, die ihren Blick auf die realen Kinder und auf deren reale Lebenswelt, mit denen sie tagtäglich arbeitet und zu tun hat, richtet und nicht auf idealisierte Kinder hin einen Unterricht ausrichtet, dem nur wenige leistungsstarke Kinder folgen können. Auf der Ebene der didaktischen Methoden ist vieles fragwürdig, wobei zweifelsohne sehr viel Lehrerarbeitszeit für die Erstellung der Materialien aufgebracht wurde. Würden wir diese Unterrichtsbeobachtung in einer Nachbesprechung des Unterrichts aufarbeiten, dann wären Fehler der Unterrichtsplanung und Unterrichtsdurchführung zu benennen. Das Anschauungsmaterial, Bildkarten sowie Materialien zum Anhängen an der Wandtafel, verweisen zwar auf eine zeitintensive Vorbereitung, gleichzeitig wird schnell deutlich, dass die Schüler/innen den Arbeitsauftrag „Unterstreiche Wichtiges im Text“ nicht versehen konnten, weil dafür die Kriterien fehlten und die Lehrerin hier vor allem nicht überprüft, ob von allen Schüler/innen die wichtigen Begriffe zum Thema „Kleidung“ erkannt wurden. Dennoch wird der Unterricht, auch ohne den Anschluss vieler Schüler/ innen an die nächste Phase einfach fortgesetzt. Die Tatsache, dass die Schüler/ innen an Gruppentischen sitzen, heißt zudem nicht, dass im Sinne eines „kooperativen Lernens“ tatsächlich miteinander der Text durchgegangen und bearbeitet wird, dass stärkere Schüler wie Tom schwächeren Schüler/innen wie Emmanuel helfen oder die leistungsbezogene Heterogenität, die sich zugleich in der Sitzanordnung widerspiegelt (an jedem Gruppentisch sitzen zwei leistungsstarke und zwei leistungsschwächere Schüler/innen), per se eine didaktische Antwort auf die Herausforderung des Umgangs mit Heterogenität ist. Exemplarisch für diese Szene ist, dass zeitintensiv vorbereitete Unterrichtsmaterialien nicht zwangsläufig zu einem gelingenden Unterricht führen. Zudem wird deutlich, dass der Unterricht, trotz vermeintlicher Kind- und Lebensweltorientierung an den Kindern (alle Kinder interessieren sich für das Mittelalter, wollen wissen, wie das Leben auf der Burg war), vorbeiführt, denn die Eingangsvoraussetzungen der einzelnen und realen Kinder erfahren keine Berücksichtigung. Schwächeren Kindern werden keine Differenzierungsmöglichkeiten angeboten (z.B. Fragen zum Text, Orientierungshilfen, Spielraum in der Aufgabenbearbeitung, Niveaudifferenzierung). Empathie – Vom Anderen her denken und handeln Die Lehrerin hat zwar viel Arbeit auf die Materialauswahl und -gestaltung gelegt und sich eine Choreographie für ihren Unterricht ausgedacht. Und doch gelingt es ihr nicht, sich in die Perspektive ihrer Schüler/innen zu versetzen und den Unterricht von diesen aus zu denken. Die Lehrerin geht davon aus, dass ein Schweigen auf ihre Frage („War alles klar?“), die eine Scheinfrage ist, Zustimmung und Ein-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
350
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
verständnis dafür bedeutet, einfach weiterzumachen. Wie verhalten sich Kinder in der dritten Klasse, die in der Regel acht, neun Jahre alt sind? Wie unterschiedlich sind sie in ihrer Auffassungsgabe, ihrer Schnelligkeit und ihrem Vorwissen? Neben dem Fokus auf Themen, die in der Unterrichtsforschung den Bereichen der Lehrerprofessionalität bzw. des professionellen Lehrerhandelns und der damit korrespondierenden Erwartung an eine professionelle Unterrichtsgestaltung zuzuordnen sind, sind hier mit Blick auf die Unterrichtsplanung und Unterrichtsorganisation auch weitere Aspekte interessant. Zum Beispiel die damit korrespondierenden Fragestellungen, wie „Langeweile im Unterricht“ (vgl. z.B. Breidenstein 2007) von Lehrer/innen erzeugt wird oder wie im interaktionellen Unterrichtsgeschehen Kinder auf die von Lehrer/innen initiierten Über- oder Unterforderungssituationen reagieren. Das Beispiel zeigt, wie ein am individuellen Schüler vorbei agierender Unterricht, ein Unterrichten, in dem die Empathie für Emmanuel und andere Kinder der Klasse fehlt, zu Langeweile und Frustration und Langeweile führen kann. In unserem Beispiel zeigt sich dies am Spielen mit dem Stift unter dem Tisch oder dem Spielen mit dem Lineal, das in den Mund gesteckt wird. Didaktik stellt nicht nur eine fachwissenschaftliche und fachdidaktische Herausforderung dar, sondern stets auch eine sozial-erzieherische. Ein empathisches Verhalten der Lehrerin würde sich daran ablesen lassen, dass sie sich für die sprachlichen und die nicht-sprachlichen Signale der Schüler/innen interessiert und auf diese reagiert. Zwar hat nicht jedes Spielen mit dem Lineal und Abgelenktsein mit dem Lehrerhandeln zu tun, aber es gilt, die Zeichen der Schüler/ innen lesen und deuten zu können. Vertrauen als Basis pädagogischen Handelns Das Beispiel zeigt, dass viele Schüler/innen vom Unterrichtsgeschehen als gemeinsamer sozialer Aktivität ausgeschlossen werden, ohne dass dies, oberflächlich betrachtet, sichtbar geworden wäre, da die unterrichtliche Ordnung/Anordnung weiterhin aufrechterhalten werden konnte. Es gab keine offenkundigen Störungen, Einsprüche und Widerstände von Seiten der Schüler/innen. Es zeigt sich hier aber auch, dass die Lehrerin den Unterricht ritualisiert als Unterricht aufrechterhält. Es werden Aufträge gegeben, (Schein-)Fragen gestellt und Behauptungen aufgestellt wie „Legt alle eure Stifte weg. Ihr habt jetzt den Text gelesen und unterstrichen. War alles klar?“ Ihr Handeln ist gerade im Hinblick auf eine Rekonstruktion von unterrichtsbezogenen Professionalisierungsprozessen interessant („Ich agiere wie eine Lehrerin, also muss ich eine sein, auch wenn es wenig sinnvoll ist, was ich sage.“). Zudem wird hier auch die pädagogische Haltung der Lehrerin selbst offenbar. Es zeigt sich, dass die Lehrerin nicht sehr viel Vertrauen in die Schüler/innen hat, sonst würde sie beispielsweise diese direkt fragen und auf echte Antworten warten. Dieses Verhalten kann als eine pädagogische Fehlhaltung interpretiert werden. Kinder brauchen eine zuversichtliche und ermutigende Haltung ihrer Lehrerin, brauchen Ermutigung
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.4 Schlüsselsituation: „Das Thema Ritter ist garantiert kindorientiert!“
351
und Unterstützung dafür, sich Wissen zu erarbeiten und aneignen zu können, sich anstrengen zu können und auch dafür belohnt zu werden. Zum Lernen braucht es gerade die vertrauensvolle Beziehung zwischen Lehrer/in und Schüler/innen. Die Kinder/Jugendlichen brauchen eine echte Leistungszuversicht und eine wirksame Unterstützung bei ihren Lern- und Bildungsprozessen. Häufig wird im Unterricht stärker auf äußere Formen als auf die Beziehungsgestaltung gesetzt. Gerade Methodik und Didaktik im Kontext neuer Lernkulturen setzen stark auf Methoden, Sozialformen und Material statt auf die Beziehungsgestaltung. Hier ist als Beispiel zunächst die stufendidaktische Methode des Stuhlkreises oder Unterrichtsgespräches zu Beginn zu nennen, um Materialien zu zeigen, später Bildkarten, die aufgehängt werden sowie Papiere, die bearbeitet werden. Es sind Formen trivialisierter Bildung, lediglich Surrogate, aber keine echten Lerngelegenheiten. Vor allem im Hinblick auf die Tatsache, dass die Ressource Zeit in der Schule stets knapp ist. Eine echte Ich-Du-Beziehung zwischen der Lehrerin und den einzelnen Schüler/innen findet nicht statt. Das Gewähren von Lernchancen und Lernhilfen Die Kultusministerkonferenz weist mit ihren Leitlinien wie den „Leitlinien zur Sicherung der Chancengleichheit durch geschlechtersensible schulische Bildung und Erziehung“ (2016) darauf hin, dass die Schule zur Sicherung der Chancengleichheit aller Kinder beitragen und einen diskriminierungsfreien Ort darstellen soll. Schüler/innen, die mehrsprachig aufwachsen, das heißt, nicht unbedingt Deutsch als Erstsprache, sondern als Zweit- oder Drittsprache erlernen, haben es meist schwerer, Unterricht in der Bildungssprache zu folgen. Doch auch unabhängig von der Kategorie einer migrationsbedingten Heterogenität, gibt es in jeder Klasse weitere Heterogenitätsdimensionen, wie zum Beispiel die geschlechterbedingte Heterogenität, die sozio-ökonomische, die behinderungsbedingte und die altersbezogene Heterogenität sowie leistungsbezogene Unterschiede, die das Lehrerhandeln determinieren. Im beobachteten Unterrichtsbeispiel werden Aufgabenstellungen von der Lehrerin angeboten, die für viele Schüler/innen schlicht nicht lösbar sind. Zu fragen ist, ob ein Kind, das Schwierigkeiten mit Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache hat, überhaupt wissen muss, was ein Glasmacher ist und was dieser im Mittelalter gearbeitet hat. Die aktuellen Bildungspläne verweisen darauf, dass etwa beim Kompetenzbereich „Orientierung in unserer Welt“ die gewählten Unterrichtsinhalte, die von Lehrer/innen für den Sachunterricht der dritten Klasse ausgewählt werden, darauf abzielen sollen, dass sich die Schüler/innen „in ihrer sozialen, natürlichen und technischen Umwelt zunehmend selbstständig orientieren“ und „diejenigen Begriffe, Fakten, Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge, die Kinder kennen müssen, um wissenschaftliches Denken und Handeln zu entwickeln“ (vgl. z.B.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
352
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
Bildungsplan Grundschule, Bundesland Hamburg) kennen lernen sollen. Ob dazu Begriffe wie „Hufschmied“ oder „Glasmacher“ gehören, ist fraglich. Manche Schüler/innen brauchen mehr Zeit, um sich Inhalte anzueignen und diese zu verstehen als andere. In dieser Unterrichtsszene stehen alle Schüler/ innen unter dem gleichen zeitlichen Diktat. Als Lehrer/in gilt es indes anzuerkennen, dass Kinder/Jugendliche unterschiedlich sind und es gilt daher, verschiedene unterrichtliche Differenzierungsangebote vorzubereiten. Die Schüler/innen aus der Beispielklasse benötigen unterschiedliche und vor allem andere Aufgabenstellungen als die, die Lehrerin ihnen anbietet. Emmanuel kann sich im gewählten Beispiel die Aufgabe nicht zu eigenen machen, stattdessen spielt er mit dem Lineal als einer Art Ersatzhandlung und verliert das Interesse, sich dem Angebot der offerierten Aufgabe zu widmen. Für ihn war es die falsche oder nicht passende Aufgabe. „Der Motivationsforschung verdanken wir die Einsicht, dass eine wohldosierte Diskrepanz zwischen Neuheits- und Vertrauensgrad der Anforderungen eine wesentliche Gelingensbedingung der Aufgabenbewältigung ist“ (Röbe 2017, S. 266). Aufgaben müssen also passgenau sein, das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass in einer Klasse mit 25 Schüler/innen jede/r an einer anderen Aufgabe arbeitet und jede Aufgabenstellung individualisiert wird. Aber warum hier nicht die Schüler/innen aktiv miteinbeziehen? „Gerade da, wo sie sich selbst Aufgaben definieren oder wählen, beginnen sie, sich zum Aufgabencharakter in Beziehung zu setzen“ (Röbe 2017, S. 267). Die Lehrpersonen sind hierbei die eindrücklichsten Lernhilfen und Unterstützer/innen der Schüler/innen bei ihren unterrichtlichen Aufgaben.
