Lehrbuch der Multifamilientherapie: Grundlagen, Methoden und Anwendungsfelder [1. Aufl.] 9783662611951, 9783662611968

Die Multifamilientherapie (MFT) hat viele Vorteile: Menschen solidarisieren sich, indem sie erleben, nicht allein betrof

327 33 4MB

German Pages XIII, 179 [182] Year 2020

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XIII
Multifamilientherapie – eine Einführung (Ulrike Behme-Matthiessen, Thomas Pletsch)....Pages 1-14
Resilienz, Salutogenese und Selbstwirksamkeit (Ulrike Behme-Matthiessen, Thomas Pletsch)....Pages 15-26
Therapeutische Haltung (Ulrike Behme-Matthiessen, Thomas Pletsch)....Pages 27-32
Wirkfaktoren (Ulrike Behme-Matthiessen, Thomas Pletsch)....Pages 33-46
Indikation und Kontraindikation (Ulrike Behme-Matthiessen, Thomas Pletsch)....Pages 47-51
Arbeitsmethoden und Interventionstechniken der Multifamilientherapie (Ulrike Behme-Matthiessen, Thomas Pletsch)....Pages 53-69
Multifamilientherapeutische Praxis (Ulrike Behme-Matthiessen, Thomas Pletsch)....Pages 71-83
Anwendungsfelder der Multifamilientherapie (Ulrike Behme-Matthiessen, Tina Schlüter, Henner Spierling)....Pages 85-105
Kinder aus der Klemme – Multifamilientherapie mit hochstrittigen Trennungsfamilien (Annegret Eckhardt-Ringel)....Pages 107-121
Multifamiliencoaching mit psychisch erkrankten Eltern und ihren Kindern – „Kidstime“ (Henner Spierling)....Pages 123-137
Multifamiliencoaching und Multifamilienarbeit (Ulrike Behme-Matthiessen, Thomas Pletsch)....Pages 139-147
Forschung zur Multifamilientherapie (Carolin Blanck, Andrea Goll-Kopka, Holger von der Lippe, Ulrike Röttger, Jeanette Schadow)....Pages 149-174
Back Matter ....Pages 175-179
Recommend Papers

Lehrbuch der Multifamilientherapie: Grundlagen, Methoden und Anwendungsfelder [1. Aufl.]
 9783662611951, 9783662611968

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Ulrike Behme-Matthiessen Thomas Pletsch Hrsg.

Lehrbuch der Multifamilientherapie Grundlagen, Methoden und Anwendungsfelder

Lehrbuch der Multifamilientherapie

Ulrike Behme-Matthiessen  •  Thomas Pletsch Hrsg.

Lehrbuch der Multifamilientherapie Grundlagen, Methoden und Anwendungsfelder

Hrsg. Ulrike Behme-Matthiessen Psychologische Psychotherapeutin Kinder-und Jugendlichen Psychotherapeutin Ausbilderin MFT (DGSF) Osterby, Deutschland

Thomas Pletsch Arbeitspädagoge, Transaktionsanalytiker (CTA), Psychotherapie (HeilPrG), Lehrender Multifamilientherapie (BAG-MFT) Loit, Deutschland

ISBN 978-3-662-61195-1    ISBN 978-3-662-61196-8 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-61196-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

V

Geleitwort Liebe Leserin, lieber Leser, Sie halten ein wichtiges Buch in der Hand! Es kommt zur rechten Zeit, es behandelt überschaubar ein breites Feld, es liest sich angenehm und macht Lust, Dinge sofort umzusetzen. Zur rechten Zeit, weil es als Ergebnis des Prozesses der sozialrechtlichen Anerkennung der systemischen Therapie als viertes Hauptverfahren 2019 gelungen ist, das „Mehrpersonensetting“ abrechenbar zu machen. Auch wenn damit nicht alles möglich ist, ist dies in der Abrechnungssystematik so etwas wie ein Paradigmenwechsel. Es wurde erkannt, dass systemisches Arbeiten bedeutet, das System des Patienten oder Teile davon in die Behandlung mit einzubeziehen. Die Multifamilientherapie (MFT) geht da noch etwas weiter: Sie bringt mehrere Familiensysteme zusammen, die eingeladen werden, von- und miteinander zu lernen in einer Atmosphäre, die von Wertschätzung, Neugier und Ressourcenorientierung geprägt ist. In der klinischen Arbeit, aber auch in Beratungskontexten hat die MFT sich durchgesetzt und ist dabei, die psychotherapeutische Welt weiter zu erobern. Mit diesem Werk gelingt ein umfassender Blick in ein komplexes Feld und beim Lesen entsteht ein Gefühl des „Machbaren“. Ich habe selten ein Buch kennenlernen dürfen, das so gut die Brücke schlägt zwischen Lehren und Lernen. Es ist als nicht nur ein Lehrbuch, das vermitteln möchte „wie MFT geht“, sondern auch ein Lernbuch, das den Leser einlädt, mehr davon zu erfahren. Es lebt von den vielen Beispielen, die nicht nur dazu motivieren, es auch mal auszuprobieren, sondern auch bei anderen Indikationen damit zu experimentieren. Das Spektrum der Einsatzmöglichkeiten geht von Beratung über Coaching bis Therapie, von Jugendhilfe bis Klinik, von Pädagogik bis Psychosomatik, von Störung des Sozialverhaltens bis Psychose. Alle Richtungen der Windrose werden bedient, und zwar so, dass Dinge möglich werden, die bis dahin für nicht möglich gehalten wurden. Faszinierend ist, wie gut es den Autoren gelungen ist, verschiedene zusätzliche Aspekte des therapeutischen Wirkens darzustellen, indem z. B. die Ressource des Mentalisierens integriert wird. Eines der Grundprinzipien des systemischen Handelns – die Selbstwirksamkeit – wird hier nicht nur auf das Individuum bezogen, sondern auf mehrere Familiensysteme gleichzeitig. Darüber hinaus wird eingehend erläutert, wie der Transfer der therapeutischen Errungenschaften in den familiären Alltag gelingen kann. Das gelingt durch das Miteinander der Familien und nicht so sehr durch das Wirken von Therapeuten. Hier wird eindrucksvoll dargelegt, wie wirksam das Vertrauen der Therapeuten in die Fähigkeiten der Familien zu Lösungen führt. Ein Buch, das zu MFT einlädt, fasziniert und neugierig auf eigene Erfahrungen damit macht. Dr. Filip Caby

