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German Pages [316] Year 1982
Michael Plathow Lehre und Ordnung im Leben der Kirche heute
M E I N E R FRAU M E I N E N ELTERN UND M E I N E N K I N D E R N
MICHAEL PLATHOW
Lehre und Ordnung im Leben der Kirche heute Dogmatische, rechtstheologische und pastoraltheologische Überlegungen zu den Lebens- und Visitationsordnungen unserer evangelischen Kirche
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Edmund Schlink, Wolfhart Pannenberg und Reinhard Slericzka
Band 4 3
ClP-Kurztitelaufnahme Plathow,
der Deutschen
Bibliothek
Michael:
Lehre und Ordnung im Leben der Kirche heute
dogmat.,
rechtstheol. u. pastoraltheol. Überlegungen zu d. Lebensu. Visitationsordnungen unserer evang. Kirche / Michael Plathow. - Göttingen
Vandenhoeck und Ruprecht, 1982.
(Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie ; Bd. 43) ISBN 3-525-56249-7 NE: GT
© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1982 - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen
Inhalt E I N L E I T U N G : Das Sachproblem
TEIL
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A
Die Lebens- und Visitationsordnung der V E L K D und der unierten Landeskirchen innerhalb der E K D 1. D i e L e b e n s o r d n u n g d e r V E L K D u n d d e r u n i e r t e n L a n d e s kirchen
15
1. Die Lebensordnung der V E L K D vom 2 7 . 4 . 1 9 5 5 .
18
1. Die Entstehung 2 . Der Inhalt Das Vorwort Inhaltlicher Überblick
18 23 23 25
2. Die Lebensordnung der E K U vom 6 . 5 . 1 9 5 5
26
1. Die Entstehung
26
2. Der Inhalt Der Vorspruch Inhaltlicher Überblick
32 32 35
2. Die Visitationsordnung der V E L K D u n d der unierten Landeskirchen
35
1. Die „Richtlinien der Bischofskonferenz über die V i s i t a t i o n " vom 8.11.1963
37
2 . Das Muster der Visitationsordnung der Arnoldsheimer Konferenz vom 1 7 . 1 2 . 1 9 7 5
41
Exkurs: T y p e n z u m Visitationsverständnis
48
1. Die Visitation als apostolischer Besuchsdienst im Neuen T e s t a m e n t .
48
2. Die Visitation als metropolitane Kirchenleitung
5 1
3. Die Visitation als mittelalterliches Rechtsinstitut
52
4. Visitatio est reformatio et gubernatio
55
5. Die Visitation als Wächterdienst über die orthodoxe L e h r e . 6. Die Visitation im Dienst volksmissionarischer Erbauung und Sendung
56 .
57 5
7. Die Visitation im Dienst kirchlicher Repräsentanz und religiös-sittlicher Erziehung durch die Volkskirche
57
8. Die Visitation als bruderschaftlicher Besuchsdienst im Auftrag der Schlüsselgewalt des Wortes Gottes
58
TEIL Β Die Vorgeschichte der Lebens- und Visitationsordnung der VELKD und der unierten Landeskirchen im Kirchenkampf 3. Lebens- und Visitationsordnungen in der Zeit des Kirchenkampfes
61
1. Die Lebens- und Visitationsordnungen im lutherischen Bereich (Der Entwurf einer Schleswig-Holsteinischen Lebensordnung von 1 9 3 8 / 3 9 und die Visitation) 2. Die Lebens- und Visitationsordnung in der altpreußischen Union (Das ,.Kirchbüchlein" von 1941 und die Visitation) 3. Der Hintergrund des Kirchenkampfes (die Auflösung des landesherrlichen Kirchenregiments 1918) 4. Zusammenfassung
61 77 99 101
TEIL C Systematische Überlegungen: Lehre und Ordnung im Leben der Kirche 4. Der dogmatische Aspekt
105
1. Typologie 1. Lutherische Positionen 1. E. Schlinks Begründung der Ordnung in der Schlüsselgewalt 2. G. Ebelings kirchenzuchtliche Begründung 3. W. Maurers parakletisches Verständnis der Lebensordnung
105 106 106 108 108
2. Reformiert-unierte Positionen 1. J . Bohatecs pneumatokratisch-organologische Kirchenordnung 2. K. Barths christokratisch-liturgische Ordnung 3. G. Wendts Verständnis der Lebensordnung als tertius usus legis 2. Die Lebens- und Visitationsordnung der VELKD und der unierten Landeskirchen
113
1. VELKD 2. Unierte Landeskirchen 3. Die dogmatische Bestimmung 1. Das Kirchenverständnis . 1. Volk Gottes (eschatologischer Aspekt) — Bußgemeinschaft 2. Leib Christi (christologischer Aspekt) — Liebesgemeinschaft
6
110 110 111 112
113 119
. .
123 123 123 124
3. Ecclesia (pneumatischer Aspekt) — Erneuerungsgemeinschaft 4. Congregatio sanctorum (trinitarischer Aspekt) — Bekenntnisgemeinschaft 2. Lebens- und Visitationsordnung, zugeordnet zu Gesetz und Evangelium 1. Im Dienst des theologicus usus legis — Bußordnung 2. Im Dienst des Evangeliums — Liebesordnung 3. Im Dienst der Paraklese — Emeuerungsordnung 4. Im Dienst der Wahrheit — Bekenntnisordnung 3. Die Dienstfunktion der Lebens- und Visitationsordnung
5. Der rechtstheologische Aspekt 1. Typologie 1. Vor dem Kirchenkampf: der Dualismus von Lehre und Ordnung 1. Die Kirchenverfassungen . 2. Die rechtstheologischen Positionen . 1. R. Sohms Spiritualismus . 2. W. Kahls Positivismus 3. G. Holsteins Verknüpfung von Schöpfungs- und Erlösungsordnung . 4. H. Liermanns Analogie von Kirchen- und Staatsordnung 5. Die deutschchristliche Interpretation der DEK vom 11.7.1933 2. Im Kirchenkampf: die Verbindung von Lehre und Ordnung . 1. Rechtstheologische Positionen 1. Die Dienstfunktion der Kirchenordnung 2. Die Normfunktion der Kirchenordnung 3. Kirchenordnung als „bekennende Ordnung" 2. Bekenntnissynoden: Barmen, Dahlem, Augsburg, Bad Oeynhausen 3. Kirchenverordnungen 4. Der Rückgriff auf die frühen reformatorischen Kirchenordnungen 1. Die lutherische Reformation 2. Die reformierte Reformation . 3. Wirkungen des Kirchenkampfes nach dem Zweiten Weltkrieg 1. Ertrag des Kirchenkampfes 2. Folgen für das Kirchenrecht 1. Erik Wolfs „bekennendes Kirchenrecht" 2. J . Heckeis Trennung von autonomen und heteronomem Kirchenrecht 3. H. Dombois' „Recht der Gnade" 4. H. Liermanns juristisches Kirchenrecht 3. Vergleich 2. Der rechtstheologische Aspekt in den Lebens- und Visitationsordnungen 1. V E L K D 1. Lebensordnung der V E L K D 2. Visitationsordnung der V E L K D
125 126 127 128 133 136 145 150
151 152 152 152 153 153 154 155 156 158 159 160 160 161 161 162 168 173 173 181 186 186 192 192 194 196 198 199 200 200 200 202 7
2. Unierte Landeskirchen 1. Lebensordnung der E K U 2. Visitationsordnung der Arnoldshainer Konferenz 3. Der rechtstheologische Aspekt .
207
1. Das Kirchenverständnis . 1. Die Einheit von unsichtbarer und sichtbarer Kirche 2. Die· Einheit von Geist- und Rechtskirche 3. Die Einheit von theologischem und empirischen Kirchenverständnis 4. Kirche als Ereignis und Institution
207 207 209
2. Die Lebens- und Visitationsordnung 1. Eschatologische Ordnung — die Schlüssel. 2. Evangelische Ordnung — Liebesordnung 3. Parakletische Ordnung — geistliche Richtlinien . 4. Bekennende Ordnung — Bekenntnisrecht
217 218 220 221 223
3. Die Rechtsqualität: der „transformatorische" Akt
225
6. Der pastoraltheologische Aspekt 1. Typologie 1. Empiristischer Pragmatismus 2. Theologische Dogmatismus 3. Wissenschaft pastoraler Anweisungen 2. Der pastoraltheologische Aspekt in den Lebens- und Visitationsordnungen der V E L K D und der unierten Landeskirchen 1. V E L K D 1. Lebensordnung der V E L K D 2. Visitationsordnung der V E L K D 2. Unierte Landeskirchen 1. Lebensordnung der E K U 2. Visitationsordnung der Arnoldshainer Konferenz 3. Der pastoraltheologische Aspekt 1. Das Kirchenverständnis 1. Die Hausgemeinde — communicatio als oratio, als adhortatio und consolatio . 2. Die Gemeindekirche — praedicatio (do cere) und administratio sacramentorum, martyria, leiturgia, diakonia 3. Die Partikularkirche in der Ökumene — visitatio, gubematio, reformatio, unitio, damnatio
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204 204 206
213 215
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2. Die Lebens- und Visitationsordnung 1. Als Beichtspiegel 2. Parakletische Seelsorgeordnung 3. Bekennende Sittenordnung 4. Lebens-Visitationsordnung und Visitationspraxis .
257 257 259 262 264
3. Die abgestufte Intensität des pastoralen Lebens der gottesdienstlichen Gemeinde
266
7. Schlüsselgewalt 1. Typologie 1. Μ. Luther, Von den Schlüsseln ( 1 5 3 0 ) 2. W. Löhe, Zur Beichte ( 1 8 3 6 ) 3. D. Bonhoeffer, Sätze über Schlüsselgewalt und Gemeindezucht im Neuen Testament (1937)
268 269 269 274 280
2. Die Schlüsselgewalt in den Lebens- und Visitationsordnungen der VELKD und EKU
284
3. Die Verknüpfung des dogmatischen, rechtstheologischen und pastoraltheologischen Aspekts in der Schlüsselgewalt
289
SCHLUSS: Zusammenfassende Thesen
295
LITERATURVERZEICHNIS
298
REGISTER Namenregister
312
Sachregister
313
9
Einleitung:
Das
Sachproblem
Augustinus spricht in der Schrift „Die Ordnung" (386) von dem „ordo vitae", der Lebensordnung, zu seinem Gesprächspartner: „Diese Lebensregeln, die dir ja immer so gut gefallen sind doch, wie du sehr gut weißt, nicht von mir erfunden. Die Bücher der großen und nahezu göttlichen Männer sind von ihnen übervoll. Dir fällt es nicht schwer, diese Regeln zu befolgen, die du so begierig aufnahmst, und in deren wunderbares Wissen du so eifrig dich vertiefst, daß du dort, wo du mich als Meister der Schilderung wähnst, viel eher als Meister der Verwirklichung gelten kannst" 1 . Diese Feststellung Augustins soll als Wunsch die Darstellung der heutigen Lebensordnung in der Verknüpfung mit den Visitationsordnungen begleiten. Gerade in der Gegenwart sind sie neu zu entdecken und neu zu leben. Unsicherheit in sittlichen Fragen, geistige und geistliche Leere, die Vielstimmigkeit im kirchlichen Leben und die Unverbindlichkeit im christlichen Lebensstil wirft die Fragen nach den Richtlinien und weisenden Werten vom Wort Gottes her auf. Es ist die Frage nach der „Ordnung des kirchlichen Lebens", in der Lehre, Ordnung und Leben der Kirche miteinander verbunden sind. Diese Verbundenheit soll exemplarisch anhand der Ordnungen der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland und der Evangelischen Kirche der Union aufgezeigt werden; die Visitations- und Lebensordnungen der anderen Landeskirchen werden teilweise mitberücksichtigt. Auf die gesamte kirchliche Arbeit und das gesamte kirchliche Leben gesehen, ist es um die „Ordnung des kirchlichen Lebens" und die „Visitationsordnung" still geworden. Wohl werden diese Ordnungen in den Synoden eifrig diskutiert; an ihrer Fortschreibung wird in den Ausschüssen ständig weitergearbeitet. Anschließend aber stehen sie häufig ungelesen in Bücherschränken; Gemeindeältesten, Kirchenältesten, aber bisweilen auch Theologiestudenten und Pastoren sind sie unbekannt oder werden kaum in die theologische Arbeit und in das kirchliche Leben hineingenommen. Eine gewisse Abneigung gegen jedes Ordnungsdenken und gegen Ordnungen überhaupt mag der Grund sein. Bedauerlicherweise ist dies festzustellen, weil besonders bei den Lebens- und Visitationsordnungen theologisches Denken in den Verweisungszusammenhang 1
Au. Augustin, Die Ordnung, übertragen von C. J. Perl, Paderborn 19 64 4 , 64.
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kirchlichen und gemeindlichen Lebens aufgenommen wird. Daß es sich bei dieser engen Verbindung von Lehre, Ordnung und Leben der Kirche, weil sie von den Lebens- und Visitationsordnungen her aufgezeigt werden soll, um eine höchst spannungsreiche, zugleich aber auch um eine sehr dynamische Verknüpfung handelt, ist jedem nur zu deutlich, der in der christlichen Gemeinde lebt. Unter Lehre wird in unserem Zusammenhang der antwortende Glaube der christlichen Gemeinde und Kirche verstanden, der aufgrund der biblischen Botschaft in Bindung an die Bekenntnisse der Väter heute Gottes heilsame Gnade in Jesus Christus durch den heiligen Geist zu bedenken und intellektuell zu verantworten hat. Mit christlichem Leben soll das ganzheitliche Verhalten des einzelnen Glaubenden in der Gemeinschaft der Kirche inmitten der Welt heute, und zwar von der Geburt bis zum Sterben und Hingehen zu Gott, gemeint sein. Lehre und Leben der Glaubenden und der ganzen Kirche, wie sie heute zu verantworten sind, gehören zusammen. Verselbständigt sich die Lehre, so droht sie zum bloßen Gedankensystem oder zur dogmatischen Ideologie zu verkehren. Verselbständigt sich das Leben der Gemeinde und Kirche, so droht es in einen sterilen Pragmatismus oder in einen reagierenden Aktionismus zu pervertieren. Die gemeindliche und kirchliche Ordnung übt nun gegenüber Lehre und Leben in Theologie und Kirche bloß einen Hilfsdienst aus gerade in ihrer Bindung an die christliche Lehre und in ihrer Ausrichtung auf das kirchliche Leben. Die gemeindliche und kirchliche Ordnung dient der Verbindung von Lehre und Leben in der christlichen Gemeinde und Kirche. Sie stellt damit weder eine Schöpfungsordnung dar noch ein ontologisch verankertes kanonisches Recht; sie ist im Gehorsam gegen Gottes Wort und Gebot ständig neu zu verantwortende Gestaltung des Lebens der christlichen Gemeinde. Sie übt ihre dienende Funktion für die Verbindung von Lehre und Leben aus, indem sie Richtlinien, Anweisungen, Regeln und Empfehlungen gibt zum geistlichen Gebrauch durch die Glaubenden in Gemeinde und Kirche, in Alltag und Welt. Verselbständigt sich die Ordnung, so droht sie in Legalismus und leblose Kasuistik zu pervertieren; der Verlust des Geistes und der Kraft, die Zerstörung der christlichen Freiheit wäre die Folge. Wird andererseits die Ordnungsfrage in der Verbindung von Lehre, Ordnung und Leben eliminiert, so droht die Verkehrung in einen Spiritualismus und Libertinismus mit Willkür und Unfrieden in der Folge; Gott aber ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens (l.Kor. 14,33). Diese Arbeit gibt in einem ersten Hauptteil einen knappen Überblick über die Lebens- und Visitationsordnungen der VELKD und der unier12
ten Landeskirchen innerhalb der EKD. Der zweite Hauptteil, ein geschichtlicher Teil, beschreibt das Verhältnis von Lebens- und Visitationsordnung und die Motive für ihre Wiederentdeckung im Kirchenkampf während des Dritten Reiches auf dem Hintergrund der Auflösung des landesherrlichen Kirchenregiments nach dem Ersten Weltkrieg. Im dritten Hauptteil, dem breiten systematisch-theologischen Teil, wird unter drei Aspekten die theologische Frage nach der Lebens- und Visitationsordnung innerhalb des Verweisungszusammenhangs kirchlichen Lebens behandelt: 1. der pastoraltheologische Gesichtspunkt. In zunehmendem Maß ist ein Suchen nach seelsorgerischer Beratung und Begleitung in den christlichen Gemeinden festzustellen. Lebens- und Visitationsordnungen können dem Pastor, den Gemeindegliedern und den Vertretern der Kirchenleitung Richtlinien und Weisungen geben. Es stellt sich dabei die Frage, worin der theologische Grund der pastoraltheologischen Anweisungen liegt. 2. der rechtstheologische Gesichtspunkt. Diese Ordnungen sind keine bloßen Handreichungen, aber auch keine Kirchengesetze. Es stellt sich somit die Frage nach der Rechtsqualität dieser Ordnungen. 3. der dogmatische Gesichtspunkt. Diese Ordnungen stellen auch keinen Katechismus als Zusammenfassung des christlichen Glaubens entsprechend einer bestimmten Tradition dar, aber ebenfalls auch keine Aneinanderreihung weisender Worte. Die Frage nach dem dogmatischen Verständnis der Lebens- und Visitationsordnungen stellt sich damit. Der dogmatische, rechtstheologische und pastoraltheologische Aspekt der Lebens- und Visitationsordnungen findet also im dritten Hauptteil seine Darstellung. Ein Anhangteil zur ökumenischen Bedeutung des Themas kann aus Platzgründen leider nicht an dieser Stelle erscheinen; er wird an einem anderen Ort veröffentlicht werden.
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Teil A Die Lebens- und Visitationsordnung der VELKD und der unierten Landeskirchen innerhalb der EKD 1. Die Lebensordnung der VELKD und der unierten Landeskirchen Christliche Lebensordnungen, Ordnungen des persönlichen Lebens der Christen und der christlichen Gemeinden, finden sich in großer Zahl schon innerhalb der verschiedenen Schriften des Neuen Testaments, geht es doch bei ihnen um die christlichen Weisungen der neutestamentlichen Botschaft. In den synoptischen Evangelien sind die ganz von der eschatologischen Botschaft J e s u vom anbrechenden Gottesreich geprägten Gebote der Bergpredigt zu nennen und ferner die in der Liebe zu G o t t gründende Nächsten- und Feindesliebe 2 und schließlich das Gebot der E h e 3 . Aus den paulinischen Schriften seien die Tauf- und A b e n d m a h l s t e x t e 4 , die Mahnungen für das sittliche 5 und eheliche L e b e n 6 und die Tugend- und Lasterkataloge 7 erwähnt. Für die urchristliche Zeit finden wir einmal in den Haustafeln zum christlichen Familienleben 8 und in den Tugendund Lasterkatalogen 9 die Richtlinien der Lebensordnung, zum anderen in den Beschreibungen der Hausgemeinden 1 0 und des frühchristlichen Gemeindelebens 1 1 .
2 3 * s «
Mk. 12,28flF.; Mt. 22,34ff.; Lk. 10,25ff.; Mt. 5,43ff. Mk. 10,Iff. Rom 6,Iff.; l.Kor. ll,17ff. l.Kor. 5; 6,12ff.; 12,4ff.; 14,26ff.; Rom. 14. l.Kor. 7. 1 l.Kor. 6,9f.; Gal. 5,19ff., 22. β Kol. 3,18ff.; Eph. 5,22ff.; l.Petr. 2,13ff. 9 Kol. 3,5ff.; Eph. 5,Iff.; l.Petr. 4,3ff. 10 Apg. 16,14ff. " Apg. 2,42ff.; 4,32ff. 15
Die Bestimmungen der Haustafeln 1 2 , der Tugend- und Lasterkataloge 1 3 und der Gemeinderegeln 1 4 prägen dann auch das stärker durchstrukturierte Gemeindeleben der Pastoralbriefe; sie setzen sich fort in den Lebensordnungen der apostolischen Väter, die bekanntlich nach dem Schema von den beiden Wegen im Barnabasbrief und in den Regeln der Didache tön dodeka apostolön das gemeindliche Leben mitprägen. Alle diese konkreten Mahnungen, Weisungen, Gebote und Regeln für das private und gemeindliche Leben der Christen wollen nun zum einen Bußruf sein, man denke etwa an die Lasterkataloge in den verschiedenen neutestamentlichen Schriften, zum anderen konkretisieren sie das Liebesgebot Jesu, man vergleiche das Liebesgebot in den verschiedenen Zusammenhängen innerhalb der neutestamentlichen Schriften: Mk. 12,28ff.; Rom. 13,8ff.; l,Kor. 13; Gal. 3 - 1 4 ; J o h . 13,34; l.Joh. 2,8,10; 3,11,14; Jak. 2,8. Diese Weisungen sind gegeben für das friedliche und geordnete Zusammenleben der Christen und zur Auferbauung der Gemeinde 1 5 Um diese Ordnungen der Liebe, um diese taxis 1 6 , geht es bei den Lebensordnungen. In der gegenwärtigen Literatur findet man weniger eine scharf umrissene Definition für die Lebensordnungen, als vielmehr verschiedene Umschreibungen: Bischof R. Wester, der als Vorsitzender des Ausschusses für gemeindliche Fragen an der Lebensordnung der VELKD vom 27.4. 1955 maßgebend mitwirkte, erkennt in den Fragen um die Ordnung kirchlichen Lebens „ein erneutes Ernstnehmen der Gemeinde als Gabe und Aufgabe"; wohl kann die Lebensordnung die Gemeinden „nicht erwecken und zu neuem Leben führen", sie kann aber „Mängel aufzeigen, Anstöße verleihen und Aufgaben setzen", auch „Hindernisse wegräumen" 17 W. Maurer versteht in seinem Aufsatz „Die rechtliche Problematik der Lebensordnungen in der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands" die Ordnungen kirchlichen Lebens als „Wort- und Sakramentsordnung" 1 8 , als „Gottesdienst-, Lehr- und Zuchtordnung" 1 9 ; sie dient zum einen der „Bildung einer kirchlichen Familiensitte, hat also die Tendenz, „kirch»2 Kol. 3 , 1 8 - 4 1 ; Eph. 5 , 2 2 - 6 , 9 ; l.Petr. 2 , 1 3 - 3 , 7 ; l.Tim. 2 , 8 - 1 5 ; 6,lf.; Tit. 2, 1-10.
13 it is i« 17
Gal. 5 , 1 9 - 2 1 ; 5 , 2 2 - 2 3 ; l.Kor 6,9f.; l.Petr. 4,3; l.Tim. l,8ff. l.Tim. 2 , 8 - 3 , 1 3 ; 5 , 1 7 - 6 , 2 . l.Kor 14,26ff., 33,40. l.Kor. 14,40. R. Wester, Die „Ordnung" als Gabe und Aufgabe, ELKZ 8, 1954, 75. 18 W. Maurer, Die rechtliche Problematik der Lebensordnungen in der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, ZevKR 3, 1953/54, 229. 19 Ebd., S. 227.
16
liches Familienrecht aus sich herauszusetzen" 2 0 ; sie ist weiter „gemeindliche Lebensordnung" 2 1 ; sie gibt schließlich „pastoraltheologische Anweisungen" 2 2 . Im ganzen erkennt er das Genus dieser kirchlichen Ordnung als „Liebesordnung" 2 3 . G. Wendt charakterisiert in dem ebenfalls sehr grundsätzlich ausgerichteten Aufsatz „Zur kirchenrechtlichen Problematik der Ordnung kirchlichen Lebens" diese Ordnung als „Ordnung des kirchlichen, gemeindlichen und gemeindegliedlichen Handelns" 2 4 ; im Kern ist sie „Ordnung gottesdienstlicher Gemeinde und christlicher Existenz" 2 5 Wie W. Maurer bestimmt auch G. Wendt die Lebensordnung als „Liebesordnung" und somit als „parakletische Seelsorgeordnung" 26 mit „pastoralethischen Weisungen" an den Pfarrer und die Gemeindeglieder 27 Entsprechend bezeichnet J . Kuhn die Lebensordnung im Blick auf die „Ordnung kirchlichen Lebens" der EKU vom 6.5.1955 als „evangelischen Ratschlag" 2 8 . Der Kirchenjurist H. Liermann erkennt bei seiner Analyse der Lebensordnung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Bayerns vom 18.5. 1966 in der Lebensordnung vor allem „seelsorgerische Ermahnungen" zum Teil auch das „Wesen eines Katechismus" 2 9 ; den eigentlichen Charakter jedoch machen die „seelsorgerischen Ermahnungen" aus, die als „richtungsgebende Grundsätze" 30 auch „rechtliche Wirklichkeit anstreben" 3 1 , so daß hier das „Juristische mit dem Seelsorgerischen" verbunden ist 3 2 . Hebt H. Liermann mit der Verbindung der seelsorgerlichen und rechtlichen Qualität in der Lebensordnung deren Eigenständigkeit hervor, so gesteht H. Diem gegenüber der Lebensordnung aus theologischen Gründen keine eigene Bedeutung zu. Nach H. Diems Ansicht ist die „Ordnung des kirchlichen Lebens" in der Visitationsordnung als der 20
Ebd., S. 231. Ebd., S. 233ff. 22 Ebd., S. 238. 23 Ebd., S. 242. 24 G. Wendt, Zur kirchenrechtlichen Problematik der Ordnung kirchlichen Lebens, ZevKR 10, 1963/64, 102. 25 Ebd., S. 133. 2 6 Ebd., S. 115. 27 Ebd., S. 133. 28 J. Kuhn, Kirchenzucht und Kirchenbegriff, ZevKR 9, 1962/63, 273. 29 H. Liermann, Die kirchliche Lebensordnung, LM 6, 1967, 62. so Ebd., S. 65. 31 Ebd., S. 63. 32 Ebd., S. 66.
21
2 Plathow, Lehre
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Ausdrucks form der Schlüsselgewalt des Wortes Gottes integriert und in ihren Funktionen von dieser abgedeckt 33 . Abgesehen von H. Diems besonderem Verständnis lassen sich die übrigen verschiedenen Bestimmungen der Lebensordnung als Akzentverschiebungen kennzeichnen, die folgende gemeinsamen Grundelemente voraussetzen: 1. Die Lebensordnung ist kein Gesetz; sie hat dogmatische, rechtliche und pastorale Qualität. 2. In ihrem Kern ist die Lebensordnung „gottesdienstliche Ordnung". 3. Ihrem Wesen nach ist sie „Liebesordnung" mit parakletischen Anweisungen. 4. Einige Bestimmungen kennzeichnen die Lebensordnung als Gemeindeordnung mit kirchenrechtlicher Qualität. Es stellt sich hier die Frage, ob nicht an diesem Punkt eine Entsprechung zu H. Diems Hineinnahme der Lebensordnung in die Visitationsordnung besteht, die dann wiederum als Vollzug der Schlüsselgewalt Gottes verstanden wird. Im Unterschied zu H. Diem wird jedoch bei diesen Vertretern die Eigenständigkeit der Lebensordnung mit ihrer dogmatischen, rechtlichen und pastoralen Ausrichtung gesehen. 5. Die Bezugsfelder der Lebensordnung sind die Existenz des einzelnen Christen, das gemeindliche und das kirchliche Leben in der Ökumene und in der Gesellschaft. Auf diese Strukturelemente hin und von diesen her sind die Lebensordnung der VELKD vom 27.4.1955 und der EKU vom 6.5.1955 zu untersuchen.
1.1. Die Lebensordnung der VELKD vom
27.4.1955
1.1.1. Die Entstehung Vom 6. bis 8.7.1948 tagte in Eisenach die verfassungsgebende Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland. Nach den Ereignissen des Kirchenkampfes, nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes und der militärischen Niederlage des Zweiten Weltkrieges konstituierten sich die Landeskirchen lutherischen Bekenntnisses auf dieser Synode zur VELKD. In Eisenach wurde u.a. auch der „Ausschuß für Fragen des gemeindlichen Lebens" gebildet, dessen Vorsitz Bischof 33
18
H. Diem, Lebensordnung und Kirchenzucht, ZevKR 4, 1955, 301.
R. Wester inne h a t t e 3 4 . Eine der ersten Aufgaben dieses Ausschusses sollte die Erarbeitung einer Lebensordnung für die V E L K D sein. Für Bischof R. Wester als Vorsitzenden dieses Ausschusses sprach die Tatsache, daß er zusammen mit Pastor P. G. Johanssen schon während der Kirchenkampfjahre die Erläuterungen zum Entwurf einer Schleswig-Holsteinschen Lebensordnung abgefaßt hatte 3 5 In seinem Bericht vor der 1. Generalsynode der V E L K D (25. bis 28.1. 1949) in Leipzig nannte Bischof R. Wester zunächst die Schwierigkeiten, eine VELKD-Lebensordnung zu schaffen; er wies hin auf die Spannung zwischen landeskirchlichem Partikularismus und gesamtkirchlicher Lebensordnung; er zeigte die Probleme der Koordination zwischen den verschiedenen Instanzen, Kompetenzbereichen und Zuständigkeiten auf; er deutete die Grundsatz frage nach der geistlichen und rechtlichen Qualität solch einer Ordnung a n 3 6 . Zugleich stellte Bischof R. Wester einige Richtlinien für die Arbeit an einer „Ordnung des kirchlichen L e b e n s " auf: stärker als in den überkommenen Lebensordnungen soll die theologische Fragestellung die Grundlage der Arbeit b i l d e n 3 7 ; die Lebensordnung soll „an der inneren geistlichen Ordnung der Kirche Maß und Richtschnur f i n d e n " 3 8 ; diese Ordnung will sich an die Pfarrer und die verantwortungsbewußten Glieder der Gemeinde wenden 3 9 Abschließend erklärte Bischof R . Wester: „ S o ist der Ausschuß der Meinung, daß er einen Versuch machen sollte, eine .Ordnung des kirchlichen Lebens' zu skizzieren, die dann im gesamten R a u m der Vereinigten Kirche zur Erörterung und Übung angeboten werden kann. Wenn also nun daran von uns Arbeit geleistet werden soll, so geschieht das nicht, um neue Gesetze aufzurichten und unsere Tätigkeit und unser gemeindliches Leben unter ein J o c h zu stellen, sondern um den Dienst am Evangelium in unserer Mitte zu fördern und uns von dem säkularen Gesetz zu befreien, unter das unser kirchliches Handeln weithin gekommen ist." Die zu erarbeitende Ordnung der evangelisch-lutherischen Kirche soll darum „ein Spiegelbild ihres Glaubens" sein 4 0
Lutherische Generalsynode 1948, 120. 35 Vgl. J K 7, 1939, 5 2 f f . ; 138ff.; 2 3 1 f f . ; 4 5 6 f f . ; 5 4 8 f f . ; 6 5 0 f f . ; 7 7 3 f f . ; 8 2 9 f f . ; 8 8 8 f f . ; J K 8, 1940, 4 1 f f . 3 6 Lutherische Generalsynode 1949, 123ff. " Ebd., S. 125. 38 Ebd., S. 125. 39 Ebd., S. 126. «ο Ebd., S. 127. 34
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Es konnte dann auf der 2. Tagung der 1. Lutherischen Generalsynode in Ansbach ( 1 9 . - 2 3 . 6 . 1 9 5 0 ) von der VELKD-Lebensordnung der Abschnitt I: „ V o n der heiligen T a u f e " verabschiedet werden; in Rostock (17.—21. 5.1951) wurde auf der 3. Tagung der 1. Generalsynode der Abschnitt II: „ V o m Dienst der Gemeinde an ihrer J u g e n d " und Abschnitt III: „ V o m Leben der J u g e n d in der Gemeinde" angenommen. Die 4. Tagung der 1. Lutherischen Generalsynode in Flensburg (24.—29.4.1952) ratifizierte Teil IV, V, VI und VIII der Lebensordnung, also die Abschnitte: „ V o m Gottesdienst", „ V o n der Beichte und Absolution", „ V o m heiligen Abendm a h l " und „ V o m Sterben des Christen und vom christlichen Begräbnis". Auf der 5. Tagung dieser Generalsynode in Berlin-Spandau (16.—21.4. 1953) konnte endlich auch der VII. Abschnitt: „ V o n christlicher Ehe und kirchlicher T r a u u n g " nach langer Diskussion verabschiedet werden. Die 6. Tagung der 1. Generalsynode in Braunschweig (9.—15.10.1954) verabschiedete dann noch Teil IX—XII: „ V o m A m t " , „ V o m Dienst der Glieder der Gemeinde", „ V o m Ubertritt, von den Folgen des Austritts und von der Wiederaufnahme in der Kirche", „ V o n der Zucht in der Kirche". „ V o n den früheren Generalsynoden sind die einzelnen Abschnitte, nachdem sie beschlossen waren, dann, gegebenenfalls noch unter redaktioneller Überprüfung durch Bischofskonferenz und Kirchenleitung, an die Gliedkirchen geleitet worden, und zwar als Richtlinien" 4 1 , d.h. als „verbindliche Richtlinien" 4 2 . Zu charakterisieren sind sie als „Anregungen, Ratschläge und Empfehlungen", die rechtlich zwischen „reinen Richtlinien, die völlig unverbindlich" sind, und „bindendem Gesetz, das die Gliedkirchen einheitlich festlegen würde", einzuordnen s i n d 4 3 , wie Präsident D. Brunotte bei der Einbringung des Kirchengesetzes über die .Ordnung des kirchlichen Lebens' auf der 1. Tagung der 2. VELKD-Generalsynode in Weimar (23.—27.4.1955) betonte. A u f dieser Synode wurde dann das Kirchengesetz über die ,Ordnung des kirchlien Lebens' mit 36 Stimmen angenommen 4 4 . Bischof R . Wester stellt in seinem Einführungsreferat zur Arbeit an der ,Ordnung des kirchlichen Lebens' in Leipzig 1949 einerseits die theologische Grundlegung in den Vordergrund, andererseits hob er hervor, „daß der Situation Rechnung getragen werden muß, wenn das kirchliche Luthersiche Generalsynode lichen Lebens, E L K Z 6, 1952, E L K Z 8, 1954, 75, dazu auch ordnungen in der Evang.-luth. 4 2 Luthersiche Generalsynode « Ebd., 170, 172. 4 4 Lutherische Generalsynode 41
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1949, 127. Vgl. auch R. Wester, Ordnung des kirch90f. und R. Wester, Die .Ordnung' als Aufgabe, W. Maurer, Die rechtliche Problematik der LebensKirche, Z e v K R 3, 1 9 5 3 / 5 4 , 2 2 5 f f . 1955, 170. 1954, 3 0 7 f .
Handeln nicht unwahrhaftig sein und vor allem die Verkündigung der Kirche nicht unglaubwürdig machen w i l l " 4 5 Die Situation, die ihm dabei vor Augen stand, war bestimmt durch die Erfahrungen des Kirchenkampfes, durch die Not der Nachkriegszeit, durch den Zerfall der Volkskirche, durch die betont freundliche Haltung der Bevölkerung und des Staates gegenüber der Kirche. Mit der Veränderung der Situation mußte jedoch die auf das konkrete gemeindliche und kirchliche Leben bezogene Ordnung ebenfalls verändert, fortgeschrieben oder neu gefaßt werden. Diese Aufgabe stellte sich Ende der 60er J a h r e und Anfang der 70er Jahre. Auf der 7. Tagung der 4. Lutherischen Generalsynode in Hamburg (23.—27.10.1972) wurde die Revision der »Ordnung des kirchlichen Lebens' beschlossen; die Abschnitte I, VII, VIII sollten angesichts der geschichtlichen Weiterentwicklung neu gefaßt werden 4 6 . Vor allem die Gliedkirchen der V E L K in der D D R hatten auf eine Fortschreibung der Lebensordnung von 1955 gedrängt und Teilrevisionen am Text vorgenommen. Im ganzen ergab sich die Notwendigkeit einer Revision „aus neuen Fragestellungen, mit denen die Gemeinden in der Bundesrepublik wie in der D D R konfrontiert sind. Übereinstimmendes Vorgehen bei der Revision entspräche der besonderen geistlichen Verbundenheit mit den Gliedkirchen der V E L K in der D D R " , heißt es in den „Erläuterungen zur Revision der Ordnung des kirchlichen L e b e n s " 4 7 In seinem Bericht über die Revision der ,Ordnung des kirchlichen Lebens' auf der 3. Tagung der 5. Generalsynode der V E L K D in Rummelsberg ( 2 0 . - 2 5 . 1 0 . 1 9 7 4 ) faßte Oberkirchenrat i.R. Schmidt die verschiedenen Gründe für die Überarbeitung zusammen: gegenüber der Zeit von 1955, die noch von den Erfahrungen des Kirchenkampfes geprägt war und die Volkskirche zum Leitbild nehme, sei nun die Situation anders. Es gelte einmal, „den Status der Gemeinde realistisch zu sehen, auch die Krisenerscheinungen, wie die Kirchenaustrittswelle, den in vielen Gemeinden zurückgehenden Gottesdienstbesuch, die zunehmende Zahl ungetaufter Kinder in unseren Großstadtgemeinden, Verzicht nicht weniger Brautpaare auf die kirchliche Trauung, die Stellung der J u g e n d zur Kirche". Zum andern gelte es, die „Volkskirche nicht nur als Aufgabe, sondern als Generalthema der Reformation, Evangelium für alle, auch von der Rechtfertigung, von der evangelischen Freiheit her, Bejahung der Volkskirche als Herausforderung, als Aufgabe, als Zukunftsbild, als Leitbild" ernst zu nehmen 4 8 . Er erwähnt ferner die Pluralität in der Kirche, die 45 46 47 48
Lutherische Generalsynode 1949, 123. Lutherische Generalsynode 1972, 685f. Ebd., S. 649. Lutherische Generalsynode 1974, 224.
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neuen Verhältnisse für konfessionsverschiedene Ehen und Ehen mit Nichtchristen; die letzten benannte er auf jährlich 11 000 4 9 Dr. Reiler ergänzte diese Gründe auf der 5. Tagung der 5. VELKD-Generalsynode in Bückeburg (26.—29.10.1976): „Für die Revisionsarbeit an der Ordnung stehen inzwischen weitere Fragen an, die teils durch die ökumenische Entwicklung bedingt sind, wie zum Beispiel die Einladung römischkatholischer Christen zum Heiligen Abendmahl, teils durch Fragen wie Kinderabendmahl oder Frühkommunion, die den Abschnitt über die Konfirmation berühren. Außerdem wird die Frage einer befriedigenden Regelung einer Trauerfeier für Aus-der-Kirche-Ausgetretene über die jetzige Regelung hinaus ermöglicht werden müsse. Schließlich wird der Bereich .christlicher Ehe und Trauung' durch das Inkrafttreten des Zerrüttungsprinzips beim Scheidungsverfahren mit dem 1. Juli 1977 zweifellos neue Entwicklungen hervorrufen, so daß hier in Fragen christlicher Ehe und kirchlicher Trauung eine langfristige Weiterarbeit erforderlich ist." 5 0 Für die Revision der Abschnitte I, VII und VIII wurden dann auch die neueren Ausgestaltungen einer Lebensordnung zu Rate gezogen und mitberücksichtigt. „Hierbei ist besonders auf die Arbeit des gemeinsamen Lebensordnungsausschusses der VELK in der DDR und der EKU/Ost hinzuweisen. Dieser Ausschuß versucht, eine gemeinsame Lebensordnung mit völlig neuem Aufriß zu erarbeiten. Außerdem werden Textentwürfe, etwa des Pröpstekonvents in Schleswig-Holstein, geprüft, die bayerische Lebensordnung von 1966 zu Rate gezogen, das hannoversche Taufgesetz von 1971 berücksichtigt und die Stellungnahme der Ehekommission der EKD behandelt. Erwähnt seien auch die Beschlüsse über das Verhältnis von Kindertaufe und Mündigentaufe in Westfalen und Hessen-Nassau, ein Entwurf eines kleinen Ausschusses der Stadtsynode Köln, der dem Ausgetretenenproblem gerecht zu werden versucht, sowie neuere Entwürfe einer Lebensordnung der Badischen Evangelischen Kirche. Berücksichtigt wurde auch die veränderte Einstellung der römisch-katholischen Kirche zur Konditionaltaufe und die Möglichkeit, katholische Ehepartner von der Formpflicht bei der Trauung zu entbinden." 5 1 Leitgedanke dieser Revisionsarbeiten war die „Beibehaltung der bisherigen Grundlinie unter Aufarbeitung neuer theologischer Fragestellungen" 52 Der Richtliniencharakter wurde so beibehalten 5 3 . Stärker wurde der vorEbd., S. 225. Lutherische Generalsynode 1976, 65. 51 Lutherische Generalsynode 1972, 649f. 52 Ebd., S. 650. 53 Ebd., S. 144f.; Luth. Generalsynode 1974, 226, 361, 365; Luth. Generalsynode 1976, 62. 50
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beugende Aspekt gegenüber dem kirchenzuchtlichen betont 5 4 , wie überhaupt die pastoraltheologische und seelsorgerliche Intention in den Vordergrund trat 5 5 . In letzter Zeit, d.h. vor allem nach der Vollversammlung des ökumenischen Rates in Nairobi, wird auch die spirituelle Bedeutung der Lebensordnung gesehen. Dr. Reller führte in Bückeburg 1976 aus: „Man kann also sagen, daß die Ordnung des kirchlichen Lebens das Gefäß oder der bewahrende Rahmen für die Spiritualität der Kirche ist. Die Ordnung garantiert nicht Spiritualität, sie ist auch nicht bereits Spiritualität oder Frömmigkeit. Sie gehört vielmehr auf die Seite der menschlichen Ordnung, die auf eine Anordnung Gottes reagiert und ihr eine entsprechende Gestalt verleiht Ordnung des kirchlichen Lebens könnte also so etwas wie der ,Leuchter' für die Spiritualität sein, der dazu beiträgt, daß das Licht der Gnade leuchten kann." 5 6 Die revidierte Form des Abschnitts I: ,,Von der heiligen Taufe" wurde abschließend auf der Generalsynode in Bückeburg 1976 beraten und von der Bischofskonferenz am 29.10.1976 verabschiedet 57 . Der Abschnitt VIII: „Vom Sterben des Christen und vom christlichen Begräbnis" ist in seiner überarbeiteten Form von der Lutherischen Generalsynode in Bad Gandersheim (25. bis 28.10.1977) und von der Bischofskonferenz (28.10.1977) angenommen worden 58 . Die Revision des Abschnitts VII: „Von christlicher Ehe und kirchlicher Trauung" auf der Generalsynode in Bad Bevensen (23.—26.10.1978) noch nicht beendet; allerdings wurde achon die „Erklärung der Bischofskonferenz zur Ehe'" im Rahmen dieser Synode am 23.10.1978 verabschiedet 59 . 1.1.2. Der Das
Inhalt Vorwort
Das Vorwort der VELKD-Lebensordnung stellt die dogmatische, rechtstheologische und pastoraltheologische Grundbestimmung dieser Ordnung fest. Von diesen Grundaussagen her sind die einzelnen Abschnitte der Ordnung zu interpretieren und anzuwenden. Zunächst wird die Zielsetzung dieser Lebensordnung bestimmt. Die Ordnung will:
» Ebd., S. 650. 5 5 Ebd., S. 6 5 0 ; Luth. Generalsynode 1974, 2 2 8 ; Luth. Generalsynode 1976, 576f. 5 6 Lutherische Generalsynode 1976, 61f. 5 7 Lutherische Generalsynode 1976, 440ff. s 8 Lutherische Generalsynode 1977, 393ff. 5 9 Lutherische Generalsynode 1978, 34Iff.
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— dazu beitragen, das Leben in Beruf und Gemeinde nach dem Willen Christi zu gestalten. Der gestaltende Gesichtspunkt als Lebens-, Berufs- und Gemeindeordnung ist hier angesprochen. — kirchliche Sitte festigen. Der bewahrende Aspekt der Sittenordnung ist hier genannt. — durch gemeinsame Ordnung die brüderliche Verbundenheit der Gemeinden in der gesamten Kirche stärken. Der umgreifende Gesichtspunkt gesamtkirchlicher Ordnung ist damit erwähnt. — durch heilende Kräfte lebendiger Zucht die Gemeinden vor innerem Zerfall bewahren. Auf die reinigende Aufgabe kirchlicher Zuchtordnung wird hier verwiesen. — dadurch helfend und ordnend in die Welt hineinwirken. Damit ist die diakonische und volksmissionarische Intention dieser Ordnung angedeutet. Nach diesen Zielbestimmungen der VELKD-Lebensordnung geht das Vorwort im folgenden auf den Gebrauch, d.h. den rechten segensreichen Gebrauch, der Ordnung ein. Zunächst erfolgt eine negative Bestimmung: — Sie ist kein Gesetz, das vor Gott rechtfertigt. Damit wendet sich das Vorwort gegen eine legalistische Anwendung. — Sie erspart im konkreten Einzelfall nicht die persönliche Entscheidung seelsorgerlicher Verantwortung. Der kasuistische Gebrauch wird damit abgewehrt. „Einem geistlichen Mangel in der Gemeinde", so wird zusammenfassend erklärt, „kann nicht allein durch gesetzliche Zucht abgeholfen werden." Es folgt dann, mit einem kontradiktorischen „Aber" eingeleitet, die positive Bestimmung. Ein iterativer Nebensatz besagt zunächst: „Wo die Ordnung im Glauben und in der Liebe Christi, der das neue Leben aus Gottes Geist schenkt, geübt wird". Die theologische Grundlegung des Gebrauchs dieser Ordnung im sola fide als Glaubensordnung, im solus Christus als Liebesordnung, im sola gratia als Rechtfertigungsordnung ist hier angesprochen. Der Hauptsatz spricht dann in potentialkonsekutiver Form die Verheißung aus: „ . . . kann sie dazu dienen, daß das Wort Gottes die Kirche, die Gemeinde, unser Haus, unser persönliches Leben heiligt". Die Lebensordnung wird als Heiligungsordnung qualifiziert, wobei das eindeutige Subjekt das Wort Gottes ist, dem die Ordnung adjuvativ zugeordnet ist. Verheißende Heiligungsordnung in den Bereichen: Kirche, Gemeinde, Haus, persönliches Leben wird diese Lebensordnung durch das Wort Gottes bei rechtem geistlichen Gebrauch, wie er im Nebensatz beschrieben wird. 24
Wie dieses Vorwort, das von formaler und sprachlicher Kraft zeugt, klar feststellt, lehnt die Lebensordnung einen legalistischen und kasuistischen Gebrauch ab. Der dreieinige Gott allein ist das Subjekt, der auch diese Ordnung für den Glaubenden in den Dienst der Heiligung stellen kann, der Heiligung des gemeindlichen Lebens allein aus Gnade: pönitentiell, justifikativ und sanktifikativ. Die Lebensordnung ist dabei nur dienend dem lebendigen Wort Gottes zugeordnet in seiner Wirkung als Bußruf, als Heilsgabe und als Paraklese. Dies wird im folgenden zu vertiefen sein. Im Vorwort geht es also nach der Zielbestimmung der Lebensordnung um den geistlichen Gebrauch dieser Ordnung 6 0 . Mit einem Segenswort M. Luthers endet dementsprechend das Vorwort: „Aller Ordnung Leben, Würde, Kraft und Tugend ist der rechte Brauch; sonst gibt und taugt sie gar nichts. Gottes Geist und Gnade sei mit uns allen. Amen."
Inhaltlicher
Überblick
Die ,Ordnung des kirchlichen Lebens' der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland vom 27.3.1955 geht nach einem Vorwort, das die dogmatischen, rechtstheologischen und pastoraltheologischen Zielsetzungen der Lebensordnung grundlegend erwähnt, auf folgende Bereiche kirchlichen Lebens ein: I. Von der heiligen Taufe; II. Vom Dienst der Gemeinde an ihrer Jugend; III. Vom Leben der Jugend in der Gemeinde; IV. Vom Gottesdienst; V. Von der Beichte und Lossprechung (Absolution); VI. Vom heiligen Abendmahl; VII. Von christlicher Ehe und kirchlicher Trauung; VIII. Vom Sterben des Christen und vom christlichen Begräbnis; IX. Vom Amt; X. Vom Dienst der Glieder der Gemeinde; XI. Vom Übertritt, von den Folgen des Austritts und von der Wiederaufnahme in die Kirche; XII. Von der Zucht in der Kirche. Dem Aufbau entsprechend will diese Ordnung zunächst in Abschnitt I. bis VIII. das Leben des einzelnen Christen beschreiben. Die Mitte hat 60
Die „Ordnung des kirchlichen Lebens" der Evang.-luth. Landeskirche Schleswig-Holsteins vom 22.5.1957 (AB1EKD 1957, Nr. 232) hat diesen Vorspann im Wortlaut übernommen; auch sonst ist die Schleswig-Holsteinische Lebensordnung mit der VELKD-Lebensordnung identisch. Die bayerische Lebensordnung vom 18.5.1966 hat kein Vorwort (vgl. G. A. Vischer, Neuere Rechtsquellen für die Evang.-Luth. Kirche in Bayern, A 15); dasselbe gilt für die kirchengesetzlichen Bestimmungen zu den Lebensordnungsfragen der Landeskirche Hannover (vgl. Rechtssammlung der Evang.-Luth. Landeskirche Hannover I, hrsg. E. Sperling und H. Nagel, 321 A—329,2). Die Lebensordnung der Evang.-Luth. Landeskirche Mecklenburg vom 2.12.1955 (ABl EKD 1956, Nr. 121) hat ebenfalls kein Vorwort; ansonsten ist sie mit der VELKD-Lebensordnung identisch.
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dieser Teil in Abschnitt IV. bis VI. über den Gottesdienst, die Beichte und das Abendmahl. Es folgen dann in Abschnitt IX bis X. die Richtlinien des gemeindlichen Lebens: Amt und Gemeinde, sowie der Dienst in der Welt von heute. Abschnitt XI. und XII. beschreibt schließlich die Verbindlichkeit der Gliedschaft in der Gemeinde und die Grenzen der Gemeindezugehörigkeit. Dabei sind Abschnitt XI. und X. einander zugeordnet in der Doppelbewegung der Ekklesia in der Welt: nicht von der Welt, aber in die Welt. Der Abschnitt IX. ist somit der Angelpunkt des ersten Teiles (I. bis VIII.) zum zweiten Teil (X. bis XII.). Erwähnt sei schon an dieser Stelle, daß dieser Abschnitt IX. über das Amt wie auch der Abschnitt XII. über die Kirchenzucht in der EKU-Lebensordnung keine Parallele hat.
1.2. Die Lebensordnung 1.2.1. Die
der EKU vom
6.5.1955
Entstehung
Am 1. August 1951 trat die in den Treysaer Vereinbarungen von 1945 vorgesehene61 neue Ordnung der Evangelischen Kirche der Union in Kraft. Sie nahm damit die Stelle der Verfassung der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union vom 29.9.1922 6 2 ein. Auf der 1. Tagung der außerordentlichen Generalsynode der Evangelischen Kirche der APU am 10.12.1950 im Johannesstift in Berlin-Spandau und auf der 2. Tagung dieser Synode am 18. bis 20.2.1951 ebenfalls in Berlin-Spandau wurde sie als „neue Ordnung der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union" verabschiedet. Vom 10. -15.5.1952 sollte dann in Görlitz die 1. ordentliche Synode der APU zusammentreten, doch verweigerte der Staatssekretär den westlichen Kirchenvertretern am 18.3.1952 die Einreise in den Ostteil Deutschlands mit der Begründung, daß die Einsprüche gegen die Neuordnung der Evangelischen Kirche der APU vom Innenministerium aufrechterhalten bleiben; formal ging es um den Begriff „Preußisch" in „Altpreußisch" 63 . Die 1. ordentliche Synode der APU mußte dann vom 10.—15.3.1952 wieder in Berlin-Spandau durchgeführt werden. Diese Synode beschloß u.a. einen Ausschuß einzusetzen, der Richtlinien für eine gemeinsame Abfassung der „Ordnung des kirchlichen Lebens" innerhalb der EKU ausarbeiten sollte; entsprechend Art. 6,1 der „Ordnung der EKU" konnte 61 Vgl. Kirchliches Jahrbuch 1950, 62ff.; 1951, 43ff. 6 2 Vgl. Fr. Giese, J . Hosemann, Die Verfassungen der Deutschen Evangelischen Landeskirchen I, Berlin 1927, 3ff. « Vgl. Kirchliches Jahrbuch 1952, 11 Iff.
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das geschehen. Präsident Hildebrand schildert in seinem Referat über die Vorlage ,Lebensordnung' auf der Synode der Evangelischen Kirche der APU in Berlin-Weißensee vom 7.—12.12.1953 die weitere Arbeit wie folgt: „In seiner Sitzung vom 2. Dezember 1952 hat dieser Ausschuß in Zusammenfassung seiner bisherigen Arbeit und nach gründlicher Aussprache einen bemerkenswerten und kühnen Entschluß gefaßt: er beschloß nämlich, den Versuch zu unternehmen, einen Gesamtentwurf für eine „Kirchliche Lebensordnung der Evang. Kirche der A P U " herzustellen" 6 4 . Die Ausschußarbeit konnte dabei — anders als die Vereinigte Evang.-Lutherische Kirche in Deutschland — auf schon Bestehendes zurückgreifen und hierauf aufbauen: das „Kirchengesetz zur Ordnung des kirchlichen L e b e n s " vom 12.3.1930; die Aussprache und die Ausführungsanweisungen zur „Ordnung des kirchlichen L e b e n s " vom 4 . 1 1 . 1 9 3 0 6 5 ; das „Kirchbüchlein" der APU, das während des Kirchenkampfes von O. Hammelsbeck und O. Dibelius 1941 herausgegeben wurde 6 6 . Auf dieser gerade auch gemeinsamen Grundlage konnte man weiterarbeiten. Andererseits aber traten durch die große Verschiedenheit der Landeskirchen und durch die politisch unterschiedliche Situation in West- und Ostdeutschland zahllose Schwierigkeiten auf. Auch arbeiteten einzelne Landeskirchen schon seit längerer Zeit an eigenen Lebensordnungen wie z.B. Berlin-Brandenburg; in den Rheinprovinzen Westfalen und Rheinland war die Lebensordnung ohnehin in der Kirchenordnung fest verankert. Trotz mannigfacher Probleme erlangte man in mühsamer Arbeit schließlich eine Einigung unter den Gliedkirchen. „Die Kirchenleitung der Evang. Kirche der Kirchenprovinz Sachsen stimmte dem Vorhaben des Ausschusses mit großer Freudigkeit zu. Die Synode der Kirchenprovinz Sachsen Schloß sich dieser Stellungnahme ausdrücklich an. Die Evang. Kirche von Berlin-Brandenburg erklärte am 8. J a n u a r dieses J a h r e s ihr Einverständnis zu diesem Versuch. Am 23. Januar stimmte die Evang. Kirche von Schlesien zu. Die Pommersche Evang. Kirche erklärte am 30. J a n u a r , daß sie gegen das Vorhaben Bedenken trage, weil es nicht mehr zu erwarten sei, daß ein solches Experiment wegen des zu großen Fortschrittes der gliedkirchlichen Arbeiten gelingen werde. Wenn aber alle anderen Gliedkirchen ihre Zustimmung gäben, wolle auch Pommern nicht widersprechen. Rheinland erklärte, daß die Ordnung des kirchlichen Lebens in ihrer Kirchenordnung im Art. 15 bis 66 bereits festgeVerhandlungen der ordentlichen Synode der Evang. Kirche der APU vom 7.— 12.12.1953, Berlin 1954, 59. 6 5 Vgl. Art. 86,2 der „Ordnung des kirchlichen Lebens der E K U " vom 6.5.1955. « Vgl. S. 7 7ff. 64
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legt ist. Dies könne nur durch die Landessynode geändert werden, was aber sehr unwahrscheinlich sei. Jedoch wolle das Rheinland gegen den Versuch der Erarbeitung einer kirchlichen Lebensordnung für die östlichen Gliedkirchen keinen Widerspruch erheben und daran mitarbeiten. Es wurde begrüßt, wenn dieser gesamtkirchliche Entwurf sich in den wesentlichen Bestimmungen in Übereinstimmung mit den Ordnungen der westlichen Gliedkirchen halte. Ähnlich äußerte sich die Evang. Kirche von Westfalen" 6 7 . Damit trat die Arbeit in ihr eigentliches Stadium. Als Grundzüge für die Arbeit an der EKU-Lebensordnung nannte Präsident Hildebrandt in seinem Referat zur Vorlage ,Lebensordnung' 1953 folgende: „Der erste Grundzug dieses Entwurfes ist gearbeitet für die lutherischen, reformierten und unierten Gemeinden gemeinsam. Er entspricht damit dem Wesen der Evang. Kirche der APU, wie es in Art. 1 und im Grundartikel ihrer Ordnung zum Ausdruck k o m m t . " 6 8 Mit Recht hebt der Redner dann hervor, daß angesichts der großen Verschiedenheiten und Unterschiede die Gefahr bei der Arbeit an einer gemeinsamen Lebensordnung nicht in der Uniformität, sondern in der Diversität besteht 6 9 . Der zweite Grundsatz ist folgender: „Diese ganze Lebensordnung nimmt die Gnade Gottes, die sich uns in Wort und Sakrament anbietet, in der Gemeinde ernst." Der Redner profiliert dann die Grenze zwischen Gemeinde und Welt stärker als die bisherige Lebensordnung von 1930, ohne sich ein richterliches Urteil anzumaßen. Er nimmt die Tatsache der Sünde auch in der Gemeinde ernst und sucht ihr durch geordnete Zucht zu begegnen 70 . Stärker — nicht zuletzt auch aufgrund der Erfahrungen des Kirchenkampfes — als die Lebensordnung von 1930 wird darum die mögliche Versagung von kirchlichen Handlungen und die Kirchenzucht betont. „Der dritte Grundzug bringt durchgehend die Mitverantwortung der Gemeinde zum Ausdruck." 7 1 Gerade in der Hervorhebung der Verantwortung der Gemeinden und des Gemeindekirchenrates ist die mündige und tätige Gemeinde in der Volkskirche die intendierte Bezugsgröße. Der vierte Grundzug betont in gleicher Richtung das allgemeine Priestertum stärker als die Lebensordnung von 1930 7 2 . Die Verantwortung der Verhandlungen der ordentlichen Synode der Evang. Kirche der APU vom 7.— 12.12.1953, Berlin, 1954, 60. 68 Ebd., 63. « Ebd., 69. ™ Ebd., 64. ™ Ebd., 65. ™ Ebd., 66f.
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Laien für das kirchliche Leben wird unter volkskirchlichem Gesichtspunkt hervorgehoben. Auf dieser Synode der APU in Berlin wurde dann die 1. Lesung über einzelnen Abschnitte der Lebensordnung mit folgendem Beschluß beendet: Die „Synode wolle beschließen: a) Der Entwurf für eine Ordnung des kirchlichen Lebens ist die geeignete Grundlage für weitere Arbeit. b) Synode beauftragt einen Fortsetzungsausschuß mit der sachlichen Durchsicht und der Abfassung eines Vorspruchs. c) Der Entschluß wird dann den Gliedkirchen zur Prüfung übergeben. Es wird gebeten, daß diese bis zum 15. November 1954 alle Änderungsvorschläge an den Rat einreichen. Die Synode nimmt die zweite Lesung bis zum 13. März 1955 v o r " 7 3 . Nachdem dann die verschiedenen Änderungsvorschläge aus den Gemeinden und Gliedkirchen vom Fortsetzungsausschuß bearbeitet worden waren, wurde die 2. Fassung des Entwurfs einer gesamtkirchlichen Lebensordnung auf der 3. Tagung der ordentlichen Synode der EKU in BerlinSpandau (1.—6.5.1955) behandelt und verabschiedet. Präsident Hildebrandt legte in seiner Berichterstattung über die Ausschußarbeit noch einmal den Akzent auf die gesamtkirchliche Bedeutung der Lebensordnung, gerade was die östlichen Gliedkirchen betrifft: „Es ist natürlich so, daß bei der ganzen Situation der Kirche im Osten es ein Übelstand ist, wenn verschiedene Regelungen in den Lebensordnungsbestimmungen da sind, besonders bei den aneinandergrenzenden Kirchen Das ist in der Situation der Kirche des Ostens ganz besonders bedränglich und sollte nach Möglichkeit vermieden werden." 7 4 Als weiterer Grund ist die gleiche Ausbildung der Pfarrer, Gemeindehelfer, Diakone usw. zu nennen und ferner die Möglichkeit eines gemeinsamen Auftretens gegenüber staatlichen Stellen. Schließlich können aus der gemeinsamen Lebensordnung „auch differenzierte weitere Ordnungen hervorgehen" 7 5 ; an dieser Stelle wird besonders erwähnt, daß solch eine Lebensordnung ein „Kirchbüchlein" nicht ersetzt, sondern durch ein solches ergänzt wird 7 6 . Propst Staemmler brachte dann die 2. Fassung in die Synode ein; sie wurde in den Einzelartikeln und im ganzen in 2. Lesung einmütig angenommen 7 7 . In seinem Schlußwort sagte Präses Dr. Kreyßig bewegt: Ebd., 255. Verhandlungen der ordentlichen Synode der Evang. Kirche der Union vom 1. bis 6. Mai 1955, Berlin 1956, 117. ™ Ebd., 118. 7 6 Ebd., 253. 7 7 Ebd., 307. 73
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„Ich kann den Brüdern und Schwestern schwer vergegenwärtigen, was mich bewegt, wenn ich bedenke, was in den vergangenen Jahren an Möglichkeiten des Scheiterns oder einer ganz unvollkommenen Lösung uns vor der Seele gestanden hat. Ich wiederhole den Ausdruck meiner tiefen Befriedigung sonderlich darüber, daß nicht vorangestanden, es müsse um jeden Preis etwas Gemeinsames im Sinne von etwas Gleichförmigem gemacht werden. Ich habe an jedem Punkt den Eindruck gehabt, daß es uns schlechthin um gemeinsame Verantwortlichkeit vor der Wahrheit gegangen ist. Wir haben mit Gottes Freundlichkeit einen bedeutsamen Schritt der Entwicklung beschließen dürfen. Ich glaube, daß die Ordnung des kirchlichen Lebens für Wesen, Gestalt und Auftrag einer Kirche doch erheblich mehr bedeutet, als wir es gemeinhin annehmen. Gottes heiliger Name sei gepriesen. Wir wollen ein Danklied singen, und zwar Lied 225,3,5: In den Dank bitte ich einzubeziehen die Menschen, die er berufen und gewürdigt hat, Hand anzulegen an diesen Bau. Zu meiner Freude ist es ein ungezähltes Heer. Ich weiß nicht, wir haben an die 1000 Abänderungsanträge zur Grundordnung (wohl Lebensordnung) allein aus der Hand der Gemeindekirchenräte in der Kirchenprovinz Sachsen erhalten. Vor Gottes Angesicht mögen sie alle aufmarschieren, die da mit einem ungeteilten Herzen sich gesorgt und gemüht haben um Wesen und Gestalt ihrer Kirche. Wir gedenken aller Ausschußmitglieder, die mit großem Fleiß und der Entfaltung reicher Gaben am Werk waren, und wiederum vor ihnen allen des Bruders Staemmler und des Bruders Hildebrandt, des Propstes und des Präsidenten, die die feldherrliche Gewalt halten über diesem Werk. Gott lohne es auch allen und laß aus dieser Sache erwachsen, was unsere Gebete erflehen für unsere Kirche." 7 8 Die „Ordnung des kirchlichen Lebens" richtet sich nun immer auf das konkrete gemeindliche und kirchliche Leben; sie ist darum einem ständigen geschichtlichen Wandel unterzogen. Vizepräsident Dr. Schwidtal drückte das in einem Schlußvotum auf der EKU-Synode in Berlin-Weißensee (7.—12.12.1953) wie folgt aus: „Lebensordnungen, die kirchliches Leben ordnen wollen, müssen immer darauf bedacht bleiben, daß auch das kirchliche Leben immer im Fluß ist, und daß immer Bewegungen und Veränderungen vorhanden sein werden." 7 9 In den Anfängen der Arbeit an der EKU-Lebensordnung ist somit schon angedeutet, daß sie fortzuschreiben, der Situation entsprechend zu verändern ist, um die ge-
™ Ebd., 307f. 79 Verhandlungen der ordenüichen Synode der Evang. Kirche der APU vom 7. bis 12.12.1953, Berlin 1954, 235.
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meindlichen und kirchlichen Verhältnisse wirklich abzudecken 8 0 . So wurde dann auch 1968 ein Arbeitskreis gebildet, der sich mit der Frage der Neugestaltung einer Ordnung des kirchlichen Lebens beschäftigen sollte. Der Arbeitskreis wollte nach eigenen Überlegungen zu Grundfragen der Lebensordnung eine Handreichung erarbeiten, die stärker auf das Verhältnis von Kirche und Welt einzugehen versuchte, die den Dienstcharakter kirchlichen Lebens und die Gestaltenvielfalt dieses Dienstes, die den missionarischen und ökumenischen Aspekt betonen sollte. Projektierende Gesichtspunkte versuchte man stärker hervorzuheben 8 1 . Im Bereich der DDR konstituierte sich Anfang 1971 ein gemeinsamer Ausschuß der VELK-DDR und des Rates des EKU-Bereich DDR, um bis Frühjahr 1973 zwei Einzelteile der Lebensordnung neu abzufassen: „Zugehörigkeit zur Kirche" und „Geleit im Tode". Der Tätigkeitsbericht der Kirchenkanzlei der EKU für die Zeit vom April 1972 bis Dezember 1973 schreibt über den Bereich der DDR hierzu: „Es wird insbesondere die Frage zu entscheiden sein, ob die Zeit zu einer gemeinsamen Neufassung der beiden jetzt geltenden Lebensordnungen (EKU, VELKD) schon gekommen ist oder ob es sich empfiehlt, zunächst bei den vorhandenen Ordnungen zu bleiben und neuen Fragestellungen nur in der Weise entgegenzukommen, daß eine Handreichung Hilfen zur Anwendung derselben gibt Im Augenblick ist die Zukunft auf diesem Teilgebiet kirchlicher Ordnung also durchaus o f f e n . " 8 2 Im Tätigkeitsbericht der EKU-Kirchenkanzlei für die Zeit vom Januar 1974 bis März 1976 heißt es noch ganz entsprechend: Der Rat stellte sich in seiner Novembersitzung 1974 „auch der Frage aus einigen Gliedkirchen, ob nicht Struktur und Zielvorstellung der bisherigen »Ordnung des kirchlichen Lebens' verändert und demzufolge sowohl eine Rahmenordnung als auch eine mehr seelsorgerlich geprägte Handreichung für Gemeindeglieder erstellt werden müßte" 8 3 . Er beschloß, vor Wiederaufnahme der Arbeit an einer gemeinsamen Lebensordnung das Ergebnis der von ihm angeordneten Überprüfung der Handhabung der geltenden Ordnung ab-
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So gab es auf der Synode der EKU 1956 schon folgenden Beschluß: „Die Synode beauftragt den LO-Ausschuß der EKU auf seiner nächsten Sitzung die Frage der Seelsorge und Kirchenzucht bei Taufe, Trauung und Konfirmation auf Grund einer Vorlage von Frau Vikarin Becker zu behandeln", Verhandlungen der ordentlichen Synode der EKU 1956, 195. 81 Tätigkeitsbericht der Kirchenkanzlei der EKU für die Zeit vom Januar 1968 bis März 1970. 82 Tätigkeitsbericht der Kirchenkanzlei der EKU für die Zeit vom April 1972 bis Dezember 1973, 4 9 f . 83 Materialien zur 1. Tagung der 5. Synode der EKU-Bereich D D R vom 18.—20. 6 . 1 9 7 6 in Ostberlin, 95.
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zuwarten. Diese Überprüfung ergab, daß „das Dilemma zwischen der .Ordnung des kirchlichen Lebens' und der kirchlichen Praxis" seit Jahren am stärksten in den Abschnitten Taufe, Abendmahl, Trauung und besonders Konfirmation spürbar ist In vielen Arbeitskreisen wird über Fragen der Taufe, der Konfirmation und der Kirchenzugehörigkeit nachgedacht und versucht, das „Dilemma" zu überwinden. Daher wurde dem Rat empfohlen, keinen Auftrag zur Erstellung einer neuen „Lebensordnung" oder Handreichung zur bisherigen zu erteilen, ehe nicht Ergebnisse solcher Arbeitskreise vorliegen" 84 . Im Bericht wird zugleich auch die Möglichkeit einer gemeinsamen Lebensordnung der VELK-DDR und des EKU-Bereich DDR wieder angedeutet. Die Bemühungen um eine Revision der EKU-Lebensordnung vom 6.5.1955 sind damit noch im Fluß.
1.2.2. Der Inhalt Vorspruch
85
Der Vorspruch der EKU-Lebensordnung ist erst nach der Beendigung der Arbeit an den zehn Abschnitten dieser Ordnung abgefaßt und dann auf der 3. Tagung der ordentlichen Synode der EKU in Berlin-Spandau (1.—6.5.1955) mitverabschiedet worden. Der Vorspruch ist dabei wegen 84
Ebd., 96. Die Evang. Kirche von Berlin-Brandenburg hat am 11.4.1957 unter Zurückstellen der eigenen Lebensordnung die EKU-Lebensordnung übernommen (ABl EKD 1958, Nr. 40), ebenso die Evang. Kirche der Kirchenprovinz Sachsen (ABl EKD 1956, Nr. 163). 85
Die Evang. Kirche im Rheinland und die Evang. Kirche von Westfalen sind nicht in die EKU-Lebensordnung einbezogen. Die Kirchliche Lebensordnung dieser Landeskirchen ist in der jeweiligen Kirchenordnung enthalten: Kirchenordnung der Evang. Kirche im Rheinland vom 2.5.1952, Art. 15ff.; Kirchenordnung der Evang. Kirche von Westfalen vom 1.12.1953, Art. 162ff. Besonders ist die Lebensordnung der Evang. Landeskirche in Baden vom 16.4.1970 zu nennen; sie hat einen Teil über die Taufe, die Konfirmation, die Trauung und die Bestattung; einen Vorspruch hat sie nicht. Ferner muß die Lebensordnung der Evang. Kirche von Hessen-Nassau vom 11.1.1962 erwähnt werden; auf den Vorspruch folgt der Teil über die Taufe (I) und die evangelische Unterweisung und Konfirmation (II); der Teil III bis V geht dann auf den Gottesdienst, das Abendmahl und das Leben und den Dienst der Gemeinde ein. An diesen Kemteil schließt sich der Abschnitt über die Ehe und Trauung (VI), über T o d und Bestattung (VII), über die Aufnahme in die Kirche und den Austritt aus der Kirche sowie die Wiederaufnahme (VIII) an. Die Lebensordnung der EKHN wird im folgenden besonders zum Vergleich mitherangezogen.
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seines grundsätzlichen Charakters länger geworden als der der VELKDLebensordnung. Besonders zu erwähnen für die Intention und den Gesamtcharakter dieser Ordnung ist auch, daß sie durch ein neues „Kirchbüchlein" ergänzt werden sollte, das in stärkerem Maße die theologischen Aspekte christlicher Existenz aufzeigt. Dieses „Kirchbüchlein" 86 ist bis jetzt noch nicht geschrieben worden. Es soll dann an die Stelle des alten „Kirchbüchleins" der Evangelischen Kirche der APU treten, das während des Kirchenkampfes im Januar 1941 herausgegeben wurde; die EKU-Lebensordnung vom 6.5.1955 löst die APU-Lebensordnung vom 12.3.1930 ab. Der Vorspruch hat vier Absätze. Im ersten Absatz geht es um das Ziel und die theologische Bedeutung dieser Lebensordnung: „Alle Ordnung der Kirche dient der Verkündigung des Wortes Gottes und der Heiligung der Gemeinde." 8 7 Diese adjuvative Funktion kennzeichnet den theologischen Charakter der ganzen Lebensordnung: — sie ruft im Geist der Barmer Theologischen Erklärung 3 zu freudigem Gehorsam gegen Gottes Wort auf, damit nach der Weisung der Heiligen Schrift (sola scriptura) alles ehrbar und ordentlich in der Gemeinde zugehe. Der rechtstheologische Gesichtspunkt ist damit angesprochen. — sie mahnt entgegen einer libertinistisch mißverstandenen evangelischen Freiheit zu einem zuchtvollen Leben und Wandel. Auf den kirchenzuchtlichen Aspekt wird damit hingewiesen. — sie hält — und hier redet die Ordnung in personaler Applikation — „uns" in der brüderlichen Gemeinschaft der ganzen Kirche gerade auch angesichts der Schwachheit und Willkür des Einzelnen. Vom seelsorgerischen Gesichtspunkt ist hier die Rede. Der zweite Absatz geht auf den Gebrauch dieser Ordnung ein. Sie ist gemeinsame Ordnung der ganzen Kirche; unter gesamtkirchlichem Aspekt gebraucht, gereicht sie der einzelnen Gemeinde zum Segen. Sie ist ge86
Vgl. die Ausführungen von Präses Dr. Kreyßig auf der EKU-Synode in BerlinSpandau (1.—6.5.1955), in: Verhandlungen der ordentlichen Synode der EKU vom 1. bis 6. Mai 1955, Berlin 1956, 253. 87 Der im Aufbau entsprechende Vorspruch der „Ordnung des kirchlichen Lebens der EKHN" beginnt: „Die folgende Ordnung dient der rechten Gestaltung des gottesdienstlichen und gemeindlichen Lebens in den Gemeinden". Sie will: einer Ordnungslosigkeit und Willkür wehren; zur Prüfung des Lebens in der Gemeinde aufrufen; helfen, den Auftrag der Gemeinden besser auszurichten. Beim Gebrauch dieser Ordnung ist der seelsorgerliche Gesichtspunkt entscheidend. 3 Piathow, Lehre
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sellschaftsdiakonisch und missionarisch orientiert; die geistlich geordnete Gemeinde und Kirche wirkt helfend und ordnend in die Welt hinein. Diese Lebensordnung soll in Liebe angewandt und um der Liebe willen eingehalten werden (Liebesordnung) 88 . Der dritte Absatz behandelt die rechtliche Bedeutung dieser Ordnung. Wie auch im Vorwort der VELKD-Lebensordnung heißt es zunächst in abgrenzender Aussageform: „Die Ordnung des kirchlichen Lebens ist kein Gesetz, dessen Erfüllung uns vor Gott rechtfertigt." Mit der Ablehnung eines legalistischen Verständnisses durch das ,sola gratia' ist auch die eines kasuistischen verbunden: sie ist „kein Gesetz, das jede einzelne Entscheidung in der Gemeinde schematisch regelt und seelsorgerliche Verantwortung einschränkt". Es folgt dann die positive Darlegung: diese Ordnung ist in Verantwortung recht zu handhaben, d.h. als eine Regel, der sich niemand ohne gewichtigen Grund entziehen soll 89 . Wer im Einzelfall zu einer anderen Entscheidung kommt, der soll fragen, „ob er das Wort Gottes für sich habe". Die Heilige Schrift allein ist die Norm, der Rat der Kirchenleitung ist zusätzlich nützlich. Der vierte Absatz ruft dann die Pfarrer, Presbyter und Gemeinderäte auf, die Ordnung im Vertrauen auf den Beistand des Heiligen Geistes, also als Heiligungsordnung, zur Ehre Gottes und zum Segen der Gemeinde zu gebrauchen 90 ; mit anderen Worten gesagt, diese Lebensordnung ist geistlich zur Ehre Gottes (theologische Intention) und zum Segen der Gemeinde (ekklesiologische Intention) zu benutzen; sie steht im Dienst der Heiligung nicht als Gesetz, sondern als Regel und Richtschnur eines geistlichen Gebrauchs in seelsorgerlicher Verantwortung. 88
Auch die Lebensordnung der EKHN versteht sich als Liebesordnung, deren Verbindlichkeit ganz der Freiheit des Evangeliums, „die keine andere Bindung kennt als den Willen des Herrn", subsummiert ist. 89 Die Lebensordnung der EKHN konzentriert im Geist der Bekennenden Kirche die Fragen der Rechtstheologie auf die der Kirchenzucht: „Auftrag der Kirche ist es, die rettende Gnade Gottes in Christus allem Volk zu verkündigen". Die Versagung des Abendmahls oder einer Kasualhandlung geschieht allein deshalb, „um zur Umkehr zu rufen und um einer gedankenlosen Verschwendung des Evangeliums zu wehren." 90 Die Lebensordnung der EKHN weist im Blick auf Eph. 4,15 und Gal. 5,13 — mit Rückgriff auf Gedanken R. Westers in seinem Beitrag „Die Ordnung als Aufgabe", in: ELKZ 8, 1954, 75 — darauf hin, daß die Lebensordnung nur „Hindernisse für Verkündigung und Gemeindeleben aus dem Weg räumen" kann; die Hauptaufgabe der Pfarrer und Veratnwortlichen der Gemeinde ist es, „daß wirkliches Leben aus Gottes Wort und heiligem Geist wachse und bleibe."
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Inhaltlicher
Überblick
Die „Ordnung des kirchlichen Lebens" der Evangelischen Kirche der Union vom 6.5.1955 gliedert sich nach dem Vorspruch, der die dogmatischen, rechtstheologischen und pastoraltheologischen Grundbestimmungen enthält, in folgende zehn Abschnitte: I. Von der heiligen Taufe, II. Von der evangelischen Erziehung und von der Konfirmation, III. Von der jungen Gemeinde, IV. Vom Gottesdienst, V. Vom heiligen Abendmahl, VI. Von der Seelsorge, von der Beichte und von der kirchlichen Zucht, VII. Vom Leben und Dienst unter dem Wort, VIII. Von der Trauung, IX. Von der kirchlichen Bestattung, X. Von der Aufnahme in die Kirche und den Folgen des Austritts. Es schließen sich ein paar Schlußbemerkungen rechtlicher Art an. Diese Ordnung hält sich damit in ihrem Gesamtaufbau an die Stationen des Lebenslaufes eines Christen in der Gemeinde und Kirche. Um die zentralen Artikel IV bis VII, die das gottesdienstliche Leben am Sonn- und Alltag behandeln, gruppieren sich die Artikel I bis III mit den Richtlinien für die Taufe, die evangelische Erziehung und Konfirmation, das Leben der jungen Gemeinde, also die Abschnitte über das Leben eines jungen Christen. Es folgen auf die Kernartikel der Lebensordnung Abschnitt VIII und IX, die von der Trauung, Eheführung, vom Sterben und der christlichen Bestattung handeln. Teil X regelt, den Bogen zu Abschnitt I schlagend, die Verbindlichkeit und Begrenzung der kirchlichen Mitgliedschaft.