7.5 Schlüsselsituation: „Sonnenblume“ – ein neues Codewort für die sozialen Praktiken einer Klasse 7.5.1 Situationsbeschreibung Eine vierte Klasse kommt aus den Sommerferien zurück. Die Schüler/innen treffen sich in ihrem ‚alten‘ Klassenzimmer. Sichtlich stolz blicken einige auf das Eingangsschild an der Klassenzimmertüre: „4 b“. Die Ziffer ist abgeändert! Aus der 3 ist eine 4 geworden! Es herrscht eine Wiedersehensatmosphäre, die von einem besonderen Gefühl bestimmt ist: Jetzt sind wir die Großen! Welch ein Statuszugewinn! Bald scheint sich die Freude über den Sprung zum ‚die Größten sein‘ in die Organisations- und Interaktionsabläufe hinein aufzulösen. Die Begrüßung von Lehrerin und Freund/innen, die Entscheidung für Sitzplatz und Arbeitspartner/innen, die Organisation des Arbeits- und Garderobenplatzes u.v.m. mischen sich in das Ankommen im frisch gereinigten und noch recht kahl belassenen Klassenraum.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.5 Schlüsselsituation: „Sonnenblume“
353
Schließlich fordert die Lehrerin in gewohnter Weise zum Gesprächskreis auf. Nach ein paar Akkorden auf der Gitarre fängt sie an, leise die Melodie der ‚Schulhymne‘ zu summen. Die Schüler/innen stimmen nacheinander ein und beginnen einen Kreis im vorderen Teil des Klassenraums zu formieren. Es dauert einige Minuten und es bedarf der Hinweise durch Frau S., bis jede/r so sitzt, dass er jede/n gut sehen kann. Einige Kinder legen noch etwas Mitgebrachtes unter dem Stuhl zurecht. Schließlich ist die letzte Strophe verklungen. Die Augen der meisten Schüler/innen sind auf die Lehrerin gerichtet. Frau S. spricht in die gespannte Stille hinein: „Lange haben wir uns nicht mehr gesehen. Schön, dass ihr alle wieder da seid.“ Sie sieht jede/n Schüler/in einzeln freundlich an und spricht dabei fast feierlich den Vornamen. „Wir wollen unseren ersten Schultag mit einer Erzählrunde starten. Ihr habt sicher viel erlebt, wovon ihr erzählen könnt. Damit möglichst jede und jeder zu Wort kommt, schlage ich vor: Erzählt das Ferienerlebnis, an das ihre gerne zurückdenkt. Überlegt zuerst in Ruhe. Damit eure Gedanken ins Rollen kommen, mache ich noch einmal Musik.“ Nach einer Weile beginnt die Gesprächsrunde in gewohnter Weise. Jeweils ein Kind hat das Wort; wer eine wichtige Frage oder Anmerkung hat, erhebt beide Hände in Schulterhöhe. Die Lehrerin moderiert, wenn das Gespräch ins Stocken gerät, inhaltliche Ungereimtheiten das Mitvollziehen erschweren oder Aussagen in eine leichtere Sprache ‚übersetzt‘ werden sollen. Auch ermutigt sie manche, sich mit einem Gesprächsbeitrag zu beteiligen, akzeptiert jedoch auch, wenn sich jemand nur auf das aufmerksame Zuhören konzentrieren möchte. Frau S. erteilt nun Ihrem linken Nebensitzer das Wort. Die Schüler/innen berichten von Freizeitaktivitäten zuhause, von der Teilnahme am städtischen Ferienprogramm, von Reisen an Orte mit Sehenswürdigkeiten der Superlative, von Ereignissen innerhalb der Familie und im nahen Umfeld. Nun ist die Lehrerin an der Reihe. Erwartungsvoll sieht die Gesprächsrunde auf sie. “Und ich war in Südfrankreich, in der Provence – so heißt die Gegend, in der ich war. Da gibt es schöne Städte, aber auch eine Landschaft, in der man ganz toll Fahrrad fahren kann. Und das hat mir besonders gut gefallen. Warum? – Die Radwege führen nämlich durch Sonnenblumenfelder. Und die Sonnenblumen auf diesen großen, weiten Feldern standen in voller Blüte. Ich konnte mich gar nicht satt sehen. Da dachte ich: Ihr Sonnenblumen seid ja wie Gesichter mit eurem goldgelben Blütenkranz! Ihr lacht mich ja an! Und ihr erinnert mich an die Kinder meiner Klasse. Die können mich manchmal auch so anschauen.“ Die Worte der Lehrerin rufen bei einigen Kindern ungläubiges Staunen hervor, bei anderen Heiterkeit; eine kleine Schülergruppe scheint noch immer auf ein reißerisches Erlebnisabenteuer zu warten. Nach einer kleinen Pause meldet sich ein Schüler zu Wort, den die Bilder des Sonnenblumenerlebnisses sichtlich berührt haben. An die Lehrerin gewandt, schlägt er vor: „Sie können ja zu uns einfach ‚Sonnenblume‘ sagen, wenn es etwas ganz Wichtiges gibt, dann wissen wir Bescheid.“ Die Lehrerin scheint gerührt von dem Vorschlag des Schülers.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
354
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
Fragend blickt sie in die Runde. Die Klasse scheint zu überlegen: Soll sie das verhaltenssteuernde Codewort akzeptieren? Gibt es Einwände? Keine. Frau S. nimmt dies als Zustimmung. Sie formuliert nochmals die Vereinbarung, die dem Wort eingeschrieben ist: „Also, wenn ihr das Wort ‚Sonnenblume‘ hört, dann gibt es eine wichtige Mitteilung von mir oder von jemandem von euch. Und denkt daran: Sonnenblumen strahlen freundlich.“ Das Code-Wort wird daraufhin mehrmals in seiner Wirkung erprobt. Die Schüler/innen wirken zufrieden. Daran schließen sich das Planungsgespräch über die ‚Highlights‘, die das kommende Schuljahr bereithält, die Erörterung des Stundenplans, der in der Klasse arbeitenden Lehrkräfte und Personen sowie die Organisation der Lern- und Arbeitsmaterialien an, ehe die erste Unterrichtseinheit beginnt.
Arbeitsaufgaben 1. Betrachten Sie die Schlüsselsituation aus der Perspektive der Lehrerin. Können Sie ihr Handeln nachvollziehen? Entdecken sie darin ‚pädagogische Highlights‘? Was sehen Sie kritisch? 2. Nehmen Sie die Perspektive der Schüler/innen ein. Was und wie erleben sie die Situation? 3. Wie würden Sie handeln? Warum?