Geleitwort Die Autoren beschreiben die Entwicklung der Multifamilientherapie (MFT) von Peter Laqueur, dem Urvater der MFT, Virginia Satir, für viele die Mutter der Familientherapie, und Salvador Minuchin, der sich vor allem für Multiproblem- und Unterschichtfamilien eingesetzt hat und erstmals zeigte, wie man mit solchen Systemen arbeitet. Es werden auch die unterschiedlichen inhaltlichen Vorläufer vorgestellt und zum Teil deren Grenzen aufgezeigt, z. B. Ansätze mit dem einfachen Ursache-Wirkungs-­ Prinzip im Gegensatz zur systemischen Wechselwirkung. Es ist geeignet für Anfänger, gleichzeitig ist es als Nachschlagewerk nutzbar. Die MFT hat seit 2000 eine rasante Verbreitung vor allem in Deutschland, in der deutschsprachigen Schweiz und in Skandinavien erlebt. Das vorliegende Buch dient als Ergänzung zur mehr praxisorientierten Literatur. Mit der zunehmenden Vernetzung der drei Grundsäulen der MFT in der Kinderund Jugendpsychiatrie, der Schule und der Jugendhilfe werden die Autoren zukünftig eine noch größere Interessengruppe ansprechen. Prof. Dr. Michael Scholz

VII

Vorwort „Heute Nachmittag kommt meine Mama zur Multivitamintherapie“, informierte uns einmal eine unserer kleinen Patientinnen. Vielleicht wäre dieser Name ein passenderer gewesen als Multifamilientherapie?! Dann könnten wir jetzt behaupten, hier die Ingredienzien dieser Therapie vorzustellen. Auch ließe sich weiter behaupten, dass es nicht ein Rezept dieser Methode gibt, sondern eine Vielzahl von Mixturen – je nach Geschmack, vorhandenen „Früchten“ und dem jeweiligen Ziel der Einnahme dieser Vitaminmischung. So aber beschreiben wir in diesem Buch die Multifamilientherapie mit ihren unterschiedlichen Facetten für alle die, die im Rahmen ihrer Ausbildung zum Psychotherapeuten ein Interesse an zukünftiger Arbeit mit Familien entdeckt haben und weiterentwickeln möchten. Die Arbeit mit Familiengruppen haben wir Ende der 1990er-Jahre innerhalb der tagesklinischen Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig begonnen. Damals noch unter der Bezeichnung „Eltern-Kind-Gruppen“ und „Themenorientierte Eltern-Kind-­Gruppentherapie“. Im Verlauf der Jahre machten wir die Bekanntschaft mit Eia Asen aus London und Michael Scholz aus Dresden, den beiden Pionieren und Gründervätern der Multifamilientherapie, und ließen uns begeistert durch deren Arbeiten zur Erweiterung und Modifizierung unserer „Themenorientierten Eltern-Kind-­Gruppentherapie“ inspirieren. Während der letzten Jahre hat die Multifamilientherapie einen regelrechten Boom erfahren: In der Jugendhilfe unter der Bezeichnung Multifamilienarbeit, in Schulen auch als Multifamiliencoaching und in unterschiedlichen weiteren Kontexten, die wir in diesem Buch beschreiben. Ebenso beschreiben wir gemeinsam mit Kolleg*innen die Spezialisierungen innerhalb bestimmter Themenfelder wie der Arbeit mit Familien mit psychisch kranken Eltern oder Familien in hochstrittigen Trennungsprozessen – all diese fachlich fundierten, kreativen Erweiterungen der multifamilientherapeutischen Konzepte finden in diesem Buch Platz. Wohin die Wege der Multifamilientherapie innerhalb der therapeutischen Landschaft führen werden, können wir zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht prognostizieren. Einen Ausblick darauf bieten vielleicht die im Prozess befindlichen Forschungsarbeiten, die ebenfalls in diesem Buch vorgestellt werden. Der aktuelle und noch sehr zarte Trend einer familienorientierten Behandlung in psychiatrischen Kliniken lässt nebenbei bemerkt ebenfalls hoffen, dass sich die Multifamilientherapie weiter etabliert. Wir hoffen, mit diesem Lehrbuch alle Zutaten für die Zubereitung unterschiedlicher multifamilientherapeutischer Cocktails hinreichend und für die Praxis gut umsetzbar und deutlich verstehbar dargestellt zu haben. Multifamilientherapie versteht sich als eine Methode des „Work in Progress“. In diesem Sinne sind auch wir auf die Entwicklungen während der nächsten Jahre sehr gespannt. Ulrike Behme-Matthiessen Thomas Pletsch

März 2020

IX

Inhaltsverzeichnis 1

Multifamilientherapie – eine Einführung��������������������������������������������������������������������    1 Ulrike Behme-Matthiessen und Thomas Pletsch

1.1 1.2 1.3 1.4

Von der Einzeltherapie über die Familientherapie zur systemischen Therapie���������    2 Gruppentherapie und Selbsthilfe�����������������������������������������������������������������������������������������������    8 Geschichte der Multifamilientherapie – wie alles anfing���������������������������������������������������    9 Die multifamilientherapeutische Gruppe – ein Beispiel�����������������������������������������������������   10 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   14

2

Resilienz, Salutogenese und Selbstwirksamkeit�����������������������������������������������������   15 Ulrike Behme-Matthiessen und Thomas Pletsch

2.1 2.2 2.3

Resilienz�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   16 Salutogenese �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   20 Selbstwirksamkeit�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   23 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   25

3

Therapeutische Haltung ���������������������������������������������������������������������������������������������������������   27 Ulrike Behme-Matthiessen und Thomas Pletsch

3.1 3.2 3.3

Paradigmenwechsel�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   28 Therapeutische Haltung und Familiengruppe�����������������������������������������������������������������������   30 Das therapeutische Team���������������������������������������������������������������������������������������������������������������   31 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   32

4 Wirkfaktoren�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   33

Ulrike Behme-Matthiessen und Thomas Pletsch 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7

Gruppenkohäsion�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   34 Sich gegenseitig gespiegelt sehen���������������������������������������������������������������������������������������������   36 Modelle nutzen und voneinander lernen���������������������������������������������������������������������������������   37 Laborsituation nutzen/experimentieren���������������������������������������������������������������������������������   39 Gegenseitige Unterstützung und Rückmeldung erfahren �����������������������������������������������   41 Ressourcenaktivierung und elterliche Präsenz ���������������������������������������������������������������������   42 Isolation/Außenseitergefühl überwinden�������������������������������������������������������������������������������   44 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   46

5

Indikation und Kontraindikation �������������������������������������������������������������������������������������   47 Ulrike Behme-Matthiessen und Thomas Pletsch

5.1 5.2 5.3

Indikationen���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   48 Besondere Herausforderungen���������������������������������������������������������������������������������������������������   49 Kontraindikationen �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   50 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   51

X Inhaltsverzeichnis

6

Arbeitsmethoden und Interventionstechniken der Multifamilientherapie �������������������������������������������������������������������������������������������������������������   53 Ulrike Behme-Matthiessen und Thomas Pletsch

6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7

Aktion – Reflexion – Transfer (ART-Modell)�����������������������������������������������������������������������������   54 Das 5-Schritte-Modell���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   55 Mentalisieren �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   59 Verantwortungsübergabe�������������������������������������������������������������������������������������������������������������   65 Reflektieren�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   65 Elterntausch und Tandem �������������������������������������������������������������������������������������������������������������   67 Videofeedback�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   68 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   69