2. Die Visitationsordnung der VELKD und der unierten Landeskirchen Die Visitation ist brüderlicher Besuchsdienst und kirchenleitende Aufsicht; in dieser Doppelbestimmung ist sie ein kirchenregimentliches Institut der Gesamtkirche. Die Visitation wurde nicht von den Reformatoren entdeckt. Schon in neutestamentlicher Zeit war der gegenseitige Besuchsdienst bekannt; er verband die Einzelgemeinden mit der Gesamtchristenheit. Wir kennen im Neuen Testament 9 1 die Visitation durch Briefe, in denen ganze Gemeinden, Gruppen und Sekten in der Gemeinde oder auch die einzelnen Glieder der Gemeinde zur Umkehr gerufen, ermahnt, getröstet und gestärkt wurden. Das Neue Testament mit seinen verschiedenen Schriften kennt weiter die Lehraufsicht durch Boten, z.B. des Apostels Paulus, und die Visitation durch den Apostelbesuch; 91 Vgl. Exkurs: Visitation, S. 48ff.
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Irrlehren sollte gewehrt, das Gemeindeleben erneuert, die Verbindung mit anderen Gemeinden gefestigt werden. Das Verdienst der Reformation 9 2 bestand vor allem darin, daß sie gegen die Vergesetzlichung der frühmittelalterlichen und mittelalterlichen Visitationspraxis neu den geistlichen Charakter und Auftrag dieses gesamtkirchlichen Besuchsdienstes erkannte. Die wesentlichen Strukturelemente sind darum schon in der Reformationszeit angelegt. Aus der gegenwärtigen Literatur lassen sich hierfür folgende erheben: 1. „Visitationen stellen die Ausübung pfarramtlicher Funktionen durch die Kirchenleitung dar" 9 3 . Die kirchenregimentliche Aufsicht durch die Visitation wird hier betont 9 4 . 2. „Visitationen sind eine eigentümliche Zwischenform zwischen brüderlichem Besuchsdienst und kirchenleitender Aufsicht über das Leben in den Einzelgemeinden" 95 . Die theologischen, seelsorgerlichen und rechtlichen Gesichtspunkte in ihrer Verbundenheit sind in diesem Visitationsverständnis vorsichtig angedeutet: das Wächteramt über die reine Wortverkündigung und über die rechte Sakramentsverwaltung; die Prüfung, Beratung und Begleitung des geistlichen Lebens beim Pfarrer und in der Gemeinde; die Ausübung kirchenrechtlicher Aufgaben „sine vi, sed verbo" 9 6 . 3. Die Visitation dient vor allem der gesamtkirchlichen Kommunikation und der ökumenischen Verantwortung der Einzelgemeinden 97 . Sie zielt auf volkskirchliche Repräsentation, auf seelsorgerliche Stärkung und Tröstung, auf geistliche und rechtliche Reformation 9 8 . 4. Ganzheitlich verbindet dieser Besuchsdienst geistliche Visitation und rechtliche Revision 99 . Vgl. Exkurs: Visitation, S. 5 5 f . R. Wester, Zum theologischen Verständnis der Visitation, in: Die Visitation, Berlin-Hamburg 1 9 6 4 , 7 9 . 9 4 Vgl. auch: H. J e d i n , Die Visitation im Dienst der kirchlichen Reform. Einführung, Münster 1 9 6 7 , 5; H. Hack, Visitation, in: L T h K X , 1 9 6 5 * , 8 1 3 ; G. Uhlhorn, Kirchenvisitation; in: R E 3 X , 4 8 0 , 1 9 f . ; E . Wolf, Ordnung der Kirche, Frankfurt/M. 1961, 620. 91 93
«
M. Schmidt, Visitation, in: R G G 3 VI, 1 4 1 2 .
96 H. Thimme, Visitation, in: E K L III, 1 6 6 9 . 9 7 M. Schmidt, Visitation, in: R G G 3 VI, 1 4 1 2 ; H. Thimme, Visitation, in: E K L III, 1669. 9 8 G. Uhlhorn, Kirchenvisitation, in: R E 3 X , 4 8 0 f . ; H. Ph. Meyer, Die Visitation als Aufsicht mit dem Wort und den Mitteln des Rechts, in: ZevKR 18, 1 9 7 3 , 1 6 8 ; E. Wolf, Ordnung der Kirche, Frankfurt/M. 1 9 6 1 , 5 2 9 . 9 9 Vgl. Ph. Melanchthon, Unterricht der Visitatoren, in: E. Sehling, Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts Bd. I 1, Leipzig 1 9 0 2 , 1 5 1 . Ebenso: M. Luthers Brief vom 2 2 . 1 1 . 1 5 2 6 an Kurfürst J o h a n n , WABr 4 , 1 3 3 , 2 8 - 1 3 4 , 2 . Dazu: M. Honecker, Visitation, in: ZevKR 17, 1 9 7 2 , 3 5 2 f f .
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5. Zentrum der Visitation ist der Gottesdienst 1 0 0 . 6. Die Visitation ist dem theologischen Verständnis nach Ausübung der Schlüsselgewalt 101 . Zusammenfassend ist die Visitation somit der brüderliche Besuchsdienst und die kirchenleitende Aufsicht der Gesamtkirche in der Einzelgemeinde; der theologische, seelsorgerliche und kirchenrechtliche wie auch der ökumenische Aspekt verbinden sich in der Visitation, die „sine vi, sed verbo" als Ausübung der Schlüsselgewalt des Wortes Gottes durchgeführt wird zur Mahnung, Stärkung und Auferbauung der Kirche Jesu Christi. Nachdem durch den Überblick über die Strukturelemente der Visitation der Blick geschärft ist, soll die VELKD- und die EKU-Visitationsordnung von diesen Gesichtspunkten her analysiert werden.
2.1. Die „Richtlinien vom 8.11.1963
der Bischofskonferenz
über die
Visitation"
Die „Richtlinien" zur Visitation vom 8.11.1963 wurden gemäß Artikel 9, Absatz 2 der Verfassung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland von der Bischofskonferenz verabschiedet 102 . Zu diesen bischöflichen Richtlinien wurden vom Ausschuß der VELKDSynode für Fragen des gemeindlichen Lebens eine „Handreichung zu den Richtlinien für die Visitation" 1 0 3 und eine „Handreichung für den Gemeindebericht" 1 0 4 angefertigt. Alle diese Arbeiten hatten zum Ziel, daß die Kirche der Reformation wieder erkennen möge, „daß die Reformation der Kirche eng mit dem Dienst der Visitation verbunden war und verbunden bleiben m u ß " 1 0 S . Die „Richtlinien der Bischofskonferenz über die Visitation" gliedern sich in sechzehn kurze Absätze: in drei Themenkomplexe lassen sie sich wieder zusammenfassen: Absatz 1—5 behandelt die theologische Grundlegung der Visitation, Ab100
H. Thimme, Visitation, in: EKL III, 1669; H.-Ph. Meyer, Die Visitation als Aufsicht mit dem Wort und den Mitteln des Rechts, in: ZevKR 18, 1973, 176f. 101 H. Diem, Kirchenvisitation als Kirchenleitung, in: Ecclesia semper reformanda. E. Wolf zum 50. Geburtstag, Sonderheft der Evang. Theol., München 1952, 57ff. 102 Richtlinien der Bischofskonferenz über die Visitation vom 8. November 1963, in: Ordnungen und Kundgebungen der VELKD, hrsg. J. Frank, E. Wilkens, BerlinHamburg 1966 2 , Β 140. Vgl. auch: Lutherische Generalsynode 1963, 334 und: Lutherische Generalsynode 1965, 265. 103 Die Visitation, Missionierende Gemeinde Heft 9, Berlin—Hamburg 1964, 12ff. 104 Ebd., S. 83ff. 105 Ebd., Vorwort.
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satz 6—10 die pastoral theologische Ausrichtung dieses Besuchsdienstes und Absatz 11—16 den organisatorischen Verlauf und die kirchenrechtlichen Implikationen dieses Dienstes kirchenleitender Aufsicht. Der erste Absatz bestimmt die Visitation als Wächterdienst der Kirche über die schriftgemäße Verkündigung und die stiftungsgemäße Verwaltung der Sakramente 1 0 6 ; in diesem visitatorischen Dienst wird die Schlüsselgewalt ausgeübt. Der zweite Absatz verweist auf den gesamtkirchlichen Aspekt dieses Besuchsdienstes: Visitation ist eine gesamtkirchliche Aufgabe und Funktion; „der Visitator weist die Gemeinde auf ihre Aufgaben in der Gesamtkirche hin. Er nimmt Anregungen der Gemeinde für die gesamtkirchliche Arbeit entgegen" 1 0 7 . Subjekt der Visitation — so sagt Absatz 3 — ist „der Herr", der durch sein Wort Selbstgenügsamkeit richtet, in Anfechtungen Trost und Stärkung gibt, zum Bekennen ermutigt. Er fragt die Gemeinde kritisch nach ihrem Leben in der Nachfolge. Neben dem Ruf zur Selbstprüfung und Buße ist die Visitation eine Möglichkeit, die vorhandenen Gaben und Charismen zu entdecken und fruchtbar machen zu helfen für die Auferbauung der Gemeinde (Absatz 4) 108 . Ist in den ersten vier Absätzen vor allem das Leben der Einzelgemeinde in den Blick gefaßt worden, so bezieht Absatz 5 nun den gesamtkirchlichen Sendungsauftrag mit ein: die missionarische Sendung in die Welt, die „diakonische Verantwortung für den einzelnen und das öffentliche Leben", die ökumenischen Dienste zur Einigung der Kirchen 1 0 9 . 106
Vgl. hierzu die Anordnung der Bischöfe für Holstein und Schleswig vom Februar 1948, I 1: „Die Visitation soll dazu helfen, dafl die Verkündigung der Kirche in der Gemeinde zur Geltung kommt und von den Gliedern der Gemeinde als solche erkannt wird". Es werden dazu die Instruktionen für den Generalsuperintendenten vom 12.12.1739 zitiert, die einmal die schrift- und bekenntnisgemäße Predigt hervorheben; zugleich wird weiter gesagt: „Die Visitation hat aber auch zu prüfen, ob die Verkündigung in den Gemeinden auf die Gegenwart ausgerichtet ist". Ähnlich lautet auch die „Vorläufige Ordnung für die Visitation durch den Landessuperintendent der Evang. Kirche Mecklenburgs" vom 18.7.1963, Grundlegung 1, in: AB1EKD, 1967, 73 und der thüringischen Visitationsordnung § 1,1 vom 1.7. 1970, in: AB IE KD 1970, 405. 107 So auch: Visitations Ordnung von Mecklenburg, Grundlegung 2; Visitationsordnung von Thüringen § 1,1. 108 Vgi_ di e Verordnung über die Kirchenvisitationen der Kreisdekane in der evang.luth. Kirche in Bayern vom 3.1.1922, Vorspann; die Visitationsordnung von Mecklenburg, Grundlegung 5. 109 Vgl. die Verordnung über die Kirchenvisitationen der Kreisdekane in der evang.luth. Kirche in Bayern vom 3.1.1922, Vorspann; die Visitationsordnung von Mecklenburg, Grundlegung 4, 6; die Visitationsordnung von Thüringen, § 1,1.
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Absatz 6 und 7 weisen dann auf die Doppelfunktion der Visitation: sie ist einerseits geistlicher Leitungsdienst; sie ist andererseits Revision 110 auch im rechtlichen Sinn. Personell wird die Visitation darum vom „Inhaber der geistlichen Leitungs- und Aufsichtsämter" und gegebenenfalls von einer Kommission von Fachleuten durchgeführt. Als kirchenleitende Aufsicht und als „helfender Dienst" gibt die Visitation Zurechtweisungen und Anweisungen 1 1 1 ; all dies soll aber im „Geist der Brüderlichkeit" geschehen, der in pastoraler Verantwortung die bestehenden Ordnungen achtet, zugleich die „besondere Situation und Eigenart" der Gemeinde sich entfalten läßt; Visitation ist damit gubernatio (Absatz 9). Visitation ist ebenfalls reformatio (Absatz 10): Entwicklungstendenzen und Schwerpunkte für künftige Arbeiten sollen durch sie in der Gemeinde aufgezeigt werden, Anregungen und Aufgaben für Gemeinde, Pfarrer und Mitarbeiter sollen durch sie gegeben werden. Der dritte Komplex geht auf die organisatorischen Fragen des Visitationsverlaufs ein und auf die rechtlichen Gesichtspunkte der Visitation. Absatz 11 bestimmt den Turnus der Visitationen; alle sechs Jahre sollte eine Gemeinde visitiert werden 112 . Die Visitation soll einen festlichen Charakter haben (Absatz 12) 113 ; es sollen jedoch die wirklichen Verhältnisse des gottesdienstlichen und gemeindlichen Lebens bei dem Besuch gezeigt werden und auch nur diese erhoben werden. Eine gründliche Vorbereitung, die von der Fürbitte der Gemeindeglieder getragen und begleitet wird, ist die Voraussetzung für eine segensreiche Visitation (Absatz 13) 114 .
lio Vgl. jig Visitationsordnung von Mecklenburg A II, 1. i n Vgl. die Rechtsverordnung zur Durchführung von Kirchenvisitationen vom 20. 9.1968 der Evang.-Luth. Landeskirche Hannover, § 31,2. Auch: die Visitationsordnung von Mecklenburg A II, 1. 112 Vgl. die Anordnung der Bischöfe für Holstein und Schleswig vom Februar 1948, Einleitung; die Rechtsverordnung zur Durchführung von Kirchenvisitationen vom 20.9.1968 der evang.-luth. Landeskirche Hannover, § 1. 113 Vgl. die Rechtsverordnung zur Durchführung von Kirchenvisitationen vom 20. 9.1968 der evang.-luth. Landeskirche Hannover, § 15; Verordnung über die Kirchenvisitationen der Kreisdekane der evang.-luth. Kirche in Bayern vom 3.1.1922, § 3; Visitationsordnung von Mecklenburg vom 18.7.1963, A II, 4. 114 Vgl. die Rechtsverordnung zur Durchführung von Kirchenvisitationen vom 20. 9.1968 der evang.-luth. Landeskirche Hannover § 5 — 14; Visitationsordnung von Thüringen, § 5; Visitationsordnung von Mecklenburg, Β 2.
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Im Absatz 14 werden die verschiedenen Lebensbereiche der Gemeinde genannt, auf die sich die Visitation bezieht 1 1 5 . In jedem Fall soll die Visitation und die Revision nicht von einander getrennt sein. Anschließend wird noch in Absatz 15 bestimmt, daß die Ergebnisse der Visitation für die gesamtkirchliche Auswertung in einem Bericht zusammengefaßt werden 1 1 6 . Die Visitation ist ja nicht nur ein „zeitlich isolierter, turnusmäßiger Vorgang"; die visitatio continua und die ständige Verbindung des Visitators mit der Gemeinde sollen sie unterstützen, sie ergänzen und begleiten. Diese organisatorischen Gesichtspunkte zum Verlauf der Visitation werden in der „Handreichung zu den Richtlinien für die Visitation" 117 näher ausgeführt. Sie geben konkrete Anweisungen für die Vorbereitung der Visitation, sie nennen die verschiedenen Personenkreise einer Gemeinde, die zu besuchen sind, und die verschiedenen Handlungsfelder des Gemeindelebens, die zu prüfen sind. Da sind: Visitationsgottesdienst — Gemeindeabend — Jugendunterweisung — Besprechung mit dem Kirchenvorstand — Mitarbeiterbesprechung — das persönliche Gespräch mit dem Pfarrer — Einsicht in die Verwaltung — Einsicht in die Finanzen und das kirchliche Eigentum — die Auswertung der Visitation. In noch differenzierterer Form finden sich die konkreten Lebensbereiche und Handlungsfelder der Gemeinde auch in der „Handreichung für den Gemeindebericht" 1 1 8 . Nach folgendem Gliederungsschema wurden Fragenkomplexe aufgestellt, die dem Gemeindebericht zugrunde gelegt werden können: ,,a) Struktur und örtliche Lage, b) Gottesdienstliches Leben einschließlich der Amtshandlungen, lis Vgl. die Rechtsverordnung zur Durchführung von Kirchenvisitationen vom 20. 9.1968 der evang.-luth. Landeskirche Hannover, § 15—23; Visitationsordnung von Thüringen, § 8. 116 Vgl. die Rechtsverordnung zur Durchführung von Kirchenvisitationen vom 20. 9.1968 der evang.-luth. Landeskirche Hannover, § 25—28; Visitationsordnung von Mecklenburg, Β 5; Visitationsordnung von Thüringen, § 9 , hier ist auch an eine Uberprüfung des Visitationsbescheides gedacht und damit ist eine Rückkoppelung vorgesehen. 117 Die Visitation. Missionierende Gemeinde Heft 9, 12ff. »» Ebd., S. 83ff.
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c) Gemeindeleben (Seelsorge, Mission und diakonischer Dienst, Gruppenleben, Veranstaltungen, Kirchenmusik), d) Verhältnis zur Ökumene und anderen Kirchengemeinschaften, e) Verhältnis zur Öffentlichkeit, f) Gemeindeleitung und Mitarbeiter, g) Verwaltungsaufgaben und Planungen."
2.2. Das Muster der Visitations Ordnung der Arnoldhainer
vom
Konferenz
17.12.1975
Die Visitation war in der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union satzungsmäßig verankert. Nach der Verfassung der APU vom 29.9.1922 hat der Superintendent „nach Maßgabe der für die Kirchenprovinz zu erlassenden Visitationsordnung" den kirchenleitenden Besuchsdienst auszuüben (Art. 77,4), ebenso der Generalsuperintendent (Art. 101,2/4/). Die Provinz Westfalen und die Rheinprovinz hatten die Visitation in der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung vom 5.3.1835 in der überarbeiteten Form vom 5.1.1908 und vom 6 . 1 1 . 1 9 2 3 geregelt 119 . Mit der Auflösung der Evangelischen Kirche der APU und der Gründung der EKU am 18.2.1951 änderten sich die kirchenrechtlichen Verhältnisse nicht; diese beiden Landeskirchen behielten ihre eigenen Visitationsbestimmungen. Seit Anfang der 70er Jahre arbeitet nun die Arnoldhainer Konferenz an einer Rahmenordnung für die Visitation in den unierten Landeskirchen; das Muster ist mit dem 17.12.1975 datiert 120 . Dieser Entwurf einer Visitationsordnung ist in folgende Themenkomplexe unterteilt: die Grundlegung (I); sie geht auf die Ziele und Aufgaben der Visitation ein. Teil II: die Gestaltung der Visitation einer Kirchengemeinde; es wird der Turnus der Visitation, die Besuchsfelder, die Zusammensetzung der Kommission, die Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der Visitation geregelt. Teil III: die „Visitation des Kirchenkreises"; er ist entsprechend zu Teil II aufgebaut. Teil IV: die Visitation von „Personal- und Anstaltsgemeinden, landeskirchlichen Einrichtungen, Werken und Verbänden". Als Ziel der Visitation wird zunächst die gesamtkirchliche Kommunikation genannt, wie sie schon im Neuen Testament beschrieben ist (1.Kor.12,4—26; R ö m . l , 1 1 - 1 2 ; Apg.l4,21f.); die Gemeinde „braucht » » Vgl. hier §§ 120ff. 12(> Kirchenkanzlei der EKU-Umdruck Nr. V / 1 4 / 7 6 , in: ABl EKD 1976, 91f.
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den Austausch mit anderen, ist angewiesen auf Hilfen, benötigt das kritische Gespräch" (l) 1 2 1 . Die Visitation als Ausdruck des Miteinanders in der Kirche intendiert die „untrennbare Einheit von theologischen, seelsorgerlichen und rechtlichen Gesichtspunkten" (2) 122 . Der Wächterdienst der Gesamtkirche über die „auftragsgemäße, auf die Gegenwart bezogene Verkündigung des Evangeliums", verknüpft mit ihrer Wirkung für das Leben und den Dienst der Gemeinde, und der Wächterdienst über die „Erhaltung der kirchlichen und gemeindlichen Ordnungen" sind miteinander verbunden (3) 123 . Ziel der Visitation ist weiter die Unterstützung, Selbstprüfung, die Überprüfung, die Stimulierung und Koordinierung aller kirchlichen Arbeit in den Gemeinden, die Ermahnung, Ermunterung und Stärkung der Pfarrer und Mitarbeiter (4.1 ) 124 . 121 So auch: Visitations- und Konventsordnung der Evang. Kirche in Berlin-Brandenburg vom 14.2.1952, Vorspann; Ordnung des brüderlichen Besuchsdienstes (Visitationsordnung) für die Evang. Kirche in Hessen und Nassau vom 3.3.1958, Grundsätzliches 1; Kirchengesetz über die Ordnung für die Visitation durch die Kreissynodalvorstände vom 29.10.1953, Vorspann. 122 So auch: Visitationsordnung der Evang. Kirche von Kurhessen-Waldeck vom 9.9.1974, Einführung 3. 123 In der Visitations- und Konventsordnung der Evang. Kirche in Β erlin-Brandenburg vom 14.2.1952 heißt es entsprechend: „Er (Besuchsdienst) ist, wie alle Arbeit der Kirche, geistlicher Dienst mit dem Ziel, das geistliche Leben der Gemeinde zu stärken. Da aber das innere Leben der Gemeinde nicht abtrennbar ist von der äußeren Ordnung, so muß die Visitation auch prüfen, ob in der Gemeinde alles ordentlich zugehe (l.Kor. 14,40)".
Ähnlich: Ordnung des brüderlichen Besuchsdienstes (Visitationsordnung) für die Evang. Kirche in Hessen und Nassau vom 3.3.1958, I, 2—4. Die Einheit von theologischer, rechtlicher und seelsorgerlicher Ausrichtung der Visitation nennt auch die Kirchenordnung der Evang. Kirche von Westfalen vom 29.10.1954 in § 225 und die Kirchenordnung der Evang. Kirche im Rheinland vom 2.5.1952 im Art. 193b, verbunden mit dem Kirchengesetz über die Ordnung für die Visitation durch die Kreissynodalvorstände vom 29.10.1953, § 1 (1); dort heißt es, daß sich die Visitation auf das kirchliche Leben erstreckt, wie es in den Abschnitten 1 und 2 der Kirchenordnung bestimmt ist (sie handeln über die Kirchengemeinde und die Gemeindeglieder sowie über die Ordnung des kirchlichen Lebens in den Kirchengemeinden) und die Abschnitte 3 und 4 regeln (sie behandeln die Dienste und die Leitung der Kirchengemeinde); zusätzlich werden die Vermögensund Wirtschaftseinrichtungen der Gemeinden genannt. 124 In der „Verordnung, die Visitation der Kirchengemeinden und Kirchenbezirke betreffend, der Evang. Kirche von Baden" vom 28.4.1921 heißt es im Vorspann hierzu: „Die Visitationen der Kirchengemeinden (Diasporagemeinden) und Kirchenbezirke haben den Zweck, diese zur Selbstprüfung anzuleiten, ihr kirchliches und religiös-sittliches Leben anzuregen und zu fördern und das Bewußtsein der kirchlichen Gemeinschaft zu stärken. Sie sind von den Gemeinden als Höhepunkte ihres
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„Die Visitation soll der Verbundenheit der Gemeinden dienen" (4.2). „Die Visitation soll die Gemeinschaft der kirchlichen Mitarbeiter fördern" (4.3). „Die Visitation soll die ökumenische und missionarische Verantwortung stärken" (4.4) 1 2 S . Ihre Eigenart, d.h. ihr geistliches Gepräge, erhält die Visitation in erster Linie durch „die gemeinsame Feier des Gottesdienstes" (5) 1 2 6 . kirchlichen Lebens zu gestalten. Zugleich sollen sie den kirchlichen Behörden genaue Kenntnis verschaffen von dem kirchlichen, religiösen und sittlichen Zustand der Gemeinden und Kirchenbezirke, von der Dienstführung der Geistlichen und Dekane sowie der kirchlichen Vertretungskörper und die erforderlichen Anordnungen veranlassen". Der geistliche Aspekt wird hier stärker betont als in der Visitationsordnung von Kurhessen-Waldeck, Einführung 4 und der rheinischen Visitationsordnung, Vorspann. 125 In der Visitations- und Konventsordnung der Evang. Kirche in Berlin-Brandenburg vom 14.12.1952 heißt es entsprechend in § 1: „Die Aufgaben des Besuchsdienstes sind im einzelnen: Verkündigung des Wortes Gottes, Stärkung der Verbundenheit der Gemeinden mit der Gesamtkirche, Abstimmung von kirchlichen Maßnahmen und Ordnungen aufeinander innerhalb desselben Kirchenkreises, Unterrichtung der Gemeinden über Gründe und Ziele des gesamtkirchlichen Handelns, Forderung des Austausches geistlicher Gaben, Prüfung des Glaubensstandes und der Ordnung der Gemeinden, Prüfung der Ämter in den Gemeinden". Entsprechend Art. 222f. der Kirchen Ordnung der Evang. Kirche in Westfalen vom 1.12.1953 und dem Kirchengesetz über die Visitationsordnung der Evang. Kirche von Westfalen vom 29.10.1954 lautet der § 1,1 und 2 der „Ordnung zur Durchführung der Visitation der Kirchengemeinden durch den Superintendenten und den Kreissynodalvorstand": „(1) Die Visitation soll dazu helfen, daß die Verkündigung der Kirche in der Gemeinde in rechter Weise geschieht. Die Pfarrer sollen in ihrem Dienst gestärkt und die Gemeinde dazu aufgerufen werden, vom Angebot des Wortes Gottes dankbar und reichlich Gebrauch zu machen und die gegebenen Gelegenheiten in Gottesdienst und Bibelstunden, bei Amthandlungen und in den kirchlichen Arbeitsgruppen fleißig zu benutzen. Die Visitatoren sollen darauf achten, daß die Verkündigung schriftgemäß ist, dem in der Gemeinde geltenden Bekenntnis entspricht, daß sie auf die Gegenwart ausgerichtet ist und daß die Sakramente gemäß dem Bekenntnisstand der Gemeinde verwaltet werden. Es soll bezeugt werden, daß die Gemeindeglieder am Tisch des Herrn die Speise des Lebens empfangen und darum zur freudigen Teilnahme am heiligen Abendmahl ständig gerufen sind. (2) Die Visitatoren richten ihr besonderes Augenmerk auf die Seelsorge. Sie rufen die Gemeinden zum Zeugnis des Glaubens und zum Dienst der Liebe auf und ermuntern sie dazu, in freier opferwilliger Mitarbeit dem Sendungsauftrag Christi je am gewiesenen Platz und mit den vorhandenen Kräften gehorsam zu sein. Insbesondere wird die Gemeinde zur Fürbitte aufgerufen, daß Gott die Herzen dem Evangelium öffnen möge". Der geistliche Charakter der Visitation ist betont. Vgl. auch die Visitationsordnung von Kurhessen-Waldeck, Vorspann. 126
So auch: Ordnung zur Durchführung der Visitation der Kirchen gemeinden durch den Superintendenten und den Kreissynodalvorstand der Evang. Kirche von Westfalen vom 29.10.1954, § 10. Vgl. auch die badische Visitationsordnung vom 28.4. 1921, Vorspann.
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„Die Visitation kann in einzelnen Teilen oder als ganze jeweils stärker eine persönlich-seelsorgerliche, inspizierend-aufsichtliche, gemeindlichmissionarische oder volkskirchlich-repräsentative Nuancierung gewinnen" (6); in jedem Fall wird mit Nachdruck die kommunikative Intention betont. Die ausgeübten Kontrollfunktionen werden weniger hervorgehoben als in den Visitationsordnungen der einzelnen Landeskirchen der EKU. So wird auch in Absatz 7 dieses ersten Teils das Predigtgespräch, das Gespräch über den Gottesdienst und die Gemeindeveranstaltungen mehr als Dialog und weniger als Prüfungsgespräch und urteilendes Lehrgespräch verstanden. Denn vor allem geht es um gegenseitiges Verstehen bei der Visitation: es sind einerseits die Aufgaben und Nöte der Visitierten durch diesen Besuch wahrzunehmen, es sind andererseits die gesamtkirchlichen Aufgaben der kirchenleitenden Organe, ihre Planungen und Entscheidungen kennenzulernen (8). Ferner sollen die Visitatoren auch „die Gemeinden oder den Kirchenkreis in ihrem Bemühen, das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben im Zusammenhang mit dem Evangelium zu sehen, dadurch unterstützen, daß sie die Begegnung mit Vertretern des öffentlichen Lebens, besonderen Berufsgruppen und Einrichtungen suchen" (9). Der zweite Teil über die Gestaltung der Visitation einer Kirchengemeinde nennt zunächst den Turnus der Visitation von sechs bis acht Jahren (II A I) 127 . Sie kann sich auf die Gesamtgemeinde, auf einen Pfarrbezirk oder einen Arbeitsbereich beziehen. Als Gegenstand umfaßt die Visitation „in der Regel alle Handlungsfelder der kirchlichen Arbeit: Gottesdienst, Seelsorge und Amtshandlungen, Unterricht, die verschiedenen Arten und Zweige kirchlicher Gemeindearbeit und die Diakonie am einzelnen und an der Gesellschaft sowie die Leitung und Verwaltung der Gemeinde", ferner die Vermögens- und Finanzverwaltung (II B). Die Visitation wird meist von einer Kommission durchgeführt (II C), die von der Kirchenleitung berufen und durch den Vorsitzenden be127
Die Visitationsordnung von Berlin-Brandenburg nennt in § 3 den Turnus von 3 bis 5 Jahren; die Visitationsordnung von Hessen-Nassau spricht in II A 1 von einem „regelmäßigen Besuchsdienst"; die Visitationsordnung von Westfalen gibt als Turnus in § 2,1 acht Jahre an, die Synodalvisitation soll mindestens alle 15 Jahre für die Gemeindevisitation stattfinden (vgl. Richtlinien für die Visitation der Kirchenleitung in den Kirchenkreisen vom 19.6.1968, II 1; die rheinische Visitationsordnung stimmt in § 2,1 im Turnus der Generalvisitation mit der westfälischen überein; die Visitationsordnung von Kurhessen-Waldeck nennt in I 3 (3) und II 3 (1) einen 8Jahrestumus; die badische Visitationsordnung bestimmt in § 2 einen 6-Jahresturnus.
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stellt wird. Die Visitationskommission kann zu ihrer Beratung sachverständige Personen hinzuziehen 1 2 8 . Die Einzelregelungen für die Visitationsvorbereitungen bestimmen, daß der genaue Zeitpunkt für die Visitation mindestens vier Monate vor Beginn in Absprache mit der Gemeinde festgelegt wird (9) 1 2 9 . Vor der Visitation ist vom Gemeindekirchenrat ein Bericht zu erstellen und bei der Kirchenleitung einzureichen, der Auskunft über den gegenwärtigen Stand der Gemeindearbeit, über ihre Probleme, über ihr Verhältnis zu den Nachbargemeinden, zum Kirchenkreis, zur Gesamtkirche gibt ( 1 0 ) 1 3 0 Zu diesem Bericht können Arbeitsberichte einzelner Mitarbeiter hinzugefügt werden (11). Auf Anregung und im Benehmen mit dem Kirchengemeinderat können Sachverständige zur Visitationskommission hinzugezogen werden 1 3 1 . Überhaupt kann die Visitation sich auf Schwerpunkte kirchlicher Arbeit konzentrieren (12) 1 3 2 Ist der Termin der Visitation dann bekannt gemacht worden, so wird die Gemeinde darauf hingewiesen, „daß die Gemeindeglieder die Möglichkeit haben, persönliche Erfahrungen, Anregungen oder Beschwernisse schriftlich oder mündlich der Visitationskommission zu unterbreiten" (13) 1 3 3 . Der Abschnitt Ε dieses zweiten Teils bezieht sich auf die Durchführung der Visitation. Grundlage ist der vorgelegte Bericht, der zwischen dem Gemeindekirchenrat, den Mitarbeitern und der Visitationskommission besprochen wird ( 1 4 ) 1 3 4 ; weiter findet ein Gespräch der Visitationskommission mit dem Pfarrer statt (15), leider wird über den Charakter dieses Auch die Visitationsordnung von Hessen-Nassau benennt in II A 9f. und in II D 5 ff. eine Visitationskommission. Sachverständige können nach der westfälischen Visitationsordnung § 19—25 für die Gemeindevisitation herangezogen werden; dasselbe gilt für die Synodalvisitation (III, 6). 1 2 9 In den Ordnungen der einzelnen Landeskirchen werden verschiedene Zeiten genannt: in der badischen Visitationsordnung wird ein Zeitraum von wenigstens drei Wochen vorher (§ 3,1) erwähnt; in den westfälischen Visitationsbestimmungen soll der Zeitpunkt mindestens 6 Wochen vorher festgelegt werden (§ 5,1); nach der Ordnung von Hessen-Nassau sind mindestens 8 Wochen genannt (II A (6)); die Visitationsordnung von Berlin-Brandenburg spricht in § 3 von „rechtzeitig vorher". 1 3 0 Dieser Visitationsbericht wird in allen landeskirchlichen Ordnungen verlangt: Baden § 4 , 1 ; Kurhessen-Waldeck I 2 (2), I 4 (7); Westfalen § 7; Rheinland § 2,2a; Hessen-Nassau II A 8; Berlin-Brandenburg § 4 . 1 3 1 So auch: Kurhessen-Waldeck III 2 ( 4 - 6 ) ; Westfalen § 2 0 - 2 5 . 1 3 2 So auch: Kurhessen-Waldeck, Einführung 7; Rheinland § 2,2. 1 3 3 Vgl. auch: Hessen-Nassau II A 7; Rheinland § 4; Westfalen nennt in § 27 hierfür die Gemeindeversammlung. 1 3 4 So auch: Kurhessen-Waldeck I 4 (7); Baden § 5 , 4 , 7 ; Hessen-Nassau § 15. 128
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Gesprächs nichts Näheres gesagt 135 . Der Gemeindekirchenrat erhält auch die Gelegenheit zu einem Gespräch mit der Visitationskommission in Abwesenheit des Pfarrers; dieser ist noch vor Beendigung der Visitation von Beschwerden und Vorschlägen zu unterrichten, ihm ist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (16) 1 3 6 . Desgleichen wird auch dem Pfarrer und den Mitgliedern des Kirchengemeinderates sowie den Mitarbeitern die Möglichkeit zu persönlichen Einzelgesprächen mit Gliedern der Visitationskommission gegeben (17) 1 3 7 . Es sind weiter Begegnungen mit Gemeindegruppen, besonderen Berufsgruppen und Vertretern des öffentlichen Lebens in die Visitation einzubeziehen. ,,Die Einrichtungen der Kirchengemeinde werden besucht" (18) 1 3 8 ; hierfür können Untergruppen gebildet werden (19). „Die Gemeinschaft der Visitatoren mit der Gemeinde findet ihren besonderen Ausdruck im gemeinsamen Gottesdienst" (20); die besondere Bedeutung dieses Gottesdienstes für den geistlichen Charakter der Visitation ist auch in Teil I 5 hervorgehoben; wegen seines Gewichtes hätte dieser Absatz in den Anfang von Abschnitt Ε gestellt werden müssen 139 . Auch ein besonderes Treffen mit der Gemeinde in der Gemeindeversammlung soll stattfinden; sie dient dazu, sich gegenseitig zu informieren und anzuregen 140 ; „die Visitationskommission soll dabei die Gemeinde über Vorgänge und Planungen im Kirchenkreis, in der Landeskirche sowie in der EKD und in der Ökumene unterrichten" (21); der gesamtkirchliche Aspekt der Visitation wird hier besonders deutlich. Der Abschnitt F des zweiten Teils behandelt schließlich die Fragen des Abschlusses und der Auswertung der Visitation. Die Visitationskommission fertigt bis einen Monat nach Abschluß der Visitation einen Bericht an, dem der Gemeindebericht und die Predigt, Katechese als Anhang beizulegen ist (22) 1 4 1 . Innerhalb von zwei Monaten wird dann der Visi1 3 5 Verschiedene landeskirchliche Visitationsordnungen im Bereich der EKU heben den seelsorgerlichen Charakter dieses Gesprächs hervor: Westfalen § 17,1 und 2; Rheinland § 6a; Hessen-Nassau § 19; Berlin-Brandenburg § 7; Kurhessen-Waldeck I 4(1). 1 3 6 So auch: Berlin-Brandenburg § 6; Hessen-Nassau § 15; Westfalen § 2 6 , 3 ; Kurhessen-Waldeck 1 4 ( 1 ) . 1 3 7 So auch: Rheinland § 5d; Baden § 5 , 3 . 1 3 " Vgl. auch: Westfalen § 1 5 , 1 - 4 . 1 3 9 So auch: Westfalen § 10; Rheinland § 5 a ; Kurhessen-Waldeck I 4 (1); HessenNassau § 1 1 ; Baden § 5,4. 1 4 0 So auch: Hessen-Nassau § 17; Westfalen § 27; Kurhessen-Waldeck I 4 (1); Baden §5,2. 1 4 1 So auch: Kurhessen-Waldeck I, 5 (2,3); Westfalen § 2 8 , 1 - 4 , hiernach richtet der Präses „an die Gemeinde eine Ansprache, die im Gottesdienst zu verlesen ist";
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t a t i o n s b e s c h e i d erteilt ( 2 3 ) 1 4 2 . D i e s e r B e s c h e i d w i r d i m G e m e i n d e k i r chenrat durchgesprochen, die G e m e i n d e wird informiert ( 2 4 ) 1 4 3 , wodurch n u n e i n e R ü c k b i n d u n g der V i s i t a t i o n u n d ihrer E r g e b n i s s e an das L e b e n der K i r c h e n g e m e i n d e h e r g e s t e l l t w i r d . D e r G e m e i n d e k i r c h e n r a t sollte in e i n e r a n g e m e s s e n e n Z e i t w i e d e r der K i r c h e n l e i t u n g , d i e d e n B e s c h e i d erteilt h a t , über die V e r w i r k l i c h u n g der V i s i t a t i o n s a n r e g u n g e n berichten (25). D e r dritte Teil d i e s e s V i s i t a t i o n s e n t w u r f s ist e n t s p r e c h e n d d e m z w e i t e n Teil a u f g e b a u t ; in s e i n e n e b e n f a l l s 2 5 A b s ä t z e n b e z i e h t er sich auf die Visitation von Kirchenkreisen144. Der vierte Teil: „ V i s i t a t i o n v o n Personal- u n d A n s t a l t s g e m e i n d e n , landeskirchlichen Einrichtungen, Werken und Verbänden" n i m m t Bezug auf d i e V i s i t a t i o n l a n d e s k i r c h l i c h e r E i n r i c h t u n g e n , Werke, V e r b ä n d e , P e r s o n a l g e m e i n d e n u n d G e m e i n d e n i m B e r e i c h v o n A n s t a l t e n u n d Einrichtungen
der D i a k o n i e 1 4 5 .
I n w i e f e r n diese V i s i t a t i o n s b e s t i m m u n g e n a u c h für ü b e r p a r o c h i a l e Gem e i n d e n g e l t e n w i e z . B . die S t u d e n t e n g e m e i n d e n u n d die E v a n g e l i s c h e n A k a d e m i e n 1 4 6 , ist n i c h t e r w ä h n t w o r d e n . der geistliche Charakter dieses kirchenleitenden Dienstes wird dadurch unterstrichen. Vgl. auch: Hessen-Nassau § 20; Berlin-Brandenburg § 8. 142 So auch: Kurhessen-Waldeck I 5 (4); Hessen-Nassau § 21—22; Berlin-Brandenburg § 8. 143 So auch: Kurhessen-Waldeck I 5 (5,6). 144 Dieser Parallelaufbau findet sich auch in den Visitationsordnungen folgender Landeskirchen: Verordnung, die Visitation der Kirchengemeinden (Diasporagemeinden) und Kirchenbezirke betr., der Evang. Landeskirche in Baden vom 28.4.1921; Ordnung des brüderlichen Besuchsdienstes (Visitationsordnung) fur die Evang. Kirche in Hessen-Nassau vom 3.3.1958; Ordnung zur Durchführung der Visitation der Kirchengemeinden durch den Superintendenten und den Kreissynodalvorstand der Evang. Kirche von Westfalen vom 24.11.1954; Richtlinien für die Visitation der Kirchenleitung in den Kirchenkreisen (Synodalvisitation) der Evang. Kirche von Westfalen vom 19.6.1968; Visitationsordnung der Evang. Kirche von KurhessenWaldeck vom 9.9.1974. 145 Vgl a u c h : Visitationsordnung für die mit der Seelsorge an den Strafanstalten in Nordrhein-Westfalen beauftragen Pfarrer vom 23.12.1955; Visitationsordnung der Evang. Kirche in Kurhessen-Waldeck vom 9.9.1974, 3: „Visitation von Personal- und Anstaltsgemeinden und landeskirchlichen Einrichtungen; Verordnung, die Visitation der Kirchengemeinden (Diasporagemeinden) und Kirchenbezirke betr., der Evang. Kirche in Baden vom 28.4.1921, V: Kirchliche Liebestätigkeit, VI. Kirchliche Verfassung und Vermögensverwaltung. 14 « Vgl. M. Honecker, Kirche als Gestalt und Ereignis, München 1963, 222ff.
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Typen zum
Exkurs: Visitationsverständnis
Es kann und soll hier nicht der Geschichte des Instituts der Visitation in der zeitlichen Linie nachgegangen werden; es soll hier eine Typisierung der in der Kirchengeschichte vorkommenden wichtigsten Verständnismöglichkeiten der Visitation aufgezeigt werden. Dies wird in der gehörigen Kürze, die für einen Exkurs angemessen ist, geschehen. 1. Die Visitation als apostolischer
Besuchsdienst
im Neuen
Testament
Die Visitation ist nicht neu in der Reformationszeit in Gebrauch gekommen; die Visitation als zwischengemeindlicher Besuchsdienst ist schon in neutestamentlicher Zeit bekannt 147 . Der gesamtkirchliche Aufsichtsdienst kristallisiert sich mit der Metropolitanverfassung heraus, also in nachapostolischer Zeit. G. Jastram 1 4 8 hat in seinem Aufsatz „Visitation im Neuen Testament" einen Überblick über das Visitationsverständnis in den neutestamentlichen Schriften in Anlehnung an H. von Campenhausens Buch „Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht" 1 4 9 gegeben. Ich beschränke mich darum auf die kennzeichnenden Gesichtspunkte der Visitation in den paulinischen Schriften mit einigen Weiterverweisen auf andere neutestamentliche Schriften: a) Der Grund des visitatorischen Besuchsdienstes liegt für Paulus in der Begegnung mit dem auferstandenen Christus (Apg. 9 und vor allem l.Kor. 15,3ff.; Mt. 28,16ff.; Lk. 24,13ff., 36ff.) und in der Beauftragung zum apostolischen Zeugendienst (Gal. 1,1,1 Iff.; Apg. 9). — In der apostolischen Autorität hat die gesamtkirchliche Autorität ihre Begründung150. — In dieser apostolischen Autorität hat der Dienst für die Erhaltung und Festigung der Einheit in der Kirche ihre Begründung151. Dieser Dienst bezieht sich auf die Einheit im Glauben 152 , auf die Stär1 4 7 Vgl. etwa: Apg. 8,14ff.; 9 , 3 2 ; l l , 2 2 f f . ; 14,19ff.; 15,22ff.; 15,36ff.; 20,17ff.; Rom. 1,11 u. 12; l.Kor. 16,17f; 2.Kor. 1 , 1 5 - 2 0 ; 7,6ff.; 1 3 , 1 - 1 0 ; Eph. 5,21f.; Phil. 2 , 1 9 - 3 0 ; Kol. 2,5; l.Thess. 3 , 2 - 1 1 ; 2.Joh. 12; Hebr. 13; Apk. l , 1 2 f . ; 2; 3 usw.
G. Jastram, Visitation im Neuen Testament, in: Die Visitation, Berlin—Hamburg 1964, 19ff. 14 > H. v. Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht, Tübingen 1953. »so Ebd., S. 47. isi Ebd., S. 24. 152 Röm. 1,11,12. 148
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kung im Glauben 1 5 3 , auf die Mahnung 1 5 4 , die Tröstung 1 5 5 und die persönlichen Kontakte 1 5 6 . — Dieselbe Autorität mit einer gleichen Begründung besitzt auch das Apostelkollegium in Jerusalem I S 7 . b) Die Wahrnehmung der Visitation geschieht einmal durch Briefe: — Die paulinischen Briefe — mit Ausnahme des persönlichen Briefes an Philemon und das Lehrschreiben an die römische Gemeinde — sind Visitationsschreiben: l.Thess.; Gal.; Phil.; l.Kor.; 2.Kor. — Sie stehen im Dienst der Visitationsaufgaben, d.h. im Dienst der Einigung und der Stärkung der Gemeinde 1 S 8 . — Sie haben jeweils einen konkreten Anlaß 1 5 9 . — In späterer Zeit „entwickelt Paulus das System der Zirkularschreiben" 160 . — Die Visitationsschreiben wurden in der gottesdienstlichen Gemeinde als der eigentlichen Versammlung der Gemeinde verlesen 161 . Die Wahrnehmung der Visitation geschieht weiter durch Boten: — Sie sind den Aposteln unterstellt und zugeordnet 1 6 2 . — Sie überbringen Anweisungen und Mahnungen 1 6 3 , stärken und trösten die Gemeinde 1 6 4 . — Sie erstellen die Visitationsbescheide 16s . Die Wahrnehmung der Visitation geschieht durch Besuche: — Dieser Besuchsdienst repräsentiert die Intention der apostolischen Visitation 166 . — Er wird mit den Missionsreisen verbunden 1 6 7 . — Der Apostel Paulus hat bei der Visitation die Gemeindeleitung inne, bleibt aber zugleich Gast, der auch selbst für seinen Unterhalt sorgt 168 . >53 >5« •55 1S6
l.Thess. 3,2. l.Thess. 3,2. 2.Kor 7,6ff. Phil. 2,19ff. ls7 H. v. Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht,Tübingen 1953,31. Rom. 1,11 u. 12; l.Thess. 3,2. i » l.Kor 5,9ff.; 7,lff. 160 G. Jastram, Die Visitation im Neuen Testament, in: Die Visitation, BerlinHamburg, 1964, 25. ιβι l.Kor 1 6 , 2 0 - 2 2 ; l.Thess. 5,27. »« Apg. 15,36ff.; l.Thess. 5,12. 2.Kor. 12,16ff.; l.Kor. 4,17; l.Kor. 16,10. » l.Kor. 2,Iff.; Gal. l,6ff. ι™ 2.Kor. 13,lff. 1 7 3 l.Kor. 5; 2.Kor. 2 , 5 - 8 . l.Thess. 4,Iff. 1 7 6 l.Kor. 5,Iff.; 6,12ff. »'S 1 .Kor. 6,Iff. 1 7 8 l.Kor. 7 , 1 3 - 1 6 . ' 7 7 l.Kor. 7,Iff. iw l.Kor. 3,1 Iff.; Phil. 2,Iff. ι » l.Kor. 2,Iff.; Gal. l,6ff.; Phil. l,27ff.; l.Kor. 15,11. ι»» l.Kor. l l , 2 f f . 182 l.Kor. 8,Iff.; 10,14ff. 183 l.Kor. 11,17ff. 184 l.Kor. 14,Iff. iss l.Kor. 4,9ff. Gal. 6,12ff.; Phil. 3,10f.; 2.Kor. 7,5ff. 186 2.Kor. 13,10. 187 l.Kor. 13; l.Thess. 13,10. 188 Vgl. G. Harbsmeier, Das Hohelied der Liebe, Bibl. Studien 3, S. 11: „Der Brief mutet an wie eine Art .Visitationsbescheid' an die Korinther, nicht von einer Behörde (welch ein Abstand davon!), wohl aber von einem Apostel, der allen, die zu visitieren haben und visitiert werden, gewiesen hat, wie ein Apostel visitiert und daß alle Kirchenleitung nichts anderes sein sollte als solche Visitation". 189 Rom. 1,11 u. 12. 17
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2. Die Visitation als metropolitane
Kirchenleitung
Die ersten Hinweise auf eine mehr bischöflich geleitete Gemeinde finden sich in den Pastoralbriefen und im johanneischen Schrifttum. Bei Ignatius von Antiochien findet sich ebenfalls das durchstrukturierte Bischofsamt als Leitungsamt der Gemeinde 1 9 0 . Die Pastoralbriefe sind mit derselben gesamtkirchlichen Autorität geschrieben, die den Aposteln in ihren Visitationsschreiben zukam 1 9 1 ; sie sind nun aber nicht mehr an die Gesamtgemeinde, sondern an den gemeindeleitenden Bischof gerichtet. Die Aufgabenbereiche und die Bezugsfelder dieser Visitationsschreiben liegen in 1 9 2 : — — — —
der der der der
Abwehr von Irrlehren 1 9 3 ; Stärkung verfolgter Gemeinden 1 9 4 , Aufsicht der Gesamtkirche über die neu entstandenen Ämter 1 9 5 ; Überprüfung der rechten Lehre 1 9 6 .
Schon zu diesem Zeitpunkt stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von gesamtkirchlicher Autorität und bischöflicher Gemeindeleitung am Ort. Ihre rechtliche Regelung fand sie in einem Synodalwesen der Provinzialkirchen, nach der die Patriarchen und Metropoliten in den entsprechend zur politischen Gliederung aufgeteilten Provinzen der morgenländischen Kirche den entscheidenden Einfluß hatten. Diese Entwicklung ist Ende des 3. und Anfang des 4. Jahrhunderts festzustellen; auf der Synode von Antiochien 329 setzte man die Metropolitanverfassung als feste Organisations- und Verfassungsform im römischen Ostreich voraus. Im Westreich bildeten sich die Metropolitanverbände und die Visitationen als metropolitane Kirchenleitung erst später heraus; der 8. Canon der Synode von Tarragona 516 ist hierfür ein Beispiel 197 . Die Visitation gewinnt jetzt die Form der metropolitanen Kirchenleitung über die Bischöfe am Ort; zusammen mit der Provinzialsynode lenkt nämlich der Metropolit die Geschicke und Angelegenheiten der ganzen
190 Vgl. H. v. Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht, Tübingen 1953, 11 Iff. ι»1 Ebd. 127. 192
Vgl. auch: G. Jastram, Die Visitation im NT, 37f. »M l.Tim. 4 , 1 - 5 ; 2.Tim. 3 , 1 - 9 ; Tit. 1,10; l.Petr. 2; Judasbrief; l.Joh. 2,18; 4 , Ι δ. 194 l.Petr. 4,12; Jak. 1,12. 195 l.Tim. 3 , 1 - 7 ; 3 , 8 - 1 3 ; 5 , 9 - 1 0 ; 5 , 1 7 - 1 9 ; 2.Tim 4 , 1 - 5 ; Tit. l . l f f . ; l.Petr. 5; Joh. 2 1 , 1 5 - 1 7 . 2.Tim. 2,8. i " Vgl. H. Hinschius, Erzbischof, RE 3 V, 4 8 8 f f .
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Kirchenprovinz. Die Visitation der Bischöfe und der Gemeinden bezieht sich jetzt auf die Überprüfung der Lehre und des Lebens und auf die Kontrollierung der Verwaltung und des Besitzes der Parochien. 3. Die Visitation als mittelalterliches
Rechtsinstitut
Eine besondere Pflege ließ der Visitation „die fränkische Kirche vor allem unter Karl d. Großen angedeihen. Die Visitation erfolgte in Verbindung mit der Firmung der jungen Christen durch den Bischof und war eine Prüfung aller äußeren und inneren Verhältnisse der Ortsgemeinde, der Gebäude, des Grundbesitzes, des Klerus wie der Laien" 198 . Verbunden ist die Visitation mit dem Sendgericht. Bei diesem germanischen Rechtsinstitut nahm der Bischof und sein Stellvertreter, der Archidiakon, teil an der Versammlung der Kirchenleute in der Urpfarrei, von der die missionarische Arbeit ausging. Aus der Mitte dieser Versammlung werden 7 Sendgeschworene gewählt, die die Rügepflicht wahrzunehmen haben. Aus diesen Geschworenen werden später die Sendschöffen, die zusammen mit dem Visitator die Urteile fällen und Strafen verhängen vor allem gegenüber der breiten Bevölkerung. ,,Die Visitation ist ein Erziehungsmittel wesentlich für die sozial niedriger Stehenden" 1 9 9 . Das Sendgericht gab zugleich die Gelegenheit, die Abgaben zu entrichten: Abgaben für die freie Verpflegung und Unterkunft der Visitatoren, Abgaben vom Pfründeneinkommen an den Bischof, Vogteisteuern, Personal- und Reallasten. „So verbinden sich vor dem Sendgericht verwaltungsrechtliche und strafrechtliche Maßnahmen", aber auch die Ehegerichtsbarkeit und die Fragen des Erb- und Familienrechts gehören hierher. „Das Sendgericht wird zu einer Institution kirchlicher und bürgerlicher Gerichtsbarkeit zugleich. Eine völlige Verrechtlichung des Visitationswesens ist die Folge" 200 . Zum Verfall der Visitation führte neben dieser Verrechtlichung die Verselbständigung des Archidiakonats im 12. und 13. Jahrhundert. Auch die Archidiakonen führen die Visitation im Laufe des 14. Jahrhunderts nicht mehr selbst durch, bestimmen vielmehr Juristen hierfür, die nun die Sitte der Redemptionen mit der Visitation verknüpfen 201 . Die Ablehnung der Visitation als Form bischöflicher Gerichtsbarkeit ist zuerst in den Reichsstädten festzustellen; das freie Bürgertum leistet e m. Schmidt, Visitation, R G G 3 VI, 1412. 199
W. Maurer, Zur Geschichte der Visitation, in: Die Visitation, Berlin—Hamburg 1964, 43. 200 Ebd., 43. 201 G. Uhlhorn, Kirchenvisitation, R E 3 X, 4 8 0 .
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te Widerstand hiergegen. Zudem bereitete sich im 15. Jahrhundert die territorialherrliche Gerichtsbarkeit aus gegen die bischöfliche; sie leitete die Klosterreformen ein 2 0 2 . Die inneren und äußeren Gründe für eine grundlegende Erneuerung des kirchlichen Visitationswesens waren somit gegeben. Schon die allgemeinen Konzilien des Hochmittelalters befaßten sich mit den Mißständen und Mißbräuchen, die vor allem durch das Exemtionswesen bei den Visitationen entstanden waren 203 . Ein recht bedeutender Versuch um die Reform der Visitation findet sich bei dem Pastoraltheologen des Spätmittelalters J . Gerson in dem Buch „De visitatione praelatorum vel de cura curatorum" 204 , das dem Provinzialkonzil von Reims am 30.4.1408 vorlag. Dieser Traktat gibt in einer gewissen Breite einen Fragenkatalog zur Visitation wider. Thematisch wird darauf eingegangen, daß die Visitation vom Bischof persönlich unter Beteiligung von Laien zur Reform der Gemeinden und der Kirche durchzuführen ist. Die visitatorische Aufsicht bezieht sich auf die Lebensweise des Vikars, auf die Verwaltung der Sakramente wie Taufe, Eucharistie, Absolution, Exkommunikation, Ehe, letzte Ölung. Häretische Bewegung soll sie verdrängen, sich um die Erziehung der Jugend und die Versorgung der Armen und Kranken kümmern. Der Traktat geht weiter auf mögliche Verkehrungen der Lehre, auf die Geldverwaltung, auf Sitte und Ethos ein, auf die Ausbildung der Geistlichen, die Überprüfung ihrer Lehre und ihres Lebensstils. In wenig systematischer Form sind diese Themenkomplexe aneinandergereiht. Mit einer Bitte, daß Gott die Kraft für eine segensreiche Ausübung der Visitation geben möge, endet der Traktat. Die pastoraltheologischen Visitationsanweisungen J . Gersons dienten als Vorlage für die Visitationsordnung, mit der Kardinal Nikolaus v. Kues das Bistum Brixen nach der Synode vom 5. bis 7.2.1453 zu reformieren versuchte 205 . Diese Ordnung enthält zunächst die Bestimmungen für die Vorbereitung und Durchführung der Visitation. Es folgen Anweisungen für die Verwaltung des Firmsakraments, für die Predigten, das Beichthören, für die Bestellung geeigneter Geistlicher als Pönitentiare und einer Laienkommission für gerichtliche Verfahren. W. Maurer, Zur Geschichte der Visitation, in: Die Visitation, Berlin—Hamburg 1964, 44.
202
2 0 3 H. Jedin, Einleitung in: Die Visitation im Dienst der kirchlichen Reform, Münster 1 9 6 7 , 4 Anm. 3; vgl. Lat. III c. 4 ; Lat. IV c. 12 und 3 3 ; L y o n II c. 2 4 . 2 M Secunda pars operum J . d. Gerson Cancellarii, 1 5 1 4 , X L I I I , in: J . Gerson, Opera II, 5 5 8 - 5 6 5 . 2 0 5 Akten zur Reform des Bistums Brixen, hrsg. H. Hürten, Heidelberg 1 9 6 0 , 5 7 ; der T e x t der Visitationsordnung ebd., 23ff.
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Es folgt dann ein Katalog mit 65 Einzelfragen, die auf die Kleriker bezogen sind; eine systematische Zuordnung der Fragen zueinander läßt sich nicht erkennen. Inhaltlich entsprechen die Fragen denen in J . Gersons Traktat; Fragen zur Lebensgestaltung, zu Kleidung und Essen, zur Ausbildung, zum Konkubinat, Fragen zur Gemeindeverwaltung, zum Gottesdienst, zur Messe, zur Absolution, zum Ablaß, zu den Sakramenten, zur Exkommunikation, zu den Todsünden sind recht willkürlich aneinandergereiht. Ein zweiter Fragenkatalog (66—98) bezieht sich auf die Verhältnisse in den Gemeinden. Es werden — auch hier wieder ohne systematische Ordnung — Themen verbunden wie die Betreuung der Exkommunizierten, die Behandlung der Häretiker und Spötter, die Überprüfung von Lehre und Bekenntnis, die Ausbildung der Jugend, weiter Fragen zum Chorleben, zum Verhalten im Gottesdienst, zur Krankenbetreuung, zum Krankenabendmahl, zu unerlaubten Spielen, heimlichen Ehen und Konkubinaten, zu den Meßfeiern, zu den Bruderschaften und zur seelsorgerlichen Begleitung einzelner Menschen. Mit Hilfe dieser Visitationsordnung oder besser dieser Fragenkataloge als Handreichung für den Visitator reformierte der große Gelehrte und Kirchenfürst Nikolaus v. Kues bei seinem bischöflichen Besuchsdienst die Gemeinden seines Bistums Brixen. Die Visitationen, die dann ganz im Dienst der gegenreformatorischen Erneuerung der römisch-katholischen Kirche im 16. und 17. Jahrhundert standen 2 0 6 , haben ihren Grund in den Entscheidungen des Konzils von Trient. In Sess. XXIV De reformatione, c. 3 bestimmte es den persönlichen Visitationsbesuch des Bischofs oder eines Stellvertreters in den Gemeinden im Zeitraum von zwei Jahren. Das Ziel der Visitation ist die Sorge für die rechte römisch-katholische Lehre, für die religiöse Unterweisung des Volkes und für das sittliche Leben; es geht weniger darum, das kirchliche Recht auszuüben als vielmehr den katholischen Glauben zu erhalten und zu stärken und weiter seelsorgerlich zu wirken, um das kirchliche Leben zu erneuern 207 . Diese Erklärungen und Bestimmungen haben in den Codex iuris canonici Eingang gefunden: c. 2 7 4 - 2 7 5 ; 315; 323; 3 4 3 - 3 4 6 ; 511ff.; 600; 631; 1357,2; 1491. Im wesentlichen sagen diese Canones folgendes: der Bischof selbst oder ein Stellvertreter soll alle 5 Jahre sein HoheitsH. Jedin, Einleitung in: Die Visitation im Dienst kirchlicher Reform, Münster 1967. 207 Vgl. Tridentinum Sess. VII de reformatione c. 7—8; Sess. XIII de reformatione c. 1; Sess. XXI de reformatione, c. 8; Sess. XXII de reformatione c. 8. 206
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gebiet besuchen „ad sanam et o r t h o d o x a m doctrinam conservandam, bonos mores tuendos, pravos corrigendos, pacem, innocentiam, pietatem et disciplinam in populo et clero promovendam ceteraque pro ratione adiunctorum ad b o n u m religionis constituenda" (c. 343,1). „Die Regelung der Visitation in der Ostkirche entspricht im wesentlichen der des CIC, doch bedarf der Metropolit, der einem Patriarchen oder Erzbischof untersteht, zur ersatzweisen Visitation eines Suffraganbistums nicht der Billigung des Hl. Stuhles, sondern des Patriarchen bzw. Erzbischofs; an diese devolviert auch das Visitationsrecht des Metropoliten bei Nachlässigkeit oder Sedisvakanz" 2 0 8 .
4. Visitatio est reformatio
et
gubernatio
„Für die äußere Durchsetzung der Reformation in den verschiedenen deutschen Landschaften wurde die Visitation konstitutiv" 2 0 9 ; diese These wird an späterer Stelle näher entfaltet und begründet 2 1 0 , hier soll unter typisierendem Aspekt nur kurz auf sie eingegangen werden. Die Visitation steht im Dienst der Reformation und Neuordnung der Kirche durch die Kirchenleitung. Vor allem Ph. Melanchthons „Unterricht der Visitatoren" (1528) trug dazu bei. Dieser Visitationsbescheid bildete nämlich die G r u n d f o r m vieler anderer Kirchenordnungen 2 1 1 . Die Einleitung zum „Unterricht der Visitatoren" in der Weimarer Ausgabe von M. Luthers Werken weist die dringende Reformbedürftigkeit des Gottesdienstes, des gemeindlichen Lebens, der Kenntnisse in Glaubens- und Sittenfragen bei Pfarrern und Gemeinden sowie der rechtlichen und materiellen Bereiche der Kirchengemeinden nach 2 1 2 ; die kursächsische Visitation sollte dem mit der Predigt und Lehre und, diesen zugeordnet, mit der Ordnung begegnen. Wie die Visitationsartikel deutlich machen, aber ebenso auch die Einführung zu M. Luthers „Deutscher Messe" 2 1 3 und die Einführungen in M. Luthers Katechismen 2 1 4 , sollte der kirchenleitende Besuchsdienst darum die rechte Lehre vertiefen und ausbreiten; zwei Drittel der Artikel befassen sich mit Lehrfra208
H. Hack, Visitation, LThK 10, 814. M. Schmidt, Visitation, RGG 3 VI, 1412. So auch: M. Schmidt, Die Reformation Luthers und die Ordnung der Kirche, in: Im Lichte der Reformation II 5 f f . ; G. Uhlhorn, Kirchenvisitation, R E 3 X, 481. Vgl. S. 173ff. i n Vgl. S. 173ff. 212 WA XXVI, 175ff. 213 WA XIX, 72ff. 214 BSELK, 5 0 1 ff; 5 4 5 f f . 209
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gen. Daß Lehre und Leben nicht zu trennen sind und die Visitation darum auch der Neuordnung und Festigung der gemeindlichen Verhältnisse dient, d.h. des gottesdienstlichen Lebens, des Unterrichts- und Ausbildungswesens, der Finanz- und Grundstücksverwaltung usw., zeigt die Zusammensetzung der Visitatoren aus Theologen und Juristen. Nach dem Muster der kursächsischen Visitation wurden viele Visitationen durchgeführt zur gubernatio und reformatio der Kirche Jesu Christi im reformatorischen Sinn des Wortes Gottes 2 1 5 .
5. Die Visitation als Wächterdienst
über die orthodoxe
Lehre
„Als es galt, das durch den dreißigjährigen Krieg zerrüttete Kirchenwesen wieder aufzurichten, haben die dieserhalb angeordneten Visitationen viel dazu beigetragen, wieder Ordnung zu schaffen und das kirchliche Leben wieder zu heben" 2 1 6 . Im Vordergrund stand die „Erhaltung der gesunden Lehre", wie es im Rezitativ i n j . S. Bachs Kantate zum 1. Advent KWV 61 heißt. Der gerade auch intellektuellen Durchdringung von Lehr- und Glaubensfragen wurde ein besonderer Rang zuerkannt: die Soteriologie, d.h. die Frage nach dem persönlichen Heil 217 , und die Probleme gemeindlichen Lebens verlor man dabei nicht aus dem Blick 2 1 8 ; theologische Arbeit war auf das gemeindliche und kirchliche Leben bezogen, in der Homiletik, in den Kirchenliedern und der Kirchenmusik, in den Gebeten wurde das deutlich. Der Pietismus fügte dem vor allem die Lebensform geistlicher Gemeinschaften als Heiligungsgemeinschaften hinzu und den missionarischen und diakonischen Auftrag christlichen Lebens. Nach den Wirren des dreißigjährigen Krieges sollte durch die Visitation die „gesunde christliche Lehre" vertieft werden; der Wächterdienst über Predigt, Unterricht und Leben diente dem. Aufs ganze gesehen, erhielt das bewahrende und stärkende Element dieses visitatorischen Leitungsdienstes besondere Beachtung. 215
W. Maurer, Zur Geschichte der Visitation, in: Die Visitation, Berlin—Hamburg,
1964, 47ff. 216 G. Uhlhorn, Visitation, R E 3 X , 4 8 2 . 217 Vgi_ H. Ratschow, Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung Teil I, Gütersloh 1 9 6 4 , 3 4 f . ; 1 2 3 ; Teil II, Gütersloh 1 9 6 6 , 3 4 . M. D. Hollaz, E x a m e n theologicum acromaticum ( 1 7 0 7 ) , Cap I, Q 1; Vgl. auch: C. H. Ratschow, Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung Teil I, Gütersloh 1 9 6 4 , 30ff. 218
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6. Die Visitation im Dienst volksmissionarischer
Erbauung
und
Sendung
In der Aufklärungszeit und danach verfiel das Visitationswesen. „Eine Neubelebung brachten die Erweckungsbestrebungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts" 2 1 9 ; die Weckung und Stärkung des kirchlichen Lebens war der Zweck dieser Visitationen. Konkret heißt das: „1. den allgemeinen kirchlichen und sittlichen Zustand der einzelnen Gemeinden und die in dieser Beziehung sich ergebenden Gebrechen und Bedürfnisse sowie 2. die amtliche Wirksamkeit der Geistlichen und Schullehrer in ihrem ganzen Umfange, ihr Verhältnis zueinander wie zur Gemeinde usw. genauer kennen zu lernen, 3. eingerissene Mißbräuche zu ermitteln und soweit dies in der Amtsbefugnis des Ephorus liegt, sofort abzustellen oder durch die zu deren Abstellung erforderliche Einleitung unverweilt zu treffen, 4. das kirchliche Leben kräftig anzuregen und namentlich auch das Bewußtsein des innigen Zusammenhangs der einzelnen Gemeinden mit der gesamten Kirche lebendiger zu machen" 2 2 0 . August Vilmar setzte sich auf der ersten Eisenacher Konferenz Deutscher Evangelischer Kirchenregierungen am 8.6.1852 für die Durchführung von Kirchenvisitationen ein. In einzelnen Landeskirchen waren schon neue Visitationsordnung eingeführt worden wie z.B. im Rheinland und in Westfalen durch die Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung von 1835, im Großherzogtum Hessen 1834, in Oldenburg 1851. Nach der Eisenacher Kirchenkonferenz und dem altpreußischen Erlaß vom 12.7.1852 und vom 15.2.1854 2 2 1 wurden in den darauffolgenden Jahren verschiedene Visitationsordnungen erlassen: Hannover 1853, Altpreußen 1854, Bayern 1854, Sachsen-Weimar 1855, Königreich Sachsen 1856, Baden 1863. Der Anregung, Belebung und Stärkung gemeindlichen und landeskirchlichen Lebens, sollten diese Ordnungen dienen. 7. Die Visitation im Dienst kirchlicher Repräsentanz sittlicher Erziehung durch die Volkskirche
und
religiös-
Nach der Aufhebung des landesherrlichen Kirchenregiments waren die evangelischen Landeskirchen, die bis dahin beim Staat zur Miete wohnten, auf sich selbst und das heißt auf das gemeindliche und kirchliche 219 M. Schmidt, Visitation, R G G 3 VI, 1 4 1 3 . Vgl. A K B 1 8 5 6 , 3 9 6 nach: H. Klemm, Die Kirchenvisitation im 19. und beginnenden 2 0 . Jahrhundert, in: Die Visitation, Berlin—Hamburg 1 9 6 4 , 5 8 . 220
Ebd., S. 5 7 .
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Leben angewiesen. Nicht geringe Probleme brachen durch den Wegfall staatlicher Stützen hervor; verschärft wurden sie durch die Loslösung breiter Bevölkerungsteile nach dem Ersten Weltkrieg im Unterschied zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg; nicht nur Teile der Arbeiterschaft, auch die untere Mittelschicht nahm die Beseitigung des Summepiskopats zum Anlaß, sich von der Kirche zu trennen. So war die Kirche — wie später noch näher ausgeführt wird 2 2 2 — gerade in den ersten Nachkriegsjahren mit der Wahrung der eigenen institutionellen und organisatorischen Voraussetzungen und der Stärkung des religiös-sittlichen Lebens durch die volkskirchlichen Einrichtungen beschäftigt. Von diesen Aufgaben war sie zunächst fast voll und ganz in Anspruch genommen. Die Visitationsordnungen und später die Lebensordnungen, die in dieser Zeit geschaffen wurden, standen darum im Dienst der Bewahrung des religiös-sittlichen Lebens in den Gemeinden und der kirchlichen Repräsentanz im gesellschaftlichen Leben und im Staatsleben 2 2 3 .
8. Die Visitation als bruderschaftlicher Besuchsdienst der Schlüsselgewalt des Wortes Gottes
im
Auftrag
Besondere Bedeutung fand das Visitationswesen während des Kirchenkampfes. Bedingt durch die staatlichen Eingriffe in die kirchliche Organisation, in kirchliche Angelegenheiten und auch in den schriftbegründeten Auftrag der Kirche, konzentrierte sich die Bekennende Kirche neu auf ihr eigenes Fundament im Evangelium und strukturierte und ordnete von diesem Grund her neu ihr Gemeindeleben und ihre kirchlichen Angelegenheiten. Der bruderschaftliche Besuchsdienst sollte der Sammlung, Stärkung und Tröstung der Bekenntnisgemeinden durch das Wort Gottes dienen; der rechten Verkündigung des Evangeliums, der sachgemäßen Verwaltung der Sakramente, der christlichen Unterweisung der Jugend sowie der kirchlichen Neuordnung in Abwehr gegen Irrlehre und staatliche Eingriffe sollten die vom Bruderrat durchgeführten Visitationen dienen. Die pastorale Intention bestimmte neben der kirchen- und lehrzuchtlichen diese Form der gemeindlichen Kirchenleitung durch das Wort Gottes, wie an späterer Stelle noch weiter zu entfalten ist 2 2 4 . In die heutigen Visitationsordnungen — auch in die „Richtlinien der Bischofskonferenz über die Visitation" vom 8.11.1963 und in das „Mu222 V g l . S . 9 9 f f . 223 V g l . S . 9 9 f f . 224 V g l . S . 6 I f f .
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ster der V i s i t a t i o n s o r d n u n g der A r n o l d s h a i n e r K o n f e r e n z " v o m 1 7 . 1 2 . 1 9 7 5 — h a b e n d i e m a n n i g f a c h e n E l e m e n t e dieser V i s i t a t i o n s t y p e n m e h r o d e r w e n i g e r E i n g a n g g e f u n d e n . I m g a n z e n ist f e s t z u s t e l l e n , d a ß gegenüber d e m k i r c h e n z u c h t l i c h e n A s p e k t der V i s i t a t i o n e n des K i r c h e n k a m p fes m e h r der G e s i c h t s p u n k t d e s gesamtkirchlichen Besuchsdienstes und der pastoralen A u f g a b e der K i r c h e n l e i t u n g in d e n V o r d e r g r u n d t r i t t 2 2 5 . Z u s ä t z l i c h wird u n t e r v o l k s k i r c h l i c h e m G e s i c h t s p u n k t in l e t z t e r Z e i t d i e B e g e g n u n g der K i r c h e n g e m e i n d e n u n d kirchlicher A n s t a l t e n m i t d e n vers c h i e d e n e n g e s e l l s c h a f t l i c h e n G r u p p e n , Berufs- u n d I n t e r e s s e n g r u p p e n 2 2 6 u n d die V i s i t a t i o n der „ P a r a g e m e i n d e n " b e t o n t 2 2 7 . 225
G. Kühlewein etwa schreibt in dem Beitrag: „Visitatio est gubematio". DPfBl 66, 1966, 128: „Es gehört zu den wesentlichen Funktionen des seelsorgerlichen Dienstes einer Visitation, die Gemeinden und Amtsbrüder darauf hinzuweisen, daß der Gedanke von der Vergeblichkeit unserer Arbeit nicht unbiblisch ist und dem Wunder Bahn brechen kann, zu erfahren, wie G o t t auch in einer kleinen müden Gemeinde doch sein Volk hat, wenn wir nur seinen Segen, seine Kraft und Hilfe erbitten und getrost weiterarbeiten." So auch: E. zur Nieden, Visitation — immer noch wie einst?, DPfBl 66, 1966, 508. 226 G. Kühlewein, Visitatio est gubematio, DPfBl 66, 1966, 128: „Zu dieser Stoßrichtung nach innen k o m m t die nach außen. Die Kirche stellt sich Auge in Auge den Menschen von heute mit ihren Anliegen und Problemen. Kaum eine Berufsgruppe war bei der Generalvisitation ausgenommen. Neben den Konventen kirchlicher Mitarbeiter, Kirchenmusiker, Kindergottesdiensthelfer, Jugendleiter standen die Versammlungen der kirchlichen Werke, neben den Empfängen für die Behördenleiter, für Industrielle und Betriebsräte die Besuche in der Ingenieurschule und in der Polizeischule und die Begegnungen mit Lehrer, Ärzten, Juristen und Sportlern. Der Kontakt mit der breiten Öffentlichkeit sollte hergestellt werden mit Besichtigung und Gesprächen in verschiedenen Betrieben und Firmen". Ähnlich auch: E. zur Nieden, Visitation — immer noch wie einst?, DPfBl 66, 1966, 509. 2 " M. Honecker, Kirche als Gestalt und Ereignis, München 1963, 222ff.
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Teil Β
Die Vorgeschichte der Lebens- und Visitationsordnung der VELKD und der unierten Landeskirchen im Kirchenkampf Nach der deskriptiven und referierenden Betrachtung der Lebens- und Visitationsordnung der VELKD und der EKU im Teil Α soll im Teil Β auf die Vorgeschichte dieser Ordnungen eingegangen werden; den Wurzeln im Kirchenkampf (Absatz 3), in der Auflösung des landesherrlichen Kirchenregiments (Absatz 4) und in der Neuordnung der evangelischen Kirche in der Reformationszeit (Absatz 5) wird nachgegangen. Der besondere Charakter und die Intention dieser Ordnungen, aber auch der Anlaß für die Neuerarbeitung dieser Ordnungen soll dabei in den Blick gefaßt werden.