7.5.2 Interpretationsversuch Die Situation: Eine vierte Klasse kehrt nach sechswöchiger Sommerpause am ersten Schultag in ihre Grundschule zurück. Hier scheint alles beim Alten zu sein. Lediglich das geänderte Türschild dokumentiert den Aufstieg in die höhere und letzte Klasse vor dem Übergang in die weiterführenden Schulen. Die Schüler/innen scheinen bereits eingeübt in soziale Praktiken und ritualisierte Handlungsabläufe, sodass die Lehrerin sich damit begnügen kann, vor Beginn des Gesprächskreises lediglich wichtige Gelingensbedingungen in Erinnerung zu rufen: Jede/r hat genügend Platz. – Jede/r muss jede/n sehen können. – Die Lehrperson sitzt ebenfalls im Kreis. – Alle Teilnehmer/innen sind gleichwertige Gesprächspartner/innen. Die Lehrperson ist lediglich ‚primus/prima inter pares‘. Ihr obliegt die Gesprächsführung. Im Gedächtnisprotokoll des Gesprächskreises lassen sich zwei inhaltliche Schwerpunkte ausmachen: Die Schilderung von individuellen Ferienerlebnissen mit der Maßgabe, sich auf ein subjektiv bedeutsames Ereignis zu konzentrieren, dieses mitvollziehbar und -erlebbar zu erzählen und eventuelle Rückfragen zu beantworten. Zum anderen wird von der ‚Geburt‘ eines Rituals berichtet, angeregt von einem Schüler als Reaktion auf die Ferienerinnerungen der Lehrerin.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.5 Schlüsselsituation: „Sonnenblume“
355
Diese Schlüsselsituation ist zweifelsohne von Freundlichkeit, positiver Beziehung der Beteiligten und einer transparenten Organisationsstruktur bestimmt, in der Regeln bzw. Rituale bereits einen festen Platz haben, z.B. die von Musik unterstützte Eröffnung der Gesprächsrunde, die geordnete Formation des Kreises, das Bereitlegen von Material für das Veranschaulichen von Erzählelementen, das Drankommen, die aktive Beteiligung am Gespräch. Nun wird ein neues Codewort in die soziale Formensprache aufgenommen. Es hat die Funktion, die Verhaltensweisen der Schüler/innen zu steuern. Von nun an ist ‚Sonnenblume‘ für die Schüler/innen nicht mehr lediglich der Name für eine Pflanze. Der Begriff re-inszeniert fortan das emotional anrührende Naturerlebnis der Lehrerin als ihren Wunsch nach Aufmerksamkeit ihrer Schüler/innen. Ein Ritual ist geboren. Exkurs: Bestimmungsmerkmale eines Rituals, auch im schulischen Raum 1. Rituale teilen sich in einer Symbolhandlung mit, die von den Beteiligten sofort verstanden wird und die auf ihr Verhalten signalhaft wirkt. 2. Rituale bedienen sich gestischer Symbole, wodurch sich die Sprache noch mehr verdichtet und intensiviert. 3. Rituale sind auf eine Gemeinschaft bezogen. In der verwendeten Sprache und in den eingeübten Gesten erkennen sich ihre Mitglieder selbst und betonen, dass sie zueinander gehören. Sie schaffen sich eine „Lebensgestalt“ (F. Steffensky). 4. Rituale zielen auf fertige Übernahme und Teilhabe. Darin liegt ihre Macht und Wirkung. Ihr Tun kann jedoch unterschiedlichen Mustern folgen: In einem ‚coactive pattern‘ wird jeder Schritt determiniert und unverändert mitvollzogen. Ein ‚dialogic pattern‘ hingegen ist von Austausch, Wechselseitigkeit und bewusster Einbeziehung der Teilnehmer/innen gekennzeichnet. Trotz inhaltlicher Variationen bleibt das Ritual erhalten, da es ‚synchronized like steps in a dance‘ ist (M.A. Fowlkes). 5. Rituale selbst sind blind, ihre Strahlkraft und ihre Wirkung sind nicht ausschließlich rational fassbar. Sie verfügen über keine ethische Regierungsmöglichkeit. Sie verweisen jedoch in einen Sinnzusammenhang und haben darin Funktionen zu erfüllen (vgl. Höflichkeits-, Feier-, Ordnungs-, Leistungs- und Disziplinierungsrituale). 6. Gerade im Raum der Schule verdienen nur jene Rituale und Regelungen Beachtung, die auch vor der Vernunft Bestand haben bzw. sich für eine demokratische Erziehung förderlich erweisen.* Rituale unterdrücken spontanes Handeln und können die Aufmerksamkeitsspannen überfordern. Die Schulgeschichte zeigt im Zusammenhang mit Ritualen einerseits ihre Neigung zu ‚Schwarzer Pädagogik‘, in der Kinder/Jugendliche unmenschlich bestraft, gedemütigt und entwürdigt werden. Zugleich zeigen sie eine Tendenz zur
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
356
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
Trivialisierung, die eine kontinuierliche, altersgerechte Entwicklung sinnvoller Rituale im Laufe der Schulzeit verhindert. 7. Ritualen haftet eine Tendenz zur Stagnation an. Deshalb ist es wichtig, nicht nur ihre Wirkungen, sondern auch ihre (ungewollten) Nebenwirkungen wahrzunehmen. Rituale gelten als entartet, wenn in ihnen Denken und Lachen verboten und, wenn Rationalität Aufklärung und Nüchternheit nicht mehr erlaubt sind und wenn sie den Blick auf den individuellen Schüler und seine Situation verblenden. * Ein negatives Beispiel ist der in vielen Grundschulen bundesweit gebrauchte Schweigefuchs. Wird es in einer Grundschulklasse zu laut, bringt der Lehrer die Fingerspitzen von Daumen, Mittel- und Ringfinger zusammen und bildet so die Schnauze eines Fuchses. Den Zeige- und den kleinen Finger streckt er zugleich in die Höhe und symbolisiert damit gespitzte Ohren. Die Geste soll heißen: Mund zu, Ohren auf, zuhören! Nach rationaler Prüfung ist das Symbol dem Erkennungszeichen der „Grauen Wölfe“ – einer rechtsextremen, nationalistischen Gruppierung in der Türkei – zum Verwechseln ähnlich. Nun soll der Schweigefuchs aus den Klassenzimmern verschwinden.
Die ‚Gegenwärtigkeit‘ im pädagogischen Handeln Wie lässt sich Gegenwärtigkeit im Lehrerhandeln wahrnehmen? Zweifelsohne zeigt die Lehrerin dem Gedächtnisprotokoll zufolge eine hohe Präsenz. Sie hält sich von organisatorischen Arbeiten frei, um die ankommenden Schüler/innen begrüßen und in ersten, informellen Kontakt treten zu können. Dann überführt sie das Ankommen im Klassenraum in ein gemeinsames Gespräch. Frau S. kann an bereits gewohnte Ordnungsformen anschließen: So stellt sie ihren Stuhl in die ‚Kreisperipherie‘, spielt und singt ein bekanntes Lied in einer moderaten Lautstärke. Die Klasse erkennt darin eine akustische Folie, die die Formation ihres Stuhlkreises trägt, die nun einsetzende Organisationsarbeit zum ‚ruhigen Fließen‘ bringt und zugleich die Aufgeregtheiten der Ankommenssituation im gemeinsamen Lied aufnimmt. Die Lehrerin eröffnet das gemeinsame Gespräch mit einer Begrüßungsgeste. Sie heißt jedes Kind einzeln willkommen, indem sie dessen Namen ausspricht, Blickkontakt aufnimmt und sich seiner Gegenwart versichert. Dann formuliert sie eine verbindliche Aufgabe und gibt Zeit, diese zu übernehmen: Die Gesprächsteilnehmer/innen sollen sich aus ihren Erlebnissen eines auswählen, das sie in das Gespräch mit der Klasse einbringen wollen. Zur Unterstützung der dafür geforderten Konzentration gewährt die Frau S. nochmals einen meditativen Rahmen, innerhalb dessen man sich sammeln und seinen Gesprächsbeitrag vorbereiten kann. Das Gespräch leitet Frau S. selbst. Sie achtet darauf, dass zwischen Sprecher/in und Zuhörerschaft ein aktiver Dialog entsteht, Zwischenfragen beachtet werden und mitgebrachtes Material (z.B. Fotos, Eintrittskarten, Naturmaterial) zur Veran-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.5 Schlüsselsituation: „Sonnenblume“
357
schaulichung eingesetzt wird. Immer wieder greift sie inhaltliche Aussagen auf, passt diese in einem ‚fine tuning‘ an das Sprachniveau der Schüler/innen an, achtet bei ihren Aussagenwiederholungen auf die Regeln von ‚Leichte Sprache‘ und stellt Bezüge zwischen den Äußerungen der Schüler/innen her (vgl. Kap. 2, 3.2.6). Augenfällig ist die Gegenwärtigkeit der Lehrperson auch im Annehmen des Ritualangebots. Ihr Ferienerlebnis, das sie mit ihrem Wunsch nach einer diszipliniert aufmerksamen Haltung zu verbinden versteht, wird zunächst von einem Schüler als neues Ritual erfasst, von der Klasse aufgenommen und in ihre soziale Formensprache integriert. Wie kann die Gegenwärtigkeit in der Schülerperspektive gedeutet werden? Niemand kann im Klassenraum dem Gespräch entfliehen, auch wenn sich jemand nicht aktiv daran beteiligt. Jeder und jede ist eingeladen; die aktive Teilnahme wird erwartet. Die Formation des Kreises und die dabei praktizierten Ordnungsformen bilden nicht nur den Rahmen für eine strukturierte Face-toFace-Kommunikation, sondern binden jeden/jede in die damit verbundene Anforderungsstruktur. Jedem/jeder ist ein doppelter Anspruch zugemutet: • Das Verhalten eines aktiven Zuhörers, der aufmerksam, konzentriert und engagiert am Gespräch sich beteiligt, verbietet die Flucht in Desinteresse und abweichende Reaktionen. Der Zuhörer muss seine Aufmerksamkeitshaltung möglichst eigenständig aufrechterhalten und auf Steuerungsimpulse von Lehrperson und Mitschüler/innen möglichst positiv reagieren. • Es wird ein inhaltlicher Beitrag erwartet, der sprachlich verständlich und adressatenbezogen formuliert ist und die Zuhörer/innen interessiert. Dabei gilt es, die Reaktionen aufzunehmen, Rückfragen zu beantworten, Anerkennung wie Kritik zu akzeptieren. Diesen Aspekt hat Frau S. aus der ‚Unentfliehbarkeit‘ genommen: Sie akzeptiert, dass nicht jeder/jede ein Ferienerlebnis abrufen will und sich mit einer aufmerksamen Zuhörerschaft begnügt. Empathie – Vom Anderen her denken und handeln „Dazu ist die Schule da, damit das Kind die anderen finde …“ – Diese Aussage des Schweizer Pädagogen und Philosophen A. Schlatter (1852-1938) vermag treffend die sozialerzieherische Herausforderung auszudrücken, die dieser Schlüsselsituation eingeschrieben ist. Die Bereitschaft, sich jedem in der Klasse zuzuwenden, prosoziales Verhalten zu üben, sich wertschätzend und respektvoll zu begegnen, sich in der mitmenschlichen Grundhaltung nicht beirren zu lassen, das scheint als Grundanliegen diese Schlüsselsituation zu bestimmen. Die Lehrperson schafft für die ankommenden Schüler/innen einen Begegnungsraum, in dem jeder/jede als Person willkommen ist und im sozialen Miteinander der Klasse seinen Ort finden kann. Dies findet seinen Ausdruck in der Geste der Namensnennung, die mehr und anderes ist als eine Anwesenheitskon-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