7

Multifamilientherapeutische Praxis �������������������������������������������������������������������������������   71 Ulrike Behme-Matthiessen und Thomas Pletsch

7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7

Schweigepflicht���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   72 Multifamilientherapie als Behandlungsmodul ���������������������������������������������������������������������   73 Unterschiedliche Familienkonstellationen in der Multifamilientherapie �������������������   73 Multifamilientherapie mit psychisch erkrankten Eltern�����������������������������������������������������   74 Zielorientierung und Wachstumsorientierung����������������������������������������������������������������������   75 Rahmenbedingungen und Zeitstrukturen�������������������������������������������������������������������������������   75 Einsatz von Gruppenaktionen �����������������������������������������������������������������������������������������������������   78 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   83

8

Anwendungsfelder der Multifamilientherapie �������������������������������������������������������   85 Ulrike Behme-Matthiessen, Tina Schlüter und Henner Spierling

8.1 8.2 8.3

9

Multifamilientherapie bei Anorexiebehandlung�������������������������������������������������������������������   86 Multifamilientherapie in der Sozialpädiatrie am Beispiel des juvenilen Diabetes Typ 1�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   92 Multifamilientherapie bei stationärer kinder- und jugendpsychiatrischer Suchtbehandlung�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  100 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  105

Kinder aus der Klemme – Multifamilientherapie mit hochstrittigen Trennungsfamilien���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  107 Annegret Eckhardt-Ringel

9.1 9.2 9.3 9.4 9.5

Ausgangslage�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  108 Idee���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  108 Therapieprogramm �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  110 Grundlagen und Fundament: die Keystones��������������������������������������������������������������������������  117 Systemische Wirkfaktoren�������������������������������������������������������������������������������������������������������������  120 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  121

XI Inhaltsverzeichnis

10

Multifamiliencoaching mit psychisch erkrankten Eltern und ihren Kindern – „Kidstime“ �����������������������������������������������������������������������������������������  123 Henner Spierling

10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6 10.7 10.8 10.9

Zur Situation Kinder psychisch erkrankter Eltern�����������������������������������������������������������������  124 Geschichte von Kidstime ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������  126 Modell���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  128 Struktur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  130 Resilienzsteigerung durch Erklärungen�����������������������������������������������������������������������������������  132 Resilienzsteigerung durch Theaterarbeit und das Erzählen von Geschichten�����������  132 Intrusive Effekte elterlicher psychischer Erkrankung ���������������������������������������������������������  133 Methoden der Multifamilienarbeit in Kidstime���������������������������������������������������������������������  134 Ergebnisse�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  136 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  137

11

Multifamiliencoaching und Multifamilienarbeit�����������������������������������������������������  139 Ulrike Behme-Matthiessen und Thomas Pletsch

11.1 11.2 11.3

Multifamiliencoaching in der Schule�����������������������������������������������������������������������������������������  140 Multifamiliencoaching in der Kita�����������������������������������������������������������������������������������������������  143 Multifamilienarbeit (MFA) in der Jugendhilfe�������������������������������������������������������������������������  145 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  147

12

Forschung zur Multifamilientherapie�����������������������������������������������������������������������������  149 Carolin Blanck, Andrea Goll-Kopka, Holger von der Lippe, Ulrike Röttger und Jeanette Schadow

12.1 12.2

Herausforderungen und neue Herangehensweisen �����������������������������������������������������������  150 Zur Multifamilientherapie-Landschaft im deutschsprachigen Raum: MFT aus der Perspektive der Therapeut*innen���������������������������������������������������������������������������������������  163 Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  171

Serviceteil Stichwortverzeichnis��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  177

XIII

Herausgeber‐ und Autorenverzeichnis Über die Herausgeber Ulrike Behme-Matthiessen Psychologische Psychotherapeutin Kinder-und Jugendlichen Psychotherapeutin Ausbilderin MFT (DGSF), Osterby, Deutschland

Thomas Pletsch Arbeitspädagoge, Transaktionsanalytiker (CTA), Psychotherapie (HeilPrG), Lehrender Multifamilientherapie (BAG-MFT), Loit, Deutschland

Autorenverzeichnis Carolin Blanck Humboldt-Universität, Berlin, Deutschland

Dr. Annegret Eckhardt-Ringel Chefärztin Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie DRK Kliniken Berlin Westend, Berlin, Deutschland

Prof. Dr. Andrea Goll-Kopka SRH Hochschule Heidelberg, Heidelberg, Deutschland

Prof. Dr. Holger von der Lippe MSB Medical School Berlin – Hochschule für Gesundheit und Medizin, Berlin, Deutschland

Dr. Ulrike Röttger Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin des Kindes- und Jugendalters (KKJP), Otto-von-Guericke-Universität, Magdeburg, Deutschland

Dr. Jeanette Schadow Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin des Kindes- und Jugendalters (KKJP), Otto-von-Guericke-Universität, Magdeburg, Deutschland

Dr. Tina Schlüter Chefärztin Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Klinikum am Weissenhof Weinsberg, Deutschland

Henner Spierling Klinik für Kinder und Jugendliche/Sozialpädiatrisches Zentrum, Agaplesion Diakonieklinikum Rotenburg gemeinnützige GmbH, Rotenburg (Wümme), Deutschland

1

Multifamilientherapie – eine Einführung Ulrike Behme-Matthiessen und Thomas Pletsch Inhaltsverzeichnis 1.1

 on der Einzeltherapie über die Familientherapie V zur systemischen Therapie – 2

1.1.1 1.1.2 1.1.3

E inzeltherapie – 2 Familientherapie – 3 Systemische Therapie – 5

1.2

Gruppentherapie und Selbsthilfe – 8

1.3

Geschichte der Multifamilientherapie – wie alles anfing – 9

1.4

 ie multifamilientherapeutische Gruppe – D ein Beispiel – 10 Literatur – 14

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Behme-Matthiessen, T. Pletsch (Hrsg.), Lehrbuch der Multifamilientherapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61196-8_1

1

2

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

1

Multifamilientherapie ist ein Therapie- und Beratungsansatz, bei dem mehrere Familien gemeinsam behandelt bzw. beraten werden. Sie gründet auf der systemischen Therapie und verbindet diese mit Elementen aus Gruppentherapie und Selbsthilfeansatz. Ziel ist es, die Eltern-Kind-Interaktion zu verbessern, die Handlungsfähigkeit der Eltern zu stärken und die Familie zu neuen Verhaltensweisen zu ermutigen. Entscheidend für Veränderungen ist der Prozess in der Familiengruppe.