3. Lebens- und Visitationsordnungen in der Zeit des Kirche η kampfes 3.1. Die Lebens- und Visitations Ordnung im lutherischen Bereich (Der Entwurf einer Schleswig-Holsteinschen Lebensordnung von 1938/39 und die Visitation) Die „Ordnung des kirchlichen Lebens der VELKD" vom 27.4.1955 hat ihre unmittelbaren Wurzeln in dem „Entwurf einer Ordnung des kirchlichen Lebens in der evangelisch-lutherischen Landeskirche SchleswigHolsteins", der vom Amt für Gemeindeaufbau der Bekennenden Kirche Schleswig-Holsteins, d.h. vor allem von den Bekenntnispastoren R. Wester und P. G. Johanssen, 1938/39 erarbeitet wurde. Auf der Vollversammlung der BK-Pastoren Schleswig-Holsteins in St. Peter am 21./22. September 1938 wurde die Lebensordnung in Auftrag gegeben. Diese Bekenntnisversammlung arbeitete über die weitere Route der Bekennenden Kirche in Schleswig-Holstein angesichts der Aufrichtung und Einbeziehung des Staatsregiments in der Kirche durch Dr. Christian Kinder 61
und über die kirchlichen Angelegenheiten. Folgende Erklärung gab der kirchenpolitische Ausschuß auf dieser Vollversammlung ab: „1. Wirkliches Kirchenregiment ist nicht mehr da. Wir haben den Staatskommissar. Das bedeutet Zerstörung der Kirche. Wir können uns nicht damit abfinden. 2. Ein Notregiment der BK ist unmöglich geworden. Aber der Protest des kirchlichen Gewissens ist aufrecht zu erhalten. 3. Wir müssen eine kirchliche Lebensordnung schaffen." 1 Diese Erklärung besaß zugleich Weisungscharakter. Wie sah nun die Situation aus, aus der heraus solch eine Erklärung abgegeben wurde? Nach A. Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30.1.1933 und dann nach dem „Ermächtigungsgesetz" vom 2 4 . 3 . 1 9 3 3 überschlugen sich auch auf kirchenpolitischem Sektor und im kirchlichen Leben die Ereignisse; Ziel der Reichsregierung der Nationalsozialisten war die Gleichschaltung der evangelischen Christen in einer Deutschen Evangelischen Kirche 2 . Am 26. April 1933 ernannte A. Hitler den Wehrkreispfarrer L. Müller zu seinem Vertrauensmann für die Evangelische Kirche. Dieser arbeitete mit einem Kollegium einen Verfassungsentwurf für die Deutsche Evangelische Kirche aus, der am 14.7.1933 angenommen wurde und in Kraft trat. Für den 2 3 . 7 . 1 9 3 3 waren in der Verfassung die kirchlichen Neuwahlen festgesetzt. Was Schleswig-Holstein betrifft, so war am 27.6.1933 Dr. Kinder als staatlicher Bevollmächtigter für Kirchenfragen eingesetzt worden; der Staat übte seinen Einfluß — hier in Schleswig-Holstein durch die Person von Dr. Kinder in sehr gemäßigter Form — auf die Kirche aus. Dieser Einfluß verstärkte sich, als bei den Kirchenwahlen von 79 Gewählten 75 Deutsche Christen in die Landessynode einrückten. Am 12.9.1933 tagte diese sog. „braune Synode" zum ersten Mal in Rendsburg. Die 3. Gesetzesvorlage dieser Synode betraf die „Aufhebung der Bischofsämter" für Schleswig und Holstein. Durch die Verabschiedung des Gesetzes wurde Bischof D. Mordhorst—Kiel und Bischof D. Völkel—Kiel mit dem 1. Januar 1934 in den Ruhestand versetzt. An die Stelle der bisherigen Kirchenleitung trat der Landeskirchenausschuß, dessen Vorsitz der Präsident des Landeskirchenamtes inne hatte. Die sog. „braune Synode" hatte in Schleswig-Holstein überall den gemeindlichen und kirchlichen Widerstand geschürt. Im Zusammenhang von Pastor M. Niemöllers Aufruf am 2 1 . 9 . 1 9 3 3 für den Beitritt zum Pfarrernotbund konstituierte sich am 19./20.10.1933 in Rendsburg die J . Bielefeld, Der Kirchenkampf in Schleswig-Holstein, Göttingen 1964, 170f. Vgl. Kl. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich Bd. 1, Frankfurt/M.Berlin-Wien, 1977, 388ff.; 560ff. 1
2
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„Not- und Arbeitsgemeinschaft schleswig-holsteinscher Pastoren"; damit hatte auch für Schleswig-Holstein die Kampffront zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche als Faktum zu gelten. Am 7.1.1934 wurde Pastor A. Paulsen in der Nikolaikirche in Kiel als Bischof eingeführt durch den Reichsbischof L. Müller, der nach dem erzwungenen Rücktritt von Pastor Bodelschwingh auf der Nationalsynode in Wittenberg am 27.9.1933 zum Einheitsbischof gewählt worden war. A. Paulsen war ein Mann der Mitte, der vor allem den Frieden in der Kirche suchte und anstrebte. Anfangs gehörte er zu den Deutschen Christen, er wurde vom Reichsbischof in sein Amt eingeführt, er schwieg — oder mußte schweigen — gegenüber der Eingliederung der schleswigholsteinischen Landeskirche in die Reichskirche am 8.5.1934; dann trennte er sich von den Deutschen Christen um den 11.4.1934 und versuchte — im Bemühen um Einigung der Parteien in der schleswig-holsteinischen Kirche —, sich mit der Bekennenden Kirche zu arrangieren. Vor allem aufgrund der Ereignisse um Bischof D. Wurm in Württemberg und Bischof D. Meiser in Bayern, die sogar zu Hausdurchsuchungen und Hausarrest führten, sagte Bischof A. Paulsen sich am 17.11.1934 von den Maßnahmen reichskirchlicher Gleichschaltung los. Im Hirtenbrief zum Bußtag 1934 schildert der schleswig-holsteinsche Bischof sein Vorgehen und schließt: „Um der Kirche willen bitte ich meine Amtsbrüder, mich in diesem Streben nach kirchlichem Frieden und kirchlichem Aufbau zu unterstützen. Ich hänge nicht an meinem Amt. Dazu ist es zu schwer und dornenvoll. Ich kann es aber auch nicht verlassen wie ein Mietling und die Kirche ihrem Schicksal überlassen. Ich zürne niemandem meiner Amtsbrüder um meines Herrn Jesu Christi willen. Ich schließe sie alle in mein Gebet" 3 . Der Landeskirchenausschuß erklärte im Kirchlichen Gesetz- und Verordnungsblatt vom 1.12.1934, daß er die Eingliederung der schleswig-holsteinschen Kirche für außer Kraft gesetzt betrachte; die Bestimmungen der Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche vom 11.7.1933 hätten allein Geltung. Bischof A. Paulsen streckte nun die Fühler aus zu einer Zusammenarbeit mit dem Bruderrat der Bekennenden Kirche; wegen seiner Bindung an die Vorläufige Kirchenleitung mußten aufgrund der Beschlüsse der Bekenntnissynoden von Barmen (29./31.5.1934) und Dahlem (19./20.10. 1934) diese Versuche scheitern 4 . Die schleswig-holsteinsche Landeskirche nahm so durch ihren Bischof eine Zwischenstellung ein zwischen den sog. „intakten Landeskirchen" einerseits und der Vorläufigen Kirchenleitung andererseits. Abgelehnt 3 4
J. Bielefeld, Der Kirchenkampf in Schleswig-Holstein, Göttingen 1964, 88f. Ebd. 90.
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durch die Deutschen Christen, aber auch nicht unterstützt durch die Bekennende Kirche, stellte Bischof A. Paulsen in einem Brief an die Pastoren vom 5 . 1 2 . 1 9 3 4 die Vertrauensfrage; „auf die Frage antworteten von den 4 3 3 Pastoren 2 6 4 mit J a " 5 ; die Vertrauensbezeugungen kamen im wesentlichen aus der Gruppe der „Lutherischen Kameradschaft". Die Zwischenposition war charakteristisch für die Lage der schleswigholsteinschen Landeskirche während der ganzen Zeit des Dritten Reiches. Auch der Bruderrat der Bekennenden Kirche konnte auf Dauer nicht gegen eine Kirchenleitung, die bewußt den Frieden suchte, an die Verwirklichung des Dahlemer Notrechts und eines eigenen geistlichen Kirchenregiments herangehen, wie es in anderen Gebieten Deutschlands etwa im Rheinland und in der vormaligen altpreußischen Union geschah. Wohl fielen harte Worte auf der ersten schleswig-holsteinschen Bekenntnissynode am 17.6.1935, wohl wurde eine Resolution verabschiedet, nach der die Bekennende Kirche die geistliche Leitung der Kirche in die Hand nehmen solle 6 , dennoch aber suchte man auch von dieser Seite einen modus vivendi und arbeitete sogar im Landeskirchenausschuß mit. Der Bekenntnispastor W. Halfmann wurde entsprechend einer Eingabe des Landesbruderrates vom 9.3.1936 am 2 2 . 4 . 1 9 3 6 als Vertrauensmann in das Landeskirchenamt gerufen 7 und konnte hier fruchtbar bis zum 25.9.1937 arbeiten 8 . Sei Tätigkeitsfeld war folgendes: ,,a) Die Einweisung der Kandidaten, Hilfsprediger und Vikare in Ausbildungs- bzw. Dienststellen geschieht nur mit seiner Zustimmung. b) Er vollzieht die Ordination und Visitation und entscheidet gegebenenfalls über vorzunehmende Einführungen. c) Er wirkt bei der Pfarrstellenbesetzung und bei der Dienstaufsicht über die Geistlichen mit. d) Die Zusammensetzung der Prüfungskommission geschieht im Einverständnis mit diesem Träger der geistlichen Leitung." 9 Diesen Weg der bedingten Zusammenarbeit und der kritischen Sympathie mit dem Landeskirchenamt verfolgte die Bekennende Kirche in s Ebd. 91. 6 Ebd., 110: „Auf Grund dieser Feststellung beauftragte die Bekenntnissynode den Landesbruderrat, für die Dauer des Notstandes die geistliche Leitung der Kirche in die Hand zu nehmen und insbesondere auch in Sachen der Prüfung und Ordination im Einvernehmen mit der VKL und dem Präsidium der Synode, die nötigen Anordnungen zu treffen". Vgl. auch: K. Meier, Der evangelische Kirchenkampf, Bd. 1, Göttingen 1976, 3 5 8 ; 360ff.; Bd. 2 Göttingen 1976, 260ff. 7 J . Bielefeld, Der Kirchenkampf in Schleswig-Holstein, Göttingen 1964, 134f. 8 Ebd., 135f.; 160. « Ebd., 134.
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Schleswig-Holstein auch weiterhin. Allerdings herrschte über diese Marschroute keineswegs Einigkeit innerhalb des Landesbruderrates. Die einen sagten: „Auch in Schleswig-Holstein ist unsere Gegenfront immer noch so, daß der kirchenpolitische Kampf noch nicht aufgegeben werden d a r f . " 1 0 Die andern sagten: „Die Lage ist bei uns so anders als etwa in Altpreußen oder Thüringen, daß wir unmöglich die Haltung der dortigen Bruderräte einnehmen können." 1 1 In erster Linie um die konträren Standpunkte zu klären, trafen sich am 21./22.9.1938 die Bekenntnispastoren in St. Peter. Man einigte sich schließlich auf die Kornpromislösung des kirchenpolitischen Ausschusses 12 . Für diese Entscheidung spielte neben der besonderen Situation der schleswig-holsteinschen Landeskirche das ausgeprägte Verantwortungsbewußtsein und die Sorge für das geistliche Leben der Gemeinden eine große Rolle. Wie schon auf der ersten Bekenntnissynode in Rendsburg sind darum die apologetischen Aufgaben gegen die nationalsozialistischen Irrlehren, die volksmissionarischen Herausforderungen durch die umsichgreifende antichristliche Politik und die geistliche Stärkung der Amtsbrüder und der Gemeinden durch Visitationen die eigentliche Intention dieser Erklärung in St. Peter. In diesem weiteren Zusammenhang muß nun die Arbeit des Ausschusses für Gemeindeaufbau an der „Ordnung des kirchlichen Lebens" gesehen werden. Die Herausforderungen durch die kirchenfeindlichen und antichristlichen Ausschreitungen des nationalsozialistischen Regimes traten dann während des Krieges immer stärker in den Vordergrund; sie waren es, die — letztlich veranlaßt durch das Bemühen von Bischof Wurm vom Dezember 1941 — zu den Einigungsbemühungen des Landesbruderrates mit der „Lutherischen Kameradschaft" 1 3 und zum Verzichtsangebot des Leitungsanspruchs auf die ganze Kirche seitens des Bruderrates 1 4 führten. An dem „Entwurf der Ordnung des kirchlichen Lebens" wurde vom Ausschuß für Gemeindeaufbau zügig gearbeitet; er erschien in der Zeitschrift .Junge Kirche" 1939, Heft 2; 4; 6; 11; 13/14; 16; 21; 23 und 1940, Heft 4 1 S . 10
Ebd., 165f. Ebd., 168. 12 Vgl. S. 62. 13 J. Bielefeld, Der Kirchenkampf in Schleswig-Holstein, Göttingen 1964, 184f. 14 Ebd., 1 8 7 f . 15 Der Entwurf enthält noch nicht den Teil VI „ V o n der Beichte" und den Teil XII „ V o n der Kirchenzucht". In den „Mitteilungen" i n J K 7, 1939, 795 heißt es: „Die Aufsatzreihe über die Ordnung des kirchlichen Lebens kann von Pastor P. G. Johanssen, Osterherer, der durch besonderen Dienst in Anspruch genommen ist, nicht fortgesetzt werden. Der Aufsatz über Abschnitt VI, „ V o n der Beichte", muß nachgetragen werden. Wir freuen uns, daß Pastor Reinhard Wester, Wester5 Plathow, Lehre
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Der A u f b a u und Inhalt, z.T. bis in Einzelformulierungen, entsprechen der späteren schleswig-holsteinschen Lebensordnung v o m 2 2 . 5 . 1 9 5 7 und der „Ordnung des kirchlichen L e b e n s " der V E L K D vom 2 7 . 4 . 1 9 5 5 . Die fettgedruckten Artikel dieses Entwurfs sind mit Erläuterungen als Handreichung für die Gemeindeglieder versehen; diese Erklärungen wenden sich in der vorher umrissenen Situationsbeschreibung an die verantwortungsbewußten Gemeinden und rufen sie zur Auseinandersetzung mit der neuheidnischen NS-Ideologie und z u m volksmissionarischen Auftrag gegen den umsichgreifenden Unglauben auf; „der Gehorsam gegen unseren Herrn wie die Liebe zu unserem Volk gebietet uns, den Blick nicht wegzuwenden von den Wunden am Leibe unserer evangelischen Kirche. Helfe, wer helfen kann, um Gottes willen, u m unseres Volkes willen", heißt es in d e m kurzen Vorspann der Ordnung zum „ S i t z im L e b e n " . Dies ist der R u f zur kirchlichen Erneuerung von Seiten der Gemeindeglieder her in einer durch Irrlehren und staatliche Repressalien bestimmten Situation. Erneuerung aber hat ihren eigentlichen Grund in der „bußfertigen und glaubenskühnen Bitte: K o m m , Heiliger G e i s t ! " 1 6 Der Entwurf einer schleswig-holsteinschen Lebensordnung will Richtlinien für eine so verstandene Erneuerung der christlichen Existenz geben. Sie ist das Leben aus der Taufe und Rückkehr zur T a u f e als Glied der christlichen Familie, als K o n f i r m a n d , in der Christenlehre, als Ehepartner, im Beruf, im Erfolg u n d im Leid und schließlich im Sterben und Hingehen zu G o t t durch den eigenen T o d und das göttliche Gericht hindurch. Die christliche Existenz ist weiter das Leben in der Gemeinde, das sein Zentrum im Gottesdienst hat. V o m Gottesdienst, der mit d e m Abendmahl und der Beichte wie auch mit den Kausalhandlungen eine integrative Einheit bildet, gehen die geistlichen K r ä f t e des gottesdienstlichen Alltagslebens in Familie, Gemeinde und Beruf aus. In besonderer Weise findet die christliche Erziehung der J u g e n d durch die Eltern, Paten und Gemeindeglieder, die Unterweisung der K o n f i r m a n d e n durch den Pastor mit Unterstützung der Gemeinde, die volksmissionarischen Aufgaben und Dienste der Kirche, der Einzelgemeinden und ihrer Glieder eine breite Darlegung. Neben der inneren Mission wird die äußere Mission als Aufgabenfeld der Gesamtkirche klar erkannt. Kirche wird so immer missionierende Kirche sein. Wie weiter der Pastor als Diener a m Wort Gottes und an der Sakramentsverwaltung das Wächteramt ausübt darüber, daß keine Irrlehre in der Gemeinde Einfluß gewinnt, daß die land/Sylt, sich bereit erklärt hat, die A u f s ä t z e über die Abschnitte VII—XII der Ordnung des kirchlichen Lebens zu schreiben". '« J K 7, 1939, 53.
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Einheit von Lehre und Leben in der Gemeinde gewahrt wird, daß seelsorgerliche Beratung und Begleitung und auch die gemeindliche und kirchliche Zucht in der Gemeinde geübt wird, so hat auch die Gemeinde und die Gesamtkirche diesen Wächterdienst zu erfüllen. Vor allem in Zeiten harter Auseinandersetzungen zwischen Glauben und Unglauben ist der Dienst am Wort Gottes und der Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes mit der Aufgabe von Scheidung und Abgrenzung um der Wahrheit willen verbunden. Diese vier Grundlinien, die auch die VELKD-Lebensordnung bestimmen, sollen nun von den Erläuterungen zum Entwurf der schleswig-holsteinschen Lebensordnung her auf ihre Konkretion in der damaligen Zeit hin befragt werden. Da sind zunächst die Hinweise auf die kirchliche Situation, die einiges über den Anlaß für diese Lebensordnung deutlich machen. In Abschnitt I 2, also im Teil über die Taufe, heißt es: „Wir Pastoren wollen häufiger und freudiger auch die Herrlichkeit und den Ernst der Taufe in unseren Predigten bezeugen. Viele erreicht jedoch das Wort von der Kanzel gar nicht; sie geben aber etwas aufs Wort der Nachbarin, wenn sie die junge Mutter besucht, und das gute Wort eines Arbeitskameraden, der sich mit seinem Hause zu Christus bekennt, kann neues Fragen nach dem Leben aus Gott und ehrliches Verlangen nach dem erst so verachteten Schatz, der im Taufsakrament verborgen liegt, wecken." 1 7 Der volksmissionarische Sendungsauftrag in der antichristlichen Kampagne der nationalsozialistischen Ideologie ist hier angesprochen. Dieser Auftrag beginnt im eigenen Haus; „unser Festhalten an der Kindertaufe wird unglaubwürdig vor der Welt und ein Greuel in Gottes Augen, wenn wir nicht entschlossen sind, mit ganzem Einsatz die christliche Unterweisung der getauften Jugend vom Kindesalter an bis zum Ausgang des Jugendalters planmäßig, organisch und zielbewußt durchzuführen". Im weisenden Wort der Erläuterungen heißt das: „Fange heute damit an! Singe und bete mit deinen Kindern und halte sie an zum Besuch des Kindergottesdienstes und der Zusammenkünfte der evangelischen Gemeindejugend." 1 8 Im Blick auf die neuheidnische, atheistische Umwelt heißt das: „Aber das müßte doch künftig feststehen und in der Gemeinde bekannt sein: bei einer in der Gemeinde offen zutage getretenen Christus-Feindschaft der noch zur Kirche gehörenden Eltern kann ihr Kind nicht getauft werden." 1 9 Die antichristliche Umgebung wird, ganz dem örtlichen Milieu angepaßt, wie folgt beschrieben: „Ich habe gesehen, wenn von der Nordsee her die Herbststürme über die Deiche stürmen, dann sucht so mancher in unserem Dorf das 17
Ebd., 53f. * Ebd., 54. 19 Ebd., 57.
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rethgedeckte Dach seines Hauses noch besonders mit Brettern und Stangen zu schützen; und ich wundere mich nicht darüber. Und heute, da ist der Giebel des evangelischen Hauses von stürmischen Winden umweht, ja, es geschieht, daß deshalb Eltern vierzehn Tage nach der Taufe ihres Kindes ihren Kirchenaustritt erklären." 2 0 Dieser Aufruf zur missionarischen Verantwortung angesichts der antichristlichen und antikirchlichen Strömungen in der damaligen Gesellschaft ist verbunden mit einem loyalen Verhältnis zum damaligen Staat. In der Situation, die durch ein intensives Suchen nach neuen Möglichkeiten christlicher Erziehung anstelle des aufgehobenen Religionsunterrichts gekennzeichnet ist, schreiben die Erläuterungen: „Daß für solches Beginnen in unserem Volke weithin doch wohl Verständnis vorhanden sein wird, dafür mag jenes Wort hier angemerkt werden, welches Schulrat Elbertzhägen in der Zeitschrift „Der Schleswig-Holsteinsche Erzieher" (1938, Nr. 5a) schrieb: „Darum kann allen konfessionellen Gruppen christlicher und nichtchristlicher Richtung nur der dringende Rat gegeben werden, möglichst überall einen besonderen Religionsunterricht für die zu ihren Mitgliedern gehörenden Kinder einzurichten. Dann würde der Staat um so früher zu der Gewißheit kommen können, daß dieses Elternrecht nicht nur theoretisch behauptet, sondern auch von den Eltern praktisch verwirklicht würde, und es würde sich sehr bald herausstellen, daß der nationalsozialistische Staat das Recht und die Freiheit der konfessionellen Gruppen auf eigene religiöse Jugenderziehung im weitesten Maße zu wahren und sogar zu schützen weiß." 2 1 Wie die weitere Geschichte des Dritten Reiches — vor allem während des Krieges — zeigte, täuschte sich Pastor P. G. Johanssen und Herr Elbertzhägen in diesem Punkt erheblich; die christliche Jugenderziehung sollte nach Möglichkeit liquidiert werden. In einer für unsere heutigen Ohren höchst bedenklichen Weise konnte sich die Loyalität zur staatlichen Gesetzgebung im Abschnitt von der christlichen Ehe wie folgt äußern: „Anliegen des Staates ist es, daß die Mischehe in rassischer Hinsicht unterbleibt. Evangelische Unterweisung hat es immer verstanden, die von Gott gegebene Art so gering zu achten. Aufgabe der Kirche ist es, auf die Gefahren einer konfessionsverschiedenen Ehe hinzuweisen" 2 2 . Mit Recht ist hier von der Folgegeschichte her zu fragen, ob die Loyalität gegenüber der nationalsozialistischen Staatsmacht, begründet in der Zwei-Reiche-Lehre, die hier weltliche und geistliche Aufgaben voneinander trennt, nicht schon zu weit ging. Der Lebensordnung als ganzer jedoch geht es in einer Situation äußerster Bedrängung durch Mächte 20 Ebd., 140. 21 Ebd., 235f. μ Ebd., 890.
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des Unglaubens und durch antichristliche und antikirchliche Propaganda um apologetische Auseinandersetzung mit dem Neuheidentum und um geistliche Stärkung und Erneuerung für den missionarischen Dienst. Dies geschieht in den Erläuterungen einmal durch die theologischen und katechetischen Unterweisungen. Man denke etwa an die soteriologischen Ausführungen zur Heilsbedeutung der Taufe; in Christi Tod und Auferstehung und ihrer Applikation an den Täufling liegt der Grund des Heils. An den Leser gewandt heißt es in der Lebensordnung: „Bin ich getauft, dann ist fortan mein Leben an Christus gebunden." 2 3 Es sei auch an die Erläuterungen zum sog. „Lehramt" der Paten erinnert, an die theologische Behandlung des Kateclfismusunterrichts, der nicht bloße Belehrung, sondern das Einüben „in das Leben aus dem Glauben und in die Betätigung des Gliedseins in der Gemeinde Jesu Christ" 24 sein will. Es sei verwiesen auf das theologische Verständnis der Konfirmation; sie ist die Feier des Taufgedächtnisses, die Aufnahme in die Abendmahlsgemeinschaft der Kirche, der Gemeindegottesdienst, bei dem die Bitte um Segen und die Fürbitte für die Konfimierten besonders im Vordergrund steht 2 5 . Es seien auch die Hinweise zur Theologie des Gottesdienstes erwähnt: „Es hat Gott gefallen, seine Gegenwart an sein Wort und seine Sakramente zu binden. Und so geht es im Gottesdienst um nichts anderes als um dies eine: wir dürfen, indem wir im Glauben das Sakrament empfangen, der Gegenwart des Herrn gewiß und froh sein." 2 6 In breiten theologischen Erklärungen wird auf das gottesdienstliche Leben eingegangen; in einem längeren geschichtlichen Rückblick wird die Vielfalt der Predigtformen und die Mannigfaltigkeit der Gottesdienstliturgien angesprochen 2 7 . Es seien schließlich die dogmatischen Erklärungen zum Dienst des dreifach gestalteten Amtes genannt; in Christi priesterlichem, pastoralem und prophetischem Dienst hat er sein Ur- und Vorbild 2 8 . Die theologisch-katechetischen Ausführungen werden ergänzt durch konkrete Handreichungen und pastoraltheologische Weisungen und Vorschläge. Da findet sich z.B. das Muster eines Patenbriefes 2 9 ; da werden praktische Hinweise für die Auswahl von Paten gegeben 30 ; da wird ein Ge» Ebd., 53. » Ebd., 232. 25 Ebd., 36Iff.; 457ff. Vgl. auch den Bericht über eine Tagung zur Frage der Konfirmation in: JK 7, 1939, 568ff. * Ebd., 549. 27 Ebd., 55 lf. » Ebd., 774f. » Ebd. 140ff. 30 Ebd., 143.
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bet des Paten für sein Patenkind vorgeschlagen 31 ; da wird eine „Ordnung der Gemeindejugend" mitaufgenommen 3 2 , ebenso eine Konfirmationsordnung 3 3 ; da werden Handreichungen für die Gestaltung der Gemeindejugendarbeit mit Vorschlägen für die Abende 3 4 , die Bibelarbeiten, die Singarbeiten, die Rüstzeiten, weiter für die Vorbereitung der einzelnen Dienste, die Gestaltung des geistlichen Lebens in der Familie 35 , schließlich für die Bestattungsfeier und die Auswahl der Lieder bei der Bestattung gegeben 36 . So werden viele hilfreiche Vorschläge für die konkrete gemeindliche und volksmissionarische Arbeit in diesen Erläuterungen gemacht. Dabei handelt es sich nicht nur um informierende Anregungen und Kenntnisvermittlung, sondern um Weisung, Gebot und Aufforderung; es geht um den konkreten Dienst. So wird zur christlichen Erziehung im eigenen Haus gerufen: „Singe und bete mit deinen Kindern und halte sie an zum Besuch des Kindergottesdienstes und der Zusammenkünfte der evangelischen Gemeindejugend" 3 7 ; der Imperativ weist treffend den Gebotscharakter. nach. Solche Aufforderungen können auch in die Form eines Wunsches gekleidet sein; im Abschnitt über das Patenamt heißt es etwa: „Ach, daß es alle bedächten: evangelische Patenschaft übernehmen ist nicht eine persönliche Gefälligkeit gegenüber einer verwandten oder befreundeten Familie, sondern ein Dienst an der Gemeinde." 3 8 Auch der Appell wird benutzt: „Darum: ohne Lehre, ohne Unterricht, ohne ausreichende Vermittlung eines klaren biblischen Wissens keine Festigung der Gemeinde!" 3 9 In eine personale Anrede gekleidet kann die Weisung in indikativischer Formulierung lauten: „Du evangelischer Mann, in deinem Hause bist du der Priester! Du mußt den Kurs für das Leben in deinem Hause bestimmen, auch wenn dann die Frau den größten Teil in der christlichen Erziehung der Kinder übernehmen wird." 4 0 Das Bild der damaligen Kleinfamilie spiegelt sich in diesen Aufforderungen wider. Die Paraklesen zur vöiksmissionarischen Beauftragung weiten sich über den Kreis der Familie aus auf das Verhalten in den gesellschaftlichen Bezügen und die Verantwortung im Bereich der Welt. Verbunden 31
32 33 « 35 3« 37 38 39 40
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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., JK 8, JK 7, Ebd., Ebd., Ebd.,
142. 365. 456. 460. 552. 1940, 42f. 1939, 54. 140. 232; ebenso 233; 552. 552.
sind diese Aufforderungen mit den Ausführungen über das geistliche Leben; das weisende Wort gehört zum geistlichen Wort. Das geistliche Wort kann einmal ein Zitat aus den Stimmen der Väter sein 41 wie z.B. im Abschnitt „Vom heiligen Abendmahl" folgende Sätze M. Luthers: „Darum uns zu stärken und ermahnen wider dieselben Sünd gibt uns Gott dies Sakrament, als spräch er: Siehe da, dich ficht mancherlei Sünd an, nimm hin dies Zeichen, damit ich dir zusage, daß die Sünde nicht dich alleine, sondern meinen Sohn Christum und edle seine Heiligen im Himmel und auf Erden anficht. Drum sei frisch und getrost; du streitest nicht allein; groß Hilf und Beistand um dich ist." 4 2 Ein anderer in den Erläuterungen häufig im pastoralen Zusammenhang zitierter Theologe ist W. Löhe; so endet etwa der IV. Abschnitt „Vom Gottesdienst" mit einem geistlichen Segenswort von W. Löhe: „Der Herr erleuchte nur fernerhin Sein gnädiges Angesicht über uns durch sein Wort, so wollen wir gerne tun, was etliche vergessen, vom Wort zu zeugen und uns vor ihm beugen, — mit Aug und Sinn an Seinem lichten, klaren Worte hängen, bis er k o m m t . " 4 3 Die geistliche Ausrichtung dieser Lebensordnung äußert sich auch in den gereimten Texten und Liedstrophen; so findet sich am Schluß des Abschnittes von der christlichen Erziehung ein Vers von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf: „Wir wollen. Und was wir wollen, das geht, denn darum sind wir Deine und haben Deine Kraft erfleht und stehn in der Gemeine; wir wollen Deine Diener sein und Deine Dienerinnen, und keinem falle Rückzug ein, bis wir den Streit gewinnen." 4 4 Ein Bittvers anbetender Dankbarkeit findet sich am Ende des ersten Absatzes vom Abendmahlsabschnitt; er ist der Abendmahlsliturgie der Zwölfapostellehre entnommen: „Vor allem danken wir dir, daß du mächtig bist. Dir sei Ehre in Ewigkeit! Gedenke, Herr, deiner Gemeinde, daß du sie erlösest von allem Übel und sie vollendest in deiner Liebe. 4
« Vgl. ebd., 232. Ebd., 652; vgl. auch: 655; 549. 43 Ebd., 554; vgl. auch: 549, 774. 44 Ebd., 237. 42
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Und führe sie zusammen von den vier Winden, die dir geheiligt ist, in dein Reich, das du ihr bereitet hast. Denn dein ist die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Es komme die Gnade und es vergehe diese Welt! Hosianna dem Sohne Davids!" 4 5 Diese geistlichen Worte am Schluß eines Absatzes oder eines Abschnittes verweisen auf den geistlichen Charakter dieser Lebensordnung; allein durch den usus spiritualis lebt sie und erhält sie ihren Sinn als kirchliche Ordnung. In die Erläuterungen zur Lebensordnung werden ferner Hinweise auf das christliche Sitten- und Brauchtum einbezogen; sie sind häufig lokal bedingt und dienen sozusagen der örtlichen Akkulturation. Da wird einmal auf die älteste schleswig-holsteinsche Kirchenordnung von 1542 46 Bezug genommen, die ja in Abhängigkeit zu der von J . Bugenhagen verfaßten Braunschweiger Kirchenordnung von 15 2 9 4 7 steht. Gerade im Rückgriff auf die reformatorischen Kirchenordnungen wurden die theologischen Kriterien der Ordnungen des Kirchenkampfes gefunden. Ein sehr schönes Beispiel aus dieser reformatorischen Kirchenordnung findet sich im Abendmahlsabschnitt der Lebensordnung; ebendort heißt es: „In der ältesten evangelischen Kirchenordnung Schleswig-Holsteins vom Jahre 1542 wird von dem Abendmahlsgast gesprochen als einem ,de sick berichten laten wil'. In dem alten Wort ,berichten' steckt in jenem Zusammenhang noch der tiefe Sinn des Wortes, das ursprünglich bedeutet: auf den richtigen Weg bringen. Es werden ja heute mancherlei Wege gesucht und begangen, um zur Erneuerung des Lebens unserer Gemeinden zu gelangen. Soll dieser Weg einer Erneuerung aus dem Sakrament vergessen sein?" 4 8 Zum andern finden sich volkstümliche Hinweise z.T. im ortsgebundenen Dialekt: „Vadder stahn (d.h. Gevatter stehn) is'n Ehr vor de Lüd awer 'n Schann förn Geldbüdel" 4 9 oder durch Sprichwörter und Volkslieder; ein schlichter Volksvers aus den Erläuterungen etwa heißt: "5 Ebd., 653; vgl. auch: 462. 46 Vgl. A. L. Richter, Die evangelischen Kirchen Ordnungen des 16. Jahrhunderts Bd. I, 353ff. 47 Vgl. E. Sehling, Die evangelischen Kirchen Ordnungen des XVI. Jahrhunderts VI/1, Tübingen 1955, 348ff. 48 JK 7, 1939, 655; vgl. auch: 139; 776f. 4 « Ebd., 138. 72
„Himmelsau, licht und blau, wieviel zählst du Sternlein? Ohne Zahl — soviel Mal sei gelobt das Sakrament!" 5 0 Diese Anknüpfungen bei den Gebräuchen und bei der örtlichen Volksund Landeskunde deuten darauf hin, daß auch diese Sitten und Gewohnheiten, einbezogen in die Lebensordnung, in den Dienst des Wortes Gottes gestellt sind. Auch die Sittenregeln dienen damit der apologetischen und volksmissionarischen Intention der Lebensordnung: der geistlichen Erneuerung des gemeindlichen und kirchlichen Lebens in einer Zeit großer Bedrängung im schleswig-holsteinschen Raum. Der Entwurf einer „Ordnung des kirchlichen Lebens" schleswig-holsteinscher Bekenntnispastoren hat die verbindliche Einheit von Lehre und Leben zur Leitlinie; „verbindlich" heißt hier: in der Wahrheit des Wortes Gottes gegründet. Darum ist letztlich die Abwehr der Irrlehre und der missionarische Vorstoß gegen die Mächte des Unglaubens der Anlaß für die Abfassung dieser Lebensordnung. So erklärt schon im November 1933 eine Kanzelverlautbarung der Not- und Arbeitsgemeinschaft schleswig-holsteinscher Pastoren: „Die kirchlichen und außerkirchlichen Ereignisse der letzten Wochen haben klar gemacht, daß das Bekenntnis der evangelischen Kirche in Gefahr ist. Als Prediger des Evangeliums sind wir es in solcher Lage unseren Gemeinden und unserem Volk um unseres Amtseides willen schuldig, der Verfälschung der Wahrheit entgegenzutreten." 51 Um die einzige Wahrheit in Jesus Christus und — damit verbunden — um die rechte Lehre und das rechte Bekenntnis geht es dann in den verschiedenen Verlautbarungen der schleswig-holsteinschen Bekenntnissynode 52 , in Briefen und Erklärungen53. Die Irrlehre wurde dabei nicht von einzelnen Personen vertreten, gegen die bei starrer Beharrlichkeit mit einer Lehrbeanstandung oder mit kirchenzuchtlichen Maßnahmen hätte vorgegangen werden können; die Irrlehre trat als antichristliche Strömung in Erscheinung, vertreten durch eine kirchenpolitische Partei, durch die staatliche und ideologische Interessen in der Kirche Einfluß fanden. Nur mit einem klaren Bekenntnis zur einen Wahrheit in Jesus Christus, wie es in Barmen abgelegt wurde und ähnlich auf den verschiedenen Bekenntnissynoden und wie 50 51 52 53
Ebd., 6 5 6 . K. D. Schmidt, Die Bekenntnisse des Jahres 1933, Göttingen 1934, 89. J . Bielefeld, Der Kirchenkampf in Schleswig-Holstein, Göttingen 1964, 235ff. Ebd., 252ff.; 261ff.
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es gelebt wurde entsprechend der Lebensordnungen, konnte dem begegnet werden. Der Pastor, aber auch die ganze Gemeinde, übt darum ein Wächteramt über die wahrheitsgemäße Predigt und das rechte Gemeindeleben in seinen Konkretionen aus. In gleicher Weise liegt dieses Wächteramt auch beim geistlichen Kirchenregiment, also vor allem beim Bischof, der durch die Ordination und damit durch die Verantwortung für die Ausbildung der Kandidaten und durch die Visitation und damit durch die geistliche Beratung und Beurteilung der Lehre und des Lebens in einer Gemeinde das Amt der Leitung und Erneuerung mit dem Wort in der Kirche im Auftrag Gottes ausübt (reformatio und gubernatio). Immer wieder verlangte darum Pastor Halfmann, der Verbindungsmann des Bruderrates zum schleswig-holsteinschen Landeskirchenausschuß, eine geistliche Kirchenleitung durch Ordination und Visitation 5 4 . Die Verantwortung des Pastors und der ganzen Gemeinde für die rechte Lehre und das Leben in der Gemeinde korrespondiert für gewöhnlich mit dem Wächteramt der Kirchenleitung und des geistlichen Kirchenregiments. Liegt in Not- und Krisenzeiten — wie etwa im Kirchenkampf mit den an die staatliche Ideologie angepaßten Kirchenführern — das Wächteramt bisweilen vor allem bei den Gemeindegliedern und den Pastoren, so in Normalzeiten — nicht zuletzt unter gesamtkirchlichem Gesichtspunkt — bei der geistlichen Kirchenleitung; durch die Ordination und Visitationen, als Letztschritt auch durch die Kirchenzucht mit Lehrbeanstandungs- und Disziplinarmaßnahmen, übt sie „sine vi, sed verbo" (CA XXVIII, 21; 22) die geistliche Leitung der Kirche aus. Lehr-, Lebens- und Visitationsordnungen sind deshalb nicht voneinander zu trennen. Zum Charakter des Entwurfs einer „Ordnung des kirchlichen Lebens" für Schleswig-Holstein äußert sich nicht — wie in den späteren Lebensordnungen, z.B. auch in der VELKD-Lebensordnung — ein Vorspann; der Text der Ordnung und die Erläuterungen selbst verweisen auf den Charakter. Vor allem in den Erläuterungen finden sich, z.T. in volks54 Vgl. etwa: die Eingabe des Landesbruderrates an den Landeskirchenausschuß vom 9.3.1936 in: J. Bielefeld, Der Kirchenkampf in Schleswig-Holstein, Göttingen 1964, 261f. Vgl. ebenfalls: das Schreiben der Pastoren Franzen und Halfmann an die BK-Pastoren in Schleswig-Holstein von Anfang 1940; da heißt es: Aber das bedeutet nicht, die Hände in den Schoß zu legen. Wir müssen etwas tun, um der Not und Vereinsamung der Amtsträger in der Kirche abzuhelfen. Wir müssen uns bemühen, die Gemeinschaft unter uns aufrecht zu erhalten und zu stärken. Wir können kaum ermessen, was es uns geschadet hat, daß wir seit 7 Jahren einer geistlichen Kirchenleitung entbehren, die die Pastoren durch Aufsicht, Anregungen und Visitationen führt", in: J. Bielefeld, Der Kirchenkampf in Schleswig-Holstein, Göttingen 1964, 266.
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tümlicher Redeweise und im Dialekt, Beschreibungen von christlichen Gebräuchen bei der Feier der Taufe, Konfirmation, Trauung usw., die Darstellung von besonderen Sitten im häuslichen und gemeindlichen Leben, die aus einer geprägten Spiritualität und einem besonderen Lebensstil hervorgewachsen sind; erwähnt sei etwa der geistlich ausgerichtete Tageslauf des evangelischen Hauses, das Leben in und mit dem Kirchenjahr mit den christlichen Sitten etwa in der Advents-, Weihnachtsund Passionszeit. Diese örtlich gebundenen Sitten und Ordnungen sind einem schnellen geschichtlichen Wandel unterworfen. Sie stehen im Dienst des Wortes Gottes und sind darum um des Friedens in der Gemeinde willen als christliche Sittenordnungen zu erfüllen. Lebensordnung ist auch Sittenordnung. Der Entwurf einer Lebensordnung will — nun weniger als projiziertes Idealbild einer Gemeinde, sondern als im Dienst des Wortes Gottes stehende Ordnung — der Gemeinde, den Gemeindegliedern und dem Pastor einen Spiegel vorhalten, der sie zur Umkehr rufen soll. Diese Lebensordnung stellt die Gemeindeglieder in ihrer Sicherheit und Selbstgefälligkeit in Frage, sie ruft die Zweifler und Strauchelnden zur Buße. So werden die Eltern gefragt, ob sie ihren Kindern als Vorbild eines christlichen Lebenswandel vorausgehen; die Paten werden an ihr Patenamt erinnert, in nüchterner Herbheit heißt es hier in den Erläuterungen: „So findet sich in den althochdeutschen Beichtformeln des 9. Jahrhunderts auch der Satz: ,ich han gesuntit; daz ih mina fillola ungeleret halz im heiligen glouba' — ,ich habe gesündigt, daß ich meine Taufpaten nicht unterwiesen habe im heiligen Glauben'." 5 5 Die schleswig-holsteinsche Kirchenordnung von 1542 schreibt in diesem Sinn nach Beendigung der Taufhandlung eine Ermahnung an die Gevattern vor, „dat se weten mögen, wat se dem Kinde schüldich sint"; das gilt besonders, wenn die Eltern früh sterben sollten, „de underwising ym Catechismus", damit das heranwachsende Kind „by Christo bliven möge" 5 6 . So wird weiter dem Pastor und der Gemeinde ein Spiegel vorgehalten, in dem sie sich fragen müssen, ob sie der Gemeindejugend und den Konfirmanden die rechte kirchliche Unterweisung zukommen lassen; „kirchliche Unterweisung ist Sache und Aufgabe der Gemeinde, der ganzen Gemeinde; und wo ein Organismus in der Mehrzahl seiner Glieder dienstunfähig ist, ist jedes Glied in seinem Wachstum gefährdet, ja das Leben des Ganzen bedroht" 5 7 . So werden vor allem auch der Pastor und die Kirchenältesten daran gemahnt, daß der Gottesdienst Zentrum des gemeindlichen Lebens ist. In einer Vielfalt von Gottesdienstformen darf Gott gelobt und gepriesen wer55
JK. 7, 1939, 139. 56 Ebd., 139. « Ebd., 233; vgl. auch: 363f.; 4 5 8 £
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den S8 ; der Gesamtgottesdienst wie er bis zur Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert gefeiert wurde, ist dabei die eigentliche gottesdienstliche Sonntagsfeier 59 . So müssen sich die Gemeindeglieder durch diese Ordnung daran erinnern lassen, daß sie ihre Dienste nicht treu genug ausübten, den Dienst seelsorgerlicher Beratung und helfender Diakonie für den nahen und fernen Nächsten, den Dienst der Fürbitte für Kranke, Angefochtene und Sterbende. Häufig erkennen Gemeindeglieder und Pastor ihr Versagen erst, wenn ein Glied in Irrlehre abfällt, aus der Kirche austritt, sich das Leben nimmt usw. Somit dient die Lebensordnung als Beichtordnung dazu, das eigene sündige Versagen und Unvermögen der Gemeinde aufzudecken, kritisch zu befragen und zur Buße und Erneuerung zu rufen. Schließlich ruft die Lebensordnung im Dienst des Wortes Gottes als Gebot zum christlichen Leben und Dienst. Da heißt es Imperativisch: „Singe und bete mit deinen Kindern!" 6 0 Es werden in Wunschform oder in eine Feststellung gekleidete Anweisungen gegeben61 oder in eine rhetorische Frage gebundene Aufforderung erteilt 62 ; es finden sich Ausrufe und Aufrufe wie: „Nein, Gemeinden ohne Sakramentsleben sind tote Gemeinden!" 62 , appellative Anreden wie: „Du evangelischer Mann, in deinem Hause bis du der Priester!" 63 . Es sind dies pastorale Anweisungen mit Gebotscharakter, ihnen gebürt Gehorsam in der lebendigen Nachfolge der christlichen Gemeinde. Der Anlaß für den Entwurf der schleswig-holsteinschen Lebensordnung und ihr Charakter ist somit geprägt von den apologetischen und volksmissionarischen Herausforderungen der Kirchenkampfzeit, in der diese Landeskirche eine vermittelnde Position einzunehmen versuchte. Der Entwurf einer „Ordnung des kirchlichen Lebens" der Bekenntnispastoren R. Wester und P. G. Johanssen wurde das Modell für die Lebensordnung der VELKD vom 27.4.1955 und für die schleswig-holsteinsche Lebensordnung vom 22.5.1957. Wie erwähnt, entsprechen sich diese Ordnungen in der Gliederung, in der Gesamtintention und in Einzelformulierungen. Vor allem Bischof R. Wester stellte als Vorsitzender des Ausschusses für Gemeindeaufbau, der seit der lutherischen Generalsynode in Leipzig (25.-28.1.1949) mit der Erarbeitung der VELKD-Le58 Ebd., 55 lf. 59 Ebd., 652f. «o Ebd., 54. «i Ebd., 1 4 0 ; 232 usw. 6 2 Ebd., 3 6 3 : „Erst recht gilt: Unsere Erkenntnis der Göttlichkeit Jesu wächst in dem Maße unserer Hingabe an Ihn! Müßte das nicht auch für die Gestaltung des Konfirmandenunterrichts stärker bedacht werden als bisher?" « Ebd., 5 5 2 .
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bensordnung beschäftigt war, die Kontinuität zur Arbeit der Kirchenkampfzeit dar. Folglich war die Lebensordnung der VELKD vom 27.4. 1955 auch stark vom Geist des Kirchenkampfes bestimmt. Mit der Veränderung der kirchlichen und gesellschaftlichen Situation war die Fortschreibung dieser Lebensordnung notwendig. Das geschah durch die verstärkte Berücksichtigung des pastoraltheologischen, ökumenischen und gesellschaftsdiakonischen Gesichtspunktes für die Abschnitte über die Taufe, die Trauung und die Beerdigung auf der Lutherischen Generalsynode in Hamburg (23.-27.10.1972) 6 4 , in Rummelsberg ( 2 0 . - 2 5 . 1 0 19 7 4) 65 , in Bückeburg (26.-29.10.1076) 6 6 , in Bad Gandersheim ( 2 5 . 28.10.19 7 7) 67 und in Bad Bevensen (23.-26.10.1978) 6 7 a .
3.2. Die Lebens- und Visitationsordnung in der altpreußischen Union (Das ,,Kirchbüchlein" von 1941 und die Visitation) Die „Ordnung des kirchlichen Lebens" der Evangelischen Kirche der Union vom 6.5.195 5 6 8 hat ihre Wurzeln abgesehen von der „Ordnung des kirchlichen Lebens" der altpreußischen Union vom 12.3.1930 6 9 im „Kirchbüchlein", also in der „Ordnung des kirchlichen Lebens für Gemeinden der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union" 70 ; im Januar 1941 wurde es von O. Dibelius und O. Hammelsbeck herausgegeben. Es hat trotz der beabsichtigten Neubearbeitung 7 1 bis jetzt noch keinen Nachfolger gefunden. Die 8. Bekenntnissynode der altpreußischen Union in Berlin-Steglitz (20.—22.5.1939) hat die Notwendigkeit einer neuen Lebensordnung hervorgehoben: „Eine geistliche Lebensordnung ist unentbehrliche Hil Vgl. S. 26ff. 70 Kirchbüchlein. Eine Ordnung des kirchlichen Lebens für Gemeinden der Evang. Kirche der Altpreußischen Union, hrsg. O. Dibelius, O. Hammelsbeck, Gütersloh 1941. 71 Vgl. Präses Kreyßig auf der 3. Tagung der ordentlichen Synode der EKU vom 1.—6.1955, in: Verhandlungen der ordentlichen Synode der EKU vom 1.—6.5.55, Berlin 1956, 25 2f.
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fe für die rechte Ausübung jedes kirchlichen Dienstes" 7 2 . Die 9. Bekenntnissynode in Leipzig (12.—13.10.1940) beschloß dann die Neuerarbeitung einer Lebensordnung 7 3 , an der neben den Herausgebern noch die Herren Bannach, Baumann, Hesse und Ernst Wolf beteiligt waren 74 . Welches war die Situation und damit auch der „Sitz im Leben" für die Neuerarbeitung einer Lebensordnung durch die Bekennende Kirche in der altpreußischen Kirche? 7 5 Die „Evangelische Kirche der altpreußischen Union", wie sie nach dem Wegfall des landesherrlichen Kirchenregiments genannt wurde, war bei weitem die größte evangelische Kircheneinheit unter den 28 Landeskirchen nach 1918; sie zählte 19 Millionen Mitglieder, gefolgt von der Sächsischen Kirche mit 4 Millionen Mitgliedern und Hannover mit 2 J / 2 Millionen 76 . Durch den preußischen König Friedrich Wilhelm III (1797—1840) war sie zunächst als Konsensus-Union (1817—1834) und dann als „föderative Verwaltungs-Union" geschaffen worden mit dem Namen „Evangelische Kirche der älteren preußischen Provinzen". Die einzelnen Kirchenprovinzen genossen in ihr gewisse kirchliche Eigenständigkeiten. Das blieb auch nach der am 29. September 1922 angenommenen und am 1.10.1924 in Kraft getretenen Verfassung: die altpreußischen Kirchenprovinzen Brandenburg, Pommern, Ostpreußen, Grenzmark, Schlesien, Sachsen, Rheinland und Westfalen bildeten eine Verwaltungsunion, wobei vor allem die rheinische und westfälische Kirchenprovinz eine Sonderstellung bewahrte, die in dem presbyterial-synodalen Aufbau der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung vom 5.3.1835 begründet ist. Für eine Gleichschaltung der evangelischen Kirche im deutschkirchlichen und nationalsozialistischen Sinn bot diese große Kircheneinheit gute Voraussetzungen. Am 11.5.1931 war der „Vertrag der Evangelischen Landeskirche mit dem Freistaat Preußen" unterzeichnet worden; am 29.6.1931 trat er in Kraft. Die Nationalsozialisten hoben diesen Vertrag nach der Machtergreifung nicht auf; den berühmten Artikel 7, nach dem zum Vorsitzenden einer Kirchenbehörde oder zum Inhaber eines 7 2 Um Verkündigung und Ordnung der Kirche. Die Bekenntnissynoden der Evang. Kirche der Altpreußischen Union, hrsg. W. Niesei, Bielefeld 1949, 80, ebd. 3. Beschluß III. 7 3 Ebd., 83, 3. Beschluß. 7 4 A. Stein, Die Denkschrift des altpreußischen Bruderrates „ V o n rechter Kirchenordnung", in: Zur Geschichte des Kirchenkampfes II, hrsg. H. Brunotte, Göttingen 1971, 165, Anm. 8. 7 5 Vgl. K. Meier, Der evangelische Kirchenkampf I, Göttingen 1976, 2 6 1 f f . ; II Göttingen 1976, 155ff. 7 6 Vgl. K. Scholder, Die Kirche und das Dritte Reich Bd. 1, F r a n k f . / M . - B e r l i n Wien, 1977, 4 0 f .
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kirchlichen Amtes, mit dem auch der Vorsitz oder die Anwartschaft auf den Vorsitz einer Behörde verbunden ist, niemand ernannt werden kann, von dem nicht die zuständige kirchliche Stelle durch Anfrage bei der preußischen Staatsregierung festgestellt hat, daß Bedenken politischer Art gegen ihn nicht bestehen, nutzten die Nationalsozialisten für ihre kirchenpolitischen Zwecke aus; sie zielten auf den staatlichen Einfluß im kirchlichen Leben und auf die Gleichschaltung der evangelischen Kirche. Für die nationalsozialistische Kirchenpolitik stellte sich diese Situation ein, als der Präsident des Evangelischen Oberkirchenrats in Berlin D. Dr. H. Kapler aus Gesundheitsgründen vorzeitig aus dem Amt im J u n i 1933 ausschied. In dieser Zeit, d.h. Ende Mai, war Pastor Friedrich v. Bodelschwingh — wenig im Sinn der nationalsozialistischen Reichskirchenpolitik — zum Reichsbischof designiert worden. Die kirchenpolitische Situation war undurchsichtig, die Gemüter in den verschiedenen Gruppen sehr erregt. „Der preußische Kultusminister Rust hat die infolge der gespannten kirchenpolitischen Situation kirchlicherseits nur kommissarisch vollzogene Besetzung der Präsidentenstelle des Evangelischen Oberkirchenrats mit dem rheinischen Generalsuperintendenten Dr. E. Stoltenhoff zum Anlaß genommen, eine Verletzung des Artikels 7 des preußischen Kirchenvertrages von 1931 zu konstatieren." 7 7 Kultusminister Rust setzte daraufhin Au. J ä g e r als Staatskommissar ein, womit der staatliche Einfluß in Kirchenfragen gesichert und auch der erste Schritt zur Gleichschaltung der evangelischen Kirche getan war. Der Präsident des Evangelischen Oberkirchenrats der APU war nun nach der Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche zugleich der Vorsitzende des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses. Staatskommissar Au. Jäger übertrug dem am 26.4.1933 von A. Hitler als Vertrauensmann für Kirchenfragen berufenen Wehrkreispfarrer L . Müller am 8.6.1933 die Wahrnehmung der Befugnisse des Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrats, die Leitung des Kirchenbundes, die Befugnisse des Kirchentages und des Kirchenausschusses, nachdem vorher durch Beurlaubung oder durch eigenes Ausscheiden der Evangelische Oberkirchenrat und die anderen Leitungsgremien handlungsunfähig geworden waren 7 8 . Am 4.8.1933 wurde L. Müller dann zum Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrats gewählt; als solcher trug er auch die Amtsbezeichnung Landesbischof, zu dem er am 4.9.1933 ebenfalls gewählt wurde. Auf der Nationalsynode in Wittenberg am 23.9.1933 wurde dann die Personalunion von Landesbischof der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union und Reichsbischof besiegelt. Damit war der zweite Schritt auf dem Weg zur Gleichschaltung und Zentralisierung der Deutschen EvanK . Meier, Der evangelische Kirchenkampf I, Göttingen 1976, 268. » Ebd., 269.
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gelischen Kirche getan. Die Eingliederung der anderen Landeskirchen am am 8.5.1934 und die Einsetzung von Provinzialbischöfen, denen der Reichsbischof gegenüber weisungsberechtigt war, bildete den dritten Schritt zur Gleichschaltung 79 . Die Evangelische Kirche der altpreußischen Union war damit zerschlagen und eine gleichgeschaltete Reichskirche, die mit einigen Ausnahmen alle Landeskirchen umfaßte, gebildet. Der Widerstand meldete sich bald. Zu ihm sind einmal die sog. „intakten" Landeskirchen zu zählen, zum andern die Notbünde der Bekennenden Kirche in den Kirchenprovinzen, zu deren Beitritt Pastor M. Niemöller bereits am 2 1 . 9 . 1 9 3 3 aufrief. In Berlin-Brandenburg etwa traf sich am 7.3.1934 die erste Provinzialsynode der Bekennenden Kirche 8 0 . In den Provinzen Rheinland, Westfalen und Berlin-Brandenburg hatten sich somit schon die Provinzialsynoden der Bekennenden Kirche konstituiert, z.T. aufgrund einer expliziten Anerkennung des kirchlichen Notrechts, als ein Tag vor der Reichsbekenntnissynode in Barmen am 29.5.1934 ebenfalls in Barmen die erste Bekenntnissynode der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union zusammentrat 81 . Dem altpreußischen Bruderrat gehörten damals Präses D. Koch (Bad Oeynhausen), Pfarrer Lie. J . Beckmann (Düsseldorf), Pastor K. Immer (WuppertalBarmen), Pfarrer J . Jacobi (Berlin), Kaufmann W. Link (Düsseldorf) und Pfarrer M. Niemöller (Dahlem) an. Bald traten auch Pfarrer Fr. Müller (Dahlem), Liz. W. Niesei und Pfarrer K. Walter (Danzig-Langfuhr) bei; für W. Link kam kurze Zeit später R . v. Thadden-Trieglaff hinzu. Diese erste Bekenntnissynode der APU erhebt angesichts der staatlichen Einflußnahmen und der kirchlichen Gleichschaltung den Anspruch, das kirchliche Notrecht ausüben zu müssen, ,,daß sie allein die rechtmäßige Evangelische Kirche der altpreußischen Union ist, weil nur sie die bekenntnismäßige Grundlage und eine daran zu bindende verfassungsmäßige Ordnung der Kirche festhält" 8 2 . Diese Bekenntnissynode übernimmt somit anstelle der Generalsynode deren Rechte wie auch die Vertretung 7 9 Besonders in den presbyterial-synodal strukturierten Kirchenprovinzen Rheinland und Westfalen erregte dieser Schritt heftigsten Widerstand. Vgl. J . Beckmann, Rheinische Bekenntnissynoden im Kirchenkampf, Nenkirchen-Vluyn 1975, 144ff.; 272ff.; 297ff.; 377f.; 41 Iff. und K. Meier, Der evangelische Kirchenkampf I, Göttingen 1976, 323f. sowie W. Niemöller, Bekennende Kirche in Westfalen, Bielefeld 1952, 78ff. und K. Meier, Der evangelische Kirchenkampf I, Göttingen 1976, 31 Iff. 8 0 Vgl. G. Harder, Die kirchenleitende Tätigkeit des Brandenburgischen Bruderrates, in: Zur Geschichte des Kirchenkampfes I, Göttingen 1965, 189ff. 81 Um Verkündigung und Ordnung der Kirche, hrsg. W. Niesei, Bielefeld 1949, 7ff. 8 2 Ebd., 7; vgl. auch: Chr. Luther, Das kirchliche Notrecht, Göttingen 1969, 35, Anm. 79.
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gegenüber den kirchlichen Behörden und allen Organen des staatlichen und öffentlichen Lebens 8 3 . Die Bekenntnissynode der altpreußischen Union überprüft dann auf jeder der zwölf Tagungen bis zur letzten in Breslau (16.—17.10.1943) in einem Wort zur kirchlichen Lage die Situation in der altpreußischen Union; immer neu stellt sie fest, daß der auf der ersten Bekenntnissynode der APU und dann auf der Reichsbekenntnissynode in Dahlem (19./20.10.1934) proklamierte Notstand der Deutschen Evangelischen Kirche nach wie vor besteht; die geistliche und rechtliche Kirchenleitung sei darum durch die Organe der Bekennenden Kirche weiter auszuüben 8 4 . Es bietet sich nun an, auf die verschiedenen Verordnungen einzugehen, die im Zusammenhang des kirchlichen Notrechts und unter Rückgriff auf die reformatorischen Kirchenordnungen für das gemeindliche und kirchliche Leben erlassen wurden von den altpreußischen Bekenntnissynoden 8 5 ; dies soll aber nur soweit geschehen, wie es zur Erhellung der Situation notwendig ist, in der das „Kirchbüchlein" abgefaßt wurde. Die Themen, die im „Kirchbüchlein" wiederkehren, sollen berücksichtigt werden. Die zweite altpreußische Bekenntnissynode in Berlin-Dahlem (4.-5.3.1935) 8 6 betont im Beschluß 6, 7 und 8 angesichts der harten „Glaubenskämpfe" die Verantwortung der Gemeinden und der Kirche für die christliche Erziehung der Jugend; in der Gemeindejugendarbeit, im Religionsunterricht und in der Schulgemeinde hat diese volksmissionarische Aufgabe zu geschehen 87 . Auf der vierten Bekenntnissynode der APU geben die Beschlüsse Weisungen für die christliche Erziehung: „Alle Eltern ermahnen wir, dessen eingedenk zu sein, daß sie für die christliche Erziehung ihrer Kinder einmal vor Gott werden Rechenschaft abzulegen haben. Sie müssen wissen, daß die christliche Erziehung ihrer Kinder durch die Schule und ihren Religionsunterricht nicht gewährleistet ist. Der Schulunterricht, sogar der Religionsunterricht, ist weithin von einem Geiste bestimmt, der das Evangelium von Jesus Christus ablehnt." 8 8 Darum ist gerade die christliche Erziehung in den Häusern besonders wichtig. Der 4. Beschluß macht einige konkrete Vorschläge: „Die Synode erklärt es für ein unbedingtes Erforder83
Um Verkündigung und Ordnung der Kirche, hrsg. W. Niesei, Bielefeld 1949, 9.
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Ebd., 13f.; 19f.; 29; 39; 4 2 ; 5 8 f f . ; 71; 77; 85; 95; 99.
85 Vgl. hierzu: G. Harder, Rechtsbildungen in der Bekennenden Kirche, in: Kirche und Staat im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. W. Egger, Neustadt an der Aisch, 1968, 21 Iff. 86 87 88
Um Verkündigung und Ordnunger der Kirche, hrsg. W. Niesei, Bielefeld 1949, 16f. Vgl. ebd., 17 Beschluß 11. Ebd., 25.
6 Plathow, Lehre
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nis, die kirchliche Unterweisung der Getauften durch das gesamte Kindes- und Jugendalter hindurch planmäßig auszubauen. Dazu gehört: a) die Einführung der häuslichen Andacht und Unterweisung, b) die Erhaltung und Mehrung evangelischer Kindergärten und -horte, c) die Erfassung aller getauften Kinder vom Schulunterricht an bis zum Konfirmandenunterricht im Kindergottesdienst, d) die Einführung des zweiten Konfirmandenjahres, e) eine geregelte kirchliche Unterweisung der Konfirmierten bis zum 18. Lebensjahr." 8 9 Außerdem wurden auf dieser Synode in Beschluß 2, 5, 8, 11, 12 verschiedene Entscheidungen über die kirchliche Ausbildung der Pastoren gefällt. Die wichtige Tagung der altpreußischen Bekenntnissynode in Halle (10.—13.5.1937) über die Frage des christlichen Bekenntnisses in einer antichristlichen Umgebung hob im 1. Beschluß BII 4 die Bedeutung des Katechismusunterrichts hervor 9 0 ; im 3. Beschluß ruft sie zur Fürbitte der Gemeinden auf für die unter Verfolgung und besonderen Schwierigkeiten leidenden Brüder und Schwestern. Auf der Tagung der Bekenntnissynode in Lippstadt (21.—27.8.1937) erfährt die volksmissionarische Arbeit und das christliche Gesamtkatechumenat eine Ausweitung in der Weise, daß nun an die kirchliche Männerarbeit verstärkt erinnert wird 9 1 . Die folgenden Bekenntnissynoden in Berlin-Nikolassee (11.—13.6.1938), in Berlin-Steglitz (31.7.1938) und in Berlin-Nikolassee (28.-31.1.1939) gehen vor allem auf die Notlage der Kirche durch die staatliche Zerstörung kirchlicher Ordnung und durch den Einbruch deutschchristlicher Irrlehre in die Kirche Jesu Christi ein; die Folge ist auch eine Verfälschung der theologischen Ausbildung und der Anstellungsbefugnisse der Pastoren. In Berlin-Steglitz heißt es im 2. Beschluß BV: „Wir überlassen unsere Kirche nicht einem fremden Glauben. Darum wollen wir dafür kämpfen, daß sie in ihrem gesamten Aufbau Kirche Jesu Christi werde." 9 2 Weiter sagt der Beschluß 2C dann: „Wir können uns aber nicht auf die Abwehr der kirchenzerstörenden Mächte beschränken, sondern sind gerufen, mit allem Ernst die Bekennende Gemeinde durch Wort und Sakrament zu sammeln und alle, die Christen sein wollen, in sie hineinzurufen." Und der 3. Beschluß kann in Weiterführung bekennen: „Zu den Leitsätzen der Bekennenden Kirche gehören die Worte: ,Die Glieder der Be8» »ο 91 92
82
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
27. 35. 57. 79.
kennenden Gemeinde wollen beten und arbeiten für eine Erneuerung der Kirche aus dem Wort und Geist Gottes.' Wir danken Gott, daß er uns mitten in der Zerstörung der Kirche die Erfüllung dieses Gebotes schenkt." Diese Erneuerung kann also nur durch Gottes Wort geschehen; das lebendige Wort schafft die Gemeinde des allgemeinen Priestertums. Darum liegt in der Erfüllung des Missionsbefehls der „Grund, Maßstab und Ziel" allen gemeindlichen Lebens. Missionarische Gemeinde gibt es aber nur als die „unter dem Wort versammelte und im Gebet gesammelte Gemeinde". Die Beschäftigung mit der Bibel, das Gebet und die Fürbitte ist mithin ernster zu nehmen. „Eine geistliche Lebensordnung ist unentbehrliche Hilfe für die rechte Ausübung jedes kirchlichen Dienstes." Und dieser Dienst beginnt bei den Eltern und Paten und in der christlichen Erziehung durch die Gemeinde. „Die Bekenntnissynode macht es den Provinzialbruderräten zur Pflicht, dieser Arbeit ihre volle Aufmerksamkeit zu widmen und sie durch Pfarrer- und Laienkonvente, Rüstzeiten, Kurse und Visitationen schnell und gründlich zu f ö r d e r n . " 9 3 Auf der neunten altpreußischen Bekenntnissynode in Leipzig (12.—13. 10.1940) wurde die Erneuerung, Auferbauung und Stärkung der Gemeinden und Kirchen angesichts der Bedrängnisse, Anfechtungen und Zerstörungen des christlichen Glaubens und der Kirche durch die gegenchristliche Ideologie und die staatliche Manipulation thematisiert. Im 1. Beschluß, dem „Wort an die Gemeinden", gibt die Synode eine Situationsanalyse: „Die christliche ,Volkskirche' zerfällt. Die Bestimmtheit des öffentlichen Lebens durch das Christentum hört auf. Die Übereinstimmung von Kirchenmitgliedschaft und Volkszugehörigkeit weicht einer Scheidung von Christen und Nichtchristen. Dabei ist das öffentlich organisierte Kirchenwesen der evangelischen Kirche nicht mehr Kirche, denn es steht nicht mehr ausschließlich im Dienst der reinen Verkündigung des Evangeliums." Als Beispiele werden dann genannt die dem deutschnationalen Zeitgeist angepaßten Gottesfeier-Ordnungen mit entsprechenden Gesangbüchern und einer neuen Bibel, das „Volkstestament", das Buch „Botschaft G o t t e s " , eine von Semitismen gereinigte Ausgabe der drei ersten Evangelien; „die Botschaft Gottes lautet hier nicht mehr: Glaubet an J e s u s Christus, Gottes eingeborenen Sohn, unsern Herrn, sondern: Lernet mit J e s u s glauben an den Vater und strebt mit ihm nach seinem ewigen R e i c h " 9 4 . Sodann wird die Frage gestellt: „Was kann die gläubige Gemeinde in dieser Lage anderes tun, als sich inmitten des Zerfalls der Volkskirche und des Abfalls vom christlichen Glauben um Wort und Sakrament versammeln, aus der Angefochtenheit *» Ebd., 80. Ebd., 81.
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und Bedrängnis heraus beten um den Heiligen Geist, um eine Erneuerung der Kirche, um das Ende der Nöte und die Ankunft Jesu Christi?" 9 5 Die christliche Kirche erfährt ja diese Bedrängnisse und Nöte als „Gericht" Gottes; „aber sie weiß, daß auch dieses Gericht ihr nur zum Heil dienen muß. Es wirkt reinigend und scheidet Gold und Schlacke" 96 . Darum allein braucht die christliche Kirche nichts zu fürchten trotz aller Not und Bedrängnis; in aller Aussichtslosigkeit ihres Weges ist sie nie am Ende, denn der Herr führt sie auf rechter Straße um seines Namens willen. Ihr Weg ist die Nachfolge auf dem Kreuzesweg ihres Herrn. „Wie Jesus die Mitte der Weltgeschichte ist, so ist seine Erscheinung in Herrlichkeit ihr Ziel und Ende, und alles Geschehen ist dadurch ausgerichtet, daß Jesus seinen Sieg offenbar macht." 9 7 Der Ruf der Stunde muß dahin gehen, bekennende Gemeinden zu sammeln: „1. Bekennende Gemeinden sind nur da, wo bekennende Christen sind, die sich des Evangeliums nicht schämen, sondern seine Kraft vor den Menschen bezeugen." „2. Bekennende Christen können nur sein, wo bekennende Gemeinde ist, d.h. wenn sie Glieder ihrer Gemeinde sind und sich zu den Versammlungen der Gemeinde halten. Die christliche Kirche lebt vom Gottesdienst." „3. Das Leben als lebendiges Glied der Gemeinde fordert aber von uns auch die Versammlung der Hausgemeinde zum Gottesdienst der Familie in Hausandacht und Unterweisung der Kinder im Worte Gottes." 9 8 Der 2. Beschluß gibt dann einige weisende Richtlinien „Zur Auferbauung der Gemeinde": die Betonung der Abendmahlsfrömmigkeit, die intensive Beschäftigung mit der Heiligen Schrift, die Achtung des Ältestenamtes, die Zusammenarbeit der Vertrauensleute der einzelnen Arbeitszweige der Gemeinden. In diesen Kontext eingebunden entscheidet der 3. Beschluß über die „Lebensordnung": Die „Synode beschließt, die Vorlage einer .Lebensordnung' den Provinzialbruderräten zur schriftlichen Begutachtung zu überweisen. Dem Bruderrat wird aufgegeben, die provinzialen Gutachten zur endgültigen Gestaltung der „Lebensordnung" zu verwenden und je ein Mitglied des lutherischen und reformierten Konventes zur bekenntnismäßigen Prüfung vor Beschluß zu hören und in seinen Entscheidungen ernstlich zu werten" 9 9 . Der 4. Beschluß benennt dann noch die 95
96 97 98 99
84
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
8 lf. 82. 83. 83. 83.
Kommission für die Erarbeitung der „Lebensordnung". Der 5. Beschluß behandelt die Übernahme des Ilsenburger Auslandsseminars, geht aber auch kurz auf die Visitation und Ordination ein. Der 6. Beschluß erinnert — wie auch schon frühere Bekenntnissynoden — an die Bedeutung kirchlicher Jugendarbeit, während der 7. Beschluß die Verantwortung für die äußere Mission hervorhebt. Der 9. Beschluß befürwortet die Erarbeitung einer Ordnung brüderlicher Zucht und veranlaßt eine Stellungnahme zum Disziplinarrecht 100 ; am 13.12.1939 war eine Disziplinarordnung der Deutschen Evangelischen Kirche von der Kirchenkanzlei erlassen worden 1 0 1 . Die Ordnung brüderlicher Zucht wurde auf der 10. Bekenntnissynode in Hamburg-Hamm (8.—9.11.1941) verabschiedet 102 . Des weiteren faßte diese Synode Beschlüsse für die verschiedenen Dienste und Ämter in der Gemeinde: Lektoren, Liturgen, Leseprediger, Vikarinnen. Die 11. Bekenntnissynode erweiterte diese Bestimmungen durch die über das Ältestenamt und den Katechetendienst 1 0 3 . Anhand der Beschlüsse der Bekenntnissynoden der altpreußischen Union lassen sich die Fragestellungen der damaligen Zeit und die gemeindliche und kirchliche Situation treffend erheben, in die hinein dann das „Kirchbüchlein" geschrieben wurde. Angesichts der antichristlichen Strömungen, die als Irrlehre und pervertierte Kirchenordnung Eingang auch in die Kirche gefunden hatte, geht es um die Erneuerung des gemeindlichen Lebens vom lebendigen Wort Gottes her; dem soll das „Kirchbüchlein" dienen. Auf der letzten, der 12. Bekenntnissynode in Breslau (16.—17. 10.1943) wurden im Teil „Die Aufgabe unserer Kirche in ihrer gegenwärtigen Lage" 104 noch einmal fast wie in einem Summarium die verschiedenen Beschlüsse zum gemeindlichen und kirchlichen Leben zusammengefaßt. Verwiesen sei auf die Ausführungen C, die in grundsätzlicher Weise den Charakter dieser Beschlüsse und Ordnungen behandeln: „1. Die Erkenntnisse dieser Lage unserer Evangelischen Kirche der altpreußischen Union, die mit dem Gesagten nur umrissen und keineswegs ausgezeichnet ist, mag bedrücken. Die Kämpfe und Nöte der letzten 10 Jahre haben Schritt für Schritt diese Lage an den Tag gebracht. Sie rufen unsere Kirche in die Buße einer entschlossenen Rückkehr zu ihrem reformatorischen und biblischen Fundament. Die Erkenntnis und Inangriffnahme der damit gestellten Aufgaben kirchlicher Erneuerung ist der von Gott uns zugedachte Segen und darum eine freudige und ge100
Ebd., 84. Gesetzblatt der Deutschen Evangelischen Kirche 1939, 27ff. 102 Um Verkündigung und Ordnung der Kirche, hrsg. W. Niesei, Bielefeld 1949, 89 ff. 1( » Ebd., 98. Ebd., 1 0 I f f . 101
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wisse Sache. 2. Die Gemeinden diesen Weg der Buße und reformatorischen Neubesinnung zu führen, wird nur gelingen, wenn die Begriffe ,evangelisch' und protestantisch', ,katholisch' und .römisch' recht unterschieden und recht miteinander verbunden werden. Das allgemein übliche .protestantische Bewußtsein' ist mehr und mehr ein Freibrief geworden, zu glauben und zu tun, was man will, ist in diesem Verstände die Verleugnung des Evangeliums und der Zugehörigkeit zur Kirche. Andererseits werden kirchliche Ordnungen und christliche Lebensregeln als .römisch' mißverstanden und abgelehnt, die dem Evangelium gemäß und der Reformation selbstverständlich waren." 105 Den Weg zwischen libertinistischer Willkür und kasuistischer Gesetzlichkeit zu finden, dazu will die Lebensordnung als geistliche Ordnung helfen; die Ordnung des kirchlichen Lebens, die Ordnung brüderlicher Zucht und die Visitationsordnung stehen dabei in Beziehung und Abhängigkeit zueinander. Das „Kirchbüchlein" der altpreußischen Union vom Januar 1941 ist charakteristisch von einem geistlichen Rahmen umschlossen. Es beginnt mit einem Gebet um die Erneuerung der Kirche durch den Heiligen Geist: „Komm, Schöpfer Geist, und schenke deiner Kirche neues Leben! Du hast sie geschaffen, du willst sie erhalten. Du stellst sie unter das Kreuz, daß sie Gottes Herrlichkeit schaue. Wo du zerschlägst, da willst du auch heilen. Wo du erniedrigst, da willst du erhöhen. Und wen du arm machst, dem willst du deinen Reichtum schenken. Gib neuen Glauben und neue Liebe! Gib neue Gemeinschaft unter deinem Wort! Gib Einigkeit im Geist und heilige Zucht! Lehre deine Gemeinde heilsame Sitten! Laß nicht die Ordnung über dem Glauben sein, sondern laß die Ordnung den Glauben mehren und die Liebe! Aus der Tiefe ruft deine Gemeinde. Sei ihr gnädig nach deiner Verheißung! Amen." 106 Das „Kirchbüchlein" schließt nach dreizehn Abschnitten mit dem Lob der Gnade Gottes, die die Gemeinde erbaut und stärkt, wie sie im 4. Vers von „Nun lob' mein Seel den Herren" gepriesen wird: ms Ebd., 103. 106 Kirchbüchlein, Eine Ordnung des kirchlichen Lebens für Gemeinden der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union, hrsg. O. Dibelius, O. Hammelsbeck, Gütersloh 1941, 3.
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„Die Gottesgnad alleine steht fest und bleibt in Ewigkeit bei seiner lieben Gmeine, die steht in seiner Furcht bereit, die seinen Bund behalten. Er herrscht im Himmelreich. Ihr starken Engel, waltet seins Lobs und dient zugleich dem großen Herrn zu Ehren und treibt sein heiiges Wort. Mein Seel soll auch vermehren sein Lob an allem Ort." 107 Schon dieser Rahmen verweist auf den geistlichen Charakter des „Kirchbüchleins". Der I. Abschnitt „Von der Kirche" macht das noch deutlicher; er enthält einige grundsätzliche Aussagen zum theologischen Verständnis der Kirche und legt damit das Fundament für die weiteren Abschnitte dieser geistlichen Kirchenordnung. Am Anfang steht ähnlich wie bei einem Katechismus, jedoch ohne einen Katechismus ersetzen zu wollen, eine zusammenfassende These, die dann erklärt und ausgeführt wird. Mit einem Bibelwort als Gewißheitsbezeugung oder als Weisung endet dann jeder Abschnitt. Die These vom I. Abschnitt lautet: „Die Kirche Jesu Christi ist von ihrem Herrn und Meister selbst gestiftet. Sie ist die Gemeinschaft seiner Gläubigen. Sie ist, wie Paulus an die Epheser schreibt, der Leib, dessen Haupt Jesus Christus ist." 1 0 8 Im Blick auf die Anfechtungen und Angriffe durch falsche Lehre und unchristliche Ideologie spricht der Abschnitt dann zunächst von der Verheißung, die Jesus Christus selbst seiner Kirche gegeben hat, „daß sie bestritten und bekämpft sein werde, solange diese Erde steht. Er hat ihr aber auch verheißen, daß die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen sollen". In den folgenden Absätzen, die nur angedeutet werden können, wird die Bedeutung der Kirche für die Glaubenden beschrieben; zunächst werden die Heilsgaben genannt: „Die Kirche Jesu Christi hat uns getauft. Ihr danken wir unseren Glauben. Sie hat uns beten gelehrt. Sie hat uns Bibel und Gesangbuch gegeben. In ihr halten wir Gottesdienste und feiern das heilige Abendmahl. In ihr dürfen wir dazu helfen, daß Gottes Wille geschehe auf Erden wie im Himmel." 1 0 9 Diese Gaben werden aber nur in der Gemeinschaft der Kirche Jesu Christi zuteil; fern von der Kirche kann man kein rechter Christ sein; auch kann man nicht ohne weiteres in die Kirche eintreten oder sie verlassen; wie "»7 Ebd., 30. ">8 Ebd., 5. i» Ebd., 5. 87
sie das ganze Leben u m f a ß t und trägt, so gehören die Christen zu ihr in Zeit und Ewigkeit. In wieder mehr lehrhafter Ausgestaltung folgen nun die Überlegungen zur Kirche als Gemeinschaft der Heiligen: die Kirche J e s u Christi ist nicht die Gemeinschaft ohne Sünden, sie ist vielmehr die Gemeinschaft begnadeter Sünder, „die G o t t u m Christi willen heilig s p r i c h t " 1 1 0 . Darum gilt: „Weil aber die Kirche eine Gemeinschaft sündiger Menschen ist, darum ist in ihr vieles nicht so, wie es sein sollte. Das weiß der Christ. Er trägt die Schuld seiner Kirche mit und steht mit ihr täglich vor G o t t in ehrlicher B u ß e " 1 1 1 . Allerdings wird auch die Möglichkeit der Scheidung von der Sünde und dem Sünder, d.h. v o m Unglauben und Ungläubigen gesehen: „ N u r dort ist nicht mehr Kirche J e s u Christi, wo das Evangelium nicht mehr lauter und rein verkündigt wird. Wo das geschieht, wird der Christ nicht schweigen, sondern er wird ohne Menschenfurcht seine S t i m m e erheben und das reine Evanelium bezeugen, damit der Verfälschung gesteuert werde. Es ist die Zuversicht des Glaubens, daß das immer geschehen wird. Denn J e s u s Christus hat seiner Kirche verheißen, daß er bei ihr sein will alle Tage bis an der Welt E n d e . " 1 1 2 Immer wieder schuldhaft strauchelnd, aufgrund täglicher Buße aber neu gnadenhaft beschenkt, nimmt der Christ teil an der Wanderschaft der Kirche, an ihren schuldhaften Fehlern und an ihrer geistlichen Erneuerung; in und mit der Kirche geht der Christ d e m Tag entgegen, an d e m J e s u s Christus wiederkommen und sein Reich aufrichten wird, „ u m zu herrschen ohne A u f h ö r e n " 1 1 3 . Anknüpfend an die 2. Tagung der 4. Bekenntnissynode der altpreußischen Union in Halle ( 1 0 . - 1 3 . 5 . 1 9 3 7 ) 1 1 4 schließt der 1. Abschnitt dann mit d e m Hinweis auf den Bekenntnisstand der Gemeinden in der altpreußischen Union, die sich als Einzelkirche innerhalb der einen, heiligen, allgemeinen Kirche versteht. Der weitere A u f b a u des „Kirchbüchleins" nimmt dann die Grundgliederung der E K U - L e b e n s o r d n u n g vom 6 . 5 . 1 9 5 5 voraus. Ein knapper Inhaltsüberblick unter Berücksichtigung der Gestaltungsprinzipien dieser Ordnung soll gegeben werden. Das „Kirchbüchlein" beschreibt die Existenz des einzelnen Christen als Leben aus der Taufe im Blick auf das Sterben als Hingehen z u m Richterstuhl Gottes. „ D u r c h die T a u f e nimmt G o t t den Menschen auf in no Ebd., 6. i n Ebd., 6. 112 Ebd., 6. u s Ebd., 30. 114 Vgl.: Um Verkündigung und Ordnung der Kirche, hrsg. W. Niesei, Gütersloh 1949, 33ff.
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seinen Gnadenbund, in dem Erlösung ist von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels." 1 1 5 Die christliche Erziehung der Eltern, Paten und Gemeindeglieder, der Kindergottesdienst, Religions- und Konfirmandenunterricht, das Leben in der Jungen Gemeinde will die Jugendlichen immer tiefer die Wahrheit mit dem Kopf und dem Herzen erfassen lassen, den persönlichen Glauben stärken und in das Leben der Gemeinde einführen. Die Eltern bestimmen dann über den christlichen Lebensstil im Haus und in der Gemeinde und Kirche. Im Erfolg und im Leid von andern Christen begleitet und von Gott getragen, geht der Christ durch Sterben und Tod zu Gott, wobei die Gemeinde ihn Gottes Händen beim Bestattungsgottesdienst übergibt. Das „Kirchbüchlein" gibt weiter Richtlinien für das Gemeindeleben. Es hat das Zentrum im sonntäglichen Gottesdienst; mit der Liturgie, der Predigt, mit Gebet und Fürbitte wie mit dem Dankopfer ist er der Integrationsort der Gemeinde. Mindestens einmal im Monat soll er als Gesamtgottesdienst gefeiert werden. Die Beichte mit dem Sündenbekenntnis und der Absolution gehören zu ihm. Dem Gemeindegottesdienst ist auch das sonstige gottesdienstliche Leben zugeordnet: die Hausandachten, die Bibelarbeiten, die Glaubensgespräche in den Gemeindekreisen, die Einzelbeichte, ferner die missionarische und diakonische Arbeit für den nahen und fernen Nächsten, die Fürbitte für die jungen Christen, die Eheleute, die Kranken, Angefochtenen, Abtrünnigen und Sterbenden, die Arbeit im Beruf, in Gesellschaft und Staat. Besonders wird in dieser presbyteral strukturierten Kirchenordnung die Verantwortung der Gemeindeglieder für das geistliche Leben und die unverfälschte Lehre betont. Anders als in der Lebensordnung der schleswig-holsteinschen Bekenntnispastoren tritt das Amt in den Hintergrund. Im „Kirchbüchlein" wird wohl das Leben der örtlichen Partikulargemeinde in den Blick gefaßt; im Dienst ihrer Erneuerung und Erbauung angesichts der bedrängenden Situation der Kirche steht die Ordnung. Zugleich wird die Verbundenheit der Parochialgemeinde und Partikularkirche mit der „einen, heiligen, allgemeinen Kirche" mitgesehen 1 1 6 . Auch die Einzelgemeinden und ihre Glieder tragen darum die Verantwortung für die missionarische Tätigkeit, für die innere und äußere Mission, für die Arbeit des Gustaf-Adolf-Werks und der diakonischen Einrichtungen. Die Einzelgemeinde soll „in Wort und Tat eine bekennende Gemeinde sein" 1 1 7 innerhalb der weltweiten Christenheit. n s Kirchbüchlein, 8. 116 Ebd., 6. Ebd., 24.