358
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
trolle. Sie unterstreicht die Individualität der Schüler/innen, ihre Bedeutung für die Klassengemeinschaft, ihre selbstverständliche Akzeptanz. Das sozial-organisatorische Setting erweist sich als stabil und dennoch fluid genug, individuelle Bedarfe für das Einschwingen in die Gesprächssituation zu ermöglichen, ohne dass die gelegentlich erforderlichen mahnenden Einlassungen der Lehrperson die Atmosphäre für das Gespräch beeinträchtigen würden. Dazu gehört zum Beispiel auch, dass sie für einen besonders impulsiven Schüler einen Sitzplatz neben sich bereithält oder einem anderen noch vor der Sprecherrunde das Wort erteilt, um ihn in seiner angespannten Aufgeregtheit und Unruhe zu besänftigen und ihm die Teilnahme zu erleichtern. Sie geht sparsam mit Worten um, setzt auf Musik, um die positive Stimmung und Erwartungshaltung aufrechtzuerhalten. Das von ihr gesetzte Gesprächsthema bezieht sich auf die Ferien, auf individuelle Erlebnisse, Erfahrungen oder Ereignisse. Dies kann für jeden einen weiten Erinnerungs- und Imaginationsraum öffnen. Die Aufgabenstellung setzt einen Fokus und damit ein Geländer für die Suche. Gerade weil das Gedächtnisprotokoll nicht hinreichend detailliert berichtet, richten sich Fragen an die Lehrperson: • Gelingt es ihr, die individuellen Beiträge als gleichwertig zu gewichten? Kann sie eine Rangordnung der Superlative von Events vermeiden, indem sie durch ihre Reaktionen die einzelnen Berichte in ihrer einzigartigen Bedeutung für eine/n Schüler/in erkennt und so in den Verstehenshorizont der Klasse heben kann? • Kann sie der Geringschätzung und dem Desinteresse von Gesprächsteilnehmer/innen entgegenwirken, indem ihre Gesprächsimpulse die Aktualität, die intersubjektive Aussagekraft und die individuelle Bedeutung des Beitrags unterstreichen? • Wie kann sie die Schüler/innen einbeziehen, die sich nicht gerne an ihre Ferien erinnern, nichts Nennenswertes beitragen können, weil sie sich mit ihrer Familie in einer sozialen Randlage bewegen? • Findet die Lehrperson das richtige Zeitmaß für die Einzelbeiträge? Wie ermutigt sie Schüler/innen, die keinen Beitrag leisten, sondern sich auf das Zuhören beschränken wollen? • Wie persönlich und unprätentiös ist ihr eigener Gesprächsbeitrag? Ist er gar bereits verschult, da er zugleich auf die Disziplinierung des Schülerverhaltens abzielt? Welche Chancen der Empathie beinhaltet die Schlüsselsituation in der Schülerperspektive? Diese Gesprächssituation öffnet den Schüler/innen zweifelsohne Gelegenheit, ihre soziale Wahrnehmung zu erweitern, zu differenzieren und zu verändern. Sie betreten gleichsam einen Resonanzraum, in dem sie sich öffnen können für die anderen, für deren persönliche Mitteilungen und individuelle Lebenswelten. Die Gesprächsteilnehmer/innen können sich öffnen für die Verschiedenheit von beglückenden Erlebnissen zuhause, auf Reisen an fremde Orte, bei Besuchen
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.5 Schlüsselsituation: „Sonnenblume“
359
von Verwandten und Freunden, bei sportlichen Aktivitäten, aber auch für weniger erfreuliche Begebenheiten, die mit Erkrankung, Unglück und menschlichem Leid zu tun haben. Sie können die damit verbundenen Freuden, Aufregungen oder Schmerzen mitempfinden und daran Anteil nehmen. Entscheidend an solchen Gesprächen sollte nicht die ‚televisions-gerechte‘ Präsentation eines Erlebnisses sein, sondern die Beziehung zwischen den Beteiligten, die sich in der Bereitschaft zeigt, „sich einzulassen auf das Andere im Anderen, auf das Fremde, auf das Unbekannte, Geheimnisvolle und Unverständliche …“ (Hartkemeyer 2012, S. 30). Indem sich jemand in den Anderen hineinversetzt, seine Perspektive einnimmt, sich vorstellt, aus dessen Position heraus zu denken und zu handeln wie er, beginnt er, ihn zu respektieren. Respekt ist aktiver als Toleranz. Er versucht gleichsam, eine Weile in ‚seinen Schuhen‘ zu gehen und die Welt aus seiner Perspektive zu sehen und zu erleben. Dabei sind Identifikation und Projektion am Werke. Diese sind wie Offenheit, Sympathie und Großzügigkeit unverzichtbar für ein menschliches Verstehen, das zugleich am Menschen hinter der sprachlichen Mitteilung interessiert ist (vgl. Hartkemeyer 2012, S. 31). Auf diesen grundlegenden mitmenschlichen Erfahrungen von Würde und Respekt beruht unsere Demokratie. Die schulische Erziehung zu einsichtigem, wertorientiertem und verantwortlichem Handeln hat diese humane Basis zur Bedingung und sie muss sie mit den Erziehungspartnern in enger Kooperation und Kommunikation immer wieder herstellen. Diese Aufgabe hat sich gegen die Tendenz zu stellen, dass sich in den Institutionen eher formalisierte Formen der Demokratieeinübung wie Klassenrat oder Streitschlichterprogramme durchsetzen und diese den Schüler/innen gerne überantwortet werden, weil hier ein festes Regelwerk abgearbeitet werden kann. Doch der eigentliche pädagogische Sinn einer echten Partizipation kann nur dann zum Tragen kommen, wenn sie die ‚andere Seite‘ der menschlichen Grundprinzipien verstehen, auf denen diese Formen aufruhen. Vertrauen als Basis pädagogischen Handelns Vertrauen als Basis einer wohlwollenden Atmosphäre kann für diese Schlüsselsituation durchaus in Anspruch genommen werden. Es scheint, dass Frau S. in ihrem Handeln an ein bereits im vorausgegangenen Schuljahr positiv ausgestaltetes Beziehungsnetz anschließen kann. Und dennoch ist zu fragen, worauf sich das wechselseitige Vertrauen von Lehrperson und Schüler/innen bezieht und mit welchen Erwartungen es verbunden ist. Wie lässt sich Vertrauen im Lehrerhandeln wahrnehmen? • Frau S. setzt Vertrauen in die ungebrochene Wirkung ihrer Erziehungsarbeit im vorausgegangenen Schuljahr. Sie kennt offensichtlich ihre Klasse, weiß um die Individualitäten ihrer Schüler/innen. Es gab über die Ferienzeit keine Veränderung in der sozialen Struktur. Dennoch geht sie zu keiner lediglich
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
360
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
organisatorisch geprägten Tagesordnung über. Sie setzt offensichtlich auf individuelle Begegnung in der informellen Begrüßung wie in der Namensnennung später im Kreis. Ist das nicht die Doppelung einer Höflichkeitsgeste? Will sie mehr als Wiedersehensfreude zum Ausdruck bringen? Will sie am ersten Schulteil jede/n Schüler/in einzeln auf die Schülerrolle eines Viertklässlers einschwören? Will sie ihr Vertrauen in die Anstrengungs- und Lernbereitschaft, in die Autonomieentwicklung, in das Erfüllen der neuen Herausforderungen zum Ausdruck bringen? … • In der Gestaltung dieses ersten Schultags nach den Ferien vertraut Frau S. auf bereits etablierte Routinen und soziale Praktiken. Sie als Lehrperson und die Klasse bewegen sich in einem durchgestalteten sozialen Raum, in dem sowohl der/die einzelne Schüler/in wie auch die Klasse aufeinander bezogen sind. Dies wird erlebbar am Beispiel des Gesprächs. Sie vertraut darauf, dass das Klassenleben kontinuierlich auf die längst habituierten sozialen Formen aufbauen kann. Das neue Codewort ‚Sonnenblume‘ wird aus ihrer Sicht die Aufmerksamkeit der Klasse freundlich und zusätzlich in die Pflicht nehmen können. • Da anzunehmen ist, dass u.U. in der Klasse noch weitere Rituale/Regelungen das soziale Miteinander bestimmen, wäre ein Überblick über die Elemente der sozialen Formensprache angebracht. Welche Rituale werden in der Klasse gepflegt? Gibt es auch Rituale der Disziplinierung, der Ordnung, der Leistung, bei Festen? Welche Funktionen erfüllen sie? • Frau S. hält an ihrem bereits praktizierten pädagogischen Konzept fest. Sie vertraut ihrer Überzeugung, dass das Sachlernen und Leisten der Schüler/ innen in gemeinschaftsbildende Aktivitäten eingebettet sein müssen. So führt sie auch im letzten Grundschuljahr ihr pädagogisches Konzept kontinuierlich weiter. Der erste Schultag bietet der Sozialerziehung ebenso Raum wie der dringend gebotenen Lernorganisation, Jahresplanung und dem Sachlernen. Wird Frau S. auch im vierten Schuljahr die Balance zwischen kommunikativsozialerzieherischen und eng unterrichtsbezogenen Aktivitäten aufrechterhalten können? Oder zwingt nicht der befürchtete Leistungs- und Selektionsdruck im Zusammenhang mit der Schullaufbahnentscheidung zu einer rationellen Unterrichtsführung, die auf den ‚pädagogischen Luxus‘ verzichtet bzw. auf die Zeit danach vertagt? Worauf setzen die Schüler/innen ihr Vertrauen? • Die Schüler/innen erleben eine entspannte Willkommenssituation. Sie finden sich nach den langen Ferien in ihrem bereits vertrauten Ambiente als die Größten der Schule wieder. Doch dieser gefühlte Statusgewinn muss sich nun mit realer Erfahrung füllen. Welche Möglichkeiten hat die Lehrerin/die Schule dafür vorgesehen? Mit welchen Anforderungen wird sie die neue Schülerposition verbinden?