1.1

 on der Einzeltherapie über die V Familientherapie zur systemischen Therapie

1.1.1

Von linearen UrsacheWirkungs-Modellen zur Homöostase

Einzeltherapie

Viele Vorreiter der Familientherapie waren Psychoanalytiker*innen: Sie beschäftigten sich mit dem Verstehen und der Aufdeckung innerer, häufig unbewusster Prozesse. Dabei sollten mithilfe von Deutungen der (zumeist männlichen) Therapeuten Konflikte zwischen inneren Bedürfnissen („Es“) und Normen und Werten („Über-Ich“) aufgedeckt und gelöst werden und das „Ich“ gestärkt werden, Wenn Familie überhaupt in die Betrachtung mit einbezogen wurde, dann in einem der Mechanik entlehnten einfachen linearen Ursache-Wirkungs-Modell Das lineare Ursache-Wirkungs-Modell besagt, dass Wirkungen auf klar definierte Ursachen zurückgeführt werden können. So wie Scharlach (Wirkung) auf eine Infektion mit Streptokokken (Verursacher) zurückzuführen ist. Dieses Modell berücksichtigt keine Wechselwirkungen.

In Analogie wurde dieses Kausaldenken auf Familiensituationen angewandt, die Familie wurde als Verursacher einer psychischen Störung/Erkrankung gewertet, Gesundungspotenziale wurden in der Familie nicht gesehen. Besonders die Mütter, die die Hauptlast der Erziehung trugen, wurden mit Begriffen wie „schizophrenogene Mutter“ belegt, häufig wurde eine Trennung von dem „pathogenen Familienmilieu“ als die einzige Möglichkeit der Heilung betrachtet.

3 Multifamilientherapie – eine Einführung

1.1.2

1

Familientherapie

Das lineare Ursache-Wirkungs-Modell erwies sich zunehmend als unzureichend, um die komplexe Familienrealität abzubilden. Das aus der Kybernetik entlehnte Homöostasemodell brachte dann einen Wandel in die Betrachtung. Die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander und die wechselseitige Kommunikation kamen in den Fokus. Unter Homöostase versteht man ein Fließgleichgewicht. Häufig wurde das Bild des Mobiles benutzt: Jede Veränderung eines Teils führt zu Ausgleichsbewegungen anderer Teile, bis der ursprüngliche Zustand eingekehrt, das Gleichgewicht wieder hergestellt ist.

Virginia Satir (1960–1988) wird häufig als Mutter der Fami-

lientherapie betrachtet. Eine annehmende Haltung allen Familienmitgliedern gegenüber war für sie die Grundlage für jede Veränderung. Wichtig war für sie das Akzeptieren von Unterschieden und die Überzeugung, dass jeder in der Familie das Potenzial besitzt, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen. Wertschätzende Grundhaltung und Ressourcenorientierung waren wesentliche Arbeitsprinzipien in dem Wachstumsmodell von Virginia Satir.

Wertschätzende Grundhaltung beschreibt eine Haltung, ­seinen Gegenüber zu respektieren, es ernst zu nehmen und in seiner oder ihrer ganz spezifischen Eigenart anzunehmen.

Bei der Ressourcenorientierung stehen die Stärken im Mittelpunkt der Behandlung. Es geht darum, diese Stärken zu identifizieren, sie bewusst zu machen und weiter auszubauen. Diese erlebten Stärken können dann zur Bewältigung von Problemen genutzt werden.

Mit der Methode der Familienskulptur machte Virginia Satir darüber hinaus innere Prozesse sichtbar und erlebbar, wodurch Veränderungen angestoßen werden.

Wertschätzende Grundhaltung, Ressourcenorientierung als wesentliche Elemente des Wachstumsmodells

4

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

1

zz Fallbeispiel Sichtbarmachen innerer Prozesse durch Skulpturen

Grenzen, Koalitionen und Hierarchien in der strukturellen Familientherapie

Familienskulptur Herr und Frau M. kommen mit ihren Söhnen Max, 13 Jahre, und Till, 9 Jahre, in die Behandlung. Till geht schon seit Wochen nicht mehr zur Schule, jeden Morgen klagt er über Bauchschmerzen. Max wird gebeten, ein Standbild seiner Familie aufzubauen und dazu die Familienmitglieder zu nutzen, als seien sie Biegepuppen. Max stellt den Vater abseits, das Gesicht von der Familie abgewandt. Till stellt er ganz eng an die Mutter, sein Blick ist auf die Mutter gerichtet. Sich selber platziert er etwas abseits, aber so, dass er alle sehen kann. Alle Mitglieder werden befragt, wie sie sich in ihren Positionen fühlen und in einem zweiten Schritt aufgefordert, ihre Position so zu verändern, dass es sich für sie besser anfühlt.

Mit der strukturellen Familientherapie legte ­Salvador Minuchin (1921–2017) den Fokus auf die Betrachtung des „Systems Familie“, auf Grenzen zwischen Subsystemen (z.  B.  Eltern-Kind-System), Hierarchien, Koalitionen und Kommunikationsmuster. Minuchin betont die Bedeutung klarer Grenzen zwischen Eltern und Kindern: unklare, diffuse Grenzen mit wechselnden Koalitionen zwischen einem Elternteil und den Kindern führen zu Verunsicherung und Überforderung bei den Kindern. Bei der Parentifizierung übernehmen Kinder Elternfunktionen, die Grenzen zwischen Eltern und Kindern verwischen, es entstehen wechselnde Koalitionen. Häufig kommt es zu Schwierigkeiten, wenn die Eltern wieder ihre Rolle als Erzieher einnehmen wollen. zz Fallbeispiel Parentifizierung Hans, der häufig Elternaufgaben übernimmt, seinen jüngeren Geschwistern das Frühstück bereitet und sie schulfertig macht, weigert sich, sich an die Vorgaben von Mutter oder Vater zu halten , wenn es um Bettgehzeiten und Medienkonsum geht.

In diesem Zusammenhang prägte Minuchin den Begriff der Triangulation: Eine Dyade wird durch eine dritte Person (häufig ein Kind, aber auch Verwandte oder Freunde) erweitert. Dies kann für alle bereichernd sein, kann aber auch bei Konflikten gezielt eingesetzt werden. Das Kind wird z. B. zur Entschärfung von Paarkonflikten in die Paardyade einbezogen, wird Schiedsrichter, aber auch Sündenbock.

5 Multifamilientherapie – eine Einführung

zz Fallbeispiel Triangulation Beim gemeinsamen Abendbrot der Familie fragt die Mutter Hans: „Hans, findest du nicht auch, dass Papa etwas mehr zu Hause sein könnte?“ Hier wird Hans einbezogen in einen Konflikt der Eltern: Die Mutter ist unzufrieden mit der häufigen Abwesenheit des Vaters und versucht, Hans zu ihrem Bündnispartner zu machen.

Eine Erweiterung erfolgte mit der Einbeziehung der Großeltern. Die Mehrgenerationentherapie wurde besonders von Boszormeny-­ Nagy (1920–2017) und Helm Stierlin (geb. 1926) entwickelt. Hierbei geht es um unausgesprochene Konflikte und Familiengeheimnisse, die über die Generationsgrenzen hinweg wirken. So kann z. B. ein nicht besprochener Suizid in der Großelterngeneration im Zusammenhang stehen mit einer ängstlich-überfürsorglichen Haltung des Vaters oder der Mutter. Oder es geht um Delegationen von Eltern an ihre Kinder. Der ehrgeizige Gesangsunterricht eines Jungen, dessen Vater von einer großen Karriere als Tenor geträumt hat, wird verständlich, wenn die Bedeutung des Verhaltens im Mehrgenerationenkontext betrachtet wird. Diskutiert wird zurzeit die Weitergabe von Vermächtnissen, von Sühnebedürfnis und auch von Traumata als Auswirkungen der Kriegszeit auf die Kinder- und auch auf die Enkelgeneration (s. Bode 2013).