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Schließlich geht das „Kirchbüchlein" entsprechend dem I. Abschnitt auf die Grenzen der Gemeinde und Kirche Jesu Christi ein. Die Gemeinschaft der Kirche hat ihren Grund im lebendigen, d.h. geistgewirkten Wort Gottes und in der Antwort des Bekenntnisses zu Jesus, dem Christus; sie ist darum verbindliche Gemeinschaft, in die man nicht einfach „eintreten und aus der man austreten kann, wie es einem gefällt. Sie umfaßt und trägt unser ganzes Leben" 1 1 8 . Es gibt damit Grenzen dieser bekennenden Gemeinschaft, die in Krisenzeiten, in denen ja die Lebensordnung abgefaßt wurde, besonders scharf gezogen sind. „Wer nicht zu einer christlichen Kirche gehört, kann nicht Pate sein" 1 1 9 ; „Kinder, die unregelmäßig zum Unterricht kommen oder deren Verhalten in der Gemeinde Ärgernis erregt, können nicht konfirmiert werden" 1 2 0 . „Zwischen einem Christen und einem andern, der nicht zur christlichen Kirche gehört, kann eine Ehe nicht kirchlich geschlossen werden." 1 2 1 Wenn ein Verstorbener nicht Glied der Kirche war, „soll eine kirchliche Bestattungsfeier nicht gehalten werden" 1 2 2 . Kirchenmitgliedschaft bedeutet nämlich einen Bekenntnisakt für das Evangelium von Jesus Christus, dem Kyrios; er ist der lebendige Grund für Lehre und Bekenntnis. „Wird im Gottesdienst der eigenen Gemeinde das Wort Gottes nicht lauter und rein verkündigt, so hält sich der Christ zum Gottesdienst einer benachbarten Gemeinde oder sammelt sich mit denen, die gleich ihm das lautere Evangelium suchen, zu besonderen Gottesdiensten." 1 2 3 Wo aber so „eine lebendige Gemeinde in Kirche und Häusern sich um Gottes Wort sammelt und im Glauben betet und arbeitet, da schreitet die Kirche Jesu Christi getrost durch gute und schwere Zeit hindurch. Da wird ihr auch die Kraft geschenkt, Verfälschungen des Evangeliums siegreich zu überwinden" 1 2 4 . Für den Charakter der Lebensordnung läßt sich aus dieser Beschreibung folgendes entnehmen: das „Kirchbüchlein" ist für die Gemeinden der durch staatlichen Eingriff und durch antichristliche Einflüsse zerstörten Evangelischen Kirche der altpreußischen Union geschrieben; sie will der Erneuerung und Auferbauung der Gemeinden durch den Heiligen Geist dienen. Zum einen will sie die Gemeindeglieder, die Gemeinden und die ganze Kirche zur Buße rufen angesichts der Sünden und der Schuld der Kirche 12S ; hierzu ist zu rechnen die Verfäll e Ebd., us Ebd., 120 Ebd., i« Ebd., 122 Ebd., 123 Ebd., 124 Ebd., 125 Ebd., 90
5. 8. 12. 15. 28. 19. 25. 6.
schung der christlichen Lehre und die Pervertierung kirchlicher Ordnung. Wenn aber dem Ruf zur Umkehr in dieser Ordnung nicht gefolgt wird, will sie, mit Rechtsqualität ausgestattet, zur Scheidung und Trennung anhalten um der christlichen Gemeinden und der Kirche Jesu Christ willen 1 2 6 . Das „Kirchbüchlein" ist damit Bußordnung. Diese Lebensordnung will ferner die Christen der bekennenden Gemeinden in einer Zeit kirchlichen Notstands aufrufen zur geistlichen Stärkung durch das Wort Gottes im Gebet: zu Hause in der Familie, in den Gemeindekreisen, im Gottesdienst. Auch der missionarische und diakonische Dienst an der Jugend an Angefochtenen und Fernstehenden findet dabei besondere Berücksichtigung. Das „Kirchbüchlein" ist somit eine parakletische Ordnung. Schließlich will diese Lebensordnung auch den Segen christlicher Sitten und Gewohnheiten beschreiben. Im „Kirchbüchlein" geht es nun aber weniger um die verchristlichten Volksbräuche und Lebensregeln wie im Entwurf einer schleswig-holsteinschen Lebensordnung; hier geht es um die im strengen Sinn aus dem Leben mit dem Wort Gottes gewachsenen Sitten eines christlichen Lebensstils: die Lebensordnung im Haus mit Gebets- und Andachtszeiten, der Kirchgang, die Feier der christlichen Feste 1 2 7 , die Gestaltung der Tauf-, Konfirmations-, Trau- und Beerdigungsfeiern als Gottesdienste, die mitgetragen sind von der Fürbitte der Gemeinde; dasselbe gilt für das Leben der Jungen Gemeinde 128 , für den Rhythmus im Besuch des Abendmahls, aber auch für die besonderen Abschnitte im persönlichen Leben 129 ; „Verlobte gehen, sofern ihnen das möglich ist, vor der Hochzeit zusammen zum Abendmahl. Ebenso Eltem und Kinder, bevor die Kinder das Elternhaus verlassen. Vor einem Gang in große Gefahr oder in große Aufgaben, bei wichtigen Entscheidungen, nach Errettung aus Not und Gefahr hat der Christ das Verlangen, das heilige Abendmahl zusammen mit den Seinen zu feiern. So erst recht, wenn ein Glied der Familie den Tod herannahen fühlt" 13°. Im geistlichen Gebrauch ist das „Kirchbüchlein" so auch Sittenordnung. Die Evangelische Kirche der altpreußischen Union setzt sich nun aus verschiedenen Kirchenprovinzen zusammen mit ihren besonderen örtlichen Verhältnissen und Regelungen. Eine Sonderstellung nahmen immer die rheinische und westfälische Provinz ein wegen ihrer presbyteral-synodalen Kirchenstruktur. Exemplarisch soll darum auf die Ver126
Ebd., Ebd., Ebd., 129 Ebd., >30 Ebd., 127
6. 9; 10. 14. 21 f. 22.
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hältnisse im Rheinland eingegangen werden. Dies soll anhand des von J . Beckmann herausgegebenen Sammelbandes über die rheinischen Bekenntnissynoden im Kirchenkampf geschehen 131 ; er vermittelt mit den Dokumenten einen authentischen Einblick in die Situation, in die Arbeit und das Leben dieser Kirchenprovinz während des Dritten Reiches. Überblickt man die rheinischen Bekenntnissynoden von der „freien reformierten Synode" (3.—4.1.1934) in Barmen-Gemarke bis zur 10. rheinischen Bekenntnissynode in Essen (5.—6.12.1942), so stellt man fest, daß vor allem die ersten Bekenntnissynoden sich mit den Fragen von Bekenntnis und Ordnung in der christlichen Kirche sehr grundsätzlich beschäftigten. Zu nennen ist K. Barths Vortrag: „Bekenntnisse in der Deutschen Evangelischen Kirche der Gegenwart" auf der „freien reformierten Synode" in Barmen (3.—4.1.1934) 1 3 2 , J . Beckmanns Vortrag: „Reformatorisches Bekenntnis heute" 133 und J . Gräbers Referat: „Die Ordnungen der evangelischen Kirche in Deutschland heute" 134 auf der „freien evangelischen Synode" des Rheinlands in Barmen (18.— 19.2.1934). Aber auch D. Humburgs Ansprache: „Wahrheit wider Irrlehre" auf dem rheinisch-westfälischen Gemeindetag „Unter dem Wort" in Dortmund (18.3.1934) 1 3 5 und J . Beckmanns Vortrag: „Die Abwehr der gegenwärtigen Irrlehren in der evangelischen Kirche" 1 3 6 auf der Tagung der westfälischen Bekenntnissynode und der „freien evangelischen Synode" im Rheinland am 29.4.1934 in Dortmund gehen auf das Thema Verkündigung und Ordnung in der Kirche ein. Besonders hervorzuheben ist dann wieder J . Beckmanns Vortrag: „Die Einheit der Kirche" vor der 5. rheinischen Bekenntnissynode in Barmen (29.6.—3.7.1936) 1 3 7 und die Entschließungen eben dieser Synode zur Kirchenordnung im Rheinland 1 3 8 wie auch die Denkschrift „Von der rechten Kirchenleitung in der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union und der evangelischen Kirche in der Rheinprovinz"; diese Denkschrift wurde auf der 6. Bekenntnissynode des Rheinlands in Wuppertal-Barmen am 11.11. 1937 verabschiedet 139 . 1 3 1 J . Beckmann, Rheinische Bekenntnissynoden im Kirchenkampf. Eine Dokumentation aus den Jahren 1933—1945, Neukirchen-Vluyn, 1965. Ebd., 34ff. 133 Ebd., 66ff. 134 Ebd., 84ff. 135 Ebd., 106ff. 136 Ebd., 132ff. 137 Ebd., 279ff. 138 Ebd., 297ff. 139 Ebd., 372ff.
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Auf der 6. Bekenntnissynode traten mit der „Ordnung des kirchlichen Besuchsamtes" 1 4 0 die Fragen des inneren Aufbaus, also die Fragen geistlicher Stärkung und Erneuerung der Gemeinden in den Vordergrund. So beschäftigt sich die 8. Bekenntnissynode des Rheinlandes in Düsseldorf (IS—17.7.1939) mit einer Handreichung zum inneren Aufbau der bekennenden Gemeinden; Weisungen für die Bibelkreisarbeit, für die christliche Unterweisung in den verschiedenen Altersstufen, für die christliche Haus- und Lebensordnung 141 wurden gegeben. Auch das Wort an die Gemeinden ist auf dieser Synode ganz vom Bemühen um geistliche Erneuerung des Gemeindelebens gekennzeichnet 142 . Die 9. Bekenntnissynode des Rheinlands in Barmen (14.7.1940) gibt dann ganz konkrete Handreichungen und Anweisungen zu „Sammlung und Aufbau der Gemeinde heute", d.h. in der Zeit kirchlichen Notstandes 143 . Diese Erklärung geht aus vom biblischen Text Neh. 4,11 — 15 und gibt dann Richtlinien zu fast allen Themen einer Ordnung des christlichen Gemeindelebens. Im gleichen Zusammenhang ist das Wort an die Gemeinden 144 zu nennen, das ganz von der Sorge um das rechte geistliche Leben in diesen Notzeiten bestimmt ist, und in diesem Kontext ist dann auch das „Kirchliche Provinzialgesetz für die Provinz Westfalen und die Rheinprovinz zur Ergänzung der Bestimmungen der Kirchenordnung über das kirchliche Leben vom 19.9.1932" zu sehen, das auf der 10. rheinischen Bekenntnissynode in Essen (5.—6.12.1942) verabschiedet wurde 1 4 s . In der Situation der Abwehr von Irrlehre und sachfremder Kirchenordnung, in der Situation der Entfremdung der Menschen von der Kirche und dem gemeindlichen Leben, in der Situation des status confessionis für oder gegen die Kirche als Leib Christi ist diese Lebensordnung als Ordnung kirchlicher Zucht gestaltet; die Versagung von Kasualhandlungen und damit die Frage kirchlicher Zucht wird rechtlich geregelt. Diese Lebensordnung der letzten rheinischen Bekenntnissynode ist dann nach dem Zweiten Weltkrieg in die Kirchenordnung der Evangelischen Kirche im Rheinland vom 2.5.1952 eingeflossen 146 . Diese Kirchenordnung regelt innerhalb des I. Hauptteils mit dem Titel: „Die Kirchengemeinde" im zweiten Abschnitt die Themen einer Lebensordnung der Kirchengemeinde, die auch hier ihre besondere Aus Ebd., 356ff. Ebd., 444ff. 1 4 2 Ebd., 452ff. ! « Ebd., 4 6 I f f . 1 4 4 Ebd., 465ff. · « Ebd., 485ff. 1 4 6 Evangelisches Kirchenrecht im Rheinland Bd. I: Die Kirchenordnung und andere Grundgesetze, Düsseldorf 1972, 7ff. 14
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richtung als Ordnung kirchlicher Zucht hat. Die ganze Kirchenordnung hat damit — ganz entsprechend wie die Kirchenordnungen der Reformationszeit 147 — den Charakter einer kirchlichen Lebensordnung, wobei nun die Richtlinien des Abschnittes über die Lebensordnungsfragen durch die Aufnahme in die Kirchenordnung rechtliche Qualität besitzen. Nach dieser exemplarischen Behandlung der besonderen Verhältnisse in einer Provinz der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union mögen noch einige grundsätzliche Feststellungen getroffen werden. Das „Kirchbüchlein" der Bekennenden Kirche der altpreußischen Union und die Lebensordnung der rheinischen Kirchenprovinz sind aus kirchlichen und gemeindlichen Erneuerungsbestrebungen in einer Zeit kirchlichen Notstands hervorgewachsen: bekenntniswidrige Lehre und sachfremde Kirchenordnung hatten die Kirche zerstört. Den Lebensordnungen geht es deshalb um die Erneuerung des geistlichen Lebens aus dem Wort Gottes durch den heiligen Geist: Lehre und Leben, Glaube und Handeln, Gebet und Verhalten sollten integrativ verbunden sein und bleiben. Sehr treffend drückt das der Beschluß der 8. altpreußischen Bekenntnissynode in Berlin-Steglitz (20.—22.5.1939) aus: „Zu den Leitsätzen der Bekennenden Kirche gehören die Worte: „Die Glieder der Bekennenden Gemeinde wollen beten und arbeiten für eine Erneuerung der Kirche aus dem Wort und Geist Gottes. Wir danken Gott, daß er uns mitten in der Zerstörung der Kirche die Erfüllung dieses Gebetes schenkt." 1 4 8 In diesem Sinn erweist sich das Anliegen der Lebensordnung wie folgt: sie ruft die Gemeinden zur Umkehr, kritisiert und verurteilt den Weg falscher Lehre, die den unchristlichen Lebenswandel zur Folge hat, sie gibt Anweisung und Richtschnur für das geistliche Leben und den missionarischen und diakonischen Dienst, sie will Regeln aufstellen, damit in der Gemeinde alles ordentlich zugeht. Von dem ureigenen Ansatz der Einheit von Lehre und Leben sind diese Ordnungen auch immer Kirchenzuchtordnungen. In der Zeit harter Auseinandersetzungen zwischen Glaube und Unglaube im Kirchenkampf wurde das neu erkannt. Hierbei wird nachdrücklich betont, daß die ganze Gemeinde verantwortlich ist für die bekenntnisgemäße Lehre und das christliche Leben in Gemeinde und Kirche; unter gesamtkirchlichem Ansatz trägt die Kirchenleitung diese Verantwortung. Als die Kirchenkanzlei der Deutschen Evangelischen Kirche am 13.4.1939 eine neue Disziplinarordnung erließ 149 , stand sie auch mit unter dem 147 Vgl. s . 173ff. 148
Um Verkündigung und Ordnung der Kirche, hrsg. W. Niesei, Gütersloh 1 9 4 9 , 80.
149
Gesetzblatt der Deutschen Evangelischen Kirche 1 9 3 9 , 27ff.
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Einfluß des altpreußischen Irrlehregesetzes von 1910 1 S 0 ; Lehrbeanstandung und Disziplinarmaßnahmen waren hiernach voneinander getrennt, wie es im § 1 heißt: „Wegen Irrlehre eines Geistlichen findet fortan ein disziplinares Einschreiten nicht statt." Das Disziplinargesetz wurde aufgrund des staatlichen Eingriffs in kirchliche Angelegenheiten erlassen, wie der Vorspann erkennen läßt. Darum wurde vom altpreußischen Bruderrat entsprechend dem neunten Beschluß der Bekenntnissynode in Leipzig (12.—13.10.1940) eine neue „Ordnung brüderlicher Z u c h t " erarbeitet 1 5 1 ; sie wurde auf der altpreußischen Bekenntnissynode in Hamburg-Hamm (8.—9.11.1941) verabschiedet 152 . Die Bekennende Kirche hat hier wieder eine Ordnung geschaffen, die von der Einheit von christlicher Lehre und christlichem Leben ausgeht; das hat nun zur Folge: „Die Übung brüderlicher Zucht in der Gemeinde ist grundsätzlich anderer Art als die Ausübung der Disziplinargewalt durch staatliche Macht" 153 , sie hat ihren Grund im Zeugnis der Heiligen Schrift. „Nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift darf es in der christlichen Gemeinde nicht fehlen an einer rechten Zucht im Geist ihres Herrn und Meisters Jesus Christus. Jedes Glied der christlichen Gemeinde, insbesondere aber ein jeder, der in der Gemeinde ein Amt hat, ist vor Gott verpflichtet, sich selbst in Zucht zu nehmen und sein Leben nach den Geboten Gottes zu heiligen." 1 5 4 Zucht aber bedeutet: mahnen; strafen; helfen, den Weg des Gehorsams und der Liebe zu finden; Ärgernis abwehren; helfen, daß die Predigt des Evangeliums nicht unglaubwürdig werde durch die, die zum Dienst berufen sind; üble Nachrede steuern; Mißverständnisse ausräumen, damit Friede in der Gemeinde sei. Diese Zucht ist eine „brüderliche Zucht", d.h. eine „Zucht der Liebe"; sie kann nicht anders geübt werden als unter Gottes Wort und im Gebet, „daß Gottes heiliger Geist die Wahrheit erkennen lasse, daß er die Gewissen schärfe und daß die Liebe den Sieg erhalte" 1 5 5 . Der Maßstab der brüderlichen Zucht ist allein die heilige Schrift und das antwortende Bekenntnis der Kirche. Ein Urteil nach diesem Maßstab muß so gefällt werden, wie es der geistlichen Erkenntnis derer entspricht, die von der Kirche zum Urteilen berufen sind; zugleich steht aber auch der, der zur brüderlichen Zucht berufen ist, „immer vor der Frage, ob vielleicht der, über den er urteilen soll, in der Schrift sitze und er selbst samt den kirchlichen Oberen daneben" 1 5 6 . Die 150
Verhandlungen der 6. ordentlichen Generalsynode der evangelischen Landeskirche Preußens, Berlin 1910, 235ff. 151 Um Verkündigung und Ordnung der Kirche, hrsg. W. Niesei, Gütersloh 1949, 84. 152 153 154
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
89ff. 90. 89. 89. 89.
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Ordnung erwähnt dann folgende Tatbestände, in denen die brüderliche Zucht bei ordinierten Dienern des Predigtamtes einzutreten hat: Verkündigung falscher Lehre; Anstoß am Lebenswandel in der Gemeinde; Gehorsamsverweigerung gegenüber der Kirchenleitung. Lehre und Leben wird also wieder zusammen gesehen, wobei der Verantwortung für die rechte Lehre die eindeutige Priorität gehört. Bei den nichtordinierten Mitgliedern der Bruderräte und der Synoden tritt der Fall brüderlicher Zucht ein, wenn sie durch ihren Lebenswandel in der Gemeinde Anstoß erregen, wenn sie sich nicht zum Wort Gottes und zu den Sakramenten halten, wenn sie den ihnen übertragenen Dienst gröblich vernachlässigen, wenn sie dem Eindringen falscher Lehre in der Gemeinde Vorschub leisten. Auch hier ist die Einheit von christlicher Lehre und rechtem Leben die bestimmende Intention. Auf die einzelnen Bestimmungen über die Durchführung des Verfahrens soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Erwähnt sei nur, daß sowohl nach der brüderlichen Zuchtordnung vom 8.—9.11.1941 als auch nach der Lehrbeanstandungsordnung der EKU vom 27.6.1963 157 — die letztere ist von der ersteren mitbeeinflußt — dem eigentlichen Verfahren verschiedene brüderliche und seelsorgerliche Gespräche vorausgehen. Das Zuchtverfahren ist immer letzter Schritt; bei starrem Verharren im Irrtum und schuldbehaftetem Lebenswandel kann er eintreten und auch dann steht er im Dienst des Umkehr- und Bußrufs. Beim Letztschritt werden Urteile gefällt, und zwar in verschiedener Abstufung: 1. Freispruch; 2. Rat für die weitere Amtsführung; 3. Ermahnung; 4. öffentlicher Widerruf vor der Gemeinde; 5. Aberkennung des Amtes; 6. Aberkennung der Rechte, die die Ordination verliehen hat; 7. Feststellung, · daß der Betroffene sich von der Bekennenden Kirche geschieden hat 158 . Der Sorgepflicht für die bekenntnisgemäße Verkündigung des Evangeliums und für das rechte Leben der Gemeinde und ihrer Glieder wird auf Gemeindeebene durch die Lebensordnung nachgegangen. Die „Ordnung brüderlicher Zucht" gibt in Extremfällen die rechtlichen Möglichkeiten zur Sicherung dieser Sorgepflicht, wie sie eine im christlichen Bekenntnis gründende Kirchenordnung zu gewährleisten hat. Während des Kirchenkampfes hatten die Gemeinden in erhöhtem Maße die Sorgepflicht verantwortlich auszuüben. Auf der Ebene der Gesamtkirche hat in erster Linie die Kirchenleitung die Verantwortung für Lehre und Leben der Gemeinden zu tragen; sie tut dies durch die Visitation. Die 4. Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche hatte auf ihrer «57 AB1EKD 1963, 476ff.; vgl. dazu auch: A. Stein, Probleme evangelischer Lehrbeanstandung, Bonn 1967, 69ff. 158 Um Verkündigung und Ordnung der Kirche, hrsg. W. Niesei, Gütersloh 1949, 92.
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Tagung in Bad Oeynhausen (17.—22.2.1936) die Denkschrift „Von der Kirchenleitung" verabschiedet 1 5 9 ; diese Erklärung stellte fest, daß die Kirchenleitung darüber zu wachen hat, „daß die Verkündigung des Evangeliums schrift- und bekenntnisgemäß sei und nicht verkürzt oder verfälscht werde" (Absatz 1). Im vierten Absatz heißt es weiter: „Die theologische Erklärung der ersten Bekenntnissynode der DEK zu Barmen enthält das gegenüber den Irrlehren der Zeit gebotene Zeugnis. Wenn die Kirchenleitung Jesus Christus als die eine Wahrheit bezeugt, neben ihm keine andere Offenbarung als Quelle der Verkündigung gelten läßt und entsprechend handelt, vollzieht sie dadurch die heute gebotene Scheidung der Lehre von der Irrlehre und erwirbt damit bei Pfarrern und Gemeinden den Anspruch auf Gehorsam." Neben der Sorge für die Ausbildung der Pfarrer und für die Ordination liegt die kirchenleitende Tätigkeit vor allem in der Visitation. So beschloß auch der altpreußische Bruderrat im Zusammenhang mit der Denkschrift „Von der Kirchenleitung" am 30.4.1936 in Bad Oeynhausen eine Generalvisitation der bekenntniskirchlichen Gemeinden im Bereich der gesamten altpreußischen Landeskirche in der Zeit vom 17.5. bis 15.6.1936. „In den Provinzen Westfalen, Rheinland, Berlin-Brandenburg, Grenzmark, Ostpreußen, teilweise auch in Pommern wurden Beauftragte des Bruderrates der APU in großer Zahl tätig. In Pfarrkonventen, Zusammenkünften der Kirchenältesten und Bekenntnisgottesdiensten, in Presbyteriums- und Bruderratssitzungen wurde versucht, den Bekenntniskurs unter den jeweils spezifischen gemeindlichen Verhältnissen sicherzustellen, Bedenken auszuräumen und neue Unterweisung zu geben durch Rückbesinnung auf das Zeugnis der großen Bekenntnissynoden in Barmen und Dahlem." 1 6 0 Es handelte sich hierbei um eine außerordentliche Visitation. Daneben gab es die regelmäßigen Visitationen 1 6 1 , für die im Anschluß an die altpreußische Generalvisitation neue Visitationsordnungen geschaffen wurden. Für die bekennenden Gemeinden der ganzen altpreußischen Landeskirche wurde mit dem Datum vom 21.10.1937 eine Ordnung der Visitation geschaffen 1 6 2 . Im Vorspann dieser Visitationsbestimmungen heißt es: „Die Bekennende Kirche, die sich in der Stunde der Versuchung der Christenheit um das Wort Gottes gesammelt hat, weiß sich verpflichtet, für die rechte Verkündigung der Heiligen Schrift und für die Ordnung ihres gesamten Lebens Sorge 159 W. Niemöller, Die vierte Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche in Bad Oeynhausen, Göttingen 1960, 112ff. 160
K. Meier, Der evangelische Kirchenkampf II, Göttingen 1976, 169. G. Harder, Die kirchenleitende Tätigkeit des Brandenburgischen Bruderrates, in: Zur Geschichte des Kirchenkampfes I, Göttingen 1965, 21 l f . i « KKA 2 4 9 / 2 0 ; vgl. ebenfalls: „Ordnung für den Besuchsdienst", KKA 149/1. 161
7 Plathow, Lehre
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zu tragen. Der Dienst, den die Bekennende Kirche ihren Gemeinden dabei leisten kann, besteht in der Visitation, wie sie zu allen Zeiten der Kirche Christi befohlen ist." Die Visitation ist auf die Verkündigung und das gesamte Leben bezogen; ihre Aufgabe ist demnach im einzelnen: „1. die Sorge um die rechte Verkündigung und Sakramentsverwaltung der Amtsträger (Apg. 20,28ff.; l.Tim. 4,16), damit das Wort Gottes allein und ganz in der Gemeinde zur Geltung komme; 2. die Belehrung, Tröstung, Ermahnung und Bestrafung der Gemeinde (Apg. 11,23; 13,43; 14,22; l.Thess. 3,3; Gal. 3), damit das Wort Gottes in Glaube und Erkenntnis der Gemeinde befestigt werde; 3. die brüderliche Hilfeleistungen für die Gemeinde und die Bezeugung der Einheit des Leibes Christi (Eph. 4,15ff.; 2.Kor. 8ff.), damit das Wort Gottes sich in der Frucht der Liebe erweise." Die Bezugsfelder der Visitation sind damit folgende: „Predigt und Sakramentsverwaltung, Sammlung der Bekennenden Gemeinde, Jugendunterweisung, Kirchenzucht und Seelsorge, Ältestenamt und Liebestätigkeit, Verwaltung und Finanzwesen" (III 1). Die „Ordnung für den Besuchsdienst" wird unter Punkt 11 noch genauer in der Aufzählung: ,,a) das Gemeindeleben (Sonntagsheiligung, Besuch des Gottesdienstes, Teilnahme an den Sakramenten, kirchlicher Unterricht, welcher Katechismus liegt zugrunde, christliche Erziehung der Jugend, Arbeit an der heranwachsenden Jugend, Männerdienst, Frauendienst, Kindergarten, Diakonie, Mission, Sammlung der Bekennenden Gemeinde und Abwehr der Irrlehre, Zucht und Hausandacht, Sammlung und Verwaltung der Beiträge, Stand der konfessionell gemischten Ehen, herrschende Sünden und Laster, eingerissene Mißbräuche); b) Lehre und Wandel der Pfarrer und Ältesten, Anhören der Gemeindeglieder mit ihren Anliegen und Beschwerden; c) äußerer Bestand der Gemeinde (Umfang der Arbeit des Pfarrers, Wegeverhältnisse, Vermögensstand der Gemeinde und seine Verwaltung, Ordnung des Archivs und der kirchlichen Register)." 1 6 3 Das gesamte Leben der Gemeinde unterliegt also der Visitation, wie es andererseits in der Lebensordnung und im Katechismus vom Wort Gottes her geregelt ist und in der Zuchtordnung gegen Irrlehre und sachfremde Gesetze geschützt ist. Einzelne Kirchenprovinzen erließen — wie erwähnt — noch zusätzlich auf ihre besondere kirchliche Situation bezogene Visitationsordnungen, z.B. der Bruderrat der brandenburgischen Kirchenprovinz am 1. April »63 KKA 149/1. 98
19 3 8 1 6 4 und die 6. Bekenntnissynode des Rheinlandes in WuppertalBarmen (9.—11.11.19 3 7) 165 . Aufgrund der Beobachtungen und Bescheide der Generalvisitation in Altpreußen wurden diese Ordnungen für die regelmäßigen Visitationen erarbeitet. Sie stehen im Dienst der leitenden und erneuernden Aufgaben des Kirchenregiments. Was inhaltlich die Ganzheit und Einheit von Lehre und Leben, von Bekenntnis und Gemeindeordnung anbelangt, so entsprechen sie hierin den Lebensordnungen und den Zuchtordnungen.
3.3. Der Hintergrund landeskirchlichen
des Kirchenkampfes (die Auflösung Kirchenregiments 1918)
des
Um die Wurzeln der VELKD- und EKU-Lebens- und Visitationsordnung im Kirchenkampf schärfer hervortreten zu lassen, soll ihr geschichtlicher Hintergrund in der Revolution von 1918 und in der Auflösung des landesherrlichen Kirchenregiments noch beleuchtet werden. „Die Novemberrevolution markierte für den Protestantismus eine geschichtliche Wende, deren Bedeutung sich keineswegs in dem Übergang vom monarchistischen Obrigkeitsstaat zur parlamentarischen Demokratie erschöpfte, sondern die zugleich auch eine fast vierhundertjährige staatskirchliche Tradition abrupt beendete und damit die Landeskirchen unerwartet vor eine gänzlich veränderte Situation stellte, welche die Grundlagen ihres äußeren Bestandes wie ihrer inneren Ordnung in gleicher Weise berührte" 166 . Die Ereignisse überschlugen sich am Ende des Ersten Weltkrieges in Staat und Kirche. Nachdem am 9. November 1918 Kaiser Wilhelm II. abgedankt hatte und die Republik ausgerufen worden war, nachdem am 11. November 1918 im Wald von Compiegne der Waffenstillstand unterzeichnet wurde, war die politische und gesellschaftliche Umwälzung keineswegs abgeschlossen. Gerade bis zu den Wahlen für die Nationalversammlung am 19.1.1919 und bis zur Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung am 31.7.1919 wurden sehr entscheidende Maßnahmen und Entscheidungen auch in der Kirchenfrage getroffen, die durch die politische Unsicherheit möglich waren. Mit dem politischen Umbruch KKA Ε 8. 165 Vgl. J. Beckmann, Rheinische Bekenntnissynoden im Kirchenkampf, Neukirchen-Vluyn 1975, 3 5 6 f f . ; ebenfalls: W. Niemöller, Die Bekennende Kirche in Westfalen, Bielefeld 1952, 192ff. und den Brief von K. Immer vom 1 2 . 6 . 1 9 3 6 in: K. Immer, Die Briefe des Coetus reformierter Prediger 1933—37, hrsg. J. Beckmann, Neukirchen-Vluyn, 1976, 162ff. 166 J · Jacke, Kirche zwischen Monarchie und Republik. Der preußische Protestantismus nach dem Zusammenbruch von 1918, Hamburg 1976, 11.
99
von 1918 zerbrach für die evangelische Kirche zum einen die Personalunion von Summepiskopat und Staatsoberhaupt in der Gestalt des Monarchen; damit war der oberste Bischof abgeschafft, so daß die evangelische Kirche des tragenden Fundaments ihres Verfassungsbaus entbehrte 161 . Zum andern betrieb die Revolutionsregierung mit den Kultusministern Haenisch (SPD) und Hoffmann (USPD) eine konsequente Trennungspolitik von Kirche und Staat, was vor allem auch mit der Einstellung aller staatlichen Zuschüsse für die Kirchen verbunden war. Gegen die zweite Herausforderung wehrte sich die evangelische Kirche durch die Mobilisierung der Gemeinden; diese hatte zum Ziel, den Besitzstand der Landeskirchen zu behaupten, durch volksmissionarische Tätigkeit die Kirchenmitglieder, gerade auch die Randgruppen, zu aktivieren und politischen Druck auf die zu wählenden Parlamentarier der Nationalversammlung auszuüben. Die verschiedenen kirchlichen Gruppen beteiligten sich an diesen Mobilisierungsbemühungen. Das galt für O. Dibelius, der erklärte: „Der Weg zur neuen Kirche muß über die alte führen der Rechtszusammenhang zwischen der alten und der neuen Kirche muß sorgfältig gewahrt bleiben" 1 6 8 . Das galt ebenso für die Volkskirchenbewegung um Th. Kaftan, oder die Gemeinschaftsbewegung um K. Heim 1 6 9 . In Verbindung mit der katholischen Kirche und dem politischen Katholizismus mußten durch den Druck evangelischer Kreise und der Landeskirchen die vorschnellen Erlasse der Kultusbehörden zurückgenommen werden, die darauf abzielten, daß alle finanziellen Unterstützungen des Staates an die Kirchen eingestellt werden sollten. Die Aufgaben der Kirche auf diakonisch-karitativem Sektor im Bildungsund Ausbildungsbereich und überhaupt auf volkspädagogischem Gebiet wurden damals von den entscheidenden politischen Gruppen und Parteien anerkannt. Die rechtliche Stellung der Kirche im Weimarer Staat fand durch die Nationalversammlung eine sehr günstige Lösung; sie schlug sich im Art. 135—149 der Weimarer Reichsverfassung nieder. Die Kirchen blieben — bei einer grundsätzlichen Trennung von Kirche und Staat — Körperschaften des öffentlichen Rechts mit den damit verbundenen finanziellen Unterstützungen durch den Staat; selbst W. Kahl äußerte sich sehr anerkennend zu diesen Ergebnissen 17°. Ebd., 166. i«8 O. Dibelius, Die Trennung von Kirche und Staat, Berlin 1919, 18f. 169 Vgl, M. Greschat (Hrsg.), Der deutsche Protestantismus im Revolutionsjahr 1 9 1 8 - 1 9 , Witten 1974, 177ff. no W. Kahl, Die deutsche Kirche im deutschen Staat, Berlin 1919, 1 Iff. nach: M. Greschat (Hrsg.), Der deutsche Protestantismus im Revolutionsjahr 1918—19, Witten 1974, 118 ff.
100
In seinem Buch „Kirche zwischen Monarchie und Republik" zeigt nun J . Jecke richtig, daß diese bevorzugte Stellung der evangelischen Kirche als Volkskirche in der Öffentlichkeit den faktischen Gegebenheiten kirchlichen und gemeindlichen Lebens nicht entsprach. Die Arbeiter und große Teile der Bildungsschicht waren aus der Kirche ausgewandert, die Teilnahme am gemeindlichen Leben ließ mehr und mehr nach, der Einfluß der Kirche auf das Familien- und Erziehungswesen sowie auf das kulturelle Leben trat in den Hintergrund. Das kirchliche Rollenverständnis „als ein bestimmender Faktor im sittlichen, sozialen, kulturellen und nationalen Leben" mußte „hoffnungslos unrealistisch erscheinen" 171 . In dieser Zeit innerer Unsicherheit paßten sich die Landeskirchen trotz der in der Weimarer Reichsverfassung, Art. 137 festgelegten rechtlichen Eigenständigkeit bei ihren eigenen Rechtsgebungen der herrschenden Strömungen des damaligen Staatsrechts an. „Die politischen Strömungen im staatlichen Leben fanden zunächst fast widerstandslos auch in der Kirche Eingang" 172 ; die Möglichkeit einer im Auftrag der Kirche begründeten kirchlichen Rechtsgebung wurde nicht ergriffen. Die Folge ist, daß diese landeskirchlichen Verfassungen durch einen Dualismus gekennzeichnet sind, der zwischen den Grundartikeln über den Bekenntnisstand und dem nach demokratischen Prinzipien aufgebauten Verfassungsstatuten besteht 173 . Die Ordnungen des kirchlichen Lebens „hatten die Aufgabe, in der Zeit politischer Veränderung, religiöser Unsicherheit und kirchlicher Entfremdung das gemeindliche Leben zu stärken und die kirchlichen Institutionen zu sichern und zu festigen. Selbstbehauptung, Wahrung des kirchlichen Bestands und Hemmung des Zerfalls christlicher Sitte und religiössittlichen Lebens war der Leitgedanke bei der Abfassung dieser Ordnungen. Eine restaurativ-pragmatische Tendenz bestimmte die Lebensordnungen, weniger ein theologischer Grundgedanke.
3.4.
Zusammenfassung
Die Wurzeln der VELKD- und EKU-Lebensordnung liegen — was Inhalt und Intention betrifft — zunächst in der Zeit des Kirchenkampfes und zwar mit direktem Bezug einmal im „Entwurf einer schleswig-holsteinschen Lebensordnung" von 1938/39 und zum andern im „KirchbüchJ · Jacke, Kirche zwischen Monarchie und Republik, Hamburg 1976, 329f. H. Liermann, Deutsches Evangelisches Kirchenrecht, Stuttgart 1933, 183. 173 Vgl. r . Slenczka, Die Grundlagen der evangelischen Kirche in Deutschland, KuD 18, 1972, 327f. 171
112
101
lein" von 1941. Da nun im Kirchenkampf sowohl im lutherischen wie auch im unierten Bereich die Themen christlichen Gemeindelebens und kirchlicher Visitation dem Inhalt und der Intention nach verbunden und aufeinander bezogen sind, haben auch die VELKD- und EKU-Bestimmungen zur Visitation indirekt ihre Wurzeln auch in der Kirchenkampfzeit; auch stehen ja die VELKD- und EKU-Lebensordnungen und -Visitationsbestimmungen in Korrespondenz miteinander. Der Anlaß für die Erarbeitung neuer Lebens- und Visitationsordnungen im Kirchenkampf waren die geistlichen Erneuerungsbemühungen der Bekennenden Kirche in der Situation kirchlichen Notstands; Irrlehren waren durch einen ideologischen Dammbruch in die Kirche eingeflossen, der Unglaube breitete sich aus; durch staatliche Eingriffe war der Kirche eine sachfremde Ordnung aufoktroyiert worden. Mit der apologetischen und missionarischen Kraft des Evangeliums versuchte die Bekennende Kirche, dem zu begegnen. Aufgrund der Zerstörung der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union durch staatlichen Eingriff trat dabei die kirchenzuchtliche Ausrichtung dieser Ordnungen stärker in den Vordergrund, während die schleswig-holsteinschen Ordnungen aufgrund der vermittelnden Position dieser Landeskirche, die dadurch eine gewisse Unabhängigkeit wahren konnte, die volksmissionarische Intention betonte. In ihrem Charakter stimmen diese Ordnungen insofern überein, als sie geistliche Ordnungen sind, die im Dienst des lebendigen Wortes Gottes stehen; als solche verbinden sie den dogmatischen, pastoralen und rechtlichen Aspekt in sich. Aufgrund der Verknüpfung von Lehre, Ordnung und Leben sind diese Ordnungen bei verschiedener Akzentsetzung Büß-, Heiligungs- und Sittenordnungen; sie rufen zur Umkehr, sie geben Richtlinien, wahren die christlichen Sitten und regeln schützend das friedliche Zusammenleben. Kirchliche Lebensordnungen, brüderliche Zuchtordnungen und leitende und erneuernde Visitationsbestimmungen ergänzen und durchdringen sich in diesen Ausprägungen, sowohl was den Inhalt als auch was die Intention betrifft. Die Bestimmungen der schleswig-holsteinschen Lebens- und Visitationsordnung heben dabei von ihrer Lehr- und Bekenntnistradition her stärker den Aspekt des Bußrufs hervor und ferner den Aspekt der Bewahrung christlicher Sitte und volkstümlicher Gewohnheiten. Die altpreußichen Lebensund Visitationsregeln betonen mehr den Aspekt der Heiligungsordnung und der Kirchenzucht; für die Ordnungen der rheinischen Kirchenprovinz gilt dies in besonderem Maße. Gerade auf dem Hintergrund der Vorkriegsordnungen, die nach der Auflösung des landesherrlichen Kirchenregiments 1918 abgefaßt worden waren, tritt diese geistliche Verankerung und theologische Begründung der Ordnung des Kirchenkampfes deutlich hervor. Der politische Umbruch 102
nach 1918 hatte neben der kirchenpolitischen Verunsicherung und der kirchlichen Entfremdung, die noch von antichristlichen Bewegungen genährt wurde, auch die Möglichkeit zu einem eigenständigen Neuaufbau der evangelischen Landeskirchen zur Folge. Diese Möglichkeit wurde allerdings nicht wahrgenommen; man paßte sich vielmehr an das herrschende Staatsrecht an. Den kirchlichen Entfremdungs- und Auflösungserscheinungen versuchte man damals durch neue Lebens- und Visitations· Ordnungen zu begegnen. Sie waren auf Besitzstandwahrung ausgerichtet; der rechtliche Aspekt dominierte, der theologische und seelsorgerliche trat demgegenüber ganz in den Hintergrund. Die pragmatische Tendenz dieser Ordnungen hatte nun die Trennung von Lehre und Leben der Kirche und einen Dualismus von Bekenntnis und Verordnungsbestimmungen zur Folge. Demgegenüber sind die Ordnungen des Kirchenkampfes ganzheitlich vom geistlichen Auftrag der Kirche J e s u Christi her konzipiert. Zugleich stimmen die Ordnungen der Vorkriegszeit mit denen des Kirchenkampfes darin überein, daß zwischen kirchlichen Lebensordnungen, brüderlichen Zuchtordnungen und kirchenleitenden Visitationsordnungen ein Korrespondenzverhältnis in Inhalt und Intention besteht.
103
Teil C
Systematische Überlegungen: Lehre und Ordnung im Leben der Kirche
4. Der dogmatische Aspekt Die folgenden systematisch-theologischen Überlegungen zum Thema „Lehre und Ordnung im Leben der Kirche" werden auf den dogmatischen, rechtstheologischen und pastoraltheologischen Aspekt eingehen; alle drei Gesichtspunkte sind in den Visitations- und Lebensordnungen verbunden, wie die analysierende und historische Betrachtung herausstellte. Alle drei Aspekte sind ebenfalls im Thema „Lehre und Ordnung im Leben der Kirche" enthalten; in ihrer Verknüpfung liegt das Besondere der systematischen Überlegungen. Die Aspekte werden im folgenden getrennt dargestellt. Zunächst erfolgt eine typisierende Beschreibung wichtiger Positionen zum jeweiligen Gesichtspunkt, die Vergleichsmöglichkeiten und Beurteilungskriterien abgeben sollen. Es schließt sich eine Strukturanalyse der theologischen Grundlinien der Lebens- und Visitationsordnungen unter dem entsprechenden Aspekt an; in Vergessenheit geratene theologische Aussagen und Erkenntnisse in diesen Ordnungen sollen in Erinnerung gerufen, weniger eine Einzelkritik an diesen Ordnungen vorgenommen werden. Anschließend wird eine systematisch-theologische Darbietung der einzelnen Teile gegeben; in ihrer Entfaltung steckt immanent die Kritik an gegenwärtigen gemeindlichen und kirchlichen Verhältnissen von den biblischen Zeugnissen, den reformatorischen Kirchenordnungen und dem Ertrag des Kirchenkampfes her.
4.1.
Typologie
Die typisierenden Überlegungen wollen zunächst auf die lutherischen Positionen E. Schlinks, G. Ebelings und W. Maurers eingehen und dann auf die reformiert-unierten von J . Bohatec, K. Barth und G. Wendt. 105
4.1.1. Lutherische
Positionen
4.1.1.1. Ε. Schlinks Begründung der Ordnung in der
Schlüsselgewalt
In dem Aufsatz „Die Freiheit vom Gesetz und die Ordnung der Kirche" aus dem Jahr 1937 1 stellt E. Schlink fest: „Der Ausgangs- und Mittelpunkt für die Lehre von der Kirchenordnung ist der Befehl Jesu Christi an seine Jünger, das Evangelium zu predigen und die Sakramente darzureichen. Dieser Befehl Jesu bedeutet zugleich: Gott hat ,das Predigtamt eingesetzt' (CA V) und ,ministerium verbi habet mandatum Dei' (Apol. XIII, I I ) . " 2 Grund der Kirchenordnung ist damit das Amt in seinen Funktionen. E. Schlink stimmt mit W. O. Munter überein, der in seinen Schriften aus dem lutherischen Bekenntnis nachweist, daß im Amt und seinem Auftrag iure divino die Kirchenordnung begründet und verankert ist 3 . Bei diesem Vergleich ist sofort mitzusagen, daß E. Schlink viel behutsamer in dieser Frage vorgeht, indem er das Amt in die Gemeinde einordnet und das allgemeine Priestertum für die Kirchenordnungsfrage voraussetzt. Er grenzt sich so gegen eine neulutherische Verselbständigung des Amtes ab. Mit W. O. Münter lehnt er zugleich den Anknüpfungspunkt der Kirchenordnungsfrage beim allgemeinen Priestertum ab, wie es bei G. Holstein geschieht 4 . Der lebendige Grund und die Verankerung der kirchlichen Ordnungen liegen in den Funktionen des einen Amtes; dieses eine Amt ist von Jesus Christus für den Dienst an den Funktionen Verkündigung und Sakramentsverwaltung bestimmt. „Ebenso wie das Evangelium nicht losgelöst von Gottes Gesetz geoffenbart ist, so ist auch zugleich mit dem Geschenk des Predigtamtes göttliche Forderung gegeben." 5 Diese Forderung sieht E. Schlink in der Bindung des Predigtamtes an das Wort Gottes und an das Bekenntnis erfüllt; die Gebundenheit ist dabei göttliches Gesetz; „bezeichnet man die Forderung der Bekenntnisgebundenheit als Gesetz, dann ist also das eine unbedingt sichergestellt, daß diese Gleichsetzung Gottes im Wort geoffenbartes Gesetz meinen muß . . . , nicht aber die selbstgewählten Gesetze menschlicher Werkgerechtigkeit" 6 . Wird nun diese Gebundenheit an Gottes Wort und Bekenntnis als Gesetz bezeichnet, das zur Buße ruft 1 E. Schlink, Die Freiheit vom Gesetz und die Ordnung der Kirche, Jahrb. d. Theol. Schule Bethel 8, 1937, 47ff. 2 Ebd., 49. 3 W. O. Münter, Kirche und Amt II — Die Gestalt der Kirche ,nach göttlichem Recht', München 1941. 4 G. Holstein, Die Grundlage des evangelischen Kirchenrechts, Tübingen 1928, 93ff. 5 E. Schlink, Die Freiheit vom Gesetz und die Ordnung der Kirche, Jahrb. d. Theol. Schule Bethel 8, 1937, 53. 6 Ebd., 53.
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und Gerichtspredigt für die Nichtglaubenden bedeutet, „so ist gemäß der lutherischen Lehre von Gesetz und Evangelium folgerichtig fortzufahren: Jesus Christus ist des Gesetzes Ende" 7 . Das heißt: der Glaubende steht nicht mehr unter dem Zorn Gottes, er ist frei vom Gesetz: der geschenkte Glaube aber wirkt Werke des Glaubens, Früchte des heiligen Geistes. Es sind dies die Werke des Gehorsams gegenüber dem Gesetz Gottes, „Werke, durch die die Gebote Gottes erfüllt werden, und zwar dieselben Gebote, die vorher dem Menschen als unerfüllbar gegenüber standen" 8 . Das Gesetz bekommt für die Wiedergeborenen den Charakter freundlich väterlicher Weisung, die der Gerechtfertigte und Geheiligte durch den heiligen Geist in Liebe erfüllt. E. Schlink endet seinen Aufsatz mit folgender Bemerkung: „Die Voraussetzung der nachstehenden Ausführungen ist die hypothetisch übernommene, aber nicht dogmatisch näher begründete Behauptung einer Analogie zwischen Kirchenordnung und Gesetz Dieselben Fragen, die hier lediglich per analogiam beantwortet wurden, müßten nun auch direkt und auch im einzelnen aus den Aussagen der lutherischen Bekenntnisschriften über Kirche und Kirchenordnung erörtert und beantwortet werden." 9 An diese Aufgabe ist E. Schlink dann in der „Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften" herangegangen I 0 . Was unser Thema betrifft, so wird in diesem entscheidenden Werk begründet herausgearbeitet, daß die Funktionen des Amtes — dieses ist ja der Grundgedanke lutherischer Kirchenordnungen — in der Schlüsselgewalt konzentriert sind 1 1 ; in der Schlüsselgewalt realisiert sich das geistliche Regiment in der Kirche, das iure divino gegeben ist. „Was heißt in diesem Zusammenhang ius divinum und ius humanum? ,Das göttliche Recht' des geistlichen Regiments ist der Auftrag, durch den es von Gott eingesetzt ist, das heißt zugleich die ihm verliehene Vollmacht, die Schlüsselgewalt." 12 Diese Gewalt, dieses Recht, dieser Auftrag erweist sich in der Gesetzespredigt als richtendes Wort Gottes, das über den Unglauben der Sünder zürnt; indem das Gerichtswort zur Buße und Umkehr ruft, verweist es auch auf das Gnadenwort. Und so erweist die Schlüsselgewalt ihren eigentlichen Auftrag durch den Zuspruch der Gnade in der Absolution. Dieses Geschenk der Rechtfertigung ist von der Heiligung nicht zu trennen. Wie nun die Schlüsselgewalt auch das weisende Wort und das göttliche Gebot an den befreiten und erneuerten Sünder bedeutet, so ist das Leben in der Heiligung ein 7
Ebd., 53. Ebd., 55. « Ebd., 67. 10 E. Schlink, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, München 1948 3 . " Ebd., 328; 339f. 12 Ebd., 339f. 8
107
Leben im Gehorsam gegen Gottes gütige Weisungen und gegen sein erhaltendes Gebot in der Kraft des heiligen Geistes. In diesen drei Weisen wirkt das Predigtamt als Schlüsselamt 13 : als richtendes Gesetz, als gerichtetes Gesetz und damit als lösendes Evangelium, als gebietendes Wort Gottes wirkt die Schlüsselgewalt des Wortes Gottes Hier liegt auch der rechtliche Grund der kirchlichen Ordnungen, der Lebens- und Visitationsordnungen.
4.1.1.2. G. Ebelings kirchenzuchtliche
Begründung
Die Begründung der Kirchenordnungen in der Praxis der Kirchenzucht wird durch G. Ebeling repräsentiert; 1947 erschien sein Buch über „Kirchenzucht" 14, in dem er historisch nachwies, daß die Kirchenordnungsfrage mit der in der nachreformatorischen Zeit vernachlässigten, in den reformatorischen Anfängen jedoch wieder ins Leben gerufenen Kirchenzucht verbunden war. In der Reformation übte die Kirchenzucht „weder die Kirche als solche noch der einzelne als solcher, sondern allein das Wort des erhöhten Herrn durch die Gemeinde am einzelnen und durch den einzelnen an der Gemeinde" 1 S . „Die Vollmacht der Kirchenzucht ist keine andere als die Vollmacht der Verkündigung" 16; die Entstehung der Kirchenordnungen ist damit weitgehend identisch mit der Wiederbelebung der Kirchenzucht durch das gepredigte Wort Gottes. Damit ist dieser Typ eng verbunden mit dem ersten, der die kirchlichen Ordnungen in der Schlüsselgewalt verankert sieht.
4.1.1.3. W. Maurers parakletisches
Verständnis der
Lebensordnung
Mehr aspekthaft wird beim folgenden Typ einer dogmatischen Begründung der Kirchenordnungen die Rechtfertigungslehre hervorgehoben. Fr. Brunstädt etwa schreibt: „Die kirchliche Ordnung ist selbst Werk des Glaubens, der in der Liebe tätig ist" 1 7 ; es besteht eine Analogie 13
Auf die Begründung der kirchlichen Ordnungen in der Evangeliumsverkündigung und in der Sakramentsverwaltung legt W. O. Münter, Kirche und Amt II — Die Gestalt der Kirche ,nach göttlichem Recht', München 1941 und H. Schreiner, Vom Recht der Kirche, Gütersloh 1947 den Akzent. 14 G. Ebeling, Kirchenzucht, Tübingen 1947; zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch H. v. Campenhausen, Die Schlüsselgewalt in der Kirche, EvTh 4, 1937, 156ff. " Ebd., 15f. 'β Ebd., 55. 17 Fr. Brunstädt, Die Kirche und ihr Recht, Halle 1935, 6; ähnlich auch H. Schreiner, Vom Recht der Kirche, Gütersloh 1947.
108
zwischen den Werken des Glaubens und den kirchlichen Ordnungen. „Der Glaube ist kein Werk, und das Werk macht nicht gerecht, bewirkt nicht, was nur der Glaube empfängt. Aber darum folgen doch Werke aus dem Glauben und ist der Glaube nie ohne Werke, die aus ihm hervorgehen. So mannigfach sie sein mögen und so sehr als Werke bestimmt durch die konkrete Lage, sie haben ihren einheitlichen Ursprung und Bezug, aus dem sie gestaltet werden. Das gilt auch für das Verhältnis von Glaubenswahrheit und Rechtsordnung Ist Ordnung und Verfassung der Kirche zwar Menschenwerk, aber ein Werk, das aus Glaubensgehorsam bestimmt ist, dann legt die Kirche durch die Art, wie sie ihr Leben ordnet, Zeugnis von der Wahrheit ab." 1 8 Damit ist das bekennende Zeugnis ,,konstitutives" Ereignis der Kirche, aus dem die Ordnung als ,,konsekutives" Wirken hervorgeht 19 . Die Entsprechung zur Paraklese in der Rechtfertigungslehre ist deutlich. Auch W. Maurer vertritt in dem Aufsatz „Die rechtliche Problematik der Lebensordnungen in der Evangelisch-lutherischen Kirche Deutschland" 1 9 diese Richtung einer theologischen Grundlegung der Kirchenordnung. Von seiner lutherischen Grundposition her charakterisiert W. Maurer die kirchliche Lebensordnung als Gottesdient-, Lehr- und Zuchtordnung. Theologisch gesehen, handelt es sich um eine Liebesordnung, also eine Ordnung der Heiligung um der Liebe willen, die im Rechtfertigungsgeschehen ihren Grund hat. So schreibt er am Schluß des Aufsatzes: „Das evangelische Verständnis von Wort und Sakrament wird den evangelischen Charakter dieses Kirchenrechts sicherstellen." 20 In dem Buch „Pfarrerrecht und Bekenntnis" 21 geht W. Maurer näher auf die dogmatische Bestimmung der Rechtsqualität kirchlicher Ordnungen ein. Thematisch hält er hier fest: „Das göttliche Recht ist Gottes schöpferisches Mandatswort, das sich mit seinem Anspruch, seinem Auftrag und seiner Vollmacht durchsetzen will innerhalb des natürlichen Gemeinschaftslebens der Menschen und innerhalb der Kirche. Und in der Kirche ist es insofern Glauben weckendes Verheißungswort, also ganz von der lutherischen Rechtfertigungslehre aus zu verstehen." 22 Damit nimmt das lutherische Bekenntnis das göttliche Recht ganz hinein in die Theologie des Glaubens und der Rechtfertigung aus Gnade 23 . Denn im göttlichen Mandat als dem wirkenden Wort Gottes ist mit der 18
Ebd., 22. Ebd., 24. 20 W. Maurer, Die rechtliche Problematik der Lebensordnungen in der Evangelischlutherischen Kirche Deutschlands, ZevKR 3, 1 9 5 3 / 5 4 , 2 2 5 f f . 2 ' Ebd., 242. 22 W. Maurer, Pfarrerrecht und Bekenntnis, Berlin 1957, 84. Ebd., 98. 19
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Verheißung zugleich das göttliche Gebot enthalten, wie ja auch der Glaube die guten Werke des neuen Gehorsams in sich schließt 2 4 . Analog zur parakletischen Struktur von Rechtfertigung und Heiligung, von Glaube und Werken hat die Ordnung kirchlichen Lebens den Grund im Auftrag Gottes, das Evangelium zu verkündigen und im Liebesgebot, Werke des heiligen Geistes zu tun. Die Paraklese ist hier die Grundlegung gemeindlicher und kirchlicher Ordnung.
4.1.2. Reformiert-unierte
Positionen
Entsprechend zu den lutherischen Positionen soll eine Typisierung der Begründung von kirchlichen Ordnungen im reformiert-unierten Bereich vorgenommen werden; auf J . Bohatec, K. Barth und G. Wendt wird eingegangen.
4.1.2.1. / . Bohatecs pneumatokratisch-organologische Kirchenordnung J . Bohatec zeigt in seiner Studie „Calvins Lehre von Staat und Kirche mit besonderer Berücksichtigung des Organismusgedankens" 25 , daß das kirchliche Recht „als die Regel des organischen Wollens" 2 6 seine Quelle in Gott hat. Mit dieser Begründung des kirchlichen Rechts im göttlichen Recht fußt J . Bohatec auf J . Calvin; den Organismusgedanken hat er demgegenüber neu eingetragen. Die Kirche ist also ihrem Wesen nach geistlich ein „pneumatischer Organismus" 2 7 ; ihre Ordnung und ihr Recht sind das „Recht Christi, das sich auf den ganzen Kirchenkörper und jeden einzelnen erstreckt, und da Christus durch seinen Geist und sein Wort wirkt, als Wortrecht und Geistrecht bezeichnet werden kann. Weil es in Christus und seinem Wort verwurzelt ist, so sind alle von ihm geregelten kirchlichen Ordnungen pneumatisch . . . Das Ordnungsrecht der Kirche ist daher die Regel des organisch-pneumatischen Wollens in der Kirche" 2 8 . Die Ordnungen der Kirche sind — auch als menschliche Institutionen — geistliche Regelungen, indem sie konkrete Anwendungen der in der heiligen Schrift 24
Ebd., 128. J. Bohatec, Calvins Lehre von Staat und Kirche, Breslau 1937, Neudruck: Aalen 1961. Ebd., 569. « Ebd., 570. 28 Ebd., 57Of. 25
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gegebenen Gebote darstellen; das Wesen des kirchlichen Rechts ist geistlich. Die in der heiligen Schrift verankerten, vom heiligen Geist lebendig gestalteten Kirchenordnungen besitzen als solche Rechtsqualität. Mit dem Gebotscharakter des Wortes Gottes verbunden, haben sie entsprechend Calvins Bestimmung in der Institutio 11,7,12 29 den dogmatischen Charakter des tertius usus legis-, in der Einheit von Altem und Neuem Testament gestalten sich die biblischen Gebote und Richtlinien als konkrete göttliche Weisungen und als göttliches Gesetz 3 0 .
4.1.2.2. K. Barths christokratisch-liturgische
Ordnung
Die Darstellung von K. Barths Verständnis der Kirchenordnung im christokratisch-liturgischen Sinn findet sich im § 67,4 der Kirchlichen Dogmatik; dieser Paragraph ist auch als „Die Ordnung der Gemeinde" im Sonderdruck erschienen 3 1 . In dieser Schrift über das gemeindliche Leben geht es um das Sein und Tun der Gemeinde als der „vorläufigen Darstellung der in Jesus Christus geschehenen Heiligung des Menschen" 32 . Die Ordnung der Gemeinde wird dabei in das Heiligungshandeln Gottes an der sanctorum communio einbezogen. Das Ordnungsprinzip dieser Gemeinschaft oder — wie K. Barth sagt 3 3 — das „Grundrecht" der Gemeinde ist dadurch gekennzeich29 J . Calvin, Institutio christianae religionis, übersetzt und bearbeitet von O. Weber, Neukirchen 1955, 213. 30 W. Maurers Kritik an der reformierten Kirchenordnungsbegründung setzt ein bei der Trennung von Wort und Geist. ,,Daß Wort und Geist sich im Calvinismus nicht decken, wird an dieser Lehre vom göttlichen Recht noch einmal offenbar. Es wäre ungerecht, den Rückzug auf die Freiheit der göttlichen Wahl ohne das äußere Mittel des Wortes, bloß als eine Ausflucht anzusehen, mit der sich die reformierte Lehre vom göttlichen Recht dem Vorwurf einer statutarischen biblizistischen Gesetzlichkeit entziehen will. Gewiß tritt in jenem Rückzug der antirömische Protest gegen ein göttliches Kirchenrecht hervor, das sich selbst heilsmittlerische Bedeutung anmaßt. Zugleich aber k o m m t darin der antilutherische Protest zum Ausdruck; es soll bestritten werden, daß Gottes heilschaffender Geist sich an das äußerliche Wort gebunden habe. Daß dieses äußere Wort, weil heilsnotwendig, unbedingt durch das öffentliche Amt verkündigt werden müsse, ist der Inbegriff des göttlichen Rechtes nach dem lutherischen Bekenntnis. Das reformierte bestreitet mit seiner Differenzierung von Wort und Geist jene absolute Notwendigkeit. Es identifiziert dagegen das göttliche Recht mit den biblischen Weisungen und Institutionen", W. Maurer, Pfarrerrecht und Bekenntnis, Berlin 195 7, 176f. 31 K. Barth, Die Ordnung der Gemeinde, München 1955. 32 Ebd., 7. 33 Ebd., 11.
111
net, daß Jesus Christus als Haupt seines Leibes „das primär handelnde Subjekt" ist 3 4 , die Gemeinschaft der Heiligen das „sekundäre". In diesem „Grundrecht" ist die Ordnung der Gemeinde konstituiert. Die gemeindliche Ordnung hat den Charakter einer Dienstordnung; die Gemeinde Jesu Christi existiert, „indem sie Ihm dient" 3 5 , und ebenso leben die Glieder der Gemeinde, indem sie sich gegenseitig dienen, wie ja auch Christus als der Erniedrigte der Herr ist, als Knecht der König, als Dienender der Herrschende 3 6 . Die Ordnung der Gemeinde hat weiter den Charakter des liturgischen Rechts31, das seinen Ort im Gottesdienst hat. Vom gottesdienstlichen Geschehen her gestaltet sich das ganze Leben der christlichen Gemeinde; hier gründen die Lebensordnungen der Gemeinde auch in ihrer Vorbildlichkeit für das Recht der Bürgergemeinde. Im ganzen handelt es sich um ein „vom Evangelium her Evangelium verkündigendes R e c h t " 3 8 der Königsherrschaft Jesu Christi. Die gemeindliche Lebensordnung als liturgische Ordnung ist so Gestalt des Dienstes Christi in der communio sanctorum; sie ist bekennendes Recht, d.h. Antwort auf das Wort des Evangeliums in der Gemeinde. Gegenüber J . Calvin tritt das viergliedrige Amt als Grundfaktor kirchlicher und gemeindlicher Ordnung in den Hintergrund. 4.1.2.3. G. Wendts Verständnis der Lebensordnung tertius usus legis
als
Indem G. Wendt die rechtstheologischen Grundlagenfragen auf die kirchlichen Lebensordnungen bezieht, charakterisiert er diese in seinem Aufsatz „Zur kirchenrechtlichen Problematik der Ordnung kirchlichen Lebens" 3 9 als gottesdienstliche Ordnung 4 0 , als parakletische Seelsorgeordnung 4 1 und als kirchliche Sittenordnung 4 2 . Die Lebensordnung ist als solche keine besondere Ordnung neben der Kirchenverfassung, sondern „integrierender Bestandteil" derselben 4 3 , was ja ganz den frühreformatorischen Kirchenordnungen entspricht. Dabei ist gleichzeitig festzuhal34
Ebd., 8. Ebd., 27. Ebd., 28. Ebd., 35. Ebd., 85. 39 G. Wendt, Zur kirchenrechtlichen Problematik der Ordnung kirchlichen Lebens, ZevKR 10, 1963/64, lOlff. 40 Ebd., 114. 41 Ebd., 115. « Ebd., 116. « Ebd., 105. 35 3« 3? 38
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ten, daß die Lebensordnung „in ihrem Kernbereich als Ordnung gottesdienstlicher Gemeinde und christlicher Existenz durch das Ineinandergreifen innerer und äußerer Ordnung und durch ein ius humanuni ecclesiasticum bestimmt wird, das im ius divinum nicht nur einen legitimierenden Grund besitzt, sondern von ihm sein Gepräge und seine innere Ausrichtung erhält in einer je nach der Nähe zum geistlichen Lebensbereich der Gemeinde abgestuften Intensität" 4 4 . Diese Vorstellung von einer „abgestuften Intensität" der verschiedenen Ordnungsbereiche und Ordnungselemente zum christlichen Bekenntnis und zum gottesdienstlichen Leben im engeren Sinn war von E. Kinder 4 5 und P. Brunner 4 6 entworfen worden. Für die typisierende Betrachtung der theologischen Grundlegung kirchlicher Ordnung ist es nun wichtig, daß G. Wendt die kirchlichen Lebensordnungen, dogmatisch gesehen, im Sinn des tertius usus legis des Wortes Gottes versteht. „Bezogen auf die theologische Dialektik von Gesetz und Evangelium gehören diese im ius divinum biblischer Weisungen wurzelnden Ordnungselemente zu dem ,tertius usus legis': ,ut homines iam renati, quibus tarnen omnibus multum adhuc carnis adhaeret certam regulam habeant, ad quam totam suam vitam formare possint" 4 7 ; G. Wendt verweist damit auf die Formula Concordiae, Epitome VI 4 8 und knüpft bei J . Calvins dogmatischer Bestimmung kirchlicher Ordnungen an 4 9 . 4.2. Die Lebens- und Visitations Ordnung der VELKD und der unierten Landeskirchen Nach den typisierenden Überlegungen sind nun die Lebens- und Visitationsordnungen der VELKD und der EKU von dem Bezugsrahmen im Teil A her unter dogmatisch-systematischem Aspekt zu analysieren. 4.2.1. VELKD Im Vorwort der „Ordnung des kirchlichen Lebens" der VELKD vom 27.4.1955 heißt es: „Diese Ordnung will dazu beitragen, das Leben in Familie, Beruf und Gemeinde nach dem Willen Christi zu gestalten und kirchliche Sitte zu festigen." Gegen die Unordnung und Unfrieden 44
Ebd., 133. E. Kinder, Der evangelische Glaube und die Kirche, Berlin 1958, 172. 46 P. Brunner, Bekenntnisstand und Bekenntnisbindung, in: Pro Ekklesia II, Berl i n - H a m b u r g 1966, 2 9 5 f f . 47 G. Wendt, in: ZevKR 10, 1 9 6 3 / 6 4 , 115. 4 * BSELK 793,1. 49 J. Calvin, Institutio christianae religionis, übersetzt und bearbeitet von O. Weber, Neukirchen 1955, 213. 45
8 Plathow, Lehre
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stiftenden Chaosmächte will sie dazu beitragen, daß alles ordentlich in der Gemeinde zugeht; um der Liebe willen übt diese Ordnung eine erhaltende Funktion aus im Leben des einzelnen Christen, im Leben der Gemeinde und der ganzen Kirche. Sie besitzt damit keine Dignität in sich selbst wie die Schöpfungsordnungen in Gottes weltlichem Regiment oder das kanonische Recht in der römisch-katholischen Kirche; sie hat im geistlichen Regiment eine dienende Aufgabe am Wort Gottes und seiner Verkündigung und wird nur so recht gebraucht, d.h. im usus spiritualis zur Auferbauung der Gemeinde. Diese kirchliche Lebensordnung ist, dogmatisch gesehen, „kein Gesetz, dessen Erfüllung uns vor Gott rechtfertigt". Dienend der Verkündigung des Wortes Gottes zugeordnet, wendet sich die Lebensordnung an die christliche Gemeinde, deren Glieder aufgrund der Taufe nicht mehr unter der knechtenden Macht des Gesetzes stehen. Gesetz, dessen Erfüllung zur Rechtfertigung vor Gott führen könnte, stellt diese Ordnung für die Menschen dar, denen nicht durch Gottes Gnade in der Rechtfertigung die Freiheit eines Christenmenschen geschenkt ist, d.h. für die Ungläubigen und Irrgläubigen. Aber auch die Christen sind immer wieder den Angriffen des Unglaubens und der Unfreiheit ausgesetzt, straucheln und fallen in Sünde und Schuld. Darum verweist auch die Ordnung kirchlichen Lebens im Dienst am Wort Gottes auf Gottes Gerichts- und Bußwort, auf den Ruf zur Umkehr; sie mahnt als Spiegel und Mittel des usus theologicus legis des Wortes Gottes zu lebendiger Zucht im brüderlichen Geist. Es sei nur an den XII. Abschnitt der VELKD-Lebensordnung erinnert, wo es heißt: „Die Kirche Jesu Christi ist in dieser Welt ständig von den Mächten der Verführung, des Abfalls und der Lauheit bedroht. Darum muß die Gemeinde, die aus dem Evangelium lebt, Zucht üben" (1). „Gottes Wort mahnt, warnt und straft die Sünder und hilft ihnen zurecht. Die Seelsorge geht den Strauchelnden und Gefallenen nach Ziel dieser Bemühungen ist es, den Bruder mit Mahnung und Zuspruch zur Erkenntnis seiner Sünden und zur Reue und Umkehr zu führen, damit er Vergebung der Sünden empfangen und einen neuen Anfang machen kann" (3). „Um dieser Zucht willen werden in bestimmten Fällen kirchliche Handlungen und kirchliche Rechte versagt. Diese Versagungen wollen nicht Verfehlungen und Versäumnisse menschlich strafen, sondern den Ernst der göttlichen Gebote vor Augen stellen. Sie haben das Ziel, die vorliegenden Hemmnisse zu beseitigen und dem Bruder zurechtzuhelfen" (4). Das „Gutachten des Theologischen Ausschusses zur Frage der Kirchenzucht" vom 21.12.19 5 3 5 0 nimmt im Vorspann ausdrücklich Bezug auf diesen XII. Abschnitt der „Ordnung des kirchlichen Lebens" 50 J. Frank — E. Wilkens (Hrsg.), Ordnungen und Kundgebungen der VELKD, Berlin-Hamburg 1966 2 , Β 502.
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der VELKD; es heißt dort: „Es gibt in der Tat schwere Verletzungen der Gebote Gottes durch Christen, die nach der Aussage der Heiligen Schrift (l.Kor. 6,9—11) vom Eingang in das Reich Gottes ausschließen und deshalb vom Wesen der Gemeinde her besondere Zuchtmaßnahmen erfordern, wenn seelsorgerliches Einwirken nicht zur Reue, Umkehr und Absolution geführt hat. Das ist in der „Ordnung des kirchlichen Lebens" mit Recht bei den Bestimmungen zur Versagung der Taufe, Konfirmation, Trauung und Begräbnis bereits zum Ausdruck gekommen." Das Gutachten führt dann weiter aus: „Eindeutig tritt die Kirchenzucht im engeren Sinne dort in Erscheinung, wo die Abendmahlsgemeinschaft aufgehoben werden m u ß . " Von der Abendmahlsgemeinschaft sind aber diejenigen auszuschließen, „die trotz aller seelsorgerlichen Ermahnungen unbußfertig und hartnäckig in solchen offenbaren Lastern verharren, wie sie in l.Kor. 6,9—11 genannt sind". Es liegt unvergebene Schuld auf ihnen; „sie sind in die Bindung finsterer Gewalten zurückgefallen und dadurch von dem Gnadenreich Christi geschieden. Sie würden unter dem Brot und Wein des heiligen Mahles Leib und Blut Christi zum Gericht empfangen". Die Lebensordnung ist damit Zuchtordnung im Dienst des Bußrufes des Wortes Gottes. — Das gilt entsprechend auch für die Lehr- S1 und Amtsordnung 5 2 der Pfarrer. Wenn ein Pfarrer bei seinem Verkündigungsauftrag die schriftgemäße und bekenntnisgebundene Lehre verleugnet oder gegen seine geistlichen Dienstobliegenheiten verstößt, wenn er gemäß Mt. 18 auch nach dem persönlichen Gespräch, nach dem colloquium fratrum und nach dem Gespräch in der Gemeinde beharrlich die Buße und Umkehr verweigert, so trifft ihn im förmlichen Lehrbeanstandungs- oder Amtsverfahren das Gerichtswort Gottes. — So ist auf dem Hintergrund der Einheit von Lehre und Leben die Lebensordnung ein Spiegel des usus theologicus legis des Wortes Gottes über die falschen Geister, die Irrenden, die lasterhaft Lebenden im geistlichen Sinn. Das Gerichtswort ist nun aber nicht das letzte Wort; der Bußruf zielt auf Umkehr und Vergebung; das Gerichtswort weist auf das Gnadenwort und dieses Gnadenwort schenkt die Vergebung der Sünden und einen Neuanfang. Das Leben des Christen unter dem Anspruch des Gerichts- und Gnadenwortes Gottes ist das Leben aus der Taufe, ein Leben als tägliches Sterben und Auferstehen mit Christus 5 3 ; es ist weiter das Leben in der got51
Lehrordnung der VELKD vom 16.6.1956, in: J. Frank - E. Wilkens (Hrsg.), Ordnungen und Kundgebungen der VELKD, Berlin—Hamburg 1 9 6 6 2 , A 210. 52 Kirchengesetz der VELKD über Amtszucht vom 7.6.1965, in: J. Frank — E. Wilkens (Hrsg.), Ordnungen und Kundgebungen der VELKD, Berlin—Hamburg 19 6 6 2 , A 220. 53 „Ordnung des kirchlichen Lebens" der VELKD vom 2 7 . 4 . 1 9 5 5 , I 1.
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tesdienstlichen Gemeinschaft durch die Predigt des Evangeliums in der Gemeinschaft des Herrenmahls, in dem Christus den Glaubenden leiblich und personhaft begegnet; es ist ein Leben mit der Beichte; „zu einer rechten Beichte gehört, daß man die Sünde bekenne und die Vergebung oder Absolution von dem Beichtiger empfange als von Gott selber, und ja nicht daran zweifle, sondern fest glaube, die Sünden seien dadurch vergeben vor Gott im Himmel" 5 4 . Der Gesetzesgebrauch des Wortes Gottes ist auf das Evangelium ausgerichtet, das aus Gnade dem Sünder die Rechtfertigung schenkt. Die Rechtfertigung ist aber mit der Heiligung untrennbar verbunden. Die Lebensordnung spiegelt darum das Gnadenwort der Rechtfertigung und Heiligung wider, dem es ja dienend zugeordnet ist. Im Vorwort der Lebensordnung heißt es: „Aber wo die Ordnung im Glauben und in der Liebe Christi, der das neue Leben aus Gottes Geist schenkt, geübt wird, kann sie dazu dienen, daß Gottes Wort Kirche und Gemeinde, unser Haus und unser persönliches Leben heiligt." Die Lebensordnung dient der Heiligung, d.h. dem Leben aus dem Glauben, das durch den heiligen Geist gewirkt wird; sie ist Heiligungsordnung, in der der seelsorgerliche Aspekt ein besonderes Gewicht erhält. In der Lebensordnung als Heiligungsordnung geht es zunächst um das Leben des Christen aus der Taufe in Richtung auf ein Leben nach dem Tod „in der Nähe mit G o t t " . Es ist ein Leben in der ständigen Rechtfertigung und Erneuerung in Familie, Ehe und Beruf. Denn „in der Taufe werden wir in Christi Tod hineingegeben und mit dem auferstandenen Christus zu einem neuen Leben aus dem Glauben erweckt"; die Taufe wird damit eine „Quelle für die Erneuerung" unseres Lebens 5 S . Das Leben aus der Taufe in der Buße formt das familiäre Zusammenleben; in christlicher Freiheit und im gehorsamen Dienst ist es geprägt von geistlicher Zucht. Sie gestaltet die Ehe, die unter Gottes Gebot gelebt wird, als unauflösliche Schöpfungsgabe Gottes 5 6 , die von der gegenseitigen Vergebung der Partner getragen wird und in der Gnade, die in Christi Tod und Auferstehung geschenkt ist, erhalten wird. Das Leben aus der Taufe bestimmt die christliche Erziehung der Kinder im Haus, in der Schule, in der Gemeinde 5 7 . Aber auch das Leben mit den alltäglichen Freuden und Sorgen, das Berufsleben mit seinen Erfolgen und Schwierigkeiten gestaltet sich von hier. Durch sündhaftes Straucheln zu befreiender Vergebung, durch Enttäuschungen zu neuen Hoffnungen trägt das Leben aus der Taufe; durch tägliches Sterben und Auf54 Ebd., V 2. ss Ebd., I 1. 56 Ebd., VIII, vgl. auch die Erklärung der Bischofskonferenz zur Ehe vom 2 3 . 1 0 . 78, in: Luth. Generalsynode 1978, 3 4 1 f f . 57 Ebd., II, III, Vorwort.