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
7.5 Schlüsselsituation: „Sonnenblume“
361
• Bereits im Gespräch über persönliche Erlebnisse werden Schüler/innen darauf vertrauen, dass Frau S. die Vielfalt der persönlichen Beiträge in einem ‚schützenden Raum‘ gelten lässt. Ihre wertschätzende Grundhaltung und Gesprächsatmosphäre kann vor geringschätzigen Bemerkungen und voreiligen Wertungen bewahren. So richtet sich das Vertrauen der Schüler/innen auf ihre Gesprächsführung: Werden die Hilfsimpulse ihrer Lehrerin die Verständlichkeit ihrer Beiträge stützen, die Mitschüler/innen zu Rückfragen und Anmerkungen ermuntern, die Redezeit angemessen dosieren und die Aufmerksamkeitsspannen nicht überstrapazieren? • Wer in eine vierte Klasse aufsteigt, hat bereits eine dreijährige Schülerbiographie mit Höhen und Tiefen, mit Hoffnungen und Enttäuschungen hinter sich. Diese letzte Grundschulklasse kulminiert für die meisten Schüler/innen in der Grundschulempfehlung mit weitreichenden Konsequenzen und Betroffenheiten. Wird nicht da die Lehrerin eher als Entscheiderin über das weitere Schulschicksal gesehen? Vertrauen nicht gerade die Schüler/innen auf ihr ‚mildes‘ Urteil, in dem die erkannten Stärken die Schwächen überwiegen? Werden die mit Lehrerhilfe in Leistungsgesprächen aufgebauten Selbstbilder sich in der Grundschulempfehlung wiederfinden? Das Gewähren von Lernchancen und Lernhilfen In der Gesprächssituation sind zwei Lernperspektiven eng miteinander verbunden: Zum einen geht es um die Aufgabe einer verständlichen Mitteilung eines persönlichen Erlebnisses an die Klassengemeinschaft. Der Gesprächsbeitrag soll aus der individuellen Erfahrungs- und Erlebniswelt während der Sommerferien entnommen sein und auf dialogische Weise so mitgeteilt werden, dass die Zuhörer/innen das Mitgeteilte mit- und nacherleben können. Zum anderen gehört zur Gesprächskultur zugleich eine besondere Verhaltensmöglichkeit der Gesprächsteilnehmer/innen: Von ihnen wird eine ungeteilte Aufmerksamkeit auf die Sprechenden, Bereitschaft zu aktivem Zuhören und besonnenem Reagieren sowie eine gewisse Toleranz gegenüber Unzulänglichkeiten der sprachlichen Mitteilung erwartet. Um dieses Erfordernis von ‚Disziplin‘ für das Gelingen eines Gesprächs anschaulich zu gestalten, wurde das Codewort ‚Sonnenblume‘ in die soziale Formensprache der Klasse aufgenommen. Welche Lernhilfe gewährt die Lehrerin bzw. wofür legt sie Grund? • Frau S. stellt den Schüler/innen einen „Resonanzraum“ (Rosa 2016) zur Verfügung, der von „Anerkennungsbeziehungen“ (Rosa 2016, S. 592) geprägt sein soll: Sich einander zuwenden und öffnen, nicht stumm, sondern „resonant“ aufeinander bezogen sein (Rosa 2016, S. 56). Auf der mikrosozialen Ebene der Schulklasse versucht sie, eine wechselseitige Teilhabe an „Weltbeziehungen“ zu ermöglichen (Rosa 2016, S. 752). Dabei werden Gemeinsamkeiten, Diffe-
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
362
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
renzierungen und Unterschiede erfahrbar. Es liegt wesentlich an der zugewandten Gesprächsleitung der Lehrperson, vertraute, fremdartige, ungewöhnliche Erlebniselemente herauszuheben, ihnen Geltung zu verschaffen, zu gewichten und mit Empathie und Sensibilität zu begegnen. • Gerade weil Rituale, die auf Verhaltenssteuerung zielen, Gefahr laufen, die Form der Sprache und des Gestus wichtiger zu nehmen als den ausgedrückten Inhalt, darf sich das Gespräch mit der Klasse nicht im bloßen Austausch von Belanglosigkeiten und in einer alltagsanalogen Kommunikation „Über Gott und die Welt“ erschöpfen. Die Lehrperson kann die Teilnehmer/innen erfahren lassen, welch weitgespannter Wahrnehmungs- und Erlebnishorizont der Schüler/innen abrufbar ist und welch einer Mannigfaltigkeit an Themen (vgl. Abb. 7.2) sie ihre Aufmerksamkeit widmen können. • Beispielhaft kann die Gesprächsführung der Lehrerin sein: Wie fordert sie zur Teilnahme auf? Wie achtet Sie auf die Nähe und Distanz in der Themenwahl? Wie beachtet sie Rückfragen und Anmerkungen seitens der Schüler/innen? Respektiert auch sie die Gesprächsregeln? • Wie wird sie die inhaltliche und organisatorische Struktur der Gesprächskreise im Laufe des Schuljahrs entwickeln? Werden Gesprächskreise durch andere sozial-erzieherische, demokratiegemäße Einrichtungen (vgl. Klassenrat, Klassenversammlung, Schulversammlung) ergänzt? Welche Lernhilfe brauchen die Schüler/innen? Zweifelsohne agiert die Lehrperson in der Schlüsselsituation dominant. Die Situation ist von ihr so vorgeordnet, dass die Ankommenssituation gelingen kann. Der von ihr bereitete Handlungsrahmen gibt den Ankommenden Sicherheit und Geborgenheit für den Start in das besondere Schuljahr, das auf der Sachebene und im sozialerzieherischen Bereich vielfach herausfordern wird: • Das Gespräch lebt wesentlich von der aktiven Mitwirkung aller Teilnehmenden und von der inhaltlichen Substanz. Bezieht die Lehrerin die Schüler/innen rechtzeitig in die Planung ein, trifft sie Absprachen bezüglich Material, Kooperationsformen, Zeitbudget? Gibt es Planungshilfen? • Bedürfen im Gesprächskreis nicht gerade ‚besondere‘ Schüler/innen der ‚besonderen‘ Unterstützung der Lehrperson? Dies beginnt meist mit der Sitznähe, um unauffällig über diesen engen Bezug die Aufmerksamkeit zu stützen, immer wieder zu stimulieren, zu ermuntern, Rückmeldung zu geben? • Die Einübung in sozial-kommunikative Verhaltensmöglichkeiten, die über diszipliniertes Verhalten hinausreichen, beginnt im frühen Alter und bedarf einer zunehmenden Ausdifferenzierung. Wie kann im Gesprächskreis die Gesprächsführung von den Schüler/innen eingeübt werden (z.B. Übernahme eines thematischen Teils, kooperative Gesprächsführung)? • Wie lässt sich eine Metaebene einziehen, auf der die Schüler/innen das Zusammenspiel von sozial-kommunikativem Verhalten und Gesprächsinhalt reflektieren können?
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
„Das fand ich echt interessant …“ Die Fragen an die Welt gelten als Ausdruck von Weltbeziehung. Über etwas staunen, etwas verstehen wollen, nachfragen, Antworten finden, z.B.: – Wo auf der Erde gibt es am meisten Erdbeben und warum? – Warum können Bienen in der Stadt leben? – Warum wird im Internet eingekauft?
„Das würde mich interessieren …“ In den Fragen an die Welt gelten als Ausdruck von Weltbeziehung. Über etwas staunen, etwas verstehen wollen, nachfragen, Antworten finden, z.B.: – Wo auf der Erde gibt es am meisten Erdbeben und warum? – Warum können Bienen in der Stadt leben? – Warum kaufen so viele Menschen im Internet ein?
„Da kenne ich mich aus …“ Bereits junge Schüler/innen verfügen über Expertisen, die sie in der Familie oder im außerschulischen Bereich gewonnen haben. Kostproben davon können sein, z.B.: – einen Zaubertrick zeigen, – die Herstellungsschritte eines Werkstücks erklären und anlei-ten, – einen im Ersthilfekurs erlernten Notverband nach einem Armbruch anlegen, – ein entstehendes Sammelalbum zeigen und erklären.
„Den Gesprächskreis fand ich im letzten Schuljahr am allerbesten …“
„Was gibt es Neues?“ „Das verraten wir erst allen im Morgenkreis!“ So werden oft brisante Mitteilungen ‚vertröstet‘. Hier ist das geeignete Forum, wo aktuelle Ereignisse, verblüffende Entwick-lungen, emotionale Betroffenheit, wichtige Ereignisse für einzelne oder die ganze Klasse ins Bewusstsein gerückt werden, z.B. – die Ergebnisse des Malwettbewerbs werden bekannt gegeben, – ein eingeladener Buchautor hat geantwortet, – die Mensa hat den Mittagstisch verändert.
„Bücherwürmer unter sich“ „So jetzt geht’s noch in unserem Buch weiter!“ Diese Ankündigung verspricht die Fortsetzung des gemeinsam ausgewählten Vorlesebuches: Der vorlesenden Lehrerin oder Mitschülerin ein-fach zuhören, den roten Faden wieder aufnehmen und sich in das imaginierten Geschehen der Lektüre entführen lassen, ohne dass ein anschließendes Arbeitsblatt oder eine Lernzielkontrolle den kognitiven Zugewinn fest-stellen wird. Die Beobachtung zeigt, dass Leistungsschwächere wie Leistungsstärkere diese Phase als Entspannung empfinden, in der sie für das unterrichtliche Lernen Kräfte sammeln können
„Sich Sammeln - Rhythmik- Musik – Singen“ Auch wenn der Gesprächskreis im zentralen Medium der Sprache erfolgt, so kann er nonverbale Formen einbeziehen. Um die Klasse zu sammeln und innerlich zur Ruhe zu bringen, werden die Sinne bewusst angesprochen, z.B.: – rhythmische Strukturen sind: klar rhythmisierte Melodie, vorgeklatscher Rhythmus, rhythmischer gesprochener Sprechvers, rhythmische Bewe-gungen ziehen die Schüler/innen in einen Rhythmus hinein und regen zum Nach- und Mitmachen an; – visuell-motorische Übungen („Wer ist der Dirigent?“) beruhen auf genauer Beobachtung und Nachahmung; – pantomimische Übungen, in denen Dialoge in Zeichensprache geführt werden, fordern zum genauen Verfolgen einer Handlung, deren Ergebnis unbekannt ist, heraus; – Blicke, Körperkontakt, verdeckte Weitergabe eines kleinen Gegenstands können Geborgenheit vermitteln.
363
Abbildung 7.2: Themenfelder regelmäßiger Gesprächskreise (E. Röbe)
„Nachdenkliches und Nachdenken“ „Warum kann der Krieg in Syrien nicht aufhören? – Was ist nach dem Tod? – Gibt es Wunder? – Warum gibt es im Internet Mobbing? - Warum gibt es in manchen Ländern Kinderarbeit?“ – Warum ist die Verteilung von Reichtum so ungerecht? Solche Fragen zeigen die andere Seite des oft heiter beschwingten Zusammenseins im Kreis. Sie verbreiten Ernst und zeigen philosophische Tiefe. Dabei verset-zen sie die Lehrperson meist selbst in die Position des Antwortsuchenden und fordern von ihm eine Selbstvergewisserung seiner existentiellen Grundlagen und Wertorientierungen.
7.5 Schlüsselsituation: „Sonnenblume“
„Stellt euch vor, ich …“ So beginnen meist Berichte, in denen der Klasse Ereignisse aus dem privaten Bereich mitgeteilt werden, z.B.: – die neue Zahnspange, – endlich ein Haustier bekommen, – jetzt kann ich den Spagat zeigen, – mein großer Bruder hat mich in die Kletterhalle mitgenommen.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
364
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
• Beispiel: Da wohl im Klassenzimmer Videoaufnahmen und ihre Analyse zu aufwändig wären, könnte u.U. die Selbstbeobachtung mit Hilfe einer geteilten Klasse in eine Beobachter- und Akteursgruppe realisiert werden: Die Akteursgruppe agiert mit der Lehrerin im Innenkreis. Die Beobachtergruppe formiert einen Außenkreis und verfolgt das Geschehen aufmerksam. Danach berichtet die Außengruppe über ihre Eindrücke sowohl zum Verhalten der Teilnehmer/ innen als auch zu den Inhalten. Es werden Verbesserungsmöglichkeiten formuliert und erprobt, wobei die Beobachter- und Akteursgruppe wechselt. In einer Klasse wurde diese Metasitzung ‚Aquarium‘ genannt.11 • Die Aufgabe der Gesprächsführung ist wegen der geforderten Offenheit, der Spontaneität und dem ‚fine tuning‘ der Reaktionsweisen äußerst anspruchsvoll. Dies mag auch ein Grund sein, weshalb die leichter formalisierbaren Formen (vgl. Klassenrat, Streitschlichter, Klassen- und Schulversammlung) eher in das Klassen- und Schulleben Eingang finden und die Gesprächskultur in der Schule bestimmen. Die Lehrperson als die eindrücklichste Lernhilfe Zweifelsohne begegnet uns in der Schlüsselsituation eine Lehrperson, die ihre Klasse zugewandt, freundlich und positiv gestimmt nach den Sommerferien in Empfang nimmt. Sie konnte offensichtlich die bürokratisch-organisatorischen Notwendigkeiten so erledigen, dass sie unverstellt und ohne Nebenbeanspruchung den Schüler/innen entgegentreten konnte. Dabei gibt sie jedem einzelnen das Gefühl, willkommen und für sie wichtig zu sein. Sie zeigt dies in ihrem freundlichen Begrüßungsgestus und in der persönlichen Ansprache. Die von ihr bereits installierte ‚Ordnungsgestalt‘ des Klassenlebens konnte nach wochenlanger zeitlicher Unterbrechung wie selbstverständlich wirksam werden. Offensichtlich konnte sie die darin enthaltenen Ordnungsformen transparent, einsichtig und sinnhaft grundlegen, so dass die Schüler/innen diese als gesicherte Verhaltensdispositionen abrufen konnten. Im persönlichen Gespräch bekannte Frau S., wie sehr sie sich auf die Rückkehr in die Schule gefreut hatte. „Endlich wieder! Wie war ich neugierig auf jeden. Manche verändern sich ja auch in den langen Wochen. Sie erleben viel und nicht nur schöne Dinge. Ich will, dass sie mit Lust das neue Schuljahr anfangen und das Gefühl haben, wir schaffen alles, was auf uns so zukommt!“ Dieses freudige Gefühl findet einen augenfälligen Ausdruck im Vergleich der Kindergesichter mit Sonnenblumen. Welch eine eindrückliche Metapher ihrer
11 Vgl. Bergk, Marion (1996): Auf dem Weg zu einer demokratischen Gesprächskultur. In: Röbe, Edeltraud/Ramseger, Jörg (Hrsg.)(1996): Grundschule als Schule der Demokratie. Themenheft der Die Grundschulzeitschrift. 10. Jahrgang, Heft 100, S. 14-17. (www.utb-shop.de/9783825251130)
Literatur
365
Ferienerinnerung, in der sie ihre Beziehung zu den Schüler/innen zu fassen und in ihre Erziehungsarbeit zu integrieren versteht!