Unausgesprochene Konflikte und Familien­ geheimnisse in der Mehrgenerationentherapie

Die Mehrgenerationentherapie bezieht Konflikte und Belastungen, die über Generationen wirken, mit in die Behandlung ein, mit dem Ziel, sie besprechbar zu machen.

1.1.3

Systemische Therapie

Alle auf dem Homöostasemodell basierenden Ansätze gehen davon aus, dass gezielte therapeutische Interventionen planbare Effekte erzielen und Familiensysteme von einem dysfunktionalen in einen funktionalen Zustand bringen können. Es stellte sich aber zunehmend die Frage, was funktional und was dysfunktional ist und wer darüber letztendlich zu entscheiden hat. Die weitere Entwicklung wurde geprägt vom Modell der Autopoiese (Humberto Maturana, Francisco Varela). Autopoiese bezeichnet die Fähigkeit von Systemen zur Selbstorganisation. Autopoiese bedeutet, dass ein lebendes System sich aus sich selbst erhalten, verändern und erneuern kann. Entscheidend für alle Prozesse sind die systemimma-

Von gezielten therapeutischen Interventionen zur Unterstützung von Selbstorgani­sation­ sprozessen in der systemischen Therapie

1

6

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

nenten Eigenschaften. So können kleine Ereignisse große Wirkungen haben, abhängig von internen Prozessen und Strukturen des Systems. Das klassische Beispiel für eine nichtlineare Wirkungsweise ist der sog. Schmetterlingseffekt. Er beschäftigte sich mit der Frage, ob bei bestimmten Wetterlagen der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen kann.

1

Autopoiese (aus dem Griechischen ,Selbsterzeugung‘) bedeutet, dass ein lebendes System sich aus sich selbst erhalten, verändern und erneuern kann.

Diese Ideen wurden auch auf soziale und psychische Systeme angewandt (Luhmann). Entscheidend für Veränderungen sind auch bei Familien die systemimmanenten Eigenschaften. Die Familie entscheidet, welche Intervention wie aufgenommen, verarbeitet und umgesetzt wird. Häufig ist man überrascht, welche Impulse in der Therapie besonders wichtig waren: kleine Erlebnisse am Rande, eine Geste der Tochter, ein Satz der Ehefrau, die im Gedächtnis geblieben sind und Prozesse in Gang gesetzt haben. Ein weiterer wichtiger Anstoß für die systemische Therapie war der Konstruktivismus: Meine Sicht der Welt kann sich sehr von der Wahrnehmung meines Gegenübers unterscheiden. Wir haben es also mit Wirklichkeitskonstruktionen zu tun, die sehr unterschiedlich sein können. Wir kennen das alle: Wenn mehrere Personen eine Situation beschreiben, fragt man sich zuweilen, ob alle zur selben Zeit am selben Ort gewesen sind. So erleben auch Familienmitglieder das familiäre Zusammenleben völlig unterschiedlich und ich habe es als Therapeut*in mit völlig unterschiedlichen Geschichten zu tun. Der Konstruktivismus geht davon aus, dass ein Gegenstand erst vom Betrachter selbst durch den Vorgang des Erkennens konstruiert wird. „Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung“(von Förster, in Schlippe und Schweitzer 2012, S. 121). Beim Konstruktivismus wird der Betrachter selbst in den Prozess mit einbezogen, er konstruiert Realität durch den Vorgang des Beobachtens

Der Einfluss von Autopoiesemodell und Konstruktivismus hat in der systemischen Therapie zu einer Neuorientierung der Therapeutenrolle geführt. Es geht nicht mehr um die Planung von von außen induzierten Veränderungsimpulsen, sondern um die Erfassung von Prozessen. Wichtig ist die Schaffung eines Rahmens,

7 Multifamilientherapie – eine Einführung

der es ermöglicht, Unterschiede zu akzeptieren und dabei zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Dabei spielt die Anschlussfähigkeit eine große Rolle: die Interventionen der Therapeut*in sollen „angemessen ungewöhnlich“ (Ludewig 1997) sein. Ex­treme Interventionen stoßen schnell auf Ablehnung, zu vertraute regen nicht an und lösen keine internen Suchprozesse aus. Wichtig ist weiterhin die Transparenz,: eigene Überlegungen und Fragen bezüglich des Vorgehens werden mit den Klient*innen geteilt („Ich bin mir unsicher, ob ich Ihnen mit dieser Frage zu viel zumute“, „Ich bin mir unsicher, wie diese Frage, diese Idee bei Ihnen angekommen ist“). Zum Schluss eine zusammenfassende Definition, die Kurt Ludewig 2002 in seinem Buch „Leitmotive systemischer Therapie“ formuliert hat. Die systemische Therapie hat sich aus der Familientherapie entwickelt aus dem Bemühen, der Komplexität des menschlichen Zusammenlebens besser gerecht zu werden. Sie bietet einen Denkrahmen, Menschen und deren Interaktion zu betrachten, zwischenmenschliche Probleme einzuordnen und gemeinsam Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Kennzeichnend sind Kontextbezogenheit statt Individualisierung, Wechselwirkungen statt einfache Ursache-­Wirkung-­ Betrachtung, Kooperation, Transparenz, Lösungs- und Ressourcenorientierung (. Abb. 1.1).  

!!!

???

Familientherapie ..      Abb. 1.1  Familientherapie – Multifamilientherapie

1

8

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

1

!!!

??? !!!

Multifamilientherapie ..      Abb. 1.1 (Fortsetzung)

1.2 Angeleitete Gruppentherapien und Selbsthilfegruppen nutzen die Gruppe als Erfahrungsfeld und zur gegenseitigen Unterstützung

Gruppentherapie und Selbsthilfe

Gruppentherapie nutzt die Gruppe, um psychotherapeutisch Einfluss zu nehmen auf Verhalten und Erleben. Je nach Therapieschule werden Gruppenprozesse unterschiedlich strukturiert. In der Gruppenanalyse geht es eher um Verstehen durch freies Assoziieren und Deuten, in verhaltenstherapeutischen