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erstehen mit Christus wird es zum immer neuen Leben aus dem heiligen Geist geführt. Es geht bei der Lebensordnung als Heiligungsordnung weiter um unser Leben als Gottesdienst inmitten der Gemeinden; es ist das Leben aus und unter dem Wort Gottes 5 8 im besonderen und allgemeinen Gottesdienst. Die Anrede des Wortes Gottes und das Geschenk der Sakramente konstitutiert dabei die Antwort der Glaubenden, die als geistgewirktes Gebet zu Gott in der Bitte, in der Fürbitte und im Lobpreis geschieht. Die Antwort erfolgt auch im Dienst am Nächsten, also in der seelsorgerlichen Beratung und Begleitung der Angefochtenen, der In-Sünde-Gefallenen, der Einsamen, Kranken und Sterbenden und weiter in der konkreten Hilfeleistung für den Bedürftigen, den Bedrängten, den Notleidenden, den unschuldig Verfolgten. Die Lebensordnung gibt hier Richtlinien Hinweise und Handreichungen Ermunterungen und Einladungen, sie macht konkrete Vorschläge für das gottesdienstliche Leben, denn jeder Dienst des Christen ist ein Dienen im Auftrag Gottes, ist parakletischer Dienst. Schließlich erwähnt die Lebensordnung auch die Aufgaben und Dienste in der Weltchristenheit, denn die Gemeinde als örtliche Partikularkirche ist untrennbar mit der universalen Kirche der Weltchristenheit verbunden. Den Gemeinden und Kirchen gilt der Auftrag Gottes, das Evangelium in aller Welt zu verkündigen, missionarisch zu wirken, diakonisch tätig zu sein und weltverantwortliche Solidarität mit den Leidenden, Benachteiligten und Hungernden usw. zu üben 59 . Durch das Wirken des heiligen Geistes erfüllt die Gemeinde diesen Dienst der Paraklese. Das geistgewirkte Handeln der Gemeinde im Auftrag Gottes schafft die spontane Antwort und Tat, aber auch die kontinuierlichen Lebensregeln, Bräuche und Sitten; in der Form sind sie oft den Konventionen und Riten allgemeinmenschlichen Zusammenlebens analog. Im Inhalt sind sie verschieden, ebenso in der Art des Gebrauchs. So gibt es die Andachtsordnungen für das geistliche Leben der christlichen Familie 60 , so gibt es die Kirchenjahrssitten, die Bräuche bei den Kasualhandlungen. Geistlich gebraucht, können die christlichen Sitten sich segensreich auf das gemeindliche Zusammenleben und den Aufbau der Gemeinde auswirken. Unter dogmatischem Gesichtspunkt ist somit auch die VELKD-Lebensordnung dienend dem einen Wort Gottes zugeordnet; sie spiegelt sein 58 Ebd., IV, X 5, Vorwort. Ebd., Vorwort, X 6 - 9 . 60 Ebd., II 2. 117
Wirken als Gesetz und Evangelium wider und ist so Büß-, Heilungsund christliche Sittenordnung. Die drei dogmatischen Grundbestimmungen der Lebensordnung charakterisieren auch die Visitationsordnung. Durch den gesamtkirchlichen Besuchs- und Aufsichtsdienst mit dem Wort Gottes fragt der Herr, „der alle Gleichgültigkeit und Selbstgenügsamkeit richtet, in der Anfechtung stärkt und zum Bekennen seines Namens ermutigt, die Gemeinde nach ihrem Leben in der Nachfolge" (3). Im Dienst am Wort Gottes, das zurechtweist und zur Umkehr ruft, wacht der Visitator darüber, „daß das Wort Gottes schriftgemäß verkündigt wird, daß die Sakramente stiftungsgemäß verwaltet werden" (1), wie es in den „Richtlinien der Bischofskonferenz über die Visitation" vom 8.11.1963 heißt 6 1 . Durch das Wort Gottes kritisiert und richtet der Visitator Irrlehre, Selbstgenügsamkeit, Lauheit, falschen Lebenswandel. Das Bußwort aber ist verbunden mit dem Verweis auf das Wort der Vergebung und des verheißenen Neubeginns 62 . Weiter will der Visitator dazu helfen, „die in der Gemeinde vorhandenen Gaben zu entdecken, einander zuzuordnen und für den Aufbau der Gemeinde fruchtbar zu machen" (4). Der Visitator ermuntert die Gemeinde mit dem geistlichen Wort, er weist neue Wege und Aufgaben (6) und steht so im Dienst der gubematio und reformatio der Kirche Jesu Christi durch das Wort Gottes. Zugleich und untrennbar hiermit verbunden wird in der Visitation geprüft, „ob Verwaltung, Finanzen und kirchliches Eigentum in Ordnung sind und dem Evangelium dienen" (7). Die Ordnung von Verwaltung und Finanzen ist durch diese Verkündigung bekennende Ordnung. Somit dient die Visitation der rechten Verkündigung des Evangeliums, der Heiligung und Erneuerung des gemeindlichen Lebens und der im Dienst des Wortes Gottes stehenden Verwaltung der Einrichtungen der Kirche Jesu Christi. Mit diesen Aufgaben korrespondiert die gemeindliche Lebensordnung dem Inhalt und der Intention nach der Ordnung des geistlichen Kirchenregiments durch das Wort Gottes. Es sind konkrete geistliche Bestimmungen, nicht angepaßt an die normativ geltende Situation, sondern gegenwartsgemäß und somit je neu zu verändern und zu verantworten. 61
J. Frank — E. Wilkens (Hrsg.), Ordnungen und Kundgebungen der VELKD, Berlin—Hamburg 1966*, Β 140. 62 Ordnung des kirchlichen Lebens der VELKD vom 27.4.1955, IX 2; Richtlinien der Bischofskonferenz über die Visitation vom 8.11.1963, 3.
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4.2.2. Unierte
Landeskirchen
Die „Ordnung des kirchlichen Lebens" der EKU vom 6.5.1955, die unter dogmatischem Aspekt analysiert werden soll, sagt nicht uncharakteristisch im Vorwort: „Alle Ordnung der Kirche dient der Verkündigung des Wortes Gottes und der Heiligung der Gemeinde." Es wird damit die adjuvative Funktion dieser Ordnung für die Verkündigung des Wortes Gottes und für die Heiligung der Gemeinde hervorgehoben. Sie selbst dient der Heiligung der Gemeinde, also nicht nur mittels ihres Dienstes am Wort Gottes. Im Unterschied zur lutherischen Ordnung ist dies zu erwähnen; die Trennung von Wort und heiligem Geist steht theologisch im Hintergrund, so daß ohne die Bindung an das Wort der heilige Geist durch diese Ordnung die Heiligung der Gemeinde wirkt. In Kontinuität mit den biblischen Weisungen stellt diese Lebensordnung eine geistliche Ordnung der Gemeinde und Kirche dar. Damit ist sie „kein Gesetz", dessen Erfüllung vor Gott rechtfertigt; sie will das Gemeindeleben nicht schematisch und kasuistisch regeln; sie wendet sich ebenso gegen ein falsches Verständnis der evangelischen Freiheit. Sie ist geistliche Ordnung der heiligen Schrift im Dienst des Wortes Gottes als Regel und Richtschnur. Mit J . Calvin, Institutio christianae religionis 11,7.12 und mit der Formula Concordiae, Epitome V I I ist sie theologisch als tertius usus legis zu charakterisieren; im Dienst des neuen Gesetzes der Wiedergeborenen steht sie; sie ruft zum Gehorsam gegen das Wort Gottes und seine Weisungen, sie mahnt zum zuchtvollen Leben und gibt Handreichungen, Richtlinien und Orientierungshilfen. Der imperative Stil kennzeichnet darum auch die pneumatischen Regeln, die um der Liebe willen und zur Ehre Gottes und zum Segen der Gemeinde zu gebrauchen sind. In den einzelnen Abschnitten wird dann der Gebots- und Weisungscharakter der Lebensordnung als Heiligungsordnung konkret. Mahnungen, Gebote, Imperative, begründet im Indikativ der Taufe, werden da gegeben; so heißt es in Abschnitt I, Artikel 1: „Die heilige Taufe wird auf Befehl Jesu Christi im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes vollzogen"; es folgen Anweisungen zum Vollzug der Taufe (Art. 2—4), zur Patenschaft (Art. 5), zur Verweigerung und Zulassung der Taufe (Art. 6 - 9 ) . Dann wird die christliche Erziehung zunächst indikativisch beschrieben: „Evangelische Erziehung gründet sich auf dem Gebot des Herrn Christus, alle Völker zu seinen Jüngern zu machen. In diesem Befehl sind Taufe und Lehre unauflöslich miteinander verbunden"; es folgt dann die Aufforderung: „Die Kirche ist daher gehalten, den Kindern ihre Taufe 119
und deren Gnadengaben zu bezeugen, ihnen das rechte Verständnis der evangelischen Lehre zu vermitteln, sie in das gottesdienstliche Leben, in Wort und Sakrament, Gebet und Lied einzuführen, für Dienst und Mitarbeit in der Gemeinde zu gewinnen, sie im christlichen Leben einzuüben und ihnen mit alledem zu helfen, daß sie im Glauben an den Herrn Jesus Christus fest werden." 6 3 Diese zunächst allgemein gehaltene Aufforderung wird dann konkretisiert: Hinweise für die christliche Erziehung in der Familie mit den täglichen Andachten und den Gebeten, für den Kindergottesdienst, die Kinderstunden, die Christenlehre, den kirchlichen Unterricht, für das Leben und den Dienst der jungen Gemeinde werden gegeben. Entsprechend der parakletischen Grundstruktur heißt es zunächst indikativisch zum Gottesdienst: „Im Gottesdienst redet unser Herr selbst mit uns durch sein Wort, und wir wiederum reden mit ihm durch Gebet und Lobgesang. Hier ist der Herr selber gegenwärtig in seinem Wort und Sakrament. Durch beides empfängt die Gemeinde Mahnung, Tröstung und Stärkung." 6 4 Es folgen dann die Anweisungen zur Feier des Sonntagsgottesdienstes, zu den Bibelstunden und Andachten in der Woche, zum Abendmahl; aber auch die anderen gottesdienstlichen Handlungen wie Taufe (Art. 31), Konfirmation (Art. 21), Trauung (Art. 53,2), Beerdigung (Art. 67,1) sind hier noch einmal zu nennen; entsprechendes gilt vom gottesdienstlichen Leben des Alltags, „Gottes Wort will das ganze Leben des Christen regieren. In seiner Familie und in seinem Beruf steht er unter der gnädigen Herrschaft seines Herrn Jesus Christus" 6 5 . Verbunden mit Ratschlägen für das Andachtsleben und die Gebete im Haus, folgen nun Richtlinien für das Zeugnis in Familie und Öffentlichkeit, im Beruf und am Arbeitsplatz, für die Mitverantwortung beim missionarischen Dienst der Kirche in der Welt. Ebenso wird zum Dienst christlicher Nächstenliebe, zur Mitverantwortung in der Kirchengemeinde, zur Mitarbeit beim Besuchsdienst, beim Kindergottesdient, beim Dienst der jungen Gemeinde, der Frauenhilfe und der Männerarbeit, zur Mitwirkung im Kirchen- oder Posaunenchor und zur Mithilfe bei gemeindlichen Veranstaltungen gerufen 66 , desgleichen zum kirchlichen Opfer 6 7 . Die parakletische Struktur bestimmt so diese Lebensordnung. Auch in dem wichtigen Abschnitt VI: „Von der Seelsorge, von der Beichte und von der kirchlichen Z u c h t " liegt sie zugrunde. Jeder der drei Ar63
Ordnung des kirchlichen Lebens der Evangelischen Kirche der Union vom 6.5. 1955, II, Art. 10,1. Μ Ebd., IV, Art. 32. es Ebd., VII, Art. 50,1. 66 Ebd., VII, Art. 51. 67 Ebd., VII, Art. 52.
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tikel beginnt zunächst indikativisch: „In der Seelsorge nimmt die Kirche ihren Dienst am Wort durch Zuspruch und Tröstung, Ermahnung und Warnung wahr" (Art. 47,1); ,Jesus Christus hat seiner Gemeinde die Vollmacht gegeben: .Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten' (Joh. 20. 23.). Aufgrund dieser Vollmacht übt die Kirche die allgemeine Beichte (Offene Beichte) und die Einzelbeichte" (Art. 48,1); „die kirchliche Zucht dient im Gehorsam gegen das Wort Gottes zur Erhaltung und Festigung der Gemeinde und warnt im Dienst bewahrender Liebe die Glieder der Gemeinde vor Sünde" (Art. 49,1). Aus den indikativischen Feststellungen gehen dann die Imperative, die Vorschläge, die Gebote und Richtlinien hervor. Dieser Teil über die kirchliche Zucht weist nun darauf hin, daß die Lebensordnung nicht nur den Charakter des tertius usus legis im Sinn von Formula Concordiae VI hat, sondern auch dem Wort Gottes im Sinn des usus theologicus legis zugeordnet ist. Wenn entsprechend Mt. 18 die seelsorgerliche Vermahnung durch ein Gemeindeglied oder den Pfarrer und eine weitere Ermahnung durch den Pfarrer und zwei Älteste fruchtlos bleibt, so sollen der Pfarrer und der Kirchengemeinderat ernstlich prüfen, „ob der Gehorsam gegen Gottes Wort es erfordert, daß dem Betroffenen das heilige Abendmahl versagt wird. Die Zucht will nicht aus der Gemeinde ausschließen, sondern zur Umkehr rufen" 6 8 . Die Zuchtmaßnahmen gegen Geistliche wegen Verbreitung oder Begünstigung falscher Lehre, d.h. einer Predigt, die weder schriftgebunden noch bekenntnisgemäß noch die Situation betreffend ist, sind unter dogmatischem Gesichtspunkt ebenfalls dem Wort Gottes in seiner Funktion als usus theologicus legis zuzuordnen; in der Lehrbeanstandungsordnung der EKU vom 2 7 . 6 . 1 9 6 3 6 9 finden sie ihre rechtlichen Bestimmungen. Wie jedes Gerichtswort hat auch hier der Umkehrruf seine intentionale Ausrichtung auf das Evangeliumswort. Auch die Disziplinarregelungen sind dem zuzurechnen, wenn sie auch nach dem altpreußischen Irrlehregesetz von 1910 von Lehrbeanstandungsfragen prozeßrechtlich getrennt sind; sie werden nach dem „Disziplinargesetz der E K D " vom 11.3.1955 70 auch im Bereich der EKU behandelt, wie die „Verordnung über das Disziplinarrecht" der EKU vom 14.5.1956 bestimmt 71 . Auf dem Hintergrund einer Einheit von Lehre und Leben sind sie unter dogmatischem Gesichtspunkt in ihrer Beiordnung zum usus theologicus legis des Wortes Gottes zu verstehen. 68 Ebd., VI, 69 ABl EKD ™ ABl EKD ABl EKD
Art. 4 9 , 4 . 1963, 476ff. 1955, 84ff. 1957, 19ff.
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In erster Linie aber ist die Lebensordnung verbunden mit der Evangeliumspredigt, d.h. mit dem Zuspruch der Gnade und dem Gebot der Heiligung; sie ist geistliche Ordnung und Regel als tertius usus legis des Wortes Gottes. In dieser dogmatischen Bestimmung korrespondiert die „Ordnung des kirchlichen Lebens" mit der Regelung der Visitation. Sie wird im Bereich der EKU gerade neu geordnet, wofür erste Ergebnisse im ,.Muster einer Visitationsordnung" vom 17.12.1975 durch die Ärnoldshainer Konferenz vorgelegt wurden. In der Grundlegung werden unter I. die Aufgaben der Visitation beschrieben: „Die Visitation fragt nach der auftragsgemäßen, auf die Gegenwart bezogenen Verkündigung des Evangeliums in allen Handlungsfeldern der Kirche und nach ihrer Auswirkung im Leben und im Dienst der Gemeinde." Die Visitation und ihre geregelte Durchführung ist so mit dem Dienst an der Verkündigung des Wortes Gottes verbunden. Sie ist bezogen auf alle Handlungsfelder der Kirche und auf die „Auswirkung" der Verkündigung im Leben der Gemeinde als ganzer. Die starke Betonung der kommunikativen Aufgabe der Visitation hat hier im Muster ihren Grund. Als Ziel der Visitation wird zunächst genannt, „Gemeinden, Kirchenkreise, kirchliche Einrichtungen, Werke und Verbände, Pfarrer und andere Mitarbeiter" zur Selbstprüfung anzuleiten 72 . Das bedeutet, daß die Visitation durch das Wort Gottes zur Selbstprüfung anleiten will oder anders gesagt, daß die Ordnung durch das zu Buße und Umkehr rufende Wort Gottes zur Selbstprüfung anleiten will. Denn das richtende Wort im usus theologicus legis stellt kritisch in Frage, was nicht dem apostolischen Auftrag gemäß in der Kirche geschieht. Als Zielbestimmung wird weiter folgendes genannt: „Sie achtet auf das Vorhandene, regt Neues an, wehrt Fehlentwicklungen, hilft bei der Lösung von Konflikten und erörtert in Kirche und Gesellschaft aufgebrochene Fragen" 73 ; sie will den evangelischen Auftrag mitverantworten. Die stützende, weisende, reformierte und anregende Absicht des Visitationsdienstes ist damit angesprochen, denn visitatio ist gubematio und reformatio der Gesamtkirche durch die Kirchenleitung mit dem Wort Gottes, das hier in seiner parakletischen Funktion betont wird. „Die Visitation umfaßt in der Regel alle Handlungsfelder der kirchlichen Arbeit: Gottesdienst, Seelsorge und Amtshandlungen, Unterricht, die verschiedenen Arten und Zweige kirchlicher Gemeindearbeit und der Diakonie am einzelnen und an der Gesellschaft sowie Leitung und Ver72
Muster einer Visitationsordnung der Arnoldshainer Konferenz vom 17.12.1975, Umdr. Nr. V/14/76, I, 4.1. '3 Ebd., I, 4.1.
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waltung der Gemeinde" 7 4 , also die Fragen des äußeren Bestandes der Gemeinde, der Eigentums- und Finanzverwaltung, die im Sinn einer geistlichen Ordnung dem geistlichen Auftrag der Kirche zugeordnet sind. Es besteht eine Korrespondenz zwischen der Lebens- und Visitationsordnung dem Inhalt und der Intention nach. Beide sind verbunden mit dem Wort Gottes und stehen in dessen Dienst. Wohl wird die Indienstnahme durch den usus theologicus legis gesehen, doch steht der Dienst am Evangelium und am Gebot des Evangeliums ganz im Mittelpunkt; die Paraklese gibt die Grundstruktur dieser geistlichen Ordnungen, die der Heiligung der Gemeinde in allen Lebensbereichen dienen wollen: von der schrift- und gegenwartsgemäßen Predigt über die rechte Unterweisung, die missionarische und diakonische Tätigkeit bis zur Finanzund Immobilienverwaltung. Auch die Regelungen der äußeren Bereiche geschieht durch die bekennenden Ordnungen, die alles dem geistlichen Auftrag der Kirche zuordnen. Es handelt sich um geistliche Regeln, in der Formulierung oft schwerfällig, in der Begründung z.T. zu wenig biblisch, in der Einzelbestimmung nicht mehr gegenwartsgemäß, so daß eine Fortschreibung einzelner Absätze notwendig ist. 4.3. Die dogmatische
Bestimmung
Auf dem Hintergrund der typisierenden Betrachtung und dem analysierenden Abschnitt sollen nun die dogmatischen Überlegungen angestellt werden zu den Visitations- und Lebensordnungen im Blick auf das Thema „Lehre und Ordnung im Leben der Kirche". Lehre, Ordnung und Leben der Kirche ist aber vom dogmatischen Verständnis der Kirche nicht zu trennen. Eine dogmatische Bestimmung der kirchlichen Ordnungen ist femer nur vom Auftrag, Wesen und Selbstverständnis der Kirche her vorzunehmen. Der systematischen Abhandlung der Lebens- und Visitationsordnungen unter dogmatischem Aspekt soll darum eine Darlegung des Kirchenverständnisses auch unter eben diesem Gesichtspunkt vorangehen. 4.3.1. Das
Kirchenverständnis
4.3.1.1. Volk Gottes (eschatologischer
Aspekt)
—
Bußgemeinschaft
Die Kirche Jesu Christi wird gerade in ihrer geschichtlichen Gestalt mit der Methapher „Volk Gottes" gekennzeichnet. In l.Petr. 2,9f. heißt es: „Ihr seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, die heilige Volksgemeinschaft, das zum Eigentum erkorene Volk, und sollt ™ Ebd., II, 3.
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die Ruhmestaten dessen verkündigen, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht berufen hat, euch, die ihr vordem ,ein Nicht-Volk' wäret, jetzt aber ,das Volk Gottes' seid, einst ohne Gottes Erbarmen, jetzt aber reich an Gottes Erbarmen." Dieser alttestamentliche Bildbegriff (Ex. 19,5f.; Num 20,4) hat im Neuen Testament verschiedene Bedeutungsebenen. Zunächst ist die heilsgeschichtliche Seite zu nennen: das neutestamentliche Gottesvolk steht in Kontinuität und Diskontinuität mit dem alttestamentlichen Bundesvolk. Stand des alttestamentlichen Gottesvolk unter dem Gesetz und unter der Verheißung Gottes und der teilweisen Erfüllung, so das neu testamentliche Gottesvolk in der erfüllten Verheißung und unter dem Gebot Gottes. Dem neutestamentlichen Gottesvolk ist die Gnade geschenkt (l.Petr. 2,10), und sie wird immer neu geschenkt, wo der Glaube in der Predigt des Evangeliums durch den heiligen Geist gewirkt wird. In der Predigt wirkt der lebendige Christus, weil er im heiligen Geist selbst gegenwärtig ist, Vergebung der Sünden, Erlösung von den Mächten des Bösen und des Todes, Befreiuung zu einem neuen Leben in Zeit und Ewigkeit. Das neue Leben wird zusammen in der Weggemeinschaft mit den anderen Gliedern des Gottesvolkes geführt. In dieser Metapher ist ferner die eschatologische Ausrichtung dieser Weggemeinschaft angesprochen; „wir haben hier keine bleibende Stadt, aber die zukünftige suchen wir" (Hebr. 13,14). Das neutestamentliche Gottesvolk ist „schon" die verheißene Gemeinde, daber sie ist „noch nicht" der endgültigen Vollendung teilhaftig (Phil. 3,12f.); der endgültigen Vollendung durch das Gericht Gottes geht das wandernde Gottesvolk entgegen. Wie der einzelne Christ und das Gottesvolk ständig von den Mächten der Versuchung und des Bösen angegriffen und angefochten werden, so steht der strauchelnde Christ und die abtrünnige Gemeinde immer wieder unter Gottes richtendem und zugleich zur Umkehr rufendem Wort. Im gepredigten Wort ereignet sich schon jetzt der Gerichtsspruch, der auf den Gnadenspruch immer neu ausgerichtet bleibt (Ps. 30,6; Jes. 54,8; Rom. 5,9). So lebt das wandernde Gottesvolk mit und unter Wort Gottes in seiner Funktion als usus theologicus legis. Es klagt an und ruft zur Buße die Glaubensgemeinschaft als ecclesia semper reformanda, die neutestamentliche Bußgemeinschaft vor und unter dem Gericht Gottes. Immer bleibt aber Gottes Gnade das eigentliche Tun hinter Gottes uneigentlichem, seinem Gericht. 4.3.1.2. Leib Christi (christologischer
Aspekt)
—
Liebesgemeinschaft
Die Kirche wird weiter — gerade auch in ihrer soziologischen Verfaßtheit — als Leib Christi gekennzeichnet. Mehrere Bedeutungsebenen 124
schwingen in diesem Bildbegriff mit. Die Metapher drückt einmal die Einheit in der Verschiedenheit der Charismen, Gaben und Aufgaben aus (l.Kor. 12,12ff.). Die verschiedenen Glieder mit ihren verschiedenen Funktionen sind zu einem Leib getauft; sie sind mit einem Leib gespeist (Eph. 4,4f.); zugleich sind sie abhängig voneinander, stehen in Interdependenz zueinander (Rom. 12,3ff.). Die Glieder am Leibe Christi sind verbunden in der Liebe, sie sind aufeinander angewiesen in der Liebe; wie die Liebe im Überschreiten der eigenen Grenzen und in der Hingabe an den anderen sich neu empfängt. In diesem Bildwort wird zum andern darauf hingewiesen, daß Christus allein das Haupt des Leibes ist (Eph. 5,23; Kol. 1,18). Vom Haupt als Lebens- und Bewegungszentrum gehen die Lebens- und Denkfunktionen aus. Sie sind getragen und motiviert von der Liebe und ausgerichtet auf die Liebe, die in der Liebestat Christi zur Erlösung der Menschen aus Schuld und Verfallenheit an die Mächte des Bösen ihren Grund hat. Christus und der Leib Christi ist damit nicht identisch; die Einheit ist mit dem Gegenüber verbunden. Christus, das Haupt der Gemeinde, und die Gemeinde, „Christus als Gemeinde existierend", wie D. Bonhoeffer prägnant formulierte 7 5 , stehen in einem einseitigen Lebensbezug. Der Leib Christi in der Verschiedenheit und Einheit der Glieder lebt aus und mit Christus, dem Haupt, ihrem gegenwärtig wirkenden und anwesenden Herrn. Der Lebensfluß ist die Liebe Christi als Träger der Liebe zu- und untereinander. Ständig wird diese gnadenhafte Liebe im verkündigten Evangelium durch den heiligen Geist den Gliedern geschenkt, frei, ohne ihr Tun, allein durch die Gnade. Aus dieser Liebe allein leben die Glieder in der Liebe untereinander und miteinander als Liebesgemeinschaft. 4.3.1.3. Ecclesia (pneumatischer
Aspekt)
—
Erneuerungsgemeinschaft
Die Kirche Jesu Christi ist gerade in ihrer rechtlichen Verfaßtheit als Ekklesia (kahal) zu kennzeichnen. Auch spielen wieder mehrere Bedeutungselemente eine Rolle. Ohne dem etymologischen Gesichtspunkt eine zu große Bedeutung beizumessen, verweist er auf einen richtigen Tatbestand: „Ekklesia ist in der Tat die von Gott aus der Welt herausgerufene Menschenschar" 7 6 ; sie ist die vom heiligen Geist herausgerufene und in die Welt gesandte Gemeinde (l.Tim. 3,15). Wort und Antwort, Gabe und Aufgabe sind durch den heiligen Geist verbunden (Rom. 8,26; Phil. 2,12f.). Die Ekklesia tritt einmal als Einzelgemeinde am Ort (l.Kor. 75
D. Bonhoeffer, Sanctorum Communio, München I 9 6 0 3 , 92f.; 137ff. usw.
76 K. L. Schmidt, έκκλησία,
ThW II, 534,14f.
125
1,2; 2.Kor. 1,1) und als Hausgemeinde Rom. 16,5) in Erscheinung, zum andern als Gesamtkirche (Apg. 9,3 usw.). Die Gesamtgemeinde ist nun aber nicht die Summe der Einzelgemeinden; in der Einzelgemeinde lebt die Gesamtgemeinde, die Gesamtgemeinde ist untrennbar mit der Einzelgemeinde verbunden durch den heiligen Geist 77 . Pneumatische Reziprozität kennzeichnet ihr Verhältnis zueinander; aus dem heiligen Geist, in dem Jesus Christus als der Herr seiner Ekklesia gegenwärtig ist, leben die Einzelgemeinden und die Gesamtkirche. Dieser mit Christus eine heilige Geist schenkt durch das gebietende Wort des Evangeliums immer wieder neue Hoffnung und ein Leben und Wirken der Gemeinden in neuer Hoffnung. Der heilige Geist ist so der Neuschöpfer in der Ekklesia als Erneurungsgemeinschaft.
4.3.1.4. Congregatio sanctorum Bekenntnisgemeinschaft
(trinitarischer Aspekt) —
Alle drei Aspekte des theologischen Verständnisses der Kirche Jesu Christi — der theologisch-eschatologische, der christologische und der pneumatologische — sind in der Bezeichnung als Gemeinschaft der Heiligen verbunden; diese Bekenntnisaussage für die Kirche wird für die sichtbare und unsichtbare Kirche in ihrer untrennbaren Einheit gewählt. Das Alte Testament 773 und das Neue Testament 77b kennen diesen Ausdruck für die Kirche als Volk Gottes, als Leib Christi und Ekklesia (2.Kor. 13,12). Die in der Taufe im Namen Jesu Christi durch den heiligen Geist, der ja von dem Vater und dem Sohn ausgeht, Gerechtfertigten und Geheiligten (l.Kor. 6,11) gehören zur communio sanctorum. Die Taufe geschieht ja im Namen des dreieinen Gottes, und so sind die frühchristlichen Taufbekenntnisse über das Romanum bis zum Apostolicum das Bekenntnis und das Lobopfer der communio sanctorum an den dreieinen Gott oder — in den Begriffen von Confessio Augustana VII — das Bekenntnis der congregatio sanctorum. Dieses Bekenntnis zum dreieinen Gott erweist sich als das Bekenntnis aller Glieder der Kirche, die in ihrer Partikularität und Universalität die Gemeinschaft der Heiligen meint, die in der zeitlichen Ebene und zeitlichen Linie wanderndes Gottesvolk, Leib Christi und Ekklesia bedeutet. Denn der dreieine Gott hat sich in Jesus Christus offenbart und offenbart sich ständig neu durch den heiligen Geist; er ruft die Kirche durch Ebd., 508,29ff. Ps. 3 4 , 1 0 ; Dt. 16,3 u.a. 7 7 b l.Petr. 2,5,9; Rom. 16,15; Phil. 4,21f.; l.Kor. 1,12.
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77»
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sein Wort zur Buße, er schenkt die Vergebung der Sünden und neues Leben, er ruft sie zum geistgewirkten Zeugnis von der Hoffnung in Jesus Christus. Und so antwortet die Kirche als Bekenntnisgemeinschaft mit dem Lobopfer des Bekenntnisses zum dreieinen Gott, dem Vater, dem Sohn und dem heiligen Geist; sie tut dies immer wieder und immer neu, denn hier ist ihr Realgrund und ihre Wahrheitsbasis; sie tut dies immer wieder und immer neu bis zur endgültigen Vollendung mit dem dreieinen Gott, an dessen Herrlichkeit die congregatio sanctorum schon jetzt durch das Wort und die Sakramente Anteil hat. 4.3.2. Lebens- und Visitationsordnung, Evangelium
zugeordnet
zu Gesetz und
Wie die Frage nach der dogmatischen Bestimmung der Lebens- und Visitationsordnung nicht vom Verständnis des Wesens der Kirche getrennt werden kann, so auch das dogmatische Verständnis der Kirche nicht von einer Bestimmung der Lebens- und Visitationsordnung, die vom Auftrag und Selbstverständnis der Kirche ausgeht. Lehre, Leben und Ordnung sind nicht voneinander zu trennen. Die Kirche Jesu Christi wird konstituiert, verändert und erhalten durch die schriftgemäße, bekenntnisgebundene und gegenwartsorientierte Predigt des Wortes Gottes und die rechtmäßige Verwaltung der Sakramente. In der Predigt (Rom. 6,4) und im Herrenmahl (l.Kor. 11,26; J o h . 6,53) wirkt der heilige Geist in Bindung an das Wort den Glauben, stärkt und festigt ihn und nimmt den einzelnen Glaubenden hinein in das wandernde Gottesvolk, den Leib Christi, die Ekklesia, die sichtbare und unsichtbare Kirche der congregatio sanctorum. Dem dienen die kirchlichen Ordnungen; ihr Grund und Ziel, ihr Realgrund und ihr Erkenntnisgrund liegt hier. Das Wort Jahwes ist die Kraft Gottes; davon spricht das Alte Testament. Die älteren Propheten waren sich des Machtcharakters des Wortes Gottes bewußt (l.Kön. 17,1). Beim Propheten Arnos (Am. 7,10) und beim Propheten Jesaja Qes. 9,7) finden sich die stärker reflektierten Aussagen zum Wort Jahwes. Als terminus technicus der Gottesrede an die Propheten zieht sich das Erweiswort: „Und es erging das Wort Jahwes an . . . " durch die prophetischen Schriften. Jeremia kommt von einer durchdachten Worttheologie her; die Mächtigkeit des Wortes Gottes, das wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert, wirkt, steht in der Mitte (Jer. 5,14). Das deuteronomistische Geschichtswerk wiederum weist die Kraft des göttlichen Wortes nach, indem es das „Korrespondenzverhältnis" 78 von 78
G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments I, München 1962 4 , 352.
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ergangener Verheißung und geschichtlicher Erfüllung aufzeigt (2.Kön. 1 , 6 - 1 , 1 7 ; l.Kön. 13,2-2.Kön. 23,16ff.); Jahwe richtet das prophetische Wort auf (l.Kön. 2,4 usw.), es „fällt nicht hin" (l.Kön. 8,56 usw.). In der Exilzeit kennt dann die Priesterschrift die Schöpfungsmächtigkeit des Wortes Gottes (Gen. 1,3,6 usw.). Entsprechend singt der Psalmist: „Durch sein Wort sind die Himmel gemacht" (Ps. 33,6) und bekennt Deuterojesaja die Schöpfung Jahwes durch sein Wort als geschichtliche Heilstat (Jes. 40,26; 48,13; 50,2 usw.) und sagt von seiner Geschichtswirksamkeit: „Denn wie der Regen und der Schnee vom Himmel herabkommt und nicht dahin zurückkehrt, sondern die Erde tränkt, daß sie fruchtbar wird und sproßt und dem Sämann Samen und dem Essenden Brot gibt, so auch mein Wort, das aus meinem Munde kommt: es kehrt nicht leer zu mir zurück, sondern wirkt, was ich beschlossen und führt durch, wozu ich es gesendet" (Jes. 55,10f.). Das Wort Jahwes, das durch seine Mittler und Diener weitergegeben wird, ist nicht leer (Dt. 32,47). Im Neuen Testament heißt es dann von der Predigt Jesu von Nazareth, daß sie „gewaltig" (Mk. 1,22) war; seine Rede ist Machtwort, das bewirkt, was es ausdrückt; es sagt Vergebung der Sünden zu und schenkt sie auch, es spricht Heilung zu und gibt sie auch (Mk. 2,Iff.). Und nach dem Johannesevangelium verkündigt Jesus: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, der hat ewiges Leben" (Joh. 5,24); diese Worte sind deshalb vollmächtige Worte, weil sie dem Sohn vom Vater gegeben wurden (Joh. 7,16 usw.); diese Macht ist deshalb Vollmacht, weil sie dem Sohn vom Vater gegeben wurde (Joh. 5,27 usw.). In Jesus Christus ist das Wort Fleisch geworden (Joh. l , l f f , ) ; die alttestamentlichen Verheißungen haben sich damit erfüllt und erfüllten sich durch das Wirken des heiligen Geistes gegenwärtig immer wieder neu (Joh. 14,26 usw.), denn die geistgewirkte Predigt des Wortes Gottes ist es, die Glauben weckt und Versöhnung mit Gott schenkt (Rom. 10,17; 2.Kor. 5,18ff.); in der Taufe wird durch das geistgewirkte Wort im Wasser der Täufling als neues Glied am Leibe Christi in Christi Tod und Auferstehung hineingenommen; im Abendmahl begegnet der Glaubende durch die Anamnese und Epiklese dem lebendigen Christus und nimmt zusammen mit der Gemeinde teil am eschatologischen Freudenmahl. Dieser Machtcharakter des Wortes Gottes im Alten und Neuen Testament ist nun unter dogmatischem Gesichtspunkt im Blick auf die kirchlichen Ordnungen weiter zu differenzieren.
4.3.2.1. Im Dienst des theologicus
usus legis —
Bußordnung
Das Wort Gottes ist zunächst Gerichtswort, das Wort der Trauer und des Zorns über die Verfehlungen der Menschen und der Androhung des Ge128
richts. Das Pentateuch ist ganz in diesen Ton eingestimmt 7 8 a l Noch mehr gilt das für das Prophetenwort, in dem die Droh- und Scheltworte das Gericht Jahwes a n k ü n d e n 7 8 b , aber — und dies ist besonders bei Hosea ausgeprägt (Hos. 5,Iff.; 6,Iff.) — auch zur Umkehr rufen: „Kehre um, Israel, zu dem Herrn, deinem Gott! Denn du bist zu Fall gekommen durch deine Schuld. Nehmet Worte der Reue mit euch und kehret um zu dem Herrn" (Hos. 14,lf.). Auch das Schweigen und Sich-Verbergen Jahwes kann die Androhung des Gerichts und den Ruf zur Umkehr beinhalten (Ps. 13,2 usw.). Es deutet sich damit die Funktion des Wortes Gottes als Bußruf an, der dann im Neuen Testament in Rom. 3,9 seinen prägnanten Ausdruck findet: „Wie nun? Haben wir einen Vorzug? Ganz und gar nicht! Denn wir haben soeben Juden und Griechen als schuldig erwiesen, daß sie alle unter der Herrschaft der Sünde seien" und damit unter dem Zorn und Gericht Gottes (Rom. 1,18; 3,5), denn auch sie stehen unter dem Gesetz Gottes. Und weiter heißt es dann: „Wir wissen aber, daß das Gesetz alles, was es ausspricht, denen sagt, die unter dem Gesetz sind, damit jeder Mund verschlossen werde und alle Welt vor Gott strafwürdig sei, weil aus den Werken des Gesetzes kein Fleisch vor ihm gerechtgesprochen werden wird: denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünden" (Rom. 3,19f.); weitere Hinweise auf Gottes Gerichtswort finden sich u.a. in Rom. 7,7ff.; Gal. 3,19; Gal. 3,24. Das Wort Gottes in seiner Funktion als usus theologicus legis macht die Sünden offenbar und weist auf die Notwendigkeit der Umkehr vom alten Weg der Sünde und Selbstgerechtigkeit. M. Luther beschreibt diesen Aspekt des Wortes Gottes in „De servo arbitrio" wie folgt: „Derhalben sind die Worte des Gesetzes also gestellt, nicht daß sie anzeigen, daß unser Wille etwas vermöge oder eine Kraft habe, sondern daß sie der blinden Vernunft als am Lichte weisen, wie sie sei und wie gar unser Wille nichts vermag. Die Erkenntnis der Sünde, sagt Paulus, kommt durch das Gesetz. Er sagt nicht, die Sünde wird durch das Gesetz vermieden oder vertilgt oder weggenommen. Die ganze Ursache, darum das Gesetz gegeben ist, und die ganze Wirkung und Kraft des Gesetzes ist, daß wir dadurch kommen zur Erkenntnis, das ist zu unserer Sündenerkenntnis, nicht daß es uns gerecht mache oder daß wir etwas tun oder etwas vermögen. Denn Erkenntnis ist keine Kraft, gibt auch keine Kraft, sondern lehrt nur und zeigt, daß da keine Kraft ist, sondern Fehl und Schwachheit. Denn was ist Erkenntnis der Sünden anderes als Erkenntnis unserer Schwachheit und unseres Jammers? Es sagt der Apostel nicht, durch das Gesetz kommt Erkenntnis unserer
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Gen. 4,11; 6,5ff.; Ex. 32,10; Dt. 6,14ff. b Jes. 5,8ff.; Jer. 25,Iff.; Am. 4,Iff.; 6,lff.
9 Plathow, Lehre
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Kraft oder des Guten, sondern alles, was das Gesetz tut (wie Paulus sagt), ist nur, daß es uns zur Erkenntnis bringe" 7 9 In M. Luthers Theologie hat der zur Erkenntnis der eigenen Sünden und der eigenen Verlorenheit treibende usus theologicus legis des Wortes Gottes die entscheidende Bedeutung; es ist der von Grund auf sündige und verlorene Mensch, der allein durch Gottes Gnade gerettet wird. In der Theologie des Wortes Gottes von J . Calvin sind die Akzente etwas verschoben; er betont stärker den tertius usus legis. Auch er kennt aber den usus theologicus legis des Wortes Gottes; in der „Institutio christianae religionis" 11,7 äußert er sich zum ersten Gebrauch des Wortes Gottes 8 0 Diesem usus theologicus legis des Wortes Gottes, dem die Erfahrung des eigenen Sünderseins korrespondiert, dient auch die „Ordnung kirchlichen Lebens" und die Visitationsordnung. So heißt es z.B. sehr treffend in der „Ordnung kirchlichen Lebens der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau" vom 11.1.1963 8 1 im Vorspruch: „Sie will die Glieder der Gemeinde, insbesondere alle, die verantwortlich in ihr arbeiten, zur Prüfung aufrufen, wie es um das Leben der eigenen Gemeinde steht" 8 2 . Über den Dienst am usus theologicus legis des Wortes Gottes heißt es entsprechend in der „Ordnung des kirchlichen Lebens in der EvangelischLutherischen Kirche in Bayern" vom 18.5.1966 im Abschnitt XII „Von der brüderlichen Zucht in der Gemeinde": „Die Ordnungen der Kirche, nach denen brüderliche Zucht geübt wird, haben deshalb nichts mit Strafordnungen zu tun. Der wahre und einzige Richter ist Gott, der auch das Verborgene sieht. Er hat uns nicht beauftragt, Sünden aufzuspüren, aber er erlaubt uns auch nicht, offenkundige, die Gemeinde gefährdende Sünden zu übersehen. Deshalb kann es notwendig werden, schmerzliche Entscheidungen zu treffen. Sie sollen den Gefährdeten auf seinem gefährlichen Weg warnen und ihm zur Umkehr helfen". Jeder Teilabschnitt beginnt mit einem Bibeltext und endet mit einem Bibeltext; hier wendet sich Gal. 6,1 an den Leser, an den Pfarrer und die Gemeindeglieder: „Liebe Brüder, wenn ein Mensch etwa von einem Fehltritt übereilt wurde, so helfet ihm wieder zurecht mit sanfmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid; und siehe auf dich selbst, daß du nicht auch versucht werdest" 8 3 . M. Luther, V o m unfreien Willen, übersetzt von Fr. Gogarten, 131, ebenso: B o A II, 168,4ff. 8 0 J . Calvin, Institutio christianae religionis, übersetzt und bearbeitet von O. Weber, Neukirchen 1 9 5 5 , 21 Of. 8» ABl E K D 1963, lOOff. 82 E b d . , 101. 8 3 Vgl. G.-A. Vischer, Neuere Rechtsquellen für die evangelisch-lutherische Kirche in Bayern, A 15, 65. 79
130
Die Lebensordnungen, die stärker der lutherischen Tradition verhaftet sind, betonen nachdrücklicher den Dienst am usus theologicus legis des Wortes Gottes; augenfällig ist das auch dadurch, daß sie mit der VELKDLebensordnung vom 27.4.1955 die Frage der Kirchenzucht in einem besonderen Abschnitt behandeln. Inhaltlich in Entsprechung zum „Gutachten des Theologischen Ausschusses zur Frage der Kirchenzucht" vom 21.12.1953 84 zieht sich zugleich durch die Lebensordnungen als ganze der kirchenzuchtliche Aspekt: der Ruf zur Umkehr und Buße durch die Kasualversagungen und der Ausschluß vom Abendmahl; „es muß ein Anliegen von Pfarrer und Gemeinde sein, dem gefährdeten oder gefallenen Gemeindeglied gegenüber mit diesen Mitteln auszukommen und es auf diese Weise zur Erkenntnis seiner Sünden, zur Reue und Umkehr zu führen, damit es Vergebung der Sünden empfangen und einen neuen Anfang machen kann" 8 5 . Bei dieser konfessionell bedingten Akzentsetzung liegt aber nur ein Schulunterschied vor; auch die unierten Lebensordnungen kennen die Indienstnahme durch den usus theologicus legis des Wortes Gottes, so die Lebensordnung der EKU 8 6 und die im Anschluß an sie verfaßten „Ordnungen des kirchlichen Lebens" 8 7 wenn dies auch — gerade von J . Calvin her — stärker geschehen könnte. Diese Ordnungen wollen den einzelnen Christen wie die ganze Gemeinde und Kirche in ihrer Selbstsicherheit beunruhigen, die Fehler in Familie, Gemeinde und Beruf vor Augen halten, das Unterlassen oder falsche Verhalten anklagen und so mit zu einem Leben aus der Taufe rufen, d.h. zu einem Leben in täglicher Reue und Buße. Also auch durch die Ordnungen des kirchlichen Lebens und in deren Spiegel wird der Glaubende und die Gemeinde sich als Sünder erkennen. Nicht im moralisierenden Sinn ist dies gemeint; Sünde bedeutet ja die abgerissene Verbindung zu Gott, die abgrundtiefe Verworfenheit vor Gott und die eigene Verschlossenheit gegen Gott, weil man selbstsicher aus eigenem Bemühen heraus das zeitliche und ewige Heil sucht, den Sinn gefunden zu haben meint und doch dem Nichtigen, dem Stolz, der Begierde, dem Ungehorsam und der Abgötterei anhängt. Dem Ruf zur Buße und Umkehr will auch die Visitation und die Visitationsordnung dienen, nun aber weniger unter parochialem Gesichtspunkt wie die Lebensordnungen, sondern unter gesamtkirchlichem, also 84
Vgl. „Ordnungen und Kundgebungen der VELKD", hrsg. J. Frank — E. Wilkens, Berlin-Hamburg 1 9 6 6 2 , Β 5 0 2 , 2 . 85 Ebd., 2. 86 Ordnung des kirchlichen Lebens der Evangelischen Kirche der Union vom 6.5. 1955, Abschnitt VI. 87 Ordnung des kirchlichen Lebens der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau vom 11.1.1962, Vorspruch.
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weniger aus dem Blickwinkel des Gemeindegliedes und des Pfarrers als aus dem Blickwinkel der Kirchenleitung; in Verantwortung gegenüber der schriftgemäßen, bekenntnisgebundenen und gegenwartsorientierten Verkündigung und der rechten Verwaltung der Sakramente reformiert und leitet sie die Kirche durch den Ruf des Wortes Gottes zur Selbstprüfung. Im Neuen Testament ist häufig mit dem Besuchsdienst der Gemeinden der Wächterdienst und der Ruf zur Umkehr v e r b u n d e n 8 7 4 ; besonders die Sendschreiben der Offenbarung weisen darauf hin; so heißt es in dem Sendschreiben an die Gemeinde in Laodicea: „Ich strafe und züchtige alle, die ich liebhabe. So sei nun eifrig und tue Buße! Siehe, ich stehe an der Tür und klopfe an . . . " (Apk. 3,19f.). Dieser Wächterdienst der Visitatoren wird in den „Richtlinien der Bischofskonferenz über die Visitation" der VELKD vom 8.11.1963 direkt angesprochen: „1. In der Visitation wacht die Kirche durch Visitatoren darüber, daß das Wort Gottes schriftgemäß verkündigt wird, daß die Sakramente stiftungsgemäß verwaltet werden und sich daraus in den Gemeinden die Kirche Jesu Christi lebendig und vielgestaltig entfaltet." 88 Die schleswigholsteinische Ordnung für die bischöfliche Visitation vom Februar 1948 89 führt diesen Dienst am usus theologicus legis des Wortes Gottes noch näher aus; die Visitation soll dazu „helfen, daß die Verkündigung der Kirche in der Gemeinde zur Geltung kommt und von den Gliedern der Gemeinde als solche erkannt wird" 9 0 . Die Visitation hat aber auch zu prüfen, ob die Verkündigung in den Gemeinden auf die Gegenwart ausgerichtet ist . . ." 9 1 . Der Pfarrer und die Gemeinde muß sich bei der Visitation fragen lassen und in Frage stellen lassen, ob dieser Auftrag und Dienst der Verkündigung des Evangeliums recht erfüllt wird. In der Visitationspredigt, im colloquium fratrum und im Seelsorgegespräch mit den Visitatoren wird die Gemeinde zur Buße gerufen. Die Visitation soll dem Seelsorger der Gemeinde und der Gemeinde als ganzer die „Gelegenheit geben, selbst Seelsorge zu empfangen" 9 2 und d.h. im Spiegel der Visitation und ihrer Regelungen Buße zu tun für die nicht-schrift- und -gegenwartsgemäße Lehre in der Predigt und — damit verbunden — für das unordentliche Leben, den Ungehorsam gegen Gottes Gebote; Lehre und Leben gehören ja untrennbar zusammen. Weniger betont weist auch das ,.Muster" einer Visitationsordnung der Arnoldshainer Konferenz auf 87a
Apg. 20,17ff.; 2.Kor. 13,Iff.; 1. Thess. 3,5ff.; Hebr. 13. Ordnungen und Kundgebungen der VELKD, hrsg. J. Frank — E. Wilkens, Berlin-Hamburg 1966 2 , Β 140,1. 89 Kirchenordnung der evangelisch-lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins, hrsg. Göldner-Muus, 1973, IV D 020,Iff. «ο Ebd., IV D 020,1. «ι Ebd., IV D 020,2. 92 Ebd., IV D 020,2. 88
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den Dienst am Bußamt des Wortes Gottes hin, wenn sie Pfarrer und Mitarbeiter „zur Selbstprüfung" anleiten soll 93 Dogmatisch gesehen, korrespondieren die Lebens- und Visitationsordnungen in der Weise, daß sie einen Spiegel vorhalten wollen, der im Dienst der Verkündigung des Wortes Gottes kritisiert, richtet und anklagt, der Schwächen, Verfehlungen und Sünden aufzeigt; sie üben damit eine kritische, zur Umkehr rufende Funktion aus für die schriftgemäße und gegenwartsorientierte Verkündigung und die rechte Verwaltung der Sakramente, weiter für das christliche Leben in der Familie und Gemeinde, d.h. das gottesdienstliche Leben am Sonntag und im Alltag, im Beruf und in der Gemeindeverwaltung. Im Dienst am usus theologicus legis des Wortes Gottes stimmen sie überein; durch ihre verschiedene Perspektive bei demselben inhaltlichen und intentionalen Bezug — es handelt sich einmal um die partikularkirchliche, zum andern um die gesamtkirchliche — ergänzen sie einander als Bußordnung.
4.3.2.2. Im Dienst des Evangeliums
—
Liebesordnung
Die Gesetzespredigt, die die Sündenerkenntnis aufreißt, die zur Buße treibt, ist im eigentlichen auf den Zuspruch der Vergebung ausgerichtet, das Gerichtswort letztlich auf das Gnadenwort des Evangeliums. So heißt es andeutend schon in Ps. 30,6: „Sein Zorn währt einen Augenblick und lebenslang seine Gnade. Den Abend lang währt das Weinen, aber des Morgens ist Freude." Jahwe kennt die Reue, die Abkehr vom Zorn und die gütige Hinwendung zu den Menschen (Ex. 32,12,14; Am. 7,2; Jer. 18,8 usw.). Jahwe offenbart seine Verheißungen und seinen Willen den Menschen durch den Boten und Engel (Gen. 18,Iff.), durch den Kabod (Ex. 24,16ff.; Num. 20,6ff.); er verheißt das Heil (Jes. 41,17ff.) und sagt das Heil zu (Jes. 43,14ff.). Endgültig, einfürallemal (Rom. 11,29) offenbarte er seinen Heilswillen in Jesus Christus, dem Messias und Sohn Gottes, für die Menschen (Joh. 8,12; 11,25; 14,6 usw.). Jesu Ruf zur Buße und Umkehr 9 3 a ist somit nicht zu trennen von der Zusage der Sündenvergebung und dem Heilandswort 93b In Kontinuität und Diskontiniutät mit der Predigt Jesu verkündigt der Apostel Paulus nach Jesu Tod und Auferstehung, daß die urteilende und verurteilende Gesetzespredigt auf die Heilstat Jesu Christi am Kreuz hinweist (Gal. 3,24). Das Evangelium ist das Wort vom Kreuz (l.Kor. l,17f.); in der Muster einer Visitationsordnung vom 1 7 . 1 2 . 1 9 7 5 , Umdr. Nr. V / 1 4 / 7 6 , I, 4.1. »3a Mt. 1 l,20ff.; 13,Iff.; 13,24ff.; 23,13ff.; 24,45ff.; 2 5 , l f f . ; Lk. 19,41ff. » b Mk. 2, Iff.; Mt. 5,Iff.; 18,12ff.; Lk. 15,1 Iff.; J o h . 8 , 1 2 ; 10,11; 11,25; 14,6 u.a. 93
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Predigt von Christi Kreuz und Auferstehung wird den Sündern die Vergebung zugesprochen. Die Predigt vom Kreuz erweist sich als das Wort von der Versöhnung (2.Kor. 5,19ff.), das die Versöhnung predigt und die Versöhnung schenkt, weil in der Predigt des Evangeliums Jesus Christus selbst durch den heiligen Geist gegenwärtig wirkt. Was von der Predigt des Evangeliums gilt, ist auch von den Sakramenten zu sagen. In der Taufe wird der Mensch hineingenommen in Christi Tod und Auferstehung; er hat teil am neuen Leben in Christus (Rom. 6,1 ff.). In der eschatologischen Feier des Herrenmahls (1. Korr. l l , 2 6 f f . ) wird den Glaubenden in der Gemeinschaft der Kommunizierenden das Heil geschenkt: Vergebung der Sünden und neues Leben in der Gemeinschaft der Heiligen. M. Luther beschreibt das Gnadengeschenk des Evangeliums in „De servo arbitrio" wie folgt: „Zum andern, wenn es [das Wort Bekehren] in evangelischer Weise gebraucht wird, so ist es ein Wort des Trostes und der göttlichen Zusagung, dadurch nichts gefordert wird, sondern uns Gottes Gnade wird angeboten, wie auch das im 13. Psalm ist: Wenn der Herr die Gefangenschaft Zions wenden wird, und im 116. Psalm: Kehre dich wieder, meine Seele, in deine Ruhe Die Summa des Gesetzes ist, da er sagt: Bekehret euch zu mir. Die Summa des Evangeliums ist, da er sagt: Und ich will mich zu euch kehren." 9 4 In diesem Sinn beschreibt auch J . Calvin die Gabe des Evangeliums 95 Im Dienst der Verkündigung des Evangeliums und der Verwaltung der Sakramente üben nun die Lebens- und Visitationsordnungen ihre heilsame Aufgabe aus. Die Regelungen des gottesdienstlichen Lebens haben hier ihr Zentrum, wie ja auch ihre Abschnitte jeweils den Kern der kirchlichen Ordnungen darstellen. Zum Gottesdienst schreibt die Lebensordnung der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern vom 18.5.1966 in Abschnitt IV2 sehr schön: „Wo Gottesdienst gehalten wird, dient Gott uns Menschen. Wenn ,das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente dem Evangelium gemäß dargereicht werden', handelt der lebendige Herr selbst an seiner Gemeinde. Der Heilige Geist beruft, sammelt, erleuchtet, heiliget die ganze Christenheit auf Erden und erhält sie bei Jesus Christus im rechten, einigen Glauben Die Predigt ist kein Vortrag über religiöse Fragen. Sie ist die Verkündigung der Botschaft von Jesus Christus . . . Der Kern dieser Botschaft ist die Vergebung der Sünden. Sie ist deshalb die Mitte des Gottesdienstes, der Wortver94
M. Luther, Vom unfreien Willen, übersetzt von Fr. Gogarten, 142; ebenso: Bo Α III, 174,3ff. 95 J. Calvin, Institutio christianae religionis II 4, übersetzt und bearbeitet von O. Weber, Neukirchen 1955, 207f.
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kündigung und der Feier des Altarsakraments." 9 6 Wie in der Predigt des heilschaffenden Evangeliums, so schenkt Jesus Christus auch im Abendmahl den Trost des Evangeliums; „im Heiligen Abendmahl hält der auferstandene und erhöhte Herr bis zu seiner Wiederkunft mit seiner Gemeinde leibhaftig Gemeinschaft. Wie er sich während seines Erdenlebens mit den Sündern zu Tische setzte, so hält er im Heiligen Abendmahl Tischgemeinschaft mit den Gliedern seiner Gemeinde. Er macht jeden, der die Gabe seines Leibes und Blutes im Glauben empfängt, durch die Vergebung der Sünden seiner gnädigen Gegenwart froh und gewiß". Und die Gnadengabe betonend, fährt die bayerische Lebensordnung fort: „Diese Gabe ist, wie Luther sagt, ein Trost der Betrübten und eine Arznei der Kranken, ein Leben der Sterbenden, eine Speise der Hungrigen und ein reicher Schatz aller Bedürftigen und Armen." 9 7 So schenkt der lebendige Christus seine Gnade der gottesdienstlichen Gemeinde in der Predigt und im Herrenmahl zu einem neuen Leben aus der Vergebung der Sünden und zu neuer Hoffnung im Alltag. Die der gottesdienstlichen Gemeinde am Sonntag immer wieder neu geschenkten Gnadengaben werden dem Täufling bei der Aufnahme in die christliche Gemeinde zuteil. „Der auferstandene Herr hat die Taufe zu einem Mittel seiner Gnade bestimmt, durch das er die Menschen aus ihrer Verlorenheit rettet und ihnen Anteil an seiner Erlösung gibt", sagt die VELKD-Lebensordnung treffend in Abschnitt II 98 ; entsprechend heißt es in der badischen Lebensordnung: „In der Heiligen Taufe nimmt der Dreieinige Gott selbst den Menschen an sich, löst ihn vom Fluch der Sünde und des Todes, wendet ihm als seinem Kinde alle guten Gaben zu und gliedert ihn seiner Gemeinde ein." 9 9 Die Gabe der Taufe, d.h. die Hineinnahme in Christi Tod und Auferstehung, ist der Grund des christlichen Lebens; aus der Taufe leben wir, zu ihr kehren wir zurück in täglicher Reue und Buße und im täglichen Neubeschenktwerden durch die Vergebung der Sünden allein aus Gnaden. Denn in der Beichte spricht der Beichtiger dem Beichtenden im Auftrag Christi mit dem „Ego te absolvo" die Sündenvergebung zu. „Die Vergebung wird uns in der Beichte zugesprochen. Hier ist Hilfe für Menschen, die unter ihren Sünden leiden und neu anfangen wollen. Es geht in der Kirche um dies eine: Daß wir durch den Heiligen Geist unsere Sünde und Schuld erkennen, sie aussprechen und Gottes Vergebung begehren: ,Darin besteht ein christliches
96 Vgl. G.-A. Vischer (Hrsg.), Neuere Rechtsquellen für die evangelisch-lutherische Kirche in Bayern, 18. 9' Ebd., 29. 98 Vgl. Lutherische Generalsynode 1974, 5 6 6 . 99 H. Niens (Hrsg.), Das Recht der evangelischen Landeskirche Baden, Karlsruhe 1966, 32,1.
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Wesen, daß ich meine Sünden erkenne und Vergebung empfange' (Luther)" schreibt hierzu treffend die bayerische Lebensordnung 1 0 0 . Die Beichte mit dem Sündenbekenntnis und der Absolution nimmt dabei unter eschatologischem Gesichtspunkt das endgültige Gericht Gottes im Leben des Glaubenden voraus und ist zugleich der Hinweis auf das endgültige Gericht, von dem das Leben jetzt schon umschlossen ist. So wird der Christ nach der Lebens- undiauch nach der Visitationsordnung 1 0 1 im Gottesdienst, d.h. in der gottesdienstlichen Gemeinschaft mit der Predigt und dem Herrenmahl, in der Taufe und der Beichte auf seinem Weg dem entgegenkommenden Herrn entgegen mit den Gnadengaben beschenkt: der Sündenvergebung, dem neuen Leben in christlicher Freiheit, der Verheißung der ewigen Seligkeit. In diesem Dienst am Evangelium werden die Lebens- und Visitationsordnungen Liebesordnungen·, in Gottes gnädiger Liebe haben sie ihren Grund, auf sie sind sie bezogen.
4.3.2.3. Im Dienst der Paraklese —
Erneuerungsordnung
Die Zusage und das Geschenk des Heils in Jesus Christus ist nun nicht zu trennen von der Paraklese, dem Gebot. Die alttestamentlichen Bestimmungen in den verschiedenen Gesetzeskorpora haben ihren Grund in Jahwes Zuwendung zu seinem Bundesvolk. Jahwe offenbart sich am Sinai, um Mose den Dekalog mit dem Bundesbuch zu geben (Ex. 20); Jahwe erscheint im Kabod, in seiner Herrlichkeit, um die Israeliten mit dem Priestergesetz zu beauftragen (Ex. 25 bis Num. 10); ähnliches gilt dann für das Heiligkeitsgesetz (Lev. 17 bis 26). Die parakletische Struktur des Gesetzes ist vor allem im Deuteronomium ausgebildet. Wie G. v. Rad 1 0 2 herausgearbeitet hat, liegt der „Sitz im Leben" des Deuteronomiums wie auch des Dekalogs im Bundeserneuerungsfest in Sichern; auf diesem Fest wurden die Rechtssatzungen und Gebote vor der Bundesverpflichtung und der Verkündigung von Segen und Fluch verlesen. Als Beispiel für die Paränese des Deuteronomiums sei auf Kapitel 20,1 f. verwiesen. Das Gesetz Jahwes wird hier — im Gegensatz zur spätjüdischen Vergesetzlichung — als heilsamer Gotteswille verstanden. So konnte auch 100 Vgl. G.-A. Vischer (Hrsg.), Neuere Rechtsquellen für die evangelisch-lutherische Kirche in Bayern, 23f. ιοί Vgl. Richtlinien der Bischofskonferenz über die Visitation vom 8.11.1963, 1,2, 3,9; Muster einer Visitationsordnung vom 17.12.1975, I 2; I 3; I 5. 102 G. v. Rad, Das formgeschichtliche Problem des Hexateuch, in: Gesammelte Studien zum Alten Testament, München 1965 3 , 28ff.; Ebenso: G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments I, München 1962 4 , 232ff.
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Jesus von Nazareth — bei einer Diskontinuität zur starren, selbstsicheren Gesetzlichkeit des Spätjudentums (Mk. 2,23ff.; 3 , I f f . ; Mt. 5,22,27,33,39) die gute Gabe des Gesetzes Gottes verkündigen. „Meinet nicht, daß ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis der Himmel und die Erde vergehen, wird nicht ein einziges J o t a oder Strichlein vom Gesetz vergehen", predigt J e s u s auf dem Berg der Seligpreisungen. Kern dieses Gesetzes ist das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe (Lk. 10,26ff.; J a k . 2 , 8 f f . ) 1 0 3 , das auch das Alte Testament kennt (Dt. 6,5f.). Im Johannesevangelium wird es als das „neue G e s e t z " verstanden Q o h . 13,34), weil es in Christi T o d und Auferstehung seine Erfüllung fand und weil das Liebesgebot in der Liebe J e s u Christi zu den sündigen und marginalisierten Menschen den Realgrund und das Kraftzentrum hat (l.Petr. l , 1 9 f f . ) . Von diesem Liebesgebot schreibt auch der Apostel Paulus, wenn er von dem „Gesetz der Freiheit" (Gal. 5 , I f f . ) spricht, also von dem Gesetz, das vom heiligen Geist seine Kraft hat und in der Liebe J e s u Christi seinen Grund; in der visitatorischen Ordnung von l . K o r . 13 findet es seine konkrete Ausprägung 1 0 4 Die Predigt des Evangeliums mit dem Gebot, Früchte des Glaubens zu bringen, hat seine strukturelle Entsprechung in der Aufforderung zu einem Leben aus den Sakramenten. Die Taufe ist der Grund und die Gabe des christlichen Lebens, hier hat das Gebot Geltung, aus der Taufe in einem neuen Leben zu wandeln (Rom. 6,4), d.h. in ständiger Reue und Buße Früchte des Glaubens als gute Werke hervorzubringen (Tit. 3,4ff.). Das Herrenmahl wiederum ist der Grund des christlichen Lebens in der Gemeinschaft der Heiligen, die in der Hoffnung auf die endgültige Vollendung in der Gemeinschaft mit J e s u s Christus jetzt schon lebt. Das Leben mit dem Herrenmahl ist das Leben im Dienst und Opfer (Rom. 12,1); denn vom Opfer und Dienst J e s u Christi her lebt der Christ im alltäglichen Gottesdienst. Sein Leben als Christ im Alltag ist der vernünftige Gottesdienst, in dem Werke der Liebe, des Geistes und der Freiheit, also Werke des Glaubens, gebracht werden. In der Predigt, in der Taufe, im Herrenmahl schenkt Gott durch den heiligen Geist die Gnade, Werke des „Gesetzes Christi" zu tun ( l . K o r . 15,10); „darum, meine Geliebten", schreibt Paulus in Phil. 2 , 1 2 f . l o s , 1 0 3 G. Bornkamm, Das Doppelgebot der Liebe, in: Neutestamentliche Studien für R. Bultmann zum 70. Geburtstag, BZNW 21, 1954, 8 5 f f . ; Chr. Burchard, Das doppelte Liebesgebot in der frühen christlichen Überlieferung, in: Der R u f J e s u und die Antwort der Gemeinde, hrsg. E. Lohse, Göttingen 1970, 3 9 f f . 1 0 4 G. Harbsmeier, Das Hohelied der Liebe, B S t 3, Essen 1952, 11. 1 0 5 G. B o m k a m m , Der Lohngedanken im Neuen Testament, in: Studien zu Antike und Urchristentum, München 1959, 6 9 f f .
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„wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, so mühet euch nicht nur wie in meiner Anwesenheit, sondern weit mehr jetzt in meiner Abwesenheit um euer Heil mit Furcht und Zittern"; und die paradoxal 1 0 6 angeschlossene Begründung dieses Imperativs lautet dann: „Denn Gott ist es, der in euch sowohl das Wollen als das Vollbringen wirkt." Das Leben aus dem Glauben, die Werke des vernünftigen Gottesdienstes haben also Bedeutung für das Heil oder Unheil der Menschen; das Neue Testament weiß um das Gericht nach den Werken des Glaubens oder Unglaubens 1 0 6 3 . Die Werke des Glaubens aber sind begleitet von der Hoffnung auf die Gemeinschaft mit den Menschen desselben Glaubens und weiter mit allen Menschen und auf die Gemeinschaft mit Gott. Die neutestamentliche Paraklese bildet einen wichtigen Aspekt in der Gesetzes- und Evangeliumspredigt M. Luthers. In „De servo arbitrio" schreibt er: „Das ganze Neue Testament hält nichts anderes in sich, denn tröstliche göttliche Zusage und freundliche Ermahnung Das andere Stück im Neuen Testament sind Ermahnungen, dadurch wir, wenn wir durch den Glauben und Christus fromm geworden sind, ermahnt werden, daß wir reich, wacker seien und eifern in guten Werken, die Frucht des Geistes zu beweisen, Liebe dem Bruder zu erzeigen, Anfechtung, Kreuz und Unglück der Welt willig, geduldig und freudig zu tragen, das ist die Summe des ganzen Neuen Testaments." 1 0 7 Es sind Früchte des Glaubens, gewachsen aus der christlichen Freiheit und gestützt vom usus practicus evangelii des Wortes Gottes. Auch für den Theologen, der die Rechtfertigung allein aus Gnade ohne die Werke des Gesetzes als Kern christlicher Botschaft erkannte, M. Luther, stehen die Werke des Menschen unter dem eschatologischen Urteil von Lohn und Strafe; die Rechtfertigung und Heiligung oder die Rechtfertigung und Erneuerung durch den heiligen Geist schließt das Gericht nach den Werken nicht aus. M. Luther schreibt dazu weiter in „De servo arbitrio": „Die aber willig und mit Lust Böses tun als die Gottlosen, oder mit Willen und Lust Gutes tun als die Christen, wiewohl sie den Willen aus ihren Kräften nicht ändern können, so folget aus Art und Natur ihrer Werke der Lohn oder die Strafe, wie geschrieben steht: Du wirst einem jeden nach seinen Werken geben Denn so der freie Wille von sich selbst nicht kann Lust haben zum Guten und hat allein Lust zum Guten durch die Gnade (denn wir reden hier vom freien Willen, die Gnade ausgeschlossen, was er aus eigener Kraft vermag), so sehen wir, daß allein die Gnade die Lust und den 106 M. Plathow, Das Problem des concursus divinus, Göttingen 1976, 194ff. 106a Lk. 19,15ff.; Mt. 25,31ff.; l.Thess. 5 , l f f . usw. 107 M. Luther, Vom unfreien Willen, übersetzt von Fr. Gogarten, 160f.; ebenso: Bo A III, 185,22ff.
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Willen macht zum Guten, derhalben ist auch das Verdienst und Belohnung nicht des freien Willen, sondern der Gnade." 1 0 8 Ganz im Sinn der biblisch-augustinischen 109 Tradition verbindet M. Luther hier die in der Paraklese gebotenen Gnadenwirkungen des Glaubens mit dem Gericht nach den Früchten des Glaubens, die als Werke des Glaubenden zugleich Wirkungen der Gnade Gottes sind. Diesem göttlichen Gebot der Paraklese dienen die Lebens- und Visitationsordnungen, und zwar — entsprechend der Orientierung des mahnenden Gebots Gottes auf die Heiligung und Erneuerung der Glaubenden durch den heiligen Geist hin — als Erneuerungsordnung. Aufs ganze gesehen, akzentuiert M. Luther in seiner Worttheologie mit der Zuordnung von Gesetz und Evangelium stärker den usus theologicus legis 110 , J. Calvin demgegenüber mehr die Paraklese oder — wie er sagt — „die dritte Anwendung des Gesetzes" 1 1 1 ; sie ist der „wichtigste" 1 1 2 Gebrauch des Wortes Gottes. Der tertius usus legis gilt den „Gläubigen, in deren Herz Gottes Geist bereits zu Wirkung u n d Herrschaft gelangt ist" 1 1 3 . Er dient einmal der Erkenntnis des Willens Gottes, zum andern der Ermahnung. „Eines solchen Antriebs bedürfen die Heiligen durchaus; denn sie mögen zwar nach dem Geiste mit noch solchem Eifer nach der Gerechtigkeit Gottes sich ausstrecken — es belastet sie doch immer noch die Trägheit des Fleisches, so daß sie nicht mehr mit der erforderlichen freudigen Bereitwilligkeit ihren Weg gehen!" 1 1 4 . Bei der alttestamentlichen Heilsgeschichte anknüpfend, gibt Calvin dann folgende biblische Begründung für den dritten Gesetzesbrauch: „Sicherlich dachte David an diese (dritte) Anwendung des Gesetzes, wenn er schrieb: ,Das Gesetz des Herrn ist vollkommen und erquickt die Seele die Befehle des Herrn sind richtig und erfreuen das Herz; die Gebote des Herrn sind lauter und erleuchten die Augen . . . ' (Ps. 19.8f.). Oder auch: ,Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege' (Ps. 119,105) und unzählige andere Worte in diesem ganzen (119.) Psalm." 1 1 5 In Kontinuität mit dem Alten Testament stellt für Calvin der tertius usus legis 108
Ebd., 162f.; ebenso: Bo Α III, 1 8 6 , 2 9 f f . Vgl. u.a. Au. Augustin, De gratia et libero arbitrio 12, 14, 15, 18, 20, 4 3 usw., in: Au. Augustinus, Schriften gegen die Semipelagianer, hrsg. A. Kunzelmann, A. Zumkeller, Würzburg 1955, 76ff. no Vgl. W. Joest, Gesetz und Freiheit, Göttingen 1 9 6 1 3 , 72, 78ff. 109
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J. Calvin, Institutio christianae religionis, übersetzt und bearbeitet von O. Weber, Neukirchen 1955, 2 1 3 . Ebd., 213. 113 Ebd., 213. •M Ebd., 213. n s Ebd., 213.
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dann im Neuen Testament das „neue Gesetz" für die Christen dar. Die Erfüllung seiner Gebote durch das Wirken des heiligen Geistes hat eschatologische Bedeutung über Heil und Unheil, über die Gemeinschaft mit und die Trennung von Gott. Gerade von der Worttheologie J . Calvins, aber auch vom Neuen Testament her stellt sich an M. Luther die bekannte Frage, ob er die Paraklese in der untrennbaren Verbindung mit seiner Gerichts- und Evangeliumspredigt und in dem eschatologischen Bezug auch als tertius usus legis bezeichnet und verstanden hat. Unter historischem Gesichtspunkt wird man nach den Forschungsergebnissen von W. Eiert 1 1 6 mit der Differenzierung von G. Ebeling 1 1 7 festhalten müssen, daß M. Luther den Ausdruck tertius usus legis in seinem Werk — also auch in der zweiten Antinomerdisputation — nicht kennt. Ob M. Luther inhaltlich zu ähnlichen Überlegungen tendiert, ist eine sehr schwierige Frage. In der gegenwärtigen Lutherforschung ist man mit den skandinavischen Theologen R. Bring 1 1 8 und L. Pinomaa 1 1 9 der Ansicht, daß M. Luther den tertius usus legis im Sinn von Ph. Melanchthons Loci Theologici von 1535 120 und besonders von 1559 121 nicht akzeptiert 1 2 2 . Allerdings gibt es nun bei dieser Übereinstimmung auch verschiedene Meinungen und Ausdeutungen. P. Althaus etwa schreibt in „Die Theologie Martin Luthers": „Er (der Christ als neuer Mensch) bedarf nicht mehr sein (des Gesetzes) Mahnen und Fordern als Motiv für sein Tun und Lassen; denn vom Geist Gottes bewegt, tut er von selbst das, was das Gesetz will" 1 2 3 ; somit braucht der Christ keine besonderen Vorschriften. Zugleich aber macht für P. Althaus Luther eine Einschränkung dahingehend, daß nicht jeder Christ so mit dem heiligen Geist begabt ist, daß er ganz ohne Vorschriften als wahrer Christ zu leben vermag; „Luther spricht hier nicht von dem ,Gesetz', sondern von den apostolischen ,Geboten' (mandata) nach dem Sprachgebrauch des Neuen Testaments. Aber gemäß seinem weiten Begriff des Gesetzes sind auch die neutestamentlichen Gebote .Gesetz'. Dann ist also auch der Christ als 116 W. Eiert, Eine theologische Fälschung zur Lehre vom tertius usus legis, in: Zeitschrift fur Religions- und Geistesgeschichte, 1, 1948, 168ff. 117 G. Ebeling, Zur Lehre vom triplex usus legis in der reformatorischen Theologie, in: Wort und Glaube I, Tübingen 1962 2 , 50, Anm. 2. 118 R. Bring, Gesetz und Evangelium und der dritte Gebrauch des Gesetzes in der lutherischen Theologie, Helsinki 1943. 119 L. Pinomaa, Der existentielle Charakter der Theologie Luthers, Annales Academiae Sententiarum Fennicae, Serie B, Bd. 47, Helsinki 1940. '20 CR 21,405 f. 121 CR 21,716ff. i " BSELK 793,Iff. 123 P. Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 1972 3 , 236.
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neuer Mensch noch auf das Gesetz angewiesen." 1 2 4 Die Gebote haben vor dem Geschenk der Rechtfertigungsgnade als usus theologicus legis die Bedeutung eines Spiegels zur Erkenntnis der Sünde; aber auch nach der Rechtfertigung sind die Vorschriften eine „nötige und heilsame Unterweisung über die .guten Werke'" 1 2 5 . Auch nach dem Geschenk der Rechtfertigung behält das Gebot damit Gesetzesqualität; es ist usus legis. Demgegenüber stellt W. Joest in der Studie „Gesetz und Freiheit" heraus, daß für Luther die Freiheit vom Gesetz keine Gesetzlosigkeit bedeutet, sondern ein „Liebhaben des Gesetzes" 126 . Es ist jedoch diese lex, die der Christ liebhat und erfüllt, von der lex, die den Sünder verklagt und richtet, „durch den Abgrund einer völligen Umkehrung des Gottesverhältnisses geschieden" 1 2 7 . Dieser Abgrund ist der Unterschied von Gesetz und Evangelium. Für den gerechtfertigten und erneuerten Menschen haben darum nur die Gebote des Evangeliums Geltung; sie sind Paraklese, usus practicus evangelii 128 . In dieser Evangeliumsqualität des Gebotes liegt nach W. Joest auch das Fundament für eine „positiv-evangelische Aufrichtung des Gebotes Gottes über allen Bereichen praktischer Lebensordnung" 1 2 9 . Dieser Grundgedanke läßt sich von G. Ebelings Lutherforschungen ausweiten, die er in dem Aufsatz „Zur Lehre vom triplex usus legis in der reformatorischen Theologie" dargelegt hat; unter Gesetz versteht M. Luther nach G. Ebeling nicht „eine statutarisch geoffenbarte Norm", sondern „die Wirklichkeit des gefallenen Menschen" 13°. Der gerechtfertigte Sünder lebt im Wirklichkeitsbereich des neuen Menschen von der Gnade Gottes; er lebt in der iustitia coram deo. Doch bleibt nun auch der Gerechtfertgite, der pius, ein simul peccator et iustus. Als peccator steht aber der pius, der Glaubende, in der Wirklichkeitsrelation des sündigen und gefallenen Menschen unter der Anklage des usus theologicus des Wortes Gottes und unter dem usus civilis legis. Dem iustus et pius gilt die Evangeliumspredigt mit ihren Mahnungen und Geboten 131. Der geEbd., 236. Ebd., 237. 12 « W. Joest, Gesetz und Freiheit, Göttingen 1961 3 , 132. 127 Ebd., 133. 12 « Ebd. 132. 12 » Ebd., 198. 130 G. Ebeling, Zur Lehre vom triplex usus legis in der reformatorischen Theologie, in: Wort und Glaube I, Tübingen 1962 2 , 64f. 131 Ebd., 67f.: „Bei der Ablehnung dessen, daß Luther den tertius usus legis im Sinne Melanchthons gelehrt hat, wird dies immer übersehen, wie das Gesetz im usus theologicus am impius und am pius wirkt und wie es diesem und jenem zu predigen ist. Hier greift die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium ein in die Lehre vom usus legis. I!ier ,.ann Luther so überraschende Aussagen machen wie: „Sic christianis 125
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rechtfertigte Sünder, der im Wirklichkeitsbereich des neuen Menschen lebt, steht damit nicht unter dem Gesetz; ein tertius usus legis des Wortes Gottes kann darum keine Bedeutung mehr für ihn haben. So zeichnet G. Ebeling die verschiedenen Funktionen des Gesetzes in der Predigt von Gesetz und Evangelium auf, die an den simul peccator et iustus, den gerechtfertigten Sünder gerichtet sind. Dem tertius usus legis für die Gerechtfertigten erteilt G. Ebeling aus historischen und theologischen Gründen bei Luther die Absage. Nach der Rechtfertigung gilt die „milde Vermahnung" als Form des Evangeliums. L. Haikola knüpft in seiner Studie „Usus legis" 132 bei diesem Verständnis der Paraklese bei M. Luther an. Sich an G. Ebelings Forschungsergebnisse anschließend, schreibt er: „Der erörterte Gegensatz zwischen dem verdammenden Gesetz vor und dem ermahnenden Gesetz nach der Rechtfertigung bedeutet somit nur einen Spezialfall der rechten Scheidung zwischen Gesetz und Evangelium." 133 Haikola konkretisiert anschließend das christliche Leben unter dem Zuspruch des Evangeliums, wobei er gerade M. Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen" mitheranzieht; er schreibt: „Gilt vom Menschen im Glauben, daß er von allen Werken frei ist, so gilt dagegen in der Liebe von ihm, daß er an alle Werke gebunden ist." 134 Subjekt dieser Werke der Liebe ist der heilige Geist, der in und durch den Glaubenden wirkt. Von dieser geistgewirkten Liebe aber ist zu sagen, daß sie „die Linie der Freiheit weiterverfolgt" 135 ; d.h. aber, daß sie die natürliche Billigkeit übertrifft und in eigener Prävalenz überholt. Denn das Handeln der Christperson „ist mehr als das gewöhnliche ,bürgerliche' Handeln" 136 . „Wenn man mit der Lehre vom usus tertius legis nur meint, daß die Ethik des Christen als eines neuen Menschen, sowohl in der Gesinnung wie im Handeln, viel mehr ist als das gewöhnlich bürgerliche' Handeln im Amt und unter dem Zwang des Amtes, so steht diese Lehre in Übereinstimmung mit den Intentionen Luthers Gerade weil die christliche Liebe mehr hat und mehr tut als irgendeine Gesetzesordnung fordert, ist es ihm ein Anliegen, das freie Recht der Liebe zum Zerquidem docetur lex, sed cum aliqua praerogativa" (WA 39 I, 513f.). „Lex est iam valde mitigata per iustificationem Ante iustificationem regnat et terret omnes, quos tangit. Sed non sie docenda lex piis, ut arguat, damnet, sed ut hortetur ad bonum Itaque lex illis mollienda est et quasi exhortationis loco docenda" (WA 39 I, 4 7 4 , 8 - 4 7 5 , 6 ) " . L. Haikola, Usus legis, Lund 1958, 141f. »» Ebd., 142. 134 Ebd., 144. « s Ebd., 149. «6 Ebd., 151.