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Literatur Bartmann, Sylke/Fabel-Lamla, Melanie/Pfaff, Nicole/Welter, Nicole (Hrsg.) (2014): Vertrauen in der erziehungswissenschaftlichen Forschung. Opladen. Bastian, Johannes (1995): Lernziel: Verantwortung. Themenheft. Pädagogik 47. Jg., Heft 7/8. Bergmann, Wolfgang (2011): Lasst eure Kinder in Ruhe! Gegen den Förderwahn in der Erziehung. München. Bernfeld, Siegfried (1925/1967): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt a.M.(Reprint). Beutel, Wolfgang (Hrsg.) (2017): Demokratie leben und lernen. Themenheft der Die Grundschulzeitschrift. Jg. 31, Heft 302. Breidenstein, Georg (2007): Teilnahme am Unterricht. Wiesbaden. Combe, Arno/Helsper, Werner (20168): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt a.M. De Boer, Heike/Deckert-Peaceman, Heike (Hrsg.) (2009): Kinder in der Schule. Zwischen Gleichaltrigenkultur und schulischer Ordnung. Wiesbaden. Dehn, Mechthild (1994): Schlüsselszenen zum Schriftspracherwerb. Weinheim und Basel 1994. Dehn, Mechthild (2013): Zeit für Schrift. Berlin. Fabel-Lamla, Melanie/Welter, Nicole (2012): Vertrauen in der erziehungswissenschaftlichen Forschung. In: Zeitschrift für Pädagogik. 58. Jahrgang. Heft 6. März/April, S. 769-771. Felten, Michael (2013): Unterricht – das unterschätzte emotionale Feld. In: Krautz, Jochen/Schieren, Jost (Hrsg.): Persönlichkeit und Beziehung als Grundlage der Pädagogik. Weinheim und Basel, S. 220-229. Flitner, Andreas (1982): Konrad, sprach die Frau Mama … Über Erziehung und Nicht-Erziehung. Berlin. Flitner, Andreas (1985): Gerechtigkeit als Problem der Schule und als Thema der Bildungsreform. In: Zeitschrift für Pädagogik, 31. Jg., Heft 1, S. 1-26. Fowlkes, M. A.: Roots of Ritual in Social Interactive Episodes. In: Religious Education. Volume 84, Nr. 3, Summer 1989, p. 338-348. Fuchs, Thomas (2013): Interpersonalität – Grundlage der Entwicklung von Geist und Gehirn. In: Krautz, Jochen/Schieren, Jost (Hrsg.): Persönlichkeit und Beziehung als Grundlage der Pädagogik. Weinheim und Basel, S. 29-44. Gysin, Birgit (2017): Lerndialoge von Kindern in einem jahrgangsgemischten Anfangsunterricht Mathematik. Chancen für eine mathematische Grundbildung. Münster – New York.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
366
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
Hammes-Di Bernardo, Eva/Speck-Hamdan, Angelika (2010): Kinder brauchen Kinder. Berlin und Weimar. Hartkemeyer, Martina (2012): Verstehen verändert. Oder: Warum überhaupt Dialog? In: Förster, Charis/Hammes-Di Bernardo/Wünsche, Michael (Hrsg.): Dialog gestalten. Kommunikation im pädagogischen Kontext. Weimar – Berlin, S. 24-38. Häussler, M (2000): Heilpädagogische Haltung. Zur aktuellen Bedeutung eines traditionsreichen Begriffs. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 51. Jg., Heft 8, S. 327-334. Heid, Helmut (2013): Werteerziehung – ohne Werte!? Beitrag zur Erörterung ihrer Voraussetzungen. In: Zeitschrift für Pädagogik. 59. Jahrgang. Heft 2. März/April, S. 238-257. Herwig, Dagmar (1984): Gleichbehandlung und Egalisierung als konkurrierende Modelle von Gerechtigkeit: Eine systematische Analyse, München. Hübner, Edwin/ Weiss, Leonhard (Hrsg.)(2017): Personalität in Schule und Lehrerbildung. Perspektiven in Zeiten der Ökonomisierung und Digitalisierung. Opladen-Berlin-Toronto. Ingenkamp, Karlheinz (1989): Diagnostik in der Schule. Beiträge zu Schlüsselfragen der Schülerbeurteilung. Weinheim/Basel. Jonas, Hans (1986): Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt a.M. Krautz, Jochen/Schieren, Jost (Hrsg.) (2013): Persönlichkeit und Beziehung als Grundlage der Pädagogik. Weinheim und Basel. Krebs, Angelika (2000): Einleitung; Die neue Egalitarismuskritik im Überblick. In Krebs, Angelika (Hrsg.): Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik. Frankfurt am Main. Lichtenstein-Rother, Ilse (Hrsg.) (1992): Erziehung als Aufgabe und Auftrag. Donauwörth. Lichtenstein-Rother, Ilse/Röbe, Edeltraud (2005): Grundschule – Der pädagogische Raum für Grundlegung der Bildung. Weinheim und Basel. Liegle, Ludwig (2006): Bildung und Erziehung in früher Kindheit. Stuttgart. Liegle, Ludwig (2013): Erziehung und Bildung kleiner Kinder. Ein dialogischer Ansatz. Stuttgart. Loch, Werner (Hrsg.) (1978): Modelle pädagogischen Verstehens. Essen, S. 560585. Loebell, Peter/Schuberth, Ernst (Hrsg.)(2012): Menschlichkeit in Pädagogik und Erziehungswissenschaft. Eine Herausforderung. Bad Heilbrunn. Moosecker, Jürgen (2018): Heil- und sonderpädagogische „Haltung“. In: spuren – Sonderpädagogik in Bayern. 60. Jg., Heft 2, S. 6-14. Parfit, Derek (2000): Die Gleichheit und Vorrangigkeit. In Krebs, Angelika: (Hrsg.): Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik Frankfurt am Main, S. 81-106. Rawls John (1972): Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Literatur
367
Reh, Sabine/Rabenstein, Kerstin (2013): Die soziale Konstitution des Unterrichts in pädagogischen Praktiken und die Potentiale qualitativer Unterrichtsforschung. In: Zeitschrift für Pädagogik, 59. Jg., Heft 3, S. 291-307. Reinhard, Rebekka/Vasek, Thomas/Hürter, Tobias (2017): Worauf wir bauen können. In: HOHE LUFT. Philosophie-Zeitschrift, Ausgabe 3, S. 19-25. Rittelmeyer, Christian (2014): Aisthesis. Zur Bedeutung von Körper-Resonanzen für die ästhetische Bildung. München 2014. Röbe, Edeltraud (1990): Rituale – Schule, wie sie wirklich ist. In. Die Grundschulzeitschrift. 4. Jg., Heft 33, S. 4-11. Röbe, Edeltraud/Ramseger, Jörg (Hrsg.)(1996): Grundschule als Schule der Demokratie. Themenheft der Die Grundschulzeitschrift. 10. Jahrgang, Heft 100. Röbe, Edeltraud (2012): Die Kinderperspektive als Dimension elementarpädagogischer Forschung. In: Kägi, Sylvia/Stenger, Ursula (Hrsg.): Forschung in der Frühpädagogik. Hohengehren, S. 13-35. Röbe, Edeltraud (2015): Auf die Haltung kommt es an. In: Rauterberg, Marcus (Hrsg.): Resonanzen im Elementar- und Primarbereich. In: www.widerstreitsachunterricht.de, Beiheft 10, S. 15-32. Röbe, Edeltraud (2017): Die Aufgabe als Brücke zur Welt. In: Krautz, Jochen (Hg.): Beziehungsweisen und Bezogenheiten. Relationalität in Pädagogik, Kunst und Kunstpädagogik. München, S. 257-273. Rosa, Hartmut (2016): RESONANZ – eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin, 4. Auflage. Roth, Gerhard (2011): Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Stuttgart: Klett. Schlömerkemper, Jörg (2002): Leistungsmessung und Professionalität des Lehrerberufs. In: Weiner, Franz E. (Hrsg.): Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim und Basel, 2. Auflage, S. 311-322. Schramme, Thomas (2003): Die Anmaßung der Gleichheitsvoraussetzung. Die Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 51, S. 255-273. Sliwka, Anne (2018): Pädagogik der Jugendphase. Wie Jugendliche engagiert lernen. Weinheim und Basel. Steffensky, Fulbert (2001): Feier des Lebens. Spiritualität im Schulalltag. Stuttgart. Strobel-Eisele, Gabriele/Roth, Gabriele (Hrsg.) (2014): Grenzen beim Erziehen. Nähe und Distanz in pädagogischen Bezie-hungen. Stuttgart. Terhart, Ewald (1998): Lehrerberuf: Arbeitsplatz, Biographie, Profession. In: Altrichter, Herbert/ Schley, Winfried/ Schratz, Michael (Hrsg.) Handbuch der Schulentwicklung. Band 1. Innsbruck. Thurn, Susanne (Hrsg.) (2014): Schülerinnen und Schüler beteiligen. In: PÄDAGOGIK. 66. Jg., Heft 11, S. 5-37. Winkel, Rainer (2011): Der gestörte Unterricht. Diagnostische und therapeutische Möglichkeiten. Baltmannsweiler.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
368
7. Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns
Winkler, Michael (2006): Bildung mag zwar die Antwort sein – das Problem aber ist die Erziehung. In. Zeitschrift für Sozialpädagogik. 4. Jg., Heft 2, S. 182-201. Winterhager-Schmid, Luise (2002): Die Beschleunigung der Kindheit. In: Datler, Wilfried/Eggert-Schmid Noerr, Annelinde/Winterhager-Schmid Luise (Hrsg.): Das selbständige Kind. Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik. 12. Gießen, S. 15-31. Winterhoff, Michael (2014): Lasst Kinder wieder Kinder sein! Oder: Die Rückkehr zur Intuition. München. Zeitschrift für Pädagogik (2013) Themenheft: Bildung und Bindung – verbindende und ambivalente Aspekte. 59. Jg. Heft 6.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:10 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1.1: Doppelfunktion des Bildungswesens. In: Fend, H. (2006): Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen. Wiesbaden, S.54. Abbildung 1.2: Auszug aus der Folie. In: Nassehi, A. (2011): Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen. 2. Auflage. Wiesbaden, S.51. Abbildung 1.3: Die Schule im föderalen Staat. In: Aicher-Jakob, M. (2015): Das Verhältnis von Kindergarten und Schule – ein chronischer Disput. Eine empirisch fundierte Studie zur Implementierung des Orientierungsplans in badenwürttembergischen Kindertagesstätten. Bad Heilbrunn, S.104. Abbildung 1.4: Belastungsrelevante Faktoren (nach B. Rudow). In.: Rudow, B. (1994): Die Arbeit des Lehrers: zur Psychologie der Lehrertätigkeit, Lehrerbelastung und Lehrergesundheit. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle, S.28. Abbildung 2.1: Hans Holbein d. J. (1524): Schrift von Martin Luthers an die Ratsherren aller Städte Deutschlands (Holzschnitt): In: Schiffler, H./Winkeler, R. (1985): Tausend Jahre Schule. Eine Kulturgeschichte des Lernens in Bildern. Stuttgart – Zürich, S.63. Abbildung 2.2: Johann M. Voltz (1823): Die Bürgerschule. In: Schiffler, H./Winkeler, R. (1985): Tausend Jahre Schule. Eine Kulturgeschichte des Lernens in Bildern. Stuttgart – Zürich, S. 102. Abbildung 2.3: Albrecht Anker (1896): Dorfschule von 1848. In: Schiffler, H./ Winkeler, R. (1985): Tausend Jahre Schule. Eine Kulturgeschichte des Lernens in Bildern. Stuttgart – Zürich, S. 101. Abbildung 2.4a und 2.4b: Nomadenkinder in der Mongolei. In: Laffon, Martine und Caroline (2003): Kinder in den Kulturen der Welt. Hildesheim: Gerstenberg, S. 176. Abbildung 2.5: Die Lehrerin stellt einen Sachverhalt der Klasse dar. Internet: https://www.uni-potsdam.de/de/zessko/service/nachrichten-archiv/archiv2016.html Abbildung 2.6: Die Schüler/innen bearbeiten eine Aufgabe in der Gruppe. Internet: https://www.uni-potsdam.de/de/zessko/service/nachrichten-archiv/archiv2016.html Abbildung 2.7: Die Klasse stimmt sich im Morgenkreis auf den Schultag ein. In: John, Gisela/ Frommer, Helmut/Fauser, Peter (Hrsg.) (2008): Ein neuer Jenaplan. Befreiung zum Lernen. Seelze-Velber, S. 42. Abbildung 2.8: Freie Aktivitäten erlauben eine eigenständige Aufgabenfindung. In: Schratz, M./ Pant, H. A./ Wischer, B. (Hrsg.) (2014): Was für Schulen! Leistung sichtbar machen – Beispiele guter Praxis. Deutscher Schulpreis 2014. Seelze, S.36.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
370
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2.9: Diese Weste finden nicht alle toll. In: Augsburger Allgemeine, 16.01.2018, S. 25 (Kinderseite). Abbildung 2.10: Wenn Kinder zu Stadtführern werden. In: Augsburger Allgemeine, 28.06.2018, S. 14. Abbildung 2.11: Fledermäuse im grünen Klassenzimmer. In: Augsburger Allgemeine, 28.06.2018, S. 20. Abbildung 3.1: Reform der Grundschullehrerausbildung am Beispiel des Bundeslandes Baden-Württemberg (A. Seifert). Abbildung 3.2: Stundentafel für die Grundschule, Bundesland Freistaat Bayern (2019). Internet: https://www.isb.bayern.de/grundschule/faecher/stundentafel-faecher-in-der-grundschule/ Abbildung 3.3: Kontingentstundentafel für das Gymnasium, Bundesland BadenWürttemberg (2019). Internet: https://www.km-bw.de/,Lde/Startseite/Schule/Faecher+und+Kontingentstundentafel Abbildung 3.4: Stundenplan einer Ganztagsgrundschulklasse, Grundschule Kölln Bickendorf, Klasse 3b. Abbildung 3.5: Das Schulhaus im Baustil einer Kaserne. Internet: https://blog. bazonline.ch/schlaglicht/index.php/4836/das-kasernenareal-ist-keine-abstellkammer/ Abbildung 3.6: Standardsitzordnung Klassenzimmer, Sekundarbereich. Internet: https://www.google.ch/search?hl=de&tbm=isch&source=hp&biw=1920&bih =963&ei=e-XCW9mKGYaxkwWG0bLIBg&q=Sitzordnung+Klassenzimmer& oq=Sitzordnung+Klassenzimmer&gs_l=img.3..0l3.3561.15308.0.15457.31.9.2. 20.18.0.99.674.9.9.0....0...1ac.1.64.img..0.26.917....0.JxaSQxcU-HU Abbildung 3.7: Anordnung der Tische in einem ‚Hufeisen‘ (M. Aicher-Jakob). Abbildung 3.8: Klassenraumgestaltung Konzept ‚Bewegtes Klassenzimmer‘, Schule Silberwald, Klasse 1, (D. Kolass/2006). Abbildung 4.1: Erwartungsvoller Schulstart. In: Die ZEIT (1998) Jg. 53, Nr. 33, S. 1 (Beitrag von Susanne Etzold: Fit für die Zukunft). Abbildung 4.2: C. Freinet: Wochenarbeitsplan eines Schülers mit Leistungskurve. In: Röbe, Edeltraud (1980): Förderung bewussten Lernens und Leistens in Freinet-Klassen. In: Lichtenstein-Rother, Ilse: Jedem Kind seine Chance. Freiburg i.B.: Herder, S. 95. Abbildung 4.3: C. Feinet: „BREVET D’EXPLOITEUR“ – Die Fähigkeitsbescheinigung. In: Röbe, Edeltraud (1980): Förderung bewussten Lernens und Leistens in Freinet-Klassen. In: Lichtenstein-Rother, Ilse: Jedem Kind seine Chance. Freiburg i.B.: Herder, S. 97. Abbildung 4.4: Länderwettkampf um Rechtschreib-Kenntnisse der Viertklässler. In: Augsburger Allgemeine, 14.10.2017, Titelseite. Abbildung 4.5: Gesellschaftlicher und pädagogischer Leistungsbegriff (E. Röbe 2019). Abbildung 4.6: Adjektive stehen oft zwischen Artikel und Nomen. Schülerarbeit 4. Schuljahr: Aus: Materialsammlung E. Röbe.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Abbildungsverzeichnis
371
Abbildung 4.7: Ein Schulvormittag im Rückblick. Eintrag ins Lerntagebuch. Schülerarbeit 6. Schuljahr. Aus: Materialsammlung E. Röbe. Abbildung 4.8: Erleben von Leistungsschwäche dem Lerntagebuch anvertraut. In: Braun, Karin (2012): Liebes Tagebuch, ich habe eine Frage … In: Becker, Kai/von der Groeben, Annemarie/Lenzen, Klaus-Dieter/Winter, Felix (Hrsg.): Leistung sehen, fördern, werten. Tagungsdokumentation. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 85. Abbildung 4.9: Große Zahlen können faszinieren. Schülerarbeit. 3. Schuljahr. In: Ruf, Urs/Gallin, Peter (1995): Ich mache das so! Wie machst du es? Das machen wir ab. Sprache und Mathematik. 1.-3. Schuljahr. Zürich: Interkantonale Lehrmittelzentrale, S. 114. Abbbildung 4.10: Eine Fortsetzungsgeschichte entsteht. Schülerarbeit. 2. Schuljahr. In: Fabricius-Schmidt, Sandra (2011): Lerntagebuch: Einfach und praktisch. In: Die Grundschulzeitschrift, Heft 244, S. 31. Abbildung 4.11: So kann ich Verben beweisen. Schülerarbeit. 4. Schuljahr. Aus: Materialsammlung E. Röbe. Abbildung 4.12: Teambezogene Beurteilung einer Portfoliomappe. In: Schönknecht, Gudrun/Ederer, Bianca/Klenk, Gabriele (2006): Sachunterricht. Pädagogische Leistungskultur: Materialien für Klasse 3 und 4. Grundschulverband. Arbeitskreis Grundschule e.V. Frankfurt/Main, S. 31 [leicht verändert E. Röbe]. Abbildung 13a und 13b: Selbstprüfaufgaben aus dem Englischunterricht (7. Schuljahr). Stuttgart: Klett. Abbildung 14a und 14b: Selbsteinschätzungsbogen einer Erstklässlerin. Materialsammlung E. Röbe. Abbildung 15a und. 15b: Vorbereitung des Lern- und Entwicklungsgesprächs durch die Lehrerin. Materialsammlung E. Röbe. Abbildung 16a und 16b: Schulbericht 1. Schuljahr. Materialsammlung E. Röbe. Abbildung 17a und 17b: Jahreszeugnis 2. Schuljahr. Schulbericht mit Ziffernnoten ergänzt. Materialsammlung E. Röbe. Abbildung 18a und 18b: Übertrittszeugnis mit Schullaufbahnempfehlung 4. Schuljahr. Materialsammlung E. Röbe. Abbildung 4.19: Jahreszeugnis 9. Klasse Realschule. Materialsammlung M. Aicher-Jakob. Abbildung 4.20: Regelmäßiger ‚Kontoauszug‘ als Überblick über die Notenentwicklung (5. Klasse). Materialsammlung E. Röbe. Abbildung 4.21: Komponenten von Sprachbildung und Sprachförderung (E. Röbe) Abbildung 4.22: Vernetzte Arbeitsbereiche im kompetenzorientierten Deutschunterricht der Grundschule (E. Röbe) Abbildung 5.1: Das Angebot-Nutzungs-Modell nach A. Helmke. In: Helmke, A. (2007): Guter Unterricht – nur ein Angebot? Ein Interview mit dem Unterrichtsforscher Andreas Helmke. In: Meyer, H. / Terhart, E.: Friedrich Jahresheft 2007, S.65.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
372
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 5.2: „Das leselustige Kindsmädchen“ von Heinrich Jenny. Originalausgabe des Postheiri Nr. 18 vom 2.5.1863. Abbildung 5.3: Hanns Guck-in-die-Luft. In: Hoffmann, H. (1845): Der Struwwelpeter. Köln. Abbildung 5.4: Schulkinder heute (M. Aicher-Jakob). Abbildung 5.5.: Modell der Gesellschaft Informatik e.V. (leicht verändert M. Aicher-Jakob) nach der Dagstuhl-Erklärung 2016. Abbildung 5.6: Tafelbild im 1. Schuljahr. Materialsammlung M. Aicher-Jakob. Abbildung 5.7: strukturierter Tafelaufschrieb im Fach Englisch für Klassenstufe 8. Materialsammlung M. Aicher-Jakob. Abbildung 5.8: Handgefertigtes Tafelbild von Till Walther. Internet: http://www. till-walther.de/ Abbildung 7.1: Dimensionen demokratischer Schulkultur (E. Röbe) Abbildung 7.2: Themenfelder regelmäßiger Gesprächskreise (E. Röbe)
Verzeichnis der Online-Zusatzmaterialien
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Die Onlinematerialien sind unter www.utb-shop.de/9783825251130 kostenlos zugänglich. Sie befinden sich unten auf der Seite unter „Zusatzmaterialien“. Kapitel 1: Der Arbeitsplatz Schule – ein institutionell geprägter Ort in der Gesellschaft S. 30 S. 32
S. 34
S. 43
Checkliste für Berufsanfänger/innen. Texte zu den Arbeitsaufgaben: • Richter, Dirk/Pant, Hans Anand (2016): Lehrerkooperation in Deutschland. Eine Studie zu kooperativen Arbeitsbeziehungen bei Lehrkräften der Sekundarstufe I. https://www.telekomstiftung.de/sites/default/files/files/media/publications/studie_lehrerkooperation_in_deutschland_1.pdf • Trumpa, Silke/Franz, Eva-Kristina/Greiten, Silvia (2016): Forschungsbefunde zur Kooperation von Lehrkräften. Ein narratives Review. In: Die Deutsche Schule, Jg. 108, Heft 1, S. 80-92. https://www.waxmann.com/index.php?eID=download&id_artikel= ART101860&uid=frei • Bastian, Johannes/Seydel, Otto (2010): Teamarbeit und Unterrichtsentwicklung. Klärungen der Grundlagen und Hilfen für die Praxis. In: PÄDAGOGIK: Teamarbeit und Unterrichtsentwicklung. Jg.62, Heft 1, S. 6-9. Huber, Stephan (2014): Was ist eine gute Schulleitung? Was zeichnet einen guten Schulleiter, eine wirksame Schulleiterin aus? In: Beruf: Schulleitung, Schule & Schulträger. Wege zur gelingenden Kooperation. 8. Jg., Heft 1, S. 32-33. Studientexte zur Bildungskatastrophe: • Picht, Georg (1964): Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation. Olten und Freiburg im Breisgau, S.16-64. • Gronwald, Silke/Güßgen, Florian (2018): Wer füllt diese Lücke? In: Wochenzeitschrift Stern (6.9.2018), S. 36-44.