9 Multifamilientherapie – eine Einführung

Gruppen wird die Gruppe als Erfahrungsfeld für Verhaltensänderung genutzt. Bei der Gruppentherapie kommen spezifische Faktoren zum Tragen wie Rückmeldung geben und empfangen sowie Modelllernen. Auch können die Gruppenmitglieder verschiedene Kommunikationsstrategien direkt ausprobieren. Sie erleben sich selber als Ratsuchende, aber auch als Ratgebende, was das Selbstvertrauen stärkt. Man unterscheidet offene Gruppen, in denen die Zusammensetzung der Gruppe wechselt, von geschlossenen Gruppen, die über einen bestimmten Zeitraum fest zusammenbleiben. Unterschieden werden auch indikationsbezogene Gruppen (z. B. bei Essstörungen oder Elterngruppen mit Kindern mit ADHS) von zieloffenen Gruppen. Entscheidend für den therapeutischen Prozess ist ein Gruppenklima aus Offenheit und Vertrauen. Selbsthilfegruppen treffen sich ohne Gruppenleiter, sie nutzen das Wissen und die Erfahrung der Gruppenmitglieder und unterstützen sich gegenseitig im Umgang mit ihren Schwierigkeiten. In der Regel haben die Gruppenmitglieder ein gleiches Problem oder Anliegen und treffen sich, um sich auszutauschen und sich gegenseitig (auch praktisch) zu unterstützen. Typische Probleme sind etwa der Umgang mit Krankheiten, mit Lebenskrisen oder belastenden sozialen Situationen. 1.3

 eschichte der Multifamilientherapie – wie G alles anfing

Die Geschichte der Multifamilientherapie (MFT) begann in den 1940er und 1950er-Jahren in den USA. Mehrere Teams, die mit chronisch psychotischen Patient*innen arbeiteten, luden diese gemeinsam mit ihren Familien ein, damit sie Erfahrungen austauschen konnten und sich nicht mehr so allein in ihrer Situation fühlten. Systematisch entwickelt wurde diese Arbeit dann von Dr. Peter Laqueur (Asen 2009), Leiter einer Abteilung für Schizophrenie im Kindes- und Jugendalter in den 1970er-Jahren. Er stellte fest, dass Mitglieder unterschiedlicher Familien sich aufgrund ähnlicher Erfahrungen gut ineinander hineinversetzen konnten. In Fällen von Kommunikationsschwierigkeiten konnten Angehörige anderer Familien Botschaften übersetzen. Auch f­ühlten sich die Therapeut*innen durch die Einbindung der Familien in eine Gruppe weniger belastet, die Familien wurden unabhängiger. Sie übernahmen stärker Verantwortung für die Gruppe, fühlten sich weniger isoliert und wurden gestärkt in dem eigenen Kompetenzerleben. Erstaunlicherweise wurde Multifamilientherapie also zuerst in der Erwachsenpsychiatrie angewandt, heute gilt sie als flankierende Maßnahme in der Betreuung psychotischer Erwachsener als evidenzbasiert (Klappstein 2017).

Multifamilientherapie als Behandlungsmodul in Erwachsenpsychiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie

1

10

1

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

Es dauerte noch einige Zeit, bis Multifamilientherapie auch in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen Fuß fasste, wo sie heute am weitesten verbreitet ist. Als Pionier ist hier Dr. Eia Asen zu nennen, der die Multifamilientherapie zu einer anerkannten Methode entwickelt hat. Inspiriert durch die Arbeiten von Salvador Minuchin mit unterprivilegierten Familien in den USA wurde in den 1970er-­Jahren in England begonnen, Familien tagesklinisch mit Multifamilientherapie zu behandeln. 1976 eröffnete dann der Malborough Family Service eine Tagesklinik für Multiproblemfamilien. Neben Familien mit kinderpsychiatrischen Störungsbildern waren es Familien, deren Kinder wegen Verwahrlosung oder Misshandlung ­ fremduntergebracht waren und die sich um die Rückführung ihrer Kinder bemühten. Auch Familien, bei denen unklar war, ob die Eltern in der Lage waren, ihren Kindern einen angemessenen pädagogischen Rahmen zu bieten, wurden in die Behandlung aufgenommen. Häufig hatten Familien auch eine Therapieauflage vom Jugendamt oder vom Gericht. Die erste Familientagesklinik für Kinder mit emotionalen und sozialen Auffälligkeiten in Deutschland wurde 1998  in Dresden unter der Leitung von Prof. Michael Scholz eröffnet, der die entscheidenden Impulse für die Entwicklung der Multifamilientherapie in Deutschland gab. Im Verlauf wurde das Angebot auf Patient*innen mit Anorexie erweitert und ein spezielles Konzept der Anorexiebehandlung (7 Kap. 8) entwickelt.  

zz Und heute?

Inspiriert durch die Arbeit in Dresden nehmen immer mehr Kliniken multifamilientherapeutische Angebote in ihr multimodales Therapieprogramm auf, Familien- und Eltern-Kind-­ Behandlungen werden vermehrt von Kliniken angeboten. Nach einer Studie (Anja Born 2012) wurden 2012 über 4000 Familien pro Jahr multifamilientherapeutisch behandelt und fünf Programme systematisch evaluiert. Neben der Ausbreitung im klinischen Bereich wird mit Familiengruppen zunehmend auch in der Jugendhilfe (Asen und Scholz 2017) und im schulischen Rahmen (Familienklasse, FiSch – Familie in Schule) gearbeitet (7 Kap. 11).  

1.4

 ie multifamilientherapeutische Gruppe – D ein Beispiel

Wir möchten hier, zum besseren Verständnis, zu einem Besuch einer multifamilientherapeutischen Gruppe einladen. Die Familien werden im weiteren Verlauf des Buches immer wieder in Erscheinung treten.

11 Multifamilientherapie – eine Einführung

Beispielhaft besuchen wir eine kinder- und jugendpsychiatrische Tagesklinik, die für die Multifamilientherapiegruppe sechs Plätze zur Verfügung stellt und im Verbund mit der angegliederten Klinikschule arbeitet. In der folgenden Vorstellung beginnen wir jeweils mit dem Namen des Kindes. Im Rahmen einer kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung spielt die Diagnose der Kinder bei der Zusammenstellung der Gruppen eine untergeordnete Rolle. Vielmehr ist vorher abzuklären, ob sich die Familie dazu in der Lage sieht, regelmäßig an den Gruppen teilzunehmen und ob die Familie als geeignet erscheint, von einer solchen Gruppenmaßnahme zu profitieren. Es gibt z. B. Eltern, die sich äußerst ungern in einer Gruppe aktiv beteiligen oder die große Vorbehalte haben, sich mit der Familie in Gruppenkontexten über ihre Probleme auszutauschen. Das gilt es zu respektieren. Wir verzichten daher in dieser Darstellung bewusst auf Diagnosen und beschreiben lediglich kurz den aktuellen familiären Hintergrund sowie die Problematiken, die zu einer psychiatrischen Aufnahme geführt haben. Diese Darstellung versteht sich nicht als Indikationskatalog. Auch Familien, deren Kinder andere Problematiken zeigen als die hier beschriebenen, können durchaus von einer Teilnahme an der Multifamilientherapie profitieren. zz Fallbeispiel Jonas Kluge, 12 Jahre. Jonas besucht erfolgreich die Schule, hat Freunde und ist gut im Fußballverein integriert. Seine Eltern: Herr Kluge, selbstständiger Malermeister, ist beruflich bedingt viel außer Haus und nimmt sich meist am Sonntag Zeit für die Familie. Die Mutter, Frau Kluge, ist gelernte Bürokauffrau, arbeitet stundenweise im häuslichen Betrieb und hat häufig Konflikte mit Jonas: Jonas verhält sich seiner Mutter gegenüber oft oppositionell und respektlos und hält sich nicht an Absprachen. Er pöbelt seine Mutter dabei an und deutet an, sie zu schlagen. Jonas hat noch einen jüngeren Bruder, Geschwisterstreitigkeiten sind laut Aussagen der Mutter an der Tagesordnung. Auf seine Eltern wirkt Jonas zu Hause oft unzufrieden und gereizt. Leon Becker, 10 Jahre. Leon lebt mit seiner a­ lleinerziehenden Mutter zusammen, sie bezeichnen sich als hervorragendes Team, miteinander gäbe es keine Probleme. Leon hat neben seltenen Telefonaten 14-täglich am Wochenende Besuchskontakt zu seinem Vater. Leon äußert sich über die Beziehung zu seinen Eltern ambivalent: Im Beisein des Vaters äußert er, auch gerne bei ihm wohnen oder zumindest mehr Zeit mit ihm verbringen zu wollen. Im Beisein der Mutter erklärt er, nicht so