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brechen gegebener und zum Aufstellen neuer Gesetzesordnungen zu betonen." 1 3 7 In der Ablehnung des tertius usus legis, also jeder irgendwie gesetzhaften Bestimmung für den Glaubenden, bei M. Luther stimmen die Lutherinterpreten überein; eine gewisse Ausnahme stellt P. Althaus dar; W. Joest wiederum erkennt eine Entsprechung des usus practicus evangelii zum tertius usus legis. G. Ebeling und L. Haikola insistieren mit aller Entschiedenheit, daß der Glaubende als der iustus allein aus dem Evangelium lebt und vom Gebot des Evangeliums her die „milden Vermahnungen" für sein Tun bekommt. Sie gebieten Werke der Liebe, die durch den heiligen Geist getan werden; sie gebieten Früchte des Glaubens als Werke christlicher Freiheit; sie gebieten ein christliches Handeln, das das „bürgerliche" Verheilten dem Inhalt und der Intention nach übertrifft und überholt. M. Luther und J . Calvin kennen also gemeinsam den Gebotscharakter des Wortes Gottes, wobei Calvin ihn als den „wichtigsten" Aspekt ansieht. In Kontinuität mit dem alttestamentlichen Gesetz (Ps. 1) versteht er die Paraklese als tertius usus legis, als geistliches Gesetz, aber eben — theologisch gesehen — mit Gesetzesqualität. M. Luther jedoch erkennt im Gebot Gottes das milde Gebot des Evangeliums nach der Überwindung der Macht des Gesetzes durch Jesus Christus in der Rechtfertigung des Sünders. In diesem Sinn hat das Gebot Gottes bei M. Luther die Wurzeln in der neutestamentlichen Paraklese, die den Grund im Erlösungswerk Christi, in seinem Tod und seiner Auferstehung hat, also im Indikativ des „neuen Gesetzes" als Imperativ. Die Lebens- und Visitationsordnungen stehen im Dienst des Gebotes des Wortes Gottes; so kann W. Joest am Schluß seiner Studie schreiben: „Unter dieser Bedingung aber sehen wir den Weg frei zu einer positivevangelischen Aufrichtung des Gebotes Gottes über allen Bereichen praktischer Lebensordnung im Einklang sowohl mit Luther als mit der Heiligen Schrift." 1 3 8 In der Gegenwart wird die mehr calvinische Tradition, die für dieses Thema in der Formula Concordiae, Epitome VI ihre Entsprechung hat, beim theologischen Verständnis der Lebensordnung von G. Wendt repräsentiert 1 3 9 ; er charakterisiert die Lebensordnung der VELKD vom 27.4.1955 im dogmatischen Sinn als Liebesordnung in ihrer Dienstfunktion zur Paraklese. Das bedeutet, daß die Lebensordnungen im Dienst der Erneuerung und Heiligung der Gemeinde durch den heiligen Geist Ebd., 152. W. Joest, Gesetz und Freiheit, Göttingen 1 9 6 1 3 , 198. 139 G. Wendt, Zur kirchenrechtlichen Problematik der Ordnung kirchlichen Lebens, ZevKR 10, 1 9 6 3 / 6 4 , l O l f f .
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stehen. Die „Ordnung des kirchlichen Lebens" der V E L K D drückt diesen Gedanken treffend im Vorwort aus, wenn sie schreibt: „Sie ist kein Gesetz, dessen Erfüllung uns vor Gott rechtfertigt Aber wo die Ordnung im Glauben und in der Liebe Christi, der das neue Leben aus Gottes Geist schenkt, geübt wird, kann sie dazu dienen, daß Gottes Wort Kirche und Gemeinde, unser Haus und unser persönliches Leben heiligt." Nur und allein im geistlichen Gebrauch ist diese Lebensordnung wirklich Erneuerungsordnung im Dienst der Heiligung. Den epikletischen Charakter 140 der Lebensordnung hebt die „Ordnung des kirchlichen Lebens" der EKU noch stärker hervor, indem sie am Ende des Vorspruchs dazu auffordert, „diese Ordnung im Vertrauen auf den Beistand des Heiligen Geistes zur Ehre Gottes und zum Segen der Gemeinde zu gebrauchen". Konkret geschieht dies dadurch, daß die Lebensordnung dazu beiträgt, „das Leben in Familie, Beruf und Gemeinde nach dem Willen Christi zu gestalten" 141 , und indem sie dazu hilft, daß die „geistlich geordnete Gemeinde" 1 4 2 helfend und ordnend in die Welt hineinwirkt. Sie enthält weiter die indikativisch oder Imperativisch strukturierten Anweisungen und Regelungen zu einem gottesdienstlichen Leben am Sonntag und im Alltag, d.h. im Haus und in der Nachbarschaft, in der Gemeinde und im Beruf, in der Parochialgemeinde inmitten der ökumenischen Kirche und in der Welt, Die Lebensordnung der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern vom 18.5.1965 in der Fassung vom 19.3.1971 sagt im Abschnitt IV,8 hierzu: , Jeder Gottesdienst in Kirche und Haus hilft den Christen dazu, ein Leben nach Gottes Willen zu führen. Unser Christsein wird unglaubwürdig, wenn im Leben nichts davon sichtbar wird. Denn in Arbeit und Beruf, in Ehe, Familie und Gesellschaft sollen wir Gott dienen und seine Zeugen sein", wobei kein Lebensbereich davon ausgenommen ist. Anweisungen und konkrete Handreichungen für das geistliche Leben in der Familie werden gegeben; sie enthalten Gebote für den Dienst und die Fürbitte für den nahen und fernen Nächsten; sie weisen die Richtung für die Beteiligung am missionarischen, diakonischen und ökumenischen Gesamtauftrag der Kirche I43 , sie ermuntern zum Zeugendienst im Haus, in der Gemeinde und im Beruf. Das Leben in der Hausgemeinde, in der Parochialgemeinde und in der ökumenischen Gemeinde ist nicht voneinander zu trennen, ebenso Sonntags- und Alltagsgottesdienst, Mission, Spiritualität und Diakonie.
140 W. Maurer, Die rechtliche Problematik der Lebensordnungen in der EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands, Z e v K R 3, 1953/54, 225ff.
„Ordnung des kirchlichen Lebens" der V E L K D vom 27.4.1955, Vorwort. „Ordnung des kirchlichen Lebens" der E K U vom 6.5.1955, Vorspruch. 143 Vgl. hierzu auch die breiten Ausführungen der „Ordnung des kirchlichen Lebens" von Hessen-Nassau vom 11.1.1962. 141
142
144
So konkretisieren die Lebensordnungen als Erneuerungsordnungen die Mahnungen, Gebote und Richtlinien; geistlich gebraucht, stehen sie im Dienst der Paraklese.
4.3.2.4. Im Dienst der Wahrheit —
Bekenntnisordnung
Die Anweisungen und Mahnungen der Lebensordnungen können im usus spiritualis spontan und je neu gebraucht oder auch kontinuierlich angewandt werden; die Anweisungen wirken dann als Handreichungen und Regeln ordnungs- und sittenbildend. Der heilige Geist selber wirkt ja spontan in den Charismen und ebenfalls in den kontinuierlichen Diensten und Strukturen. Dabei können vorgegebene Formen und Strukturen vom heiligen Geist übernommen, aber auch verändert und zerbrochen werden. Am israelitischen Festkalender und an den Speisegewohnheiten mag die Kontinuität und Diskontinuität kurz verdeutlicht werden. Im 16. Kapitel des Deuteronomiums, also innerhalb der Schrift, die typologisch die Paraklese vorausnimmt, werden die Gebote für die Gestaltung des Mazzotfestes, des großen Herbstfestes und des Laubhüttenfestes gegeben. Es handelt sich dabei um drei kanaanäische Feste, die die Israeliten bei der Landnahme vorfanden und mit ihrem Seßhaftwerden übernahmen 144 . Dabei wurden die agrarischen Feste der Kanaanäer in ihrer inhaltlichen Ausrichtung verändert vom heilsgeschichtlichen Glauben Israels: am Fest zu Beginn der Gerstenernte wurde an den Exodus aus Ägypten gedacht; am Laubhüttenfest, dem vermutlichen Bundeserneuerungsfest in Sichern, feierten die Israeliten die Mitteilung der Thora an Mose und den Bundesschluß Jahwes mit Israel; in Erinnerung an die Wüstenwanderungszeit lebten die Israeliten dann 7 Tage in Laubhütten. Der kanaanäische Festzyklus mit seinen Kulten wurde vom Glauben an Jahwe, der sein Volk aus Ägypten errettete und mit der Gabe des Gesetzes zu seinem Eigentumsvolk erklärte, verändert. Assimilation an die äußeren Formen und Strukturen, verbunden mit der inhaltlichen Umformung durch den Jahweglauben, charakterisieren den Vorgang. Bei den Speisegewohnheiten ist die Diskontinuität mit den einheimischen Kultgerichten festzustellen; wie Dt. 14,3ff. zeigt, galten die alten Speiseregeln der Kanaanäer aber auch die der umliegenden Völker als unrein; sie wurden scharf abgelehnt. Trennung und Scheidung sowie das Zerbrechen der alten Sitten ist hier charakteristisch. Dieser theologische und geschichtliche Vorgang im Alten Testament hat im Neuen Testament seine Entsprechung. Jesus selbst lebte einerseits 144
G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments II, München 1 9 6 5 4 , 113.
10 Plathow, Lehre
145
innerhalb der rechtlichen und sittlichen Regeln seiner Zeit und seines Volkes; er wollte das Gesetz nicht auflösen (Mt. 5,17), er hielt sich an den jüdischen Festkalender (Mk. 14,12ff.), er war Bürger (Mt. 17,24f.), er hielt sich an die gesellschaftlichen Ordnungen (Mt. 15,23; Mk. 12,13f.); zugleich besaß er eine große Freiheit gegenüber den Konventionen und Bestimmungen 144 ®; über Sittenordnungen und Gesetze konnte er sich frei hinwegsetzen, selbst wenn sie religiöse Bedeutung besaßen 1 4 4 b . Das ist besonders dann der Fall, wenn es um die Verwirklichung der Gottesund Nächstenliebe geht (Mk. 3,Iff. usw.) oder wenn es auf die Verschärfung und Überholung der Gesetzeserfüllung durch die Liebe zum Nächsten ankommt. Auch die frühchristliche Gemeinde stellte sich von ihrer Glaubenshoffnung an das unmittelbar hereinbrechende Reich Gottes mit seinen gottesdienstlichen Feiern und seinen Lebensordnungen außerhalb, ja, gegen die damaligen Konventionen und Regeln in der Gesellschaft: früh am Morgen trafen sich die Christen zum Gottesdienst mit der Feier des Herrenmahls, sie verkauften ihren Besitz und übten Gütergemeinschaft und lebten in der Gemeinschaft des Gebetes und der dienenden Liebe (Apg. 2,42ff.; 4,32ff.). Die Durchbrechung gesellschaftlichen Reglements und das hös mä (l.Kor. 7,25ff.) bestimmte in der Frühzeit das ethische Verhalten der Christen, ihre Sitten und Gewohnheiten, die ganz von dem unmittelbaren Eindruck der Auferstehung Jesu Christi und der in Kürze bevorstehenden Wiederkunft Christi geprägt waren. So waren die Gebote zur Ehe und Eheführung streng: die Ehe ist unauflöslich (Mk. 10,2ff.), auch die mit einem nicht christlichen Partner geschlossene Ehe (l.Kor. 7,12ff.); denn der nichtchristliche Teil ist durch den gläubigen Partner geheiligt. Mit dem Fernerrücken der direkten Endzeiterwartung trat die Assimilation an die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Vordergrund. Hinweise dafür finden sich in den Haustafeln. Aus der philosophischen Propaganda 1 4 5 , d.h. der griechischen Popularphilosophie der damaligen Zeit und der jüdischen Paränese 146 , wurden sie übernommen und durch das hös tö kyriö verchristlicht, wie einige Historiker der Meinung sind; nach jüdischem Muster wurde sie aus Einzelmahnungen Jesu von der urchristMt. 11,19; 15,24; Mk. 2,15ff.; Lk. 15,2; 19,9. 144b Mk. 2,18f.; 2,27f. 145 K. Weidinger, Die Haustafeln. Ein Stück urchristlicher Paränese, Leipzig 1928, 19. 14ΐ Ε. Lohmeyer, Der Brief an die Philipper, an die Kolosser, an Philemon, Göttingen 1953 9 , 154: Exkurs zu Kol. 3,18ff. Ähnlich auch: M. Dibelius, An die Kolosser, Epheser, An Philemon, Tübingen 1953 5 , neubearbeitet von H. Greeven, 48f.: Exkurs: Haustafeln.
146
liehen Gemeinde zusammengestellt 147 , wie andere meinen. Die Haustafeln geben einen Spiegel von der Struktur der damaligen Großfamilie, in der ja die Christen zusammenlebten. Verändert und inhaltlich neu ausgerichtet, wurden die Haustafeln durch das Bekenntnis zu Jesus, dem Christus; „alles was ihr tut mit Worten oder Werken, das tut dem Herrn und nicht dem Menschen" (Kol. 3,17). Diese Regeln, Bestimmungen und Ordnungen stehen im Dienst Jesu Christi, sind vom Bekenntnis zu ihm durchdrungen und sind insofern bekennende Ordnungen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Bindung der Ordnungen an dieses Bekenntnis hat zur Folge, daß die christliche Gemeinde den Lebensordnungen und Sitten mit Freiheit gegenübersteht und sie in Freiheit gebraucht. Diese christliche Freiheit bei der Bindung an die Lebensordnung trägt das Verhältnis von Mann und Frau 1 4 7 a , von Herrn und Sklaven 1 4 7 b , von Individualinteresse und christlicher Bruderschaft 1 4 7 c . Von dieser Spannung zwischen der Freiheit eines Christenmenschen und der Bindung an die Sitten und Regelungen um der Liebe willen weiß dann M. Luther bei seinen Reformbemühungen. Im Vorwort zur „Deutschen Messe" (1526) schreibt er, daß es um der Liebe und des nächsten willen gut ist, „eynerlei gesynnet seyn und auffs beste es seyn kan gleycher weyse und geberden seyn" 1 4 8 . Um das friedliche Zusammenleben in den Gemeinden zu gewährleisten, übernahm Luther vorgegebene liturgische Formulare wie etwa die lateinische Messe oder die mittelalterlichen Trauordnungen, aber auch die gewachsenen Sitten und Gebräuche 149 . In christlicher Freiheit, ohne jeden unionistischen Hintergedanken, sollten sie gebraucht werden 1 5 0 . Ihren guten Sinn verlieren allerdings diese Sitten und Ordnungen, wenn sie der Wahrheit der Rechtfertigungsbotschaft im Wege stehen oder sie verletzen 151 . Nur im Dienst dieser Botschaft, nur im Dienst der Wahrheit in Jesus Christus erfüllen diese Ordnungen ihre bewahrende, Frieden gewährende Aufgabe. Ist dies nicht der Fall, so sind die falschen Ordnungen um der christlichen Wahrheit willen zu durchbrechen und zu beseitigen; M. Luther selbst tat dies mit den Ablaßgebräuchen 152 , dem Kult der Heiligenverehrung 153 , der Sakramen147
D. Schröder, Die Haustafeln des Neuen Testaments, Diss. Hamburg 1959, 132f. l.Petr. 3,1 ff.; l.Kor. 7,Iff. 147b Kol. 4 , I f f . ; Philemon 8ff. 147c l.Kor. 11,17ff. 14 « M. Luther, Deutsche Messe ( 1 5 2 6 ) , Bo Α III 2 9 5 , 6 f . 149 Vgl. S. 173ff. ist» M. Luther, Deutsche Messe (1526), Bo Α III, 2 9 5 , 7 f f . isi Ebd., 2 9 4 , 7 f f . Vgl. CA XII. '53 Vgl. CA XXI.
147
talisierung von Firmung, Ehe, letzter Ölung und Priesterweihe 154 . Durch den freien Gebrauch werden diese gewachsenen, übernommenen oder veränderten Sitten im Dienst der christlichen Wahrheit zu bekennenden Sittenordnungen. Auch J . Calvin äußert sich in der „Institutio christianae religionis" zur Sittenordnung. Im II. Buch, Kapitel 7,16 und 17 schreibt er, daß das alttestamentliche Zeremonialgesetz „der Schatten" ist ,,νοη dem, was zukünftig war; aber der Körper selbst ist in Christo" (Kol. 2,17) 1 5 S . Es heißt dann weiter: „Der einmalige Vollzug der ewigen Versöhnung hat die täglichen Zeremonien abgetan, die ja doch nur dazu taugen, die Sünde öffentlich zu bezeugen, aber keine Kraft hatten, sie zu tilgen." 1 5 6 Die Ermahnungen und Regelungen in Sittenfragen ordnet J . Calvin dem tertius usus legis zu; mit positiv-gesetzlicher Qualität versehen, regeln sie in ihrer Gebundenheit an die Verkündigung als bekennende Ordnungen das gottesdienstliche Leben, das Leben in der Familie und Gemeinde. Das vom Alten und Neuen Testament her entwickelte, bei M. Luther und J . Calvin erneuerte und weiter bedachte Verständnis der kirchlichen Sittenordnung und des christlichen Brauchtums hat seine Fortsetzung in den heutigen Lebensordnungen. So will die „Ordnung des kirchlichen Lebens" der VELKD vom 27.4.1955 dazu beitragen, „kirchliche Sitte zu festigen". Diese christlichen Sitten und Gebräuche, die sich vor allem um den Festkalender des Kirchenjahres ranken und ebenso um die Kasualhandlungen — man denke etwa an die Verleihung der Taufkerze und des Westerhemdes — sind z.T. aus indigenen Volksbräuchen übernommen und verchristlicht worden; z.T. sind sie originär christliche Lebensformen, denkt man etwa an manche, nicht alle, Weihnachts- und Osterbräuche. Die lutherischen Lebensordnungen erwähnen sie, wobei sie — wie die Erläuterungen zum Entwurf einer schleswig-holsteinischen Lebensordnung aus der Kirchenkampfzeit zeigen — ganz konkrete Richtlinien vor Augen haben. Die EKU-Ordnungen erwähnen sie nicht explizit; in ihr mehr rechtlich qualifiziertes Verständnis der Lebensordnungen passen sie weniger hinein. Diese christlichen Sittenordnungen dienen der Wahrung des Friedens in der Gemeinde und dem Schutz vor Unordnung. Dabei haben sie keinen Selbstwert in sich, den man absolut setzen könnte, der eine Heilsqualität besäße. Nur insofern sie geistlich gebraucht werden und der Wahrheit 154
M. Luther, De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium ( 1 5 2 0 ) , WA VI, 49 7 ff. 155 J. Calvin, Institutio cliristianae religionis, übersetzt und bearbeitet von O. Weber, Neukirchen 1955, 215. is« Ebd., 217.
148
des Wortes Gottes dienend zugeordnet sind, üben sie die Aufgabe als christliche Sittenordnung aus und d.h. als Bekenntnisordnung. Auch sie stehen im Dienst der Wahrheit der Rechtfertigungsbotschaft gegen ein Sittengesetz, das die Erlangung des Heils mitzuschaffen versucht. Erwähnt sei nur, daß bei dem kirchenleitenden Besuchsdienst in der Visitation auch die christlichen Sitten zusammen mit dem gesamten Leben der Gemeinde kontrolliert und reformiert werden. Eine Korrespondenz der Visitations- und Lebensordnungen bezüglich der christlichen Sitten ist darum festzuhalten. Unter dogmatischem Aspekt steht die geistlich zu gebrauchende Visitations- und Lebensordnung im Dienst am einen Wort Gottes in der Kirche Jesu Christi. Sie dient zum einen dem usus theologicus legis des Wortes Gottes als Bußordnung; sie übt diese Funktion aus in der Kirche, dem wandernden Gottesvolk, das als Bußgemeinschaft dem Gericht Gottes und der endgültigen Vollendung entgegengeht. Sie dient weiter dem Evangelium als Liebesordnung·, diese Aufgabe erfüllt sie in der Kirche als Leib Christi. Wie Jesus Christus das Haupt des Leibes ist, so lebt die Gemeinde aus seiner Liebe, in deren Dienst die Visitations- und Lebensordnung genommen ist. Sie dient schließlich der Paraklese als Erneuerungsordnung; diese Funktion erfüllt sie in der geistgestifteten Gemeinschaft der Hoffnung, in der Ekklesia. Wie der heilige Geist spontan und kontinuierlich wirkt, so gibt die Paraklese einmal konkrete Anweisungen, zum andern nimmt sie die Gestalt christlicher Sitten und Richtlinien an; die christlichen Sittenordnungen stehen im Dienst der Wahrheit des dreieinen Gottes, der die Rechtfertigung des Sünders aufgrund der Erlösungstat Christi heute durch den heiligen Geist wirkt. In diesem Dienst in der congregatio sanctorum ist die christliche Sittenordnung bekennende Ordnung. Als Bußordnung, Liebesordnung, Erneuerungs- und christliche Sittenordnung steht die Lebens- und Visitationsordnung im Dienst des einen Wortes Gottes als Gesetz und Evangelium. Eine Konzentration finden die Wirkweisen des Wortes Gottes als usus theologicus legis, als Evangelium und Paraklese in seiner Schlüsselgewalt, wie später ausgeführt werden wird; die Wirkweisen des Wortes Gottes sind ja nicht voneinander zu trennen. Adjuvativ ist ihnen die Lebens- und Visitationsordnung unterstellt 1 5 7 157
Vgl. Teil 7.
149
4.3.3. Die Dienstfunktion
der Lebens- und
Visitationsordnung
Als Kerngedanke des dogmatischen Teiles ist die Dienstfunktion der Lebens- und Visitationsordnung dem Wirken des Wortes Gottes und den Gaben der Sakramente gegenüber herausgestellt worden. Auf diese adjuvative Aufgabe ist noch näher einzugehen. Bis jetzt wurde das „Daß" dieser dienenden Zuordnung betont. Es liegt damit eine Verhältnisbeziehung vor, wonach allein durch die Inanspruchnahme des Dienstes dieser Ordnung durch das Wort Gottes die Ordnung ihre theologische Bedeutung erhält. Für sich genommen, hat die Lebens-Visitationsordnung keine theologische Relevanz; sie hat kein in ihr selbst begründetes Eigenrecht im Leben der Gemeinde und Kirche. Würde sie diesen Anspruch erheben, so pervertierte sie zum Gesetz, das knechtet und — in sich verbogen — nicht über sich hinausweist. Zugleich ist die Lebensordnung auch nicht identisch mit dem Wort Gottes; sie ist nicht das Wort Gottes, das zur Buße ruft, das Heil zusagt und schenkt, zum Gehorsam in der Paraklese und durch die Sittengebote ruft. Die Ordnung bringt nicht selbst das Heil und sie ist kein Heilsweg. Der Grund dieser Ordnung liegt in der Verkündigung des Wortes Gottes und in der Sakramentsverwaltung und ebenso ihre Norm. Bei allen geschichtlichen Veränderungen, denen gerade die Lebens- und Visitationsordnungen ausgesetzt sind, bleiben die Ordnungen an das biblische Wort gebunden; darin liegt ihre Identität. In der hessen-nassauischen und in der bayerischen Lebensordnung sind die einzelnen Abschnitte darum durch ein entsprechendes biblisches Wort eingeleitet. Das biblische Zeugnis, wie es in den Bekenntnissen zusammengefaßt ist, bildet damit die Norm für die Fragen christlicher Lehre und christlichen Lebens; Lehre und Leben, denen die Ordnung helfen soll, sind nicht voneinander zu trennen. Das Schriftprinzip als Norm hat eindeutige Geltung für die Lehr-, Lebens-, Zucht- und Visitationsordnung. In ihrer dienenden Funktion ist diese Ordnung im letzten wieder ausgerichtet auf die. Verkündigung des Wortes Gottes und die Sakramentsverwaltung als Zentrum christlichen Lebens. Adjuvativ unterstützt die Ordnung das friedlich Leben der Christen in der Gemeinde und Welt unter dem Wort Gottes. Ist damit das „Daß" der dienenden Funktion der Ordnung zur Verkündigung und Sakramentsverwaltung festgestellt, so erhebt sich zugleich die Frage nach dem „Wie" dieser Zuordnung. Mit E. Schlink, H. Liermann, in Weiterführung auch mit W. Joest 1 S 8 ist sie als analogisches Ver158
In eigener Weiterführung von W. Joest, Gesetz und Freiheit, Göttingen 1961 3 , 132, 198; vgl. E. Schlink, Die Freiheit vom Gesetz und die Ordnung der Kirche,
150
hältnis zu sehen. Die Analogie in ihrer klassischen Form 1 5 9 stellt eine Denkform dar, die eine gewisse Gleichheit bei einer erheblichen Ungleichheit ausdrückt. Bei dem adjuvativen Verhältnis von kirchlicher Ordnung zur Verkündigung und Sakramentsverwaltung handelt es sich um eine analogia relationis 160 . Die Lebens-Visitationsordnung spiegelt in ihrer Geschichtlichkeit die Wirkweisen des Wortes Gottes wider: den Bußruf des usus theologicus legis, die Vergebung schenkende Rechtfertigungsbotschaft des Evangeliums, die Früchte des Glaubens gebietende Paraklese und das Erhaltungswort des treuen Gottes. Die Ungleichheit zwischen dieser Ordnung und dem Wort Gottes liegt darin, daß die Wortverkündigung und die Sakramentsgaben allein die genannten Wirkungen haben, weil der dreieine Gott hierin handelt; Gott klagt an, beschenkt und gebietet. Die Lebens-Visitationsordnung übt analoge Aufgaben nur und allein in der Zuordnung zum lebendigen Wort und den Sakramentsgaben aus. Die adjuvative Funktion erweist sich als analoge. Es ist eine Analogie des Glaubens, keine andere; allein im Glauben wird sie erkannt und im geistlichen Gebrauch gelebt und erfahren. Ist dies nicht der Fall, so wird die Ordnung zum knechtenden Gesetz und das Wort Gottes mit den Sakramenten zum allgemein einsichtigen Heilsprinzip, so wird das Wort Gottes legalistisch und die Ordnung salvifikatorisch. Die LebensVisitationsordnung ist darum nur und allein adjuvativ und so auch analog dem lebendigen Wort Gottes und der gnadenhaften Gabe der Sakramente zugeordnet.
5. Der rechtstheologische Aspekt Für das Verständnis des rechtstheologischen Aspekts der Lebens- und Visitationsordnung heute hat die Diskussion um das Wesen der Kirchenordnung im Kirchenkampf entscheidende Bedeutung. Im typisierenden Teil werden zunächst einige Konzeptionen, die vor dem Kirchenkampf Geltung hatten, und dann einige Positionen, die während des Kirchenkampfes im Rückgriff auf die reformatorischen Kirchenordnungen erarbeitet wurden, analysiert. Die Wirkungen des Kirchenkampfes auf das heutige rechtstheologische Gespräch folgen dann. In einem zweiten Abschnitt werden dann die Lebens- und Visitationsordnungen der VELKD Jahrbuch der Theol. Schule Bethel 8, 1937, 53; H. Liermann, Der Jurist und die Kirche, Jus Ecclesiasticum 17, München 1973, 159ff. 159 Anders die neue Bestimmung E. Jüngels in: Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 1977, 3 5 7 f f . 160 Vgl. M. Plathow, Das Problem des concursus divinus, Göttingen 1976, 166ff.
151
und der EKIJ unter rechtstheologischem Gesichtspunkt strukturell beschrieben. Der dritte Abschnitt gibt schließlich eine systematische Darlegung des Themas: „Lehre und Ordnung im Leben der Kirche" unter rechtstheologischem Aspekt.
5.1.
Typologie
5.1.1. Vor dem Kirchenkampf: Lehre und Ordnung 5.1.1.1. Die
der Dualismus
von
Kirchenverfassungen
Überblickt man „Die Verfassungen der Deutschen-Evangelischen Landeskirchen", herausgegeben von Fr. Giese und J . Hosemann 1 6 1 , so fällt auf — und nur diese eine Linie wird für das Thema verfolgt — die harte Gegenüberstellung von Schrift- und Bekenntnisgrundlage einerseits und „äußerer Ordnung", die in Verfassungsstatuten ihre Bestimmungen erhält, andererseits. Verwiesen sei nur auf die „Verfassung der evangelischlutherischen Kirche in Bayern rechts des Rheins" vom 10.9.1920. Dort heißt es in der Präambel: „Die evangelisch-lutherische Kirche in Bayern r.d. Rheins steht auf dem alleinigen Grund der heiligen Schrift. Sie hält sich in Lehre und Leben an das evangelisch-lutherische Bekenntnis. Für die äußere Ordnung ihres Lebens nimmt sie folgende Verfassung an." 1 6 2 Eine entsprechende Gegenüberstellung findet sich etwa auch in der „Verfassungsurkunde für die Evangelische Kirche der altpreußischen Union" vom 29.9.1922 1 6 3 . Nicht nur durch die Gegenüberstellung der Bekenntnisbestimmungen zum Komplex der Verfassungsstatuten wird diese Dichotomie ausgedrückt; sie kann auch durch nebeneinander gestellte Regelungen zum Bekenntnis und zur Verfassung angezeigt werden. Das letztere ist z.B. im 1. Abschnitt der „Verfassung der Evangelisch-lutherischen Kirche im Hamburger Staate" vom 30.5.1923 164 der Fall und im 1. Abschnitt der 161
Fr. Giese, J. Hosemann (Hrsg.), Die Verfassungen Landeskirchen Bd. 1 und Bd. 2, Berlin 1927. 162 Fr. Giese, J. Hosemann (Hrsg.), Die Verfassungen Landeskirchen Bd. 2, Berlin 1927, 513. 163 Fr. Giese, J. Hosemann (Hrsg.), Die Verfassungen Landeskirchen Bd. 1, Berlin 1927, 3. 164 Fr. Giese, J. Hosemann (Hrsg.), Die Verfassungen Landeskirchen Bd. 2, Berlin 1927, 640.
152
der Deutschen Evangelischen der Deutschen Evangelischen der Deutschen Evangelischen der Deutschen Evangelischen
„Verfassung der Evangelischen Landeskirche in Hessen" vom 1.6.1922 1 6 S . Einige Verfassungen weisen in ihren Bestimmungen auch explizit daraufhin, daß „Lehre und Bekenntnis durch die Verfassung nicht berührt" werden, diese „nicht Gegenstand der kirchlichen Gesetzgebung" sind. So ist es etwa im § 4 der „Verfassung der Evangelischen Landeskirche in Nassau" vom 5.12.1922 1 6 6 oder im § 22 der „Verfassung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche des Freistaats Sachsen" vom 29.5.192 2 1 6 7 . Es läßt sich somit in den Verfassungen der evangelischen Landeskirchen nach der Auflösung des landesherrlichen Kirchenregiments 1918 eine Dichotomie zwischen der in Schrift und Bekenntnis zu Jesus Christus gründenden Kirche und der „äußeren Verfassung" feststellen. Diese Dichotomie ruht auf der Differenztheorie, nach der die sichtbare und unsichtbare Kirche voneinander zu trennen sind; die Kirchenverfassung mit den Organisationsstatuten aber gehört zur ecclesia visibilis, die im christlichen Bekenntnis gründende ecclesia invisibilis ist von dieser geschieden. Die Dichotomie auf dem Hintergrund der Differenztheorie von ecclesia visibilis und ecclesia invisibilis kennzeichnet die Kirchenverfassungen vor dem Kirchenkampf.
5.1.1.2. Die rechtstheologischen 5.1.1.2.1. R. Sohms
Positionen
Spiritualismus
Der Einsatz für die typisierenden Überlegungen zur Rechtstheologie soll bei dem Nestor neuerer Kirchenrechtswissenschaft R. Sohm genommen werden. Die Kernthese seines „Kirchenrechts" 168 und seines Beitrags „Weltliches und geistliches R e c h t " 1 6 9 lautet: „Das Wesen der Kirche ist geistlich, das Wesen des Rechts ist weltlich. Das Wesen des Kirchenrechts steht mit dem Wesen der Kirche im Widerspruch." 170 Vom Neuen Testament her, von der frühkirchlichen Theologie und von der reformatorischen Theologie her versucht R. Sohm diese These historisch zu begründen171. Ebd., 6 6 3 . Fr. Giese, J . Hosemann (Hrsg.), Landeskirchen Bd. 1, Berlin 1 9 2 7 , 1 6 7 Fr. Giese, J . Hosemann (Hrsg.), Landeskirchen Bd. 1, Berlin 1 9 2 7 , 166
Die Verfassungen der Deutschen Evangelischen 301ff. Die Verfassungen der Deutschen Evangelischen 395f.
!« 8 R. Sohm, Kirchenrecht, Leipzig 1 8 9 2 . 1 6 9 R. Sohm, Weltliches und geistliches Recht, in: Festgabe für K. Binding zum 7. 8 . 1 9 1 3 , Leipzig-München 1 9 1 4 , Iff. 170
R. Sohm, Kirchenrecht, Leipzig 1 8 9 2 , 7 0 0 .
Vgl. hierzu auch die kritische Darstellung von D. Stoodt, Wort und Recht, München 1 9 6 2 . 171
153
Der Gegensatz zwischen dem Wesen der Kirche und dem Wesen des Rechts liegt für R . S o h m in folgendem: die Kirche J e s u Christi ist in ihrem eigentlichen Sinn die unsichtbare Geistkirche; von ihr zu unterscheiden ist die sichtbar verfaßte Christenheit als die uneigentliche Kirche. Weil das Recht allein aus weltlichen Satzungen besteht, für die das Formalprinzip gilt und zu deren Wesen der Zwang und die Gewalt gehört, kann es nur in der sichtbaren Kirche Geltung haben. In der unsichtbaren, geistlichen, also in der eigentlichen Kirche gibt es keine Rechtssatzungen. Geistliche Kirche und durchzusetzendes Recht stehen sich folglich konträr gegenüber. Es kann darum auch keine Bindung der rechtlichen Kirchenordnung an das Bekenntnis der Kirche J e s u Christi für R . S o h m geben. Dieser Dualismus hat für R . S o h m letztlich in der Dichotomie von heiligem Geist und Recht seinen Grund, wobei das eigentliche Lebensprinzip der Kirche der heilige Geist ist in seiner Unverträglichkeit mit dem R e c h t . Die unsichtbare Geistkirche ist die eigentliche Kirche J e s u Christi. R . S o h m hängt damit einem christlichen Spiritualismus und ekklesiologischen Idealismus an. 5.1.1.2.2. W. Kahls
Positivismus
Der Zeitgenosse R . S o h m s , W. Kahl, geht in seinem „ L e h r s y s t e m des Kirchenrechts und der K i r c h e n p o l i t i k " 1 7 2 ebenfalls von der Trennung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche aus. Die Notwendigkeit von Ordnungen für die sichtbare Kirche sieht W. Kahl „in dem Tatbestand des gesellschaftlichen Zusammenschlusses der Kirchenglieder und ist im Schutzbedürfnis gegen Störungen b e g r ü n d e t " 1 7 3 . Indem die Kirche zur Ausbreitung des Reiches G o t t e s auf Erden gestiftet wurde, ist sie nach Gottes eigenem Willen unter die allgemeinen Bedingungen der Menschheitsentwicklung gestellt worden; zu diesen gehört auch das Recht mit seinen Verfassungs-, Ordnungs- und Verordnungsbestimmungen. Sie bilden und formen sich durch den genossenschaftlichen Gesamtwillen einer Gemeinschaft. S o m i t werden von W. Kahl die Kirchenverfassungen und die kirchlichen Ordnungen rein positivistisch begründet. Sie dienen dazu, „ d a s Gehäuse zu formulieren, in d e m der Geist G o t t e s wohnen und wirken k a n n " 1 7 4 . Anders als bei R. S o h m wird von W. K a h l die sichtbare Kirche, die bis zu einem gewissen Grade mit der rechtlichen Kirche zusammenfällt, als 1 7 2 W. Kahl, Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik I, Freiburg i.Br./ Leipzig, 1894. Ebd., 69. «w Ebd., 80.
154
wirkliche und eigentliche Kirche erkannt. Sie ist für W. Kahl immer eine „werdende Kirche" 1 7 5 . Die unsichtbare Kirche hat vor allem eine abgrenzende Funktion gegenüber dem Recht der sichtbaren Kirche und seiner möglichen Verabsolutierung. Denn das Kirchenrecht hat ja bloß eine schützende Aufgabe; mit dieser Aufgabe steht es in keinem Bezug zur heiligen Schrift und zum Bekenntnis der Kirche. Positivistisch ist es im genossenschaftlichen Gesamtwillen der Kirchenmitglieder begründet; in diesem Sinn übt es seine schützende Funktion aus; mit dieser Zielsetzung wird es weiterentwickelt und durchgesetzt.
5.1.1.2.3. G. Holsteins Verknüpfung Erlösungsordnung
von Schöpfungs-
und
Auch in G. Holsteins bedeutsamen Buch „Die Grundlagen des evangelischen Kirchenrechts" 1 7 6 steht die Trennung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche im Hintergrund. Die unsichtbare Kirche wird vom Wort getragen; sie ist Gemeinschaft des Christusgeistes und Leib des Hauptes Christus 177 . Als solche gehört die Kirche zur Erlösungsordnung und steht jenseits und über dem Recht. Die sichtbare Kirche auf der andern Seite wird durch die genossenschaftliche Willensbildung ihrer Glieder gebaut. Als solche gehört die Kirche zur Schöpfungsordnung, deren Bestandteile ihren Integrationsfaktor in den Rechtsgrundsätzen haben; diese bauen auf der Gerechtigkeit auf und erweisen sich in den Rechtsordnungen. Thetisch kann G. Holstein darum schreiben: „Rechtsordnung — so können wir am knappsten und pointiertesten zusammenfassen — ist Bestandteil der Schöpfungsordnung. Kirche aber ist Bestandteil der Erlösungsordnung."116 Anders als W. Kahl erkennt nun aber G. Holstein über die abgrenzende Funktion der Geistkirche gegenüber der Rechtskirche hinaus auch eine mitbestimmende Wirkung der Wesenskirche auf die Ordnung der sichtbaren Rechtskirche an, und zwar eine indirekte 1 7 9 über die Personen oder Glaubenden 18°. Das genossenschaftlich gebildete Recht der sichtbaren Kirche wird von juristischen Sätzen mit anstaltlichem Charakter durchkreuzt; diese sind durch einen von der untergeordneten RechtsEbd., 75. G. Holstein, Die Grundlage des evangelischen Kirchenrechts, Tübingen 1928. '·" Ebd., 213f. "8 Vgl. ebd., 225f. Ebd., 228. '»ο Ebd., 228. 176
155
persönlichkeit unabhängigen Willen gesetzt, der der Grund des geistlichen und stiftungsmäßigen Charakters der Wesenskirche ist. Für deren Leben sollen diese Rechtssätze, die so in einer Art Religionsnorm verankert sind, Raum schaffen. Damit hat G. Holstein die Differenztheorie abgemildert·, die Trennung von Rechts- und Wesenskirche ist durchlöchert; auch das statutarische Gegenüber von Bekenntnis und Kirchenverfassung ist durchlässig geworden. Doch bleibt auch G. Holstein mit seiner Aufteilung der Geistund Rechtskirche auf den Bereich der Erlösungs- und Schöpfungsordnung dem dualistischen Denken verhaftet. Dieser dogmatische Ansatz vermag weder R. Sohms Idealismus noch W. Kahls Positivismus zu überwinden. Seiner Theorie gelingt mit der Vorordnung der sogenannten „Religionsnorm" vor der „ R e c h t s n o r m " 1 8 1 — wie H. Wehrhahn sagt 1 8 2 — lediglich eine „Verlegenheitslösung".
5.1.1.2.4. H. Liermanns
Analogie
von Kirchen- und
Staatsordnung
Dieses Urteil bezieht H. Wehrhahn 1 8 3 nicht nur auf G. Holstein, sondern auch auf H. Liermann, der mit seinem „Deutschen Evangelischen Kirchenr e c h t " 1 8 4 das letzte große Kirchenrechtswerk vor dem eigentlichen Kirchenkampf schrieb. Wie G. Holstein will H. Liermann den Ausgangspunkt für die Bestimmung des Kirchenrechts beim Selbstverständnis der Kirche nehmen 18s . Das kirchliche Recht und die kirchlichen Rechtsnormen orientieren sich darum an den religiösen Normen christlicher Sittlichkeit. H. Liermann grenzt sich so einmal gegen eine rein positivistische Auffassung des Kirchenrechts ab 186 , zum andern gegen ein Verständnis der Religionsnorm als „juristische Obernorm kirchenrechtlicher Sätze" 1 8 7 . Die Religionsnorm „ b e g r e n z t " 1 8 8 die Rechtsnormen; sie wirkt aber auch auf die Rechtsnormen 1 8 9 . Die Rechtsnormen stehen im „ D i e n s t " 1 9 0 der 181 Ebd., 227. H. Wehrhahn, Die kirchenrechtlichen Ergebnisse des Kirchenkampfes, EvTh 7, 1947/48, 318. 183 Ebd., 318. 184 H. Liermann, Deutsches Evangelisches Kirchenrecht, Stuttgart 1933. 185 Ebd., 2: „Und deshalb gehört an den Anfang jedes kirchenrechtlichen Systems ganz einfach ein — — Bekenntnis: Ich glaube an die Kirche oder ich glaube nicht an die Kirche". 18« Ebd., 23. Ebd., 22. 188 Ebd., 22. 189 Ebd., 22. 190 Ebd., 22. 182
156
Religionsnorm; die Religionsnorm wiederum verleiht den Rechtsnormen den Rang von „Richtungsnormen" 1 9 1 . Damit hat H. Liermann die Ö f f nung der Rechtsnormen für die Religionsnorm angedeutet. Dies gilt nun aber nur für bestimmte strittige Grenzfragen und sozusagen für die rechtsarmen Bereiche, die durch Generalklauseln geregelt werden. Im Blick auf das weltliche Recht heißt es: „Wie über unserem weltlichen Recht der metajuristische Grundsatz von Treu und Glauben, so schwebt über dem evangelischen Kirchenrecht die Forderung letzter Übereinstimmung mit dem Wesen der Kirche" 1 9 2 ; die Religionsnorm christlicher Sittlichkeit ist also Generalnorm. Zugleich läßt H. Liermann das kirchliche Recht in Entsprechung zum staatlichen Recht aufgebaut sein. Über eine formale Entsprechung hinaus 1 9 3 wird das staatliche Recht auch in das kirchliche „hinübergenommen" 1 9 4 , ja, es wird formgebend 1 9 5 und leitend für das kirchliche. Und so wird auch die evangelische Kirche als „anstaltlich verfaßte . . . rechtliche Organisation" mit „genossenschaftlichen Zügen verstanden" 1 9 6 und im folgenden dargestellt. Die genossenschaftlichen Züge werden dabei in gewissem Maße von den anstaltlichen bestimmt und eingegrenzt. H. Liermann versucht, den Dualismus zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche auf diese Weise zu überwinden; er bezeichnet ihn als die „ewige Krankheit" 1 9 7 des protestantischen Kirchenrechts. Doch wird man auch bei ihm nur davon sprechen können, daß er die Grenzen zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche „ ö f f n e t " 198 . Der zweifellos weiterführende Entwurf bleibt darum — nicht zuletzt durch die bloße Verordnung der sehr allgemein und formal bestimmten Religionsnorm vor den Rechtsnormen — eine „Verlegenheitslösung", wie H. Wehrhahn b e t o n t 1 9 9
191
Ebd., 22. Ebd., 23. 19 3 Ebd., 24. 19 * Ebd., 24. 195 Ebd., 24: „Die im Staatsrecht gebräuchliche Unterstellung des Verfassungsrechtes in solches im materiellen und formellen Sinne ist auch für das moderne deutsche evangelische Kirchenrecht von Bedeutung". 192
196
Ebd., 17: „Wenn wir so den Begriff der evangelischen Kirche näher umschreiben wollen, so können wir sie als anstaltlich verfaßte, mit genossenschaftlichen Zügen durchsetzte rechtliche Organisation von Christen auf der Grundlage evangelischen Glaubens bezeichnen". w Ebd., 8. 198 Ebd., 8. 199 H. Wehrhahn, Die kirchenrechtlichen Ergebnisse des Kirchenkampfes, EvTh 7, 1947/48, 318.
157
5.1.1.2.5. Die deutschchristliche Interpretation DEK vom 11.7.1933
der Verfassung der
Aufs ganze gesehen, charakterisiert somit die Differenztheorie die rechtstheologische Diskussion vor dem Kirchenkampf; sie ist verbunden mit dem Dualismus von sichtbarer und unsichtbarer Kirche und der Dichotomie von Bekenntnis und Kirchenordnung. Diese Theorie bot nun aber wenig oder keinen Rückhalt gegen sachfremde, staatliche Einmischungen und gegen staatliche Überfremdung der kirchlichen Ordnung, ja, man kann sagen, sie forderte diese geradezu heraus und begründete sie. Die Differenztheorie gab den „Deutschen Christen" das Werkzeug in die Hand, die Deutsche Evangelische Kirche in ihrem Sinn nach staatlichem Vorbild zu verändern und zu gestalten. Am 11.7.1933, „in der Stunde, da Gott unser deutsches Volk eine große geschichtliche Wende erleben läßt", wurde die Verfassung der DEK verabschiedet. Ihr Artikel 1 lautet: „Die unantastbare Grundlage der Deutschen Evangelischen Kirche ist das Evangelium von Jesus Christus, wie es uns in der Heiligen Schrift bezeugt und in den Bekenntnissen der Reformation neu ans Licht getreten ist. Hierdurch werden die Vollmachten, deren die Kirche für ihre Sendung bedarf, bestimmt und begrenzt." 2 0 0 Die richtige Betonung des Evangeliums von Jesus Christus als Grund der DEK und die damit eigentlich verbundene Unabhängigkeit — auch A. Hitler bestätigte sie in seiner Rundfunkrede am 22.7.1933, dem Vortag der Kirchenwahlen 2 0 1 , — wird nun aber durch den Bezug auf die geschichtliche „Stunde" 2 0 2 und durch die Bestimmungen der Ordnung selbst widerlegt; zu nennen ist das Prinzip einer „unitarischen Bundeskirche" 2 0 3 , verbunden mit der vom staatlichen Führerprinzip übernommenen einheitlichen Führung durch den Reichsbischof (Art. 6; 7). Gleichwohl wird man nicht sagen dürfen, daß diese Verfassung ein deutschchristliches Gepräge hat; sie b o t aber Ansatzmöglichkeiten für eine Uminterpretation im Sinn der „Deutschen Christen". So konnte R. Widmann in den „Blättern zur kirchlichen Lage" III, 1933, S. 48 schreiben: „Die Auslegung entscheidet erst. Und die Auslegung liegt in der Hand der Deut200
Text nach: Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland 1 9 3 3 - 1 9 4 4 , hrsg. J. Beckmann, Gütersloh 1948, 17. 201 J. Gauger, Chronik der Kirchenwirren I, Elberfeld 1934, 94. 202 R. Slenczka, Die Grundlagen der Evangelischen Kirche in Deutschland, KuD 18, 1972, 3 3 l f . 2 °3 Vgl. E. Wolf, Ordnung der Kirche, 429; ebenfalls: Kl. Till, Der Einfluß des Kirchenkampfes auf die Grundlagenproblematik des deutschen evangelischen Kirchenrechts, dargestellt insbesondere am kirchlichen Notrecht, Marburg 1963, 64.
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sehen Evangelischen Kirche." 2 0 4 Und so wurde dann der Artikel 1 der Verfassung der DEK vom 11.7.1933, da er letztlich nur ein Formalprinzip darstellte, im Sinn einer deutschchristlichen Differenztheorie interpretiert. „Rechtswalter" Jäger sagte dazu am 27.4.1934: „In jenem großen Rahmen, in dem die evangelische Kirche zusammengefaßt werden muß, bleibt der Bekenntnisstand und das Glaubensgut unangetastet. Die Selbständigkeit der Kirchenbezirke in Kultus und Bekenntnis bleibt garantiert; lediglich in Verwaltung und Gesetzgebung muß jedoch absolute Einheitlichkeit herrschen. — Überhaupt betone ich noch einmal den Unterschied zwischen äußerer Ordnung und dem Glauben Die irdische Ordnung der Kirche ist immer Wandlungen unterworfen, und sie wird gerade heute bestens innegehalten durch das Führerprinzip." 205
5.1.2. Im Kirchenkampf:
die Verbindung von Lehre und
Ordnung
Als Reaktion auf das allmähliche Ausbreiten und das stetige Eindringen nationalsozialistischen Gedankenguts in kirchliches Leben, kirchliche Verlautbarungen und Verordnungen sowie in kirchliche Kreise, vor allem dann aber in Reaktion auf die ersten gewaltsamen Ausschreitungen — am 11.1.1933 wurde das Altonaer Bekenntnis veröffentlicht; es bildeten sich, worauf nur hingewiesen werden kann, die Pfarrernotbünde nach der Deklarierung des Arierparagraphen am 6.3.1933 —, also in Reaktion auf die Unterwanderung und Überfremdung der Kirche durch den Staat und seine Ideologie traten Theologen und Juristen, Pfarrer und Laien ins Gespräch über die Grundfragen von Kirchenordnung ein. Ein erstes vorläufiges Ergebnis, das richtungsweisend für die späteren Arbeiten geworden ist und auf die späteren Arbeitsergebnisse der Bekenntnissynoden vorausweist, ist das sog. Betheler Bekenntnis vom November 1933; die Vorarbeiten gehen bis August des Jahres 1933 zurück. Dort heißt es: „Wir verwerfen die Irrlehren: 2. daß die wahre Kirche unsichtbar und jede empirische Kirche nur ein unvollkommener Versuch sei, das Ideal der wahren Kirche zu verwirklichen (Idealismus); 4. daß die Einheit der Kirche noch auf anderen Dingen beruhe als auf der Einheit der Lehre, daß es eine Einheit der Kirche und kirchlichen 204 Nach: Kl. Till, Der Einfluß des Kirchenkampfes auf die Grundlagenproblematik des deutschen evangelischen Kirchenrechts, dargestellt insbesondere am kirchlichen Notrecht, Marburg 1963, 67. 2 °5 J. Gauger, Chronik der Kirchenwirren I, Elberfeld 1934, 173.
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Gemeinschaft dort geben könne, wo es keine Einheit der Lehre gibt (Unionismus); 6. daß die äußere Ordnung der Kirche belanglos sei, weil die Lehre des Evangeliums von keiner Verfassung berührt werde (Spiritualismus)." 2 0 6 Die Überwindung der Differenztheorie, wie sie sich im Dualismus von sichtbarer und unsichtbarer Kirche und in der Dichotomie von Bekenntnis und Ordnung widerspiegelt, ist hier programmatisch als Aufgabe des Kirchenkampfes angedeutet. An dieser Aufgabe wurde während der ganzen Kirchenkampfzeit von der Bekennenden Kirche gearbeitet.
5.1.2.1. Rechtstheologische 5.1.2.1.1. Die Dienstfunktion
Positionen der
Kirchenordnung
H. Asmussen schreibt in seinem Aufsatz „Glaube und Recht in der Kirche": „Daraus folgt, daß der Glaube alles ,Recht' in der Kirche setzt — oder auch bricht. Darum ist das Bekenntnis Herrin, Ausgangspunkt und Ziel allen Rechtes in der Kirche. Das .Recht' in der Kirche ist Dienerin des Bekenntnisses. Verfassung und Gestalt haben in der Kirche nur Sinn als Gehilfen des Bekenntnisses." 2 0 7 Die hier b e t o n t e Dienstfunktion der kirchlichen Ordnungen für Verkündigung des Wortes Gottes und für das Bekenntnis wird ebenso von E. Fiedler 2 0 8 , H. Ehlers 2 0 9 , D. H. Dörries 2 1 0 , D. B o n h o e f f e r 2 1 1 u.a. vertreten. Die Kirchenordnung hat demnach ihren letzten Grund im Bekenntnis; sie besitzt keine Selbstevidenz. Nur und allein darin hat sie ihre Bedeutung, daß sie Mittel für die Wortverkündigung, Sakramentsverwaltung und Schlüsselgewalt ist, diese mitermöglicht und von diesen in Dienst genommen wird. Bekenntnisqualität kann die Kirchenordnung selbst nur im casus confessionis haben; d.h. bei Angriffen und Übergriffen durch staatliche Institutionen und fremde IdeoDie Bekenntnisse des Jahres 1933, hrsg. K.-D. Schmidt, Göttingen 1934, 122. H. Asmussen, Glaube und Recht in der Kirche, Gütersloh 1934, 19. 208 E. Fiedler, Die rechtliche Stellung der Evangelischen Kirche in Deutschland, JK 3, 1935, 856; ebenso: E. Fiedler, Glaube und Recht in der Kirche, Gütersloh 1934, 32; vgl. auch: P. Haller, Der Rechtskampf der Bekennenden Kirche und ihre Juristen, Schwenningen 1963, 12ff. H. Ehlers, Religion und Recht, JK 5, 1937, 262; vgl. auch: P. Haller, Der Rechtskampf der Bekennenden Kirche und ihre Juristen, Schwenningen 1963, 17ff. 21° D. H. Dörries, Äußere Ordnung und lutherisches Bekenntnis, JK 5, 1937, 585f. 211 D. Bonhoeffer, Irrlehre in der Bekennenden Kirche? in: Gesammelte Schriften II, hrsg. E. Bethge, München 1959, 270; vgl. auch: E. Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologe. Christ. Zeitgenosse, München 1970 3 , 590ff. 207
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logien gehört die kircheneigene Ordnung zum Bekenntnisstand. Dann ist die Entscheidung über die rechte Kirchenordnung nach dem Bekenntnisstand in einem Bekenntnisakt zu fällen.
5.1.2.1.2. Die Normfunktion
der
Kirchenordnung
In dem Aufsatz „Von der rechtlichen Bedeutung des Bekenntnisses" schreibt Fr. Weißler: „Die Aufnahme der bekenntnismäßigen Grundlage in eine Kirchenverfassung bedeutet, daß auch rechtlich oberster Maßstab für alles, was in der Kirche vorgeht, nur das Bekenntnis ist. Ein anderer Maßstab neben oder gar über dem Bekenntnis ist unzulässig." 212 Auch E. Fiedler und H. Asmussen stehen auf der Linie, die das Bekenntnis als Norm und Maßstab für die Kirchenordnung annimmt. Das schriftgebundene Bekenntnis besitzt somit eine Kontrollfunktion für die Kirchenordnung. 5.1.2.1.3. Kirchenordnung
als „bekennende
Ordnung"
In der Schrift „Zur Neuordnung der evangelischen Kirche", die dann entscheidende Bedeutung für die Denkschrift „Von rechter Kirchenordnung" vom 9./10.1.1945 haben soll, schreibt H. Holstein, ein jüngerer Bruder von G. Holstein: „Wir stehen aber wieder vor der Gefahr, eine Verwaltungskirche aufzubauen, ein Haus, in dem der Menschen Satzung gilt, nicht aber Christus der alleinige Herr ist. Und zwar aus bestem Wollen heraus und o f t auch angestrebt von kirchlich handelnden Persönlichkeiten, die wirklich lebendige Kirche schaffen möchten und die Wesensverbundenheit von Recht und Bekenntnis bejahen Das Recht in der Kirche wird durch den Glauben bestimmt. Die die Kirche gestaltende Kraft ist das Bekenntnis Die Kirche muß sich das Recht selbst setzen . . ," 2 1 3 . Inhaltlich ist hier der einheitliche Ursprungsgrund des Bekenntnisses und des Kirchenrechts angesprochen, wie er für das „bekennende Kirchenrecht" charakteristisch ist. Das Bekenntnis ist „Quelle, Ausgangspunkt und Ziel des Rechts" 2 1 4 , und zwar das Bekenntnis zu Jesus Christus, dem Kyrios; kein Lebensbereich ist von seinem Herr212 Fr. Weißler, Von der rechtlichen Bedeutung des Bekenntnisses, Jk 3, 1935, 363; vgl. auch: P. Haller, Der Rechtskampf der Bekennenden Kirche und ihre Juristen, Schwenningen 1963, 28ff. 213 H. Holstein, Zur Neuordnung der evangelischen Kirche, Göttingen 1937, 7; vgl. auch: P. Haller, Der Rechtskampf der Bekennenden Kirche und ihre Juristen, Schwenningen 1963, 20ff. 214 H. Holstein, Zur Neuordnung der evangelischen Kirche, Göttingen 1937, 13.
11 Plathow, Lehre
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schaftsanspruch ausgespart. Die Kirchenordnung ist damit ein Teil des Bekenntnisses; die Kirchenordnung selbst ist Bekenntnis, aktuelles Bekenntnis in der jeweiligen Situation, so daß die Ordnungsfrage hier eine entscheidende Glaubensfrage ist. Die Theorie vom „bekennenden Kirchenrecht" wurde nach dem 2. Weltkrieg von Erik Wolf weiter bedacht und systematisch reflektiert 2 1 5 . An das theoretische Konzept vom „bekennenden Kirchenrecht" stellt sich unwillkürlich die Frage nach der Rechtsqualität des Bekenntnisses: Gelangt man nicht bei der Umkehrung der richtigen Erkenntnis, daß alles Kirchenrecht und jede Kirchenordnung ein Bekenntnis zu Jesus Christus, dem Herrn ist, zu einer Verrechtlichung und Vergesetzlichung des Wortes Gottes und des antwortenden Bekenntnisses? Es handelt sich hierbei um die Frage nach dem „Wie" der Verbindung von Verkündigung und Bekenntnis einerseits und Kirchenordnung andererseits. Im Kirchenkampf verfolgte man nach der Konstatierung des „Daß" einer Verknüpfung von Bekenntnis und Ordnung die Frage nach dem „Wie" nicht weiter. In diesen rechtstheologischen Überlegungen während des Kirchenkampfes wurde nun mit der Betonung des „Daß" der Einheit von Bekenntnis und Kirchenordnung der Dualismus von Rechtskirche und Wesenskirche und die Differenztheorie mit der Dichotomie von Bekenntnis und Ordnung überwunden. Spiritualismus und Positivismus wurde die Absage erteilt und der Einfluß außerkirchlicher und nicht-theologischer Faktoren auf die Gestalt der Kirche Jesu Christi und ihre Ordnungen abgewehrt.
5.1.2.2. Bekenntnissynoden:
Barmen, Dahlem, Augsburg, Bad
Oeynhausen
Die Ergebnisse der rechtstheologischen Diskussion fanden in den Verlautbarungen der Bekenntnissynoden zu den Fragen der Kirchenordnung ihren Niederschlag. Schon das „Betheler Bekenntnis" von 1933 hatte den Dualismus im Kirchenverständnis und die Neutralisierung des Kirchenrechts und der Kirchenordnung abgelehnt. In der Barmer Theologischen Erklärung vom 29. bis 31.5.1934 erhielt die Zuordnung von christlichem Zeugnis und Kirchenordnung im Sinne der Theorie von einem „bekennenden Kirchenrecht" eine positive Bestimmung. In der 3. Barmer These heißt es: „Mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung" soll die Kirche Zeugnis geben
215 Vgl. E. Wolf, Bekennendes Kirchenrecht (1947), in: Rechtsgedanke und biblische Weisung, Tübingen 1948, 65 ff.
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von der Herrschaft Christi 2 1 6 . Die Kirchenordnung ist — vom christozentrischen Ansatz der Barmer Erklärung her — eine die Herrschaft Christi bekennende Ordnung. Denn die Kirchenordnung hat ihren Ursprung im Bekenntnis zu J e s u s Christus, also in einem aktualen Bekenntnisakt. Das „ D a ß " der Einheit von Bekenntnis und Ordnung ihrem Grund und Ziel nach ist somit in der 3. These klar herausgestellt worden. Organisch folgt aus dieser grundlegenden Bestimmung die 5. Barmer These, die sich gegen jede staatliche Einflußnahme auf die kirchlichen Ordnungen wendet; „der Staat ist nicht die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens". Damit war das Fundament für ein kirchliches Notrecht gelegt 2 1 7 . Aufgrund der Verschärfung der Spannungen zwischen Kirche und nationalsozialistischem Staat, vor allem aufgrund der Gleichschaltung der Nationalsynode am 9.8.1934 und der Vorgänge im süddeutschen Kirchenkampf — am 14.9.1934 war Bischof D. Wurm bis auf weiteres beurlaubt und unter Hausarrest gestellt worden, am 11.10.1934 war Bischof D. Meiser ebenfalls suspendiert und unter Hausarrest gestellt worden — erklärte die 2. Bekenntnissynode in Dahlem am 1 9 . / 2 0 . 1 0 . 1 9 3 4 das kirchliche Notrecht. Nach der Verurteilung der Eingriffe der Reichsregierung in kirchliche Angelegenheiten gipfelt die Dahlemer Erklärung in der Feststellung: „Damit tritt das kirchliche Notrecht ein, zu dessen Verkündigung wir heute gezwungen sind" (113) 2 1 8 . Die Bedingung der Möglichkeit für ein dem Juristen E. Fiedler darin, daß das der Kirche bestimmt ist, daß damit im einer möglichen Trennung von formell
kirchliches Notrecht liegt nach Recht in der Kirche vom Wesen Raum der Kirche — entgegen gültigem und materiell ungültigem
2 1 6 G. Niemöller, Die erste Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Barmen II, Göttingen 1959, 199, die 3. Barmer These. „ . L a s s e t uns aber rechtschaffen sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken an dem, der das Haupt ist, Christus, von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist' (Eph. 4,15.16.). Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, in der J e s u s Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer B o t s c h a f t wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, daß sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Uberzeugungen überlassen". Vgl. auch A. Burgsmüller (hrsg.), Kirche als Gemeinde von Brüdern, Gütersloh 1980. 2 1 7 Vgl. Chr. Luther, Das kirchliche Notrecht, seine Theorie und seine Anwendung im Kirchenkampf 1 9 3 3 - 3 7 , Göttingen 1969, 5 0 f f . 218 w . Niemöller, Die 2. Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Dahlem, Göttingen 1968, 38.
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Recht im staatlichen Bereich — eine Unterscheidung von formell und materiell nicht getroffen werden kann. Eine „kirchenrechtliche Vorschrift ist entweder vom Bekenntnis zu rechtfertigen oder nicht Was bekenntniswidrig ist, ist in der Kirche auch rechtswidrig" 2 1 9 . Ist aber diese Voraussetzung gegeben, so muß der kirchliche Notstand eintreten. Kl. Till erkennt in diesem Ausnahmerecht ein ,,aus dem reformierten Bekenntnis abgeleitetes kirchliches Notrecht" 2 2 0 . Das ist richtig; doch äußert M. Luther ähnliche Gedanken, wenn er z.B. in „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei" (1523) schreibt: „Wenn nu deyn fürst oder weltlicher herr dyr gepeut, mit dem Bapst zu hallten/sonst oder so zu gleuben/oder gepeutt dyr bücher von dyr zu thun/solltu also sagen/Es gepürtt Lucifer nicht neben Gott zu sitzen. Lieber herr/ich bynn euch schuldig zu gehorchen mit leyb und gutt/ gepietet myr nach ewr gewalt maß/auff erden/so will ich nicht gehorchen/Denn da seytt yhr eyn tyrann." 2 2 1 Das kirchliche Notrecht wird dann in der Schrift anerkannt „Daß ein Christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen" (15 2 3 ) 222 ; in dieser Frühschrift wird das Notrecht der Gemeinde behandelt. Zugleich ist hinzuzufügen, daß in der späteren CA XXVIII,21 die Möglichkeit notrechtlicher Maßnahmen von seiten des geistlichen Kirchenregiments „sine vi, sed verbo" begründet wird 2 2 3 . Als Merkmale für den Notstand und den Eintritt des gemeindlichen und kirchlichen Notrechts werden genannt die Verfälschung oder Beseitigung des sola scriptura, solus Christus, sola gratia, sola fide als norma normans. Auf der Bekenntnissynode in Dahlem wurde aus der Feststellung des Notrechts auch die konkrete Folgerung gezogen: „Auf Grund des kirchlichen Notrechts der an Schrift und Bekenntnis gebundenen Kirchen, Gemeinden und Träger des geistlichen Amtes schafft die Bekenntnissynode der DEK neue Organe der Leitung" (ΠΙ2). Der „Aufruf an die Gemeinden" 2 2 4 enthält dann entsprechend dem Gemeindeprinzip der „Bekennenden Kirche" Hinweise und Anweisungen an die Gemeinden zum Aufbau eigener kirchenleitender Organe. 219 E. Fiedler, Kirchliches Notrecht, JK 2, 1934, 887. 220 Kl. Till, Der Einfluß des Kirchenkampfes auf die Grundlagenproblematik des deutschen-evangelischen Kirchenrechts, dargestellt insbesondere am kirchlichen Notrecht, Marburg 1963, 163. mi BoA II, 381,32ff. 222 WA XI, 4 0 I f f . 223 BSELK 124,9. 224 W. Niemöller, Die 2. Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Dahlem, Göttingen 1968, 42ff.
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Die 3. Bekenntnissynode der D E K in Augsburg (4.—6.6.1935) legte in ihren Beschlüssen die Zuständigkeiten und Befugnisse innerhalb des Notkirchenregiments fest 2 2 5 . Neben den verschiedenen Einzelentscheidungen, wie z.B. zur Kirchen- und Lehrzucht (1), Konfirmation (2), zu Jugendund Schulfragen (3), zur Männerarbeit (7), zur volksmissionarischen Tätigkeit in der D E K (8) wurde die „Verfassung und Ordnung der Bekennenden Kirche" (6) und ein „Wort an die Obrigkeit" (17) verabschiedet. Das „Wort an die Obrigkeit" hebt zunächst hervor: „Wir führen den uns aufgenötigten Kampf um die Wahrheit des Bekenntnisses, die Freiheit der Verkündigung und die Würde der Kirche auch um unseres Volkes willen"; das weisende Wort gipfelt dann in der Feststellung: „Gebunden an Gottes Wort dürfen und werden wir uns durch nichts in unserer Verpflichtung für Volk und Staat beirren lassen. Wir nehmen auf uns, was wir um des Bekennens willen zu leiden haben. Wir müssen aber mit ehrerbietigem Ernst darauf hinweisen, daß Gehorsam im Widerspruch gegen Gottes Gebot nicht geleistet werden darf. Keine Macht der Welt kann die Kirche von dem Gehorsam gegen den Befehl ihres Herrn e n t b i n d e n . " 2 2 6 Und zur Durchführung der Notordnung heißt es dann in der „Zurüstung der Gemeinden für ihre geistlichen A u f g a b e n " unter Punkt 114: „Bei der Neuordnung ist ein Doppeltes zu bedenken: a) Wenn sie etwas anderes sein will als schriftgemäßer Dienst an der Gemeinde, so zerstört sie die Ordnung der Kirche und eröffnet dem Schwärmertum (Sekten und dergl.) die Tore. b) Wo sie nicht mit der erforderlichen Weisheit und Zucht gehandhabt wird, zerfällt die Gemeinde. Wie alle Gemeindeordnungen hat auch die Notordnung zum Ziel: die rechte Verkündigung des Wortes und die rechte Verwaltung der Sakram e n t e . " 2 2 7 Es sollten dann gemäß dem Gesetz zur Sicherung der Deutschen Evangelischen Kirche am 2 4 . 9 . 1 9 3 5 Kirchenausschüsse gebildet werden. Über diese Frage kam es zu ersten Spannungen zwischen den sog. „ i n t a k t e n " Landeskirchen und den preußischen Bruderräten. Vom 17.—22.2.1936 tagte die 4. — und auch letzte — Bekenntnissynode der D E K in Bad Oeynhausen. Man nahm dort noch fast einstimmig das theologische Wort „ V o n der Kirchenleitung" an. Schon der Artikel 4 der Barmer Theologischen Erklärung hatte das Führerprinzip in der Kirche 225 v g l . w. Niemöller, Die 3. Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Augsburg, Göttingen 1969, 73ff. 2 2 « Ebd., 86f. Ebd., 89.
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verworfen; die Bekenntnissynode in Dahlem prangerte in Artikel 13 und I I I die Reichskirchenregierung als ein dem Führerprinzip verhaftetes Kirchenregiment an. In Augsburg sollten die Kompetenzfragen der Vorläufigen Kirchenleitung geregelt werden. Und neu in dem theologischen Wort „Von der Kirchenleitung" in Bad Oeynhausen geht es um die grundsätzlichen theologischen Themen zur Kirchenleitung: „Die Kirche hat den Auftrag, das Evangelium von Jesus Christus zu bezeugen. Allein diesen Auftrag hat sie in ihrem gesamten Dienst auszurichten" ( l ) 228 . Das theologische Wort erklärt dann weiter: „Eine Kirchenleitung, die den Gehorsam gegen die heilige Schrift und die Bindung an die Bekenntnisse der Kirche verleugnet, verwirft den Anspruch auf Leitung und zwingt die Kirche, an deren Statt eine andere Leitung zu setzen" (2 ) 229 . „Die an Gottes Wort gebundene Kirche ist berufen, in Sachen ihrer Lehre und Ordnung allein zu urteilen und zu entscheiden" (3) 2 3 0 . Wichtige Funktionen der vom Wesen der Kirche her bestimmten Kirchenleitung werden in diesem theologischen Wort dann genannt: Kirchenleitung ist Dienst, Dienst an der Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus; auch die Sakramentsverwaltung hätte hier explizit noch genannt werden können. Die Kirchenleitung ist weiter geistliches Kirchenregiment, das die Schlüsselgewalt ausübt; diesen Dienst an den Schlüsseln als ein ministerium verbi divini tut sie — und auch dieser Gedanke hätte noch stärker betont werden können — in der Kraft des heiligen Geistes. Das gilt auch für die iurisdictio ecclesiastica, die nach gewissen und inhaltlich bestimmten Kriterien verantwortet wird. Aufs ganze gesehen, wird in diesem theologischen Wort die Bindung der Kirchenleitung an das Bekenntnis wie auch die Verknüpfung der Ordnung mit der Verkündigung des Evangeliums hervorgehoben und in das kirchliche Notrecht einbezogen. Auf der Bekenntnissynode in Bad Oeyenhausen wurde ein weiterer wichtiger Beschluß zur Schulfrage noch gemeinsam gefaßt 231 . Als dann aber die Vorläufige Kirchenleitung zurücktrat, zerriß die Gemeinsamkeit der Bekennenden Kirche nicht nur in die Gruppen der „intakten" Landeskirchen und die Bruderräte um M. Niemöller, sondern auch in die konfessionell bestimmten Gruppen 232 . 228 w . Niemöller, Die 4. Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Bad Oeynhausen, Göttingen I 9 6 0 , 1 1 2 . » » Ebd., 1 1 2 . 230
Ebd., 1 1 2 .
Mi Ebd., 115ff. 232 Vgl. K. Meier, Der evangelische Kirchenkampf II, Göttingen 1 9 7 6 , lOlff.
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Nicht wenige Forscher 2 3 3 erklären die Kirchenkampfzeit nach 1936 als „für die kirchenrechtliche Betrachtung im wesentlichen unergiebig" 234 . Das scheint mir nur bedingt richtig. Wohl sind bis 1936 die entscheidenden Weichen in den Grundfragen von Bekenntnis und Kirchenordnung und in der Frage des kirchlichen Notrechts gestellt. Die rechtstheologischen Themen, die Fragen der Kirchenordnung sind nun aber in der regionalen Bekenntnissynoden — etwa denen des Rheinlandes 2 3 5 oder denen der altpreußischen Union 2 3 6 — auf ihre Konkretisierung und rechtliche Durchsetzung hin weitergeführt worden. Auch an die wie eine Zusammenfassung der rechtstheologischen Arbeiten aus dem Kirchenkampf anmutende Denkschrift „Von rechter Kirchenordnung" sei erinnert 2 3 7 . Sie wurde auf der 11. Bekenntnissynode der altpreußischen Union in Hamburg-Hamm am 17./18.10.1942 unter Punkt 7 beschlossen 2 3 8 und auf der 12. Bekenntnissynode der APU in Breslau (16./17.10.1943) nach dem 2. Beschluß erneut in Auftrag gegeben und am 9./10.1.1945 schließlich verabschiedet 239 . Es ist weiter an die kirchlichen Verlautbarungen und Verordnungen zu erinnern, die ganz konkret der Verkündigung und dem kirchlichen Leben dienen sollten. Trotz der z.T. planmäßigen Behinderungen durch staatliche Stellen wurden sie zur Durchführung kirchenleitender Aufgaben beschlossen. Wie ein roter Faden — so kann man zusammenfassend zu diesem Absatz sagen — zieht sich die Überwindung des Dualismus idealistischer, spiritualistischer oder positivistischer Prägung im Kirchen- und Kirchenordnungsverständnis durch die Arbeit der Bekenntnissynoden. Auf der Basis des kirchlichen Notrechts wurde dann eine Kirchenordnung gebildet, die — wie es im theologischen Wort „Von rechter Kirchenleitung" unter 233 Vgl. etwa: Chr. Luther, Das kirchliche Notrecht, seine Theorie und seine Anwendung im Kirchenkampf 1933—37, Göttingen 1969; K. Meier, Der evangelische Kirchenkampf I, Göttingen 1976, 2 4 1 f f . 234 Kl. Till, Der Einfluß des Kirchenkampfes auf die Grundlagenproblematik des deutschen-evangelischen Kirchenrechts, dargestellt insbesondere am kirchlichen Notrecht, Marburg 1963, 2 0 8 . 235 J. Beckmann (Hrsg.), Rheinische Bekenntnissynoden im Kirchenkampf, Neukirchen—Vluyn 1975. 23« w . Niesei (Hrsg.), Um Verkündigung und Ordnung der Kirche, Bielefeld 1949. 237 A. Stein, Die Denkschrift des altpreußischen Bruderrates „ V o n rechter Kirchenordnung", in: Zur Geschichte des Kirchenkampfes II, hrsg. H. Brunotte, Göttingen 1971, 164ff. 238 w . Niesei (Hrsg.), Um Verkündigung und Ordnung der Kirche, Bielefeld 1949, 98. 23 » Ebd., 104.
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Rückgriff auf die reformatorischen Kirchenordnungen heißt 2 4 0 — „in allen ihren Organen und Funktionen dem Bekenntnis der Kirche entspricht" 2 4 1 . 5.1.2.3.
Kirchenverordnungen
Die rechtstheologischen Überlegungen und kirchenregimentlichen Grundsatzentscheidungen zu den kirchlichen Ordnungen konkretisieren sich in den positiv-rechtlichen Kirchenverordnungen und in den das Leben der Gemeinde gestaltenden Einzelbeschlüssen. Zahlreiche Kirchenverordnungen, gewachsen aus der Bindung der Kirchenordnung an das Bekenntnis, sind von den Organen der Bekennenden Kirche während des Kirchenkampfes erlassen worden; die rheinischen Bekenntnissynoden 242 und die altpreußischen 243 zeigen dies. G. Harder hat in dem Aufsatz „Rechtsbildung in der Bekennenden Kirche" 2 4 4 einen guten Uberblick über die Kirchenverordnungen in erster Linie der APU gegeben; seine Ergebnisse sollen erweitert und durch die Rechtsbildungen in der rheinischen Kirche ergänzt werden: Zunächst stellt das neue Synodalrecht eine Rechtsform dar, die in der allein im christlichen Bekenntnis verankerten Kirchenordnungsvorstellung begründet ist. Das Gemeindeprinzip steht hier im Mittelpunkt, und zwar die Gemeinde der Glieder, die sich durch die sog. „rote Karte" 2 4 5 oder durch eine besondere Unterschrift 2 4 6 für die bekennende Gemeinde entschieden und verpflichtet haben. Von der Gemeinde nun bauen sich die verschiedenen synodalen Ebenen auf. Die Gemeinde der Gerechtfertigten, das Priestertum aller Gläubigen, soll gegen eine im Führerprinzip begründete hierarchische Ordnung nun im geistlichen Synodalrecht die sachgemo Ebd., 116. 241 W. Niemöller, Die 4. Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Bad Oeynhausen, Göttingen 1960, 114. 242 J. Beckmann (Hrsg.), Rheinische Bekenntnissynoden im Kirchenkampf, Neukirchen—Vluyn 1975. 243 W. Niesei (Hrsg.), Um Verkündigung und Ordnung der Kirche, Bielefeld 1949. 244 G. Harder, Rechtsbildungen in der Bekennenden Kirche, in: Kirche und Staat im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. W. Egger, Neustadt an der Aisch 1968, 211ff. 245 Vgl. die 1. Bekenntnissynode der APU in Barmen vom 29.5.1934 in: Um Verkündigung und Ordnung in der Kirche, hrsg. W. Niesei, Bielefeld 1949, 7ff.; ebenfalls: G. Harder, Rechtsbildung in der Bekennenden Kirche, in: Kirche und Staat im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. W. Egger, Neustadt an der Aisch 1968, 220, Anm. 24. 246 Vgl. die Freie Evangelische Synode im Rheinland vom 15.5.1934 in: J. Beckmann (Hrsg.), Rheinische Bekenntnissynoden im Kirchenkampf, Neukirchen—Vluyn 1975, 145 ff.