374
Verzeichnis der Online-Zusatzmaterialien
Kapitel 2: Arbeitsplatz Klassenzimmer – Unterricht
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
S. 95
Unterrichtsbeispiel: Kaufmann Vocke. In: Lichtenstein-Rother, Ilse (überarb. 19697): Pädagogik und Didaktik der ersten beiden Schuljahre. Frankfurt a.M.-Berlin-Bonn-München. (Erstfassung 1954), S. 170-175. S. 97 Unterrichtsbeispiel: Einkaufen. (Wirtschafts- und Soziallehre). In: Geiling, H. (Hrsg.): GRUNDSCHULE. Bd. 3: Sachunterricht (Sozial- und Wirtschaftslehre – Biologie Sexualerziehung). München 1972, S. 30, 44 und 45. S. 109 Projektentwurf Sachunterricht: „Einkaufen im Supermarkt“ (E. Röbe 2019) Weitere Unterrichtsbeispiele: Deutsch: • Texte verfassen (3. Jgst.): „Wir erfinden einen Wohnort und schreiben unser eigenes Buchkapitel“ (Lernbereich Texte verfassen) im Anschluss an die Lektüre des Kinderbuchs „Warum wir vor der Stadt wohnen“ (Peter Stamm/Jutta Bauer). Idee und Ausführung: Anja Benzschawel • Textideen in Sprache fassen und inszenieren (3./4. Jgst.): „Fantastische Pausenhofgeschichten. Medial gestützte Umsetzung selbst erfundener, erzählter und gespielter Geschichten. Idee und Ausführung: Julia Greisel • Einen Text planen, schreiben und Gestaltungselemente nutzen (3./4. Jgst.): „Her mit den Prinzen!“ (Märchenbuch von Heinz Janisch/Birgit Antoni). Idee und Ausführung: Jessica Sauer Sachunterricht: • Sachunterricht (3. Jgst.): „Warum bleibt die Klette hängen?“ Von der Natur abgeschaut (Bionik). Idee und Ausführung: Stefanie Dotzauer • Sachunterricht (3. Jgst.): „Wir betrachten das Auge und erstellen eine Sachzeichnung“. Idee und Ausführung: Anja Benzschawel • Sachunterricht (3./4. Jgst.): „Ich finde heraus, warum der Fuß der Stockente besonders gut zum Schwimmen geeignet ist“. Idee und Ausführung: Jessica Sauer
Verzeichnis der Online-Zusatzmaterialien
375
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Musik: • Einführung eines Kinderliedes (4. Jgst.): „Raumstation 1-0-7“ v. Elke Wörndle. Idee und Ausführung: Johannes Schneider Sport: • „Das Dribbling im Fußball – Förderung einer Basistechnik“ (3.Jgst.) Idee und Ausführung: Anja Benzschawel Kapitel 3: Gewinnen des Berufsprofils – eine permanente Herausforderung S. 135
Material zur Arbeitsaufgabe: • Stundenplan aus der Perspektive des Lehrers Walter J., 9. Klasse Realschule • Stundenplan aus der Perspektive der Klasse 9 b • Weiteres Material: Eikenbusch, Gerhard (2019): Sind Präsenzzeiten und Vierzig-Stunden-Wochen besser? Lehrerarbeitszeitregelungen in Schweden und ihre Wirkungen. In: PÄDAGOGIK 71. Jg., Heft, S. 4246. S. 146 Material und Aufgabe zu Sitzordnungen: • Raumskizzen • Vertiefende Texte: – Raumbildung: https://schulen-planen-und-bauen.de/wp-content/ uploads/2017/12/171201_RaumBildung4.pdf (Stand: 13.3.19) – Gestaltung von Schulbauten. Ein Diskussionsbeitrag aus erziehungswissenschaftlicher Sicht mit Beiträgen von Prof. Christian Rittelmeyer zum Thema Schularchitektur https://docplayer.org/12337813-Gestaltung-von-schulbauten.html (Stand: 13.3.19) S. 151 Material und Aufgabe zur Raumstruktur: • Raumskizzen (siehe S. 146) Kapitel 4: Leistungen beachten, bewerten, beurteilen S. 171
Weiterführender Text: Röbe, Edeltraud (1980): Förderung bewussten Lernens und Leistens in Freinet-Klassen. In: Lichtenstein-Rother, Ilse: Jedem Kind seine Chance. Individuelle Förderung in der Schule. Freiburg-Basel-Wien: Herder, S. 76-98.
376
Verzeichnis der Online-Zusatzmaterialien
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
S. 205 Beispiele für Leistungserhebungen und Förderansätze: Beispiel 1: Grundaufgaben im Schriftspracherwerb Beispiel 2: Richtigschreiben (3. Schuljahr) Beispiel 3: Lesen (4. Schuljahr) Beispiel 4: Texte verfassen (2. Schuljahr) Beispiel 5: Sprache untersuchen (4. Schuljahr) S. 224 Weiterführender Text: Röbe, Edeltraud (2019): Sprachbildung als gemeinsame Aufgabe von Kindergarten und Grundschule. Worüber sich Kindergarten und Grundschule verständigen sollten. Kapitel 5: Vermeintliche Nebensächlichkeiten im Handlungsspektrum der Lehrperson S. 269 Text zur Arbeitsaufgabe: Irion, Thomas/Eikelmann, Birgit (2018): Digitale Bildung in der Grundschule: 7 Handlungsansätze. In: Die Grundschule (2018): Keine Angst vor Tablet und Co. Heft 7, S. 6-12. Kapitel 6: Entwickeln der Lehrerpersönlichkeit – trotz gegebener Spannungsverhältnisse S. 298 Text zur Arbeitsaufgabe: Röbe, Heinrich (2009): Im „Beziehungsgewitter“. Zum Spannungsfeld von Person und Profession im Beziehungsgeschehen zwischen Lehrer und Schüler. In: Feindt, Andreas/Klaffke, Thomas/Röbe, Edeltraud/ Rothland, Martin/Terhart, Ewald/Tillmann, Klaus-Jürgen (Hrsg.): Lehrerarbeit – Lehrer sein. Friedrich Jahresheft 2010. Seelze, S. 23-25. S. 303 Text zur Arbeitsaufgabe: Röbe, Edeltraud (2005): Klassengemeinschaft (Einführung in das Themenheft). In: Die Grundschulzeitschrift, 19 Jg., H. 190, S. 6-13. Kapitel 7: Schlüsselsituationen pädagogischen Handelns S. 364 Weiterführender Text: Bergk, Marion (1996): Auf dem Weg zu einer demokratischen Gesprächskultur. In: Röbe, Edeltraud/Ramseger, Jörg (Hrsg.)(1996): Grundschule als Schule der Demokratie. Themenheft Die Grundschulzeitschrift. 10. Jg., Heft 100, S. 14-17.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Die Autorinnen Edeltraud Röbe, Dr., Professorin für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Pädagogik und Didaktik der Primarstufe (Pädagogische Hochschule Ludwigsburg bis 2010); Arbeitsschwerpunkte: (Grund-) Schule in historischer und systematischer Sicht, Pädagogische Anthropologie, Leistung und Aufgabenkultur, Übergänge im Bildungswesen; Mitglied in Gremien der Weiterentwicklung pädagogischer Institutionen auf Landes- und Bundesebene. Marion Aicher-Jakob, Dr., Diplom-Pädagogin und Lehrerin, Akademische Oberrätin an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Abteilung Pädagogik und Didaktik des Elementar- und Primarbereichs, stellvertretende Leitung des Schulpraxisamtes; Arbeitsschwerpunkte: Verhältnis von Elementar- und Primarbereich, Interkulturelle Bildung und Erziehung, Bildungsungleichheit, Schulleistung, Heterogenität und Differenz in Schule und Unterricht. Anja Seifert, Dr., Diplom-Pädagogin und Lehrerin, Akademische Oberrätin an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Abteilung Pädagogik und Didaktik des Elementar- und Primarbereichs, Vertretung der Professur für Grundschulpädagogik an der Universität Köln und Gießen; Arbeitsschwerpunkte: Übergänge der Grundschule, Heterogenität, Differenz, Inklusion in Schule und Unterricht, Kindheits- und Jugendforschung.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.
Dieses Dokument wurde mit IP-Adresse 141.20.214.41 aus dem Netz der USEB HU Berlin am 29.09.2019 um 15:11 Uhr heruntergeladen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.