1

12

1

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

genau zu wissen, was er möchte, und überlässt ihr lieber die Entscheidung. Frau Becker arbeitet vormittags und verbringt viel Freizeit mit Leon. Immer wieder wird sie von der Schule angerufen: Leon verweigert das Betreten des Klassenraumes, er weint dann und erklärt, er habe Angst sich zu übergeben. Marie Kling, 11 Jahre. Marie lebt mit ihrer Mutter, deren neuem Lebensgefährten (Herrn Berg), ihrer älteren Schwester und den beiden Kindern von Herrn Berg zusammen. Es besteht kein Kontakt zum leiblichen Vater. Frau Kling arbeitet in der ambulanten Pflege und ist die Hauptverdienerin der Familie, Herr Berg ist aufgrund einer chronischen psychischen Erkrankung arbeitsunfähig und kümmert sich um den Haushalt. Er wird von Maries Mutter als liebevoll, aber sehr nachgiebig und wenig konsequent beschrieben. Frau Kling wirkt oft überlastet und sagt, sie sei genervt von Marie. Marie ist in der Familie die Außenseiterin, sie hat auch außerhalb keine festen Freundschaften. Zu Hause und in der Schule zeigt sich Marie impulsgesteuert und lustbetont. Wenn sie ihren Willen nicht bekommt, wird sie meist verbal und körperlich aggressiv und zerstört dabei auch Gegenstände. Auf die Klassenlehrerin macht Marie einen entweder wütenden oder sehr traurigen Eindruck. Marco Schütze, 9 Jahre. Marco lebt seit seinem dritten Lebensjahr gemeinsam mit seinem ein Jahr jüngeren Bruder in einer Pflegefamilie, Familie Rudolf. Die Familie hat selbst zwei leibliche Kinder, beide älter als Marco. Die Pflegeeltern wirken engagiert und sehr bemüht, berichten jedoch, den Eindruck zu haben, nicht wirklich „an Marco ranzukommen“. Marco hat in der Schule erhebliche Probleme: Er zeigt sich oppositionell und respektlos den Lehrern gegenüber und verweigert bei einer eigentlich guten Leistungsfähigkeit seine Mitarbeit. Zu Hause hält sich Marco oft nicht an Absprachen, lügt und läuft immer wieder weg. Anschließend scheint Marco, so berichten seine Pflegeeltern, sehr darunter zu leiden, wenn er dadurch Ärger mit seinen Pflegeeltern bekommt, die er vorgibt, sehr zu mögen. Er gelobt dann Besserung und zeigt sich kurzzeitig sehr devot und überangepasst. Karl Junge, 12 Jahre. Frau Junge, Versicherungsfachangestellte, lebt in dritter Ehe. Ihr Mann, Bundeswehrsoldat, hat ein Kind mit in die Ehe gebracht, gemeinsam haben sie noch zwei Kinder, eines davon ist Karl. Herr Junge engagiert sich sehr für die Familie, dabei legt er auch großen Wert auf Ordnung und Verbindlichkeit. Beide Eltern sind sehr darum bemüht, viel Zeit mit der Familie zu verbringen. Karl hat kaum Kontakte zu Gleichaltrigen, verbringt seine Zeit sehr gerne auf dem benach-

13 Multifamilientherapie – eine Einführung

barten Bauernhof. In der Schule hat er immer wieder starke Leistungseinbrüche, äußert dann Insuffizienzgefühle und wertet eigene Leistungen ab. Karl möchte gerne, dass irgendetwas anders ist, weiß aber nicht was, und hat auch wenig Hoffnung auf eine positive Veränderung. Marcel Müller, 11 Jahre. Marcels Vater ist Zimmermann, die Mutter Krankenschwester, er hat noch einen achtjährigen Bruder. Seit ca. drei Monaten lebt die Mutter während der Woche in einer weiter entfernten Stadt, wo sie nach eigener Entscheidung die Pflege ihres kranken Vaters übernommen hat. Lediglich von Samstag bis Sonntagabend verbringt die Familie Zeit gemeinsam. Das Verhältnis zwischen den Eltern war vorher bereits angespannt, die Entscheidung von Frau Müller wird von ihrem Mann nicht gut geheißen. Marcels Verhalten in der Schule gestaltet sich zunehmend schwierig: Er zeigt sich respektlos den Lehrern gegenüber, mit seinen Mitschülern kommt es häufig zu Streit. Auch mit seinem Bruder gibt es deutlich häufiger Streit. Eine befreundete Familie beschreibt Marcel zunehmend als bedrückt und übellaunig, Marcel selbst möchte nicht über seine Stimmung sprechen, auf Fragen antwortet er gar nicht oder sehr kurz.

Im Rahmen der teilstationären Behandlung treffen diese Familien zufällig aufeinander. Eine ähnliche Konstellation kann sich jedoch ebenso in multifamilientherapeutischen Maßnahmen der Jugendhilfe (hier = Multifamilienarbeit) oder im schulischen Setting (siehe FiSch – Familie in Schule, 7 Kap. 11) ergeben. An dieser Stelle weisen wir noch einmal darauf hin, welche Bedeutung die sichere Rahmung durch die MFT-Therapeuten für die Gruppe hat (siehe auch 7 Kap. 3). Die „Ansammlung von Familien“ kann nur dann zu einer wirksamen Gruppe werden, wenn die Teilnehmer*innen eine von wertschätzender Grundhaltung getragene, vor Beschämung und Verletzung schützende Moderation erfahren.  