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mäße Ordnung haben. — Weiter sind die Verordnungen zur kircheneigenen Ausbildung des theologischen Nachwuchses zum 1. und 2. Examen zu nennen. Theologiestudium und theologische Ausbildung wurden j a als Bekenntnisakt verstanden. Mit dem „Himmler-Erlaß" vom August 1937 verschärfte sich die Lage für die Theologiestudenten und die Kandidaten, was natürlich seine Auswirkungen bis in die private Sphäre hinein hatte. Es gab Zerwürfnisse zwischen Eltern und den Kindern, die sich dem Theologiestudium und dem Pfarrerberuf in der Bekennenden Kirche verschrieben hatten; Verlobungen wurden aufgelöst. Das Motiv war häufig die Sorge der Eltern des Kandidaten oder der Braut um eine mehr oder weniger gesicherte Zukunft. Die 7. Bekenntnissynode der altpreußischen Union im Berlin-Nikolassee (28.—31.1.1939) verabschiedete darum einen Rundbrief „ A n die jungen Brüder und Schwestern der Bekennenden Kirche Altpreußens"; in diesem Brief wendet sich die Synode an die jungen Brüder, die in der letzten Zeit sich von der Bekennenden Kirche trennten und sich dem Kirchenregiment und seiner unevangelischen Lehre unterstellten 2 4 7 . Es ist ein mahnendes und zugleich bittendes Wort voll eifernder Sorge. Auch ein Brief „ A n die Eltern und Verwandten unserer jungen Brüder und Schwestern" wurde auf dieser Versammlung geschrieben 2 4 8 . Andringend wensich die Synode an die Verwandten der Kandidaten: ,,Wer für seine Kinder eine gute Beamtenstellung mit Pensionsberechtigung sucht, der soll sie nicht Theologen werden lassen. Mit dem Predigtamt verbunden war zu Zeiten eine geachtete Stellung in Staat und Gesellschaft. Heute muß jeder wissen, daß der Prediger des göttlichen Wortes vielfach die Schmach Christi zu tragen hat. Wenn ihr also seinerzeit eingewilligt habt, daß Eure Kinder den Weg zur Vorbereitung zum geistlichen Dienst gingen, dann habt Ihr Euch mit ihnen auf einen gefährlichen Weg begeben. Das Predigtamt fordert den ganzen Menschen, fordert ihn in seiner ganzen Existenz, weil es dabei um Gott geht und um sein heiliges Wort. Das Predigtamt beruht auf dem Auftrag, den Christus seiner Kirche gegeben hat. Dieser Auftrag, mag ihn die Welt illegal schelten, wird in der Ordination durch die Bekennende Kirche erteilt, durch ihn, nicht durch uns sind Eure Söhne und Töchter gebunden, und der Dienst, den sie da empfangen, ist ein köstliches Amt. So bitten wir Euch, gebt Eure Söhne und Töchter, die den Weg der Bekennenden Kirche beschritten haben, ganz in diesen Dienst . . , " 2 4 9 . Und an die Frauen und Bräute heißt es: „Schließlich richten wir noch ein Wort an die Frauen und 247
73f. MS
W. Niesei (Hrsg.), Um Verkündigung und Ordnung der Kirche, Bielefeld 1949, Ebd. 74f. Ebd., 74.
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Bräute unserer jungen Brüder. Wir kennen keinen schöneren und reicheren Dienst, der Menschen gegeben werden kann, als den Dienst am Wort. Darum bezeugen wir Euch, daß es ein großes Geschenk ist, wenn Ihr unseren jungen Brüdern als die Gehilfinnen in Freude und Leid zur Seite stehen dürft." 2 5 0 Über die persönlichen und seelsorgerlichen Fragen und Probleme geben die Berichte des Ausbildungsmates der rheinischen Bekenntnissynode eine lebensnahe Dokumentation 2 5 1 ; dort war es das Ausbildungsamt, das den jungen Theologen seelsorgerliche Beratung und Begleitung gab. Diese mehr seelsorgerlich gestimmten Briefe und Erklärungen der Bekenntnissynoden in Altpreußen haben ihre rechtliche Entsprechung in der kirchlichen Gründung eigener theologischer Ausbildungsstätten. Viele der nicht zu den Deutschen Christen gehörenden, auf der Grundlage von Schrift und Bekenntnis stehenden Professoren waren ohnehin von ihren Aufgaben an staatlichen Universitäten suspendiert, wie z.B. K. Barth 2 5 2 , P. Tillich 2 5 3 , G. Dehn 2 5 4 und viele andere. Sie sollten teilweise in kircheneigenen Ausbildungsstätten ihren Dienst tun. Am 31.10.1935 wurden die Kirchlichen Hochschulen in Berlin und Elberfeld eröffnet. „Die Gründung von Theologischen Hochschulen durch eine kirchliche Instanz war in der Tat etwas Neues, für den Staat etwas Unerhörtes, ein Eingriff in seine eigensten Rechte." 2 5 5 Mit dem „HimmlerErlaß" wurde dann der Bekennenden Kirche das Lehren und Prüfen ausdrücklich verboten. Diesem Erlaß fiel u.a. das Predigerseminar in Finkenwalde am 28.9.1937 zum Opfer 2 5 6 . Die Berliner Hochschule existierte im Verborgenen weiter bis 1941, als die Dozenten der Kirchlichen Hochschule in Berlin verhaftet wurden 2 5 7 . 250
Ebd., 75. Vgl. J. Beckmann (Hrsg.), Rheinische Bekenntnissynoden im Kirchenkampf, Neukirchen-Vluyn 1975, 192ff., 265ff., vor allem auch den 5. Beschluß der 8. Evangelischen Bekenntnissynode im Rheinland vom 16./17.7.1939 in Düsseldorf in: ebd., 450ff. 252 Vgl. ebd., 208. 253 P. Tillich, Auf der Grenze, Stuttgart 1962, 63f. 254 E. Bizer, Der „Fall Dehn", in: Festschrift für Günther Dehn zum 75. Geburtstag, hrsg. W. Schneemelcher, Neukirchen 195 7, 239ff. 255 G. Harder, Rechtsbildung in der Bekennenden Kirche, in: Kirche und Staat im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. W. Egger, Neustadt an der Aisch, 1968, 224. 256 Vgl. E. Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologe. Christ. Zeitgenosse, München 19673, 659ff. 251
257
G. Harder, Rechtsbildung in der Bekennenden Kirche, in: Kirche und Staat im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. W. Egger, Neustadt an der Aisch, 1968, 224.
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Die Bekenntnissynode der APU begründete das kirchliche Recht auf eine kircheneigene Ausbildung des Nachwuchses aus dem Notrecht auf der 4. Synode in Breslau ( 1 6 . - 1 8 . 1 2 . 1 9 3 6 ) . Dort heißt es im 2. Beschluß: „1. Synode stellt fest, daß die Kirche in zunehmenden Maße durch staatliche Anordnungen verhindert wird, die wissenschaftlich-theologische Ausbildung ihres Nachwuchses für das geistliche Amt wahrzunehmen. An den theologischen Fakultäten wird die Arbeit in Forschung und Lehre entkirchlicht 2. Synode sieht darin einen Eingriff in die Aufgabe der Kirche, eine Verletzung der ihr vom Staate zugesicherten Selbständigkeit, eine Antastung ihres Bekenntnisses und in alledem einen Angriff auf die künftige Predigt der Kirche 5. Synode erinnert die theologischen Lehrer an ihren kirchlichen Auftrag und erwartet, daß sie ihm unter allen Umständen gerecht werden. Sie erinnert die Studenten der Theologie daran, daß sie ein Amt der Kirche begehren, und erwartet, daß sie ihr Studium nach den Weisungen der Kirche durchführen. Sie weist die Gemeinde darauf hin, daß der Angriff auf das Katheder des Lehramtes der Angriff auf die Kanzel des Predigtamtes ist, und ermahnt sie, nicht nachzulassen in der Fürbitte und dem Opfer für die Arbeit der Kirche an ihren künftigen Predigern." 258 Auch der geistliche Charakter des Ältestendienstes ist von dieser im Dienst der Verkündigung stehenden und im Bekenntnis begründeten Ordnung geprägt. Auf der 10. Bekenntnissynode der Evangelischen Kirche der APU in Hamburg-Hamm (8.—9.11.1941) bestimmte der 4. Beschluß, daß die Ältesten der Gemeinde verstärkt in den Dienst des Lektoren, des Liturgen und Lesepredigers und des ordinierten Predigers für eine begrenzte Zeit kirchlichen Notstands eingesetzt werden sollen. Auch ein Ordinationsformular für die Einsetzung von Ältesten zum Dienst am Wort und Sakrament wurde auf dieser Synode verabschiedet 2584 . Dieser Dienst der ordinierten Ältesten gründet im allgemeinen Priestertum, zugleich aber in der rechtmäßigen Beauftragung durch die Bekennende Kirche. Das Amt des ordinierten Ältesten hat somit in der Ordnung der Gemeindekirche, die im Auftrag bekenntnisgebundener Verkündigung steht, ihre Verankerung 259 . 258 w_ Niesei (Hrsg.), Um Verkündigung und Ordnung der Kirche, Bielefeld 1 9 4 9 , 23f. 258a Vgl d a z u : A. Stein, Evangelische Laienpredigt. Ihre Geschichte, ihre Ordnung im Kirchenkampf und ihre gegenwärtige Bedeutung, Göttingen 1 9 7 2 , 70ff. 259
Ebd., 86ff. 171
Es wird schließlich der Dienst der Vikarinnen und Pastorinnen stärker integriert in die pfarramtlichen Aufgaben. Für den Bereich der altpreußischen Union faßte die 11. Bekenntnissynode in Hamburg-Hamm (17./ 18.10.1942) im 4. und 5. Beschluß die Entscheidung über den Dienst der Vikarinnen und Pastorinnen: „Der Dienst der theologisch gebildeten Frau (Vikarin) ist Dienst am Wort. Er richtet sich an Frauen, Jugendliche und K i n d e r . " 2 6 0 Im 5. Beschluß heißt es dann weiter: „In Zeiten der Not, in denen die geordnete Predigt des Evangeliums aus dem Munde des Mannes verstummt, kann die Kirchenleitung gestatten, daß Frauen, die dazu geeignet sind, auch im Gemeindegottesdienst das Evangelium verkündigen." 2 6 1 Diese Verordnungen sind weniger im kirchlichen Notrecht begründet als im Notstand der Bekennenden Kirche während des Krieges, als viele Pastoren zum Militärdienst eingezogen wurden und die Gemeinden verwaist blieben. Für die theologische Begründung des Pfarrerindienstes war die Zeit noch nicht da. Schließlich ist auch die Lebensordnung der altpreußischen Union, das sog. „Kirchbüchlein" 2 6 2 , und auch die auf der 10. rheinischen Bekenntnissynode vom 6.12.1942 in Essen beschlossene Lebensordnung 2 6 3 vom Verständnis einer bekennenden Kirchenordnung her bestimmt. Im Zusammenhang der im Dienst der Wortverkündigung stehenden Kirchenordnung ist auch die „Ordnung der brüderlichen Z u c h t " 2 6 4 und die Visitationsordnung 2 6 5 zu nennen. Wie alle Kirchenverordnungen sind sie in die bekenntnisgebundene Kirchenordnung hineinzunehmen. Es läßt sich somit festhalten, daß alle diese konkreten Kirchenverordnungen und Entscheidungen betreffs des gemeindlichen und kirchlichen Lebens im Dienst der Verkündigung des Wortes Gottes stehen; sie haben ihren Grund, ihr Maß und ihr Ziel im Bekenntnis zu J e s u s Christus, sie sind auch in ihrer positiv-rechtlichen Ausprägung mit diesem Bekenntnis ursprunghaft eins. Das „ D a ß " der Bekenntnisgebundenheit kirchlicher MO
Ebd., 97.
Ebd., 97f. » 2 Vgl. S. 7 7ff. 263 j . Beckmann (Hrsg.), Rheinische Bekenntnissynoden im Kirchenkampf, Neukirc h e n - V l u y n 1975, 4 8 5 f f . 264 Vgl. w . Niesei, Um Verkündigung und Ordnung der Kirche, Bielefeld 1949, 84, 89 ff. 265 Vgl. ebd., 29 den 6. Beschluß über „Kirche und Kirchenleitung" auf der 4. Bekenntnissynode der APU in Breslau ( 1 6 , - 1 8 . 1 2 . 1 9 3 6 ) ; ebenso: J . Beckmann (Hrsg.), Rheinische Bekenntnissynoden im Kirchenkampf, Neukirchen—Vluyn 1975, 3 5 6 f f . die „Ordnung des kirchlichen Besuchsamtes der Evangelischen Bekenntnissynode im R h e i n l a n d " ; vgl. auch: G. Harder, Die kirchenleitende Tätigkeit des Brandenburgischen Bruderrates) in: Zur Geschichte des Kirchenkampfes I, hrsg. K.-D. Schmidt, Göttingen 1965, 21 I f f .
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Ordnungen auch in den Formen konkreter Erlasse, Rundschreiben, Erklärungen und Verordnungen ist festzustellen. Das allgemeine Urteil von H. Brunotte im Aufsatz „Grundfragen der Kirchenverfassung nach den Erfahrungen des Kirchenkampfes" ist im Blick auf die Ausführungsbestimmungen der „ b e k e n n e n d e n " Kirchenordnung zu differenzieren; dort heißt es: „Es gehört zu der Tragik des Kirchenkampfes, daß zwar ein verfassungsrechtlich außerordentlich wichtiger Grundsatz aufgestellt (und einmütig durchgehalten) wurde, daß es aber nicht gelang, diesen Grundsatz in der Praxis an irgendeiner Stelle überzeugend zur Geltung zu bringen." 2 6 6 Zur Geltung gebracht wurde aber dieser Grundsatz einer untrennbaren Verbindung von gepredigtem Wort Gottes u n d gemeindlicher Ordnung in diesen konkreten Kirchenverordnungen, die das gemeindliche Leben im Kirchenkampf gestalteten.
5.1.2.4. Der Rückgriff auf die frühen Kirchenordnungen 5.1.2.4.1. Die lutherische
reformatorischen
Reformation
Die integrative Verknüpfung der Verordnungen zur Visitation und zum Leben der christlichen Gemeinde in ihrer Verbundenheit mit dem Bekenntnis und ihrer dienenden Aufgabe gegenüber der Verkündigung des Wortes Gottes und der Sakramentsverwaltung entdeckten die „ V ä t e r " des Kirchenkampfes durch den Rückgriff auf die frühreformatorischen Kirchenordnungen. Schon in den ersten Anfängen der Reformation sind diese theologisch begründeten Ordnungen und Verordnungen angelegt. Gegen E. Sehlings Feststellung in der „Geschichte der protestantischen Kirchenverfassung" ist das nachdrücklich festzustellen; dort heißt es: „Die Reformation der Grundlehren des Glaubens vollzog sich am schnellsten, die Reformation des Kultes hat weit länger gedauert und die Reformation der Verfassung am längsten. Es entsprach dies auch ganz den Intentionen Luthers, der auf die äußeren Dinge wenig Gewicht legt" 2 6 7 . Unter historischem, noch mehr unter theologischem Blickwinkel wird man dem nicht zustimmen k ö n n e n . Denn sofort nach dem Durchbruch zur reformatorischen Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade in M. Luthers Psalmen- 2 6 8 und Römerbriefvorlesung 2 6 9 und nach 266
H. Brunotte, Grundfragen der Kirchenverfassung nach den Erfahrungen des Kirchenkampfes, in: Bekenntnis und Kirchenverfassung, Göttingen 1977, 176. 267 E. Sehling, Geschichte der protestantischen Kirchenverfassung, Leipzig—Berlin 1 9 1 4 2 , 13. » » Vgl. Psalmenscholien 1 5 1 3 / 1 5 zu Ps. 70, in: B o A V, 149ff. » 9 Vgl. die Auslegung zu Rom. 2,15 in BoA V, 2 2 7 , 1 8 f f .
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dem Thesenanschlag in Wittenberg 270 beschäftigte der Reformator sich sehr intensiv mit den Fragen gemeindlicher Ordnung. Bereits 1519/20 ging er in verschiedenen Sermonen auf Themen ein wie Taufe 2 7 1 , Abendmahl 2 7 2 , Buße 2 7 3 , Ehe 2 7 4 , Bann 2 7 5 und Exkommunikation 2 7 6 . In der Aneinanderreihung der Themen deutet sich an, daß es M. Luther um das Leben des Christen als einer Ganzheit vor Gott geht. Um 1523 verfaßte M. Luther dann verschiedene Ordnungen, die das Leben der christlichen Gemeinde regeln und ordnen sollen 2 7 7 . Da sind zunächst vor allem die gottesdientslichen Ordnungen: „Von ordenung gottes diensts yun der gemeine" (15 2 3 ) 2 7 8 und die „Formula missae et communionis pro Ecclesia Vuittembergensi" (15 2 3) 2 7 9 , die die Vorformen von Luthers „Deutsche Messe und ordenung gottesdiensts" (1526) 2 8 0 darstellen. Auch das „Taufbüchlein verdeutscht" (15 2 3 ) 2 8 1 ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Mit den Gottesdienstordnungen steht die Schrift über die gemeindliche Verantwortung in Lehr- und Amtsfragen in Verbindung „Daß ein Christliche Versammlung odder gemeine recht und macht habe, alle lere tzu urteylen und lerer tzu beruffen, eyn und abzusetzen, Grund und Ursache aus der schrift" 2 8 2 . Aber auch die Finanzverwaltungsordnung der Stadt Leisnig „Ordnung eines gemeinen Kasten" (15 2 3 ) 2 8 3 gehört zu den gemeindlichen Ordnungen der Kirche, die die .inneren' und ,äußeren' Verhältnisse, das geistliche und das leibliche Leben nicht voneinander trennt. Schließlich sind auch die späteren Ehe- und Trauordnungen an dieser Stelle zu nennen 2 8 4 . 2 7 0 J . Heckel, Initia iuris ecclesiastici Protestantium, in: Das blinde, undeutliche Wort .Kirche', K ö l n - G r a z 1964, 132ff. 2 7 1 Ein Sermon von dem heiligen hochwürdigen Sakrament der T a u f e ( 1 5 1 9 ) , WA II, 7 2 4 f f . 2 7 2 Ein Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen Leichnams Christi und von den Bruderschaften ( 1 5 1 9 ) , WA II, 7 3 8 f f . 27 3 Ein Sermon von dem Sakrament der Buße ( 1 5 1 9 ) , WA II, 7 0 9 f f . 2 7 4 Ein Sermon von dem ehelichen Stand ( 1 5 1 9 ) , WA II 7 0 9 f f . 2 7 « Ein Sermon vom Bann ( 1 5 2 0 ) , WA VI, 6 I f f . 2 7 « Disputatio de excommunicatione (1520), WA VII, 2 3 3 f f . 277 Vgl. κ . D. Schmidt, Luthers Ansatz zur Neuordnung der Gemeinden im J a h r e 1523, Luther 1953, 14ff. Ebenfalls: M. Schmidt, Die Reformation Luthers und die Ordnung der Kirche, in: Im Lichte der Reformation II, Göttingen 1959, 5ff. 27® WA XII, 3 I f f . 2 7 » WA XII, 197ff. 280 WA X I X , 4 4 f f . 2 »i WA XII, 3 8 f f . 2 » 2 WA XI, 4 0 I f f . 2 Vgl. l.Kor. 8,33,35; Mt. 10,32; 16,16; 27,54; Mk. 14,62; 15,39; Joh. 9,22; II,27; 12,42; l.Joh. 2,23,43f.; 4,15; Rom. 10,9f.; 2.Kor. 4,13; Hebr. 13,15. 542 Vgl. Cl. Westermann Π*ΤΛ in: Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, Bd. I, hrsg. E. Jenni, Cl. Westermann, München 1971, 674ff.; O. Michel, όμολσγεϊν, ThWNT V, Sp. 202ff.
224
der Bindung an das Bekenntnis die Menschen bleibt sie in ihrer nung". Dies ist im wesentlichen vor allem von Erik Wolf für die bar gemacht wurde 543 .
als Antwort auf Gottes Heilsgabe an adjuvativen Funktion ,,bekennende Orddas Ergebnis des Kirchenkampfes, das Rechtstheologie der Gegenwart frucht-
Bei der „bekennenden Ordnung" erweist sich der Bezug zum Bekenntnis vor allem im geistlichen Gebrauch dieser Ordnung. In den neutestamentlichen Haustafeln wird dieser usus spiritualis durch die hös tö kyriöFormel ausgedrückt; die paulinische Ethik deutet ihn durch das hös mä an; in den deuteropaulinischen Schriften findet er in Kol. 3,17 seinen prägnanten Ausdruck: „Alles, was ihr tut mit Wort und Werk, das tut alles im Namen des Herrn Jesus Christus, in dem ihr Gott, dem Vater, durch ihn dankt." Durch den geistlichen Gebrauch sind die Lebens-Visitationsordnungen „antwortende" und „bekennende" Ordnungen, bezogen auf das Bekenntnis der Sünden und das preisende Bekenntnis des dreieinen Gottes, in dem aller Lobpreis gipfelt.
5.3.3. Die Rechtsqualität:
der „transformatorische"
Akt
In der Studie „Die Grundlagenproblematik des deutschen evangelischen Kirchenrechts 1933—1945" hat H. Wehrhahn 5 4 4 einen höchst informativen Überblick über die rechtstheologischen Grundfragen dieser Zeitspanne gegeben. Durch die Studie, die die verschiedenen rechtstheologischen Positionen systematisch ordnet und auf ihre Grundansätze zurückführt, zieht sich wie ein roter Faden die spannungsreiche Problematik zwischen einerseits der Frage nach der Rechtserheblichkeit des Bekenntnisses und damit nach der heiligen Schrift und dem Bekenntnis als der ausschließlichen Erkenntnisquelle der Kirchenordnung im „bekennenden Kirchenrecht" und andererseits der Frage nach einem Kirchenrecht, das in unserer „säkularisierten" Zeit die juristischen Denkvoraussetzungen und die Natur des Rechts wirklich emst nimmt. Die erste Position ist mit der Kirchenrechtstheorie Erik Wolfs 545 verbunden, 543
Erik Wolf, Bekennendes Kirchenrecht, in: Rechtsgedanke und biblische Weisung, Tübingen 1948, 68; vgl. auch: Ordnung der Kirche, Frankfurt/M. 1961, 5 0 2 f f . 544 H. Wehrhahn, Die Grundlagenproblematik des deutschen evangelischen Kirchenrechts 1 9 3 3 - 1 9 4 5 , T h R N F 18, 1950, 6 9 f f . ; 112ff.; T h R N F 19, 1951, 221ff. s « T h R N F 18, 1950, 85; vgl. auch: ebd., 86, 130 und T h R N F 19, 1951, 226, 230, 234. 15 Plathow, Lehre
225
die zweite mit der Rechtstheologie H. Liermanns 5 4 6 , A.D. Müllers 547 und G. Wünschs 548 . Es ist die Frage nach dem „Wie" einer Zuordnung von Bekenntnis und Kirchenordnung. In H. Wehrhahns Worten lautet die Frage: „Trägt er (der Rechtstheologe) den von den theologischen abweichenden juristischen Denkvoraussetzungen in dem Maße Rechnung, daß er einer juristischen Kirchenrechtstheorie „die leitenden Ideen", „Norm und Schranke rechtlicher Konstruktion" zu liefern vermag?" 5 4 9 Die in der Studie behandelte Epoche rechtstheologischer Diskussion charakterisiert H. Wehrhahn mit der Feststellung, „daß in Fällen der Kollision zwischen Bekenntnis und geltendem Kirchenrecht das Bekenntnis sich durchsetzte" 5 S 0 . Das bedeutet für H. Wehrhahn nun aber noch keine Klärung des Grundproblems 5 5 1 . Es bedeutet nur, daß die Rechtstheologen, die die eigene Natur des Rechts gegenüber dem geistlichen Bekenntnis und damit die Natur der Rechtssätze gegenüber den Bekenntnissätzen betonen, nicht zum Zuge kamen. H. Wehrhahn nimmt unter den bezeichneten Positionen eine Zwischenstellung ein, die in dieser Studie nur angedeutet ist, die aber in dem Aufsatz: „Die kirchenrechtlichen Ergebnisse des Kirchenkampfes" 5 5 2 eine breitere Darstellung findet. Einerseits hebt er als lutherisch geprägter Rechtsdenker hervor, daß „lutherische Ekklesiologie und neuzeitliches Rechtsdenken Exponenten zweier kontrastierender Wirklichkeitsverständnisse sind" 553 . Er sagt dies gegenüber lutherischen Rechtstheologen 554 , vor allem aber gegen die Juristen des Kirchenkampfes 5 5 5 und gegenüber Erik Wolf 5 5 6 , wozu auch H. Dombois noch zu zählen wäre: die zwei Regimente Gottes werden bei ihnen nicht klar unterschieden. Andererseits stimmt er auch nicht den Rechtsdenkern zu, die im Ernstnehmen des Säkularisationsproblems das Recht in seiner Natur und Qualität verselbständigen; nur die analoge Zuordnung des Wesensrechts der Kirche und des profanen Rechts, wie sie H. Liermann vornimmt, findet eine positive Bewertung 5 5 7 . Über diese abgrenzenden Darstellungen hinaus macht H. Wehrhahn dann seine eigenen positiven Darlegungen: Kirchen546
H. Liermann, Deutsches Evangelisches Kirchenrecht, Stuttgart 1933, 23. A. D. Müller, Religion und Recht als theologische und kirchliche Gegenwartsfrage, Arch.evang.KR 4, 1940, 359ff., bes. 371. 548 G. Wünsch, Evangelische Ethik des Politischen, Tübingen 1937, 639ff. 549 ThRNF 19, 1951, 226. sso Ebd., 237. ssi Ebd., 238. 552 H. Wehrhahn, Die kirchenrechtlichen Ergebnisse des Kirchenkampfes, EvTh 7, 1947/48, 313ff. 553 ThRNF 18, 1951, 238. 554 Ebd., 238. 555 Ebd., 237, Anm. 2. 556 ThRNF 19, 1951, 241ff. sst Ebd., 236. 547
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recht und Bekenntnis entstehen uno actu. Die Sätze der Kirchenordnung haben darum Bekenntnisqualität; umgekehrt ist jedoch nicht zu sagen, daß jede Bekenntnisaussage Rechtsqualität hat; die einzelnen Bekenntnisaussagen taugen in verschiedenem Maße zur Rechtsqualität. Diese Differenzierung kann aber nur in der Weise eine Klärung erfahren, daß ein „kirchlicher Rechtssetzungsakt als ,transformatorisches Bekenntnis' begriffen wird, in dem die Gemeinde der Christusbekenner sich über die Rechtssatzqualität und den Umfang der Rechtsverbindlichkeit einzelner Bekenntnisstücke klar wird" 5 5 8 . Damit erkennt H. Wehrhahn als Jurist die Quelle, die Norm und das Ziel aller kirchliche^ Ordnung im Wort Gottes, d.h. — mit dem Dogmatiker E. Schlink 559 — im Mandat und Gebot Christi, die Schlüsselgewalt recht auszuüben, worin ja das geistliche Regiment iure divino begründet ist 560 . Die Kirchenordnung ist mit dem Wesen der Kirche untrennbar verbunden; sie ist geistliche Ordnung und insofern bekennende Ordnung. Ihre Rechtsqualität liegt in einem kirchlichen Rechtssetzungsakt als „transformatorischem Bekenntnis" verankert; durch ihn klärt die Gemeinde die Rechtsqualität und die Rechtsverbindlichkeit einzelner Bekenntnisstücke. Diese Ordnung gilt dann aufgrund des besonderen Rechtssetzungsaktes der Kirche. So beantwortet H. Wehrhahn die Wie-Frage einer Zuordnung von Bekenntnis und Kirchenordnung. Der kirchliche Rechtssetzungsakt als „transformatorisches Bekenntnis" hat damit in H. Wehrhahns Rechtstheologie den Ort inne, den in J . Heckeis Rechtstheologie der Angelpunkt von „heteronomem" zum „autonomem" Kirchenrecht einnimmt 5 6 1 , den in E. Schlinks rechtstheologischem Denken das Inkraftsetzen kirchenrechtlicher Anordnungen im Gehorsam gegen das ius divinum inne hat 562 . ss8
H. Wehrhahn, Die kirchenrechtlichen Ergebnisse des Kirchenkampfes, EvTh 7, 1947/48, 318. ss» Vgl. S. 105 ff. 560 Vgl. T h R N F 19, 1951, 2 4 9 f f . ; vgl. ebenfalls H. Wehrhahn, Kirchenrecht und Kirchengewalt, Tübingen 1956, 83ff., 140ff. 561
Vgl. J. Heckel, Initia iuris ecclesiastici Protestantium, in: Das blinde, undeutliche Wort .Kirche', Köln—Graz 1964, 167f.; H. Diem macht in seinem Aufsatz „Lebensordnung oder Kirchenzucht, ZevKR 4, 1955, 3 0 I f f . diese Unterscheidung für die Trennung von Lebens- und Visitationsordnungen fruchtbar. 562 Vgl. E. Schlink, Theologie der Lutherischen Bekenntnisschriften, München 1 9 4 8 ' , 339f.; ähnlich auch in dem Aufsatz „Zur Unterscheidung von ius divinum und ius humanuni, in: Begegnung, hrsg. M. Seckler, Ο. H. Pesch, J. Brosseder, W. Pannenberg, G r a z - K ö l n - W i e n 1972, 2 3 3 f f . ; dort heißt es S. 246: „Denn ius humanum hat dem Wortlaut nach eine viel weitere Bedeutung als hier der Sache nach gemeint ist. Es geht hier nicht um das Recht der Menschen überhaupt, sondern um das Recht der Glaubenden, durch das Ordnungen für das kirchliche Leben in Kraft gesetzt werden . . . Aber es geht auch nicht um ein Recht der Christen, in beliebiger Weise kirchen-
227
Der rechtstheologische Charakter der Visitations-Lebensordnung liegt also bei ihrer Bindung an die Schlüsselgewalt des Wortes Gottes, die ja iure divino ausgeübt wird, in einem besonderen Rechtsakt der Kirche als „transformatorischem Bekenntnis" begründet; insofern ist die LebensVisitationsordnung „bekennende" Ordnung der sich ereignenden Institution Kirche, die zugleich die Gemeinschaft der Heiligen darstellt.
6. Der pastoraltheologische Aspekt Pastoraltheologie ist ein heute noch wenig festgelegter und wenig präzise definierter Begriff. Herkömmlicherweise gilt er als römisch-katholische Entsprechung für praktische Theologie auf evangelischer Seite 5 6 3 ; dabei ist zu betonen, daß der jeweilige Pendantbegriff wie in der evangelischen so auch in der römisch-katholischen Theologie und Kirche benutzt wird 564 . Neuerdings wird der Ausdruck Pastoraltheologie besonders für die Seelsorge im weiteren Sinn innerhalb der evangelischen Theologie gebraucht 5 6 5 ; in die wissenschaftstheoretische Diskussion innerhalb der römisch-katholischen Kirche hat der Begriff praktische Theologie ebenfalls Aufnahme gefunden 5 6 6 . Die römisch-katholische Pastoraltheologie umfaßt, abgesehen von der Kanonistik und Missiologie alle praktisch-theologischen Disziplinen. „Der Selbstvollzug der Kirche in der Gegenwart und in der nahen Zukunft mit allen methodischen, soziologischen und theologischen Analysen der Gegenwartssituation und die daraus abgeleiteten pastoralen Handlungsprinzipien sind Thema einer einerseits wirklich theologischen, andererseits aber auch wirklich praktischen Wissenschaft, also der Prakrechtliche Anordnungen in Kraft zu setzen, sondern um Anordnungen im Gehorsam gegen das ius divinum". 563 Vgl. j . Lell, Pastoraltheologie, RGG 3 V, Sp. 149f.; W. Jannasch, Praktische Theologie, RGG 3 V, Sp. 504ff.; A. Knauber, Pastoraltheologie, LThK 8, Sp. 164f.; H. Schuster, Praktische Theologie, LThK 8, Sp. 682ff.; R. Bohren, Praktische Theologie II, LThK 8. Sp. 685f.; W. Hahn, Praktische Theologie, EKL II, Sp. 283ff.; K. Rahner, Pastoraltheologie I, in: Lexikon der Pastoraltheologie, Freiburg—Basel—Wien 1972, 393ff.; K. Gastgeber, Pastoraltheologie II, in: Lexikon der Pastoraltheologie, Freiburg-Basel-Wien 1972, 396ff.; Praktische Theologie, in: Der Große Brockhaus 9, Sp. 361; Handbuch der Pastoraltheologie I, Freiburg-Basel-Wien 1964, 93ff.; W. Caspars, Praktische Theologie RE 3 19, 644ff. 564 W. Jannasch, Praktische Theologie, RGG 3 V, 508. 5 « Ebd., 508; femer G. Rau, Pastoraltheologie, München 1970, 14ff.; G. Holtz, Seelsorge, RGG 3 V, 1641. S66 Handbuch der Pastoraltheologie I, Freiburg—Basel—Wien 1964, 104ff.
228
tischen Theologie." 567 Den Unterschied zwischen Pastoraltheologie und praktischer Theologie erkennt das „Handbuch der Pastoraltheologie" dann in folgendem: „Das primäre Ziel der praktischen Theologie ist, allgemein und grob formuliert, die Planung des Vollzugs der Kirche für die Gegenwart und Zukunft. Darin unterscheidet sie sich streng von der Pastoraltheologie, deren Grundanliegen zunächst die Ausbildung und praktische Zurüstung des einzelnen Seelsorgers dieser Kirche war. Gerade auch insofern beide Disziplinen das Bestreben nach gegenwartsnahe' haben, bleibt dieser Unterschied bestehen." 5 6 8 Analog zur Bestimmung der Pastoraltheologie erkennt der evangelische Theologe R. Bohren die Themen und Aufgaben der praktischen Theologie in folgendem: „Die praktische Theologie eignet als Wissenschaft von der aktuellen Sendung und Sammlung der Kirche durch Gottes Geist und Wort vor allem eine hermeneutische Funktion. So übernimmt sie die Anwaltschaft für Kirche und Welt in der Theologie und die für Theologie und Welt in der Kirche, damit die viva vox evangelii laut werde Indem sie die Phänomene kirchlichen Lebens theologisch überprüft, wird sie zur Wissenschaft von der ecclesia semper reformanda. Das Walten des spiritus creator in der Welt aufdeckend, beansprucht sie die Kultur ihrer Gegenwart für das Leben der Kirche." 5 6 9 Die Humanwissenschaften sind darum als Hilfswissenschaften für die Analyse der Gegenwartssituation mit ihren verschiedenen Dimensionen und Bereichen und für die Gestaltung des kirchlichen und gemeindlichen Lebens heute heranzuziehen und in die praktische Theologie zu integrieren. Die Pastoraltheologie ist dabei nach W. Jannasch 5 7 0 ein Äquivalent zur Seelsorge, und zwar zur Seelsorge im weiteren Sinn; damit ist gemeint der aktuelle Seelsorgedienst am einzelnen und die geistliche Sendung und Sammlung der Gemeinde in der Welt heute. Es geht somit nicht um den Dienst des einzelnen Seelsorgers und seine Vorbereitung für diesen Dienst, sondern auch um die Dienste des allgemeinen Priestertums untereinander, dem Pastor gegenüber und an der Welt. In diesem Sinn wird die Pastoraltheologie auch in diesem Abschnitt verstanden. 567
K. Gastgeber, Pastoraltheologie II, in: Lexikon der Pastoraltheologie, Freiburg— Basel-Wien 1972, 397. 568 Handbuch der Pastoraltheologie I, Freiburg—Basel—Wien 1964, 104. 569 R. Bohren, Praktische Theologie II, LThK 8, Sp. 6 8 6 ; vgl. auch: E. Jüngel, K. Rahner, M. Seitz, Die Praktische Theologie zwischen Wissenschaft und Praxis, München 1968; vgl. auch: R. Bohren, Praktische Theologie, in: Praktische Theologie, hrsg. G. Krause, Darmstadt 1972, 3 7 7 f f . 570 W. Jannasch, Praktische Theologie, RGG 3 V, Sp. 5 0 4 f f .
229
6.1.
Typologie
6.1.1. Empiristischer
Pragmatismus
Die Pastoraltheologie, in der Bedeutung von Seelsorge im weiteren Sinn verstanden, kann zum einen den empiristischen Pragmatismus repräsentieren. In dem pastoraltheologischen Bemühen, die Gegenwartssituation zu erfassen und das weitere Leben in der Gemeinde und Kirche in der heutigen Zeit zu gestalten, erhalten die Humanwissenschaften und die empirischen Wissenschaften bei diesem Typ eine Eigenbedeutung und verselbständigen sich zu normativen Regeln und Richtlinien. Vom eigenen Selbstverständnis der empirischen Wissenschaften aus wird dann auch das gemeindliche und kirchliche Leben analysiert, schematisiert und prognostiziert. Die analysierte Situation, die empirischen Methoden und die von ihnen fixierten Handlungsprinzipien gewinnen dann im Bewußtsein der Kirchenmitglieder aufgrund der wissenschaftstheoretischen Überlegungen Normcharakter. Sie werden als abschließende Feststellungen verstanden, denen noch ein theologischer Appendix hinzugefügt wird, um so den pastoraltheologischen Charakter zu gewinnen. Die Normativität des Faktischen impliziert pragmatische, auf die jeweilige Situation reagierende Verhaltensmuster und Handlungsanweisungen, die z.T. als objektive Gesetzmäßigkeiten verstanden, theologisch verbrämte Orientierungshilfen darstellen. Der Gottesdienst wird dann als ausschließlich religiöse Sozialisationsform verstanden; die Verkündigung wird nur nach kommunikationstheoretischem und rhetorischem Gesichtspunkt beurteilt; die Sakramente werden allein mit den Augen der Symboltheorie und der Ritenananlyse betrachtet; die Kasualhandlungen werden nur sozialpsychologisch und soziologisch gesehen; die Beichte wird vor allem psychoanalytisch eingeordnet; die christliche Erziehung im Haus, in der Gemeinde und Schule wird nur unter pädagogischem, sozial- und entwicklungspsychologischem Aspekt verstanden, das Hirtenamt unter ausschließlich organisationstheoretischem. Der Akzent liegt auf der Ausschließlichkeit, dem „Allein"; das „Auch" bei der Einbeziehung humanwissenschaftlicher Ergebnisse wird zum „Nur" mit allenfalls einem theologischen Zusatz. Die Situation gewinnt damit normative Bedeutung für die Pastoraltheologie, für das pastorale Leben und Handeln in der Gemeinde; die Kirche domestiziert sich in der Welt. Die empirisch-kritische Aufgabe der Pastoraltheologie wird hier nicht mehr gesehen 5 7 1 ; auch die 571 Vgl. M. Seitz, Die Aufgabe der praktischen Theologie, in: E. Jüngel, K. Rahner, M. Seitz, Die Praktische Theologie zwischen Wissenschaft und Praxis, München 1968, 72, 80.
230
konstruktive Aufgabe der Theologie für die Kirche in ihrer empirischen Gestalt wird hier nicht erkannt. Die kirchlichen Lebens- und Visitationsordnungen werden dann auch nicht im Auftrag und Wesen der Kirche Jesu Christi begründet und dann in die Bedingungen der jeweiligen Situation hineingestellt; sie werden Ordnungen sozialen Lebens in der Welt; theologisch gesehen, werden sie „Gesetze" unter dem Zwang eines empiristischen Pragmatismus.
6.1.2. Theologischer
Dogmatismus
Das pastoraltheologische Denken wird hier ausschließlich von biblischhistorischen und dogmatisch-historischen Überlegungen bestimmt. Aus ihnen werden allgemeine ungeschichtliche Prinzipien entwickelt, die dann im Deduktionsverfahren Verhaltens- und Handlungsanweisungen für den einzelnen Christen, für das gemeindliche und kirchliche Leben abgeben sollen. Diese dogmatischen Prinzipien mit den daraus entwickelten Orientierungshilfen für das Leben in der Kirche sind dadurch gekennzeichnet, daß sie in ihrer Allgemeinheit ungeschichtlich verstanden werden, d.h. verschlossen gegen die konkrete Situation im zeitlichen Sinn und gegen die Pluralität der Situationen im lokalen Sinn. Hiermit ist eine objektivierende Tendenz verknüpft, die bei dem Versuch einer Konkretisierung zu einer gewissen Kasuistik führt. Bezogen auf die verschiedenen Lebensbereiche der kirchlichen Ordnungen in der Gemeinde und auf den kirchenleitenden Besuchsdienst führt der theologische Dogmatismus zu einer Bedeutung des Gottesdienstes als Kultfeier; die Predigt und christliche Unterweisung wird als Indoktrination verstanden, die Beichte als Arkandisziplin, die Kasualien als Mysterienakte, das Amt als dogmatische Legitimation von gemeindlichen Funktionen, die Dienste in der Gemeinde als christliche Legitimationsakte. Theologisch gesehen, verbleibt dieser Dogmatismus mit seinen pastoralen Handlungsanweisungen unter dem Gesetz. Daß die pastoral-theologischen Bestimmungen im Dienst der viva vox evangelii stehen (R. Bohren), im Dienst der „Akzentualisierung des Christusgeschehens in der Welt" (M. Seitz) 572 , ist hier völlig ausgeblendet. Ein rein doketisches Kirchenverständnis verkennt, daß die Kirche Jesu Christi eben „auch" empirische Größe, Rechtskirche, Institution in der Welt ist und in ihrer Geschichtlichkeit ecclesia pluriforma et semper reformanda darstellt. 572
Ebd., 79. 231
Die Pastoraltheologie aber hat aufgrund ihrer Zwischenstellung zwischen Theologie und kirchlichem Leben und aufgrund ihrer Aufgabe theologisches Denken und kirchliche Praxis enger aneinander zu binden eine traditionskritische und konstruktiv-praktische Funktion 5 7 3 . Der theologische Dogmatismus in der Pastoraltheologie mit seiner Verschlossenheit gegenüber dem Evangelium und gegenüber der Gegenwartssituation pervertiert letztlich zum Gesetz. 6.1.3. Wissenschaft pastoraler
Anweisungen
Unter Pastoraltheologie wird hier — bei der noch bestehenden Unscharfe des Begriffs 574 — die Wissenschaft von der Seelsorge im weiteren Sinn verstanden, wie sie vom Hirtendienst des Pfarrers in, inmitten, gegenüber und mit der christlichen Gemeinde in der Kirche und Welt ausgeübt wird. Im Dienst der Verkündigung des Wortes Gottes heute bedenkt sie die gemeindliche und kirchliche Gegenwartssituation. Die Kirche Christi ist die durch die viva vox evangelii und durch die administratio sacramentorum sich ereignende und reformierende Institution in der Welt, die aber nicht von der Welt ist. Die pastoraltheologischen Aufgaben sind dabei auf die geistliche Auferbauung und Erneuerung der Kirche Jesu Christi und ihrer Glieder ausgerichtet. In dieser geistlichen Intention und in diesem geistlichen Interesse liegt das Besondere dieses Wissenschaftszweiges. Methodisch hat die Wissenschaft pastoraler Anweisungen sich gegenüber einem empiristischen Pragmatismus und gegenüber einem theologischen Dogmatismus abzugrenzen. Bei der Prävalenz ihres geistlichen Anspruchs bezieht die Pastoraltheologie die Analysen und Ergebnisse der Humanwissenschaften und der empirischen Wissenschaften in das eigene Bedenken „der aktuellen Sendung und Sammlung der Kirche durch Gottes Geist und Wort" 575 heute mit ein. Sie werden als Hilfswissenschaften im Dienst des Wortes Gottes gebraucht. In Konfrontation mit der durch die empirischen Wissenschaften analysierten· Gegenwartssituation verändert es die vorgegebenen Verhältnisse; das Wort Gottes als Gerichts- und Gnadenspruch sowie als parakletische Anweisung nimmt die Hilfswissenschaften in seinen Dienst. Die Hineinnahme empirischer Ergebnisse und Methoden in die geistlichen Aufgaben der Pastoraltheologie und ihrer Anweisungen ist letztlich in der synekdochischen Struktur der Gnadenmittel und in der göttlichen Kondeszendenz begründet. In, mit und 573 Ebd., 80. s 74 G. Rau, Pastoraltheologie, München 1970, 13ff.;bes. 14f.;vgl. auch: G. Krause, Vorwort, in: Praktische Theologie, hrsg. G. Krause, Darmstadt 1972, Xlff. 575 R. Bohren, Praktische Theologie II, LThK 8, Sp. 686.
232
unter den menschlichen Wörtern der Verkündigung und den sichtbaren Zeichen der Sakramente wirkt der heilige Geist heute die Kirche Jesu Christi als sich ereignende und ständig erneuernde Institution der Christen auf ihrem Weg zur endgültigen Vollendung. Die pastoralen Anweisungen haben durch und mit ihrer geistlichen Intention Teil an der synekdochischen Struktur der Kirche als theologische und empirische Größe in der Welt heute. Die Pastoraltheologie und damit die pastoraltheologischen und — ethischen Anweisungen stehen in der Spannung zwischen der Theologie, besonders der biblischen und dogmatischen Theologie, einerseits und den Human- und Sozialwissenschaften andererseits und zugleich dem theologischen Denken einerseits und dem kirchlichen Leben heute andererseits. Das sind Spannungen, die sie zu erleiden hat, die aber ebenso ihre besonderen Aufgaben entbergen und ihre Möglichkeiten eröffnen: die traditionskritischen und empirisch-kritischen, vor allem aber die integrativen und konstruktiven516. Sie alle stehen im Dienst der Verkündigung des Evangeliums und der Sakramentsverwaltung zur Auferbauung und Erneuerung der Kirche Christi. Das Bedenken der pastoralen Anweisungen ist in diesen Auftrag integriert.
6.2. Der pastoraltheologische Aspekt in den Lebens- und Visitationsordnungen der VELKD und der unierten Landeskirchen 6.2.1.
VELKD
6.2.1.1. Lebensordnung
der
VELKD
Bischof R. Wester, der Vorsitzende des Ausschusses für Fragen geistlichen Lebens, der ja die VELKD-Lebensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg erarbeitete, schrieb 1954 zur geistlichen Intention der Lebensordnung: „So kann also eine kirchliche Lebensordnung unsere Gemeinden sicherlich nicht erwecken und zu neuem Leben führen. Das geschieht allein durch das Wirken des uns mit Wort und Sakrament verheißenen Geistes. Aber sie kann uns Mängel aufzeigen, Anstöße verleihen und Aufgaben setzen, ja auch Hindernisse wegräumen, die uns selbst eine ständige Anfechtung sind und es anderen schwerer machen, in der Kirche die Sache Jesu Christi und in der Ortsgemeinde die Ge576 Vgl. M. Seitz, Die Aufgabe der praktischen Theologie, in: E. Jüngel, K. Rahner, M. Seitz, Die Praktische Theologie zwischen Wissenschaft und Praxis, München 1968, 80; vgl. auch: H. Schröer, Inventur der Praktischen Theologie, in: Praktische Theologie, hrsg. G. Krause, Darmstadt 1972, 445ff.
233
meinde der Heiligen zu sehen, wenn wir sie bekennen." 5 7 7 Dieser pastoraltheologische Aspekt der Anfangszeit der VELKD-Lebensordnung hat in der Ordnung breiten Raum und ist in den Revisionsarbeiten immer dominierender geworden 5 7 8 ; auch wurden mit dem Zurücktreten der Kirchenkampferfahrungen die humanwissenschaftlichen Ergebnisse besonders ernstgenommen, die plurale Volkskirchensituation wurde aufgegriffen, den ökumenischen Herausforderungen wurde begegnet; man versuchte dies, ohne die theologische und pastorale Intention der Lebensordnung aus dem Blick zu verlieren, wenngleich in verschiedenen Bereichen der Ehe- und Ehescheidungsrichtlinien, z.B. in den Mischehenbestimmungen für Ehen mit Nichtchristen im Blick auf l.Kor. 7,12ff. und in der Diskussion um das Zerrüttungsprinzip im Blick auf Mk. 10,2ff., eine theologisch nicht reflektierte Anpassung festzustellen ist. Im Vorwort der Ordnung des kirchlichen Lebens der VELKD vom 27.4. 1955 heißt es: „Diese Ordnung will dazu beitragen, das Leben in Familie,Beruf und Gemeinde nach dem Willen Christi zu gestalten." Weil sie kein Gesetz ist mit kasuistischen Bestimmungen, sondern Richtlinien für den geistlichen Gebrauch des Pfarrers, für die Verantwortlichen der Gemeinde und für die ganze Gemeinde und Kirche, erspart sie „auch im Einzelfall nicht die persönliche Entscheidung seelsorgerlicher Verantwortung. Wo die Ordnung im Glauben und in der Liebe Christi, der das neue Leben aus Gottes Geist schenkt, geübt wird, kann sie dazu dienen, daß Gottes Wort Kirche und Gemeinde, unser Haus und unser persönliches Leben heiligt". Hiernach ist diese Lebensordnung also eine geistliche Ordnung, die das christliche Leben mitgestalten will; sie ist seelsorgerliche Handreichung mit pastoralen Richtlinien und Anweisungen; sie ist Liebesordnung im Dienst der Heiligung. Bei dieser dreifachen Bestimmung stellt die pastoraltheologische Grundstruktur die Paraklese dar, wobei — wie gezeigt578® — die indikativische Beschreibung dominiert. Es geht unter pastoraltheologischem Aspekt nach dem Vorwort dieser Ordnung um „pastorale Anweisungen" 579 in indikativischer Umschreibung zur Auferbauung, Erneuerung und Heiligung der Kirche als einer sich ereignenden Institution, d.h. als geistliche Gemeinschaft, die in der Wortverkündigung und Sakramentverwaltung begründet ist und zugleich eine dem geschichtlichen Wandel unterworfene Institution darstellt. Die pastoralen Anweisungen bilden so den Hauptkomplex bei der pastoralen Ausrichtung dieser Lebensordnung. Daneben wird auf die „heilenR. Wester, Die „Ordnung" als Aufgabe, ELKZ 8, 1954, 75. S. 18ff.
578 V g l .
578a V g l . 579
s. 23ff.
W. Maurer, Die rechtliche Problematik der Lebensordnung in der Evangelischlutherischen Kirche Deutschlands, ZevKR 3, 1953/54, 238.
234
den Kräfte lebendiger Zucht" hingewiesen. Sie sind in diesem Sinn eine Art Spiegel, der zur Umkehr ruft und zur Zucht mahnt. Schließlich will die VELKD-Lebensordnung dazu beitragen, wie das Vorwort zeigt, ,,kirchliche Sitte zu festigen", die in ihrer zeitlichen, lokalen und indigenen Besonderheit anzuerkennen ist und so in den Dienst der Verkündigung des Evangeliums zur Auferbauung und Bewahrung des Gemeindelebens hineingenommen ist. Was so im Vorwort angedeutet oder grundsätzlich aufgezeigt ist, wird in den folgenden Abschnitten konkret ausgeführt. In den zwölf Abschnitten der Lebensordnung wird das Spiegelbild vom Leben des einzelnen Christen in der Gemeinde entworfen; seine Taufe (I), seine christliche Erziehung in der Familie und Gemeinde (II, III), der Konfirmandenunterricht (113), die Konfirmation und das Leben in der Jungen Gemeinde (III), die Trauung und christliche Eheführung (VII), die Dienste der Gemeindeglieder für die Gemeinde und in der Kirche bei den missionarischen, diakonischen und ökumenischen Aufgaben (X), das Sterben und das christliche Bekenntnis. Der Mittelpunkt des christlichen Lebens ist der Gottesdienst am Sonntag in der Einheit mit der Feier des Abendmahls (IV, VI) und mit den Kasualien. Im gottesdienstlichen Geschehen konzentriert sich der Gottesdienst im Alltag (IV,6; X). Der Pfarrer ist Amtsträger (IX), d.h. von Christus durch die Kirche zur öffentlichen Verkündigung des Wortes Gottes und zur Sakramentsverwaltung beauftragt in der christlichen Gemeinde. Die Gemeinde trägt und stützt ihn mit ihren Gaben durch die Fürbitte und durch ihren helfenden Dienst (11,4: IV,3; VII,7; XI,4). Dieses Spiegelbild der christlichen Existenz, des gemeindlichen, kirchlichen und ökumenischen Lebens in dieser Ordnung ist ein indirekter Ruf zur Umkehr, zur Buße, wenn der Pfarrer und die Gemeinde vom gottesdienstlichen Leben sich entfernen, wenn sie ihren Dienst vernachlässigen, wenn sie ihre Grenzen verengen oder verwischen. Die Lebensordnung der VELKD enthält darüber hinaus Hinweise auf einen direkten Beichtspiegel. Es handelt sich dabei um die Möglichkeit der Kasualversagung durch den Pfarrer nach Rücksprache mit dem Kirchenvorstand (1,7; 11,3,7; VII,7; VII,7; VIII,4). Wie das Wort Gottes den Sünder mahnt, warnt und zur Umkehr ruft, so wollen diese Versagungen, die der Pfarrer vor Gott zu verantworten hat, „nicht Verfehlungen und Versäumnisse menschlich strafen, sondern den Ernst der göttlichen Gebote vor Augen stellen. Sie haben das Ziel, die vorliegenden Hemmnisse zu beseitigen und dem Bruder zurechtzuhelfen" (XII,4). Das äußerste Mittel der Kirchenzucht ist der Ausschluß vom Herrenmahl als letzter Bußruf (XII,5; VI,4). Es handelt sich weiter darum, daß der Pastor und die Gemeinde im Wissen um die Grenze der Kirche als Leib Christi — in ihr wird 235
ja dem Sünder das ewige Heil geschenkt — die Aufnahme in die Gemeinde verweigern und aufschieben kann (XI,1). „Bei aller Zuchtübung müssen Pastor und Gemeinde dessen eingedenk bleiben, daß Gott sich die endgültige Reinigung seiner Kirche am Ende der Tage vorbehalten hat und daß auch schwerste Sünde dem, der sie aufrichtig bereut und Gottes Gnade begehrt, vergeben werden k a n n " (XII,7). Das Wächteramt der Christen und der Kirche ist aber auch auf die „Nöte und Aufgaben des Volkes", der Gesellschaft und der Welt gerichtet. Diese mahnenden und warnenden Bestimmungen des Beichtspiegels rufen im Dienst des Gerichtswortes Gottes zur Buße und Umkehr, die ja auf die Absolution, die Erneuerung und Heiligung ausgerichtet ist. Der pastoraltheologische Aspekt tritt weiter in den parakletischen Seelsorgeanweisungen in Erscheinung. Die Paraklese ist die Grundform dieser Ordnung. In Konfrontation mit der gemeindlichen und kirchlichen Wirklichkeit versucht die Ordnung, konkrete Anweisungen zu geben, wenn sie auch nicht die Handreichungen zu ersetzen vermag und auch nicht ersetzen will. Die pastoraltheologischen Anweisungen richten sich einmal an den Pfarrer und seinen Dienst in und gegenüber der Ortsgemeinde und der ökumenischen Kirche. Sie richten sich auf die Verkündigung des Wortes Gottes und die Feier des Herrenmahls im Sonntagsgottesdienst, auf die Kasualgespräche und die Kasualhandlungen, auf das seelsorgerliche Gespräch mit den Taufeltern und Paten, mit Konfirmanden und jungen Erwachsenen, mit Brautpaaren und Ratsuchenden aus in Krisen geratenen Ehen, mit konfessionsverschiedenen Eheleuten, mit Geschiedenen, mit Kranken, Sterbenden und Trauernden. „Das Hauptstück und die Mitte der Seelsorge ist die Vergebung der Sünden" (V,4), sei es in der Einzelbeichte oder in der gemeinsamen Beichte. Die seelsorgerlichen Richtlinien wenden sich auch an das Leben des Pfarrers in der Familie, an seine geistliche Lebensführung mit der Fürbitte für seine Gemeindeglieder und für die Kirche in der Welt heute (IX,2), schließlich an seinen diakonischen Dienst für die Not- und Angstleidenden in der Nähe und in der Ferne (IX,2,3). Die parakletischen Bestimmungen der „Ordnung des kirchlichen Lebens" sind dann besonders auf die einzelnen Gemeindeglieder bezogen. Sie sind getauft und leben nun aus der Taufe; sie vernehmen den Zuspruch des Evangeliums im Sonntagsgottesdienst und leben von hier in ihrem alltäglichen Gottesdienst; ihnen begegnet Christus in der Gemeinschaft des Herrenmahls, und so als Beschenkte dienen sie anderen; in der Beichte ist ihnen die Vergebung der Sünden zugesagt, und so leben sie in einem 236
neuen Leben. Das beginnt mit dem geistlichen Lebensstil in der Familie als Hausgemeinde. „Die Eltern erziehen ihre Kinder dadurch, daß sie täglich für sie beten und sie selbst beten lehren, daß sie ihnen (etwa anhand einer Bilderbibel) die biblische Geschichte erzählen und mit ihnen den Kleinen Katechismus lernen, daß sie mit ihnen bei Tisch beten, Hausandachten halten und die Lieder der Kirche singen, und daß sie ihnen durch einen Wandel nach Gottes Geboten und die rege Teilnahme am Leben der Gemeinde Vorbild sind" (11,2). Die pastoralen Weisungen beziehen sich sodann auf die Fürbitten der Gemeindeglieder für den Pfarrer und seinen Dienst (IX,2), für die getauften Kinder und die Eltern und Paten (1,1,2), für die Konfirmanden, die Gemeindejugend und die christliche Erziehung (11,2,3), für die in Sünden gefallenen Gemeindeglieder (V,2), die jungen Ehepaare, die zerstrittenen Ehen, die Mischehen (VII,4), für die Kranken, Leidtragenden, Sterbenden und Trauernden (VII,2), für die Hilfsbedürftigen, die diakonischen Werke der Kirche, die missionarische und ökumenische Arbeit, für die Regierenden und die Regierten (X), schließlich für die in die Kirche neu Eingetretenen und die Ausgetretenen, die Lästerer, die in der Lehre und im Leben auf Irrbahnen gehen (XI, XII), die Ungläubigen und Atheisten. In dieser Weise haben die Christen in der Gemeinde, in der Kirche und in der Welt ihre Aufgaben; als die von Christus Gerufenen und Berufenen sind sie begabt worden, in der Welt, aber nicht von der Welt einen geistlichen Lebenswandel zu führen. Auch an die Kirchenleitung wenden sich die Paraklesen der Lebensordnung; sie soll als Leitung der Partikularkirche mit dem Pfarrer der Ortsgemeinde und den Ältesten und Gemeindegliedern über die rechte Verkündigung des Evangeliums und die Verwaltung der Sakramente wachen; sie soll in der seelsorgerlichen und visitatorischen Beratung und Begleitung über das Recht und die Ordnung in den Gemeinden und in der Kirche achten (IX,2) und ihren Wächterdienst über die missionarische, diakonische und ökumenische Arbeit in Kirche, Gesellschaft und Staat tun (X,6,7,8). Neben dem Dienst als Beichtspie gel, als parakletische Anweisung will die VELKD-Lebensordnung unter pastoraltheologischem Aspekt auch die gemeindlichen Sitten mit ihren Frömmigkeitsstilen und ihren besonderen Verhaltensweisen stärken und die gewachsenen Formen bewahren. Die „Ordnung des kirchlichen Lebens" der VELKD geht in den einzelnen Abschnitten weniger konkret auf diese kirchlichen Sitten, Gebräuche und Lebensformen ein; sie haben sich besonders an den gottesdienstlichen Riten angelagert und sind lokal und indigen geprägt. Diese Sitten werden — worauf ja die „Erläuterungen zum Entwurf einer 237
Schleswig-Holsteinschen Lebensordnung" aus der Kirchenkampfzeit hinweisen — mehr in Erläuterungen und Handreichungen beschrieben. Da nun die VELKD-Lebensordnung den Rahmen und die Richtlinien für diese Handreichungen abgibt, sind sie hier nicht konkret genannt. Auch die Anweisungen für eine Sittenordnung stehen aber im Dienst der Verkündigung; trotz ihrer gesellschaftlichen, ethnologischen und geschichtlichen Bedingtheit werden sie durch den geistlichen Gebrauch in der Gemeinde und Kirche „bekennende" Ordnungen, eben „bekennende" Sittenordnungen, worauf die VELKD-Lebensordnung in ihrem Vorwort und im Abschnitt VIII,11 hinweist. Als eine Art Beichtspiegel, als parakletische Anweisung und als bekennende Sittenordnung übt die Lebensordnung der VELKD ihren pastoraltheologischen Dienst aus in der sich ereignenden Institution Kirche. Sie dient dabei der Auferbauung und der Erneuerung der Gemeinden der VELKD innerhalb der weltweiten Ökumene; sie ist in diesem Sinn „Liebesordnung" 580 , Ordnung um der Liebe und des Friedens will.
6.2.1.2. Visitationsordnung der VELKD Die Visitation als kirchenleitender Besuchsdienst hat vor allem geistlichen Charakter und insofern eine wichtige pastoraltheologische Aufgabe für die Gesamtkirche und die Einzelgemeinden, die gerade durch diesen Dienst untrennbar verbunden sind. Der gesamtkirchliche Besuchsdienst wird in Verantwortung für die schrift- und bekenntnisgebundene sowie gegenwartsgemäße Verkündigung des Wortes Gottes und der Sakramentsverwaltung ausgeübt. Verkündigung des Evangeliums wird dabei gerade unter dem pastoraltheologischen Gesichtspunkt ganzheitlich verstanden: Verkündigung durch das Wort und die ganze Existenz, weil Lehre und Leben zusammengehören. Deshalb sind in die Visitation folgende Handlungsfelder einbezogen; „der Visitationsgottesdienst, der Gemeindeabend, der Besuch der Jugendunterweisung, die Besprechung mit dem Kirchenvorstand und den Mitarbeitern, das Gespräch mit dem Pfarrer und Revision der Verwaltung. Darüber hinaus können auch andere Äußerungen des Gemeindelebens in die Visitation einbezogen werden" (14) 581 . In dem Charakter der Visitation als geistlichem Besuchsdienst liegt die pastorale Tendenz mitangelegt. Dieser Besuchsdienst hat einmal eine kritische Ausrichtung. Das Subjekt dieser Kritik ist das Wort Gottes 242. „Richtlinien der Bischofskonferenz über die Visitation", in: J. Frank, E. Wilkens (Hrsg.), Ordnungen und Kundgebungen der VELKD, Berlin—Hamburg 1966 2 , Β 140. 580 E b d . , 581
238
in der visitatorischen Rede wird nach der textgemäßen und situationsgemäßen Predigt gefragt, nach der stiftungsgemäßen Verwaltung der Sakramente (1), nach der gesamtkirchlichen Verantwortung im seelsorgerlichen, missionarischen, ökumenischen und diakonischen Bereich; weiter wird die ordnungsgemäße Verwaltung der Finanzen und Gebäude sowie der verschiedenen Einrichtungen und der Ländereien überprüft. Auf Versagen und Vernachlässigungen wird hingewiesen, Zurechtweisungen werden erteilt. So wird im Auftrag Gottes durch die Gesamtkirche zur Buße gerufen; schuldhaftes Versagen findet Vergebung, Fehler werden bereinigt, weil jedem Sündenbekenntnis die Vergebung der Sünden verheißt ist. Die kritische Tendenz des gesamtkirchlichen und des kirchenleitenden Besuchsdienstes ist darum bezogen auf die Erbauung, die Tröstung, die Ermutigung, die Erneuerung der Gemeinde: es wird bei der Visitation an den Auftrag und die Sendung der Gemeinde in die Welt erinnert (3,5); es werden konkrete Anregungen für die sich ereignende und sich reformierende Institution Kirche vom Visitator für den Pfarrer und dessen Mitarbeiter aufgezeigt (10); Schwerpunkte für die künftige Arbeit werden gesetzt (10). Es handelt sich hierbei um die pastorale Paraklese im colloquium fratrum mit der consolatio fratrum, im brüderlichen und tröstend-ermunternden Gespräch. Unter pastoraltheologischem Aspekt geht es bei der Visitation um die Einheit von Lehre und Leben in seiner spirituellen, missionarischen, ökumenischen und diakonischen Dimension. Sie stellt sich auf die jeweils „besonderen Situationen und Eigenarten" der Einzelgemeinden ein und ordnet sie in das Gesamtleben der Kirche Jesu Christi von dem geistlichen Auftrag des Wortes Gottes her ein. Dieser Auftrag aber ist die Verkündigung des Evangeliums zum Heil der Menschen in der Gegenwart (1). Abschließend darf noch einmal betont werden, daß in der pastoraltheologischen Grundstruktur sowohl dem Inhalt als auch der Intention nach die Lebensordnung und die „Richtlinien zur Visitation" einander entsprechen. Ihre pastoraltheologischen und -ethischen Anweisungen stellen konkrete geistliche Ordnungen dar. Leider wird die Konkretion aber teilweise nur durch pragmatische Richtlinien — wie etwa für die kirchliche Bestattung — oder durch Anpassung an staatliche Gesetzgebungen — wie etwa im Teil über „Ehe und Trauung" — gewonnen. Z.T. gelingt die Konkretion auch nicht, wenn etwa die äußerste kirchenzuchtliche Maßnahme in der Verweigerung der Abendmahlsgemeinschaft heute gesehen wird. Hier muß in Zukunft eine Überarbeitung dieser Ordnungen unter wirklich pastoraltheologischem Gesichtspunkt vorgenommen werden. 239
6.2.2. Unierte
Landeskirchen
6.2.2.1. Lebensordnung der EKU Bei der Behandlung der 1. Fassung der EKU-Lebensordnung von 1953 sagte H. Vogel in einem Votum: „Das, was mir aber entscheidend erscheint, ist, daß unter keinen Umständen jene Vergesetzlichung, zu der ich im anderen Zusammenhang zu sprechen hatte, hier das geheime Vorzeichen einer Lebensordnung bildet. Evangelische Ethik ist Ethik der Gnade, ist Ethik aus Dankbarkeit, ist Ethik im Glaubensgehorsam. Evangelische Ethik steht gewiß im Zeichen dessen, daß die konkreten Entscheidungen je in einer bestimmten Situation im Hören auf Gottes Wort, im Glauben an seine vergebende Gnade in Jesus Christus gefällt werden dürfen und sollen. Darin liegt, daß die Entscheidungen hier nicht antizipiert werden können. Man kann bestimmte Hinweise und Richtlinien geben angesichts von Zuchtlosigkeit und Chaos. Kann eine solche Lebensordnung diesen guten und sehr heilsamen Dienst leisten im Sinne eines solchen Dienstes von Richtlinien und Hinweisen, würde ich sie jetzt, den Wortlaut unangesehen, die Sache als solche, wohl bejahen können." 5 8 2 Der geistliche Charakter der Lebensordnung, die im konkreten kirchlichen und gemeindlichen Vollzügen gelebt wird, ist somit schon in diesem weisenden Wort der ersten Anfänge der EKU-Lebensordnung betont gegen jede Form der Vergesetzlichung. H. Vogel nennt hier auch die pastoraltheologischen Grundstruktur dieser Ordnung: sie ist die Ethik der Gnade, die Ethik aus Dankbarkeit, die Ethik im Glaubensgehorsam, eben die Paraklese. Im Vorspruch der „Ordnung des kirchlichen Lebens" der EKU vom 6.5.1955 tritt die pastoraltheologische Intention stark in den Vordergrund: „Diese Ordnung ruft zu freudigem Gehorsam gegen Gottes Wort auf Gemeinden mahnt diese Ordnung zu einem zuchtvollen Leben und Wandel Sie ist auch kein Gesetz, das jede einzelne Entscheidung in der Gemeinde schematisch regelt und die seelsorgerliche Verantwortung einschränkt oder gar aufhebt. Sie kann nur in solcher Verantwortung recht gehandhabt werden." Bei ihrer geistlichen Ausrichtung hat diese Lebensordnung Gebotscharakter für das Leben des einzelnen und der Gemeinde. In seelsorgerlicher Verantwortung, d.h. weder in gesetzlicher Kasuistik noch in Willkür als mißverstandener Freiheit der Christen, ist sie zu gebrauchen „im Vertrauen auf den Beistand des Heiligen Geistes zur Ehre Gottes und zum Segen der Gemeinde". Sie will Regeln und Richtlinien für diese seelsorgerlichen Entscheidungen zur Heiligung der Gemeinde geben und mit 582 Verhandlungen der ordentlichen Synode der Evangelischen Kirche der APU vom 7. bis 12. Dezember 1953, Berlin 1954, 206.
240
ihren Mahnungen, Anweisungen, Bestimmungen und Warnungen „parakletische Seelsorgeordnung" 5 8 3 mit gemeindepädagogischer, pastoraler und spiritueller Ausrichtung sein. In den folgenden zehn Abschnitten wird diese parakletische Form der Lebensordnung konkret ausgeführt in den Soll-, Kann- und Darfbestimmungen zum Leben des Christen in und mit der Gemeinde, zum Dienst des Pfarrers und der Kirchenältesten. Der Imperativ dominiert in diesen Gebotsvorschriften; der Indikativ wird in einem neuen „Kirchbüchlein" eine breitere Entfaltung finden müssen. Im einzelnen beziehen sich die parakletischen Regelungen auf das Leben des Christen, wie es sich vom Gottesdienst her gestaltet; ,,im Gottesdienst redet unser Herr selbst mit uns durch sein Wort und wir wiederum reden mit Ihm durch Gebet und Lobgesang. Hier ist der Herr selber gegenwärtig in seinem Wort und Sakrament. Durch beides empfängt die Gemeinde Mahnung, Tröstung und Stärkung" (Art. 32). So wird der Glaubende gemahnt zu einem Leben aus der Taufe (I), in der Gemeinschaft des Herrenmahls (V) mit der Beichte (VI); das bedeutet einen geistlichen Lebenswandel in der Familie (Art. 50,2) und Ehe (Art. 53,2) bei der christlichen Erziehung der eigenen Kinder und der Jugendlichen in der Gemeinde (Art. 1 0 , 2 - 4 ; 11; 12; 13; 2 4 - 2 8 ) ; das bedeutet einen geistlichen Lebensstil, der von der Fürbitte für die Getauften (Art. 3,1), die Brautleute (Art. 56), die zerrütteten Ehen (Art. 53,1; 62,2,3), die Kranken, Sterbenden und Trauernden (Art. 5 0 , 3 ; 51,1) und vom Dienst in der Gemeinde (Art. 51; 52) am nahen und fernen Nächsten (Art. 47,1,2; 50,3,4; 51,1—3), an den Angefochtenen, Strauchelnden und Notleidenden (Art. 51,4) sowie an den aus der Kirche Ausgetretenen (Art. 79,3) bestimmt ist. Das im Gottesdienst beheimatete Leben des Christen hat seine Fortsetzung im Alltag und im Beruf (Art. 50,1,4). Die Mahnungen, Anweisungen und Regeln ergehen ferner an die ganze Gemeinde mit den Gemeindegliedern und Pfarrern. Ihnen gilt das „Gebot des Herrn Christus, alle Völker zu seinen Jüngern zu machen. In diesem Befehl wird Taufe und Lehre unauflöslich miteinander verbunden. Die Kirche ist daher gehalten, „den Kindern ihre Taufe und deren Gnadengaben zu bezeugen, ihnen das rechte Verständnis der evangelischen Lehre zu vermitteln, sie in das gottesdienstliche Leben, in Wort und Sakrament, Gebet und Lied einzuführen, für Dienst und Mitarbeit in der Gemeinde zu gewinnen, sie im christlichen Leben einzuüben und ihnen mit alledem zu helfen, daß sie im Glauben an den Herrn J e s u s Christus fest werden" (Art. 10,1). Die parakletische Seelsorgeordnung 583 Vgi_ Q_ Wendt, Zur kirchenrechtlichen Problematik der Ordnung des kirchlichen Lebens, Z e v K R 10, 1 9 6 3 / 6 4 , 115. 16 Plathow, Lehre
241
ist weiter auf die Kasualgespräche (Art. 5 6 ; 62,3) bezogen, auf die seelsorgerliche Beratung und Begleitung der Jugendlichen, der Studenten (Art. 24,31), der von Schuld Belasteten (Art. 4 7 - 4 9 ) ; 62,3), der neu in die Kirche Eintretenden (Art. 78,1). Die Gebote sind schließlich auf die diakonischen Dienste an den nahen und fernen Nächsten und Notleidenden bezogen (Art. 50,3,4; 51,4). In den Fortschreibungen der EKU-Lebensordnung vom 6.5.1955 werden dann immer stärker neben den parakletischen Anweisungen zur volksmissionarischen und diakonischen Verantwortung die Richtlinien und Regeln für die missionarischen, gesellschaftsdiakonischen, ökumenischen und weltverantwortlichen Dienste ausgeweitet. Der Kern dieser parakletischen Seelsorgeordnung bleibt aber nach wie vor die Beichte, die Einzelbeichte und die allgemeine Beichte (VI); es handelt sich also bei der Fortschreibung nur um eine Verschiebung der Akzentsetzung. Abgesehen von den parakletischen Anweisungen und Richtlinien, die dominierend in dieser Lebensordnung sind, stehen die pastoraltheologischen Regeln im Dienst des Bußrufs und der Sittenordnung. Wie die Genese und die Fortschreibungen der EKU-Lebensordnung vom 6.5.1955 zeigen, geht die Entwicklung in die Richtung, den Charakter als parakletische Seelsorgeordnung und als Ordnung gesellschaftsdiakonischer und ökumenischer Arbeit in der Volkskirche zu betonen; der Aspekt als Beichtspiegel, der gegen die Lebensordnung der APU von 1930 durch den Kirchenkampf in die Ordnung von 1955 wieder hineinkam, wird aber beibehalten. Es ist vor allem die Kirchenzucht mit der möglichen Verweigerung der Kasualhandlungen (Art. 8,2,3; 9,1,2; 15,2; 60; 61; 6 2 , 4 - 6 ; 74) und des Abendmahls (Art. 46,2; 4 9 , 6 ; 84), durch die mit der Buße die teure Gnade geschenkt wird. Denn die „kirchliche Zucht warnt im Dienst bewahrender Liebe die Glieder der Gemeinde vor Sünde" (Art. 49,1) und ruft sie zur Umkehr, wobei die Lebensordnung eine Art Beichtspiegel darstellt. Der dritte Aspekt des pastoraltheologischen Gesichtspunktes der EKULebensordnung, ihr Dienst als christliche Sittenordnung, findet im Vergleich zur VELKD-Lebensordnung nur geringe Beachtung. Dieser Aspekt ist mit der Lebensordnung als Zuchtordnung verbunden; sie mahnt „zu einem zuchtvollen Leben und Wandel", wie es im Vorspruch heißt; sie dient im Gehorsam gegen das Wort Gottes „zur Erhaltung und Festigung der Gemeinde" (Art. 49,1). Dieses geordnete Verhalten in geistlicher Zucht bezieht sich auf den gottesdienstlichen Bereich, auf den Gebrauch der Agendenordnung (Art. 34,1,2; 53,2; 67,2,3,5 usw.), auf den geistlichen Lebensstil auch im Alltag, auf das Zusammenleben in Haus, Gemeinde und Beruf. Die Lebensordnung als „gute kirchliche Sitte" ist bei ihrer 242
geistlichen Intention in besonderem Maße von lokalen, indigenen und zeitgeschichtlichen Faktoren mitbestimmt. So werden diese Bräuche, Sitten und Verhaltensformen, die in Liebe um des Friedens in der Gemeinde willen gelebt werden, auch „bekennende" Sittenordnungen. Drei Intentionen leiten somit den pastoraltheologischen Gesichtspunkt der EKU-Lebensordnung: in dominierender Weise die parakletische Seelsorgebestimmungen, dann der Beichtspiegel und auch die „bekennende" Sittenordnung 5 8 4 .
6.2.2.2. Visitationsordnung
der Arnoldshainer
Konferenz
Im „Muster" einer Visitationsordnung der Arnoldshainer Konferenz vom 17.12.1975 wird der pastorale Gesichtspunkt besonders hervorgehoben. Mit pastoral ist hier einmal die persönliche Beratung und Begleitung gemeint, die ihr Zentrum in der Beichte hat, zum andern der geistliche Dienst in den verschiedenen Handlungsfeldern der Gemeinde und schließlich die warnende und weisende, die helfende und heilende Tätigkeit, die Aufgaben der Diakonia und der Koinonia in der Gesellschaft und im Bezugsfeld der Kirche mit den anderen Kirchen und gesellschaftlichen Institutionen und Gremien. „Die Visitation umfaßt alle kirchlichen Handlungsfelder der betroffenen Einrichtungen. Sie achtet auf die vom Evangelium geforderte Ausrichtung der Arbeit, ihre kirchliche Zuordnung und ihre gesellschaftliche Relevanz" (IV,2). „Zur Visitation gehören neben den Gesprächen mit den Pfarrern, Mitarbeitern und Gemeindegruppen gegebenenfalls Gespräche mit katholischen, freikirchlichen und anderen Partnern sowie mit den zuständigen staatlichen Instanzen (z.B. Universitäten, Strafanstalten, Krankenhäusern" (IV,3)). Die kommunikative Struktur der Visitation wird so betont. Durch die Visitation und die Regelungen der Visitationsordnung ergeht der Ruf zur Selbstprüfung, die kritische Anfrage, die Mahnung zur Umkehr, wo die „auftragsgemäße, auf die Gegenwart bezogene Verkündigung des Evangeliums" vernachlässigt wird (1,3), wo in Selbstgerechtigkeit der Dienst und das Gespräch mit anderen kirchlichen Werken und gesellschaftlichen Institutionen vergessen wird (1,4,1; 11,3,4), wo die Verbundenheit mit der Weltchristenheit und die missionarische und ökumenische Aufgabe ausgeblendet worden ist (1,4,3; 4,4), wo die geordnete Verwaltung und der äußere Zustand von kirchlichen Gebäuden schuldhaft verwahrlost blieb (111,3; IV,2,3). Unter pastoraltheologischem 584
Ebd., 109, 115.
243
Gesichtspunkt bedeutet das mahnende Wort der Gesamtkirchenleitung bei der Visitation den geistlichen Ruf zur Buße, und diese Buße ist auf die Beichte und Absolution ausgerichtet. Die Absolution ist dem Pastor, den Ältesten und der ganzen Gemeinde verheißen, wenn sie ihr schuldhaftes Versagen vor Gott bekennen und bereit sind, neu anzufangen. So dient die Visitation der Erneuerung, der Auferbauung und Stärkung der angefochtenen und bedrängten Gemeinden. Vor allem aber will die Visitation aufgrund des Gesprächs zwischen der Gesamtkirche und der Einzelgemeinde Vorschläge, Weisungen und Richtlinien aus gesamtkirchlicher Sicht geben. Sie will die Gebote des Evangeliums neu in Erinnerung rufen, auf die sachgemäße Einhaltung der gemeindlichen und kirchlichen Ordnungen verweisen und richtungsweisende Signale setzen. „Sie achtet auf das Vorhandene, regt Neues an, wehrt Fehlentwicklungen, hilft bei der Lösung von Konflikten und erörtert in Kirche und Gesellschaft aufgebrochene Fragen" (1,4,1). Sie fordert die Gemeinschaft unter den Gemeindegliedern und unter den Mitarbeitern und ermutigt sie zum Dienst aneinander (1,4,3). Über den Individualbereich der einzelnen Christen hinaus will sie durch die Paraklesen den Blick weiten für die Fragen der Gesamtkirche und für die missionarische, ökumenische und gesellschaftsdiakonische Arbeit (1,4,4; 11,3). Auch für bessere Verwaltungstechniken, für die Koordination der kirchlichen Verwaltung und der kirchlichen Arbeit unterbreiten die jeweiligen Fachleute bei der Visitation ihre Vorschläge. So dient der kirchenleitende Besuch als geistlicher Auftrag der gemeindlichen und der gesamtkirchlichen Erbauung und Erneuerung. Aufs ganze gesehen, tritt der pastoraltheologische Aspekt in dem „Muster" der Visitationsordnung stark in den Vordergrund: die geistliche Behandlung der Fragen des kirchlichen Lebens und der kirchlichen Organisation in ihrem individuellen, gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Bezugsfeld, wobei die Kirche als Leib Christi und als sich ereignende Institution in ihrem konkreten geschichtlichen Kontext ernstgenommen wird. Die dominierende parakletische Struktur der Visitation und ihrer Ordnung nach dem sog. ,,Muster" entspricht dabei in vielen Punkten der revidierten EKU-Lebensordnung: Lehre und Leben, der geistlich-innere und der organisatorisch-äußere Aspekt der Kirche mit ihren verschiedenen Lebensbereichen und Handlungsfeldern gehören zusammen unter dem geistlichen Auftrag der Kirche Jesu Christi; einmal werden sie unter gesamtkirchlichem Blickwinkel, das andere Mal unter gemeindlichem gesehen. Kritisch ist zugleich festzustellen, daß vor allem in der Lebensordnung viele Einzelregelungen durch einen Pragmatismus gekennzeich244
net sind und die Struktur gesetzlicher Verordnungen dominiert. Hier wird eine Fortschreibung die theologischen Akzente in einer parakletischen Seelsorgeordnung klarer und verbindlicher setzen.
6.3. Der pastoraltheologische
Aspekt
Wie bei den systematischen Überlegungen zum dogmatischen und rechtstheologischen Aspekt des Themas „Lehre und Ordnung im Leben der Kirche" so ist auch beim pastoraltheologischen das Kirchenverständnis und das Verständnis der Visitations- und Lebensordnungen in Verbindung zu bringen. Die kirchliche Ordnung in ihrer pastoraltheologischen Bedeutung kann vom Wesen der Kirche nicht getrennt werden. Verglichen mit der intensiven Beschäftigung mit den pastoraltheologischen Fragestellungen in der gegenwärtigen römisch-katholischen Theologie und Kirche — man denke nur an das „Handbuch der Pastoraltheologie" 5 8 5 und an die pastoraltheologischen Themen und Aufgabenstellungen der „Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland" vom 3.1.1971 bis 22.11.1975 in Würzburg 586 nach dem II. Vatikanischen Konzil — werden in der evangelischen Theologie die pastoraltheologischen Themen nur an vereinzelten Stellen behandelt 5 8 7 Hier sollen nun einige Grundfragen aufgegriffen und auf einige Kriterien verwiesen werden, die in einer biblisch begründeten Theologie ihr Fundament haben.
6.3.1. Das
Kirchenverständnis
Gerade bei den pastoraltheologischen Überlegungen drohen die systematischen Gedanken nur zu leicht in einen Pragmatismus oder in einen Dogmatismus abzugleiten. 5 8 5 Handbuch der Pastoraltheologie I—IV, hrsg. Fr. X . Arnold, K. Rahner, V. Schurr, L. H. Weber, F r e i b u r g - B a s e l - W i e n 1 9 6 4 - 7 2 . 5 8 6 Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland I, II, hrsg. L. Bertsch, Ph. Boonen, R. Hammerschmidt, J . Homeyer, F. Kronenberg, K. Lehmann usw., Freiburg—Basel—Wien, 1 9 7 6 — 1 9 7 7 ; vgl. auch: Synode — Ende oder Anfang, hrsg. D. Emeis, B. Sauennost, Düsseldorf 1 9 7 6 und „Katholische Synode, evangelisch gesehen", Bensheimer Hefte 5 0 , Göttingen 1 9 7 7 . 587 Vgl. G. Rau, Pastoraltheologie, München 1 9 7 0 ; vgl. auch: G. Krause, Problem der Praktischen Theologie im Rahmen der Studienreform, in: Praktische Theologie, hrsg. G. Krause, Darmstadt 1 9 7 2 , 4 1 8 f f .
245
Unter pastoraltheologischem Gesichtspunkt ist die Kirche Jesu Christi — wie D. Bonhoeffer in „Sanctorum C o m m u n i o " 5 8 8 darlegt — eine theologische Größe, d.h. der Leib Christi und das Gottesvolk, und zugleich eine empirische, d.h. eine geschichtliche Institution, die zeitlichen Wandlungen und lokalen Veränderungen auf ihrem Weg dem Gericht Gottes entgegen ausgesetzt ist. In, mit und unter der empirischen Gestalt ist die Geistkirche der congregatio sanctorum da, wo das Wort Gottes gepredigt und die Sakramente verwaltet werden. Die empirisch-wissenschaftlichen Forschungsmethoden haben darum für das pastoraltheologische Verständnis der Kirche erhöhte Bedeutung. Bei Anerkennung ihrer vorläufigen und unabgeschlossenen Ergebnisse konfrontieren sie das theologische Verständnis der Kirche mit der empirischen Wirklichkeit und konkretisieren es auf die geschichtlichen Formen und Gestaltungen hin. K. Barth hat n u n in seiner Auslegung des Vaterunsers „Das christliche L e b e n " 5 8 9 die drei Grundgestalten kirchlicher Gemeinschaft in die „Ordn u n g " 590 des christlichen Lebens einbezogen. Diese Lebensordnung wird durch den „Vorrang" und die „Überordnung" des Wortes Gottes vor und über den Lebensbereichen und Lebensvollzügen der Christen charakterisiert 5 9 1 . Bei den Grundgestalten der christlichen Lebensbereiche hat K. Barth drei vor Augen 592 : den persönlichen Bereich 593 , den innerkirchlich-gemeindlichen594 und den weltlichen59s. Die „ O r d n u n g " des christlichen Lebens ist n u n dadurch gekennzeichnet, daß das in der Kraft des heiligen Geistes wirkende Wort des lebendigen Christus das christliche Leben begründet, gestaltet und erneuert. Sie ist Heiligungsordnung in den sozialen Gestaltungsformen der Hausgemeinde, der Gemeindekirche und ACT partikularen Kirche in der Ökumene. An diese drei Grundgestalten der Kirche Jesu Christi, die wieder verschiedene Gemeinschaftsformen, Kommunikations- und Interaktionsgestalten kennen, wollen wir uns bei der pastoraltheologischen Beschreibung des Kirchenverständnisses halten. 6.3.1.1. Die Hausgemeinde und consolatio
— communicatio
als oratio, als
adhortatio
Die Familie, die Klein- oder die Großfamilie, ist die Grundgestalt gemeindlichen Lebens. Zahlreiche neutestamentliche Texte berichten hier588
589 590 592 594
D. Bonhoeffer, Sanctorum Communio, München I960 3 . κ . Barth, Das christliche Leben, Zürich 1976. Ebd., 295 . 591 Ebd., 293. Ebd., 308. 593 Ebd., 309. Ebd., 3 1 8 . 595 Ebd., 329.
246
von 595a . Auch die vom Selbstverständnis der Kirche herkommenden gemeinde- und kirchensoziologischen Untersuchungen erkennen in der Familie die wichtigste Sozialform, in der Glaube geweckt und gelebt wird; ergänzend sind ihr heute Kommunitäten und christliche Aktionsund Basisgemeinden sowie charismatische Gruppen zuzuordnen. Das Zusammenleben in der Hausgemeinde gestaltet sich als christliches Leben aus der Taufe, im Hören auf das Wort Gottes durch die Beschäftigung mit der Bibel und im antwortenden Gebet als Reden mit Gott. Das Leben in der Hausgemeinde, also das Zusammenleben der Eltern, Großeltern, Kinder, Verwandten und Freunden oder auch nur der Eltern und Kinder, ist getragen von der communicatio (Gespräch) mit Gott. Diese ereignet sich in der Anrede des biblischen Wortes und im antwortenden Gebet bei den täglichen Andachten am Morgen und am Abend; sie kann durch die väterliche adhortatio (Mahnung) und die mütterliche consolatio (Tröstung) von der Schrift her geschehen. Der Anrede entspricht dann die Antwort in Bitte und Dank, die an den Scharnierstellen des Tages wiederholt wird: bei Tisch, am Beginn und Ende des Tages, vor Entscheidungen und in Krisen 596 . Von hier bestimmt die communicatio auch das Reden und Zusammenleben in der Familie zwischen Alten und Jungen (Kol. 3,20), zwischen Mann und Frau (l.Kor. 7,14ff.), aber auch das Verhältnis von Vorgesetzten und Untergebenen (Kol. 3,22—4,1); tö kyriö und hös tö Christo geschieht dies 597 , d.h. in der Freiheit, zu der Christus befreit hat; es ist eine Freiheit, die im Dienst aneinander sich erweist, wie M. Luthers Kleiner Katechismus zeigt 598 . Neue gegenwartsgemäße Formen des Zusammenlebens unter Einbeziehung humanwissenschaftlicher und empirischer Erkenntnisse sind für das partnerschaftliche Verhältnis christlicher Eheleute, für die kind- und altersspezifische Erziehung, für die dienende Mitverantwortung und Mitbestimmung immer neu zu finden und zu leben. Der geistliche Charakter wird die Konstante darstellen, wenn auch die Gestaltungsformen andere sind als die der neutestamentlichen Haustafeln, derer Regeln ja aus der philosophischen Propaganda der damaligen Zeit stammen 599 , also aus der griechischen Popularphilosesa Vgl. Apg. 1 6 , 1 5 f f . ; 3 3 f f . ; R o m . 1 6 , 2 3 ; l . K o r . 7 , 1 2 f f . ; 1 6 , 1 9 ; Kol. 4 , 5 ; die Haustafeln: KoL 3 , 1 8 - 4 , 1 ; Eph. 5 , 2 2 - 6 , 9 ; I.Tim. 2 , 8 f f . ; 5 , 1 7 f f . ; T i t . 2 , 1 - 3 , 3 ; l.Petr. 2, 13-3,7. 5% Vgl. D. Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, München 1 9 7 0 1 3 . 597 Vgl. die Haustafeln: Kol. 3 , 2 2 - 4 , 1 ; Eph. 5 , 2 2 - 6 , 9 usw. BSELK 521,Iff. Κ. Weidinger, Die Haustafeln. Ein Stück urchristlicher Paränese, Leipzig 1 9 2 8 , 19. So auch: E. Lohse, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon, Göttingen 1 9 6 8 , 220ff.
599
247
Sophie und der jüdischen Paränese übernommen sind 6 0 0 oder — wie andere meinen 6 0 1 — eine nach jüdischem Muster zusammengestellte Anordnung von Einzelermahnungen Jesu selbst sind. Heute wird der Kontakt unter diesen christlichen Hausgemeinden und Aktionsgruppen zu intensivieren sein; konfessions- und berufsspezifische, interessen- und altersorientierte Gesichtspunkte spielen dabei eine Rolle, vor allem aber geht es um die gemeinsame Verantwortung als christliche Hausgemeinden in der Kirche Jesu Christi vom Wort Gottes her in der communicatio als oratio, adhortatio und consolatio, im Kommunizieren durch Gebet, Mahnung, Tröstung, d.h. im mutuum colloquium et consolatio fratrum über die alltäglichen Sorgen, Erfahrungen und G u t t a t e n 6 0 1 a ; in den gesellschaftsdiakonischen und politischen Aktivitäten. 6.3.1.2. .Die Gemeindekirche — praedicatio (docere) und sacramentorum, martyria, leiturgia, diakonia
administratio
Wurde unter dem ersten Gesichtspunkt die ecclesia als familia (Hausgemeinde) gesehen, so wird die nun unter dem zweiten als parochia (Parochialgemeinde) verstanden. Die ecclesia, das Reich Christi in der Welt mit der parochia als der sozialen Grundform, hat im Gottesdienst ihren Ort. Er ist auch das Integrationszentrum der Hausgemeinden. Hier dient Gott der Gemeinde durch das Zeugnis, die martyria, durch die Verkündigung des Evangeliums, und die Gemeinde dient Gott durch die martyria des antwortenden Bekenntnisses, des Gebets und der Lobpreisung sowie der gegenseitigen diakonia (l.Kor. l l , 1 7 f f . ) . So wird der Gottesdienst pneumatisches und eschatologisches Ereignis. Die exegetische 602 , liturgiewissenschaftliche und dogmatische 6 0 3 Forschung hat nun gezeigt, daß die ersten christlichen Gemeinden den Gesamtgottesdienst feierten 6 0 3 3 , also die Verbindung von Wort- und Sakramentsgottesdienst. Diese Ergebnisse werden nun mehr und mehr in die Liturgie des heutigen kirchlichen Lebens hineingenommen 6 0 4 . Der Gesamtgottesdienst wird als 600
E. Lohmeyer, Die Briefe an die Philipper, an die Kolosser, an Philemon, Göttingen 1 9 5 3 9 , Exkurs zu Kol. 3,18ff.; ähnlich auch: M. Dibelius, An die Kolosser, Epheser. An Philemon, neubearbeitet von H. Greeven, Tübingen 1953 5 , Exkurs: Haustafeln, S. 48f. 601 D. Schröder, Die Haustafeln des Neuen Testaments, Diss. Hamburg 1959, 132f. 6013 Vgl. J. Henkys, Seelsorge und Bruderschaft, Stuttgart 1970, 37f. 602 Vgl. O. Cullmann, Urchristentum und Gottesdienst, Basel 1944, 24ff.; auch: G. Delling, Der Gottesdienst im Neuen Testament, Göttingen 1952, u.a. 160. 603 P. Brunner, Zur Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde, Leiturgia I, Kassel 1954, 84ff.; bes. 220ff. «03a v g i . A p g . 2,42; 20,7ff.; l.Kor 14; 11,20 usw. 604 W. Heidland, Wesen und Wert des Gottesdienstes, in: Mitteilungen 6, 1974, 13ff.
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Grundform jeden Gottesdienstes erkannt; ihm ist der reine Predigtgottesdienst, die Agapefeier, die Andacht als Kurzgottesdienst, der Abendmahls· und Beichtgottesdienst, der Jugendgottesdienst mit den neuen Gestaltungsversuchen zugeordnet 6 0 s . Der Gottesdienst als martyria, leiturgia und diakonia Gottes und der Gemeinde geschieht in den von Gott gebotenen Kennzeichen der Kirche 6 0 6 , der Wortverkündigung als Predigt des zur Buße rufenden Gesetzeswortes (Rom. 7,7,9; 8,2) und des vergebenden und erneuernden Evangeliums (Rom. 1,16) sowie der Verwaltung der Sakramente, die j a im Neuen Testament noch nicht als Sakramente, sondern als Heilsgaben verstanden werden; das gilt für die T a u f e 6 0 7 wie für das Abendmahl 6 0 8 . Darum hat einerseits die ganze Gemeinde, d.h. der Pastor zusammen mit den Ältesten und den Gemeindegliedern, und andererseits die Kirchenleitung, d.h. der geistliche gubernator der Partikularkirche, den Auftrag, über die schrift- und bekenntnisgebundene sowie gegenwartsgemäße Verkündigung und die rechte Sakramentsverwaltung zu wachen; Beurteilungskriterien sind das sola scriptura, sola gratia, sola fide und solus Christus in Lehre und Leben. Dies ist nicht nur eine dogmatische Aufgabe, sondern wegen des Gegenwartsbezuges mit seinen Konkretionen und wegen der Verknüpfung von Lehre und Leben auch eine pastoraltheologische. Die Predigt und die Sakramente stiften Gemeinschaft, gottesdienstliche Gemeinde, zu der auch die Kasualgemeinden gehören 6 0 9 . Die Gemeindeglieder sind mit ihren Gaben und Charismen in die Gemeinschaft gottesdienstlichen Lebens einbezogen; sie haben daran Anteil und sie beteiligen sich (Rom. 12; l . K o r . 12). Gleichwohl werden aus ihrer Mitte besonders ausgebildete Glieder von Christus dazu berufen, den Dienst der öffent«os Vgl. Fr. Schulz, Das Mahl der Brüder, J b L H 17, 1972, 32ff.; ferner: Abendmahl in der Tischgemeinschaft, Kassel 1971. « * Vgl. CA VII, B S E L K , 6 1 , I f f . ; 233,Iff. « " Rom. 6 , 1 - 1 4 ; Gal. 3 , 2 4 - 2 9 ; Tit. 3 , 3 - 7 ; l.Petr. 3 , 1 8 - 2 2 ; J a k . 3,18; Apg. 8 , 4 25; E. Schlink, Die Lehre von der Taufe, Kassel 1969; ferner auch: E. Dinkier, Die Taufaussagen des Neuen Testaments Neu untersucht im Blick auf Barths Tauflehre, in: Zu K. Barths Lehre von der Taufe, Gütersloh 1971, 60ff. « » l.Kor. 1 l,23ff.; Mt. 2 6 , 2 6 - 2 9 ; Mk. 1 4 , 2 2 - 2 5 ; Lk. 2 2 , 1 4 - 2 0 ; G. Bornkamm, Herrenmahl und Kirche bei Paulus, in: Studien zu Antike und Christentum, München 1959, 138ff.; ferner: E. Käsemann, Anliegen und Eigenart der paulinischen Abendmahlslehre, EvTh 7, 1947/48, 263ff.; E. Schlink, Gottes Handeln durch die Taufe als ökumenisches Problem, in: Pluralisme et Oecumenisme en Recherches Theologiques, hrsg. R. P. Dockx, Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium XLIII, 1977, 119ff.; A. Peters, Realpräsenz. Luthers Zeugnis von Christi Gegenwart im Abendmahl, Berlin 1960, 140ff. 609 Vgl. D. Bonhoeffer, Sanctorum Communio, München I 9 6 0 3 , 57ff.
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liehen Wortverkündigung und Sakraments Verwaltung auszuüben (Mt. 28,18ff.; 2.Kor. 5,18ff.); sie tun diesen Dienst - wie CA XIV,XXVIII sagt — kraft göttlicher Beauftragung. Zu diesen Diensten kommen dann — gerade wegen der Notwendigkeit einer größeren Spezialisierung — besondere Schwerpunktaufgaben, die in Zusammenarbeit mit anderen Amtsträgern und Gemeindegliedern zu erledigen sind. Das In, Inmitten und Gegenüber von Amt und Gemeinde bleibt dabei die pastorale Grundstruktur gottesdienstlichen Lebens in der Parochialgemeinde. Der martyria, leiturgia und diakonia im Gottesdienst ist auch die christliche Unterweisung der Jugend, der Taufbewerber und der Erwachsenen zugeordnet. Der Katechumenunterricht dient vor allem der Einführung in den christlichen Glauben und in das Leben der christlichen Gemeinde. Die christliche Erwachsenenbildung ist besonders auf die Vertiefung der Glaubensthemen konzentriert in ihrem Bezug und in ihrer Konfrontation mit den Herausforderungen an das Christsein in Familie, Beruf, Alltag und Gemeinde heute: Jugendgruppen beschäftigen sich mit der christlichen Botschaft angesichts der Probleme der Ausbildungs- und Berufswelt, Brautleute mit den Möglichkeiten des christlichen Ehe- und Familienlebens sowie mit den Fragen von Familienplanung, Kindererziehung und der christlichen Hausgemeinde. Alterspezifische, berufs- oder interessenorientierte Gemeindekreise versuchen ihre Fragen vom biblischgegründeten Glauben her zu beantworten, wobei — mit H. Tacke gesprochen 6 1 0 — Glaubenshilfe und Lebenshilfe zusammengehören. Dem Gemeinschaftserlebnis in der Parochialgemeinde k o m m t dabei eine besondere Bedeutung zu 6 1 1 , wobei auf die Kommunikation und die Interaktion, eventuell auch auf die Aktion unter Einbeziehung der Gaben der Gemeindeglieder und der Eigenverantwortung des allgemeinen Priestertums besonderes Gewicht zu legen ist. Neben der christlichen Unterweisung ist der Verkündigung und Sakramentsverwaltung in der Gemeinde die seelsorgerliche Arbeit, d.h. der paränetische und diakonische Dienst, zuzuordnen. Die pastoraltheologische Funktion der Parochialgemeinde wird hier besonders augenfällig, geht es doch hier um die einzelnen Gemeindeglieder und Menschen in ihrer je konkreten Situation. In der communicatio, d.h. in der adhortatio und consolatio, sowie in der interactio, d.h. in der Kontraexistenz und in der Proexistenz, geschieht der konkrete Dienst aneinander. Empirische Forschungsergebnisse in ihrer Begrenztheit und geschichtlichen Vorläufigkeit aus Psychologie, Soziologie, Pädagogik und den anderen 610 611
H. Tacke, Glaubenshilfe als Lebenshilfe, Neukirchen—Vluyn 1975. Vgl. u.a. J. M. Lohse, Kirche ohne Kontakte?, Stuttgart 1967.
250
Humanwissenschaften sind in den pastoralen Dienst einzubeziehen, um die Situation des Menschen, seine Not und die Hilfeleistungen konkret zu erfassen (Lk. 10,25ff.). Die Hilfe für Angefochtene, Sich-von-der-Gemeinde-Trennende 6 1 2 , für Kranke und Sterbende, für Notleidende und Marginalisierte ist dabei als seelsorgerlich-diakonischer Dienst die ureigenste Aufgabe der Gemeinde, die Glaubens- und Lebenshilfe nicht voneinander trennt. Das geistliche Zentrum hat diese pastorale Tätigkeit in der Beichte, also in dem Sündenbekenntnis aufgrund des R u f s zur Buße angesichts des Gerichts Gottes und im Zuspruch der Vergebung. Der diakonische Dienst am nahen und fernen Nächsten hat seinen Kern einmal im prophetischen Wächterdienst, der als Kontraexistenz den Bußruf enthalten kann, und in der Proexistenz und der Fürbitte für den konkreten anderen, der damit die — wie D. Bonhoeffer s a g t 6 1 3 — „ethische Schranke" für das einzelne Gemeindeglied und für die Gesamtgemeinde wird. Das pastoralethische Gebot als geistlicher Auftrag ist hier nicht von der fachlich qualifizierten Beratung und Anweisung zu trennen, wenn die „ p a r o c h i a " als gottesdienstliche Gemeinde Gemeinschaft für andere sein will. Der Verkündigung des Evangeliums und der Verwaltung der Sakramente zugeordnet ist schließlich auch die Verwaltung und Leitung der Gemeinde und ihrer Einrichtungen; auch die kybernesis ist ein pastoraler Dienst. Durch den Kirchenkampf wurde dies neuerkannt im Rückgriff auf die reformatorischen Kirchenordnungen; in ihnen war Lehre, Leben und Ordnung, geistlicher und kybernetischer Dienst, Lebens- und Visitationsordnung eins. Heutzutage versucht man teilweise, den im Kirchenkampf eingeschlagenen Weg weiterzugehen, wie M. Honecker für das Institut der Visitation deutlich m a c h t 6 1 4 . Gerade unter pastoraltheologischem Gesichtspunkt sind die geschichtlich und örtlich bedingten Veränderungen und Wandlungen in den Blick zu fassen, denen die Gemeindekirche wie auch die Hausgemeinde und die Partikularkirche in der weltweiten ökumenischen Gemeinschaft unterworfen ist. Faktoren für solche Wandlungen sind die Mobilität, die Technisierung, Funktionalisierung und Anonymisierung 6 1 5 der modernen Welt sowie die Säkularisierung mit ihren Ersatzbindungen, die wirtschaftliche Interpendenz und die ökumenische Offenheit und Durchlässigkeit. Diese 612 Vgl. „Handreichung zur seelsorgerlichen Begleitung Ausgetretener" der V E L K D , Hannover 1973. D. Bonhoeffer, Sanctorum Communio, München I 9 6 0 3 , 30. M. Honecker, Visitation, Z e v K R 7, 1972, 35 Iff. 6 1 S Vgl. J . M. Lohse, Kirche ohne K o n t a k t e ? , Stuttgart 1967; Gottesdienst in einer rationalen Welt, G. Schmidtchen, Stuttgart 1 9 7 3 ; Wie stabil ist die Kirche?, hrsg. H. Hild, Berlin 1974. 613
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Veränderungen beziehen auch die Gemeinschaftsformen der Gemeindekirche in sich ein und bestimmen Akzentsetzungen pastoraler Tätigkeit und Aufgaben. Besonders zu erwähnen sind hier die paragemeindlichen Ausgestaltungen 6 1 6 : die Studenten-, Akademie-, Anstalts-, Krankenhausund Gefängnisgemeinden, die alters-, berufs-, interessen- und bekenntnisspezifischen Gruppen und die Aktionsgruppen in und außerhalb der Gemeindekirche, dazu die christlichen Kommunitäten, die Tagungs- und Hausgemeinden. Die Fragen des christlichen Glaubens in ihrer Bedeutung für die jeweilige Paragemeinde und Gemeindegruppe im Gegenwartskontext werden hier behandelt und von einem entsprechenden Lebensstil mit seinen Gestaltungsformen getragen; diese geistlich bestimmte Lebensweise wirkt sich in konkreten Handlungen des usus practicus evangelii aus. Eine besondere Aufgabe der Parochialgemeinde und der Paragemeinde ist es nun, immer neu die Gemeinschaft und das Gespräch miteinander zu suchen. Das geschieht auf verschiedene Weise, wobei der gemeinsame Gottesdienst der Integrationsort bleibt: hier wird die praedicatio und die administratio sacramentorum der Grund der martyria, leiturgia und diakonia in ihrer spirituellen Verknüpfung. Dem gottesdienstlichen Leben zugeordnet sind die gemeinsamen Gespräche über biblische Themen und über andere Sachfragen sowie die Kooperation an gemeinsamen Projekten, der Austausch von Referenten usw. Zur gegenseitigen Bereicherung innerhalb der Partikularkirche und überhaupt innerhalb der Kirche Jesu Christi wird sich diese Gemeinschaft und dieses Gespräch unter pastoraltheologischem Gesichtspunkt auswirken.
6.3.1.3. Die Partikularkirche reformatio, unitio,
in der Ökumene damnatio
— visitatio,
gubernatio,
Die partikularkirchliche Fragestellung ist unter pastoraltheologischem Aspekt mit den verschiedensten Themen verbunden. Verschiedenste Probleme müssen darum auch mitberücksichtigt werden. In den neutestamentlichen Schriften bezeichnet ekklesia die Einzelgemeinde 6 1 6 3 und die Gesamtkirche 6 1 6 b ; die Gesamtkirche lebt in den Einzelgemeinden, und die Einzelgemeinden sind in der Gesamtkirche verbunden 6 1 7 . Beide gehören zum einen Leib Christi und zum wandernden Gottesvolk; Christus selbst erbaut, erneuert u n d bewahrt es mit seinem Wort und mit den Sakramenten durch den heiligen Geist (CA VII). 616 M. Honecker, Kirche als Gestalt und Ereignis, München 1963, 2 2 2 f f . 616a Vgl. Rom. 16,23; l.Kor. 1,2; 14,23 u.a. 616b v g i . l.Kor. 7,17; 14,33; 2.Kor. 8,18; 11,28 u.a. 617 Vgl. K.-D. Schmidt, έκκλησία, ThWNT III, 5 0 5 f f .
252
Die pastoralen Funktionen und Aufgaben der Gemeindekirche sind darum in der Partikularkirche mit ihrer lokalen Abgrenzung und ihrer bekenntnismäßigen Bestimmung innerhalb der Ökumene miteinbezogen: die praedicatio von Gesetz und Evangelium und die administratio sacramentorum, die martyria, leiturgia und diakonia sowie die communicatio in der adhortatio und consolatio. Doch erhält nun die Verantwortung für die Lehre, für die seelsorgerliche und diakonische Tätigkeit durch die partikularkirchliche Weite und die ökumenische Verantwortung besondere Akzentsetzungen, spezifische Ausweitungen und zusätzliche Aufgabenfelder. Die Partikularkirche und die sie repräsentierende Leitung ist verantwortlich für die schrift- und bekenntnisgebundene sowie gegenwartsgemäße Verkündigung, für die rechte Verwaltung der Sakramente, für die liturgischen Ordnungen und die Kirchenmusik, die Formen geistlichen Lebens, die Gebets- und Andachtsregeln. Hinzu kommen die missionarischen Aufgaben im Erwachsenenkatechumenat, im volksmissionarischen Bereich, in der äußeren Mission; alle drei Bezugsfelder sind nicht voneinander zu trennen, in den Missionszentren werden sie im Verbund behandelt, dasselbe gilt für die Missionskreise in den Einzelgemeinden und in der Region. Es sind weiter die mannigfachen Beratungsaufgaben gesamtkirchlicher Einrichtungen zu nennen: die Ehe-, Familien- und Erziehungsberatung, die gerontologische Begleitung, die pastorale Betreuung uud Unterstützung von Ausländern im eigenen Land und von Mitbürgern und Mitchristen im Ausland, die Arbeit im Bereich von „Freizeit und Erholung", die Studenten-, Gefängnis-, Militär- und Krankenhausseelsorge. Diese seelsorgerlich-pastoralen Dienste hängen schon eng mit der diakonischen Tätigkeit zusammen, wie ja überhaupt in diesen überregionalen Arbeitszweigen Seelsorge und Diakonie unter z.T. sozialethischen Problemstellungen miteinander verknüpft sind. Die diakonische Arbeit geschieht in den Anstalten für physisch und psychisch Kranke, in den Heimen für Süchtige und Schwererziehbare, in Altersheimen, Jugendhäusern und Kindergärten, in Erholungsheimen und Freizeitstätten. Meist stellen die kirchlichen Einrichtungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip Modelle für die kommunalen und bundesstaatlichen Sozialhilfeeinrichtungen dar, wobei die diakonische Arbeit der Kirchen im Liebesgebot Christi (Lk. 10,25ff.) begründet ist. Wie die starke Ausweitung der seelsorgerlichen und diakonischen Tätigkeit durch die Partikularkirchen nach dem Zweiten Weltkrieg in der 2. Barmer These ihre pastoraltheologische Begründung hat, so auch das Wächteramt der Kirche gegenüber dem Staat und seinen Organen und der gesellschaftsdiakonische ünd weltverantwortliche Dienst, wie er sich in kirchlichen Denkschriften wiederspiegelt. Die Verlautbarungen der 253
Evangelischen Kirche in Deutschland zu Erziehungs- und Bildungsfragen, zu wirtschaftlichen und politischen Themen, zu Gesellschafts- und Umweltproblemen sind ein lebendiges Bild hiervon. Hinzu k o m m t die Teilnahme und Mitarbeit in den Medienräten, in Planungsausschüssen für Ehe- und Familienfragen, für entwicklungs- und sozialpolitische Themen, ferner die Gespräche mit verschiedenen Gesellschaftsgruppen, mit den Parteien, Gewerkschaften und Arbeitgebern. Vom Auftrag des Evangeliums her und in Konfrontation mit dem jeweiligen Fachbereich und in Konkretion auf die speziellen Fragestellungen tut die Partikularkirche hier ihren pastoraltheologischen Dienst. Nicht von der Welt, aber in der Welt sind alle diese Aufgaben dem Verkündigungsauftrag Christi zugeordnet und sollten es noch mehr sein als das häufig der Fall ist. Nach den Erfahrungen des Kirchenkampfes und nach dem Aufbruch der ökumenischen Bewegung traten und treten die ökumenischen Herausforderungen und Aufgaben besonders für die Partikularkirchen immer stärker in den Vordergrund. Verschiedene Lebens- und Visitationsordnungen haben die ökumenische Dimension pastoraltheologischer Aufgaben schon stärker einbezogen. In Deutschland mit seinem historisch gewachsenen Landeskirchen tum sind die Partikularkirchen zum einen unter konfessionellem Gesichtspunkt miteinander verbunden wie in der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und in der Evangelischen Kirche der Union, zum andern nach staatlichem Gesichtspunkt wie etwa die Evangelische Kirche Deutschlands im Bereich der Bundesrepublik und der DDR. Die Partikularkirchen innerhalb der EKD sind weiter Mitglieder der konfessionellen Weltbünde und des ökumenischen Rates der Kirchen; die ökumenischen Beziehungen werden durch bilaterale Kontakte der Partikularkirchen mit anderen Bruderkirchen der ökumenischen Kirche und durch die wechselseitige Zusammenarbeit der Missionsgesellschaften mit den sog. „jungen Kirchen" ergänzt. Zahlreiche pastorale Aufgaben kommen dabei auf die Partikularkirchen zu: der Austausch von Pastoren, Missionaren, Referenten, die zwischenkirchliche Hilfe, Stipendienprogramme, theologische und diakonische Zusammenarbeit. Diese Tätigkeiten sind in verstärktem Maße von der Gemeindekirche zu tragen und zu rezipieren, denn auch für das ökumenische Zusammenleben ist die Ortskirche als „Ökumene am Ort" die Basis: die Fürbitte, das Opfer und der Dienst der Gemeindeglieder stützt die ökumenische Arbeit; die Parochialgemeinden sind der Bezugspunkt aller ökumenischer Tätigkeit der Partikularkirche. Gerade in der letzten Zeit wird die Durchlässigkeit und Interdependenz ökumenischen Lebens, Denkens und Arbeitens zwischen 254
den verschiedenen Ebenen erkannt: die Ortsgemeinde als Basis, die Experten als Weisungsgremien, die Kirchenleitung als Entscheidungsgremien. Die pastoraltheologischen Aufgaben entsprechen den verschiedenen Handlungsfeldern und Arbeitszweigen der ökumenischen Einrichtungen: das Ringen um die Einheit als Konsens und Koinonia bei aller Verschiedenheit, ihr Zentrum hat diese plurale Einheit im Geschenk der Abendmahlsgemeinschaft; das missionarische Zeugnis mit seinem universalen Anspruch und seinem Bezug auf die besonderen soziokulturellen Gegebenheiten und indigenen Gestaltungs- und Denkformen; die theologische Bildungsarbeit zum verantwortlichen Christsein in Partikular- und Gemeindekirche; die Entwicklungs- und Aufbauarbeit als christlicher Dienst an den Armen, Kranken und Notleidenden; der Kampf für den Frieden und für die Gerechtigkeit in der Welt. Diese verschiedenen Aufgaben und Handlungsfelder haben im Gottesdienst und im Bibelstudium, im Fürbittengebet und im gemeinsamen Lobpreis ihr Zentrum. Von hier werden die gottesdienstlichen Alltagsaufgaben im Bereich der Ökumene getan, also die Fachgespräche, die Beratungen über Programme und Konsensformulierungen, die gemeinsamen Veranstaltungen und Aktionen, die gegenseitigen Besuche, kritischen Anfragen und ratgebenden Vorschläge. Dabei wird die Konfrontation und Konkretion mit und durch die empirischen Forschungsergebnisse, die Situationsbeschreibungen und -analysen, die Spezialkenntnisse innerhalb der entsprechenden Bereiche einbezogen zum Dienst an der Wahrheit in der pluralen Einheit, die in Jesus Christus offenbar ist (Joh. 14,6). Die ökumenisch orientierte Partikularkirche lebt in und mit den Gemeindekirchen, Para- und Hausgemeinden. In dieser Geist- und Rechtskirche, in dieser congregatio sanctorum als sich ereignende Institution übt die Kirchenleitung im Auftrag Gottes ihren Leitungsdienst durch die Ordination und die Visitation aus. Der kirchenleitende Dienst der Visitation „sine vi, sed verbo" (CA XXVIII) ist begründet in der Schlüsselgewalt und bezogen auf die verschiedenen Aufgabenfelder und Lebensbereiche der Gemeinden. Die Visitation ist der gesamtkirchliche Besuchsdienst zur pastoralen gubernatio und reformatio, bezogen auf die konkreten Verhältnisse der jeweiligen Gemeindekirche und Paragemeinde. Es ist der geistliche Leitungsdienst durch die praedicatio des zur Umkehr rufenden Gesetzeswortes und des Heil schenkenden Evangeliums und weiter durch die communicatio als adhortatio und consolatio. Ziel dieses Besuchsdienstes ist — wie ja aller pastoraler Aufgaben — die aedificatio (die Erbauung) der Gemeinde Christi, und zwar unter Berücksichtigung der gesamtkirchlichen unitio (Einigung), die die pluralitas in der unitas 255
(die Vielheit in der Einheit) anerkannt, zugleich aber auch um die Möglichkeit der damnatio (Scheidung) im Grenzfall weiß 6 1 8 . So trägt die Kirchenleitung die Verantwortung für die rechte Lehre und Predigt und für die sachgemäße Verwaltung der Sakramente; sie achtet ferner auf den spirituellen Lebensstil des Pfarrers und das geistliche Leben der Gemeinde; beratend und mahnend wendet sie sich gegen selbstsichere Bequemlichkeit wie gegen stolzen Aktionismus; die Augen der Gemeindeglieder will sie für die ökumenischen Fragen und die seelsorgerlichen und diakonischen Aufgaben öffnen. Ihre kirchenleitende Pflicht ist es, darauf zu achten, daß die bürokratische, die beratende und seelsorgerliche Tätigkeit, die diakonische und ökumenische Verantwortung in ihrem jeweiligen institutionellen Rahmen sich nicht verselbständigt, sondern dem Auftrag der Kirche Christi dienend zugeordnet bleibt. Kirchenleitender Besuchsdienst in der ökumenischen Kirche bedeutet über die Visitation der Parochie hinaus den Besuch der Paragemeinden, der kommunitären Gruppen, der Basisgemeinden und der kirchlichen Anstalten und Einrichtungen 6 1 9 Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sie einen großen Anteil am kirchlichen Leben in der Gesamtkirche gewonnen; immer neu sind sie an ihre gesamtkirchlichen Dienste zu erinnern, die ja in der Verkündigung des Evangeliums zwischen dem ersten und zweiten Advent Christi begründet liegen. Schließlich sei noch auf den pastoraltheologischen Dienst der Gesamtkirchenleitung verwiesen, der im gegenseitigen Besuch mit anderen Partikularkirchen besteht, von denen die eigene Kirche durch konfessionelle, nationale und sozioökonomische Schranken getrennt ist. Das gemeinsame kritische Gespräch, die ermunternden Zeugnisse, die beratenden Überlegungen, die unterstützenden Hilfeleistungen (2.Kor. 8 und 9) werden getragen vom gemeinsamen Lobpreis des dreieinen Gottes, denn die ökumenische Kirche ist, wie es in der Basisformel des ökumenischen Rates der Kirchen heißt: „ . . . eine Gemeinschaft von Kirchen, die den Herrn Jesus Christus gemäß der Heiligen Schrift als Gott und Heiland bekennen, und darum gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind, zur Ehre Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes". In der praedicatio und administratio sanctorum, in der communicatio als adhortatio und consolatio sowie in der visitatio als gubematio und reformatio zur aedificatio der Kirche Jesu Christi durch die unitio und damnatio konzentrieren sich die pastoralen Dienste innerhalb der Kirche, die ja Hausgemeinde, Parochial- und Paragemeinde sowie Partikularkirche in der ökumenischen Kirche Jesu Christi ist. 618 Vgl. H.-W. Gensichen, Damnamus, Berlin 1955. 619
M. Honecker, Kirche als Gestalt und Ereignis, München 1963, 2 2 2 f f .
256
6.3.2. Die Lebens- und
Visitationsordnung
Entsprechend zum dogmatischen und rechtstheologischen Aspekt sind auch unter pastoraltheologischem Gesichtspunkt das Kirchenverständnis und die Charakterisierung der Lebens- und Visitationsordnung eng miteinander verbunden. In der Kirche Jesu Christi als empirischer und theologischer Größe der sich ereignenden Institutionen drohen die kirchlichen Ordnungen bei ihrer Bemühung um pastorale Konkretion in einen empiristischen Pragmatismus zu pervertieren oder im Bemühen um theologische Klärung in einen abstrakten Dogmatismus abzurutschen. Beide Irrwege gilt es, vom pastoraltheologischen Kirchenverständnis her zu vermeiden, wenn das besondere Genus der Lebens-Visitationsordnung, die fundamentale Bedeutung für alle Kirchenordnungen hat, erfaßt werden soll.
6.3.2.1. Als
Beichtspiegel
Unter pastoraltheologischem Gesichtspunkt ist die Lebens-Visitationsordnung zunächst — nach Art der neutestamentlichen Tugendkataloge (Gal. 5,22ff.; Rom. 13,13; Eph. 5,9ff.) — ein Beichtspiegel für die einzelnen Gemeindeglieder, für die Pfarrer und die anderen Verantwortlichen der Gemeinde wie für die Kirchenleitung. In ihrer Bezogenheit aufeinander und in ihrer ursprünglichen Einheit steht die Lebens-Visitationsordnung dabei im Dienst des Wortes Gottes. Durch den geistlichenGebrauch spiegelt diese Ordnung wider, wer die Gemeinden und die Gemeindeglieder eigentlich sind: Christen, bei denen Lehre und Leben, Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen (Jak. 1,23) und die aufgrund dieser Erkenntnis zur Umkehr gerufen sind. Im Spiegel dieser Ordnung erkennt das Gemeindeglied, der Pfarrer und die Kirchenleitung sich als Sünder. Sünde als Ungehorsam gegen Gott zeigt sich in konkreten alltäglichen Lebenssituationen. Allein durch den geistlichen Gebrauch wird sie von dieser Ordnung aufgedeckt, die dann auch zur Umkehr ruft. Unabhängig von diesem geistlichen Gebrauch würden die Richtlinien dieser Ordnung zu kasuistischen Gesetzen werden. So ruft diese Ordnung weiter die Familien, d.h. die Ehepartner und ihre Kinder, zu einem Leben aus der Taufe im Gespräch mit Gott, wie es sich durch einen von Bibellesen und Gebet geordneten Tageslauf ausdrückt. Das eheliche Zusammenleben, die Kindererziehung, der Beruf, das Verhältnis zu Geld und Freizeit, die Kontakte mit anderen Familien als Hausgemeinden gestalten -sich von hier. Ohne dieses geordnete Leben vor und mit Gott treten leicht andere Mächte und andere Dinge, woran 17 Plathow, L e h r t
257
der Mensch sein Herz hängt, an die Stelle Gottes. Hier ruft die LebensVisitationsordnung zur Sinnes- und Lebensänderung in der Beichte. Die Parochial- und Paragemeinden werden durch diese Ordnung kritisch darauf hingewiesen 620 , daß das Zentrum ihres Lebens im Gottesdienst liegt: die schriftgebundene Lehre und das verantwortliche Leben am Sonn- und Alltag gehören untrennbar zusammen. So wird die Gemeinde gemahnt, über Predigt, Lehre und Sakramente zu wachen gegen jede Irrlehre und Willkür; dasselbe gilt auch für die christliche Erziehung und Unterweisung. Nachlässigkeit fordert ernste Buße. Weiter ruft diese Ordnung gegen selbstgerechte Abkapselung, gegen träge Bequemlichkeit, gegen beharrlich vertretene Irrlehre und libertinistische Willkür, gegen überzogenen Aktivismus und faulen Fallibilismus zur Einheit von Glauben und Leben; die Fürbitte für die Jugend, die Konfirmanden, die jungen Eheleute, die Angefochtenen, Kranken, Sterbenden und Trauernden gehört zusammen mit dem seelsorgerlichen und diakonischen Dienst an Alleinstehenden, Marginalisierten und Notleidenden. Zeugnis und Dienst ist nicht zu trennen. Die Gemeinden und ihre Glieder aber sollen mit ihren Gaben und Charismen wuchern (Mt. 25,24ff.; 25,31ff.; J a k . l,22ff.), weil Gott im scheidenden Gericht Rechenschaft darüber fordert, was getan und was nicht getan wurde (Rom. 14,10; 2.Kor. 5,10) 6 2 1 . Ganz entsprechende Funktionen wie gegenüber den Parochial- und Paragemeinden übt die Lebens-Visitationsordnung auch gegenüber der ganzen Partikularkirche aus. Im Dienst am Wort Gottes ruft sie zur gesamtkirchlichen Verantwortung für die Verkündigung und Sakramentsverwaltung und zum daraus hervorgehenden Leben der Christen in Gemeinde und Gesamtkirche auf. Der gesamtkirchliche Gesichtspunkt ist bestimmend für den pastoralen Dienst dieser Ordnung als Beichtspiegel: sie verurteilt partikularistische und sezessionistische Tendenzen in der ekklesia particularis, seien sie nun aus satter Selbstzufriedenheit oder aus dogmatischer Verengung entstanden, aus kleingläubigem Skeptizismus oder ideologisiertem Empirismus, aus konfessioneller Verhärtung oder frommer Verinnerlichung, aus egoistischem Geiz oder bloßer Uninformiertheit. Sie verurteilt ebenso eine theologische Beliebigkeit, eine inhaltslose Frömmigkeit, eine ungeformte Kirchlichkeit, eine Unverbindlichkeit des christlichen Glaubens. Mit dem Gerichtswort verweist die Lebens-Visitationsordnung zugleich auf das Vergebung und neues Leben schenkende Evangelium und damit auf den missionarischen und diakonischen Dienst am nahen und fernen «20 Vgl. auch: H.-D. Wendland, Ethik des Neuen Testaments, Göttingen 1970, 64ff. 621 Vgl. g . Bornkamm, Der Lohngedanke im Neuen Testament, in: Studien zu Antike und Christentum, München 1959, 69ff.
258
Nächsten und weiter auf die ökumenische Dialogbereitschaft, die sich nicht außerhalb der Wahrheit stellt, und schließlich auf den gesellschaftsdiakonischen Wächterdienst. Alle Christen, die getauft sind im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, leben in der ökumenischen Kirche aus ihrer Taufe; sie sind täglich zur Rückkehr zum Leben aus der Taufe in der Beichte gerufen, die das endgültige Gericht Gottes über den Menschen vorausnimmt und zeichenhaft auf die Verantwortung der Christen und der Kirchen im Gericht vor Gott hinweist.
6.3.2.2. Parakletische
Seelsorgeordnung
Buße, Vergebung der Sünden und der Beginn des neuen Lebens gehören zusammen (Lk. 19,8ff.). So ist die Lebens-Visitationsordnung im Dienst am Wort Gottes Beichtspiegel und zugleich parakletische Seelsorgeordnung·, der Bußruf ist verbunden mit den Anweisungen und Richtlinien sowie — im Blick auf die konkreten Situationen — mit den Handreichungen und weisenden Worten. Das weisende Wort an die Hausgemeinde geht dahin, aus der Taufe mit dem Wort Gottes in der Gemeinschaft des Gebets zu leben und dabei die Gemeinsamkeit mit anderen Hausgemeinden zu pflegen. Die verschiedenen Handreichungen zum geistlichen Leben in der Familie, die Andachtsbücher, die Gebetsbücher, die Bücher mit biblischen Geschichten für Kinder geben hier Anleitungen. Vom gemeinsamen Gebet her gestaltet sich das Leben der Ehepartner und der Eltern und Kinder letztlich als Zusammenleben in gegenseitiger Vergebung. Von dem geistlichen Grund her formt sich auch der Charakter des Berufslebens, das Leben in der Nachbarschaft, die Entscheidungen zur Familienplanung, im Krankheitsfall, bei der Kindererziehung, die Fragen einer Mischehe, das Verhältnis zu den Großeltern und den alten Menschen sowie die Probleme des Geldes. Die Ergebnisse aus Psychologie und Soziologie, aus Pädagogik, Gerontologie und Medizin sind dabei als Hilfen vernünftig in die pastoralen Entscheidungen hineinzunehmen. Der Austausch und die Beratung mit anderen christlichen Ehepaaren, älteren Bekannten, mit dem Seelsorger oder mit pastoralmedizinischen Dienststellen der Kirche ist ebenfalls zu berücksichtigen. Die Fachberatung kann allerdings die in christlicher Freiheit zu fällende Entscheidung nicht ersetzen oder abnehmen; jede pastorale Entscheidung ist in ihrem konkreten Bezug eine Entscheidung des Glaubenden vor Gott. Die Hausgemeinde bleibt integriert in die Par ο chialgemeinde, sie steht in Verbindung mit Paragemeinden, Bruderschaften und Aktionsgruppen; 259
sie alle leben als congregatio sanctorum aus dem verkündigten Evangelium und dem Geschenk der Sakramente, die vom rechtmäßig berufenen Pfarrer verwaltet werden. Die Offenheit für neue Gottesdienstformen und andere Weisen des spirituellen Lebensstils sollten bei Betonung der liturgischen Ordnung das pastorale Verhalten der Gemeinde bestimmen, um die pluralen Verhältnisse in den Gemeinden und die geschichtlichen Veränderungen ernst zu nehmen. Die Mahnungen und Gebote für eine verantwortliche christliche Unterweisung und für einen geistlichen Seelsorgedienst erhalten bei den pastoraltheologischen Überlegungen zur Visitations-Lebensordnung besondere Bedeutung; die bayerische Lebensordnung vom 18.5.1966 gibt hier wieder sehr konkrete Anweisungen. M. Luther äußerte sich an verschiedenen Stellen 6 2 2 sehr treffend zum Inhalt des kirchlichen Unterrichts: die zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser gelten ihm als Kern; in altersgemäßer Weise sollen sie den Jugendlichen im katechetischen Unterricht beigebracht werden, wobei das Lehren nicht vom Leben, der K o p f nicht vom Herz getrennt werden soll; der Unterricht soll — pädagogisch und didaktisch geschickt — die Jugendlichen zum verantwortlichen Leben mit dem Wort Gottes und den Sakramenten in der Gemeinde anleiten und einführen. Diese Unterweisung wird dann weitergeführt im Erwachsenenkatechumenat, bei dem in ganzheitlicher Weise Glaubens- und Lebenshilfe verbunden sind, Seelsorge auch als Lebenshilfe verstanden wird 6 2 3 . Wie bei J e s u s Reden und Tun zusammengehört (Mt. 14,13ff., L k . 17,11 ff.; Lk. 10,25ff. usw.), die Zuwendung zum Sünder nicht zu trennen ist von der Zuwendung zum Kranken, Notleidenden und Sterbenden (Mt. 9,1 ff.; Lk. 8,40ff.), so gehört in der parakletischen Seelsorgeordnung der Auftrag zum seelsorgerlichen Zeugnis und zum diakonischen Dienst zusammen. Beim pastoralen Besuchsdienst, beim tröstenden Gespräch, bei der beratenden Begleitung, beim helfenden Tun für Angefochtene, Kranke, Notleidende, Sterbende und Trauernde geht es um den Verkündigungsauftrag im weiteren Sinn; in der Beichte und in der Fürbitte haben die verschiedenen seelsorgerlich-diakonischen Dienste ihren Bezugspunkt 6 2 4 . Immer neu sind die Pfarrer und Gemeindeglieder daran zu erinnern, darauf vorzubereiten und so auf die parakletische Seelsorge zu rüsten. M. Luther, Vorrede zu: Eine kurze Form der zehn Gebote, eine kurze Form des Glaubens, eine kurze Form des Vaterunsers ( 1 5 2 0 ) , B o A II, 38; ebenso: Vorrede zur Deutschen Messe ( 1 5 2 6 ) , B o A III, 2 9 4 f f . 6 2 3 H. Tacke, Glaubenshilfe als Lebenshilfe, Neukirchen—Vluyn, 1975. 622
Vgl. E. Thurneysen, Die Lehre von der Seelsorge, Zürich 1946, 2 5 1 ; D. Bonhoeffer, Seelsorge, in: Gesammelte Schriften V, hrsg. E. Bethge, München 1972, 3 6 3 f f . ; R. Riess, Seelsorge, Göttingen 1973. 624
260
Nur so belehrt und ausgebildet, kann der Dienst der Nächstenliebe in christlicher Freiheit und in pastoraltheologischer Verantwortung heute getan werden. Heute gilt für jede Gemeindekirche in besonderer Weise die pastoralethische Weisung, sich nicht abzukapseln oder zu isolieren in ihren Kreisen und Gruppen, sondern den Kontakt zu anderen Parochial- und Paragemeinden zu knüpfen, das Gespräch mit den Christen anderer Konfessionen, Kulturen und Traditionen zu suchen und auch den Dialog mit den Vertretern anderer Religionen und Weltanschauungen anzustreben. Für die Mischehepaare sind konkrete Gerne in schafts forme η zu bilden, in denen sie sich mit ihren Fragen zu Hause fühlen; das Zentrum dieser pastoralen Aufgabe sollte die eucharistische Gastbereitschaft sein. Die landeskirchlichen Lebensordnungen haben für diese Lebens- und Handlungsfelder z.T. gute pastoraltheologische Anweisungen gegeben, die durch ein „Kirchbüchlein" 6 2 5 und durch weitere Handreichungen zu ergänzen sind. In bezug auf die Partikularkirche innerhalb der ökumenischen Kirche Jesu Christi enthält die Lebens-Visitationsordnung parakletische Anweisungen, die sich auf die gesamtkirchliche Verantwortung beziehen. In indikativischer Beschreibung ist zunächst auf das Wächteramt über die Predigt, die Lehre und die Sakramentsverwaltung verwiesen: schrift- und bekenntnisgebunden sowie gegenwartsorientiert und ökumenisch ausgerichtet soll die gesamtkirchliche Verantwortung sein. Das biblische Zeugnis ist der Grund für die ökumenische Einigung in Glaubens-, Ordnungs- und Lebensfragen; das Ziel ist die Abendmahlsgemeinschaft durch die gegenseitige Anerkennung der Ämter, gelebt in einer pluralen Kirchengemeinschaft, die die Verschiedenheit in der Einheit emstnimmt. In diese gesamtkirchliche Aufgabe der Kirchenleitung sind auch die Paragemeinden, die verschiedenen Gruppen und Institutionen einbezogen. Den Leitungsdienst übt sie dabei vor allem durch die Ordination aus und die damit verbundene Verantwortimg für die rechte Ausbildung der Studenten und Kandidaten, Pfarrer und Mitarbeiter. Im Ernst- und Extremfall kann dieser Wächterdienst entsprechend der Lehrbeanstandungsordnungen bei beharrlichem Festhalten an der Irrlehre nach der echten seelsorgerlichen Begleitung und Ermahnung den Entzug des Lehr- und Predigtauftrags einschließen. Die gubernatio wird ferner durch die visitatio der Parochial- und Paragemeinden ausgeübt. Die parakletischen Anweisungen gelten weiter den überregionalen und gesamtkirchlichen Aufgaben des missionarischen, seelsorgerlichen und 625 Vgl. A. Stein, Das „Kirchbüchlein" der Bekennenden Kirche Altpreußens, eine evangelische Lebensordnung der Kirchenkampfzeit, ZSavSt. 94, 1977, 3 0 0 f f .
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diakonischen Dienstes. Die innere und die äußere Mission, die Beratungstätigkeit für Ehe-, Erziehungs-, Ausländer-, Unsteten-, Behinderten- und Altersprobleme sind hier zu nennen. Die seelsorgerliche Begleitung in Glaubensfragen und die Beratung in Lebensfragen gehören hier zusammen; Glaubenshilfe und Lebenshilfe sind verbunden, damit der kirchliche Auftrag auch durch diese Dienste deutlich bleibt. Unter ökumenischem Aspekt gehören bei diesem ganzheitlichen Ansatz die missionarischen und entwicklungspolitischen Aufgaben ebenfalls zusammen. Die Christen und so auch die Gesamtkirche tragen — obwohl sie nicht von der Welt sind, aber in der Welt leben — durch die Verknüpfung der kirchlichen Institution und ihrer Einrichtungen mit staatlichen Einrichtungen und gesellschaftlichen Organisationen auch gesellschaftsdiakonische und politische Verantwortung. Besonders die Erziehungs- und Bildungsfragen, die sozialpolitischen Themen, die Familien- und Eherechtsprobleme, die ethischen Aspekte des Straf- und Zivilrechts usw. verlangen die Stellungnahmen der Kirchen vom Evangelium her, um den Gemeindegliedern weisende Worte zu geben und den staatlichen Institutionen wie auch den anderen gesellschaftlichen Gremien Bestätigung oder kritisches Korrektiv geben zu können, vor allem aber um den pastoraltheologischen Auftrag der Kirche auszuüben. Auch die ökumenischen Verlautbarungen und Hilfsdienste im weltverantwortlichen K o n t e x t müssen diesen christlichen Anspruch verkündigen, weil die Christen seit dem Anbruch der Gottesherrschaft in Christi erstem Advent und im Blick auf den zweiten Advent Christi u m Gottes Gericht über alle Menschen wissen. Diese parakletischen Anweisungen zu konkretem Verhalten der Christen, der Gemeinden, der Kirche in der Ökumene charakterisieren den pastoraltheologischen Aspekt der Lebens- und Visitationsordnung; empirische Kenntnisse über die jeweilige Situation und die entsprechenden Verhältnisse können der Konkretisierung dieser Weisungen helfen, so daß Glaubenshilfe und Lebenshilfe verbunden bleiben.
6.3.2.3. Bekennende
Sittenordnung
Im Bereich der liturgischen Formen, der gelebten Volksfrömmigkeit und der Kasualhandlungen haben sich zahlreiche, auch örtlich gebundene Sitten und Gebräuche angelagert, die n u n z.T. als christliche Volkssitte gelebt werden. In der Hausgemeinde sind die Bräuche und Lebensformen zu nennen, die mit dem Kirchenjahr, vor allem den großen Kirchenjahresfesten, zu262
sammenhängen und mit den Kasualhandlungen wie Taufe, Patenübernahme, Konfirmation, Trauung, Beerdigung. Diese christliche Sittenordnung, die teilweise aus außerchristlicher Tradition oder aus gesellschaftlichen Konventionen übernommen sind — man denke nur an manche Weihnachts-, Oster- und Speisegewohnheiten — können bei rechtem geistlichen Gebrauch eine Segensgabe sein; in der christlichen Freiheit des hös mä (l.Kor. 7,29ff.) sind diese Ordnungen zu leben, ohne daß ihnen ein gesetzlicher Charakter beigelegt wird. Solche Sitten und Gebräuche gibt es auch im gemeindlichen Zusammenleben, denkt man nur an die Gottesdienstzeiten, die Abendmahlsform, die Trauungs- und Beerdigungssitten, die Kollektenordnung, den Kirchenschmuck an den Feiertagen, dem Erntedankfest, bei Hochzeiten und Taufen. Recht gebraucht erfüllen diese gewachsenen, ständiger Veränderung unterworfenen Gewohnheiten einen pastoralen Dienst für den Frieden und für die Auferbauung der Gemeinde. Wie tief verankert im Frömmigkeitsbewußtsein der Gesamtkirche diese geformten Sitten christlichen Lebens sind, zeigen die Schwierigkeiten von Agenden- und Gesangbuchreformen, die Einführung einer anderen Bibelübersetzung, die Gründung neuer Gemeindekreise, die Verwurzelung ökumenischer Arbeit in der Gemeinde. Vorschnelles Reformieren, wie auch lethargisches Beharren sind in gleicher Weise für den Aufbau der Gemeinden schädlich. Durch die gesellschaftliche Mobilität, durch die ökumenische Öffnung werden heute neue Gewohnheiten im Lebensstil, andere Formen der Frömmigkeit und Spiritualität, der Liturgie und des Feierns übernommen. Sie alle sind bekennende Ordnungen, keine Schöpfungsordnungen, wenn sie im Dienst des einen Wortes Gottes in christlicher Freiheit gebraucht werden; in ökumenischer Öffnung wollen sich die Kirchen gerade auch durch ihre besonderen Lebensordnungen gegenseitig bereichern und anregen. Freilich können in bestimmten Situationen diese Sitten und Gebräuche als „bekennende" Sittenordnung zum casus confessionis werden 626 ; auch dies ist ein Ergebnis des Kirchenkampfes bei seinen Rückgriff auf die reformatorischen Lebens- und Visitationsordnungen. Somit findet die Lebens-Visitationsordnung unter pastoraltheologischem Aspekt im Blick auf die Kirche Jesu Christi in ihren institutionellen Gestalten der Hausgemeinde, der Gemeindekirche und der Partikularkirche als Teil der ökumenischen Kirche ihre Bedeutung einmal als Beichtspiegel, zum andern als parakletische Seelsorgeordnung und schließlich als „bekennende" Sittenordnung.
™ BSELK 3 0 4 , 3 8 f f .
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6.3.2.4. Lebens-Visitationsordnung
und
Visitationspraxis
Unsere Überlegungen zu den Lebens-Visitationsordnungen gehen von der Zusammengehörigkeit von Lehre, Ordnung und Leben in der Kirche aus, wie sie in den reformatorischen Kirchenordnungen aufgrund des biblischen Zeugnisses erkannt und in den Ordnungen des Kirchenkampfes neu entdeckt wurde. Nun ist die Entwicklung weitergegangen, wofür M. Josuttis Beitrag „Visitation und K o m m u n i k a t i o n " 6 2 7 ein symptomatisches Beispiel darstellt. Unter A u f n a h m e kommunikationstheoretischer Ergebnisse 6 2 8 unterscheidet er bei der Visitation zwischen zwei Funktionen, der Kontakt- und der Kontrollaufgabe. Scharfsinnig stellt er heraus, daß die Visitationsordnungen zumindest der Landeskirchen der Arnoldshainer Konferenz in der Mehrzahl den Kontaktaspekt b e t o n e n 6 2 8 3 , die Visitationspraxis dagegen den Kontrollaspekt in den Vordergrund stellt 6 2 9 . Aus dieser gewiß häufig festzustellenden Diskrepanz von Absicht und Ausführung zieht er die Schlußforderung: „Eine künftige Visitationsordnung sollte auf einer klaren Trennung zwischen der Kontakt- und der Kontrollaufgabe der Visitation beruhen" 6 3 0 , um den brüderlichen Besuchsdienst nicht in ein Dienstaufsichtsverfahren zu verkehren. M. Josuttis Gedanken sind gerade unter pastoraltheologischem Gesichtsp u n k t sehr ernst zu nehmen, bezieht doch die Pastoraltheologie bei der Konfrontation und Konkretion theologischer Zusagen und Ansprüche mit der vorfindlichen Gegenwartssituation die Ergebnisse empirischer und humaner Wissenschaften mitheran. Dies will M. J o s u t t i s mit seinen Vorschlägen leisten. Man wird es sich gewiß zu leicht machen, wenn man die Diskrepanz zwischen Absicht und Ausführung der Visitation damit übergeht, daß die faktischen Verhältnisse keine normative Bedeutung für das Verständnis der Visitation haben dürfen. Das ist theologisch richtig, doch angesichts des Gewichtes von M. J o s u t t i s Einwürfen pastoraltheologisch zu einfach. Nun stellten die reformatorischen Kirchenordnungen vom Schriftprinzip her fest — und dahingehend erweist sich auch der Ertrag des Kirchenkampfes —, daß die Visitations- und Lebensordnungen der Kirche miteinander korrespondieren, so daß Lehren und Leben ganzheitlich im Dienst der Predigt und der Sakramentsverwaltung verbunden sind. Bei M. Josuttis, Visitation und Kommunikation, WuPiKuG 64, 1975, 43ff. 628 Ebd., S. 44, Anm. 2. 628a v g i . s. 4 I f f . 629 Ebd., S. 46. 630 Ebd., S. 51.
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der Visitation geht es um das ganze Leben der Gemeinde und Kirche mit allen seinen verschiedenen Vollzügen, wie es vom heiligen Geist geschaffen und erhalten wird. Der kirchenleitende Besuchsdienst zur Mahnung, zur Tröstung und zur Stärkung ist darum auf alle Lehre und Leben umfassenden Dienste und Aufgaben bezogen. Es handelt sich um den Dienst der gubernatio und reformatio der Gesamtkirche an der Gemeindekirche im gemeinsamen Hören auf das Wort Gottes, in der Gemeinschaft des Abendmahls, im gemeinsamen Gebet und Dank, im gegenseitigen Informieren und Trösten, in der gemeinsamen Bestandsaufnahme als Entlastung oder Kritik. Visitation mit der gottesdienstlichen Feier als Zentrum umfaßt alle Lebensbereiche der Gemeinde, weil das ganze Leben der Gemeinde und Kirche vom Wort Gottes und dem antwortenden Bekenntnis getragen wird und bestimmt ist. Der geistliche Anspruch ist darum auch in den rechtlichen Fragen der entscheidende bei der Visitation. Hinter dieses ganzheitliche Verständnis von Visitation darf man nach der Reformation und den Erfahrungen des Kirchenkampfes nicht zurückgehen. Auf dem Hintergrund dieses Visitationsverständnisses als gesamtkirchliches Ereignis sind M. Josuttis pastoraltheologische Vorschläge ernstzunehmen und aufzugreifen; sie bedeuten dieses Visitationsverständnis unterstützende und ihr dienende Maßnahmen. So sind die permanenten Kontakte zwischen Kirchenleitung und den Gemeinden zu intensivieren, was auch in den „Richtlinien der Bischofskonferenz über die Visitation" vom 8.11. 1963 unter Punkt 15 als visitatio continua anklingt. So können die kontinuierlichen Kontrollaufgaben der Kirchenleitung von regionalen Gremien übernommen werden, wie es das Schleswig-Holsteinsche Gesetz einer „Neuordnung der pröpstlichen Revision" vom 3.4.1927 in der Abänderung vom 13.3.1972 darlegt. So können besonders — wie M. Josuttis sagt 631 — „Inspektionen" im gemeinsamen Hören auf das Wort Gottes von Kirchenleitung, Pfarrern und Gemeinden die Verantwortung für die rechte Lehre von der Wahrheit in Jesus Christus einschließen. Dabei sollten dann — entsprechend der Trennung von Disziplinar- und Lehrzuchtrecht — allein Glaubens- und Lehrfragen die Gesprächsthemen abgeben. So werden das gegenseitige Informieren von Kirchenleitung, Pfarrern und Gemeindegliedern sowie das wechselseitige Gespräch über Fragen, Sorgen und Probleme der Gesamtkirche und der Einzelgemeinden einen verstärkten Akzent erhalten, weil es ja bei der Visitation um den kirchenleitenden Besuchsdienst an der ganzen Gemeinde mit der Fülle ihrer Lebensäußerungen geht. «31 Ebd., S. 52f. 265
Μ. Josuttis Anliegen und Vorschläge werden so aufgegriffen und zugleich wird der Absicht und Ausführung der Visitation als gesamtkirchlicher Besuchs- und Leitungsdienst im ganzheitlich-theologischen Sinn entsprochen.
6.3.3. Die abgestufte Intensität des pastoralen der gottesdienstlichen Gemeinde
Lebens
Man wird nun die verschiedenen pastoraltheologischen Anweisungen und die verschiedenen Schichten pastoralen Lebens nicht einfach gleichstufen dürfen; die Abendmahlsordnung oder die Beichtordnung hat einen anderen Qualitätsrang als die Friedhofsordnung zum Grab schmuck. Eine Anleitung zur pastoraltheologischen Erfassung dieser Unterschiede gibt E. Kinder in seinem Buch „Der evangelische Glaube und die Kirche" 6 3 2 . E. Kinder zeigt — P. Brunner und G. Wendt tun es entsprechend —, daß innerhalb des Gefüges kirchlicher Ordnung eine konzentrische Abstufung bezüglich der „Grund-Anordnug" festzuhalten ist, also in bezug auf Gottes gemeindeschaffendes Handeln durch Wort und Sakrament im Gottesdienst. Die „Grund-Anordnung" Gottes ist die „Einrichtung des Gnadenmittelamtes für eine konkrete örtliche Gemeinde" 6 3 3 . Dieses Amt — und das ist, wie E. Kinder sagt 634 , die zweite Seite der „perspektivisch" gruppierten Ordnungsstufen der Kirche — wirkt inmitten einer örtlichen Gemeinde als „konkreter Hörer- und Sakramentsgemeinde". Die Ordnung des Gottesdienstes ist weiter „die für alle Amt und Gemeinde umfassenden Ordnungen der Kirche" 6 3 5 wurzelhaft-kirchliche Ordnung; die besondere kirchliche Begründung aller konkreten kirchlichen Ordnungen wird hier am elementarsten deutlich. Auf diese gottesdienstliche Ordnung bezogen, ist schließlich die „Ordnung des Lebens und Handelns der Gemeinde" 6 3 6 ; es ist die Ordnung der Diakonie und „Eutaxia" des gemeindlichen Lebens, eben die Lebensordnung. Der äußerste Kreis dieser konzentrischen Abstufungen kirchlicher Ordnung ist die gesamtkirchliche Gestalt und die überörtliche Observanz. Die Kommunikation, der Austausch, die gegenseitige Hilfe und das gegenseitige „Besuchen" sowie die Kooperation und die Koordination um der Liebe willen sind der Zweck dieser Ordnung der äußeren Gestalt der Gesamtkirche; die kirchenleitende Visitation wiederum ist letztlich der Grund für die überörtliche Observanz. 632 E. Kinder, Der evangelische Glaube und die Kirche, Berlin 1958, 172ff. 633 Ebd., Ebd., 635 Ebd., 63« Ebd.,
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172. 172. 173. 173.
Dieses Modell der abgestuften Intensität verschiedener kirchlicher Ordnungen in bezug auf die kircheschaffende „Grund-Anordnung" Gottes findet sich auch bei P. Brunner 6 3 7 und bei G. Wendt 6 3 8 ; der letztere schreibt im Blick auf die Lebensordnung: „Sie wird vielmehr in ihrem Lernbereich als Ordnung gottesdienstlicher Gemeinde und christlicher Existenz — der dialektischen Einheit des geistlichen und leiblichen Wesens der Kirche entsprechend — durch das Ineinandergreifen innerer und äußerer Ordnung und durch das ius humanuni ecclesiasticum bestimmt, das im ius divinum nicht nur einen legitimierenden Grund besitzt, sondern von ihm sein Gepräge und seine innere Ausrichtung erhält in einer je nach der Nähe zum geistlichen Lebensbereich der Gemeinde abgestuften Intensität." Unter pastoraltheologischem Gesichtspunkt enthält die Lebens-Visitationsordnung, auch wenn diese Ordnung als ganze dem geistlichen Auftrag der Kirche zugeordnet ist und nicht von ihm losgelöst werden darf, verschiedene Richtlinien und Anweisungen, die in abgestufter Intensität auf das geistliche Leben im Gottesdienst ausgerichtet sind. Kern sind die Gnadengaben der lebendigen Verkündigung des Wortes Gottes und der Sakramente im Gottesdienst mit den missionarischen und katechetischen sowie seelsorgerlichen Diensten. Ihm zugeordnet ist das spirituelle Leben im Alltag in der Haus- und Parochialgemeinde, weiter die poimenischen, hodegetischen, diakonischen und weltverantwortlichen Dienste, schließlich die „Eutaxia" der Parochial- und Partikularkirche innerhalb der ökumenischen Kirche mit den verschiedenen kybernetischen Diensten von der Ausschmückung und Reinigung der Kirchengebäude bis zur Unterhaltsregelung der kirchlichen Angestellten und den Verwaltungsbestimmungen der Gebäude, Finanzen und der Friedhöfe. Auch mit ihren psychologischen, soziologischen, künstlerischen, verwaltungsrechtlichen und finanztechnischen Fachbestimmungen sind sie als pastorale Ordnungen dem geistlichen Lebensbereich im Gottesdienst zugeordnet. Eine entsprechende Abstufung weisen auch die pastoralen Ratschläge auf. „Pastorale Anweisungen", d.h. pastoraltheologische und pastoralethische Weisungen, gestalten sich als verschiedene Gattungen mit verschiedenem „Sitz im Leben". Sie können die Struktur von Zusagen, Verheißungen und Versprechungen haben, die gewiß machen wollen, Hoffnung wecken, Ermunterung und Trost geben, Ermutigung und Stärkung schenken wollen. Sie stehen ganz im Dienst evangelischer Applikation. 637
P. Brunner, Bekenntnisstand und Bekenntnisbindung, in: Pro Ecclesia II, B e r l i n Hamburg 1966, 301: „Man wird zweifellos eine abgestufte Intensität der Wirksamkeit der Bekenntnisbindung auf den verschiedenen Gebieten der Ordnung der Kirche behaupten müssen". 638 G. Wendt, Zur kirchenrechtlichen Problematik der Ordnung des kirchlichen Lebens, ZevKR 10, 1 9 6 3 / 6 4 , 133.
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Sie stellen ferner Weisungen von verschiedenem Verbindlichkeitsgrad mit verschieden gewichtetem pastoralem Anspruch dar: da sind die Gebote und Mahnungen, die den Gehorsam in der „Freiheit eines Christenmenschen" erwarten; da sind die Handreichungen, die Richtlinien, Rat, Hilfestellung und Begleitung für pastorales Verhalten im Leben des einzelnen Christen, in der christlichen Familie, in der Gemeinde und Kirche geben wollen; da sind die Empfehlungen, die Anregungen zum eigenen Weiterdenken und Weitergehen vermitteln möchten; da sind die Einladungen, die Wünsche äußern, die heranziehen, öffnen wollen. Diese verschiedenen Arten der Weisung mit verschiedenem pastoralem Gewicht sind der Paraklese zugeordnet in der sprachlichen Form des Indikativs oder auch des Imperativs. Diese Weisungen bilden den Hauptkomplex der pastoraltheologischen und -ethischen Ratschläge in den Lebensordnungen. Daneben finden sich aber auch Mahnungen und Ermahnungen als Rückruf und das kritische Wächterwort, das um der „heilenden Kraft lebendiger Z u c h t " willen zur Umkehr rufen will. Diese Ermahnungen geben eine Art Spiegel ab, der die eigenen Fehler, die eigene Bedürftigkeit, die eigene Sünde erscheinen läßt. Alle diese Ausformungen pastoraler Anweisungen wollen nicht zeitlos verstanden werden wie kanonische Rechtssätze; dem einzelnen Christen und der christlichen Gemeinde wollen sie für das kontingente und kontinuierliche Leben konkrete Weisungen und Mahnungen geben. Diese Weisungen, Ratschläge und Richtlinien abgestufter Verbindlichkeitsgrade verbindet die Lebens-Visitationsordnung zu einer Einheit, die das ganze gemeindliche und kirchliche Leben allein vom Wort Gottes als ihrem eigentlichen Quellgrund und ihrer letzten Norm her empfängt. Diese Einheit wird geschenkt und gewonnen in je neuen Entscheidungen christlichen Lebens und christlicher Verantwortung: eine Gabe als Aufgabe.
7. Die Schlüsselgewalt Die systematischen Überlegungen zum Verhältnis von Lehre und Ordnung im Leben der Kirche gipfelten sowohl bei der dogmatischen als auch bei der rechtstheologischen wie bei der pastoraltheologischen Behandlung jeweils in der Schlüsselgewalt. In diesem Absatz über die Schlüsselgewalt sollen nun die Gedankenlinien verbunden und noch einmal konzentriert dargestellt werden. Es wird zunächst auf drei Typen der Schlüsselgewalt eingegangen. Es mag jedoch gleich erwähnt werden, daß es sich bei diesen Typisierungs268
versuchen um Akzentverschiebungen handelt, da die Elemente der einen Anschauung mit einer Schwerpunktverlagerung auch bei den anderen enthalten sind. Bei diesen Typen handelt es sich um das Verständnis der Schlüsselgewalt als des Subjekts (1.) von Lehre und Predigt bei M. Luther, (2.) von Seelsorge und Beichte bei W. Löhe, (3.) von kirchlicher Ordnung und Zucht bei D. Bonhoeffer. Der „Sitz im Leben" derjenigen Texte, aus denen die Strukturelemente der Typen erhoben werden, ist ähnlich: die kirchliche Krisensituation aufgrund des Einbruchs von falscher Lehre, lauer Christlichkeit im Leben der Gemeinden und irrender Predigt in der Kirche Jesu Christi. In einem zweiten Unterabschnitt werden noch einmal die VELKD- und EKU-Lebens-Visitationsordnungen herangezogen und in einem dritten wird die systematische Verknüpfung vorgenommen.
7.1.
Typologie
7.1.1. M. Luther,
Von den Schlüsseln
(1530)
M. Luther schrieb den Sermon ,,Von den Schlüsseln" 1530 von der Festung Coburg, während der Reichstag in Augsburg versammelt war. Der „greuliche Mißbrauch und Mißstand" der rechten Verwaltung der Schlüsselgewalt war der Anlaß für die Abfassung dieser Schrift 6 3 9 Ihr Ziel ist, wie M. Luther schreibt 640 , ,,daß Gott wollte etwa Gnade verleihen, daß der Bann möchte wieder zurecht kommen, und die Lehre von der Buße und den Schlüsseln wieder bekannt werden". Mit großer Schärfe wendet sich M. Luther darum gegen die verschiedenen Mißbräuche: Der erste Mißbrauch der Schlüsselgewalt ist die Vergesetzlichung der Schlüssel 641 . Das Wort „Binden" in Mt. 16,19 und Mt. 18,18 bedeutet kein „Gebieten" oder „Gesetz stellen" (1); „Binden" und „Lösen" heißt allein „Sünden Binden" und „Sünden Lösen". Christi Binden und Lösen ist nun darauf gerichtet, „daß es den Sünder von den Sünden erlösen wolle, und er sucht mit seinem Binden nichts anders, denn daß des Sünders Gewissen frei und ledig werde von Sünden"; päpstliches Binden dagegen ist Gesetz und gibt Ursache dazu, daß „Heilige und Gerechte zu Sünden kommen und Sünder werden" (3). Christi Schlüssel helfen „zum Himmel und zum ewigen Leben", weil in diesen Schlüsseln verborgen liegt 639 WA X X X 2, 4 6 5 , 5 . « ο Ebd., 5 0 7 , 1 9 f f . 641
Ebd., 4 6 5 , 1 8 - 4 7 5 , 1 8 .
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sein eigenes „Blut, Tod und Auferstehung, damit er uns den Himmel eröffnet hat ,und in diesen Schlüsseln mitteilt', was er durch sein Blut erworben h a t " (4). Die Schlüssel Christi fordern kein Werk, sondern den Glauben. „Denn der Bindeschlüssel ist ja nichts anderes und kann nichts anderes sein wie ein göttliches Drohen, damit er dem verstockten Sünder die Hölle droht. Und der Löseschlüssel ist nichts anderes, kann auch nichts anderes sein, denn ein göttliches Verheißen, damit er dem demütigen Sünder das Himmelreich verheißt. Nun weiß das ja jedermann wohl, daß man göttliches Drohen und Verheißen mit keinen Werken erfüllen kann, sondern allein mit dem Glauben fassen muß ohne alle Werke. Denn Drohen und Verheißen sind nicht Gebote, sagen auch nicht, was wir Gott tun sollen, sondern zeigen uns an, was Gott uns tun will, lehren uns also Gottes Werk und nicht unser Werk." Die Rechtfertigung aus Gnade ist eigentlich schon die Hauptthese der ganzen Schrift (5). Die äußerlichen Gesetze nützen darum nichts, um die Gnade zu erlangen (6). Auch hätte Christus gut auf die Schlüssel verzichten können, wenn er Gesetze aufstellen wollte (7); solche Gesetze wie die Papst-Schlüssel hat die Welt genug (8). Binden und Lösen sind „zwei gleiche Gewalten", die nicht voneinander zu trennen sind. Weil zum einen der Papst keine Vollmacht hat, Sünden zu binden, hat er auch keine Gewalt, Sünden zu lösen, denn Christi Schlüssel allein binden auf Erden, „was vor Gott im Himmel gebunden ist" (9). Die Papst-Schlüssel sind zum andern getrennt voneinander, ungleich groß, sie sind Gesetzesschlüssel im Dienst „des großen Gottes Mammon" (10). Der zweite Mißbrauch beruht darauf, daß vor allem der Löseschlüssel als clavis errans, als „Fehl- und Irrschlüssel" verstanden wird 6 4 2 . Der Fall tritt dann ein, wenn die Wirkkraft des Löseschlüssel abhängig gemacht wird von der echten Reue oder in der Weise, „daß der Schlüssel auf meiner Reue und Würdigkeit vor Gott steht. Und ich kann mit meiner Reue ein solcher feiner Kleinschmied werden, daß ich unserm Herrgott aus seinen Schlüsseln beide machen kann, Fehlschlüssel und Treffschlüssel. Denn bereue ich, so mache ich seinen Schlüssel zum Treffschlüssel" 643 . Dadurch wird Ungewißheit, Zweifel und Sorge gesät bei dem Beichtenden und durch die Verknüpfung des Ablasses mit der Bezahlung von Geld Lüge und Betrug erzeugt. Dreifach sind die Früchte dieser aufgesplitterten Lehre vom Fehl- und Treffschlüssel: Erstens muß Gott für die Leute, die den Fehlschlüssel lehren, ein Lügner sein, hat er doch durch Jesus Christus zugesagt in Mt. 18,18: „Was ihr bindet auf Erden, soll gebunden sein im Himmel, und was ihr löset auf