??Verständnisfragen 1. Erklären Sie die Begriffe „lineares Ursache-Wirkungs-­ Modell“, „Homöostase“ und „Autopoiese“ und erläutern Sie die Implikationen für die therapeutische Haltung. 2. Erklären Sie den Begriff „Ressourcenorientierung“ und erläutern Sie das Arbeiten mit Ressourcen an Beispielen aus der Praxis. 3. Was beinhaltet eine wertschätzende Grundhaltung? 4. Was kennzeichnet den systemischen Therapieansatz?

1

14

1

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

Literatur Asen, E. (2009). Multifamilientherapie. In Familiendynamik (Bd. 2, S. 228– 235). Frankfurt a. M.: Klett-Cotta. Asen, E., & Scholz, M. (2009). Praxis der Multifamilientherapie. Heidelberg: Auer Verlag. Asen, E., & Scholz, M. (2017). Handbuch der Multifamilientherapie. Heidelberg: Auer Verlag. Behme-Matthiessen, U., & Pletsch, P. (2012). Handbuch Familienklasse. Aachen: Shaker Verlag. Behme-Matthiessen, U., & Pletsch, P. (2016). Praxis Familiengruppe. Aachen: Shaker Verlag. Bode, S. (2013). Kriegsenkel: Die Erben der vergessenen Generation (10. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Born, A. (2012). Multifamilientherapie in Deutschland. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 61(3), 167–182. Caspar, F. (2019). Gruppentherapie. In M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon der Psychologie. https://portal.­hogrefe.­com/dorsch/gruppentherapie-1/. Zugegriffen am 31.01.2019. Klappstein, K. (2017). Salutogenetische Entwicklungsprozesse von Frauen mit verhaltensauffälligen Kindern im Rahmen der Multifamilientherapie. Heidelberg: Auer Verlag. Ludewig, K. (2002). Leitmotive systemischer Therapie. Frankfurt a.  M.: Klett-­Cotta. Schmidt, L. & Caspar, F. (2019). Selbsthilfegruppen. In M.  A. Wirtz Dorsch  – Lexikon der Psychologie.https://portal.­hogrefe.­com/dorsch. Zugegriffen am 31.01.2019. von Schlippe, A., & Schweitzer, J. J. (2012). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

15

Resilienz, Salutogenese und Selbstwirksamkeit Ulrike Behme-Matthiessen und Thomas Pletsch Inhaltsverzeichnis 2.1

Resilienz – 16

2.1.1

Resilienzfaktoren – 18

2.2

Salutogenese – 20

2.3

Selbstwirksamkeit – 23 Literatur – 25

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Behme-Matthiessen, T. Pletsch (Hrsg.), Lehrbuch der Multifamilientherapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61196-8_2

2

16

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

In den letzten Jahren gewinnen Überlegungen zur Resilienz (Welter-­Enderlin/ Hildenbrand 2006  in Behme-M und Pletsch 2016) eine immer größere Bedeutung. Mehrere Arbeiten beschäftigen sich mit der Stärkung der Resilienz durch Multifamilientherapie (Hoffmann 2016; Klappstein 2017). Die Stärkung des Selbstwirksamkeitserlebens und die Beschreibung von Faktoren, die zur Gesunderhaltung von Familien beitragen, sind ebenfalls wichtige Aspekte der Multifamilientherapie. Die Theorien von Aaron Antonovsky zur Salutogenese und von Albert Bandura zum Selbstwirksamkeitserleben beschreiben diese Aspekte. Dabei wird hier ein Zusammenhang zur Arbeit mit Familiengruppen (Multifamilientherapie) hergestellt.

2

2.1

Resilienz

Der Begriff Resilienz (von lat. resilire: zurückspringen, abprallen) beschreibt neben der psychischen Widerstandsfähigkeit insbesondere die Fähigkeit, aus schwierigen Lebensumständen nicht nur unbeschadet, sondern auch gestärkt und mit einem Zugewinn an Ressourcen hervorzugehen. Im Fokus der Aufmerksamkeit der Resilienzforschung sind Stärken und Potenziale gerade in den Situationen, in denen der Blick darauf häufig durch eine Vielzahl an belastenden Faktoren verstellt ist (z.  B bei Kindern psychisch kranker Eltern, Familien mit wenig Struktur).

Resilienz als psychische Widerstandsfähigkeit

Resilienz zeigt sich in der Fähigkeit, auch bei unterschiedlichen Belastungen einen befriedigenden Lebensweg zu finden. Nach wie vor gibt es keine eindeutige Begriffsbestimmung des Resilienzkonzepts, sondern Experten verschiedener Disziplinen legen höchst inkongruente Modelle vor. Problematisch ist auch die fehlende Abgrenzung zu anderen Konzepten sowie die inflationäre Verwendung des Resilienzbegriffs in der Alltags- sowie in der Fachsprache. Ein breites Verständnis besteht darin, Resilienz als dynamischen Anpassungs- und Entwicklungsprozess zu begreifen. Äußere Entwicklungseinflüsse, Risikofaktoren, Schutzfaktoren, die individuelle Bewältigung durch das Kind sowie dessen Vulnerabilität werden dabei mit einbezogen. Sehr bekannt ist das Konzept der Risikofaktoren und Schutzfaktoren (Wustmann 2004). Risikofaktoren sind beispielsweise ein niedriger sozioökonomischer Status oder die psychische Erkrankung eines Elternteiles.

17 Resilienz, Salutogenese und Selbstwirksamkeit

Die Schutzfaktoren haben die Aufgabe, gesundheitsschädigende und entwicklungshemmende Einflüsse durch die Aktivierung der eigenen und sozialen Ressourcen abzumildern und Gesundheitsschädigungen zu minimieren (. Abb. 2.1). Dem Puffereffekt und damit der moderierenden Wirkung schützen-

2

Risiko- und Schutzfaktoren



Personale Schutzfaktoren

• Körperliche Schutzfaktoren und biologische Korrelate der Resilienz – Biologische Korrelate – Temperament – Erstgeborenes Kind – Weibliches Geschlecht • Kognitive und affektive Schutzfaktoren – Positive Wahrnehmung der eigenen Person – Positive Lebenseinstellung und Religiosität • Kognitive Fähigkeiten und schulische Leistung • Infernale Kontrollüberzeugung • Selbstwirksamkeitserwartung • Selbstkontrolle und Selbstregulation • Aktive Bewältigungsstrategien • Realistische Selbsteinschätzung und Zielorientierung • Besondere Begabungen, Ressourcen und Kreativität

Familiäre Schutzfaktoren

• Strukturelle Familienmerkmale • Merkmale der Eltern-Kind-Beziehung – Sichere Bindung und positive Beziehung zu den Eltern • Autoritative oder positive Erziehung – Positives Familienklima und Kohäsion • Positive Geschwisterbeziehungen • Merkmale der Eltern

Soziale Schutzfaktoren

• Soziale Unterstützung • Erwachsene als Rollenmodelle oder eine gute Beziehung zu einem Erwachsenen • Kontakte zu Gleichaltrigen • Qualität der Bildungsinstitutionen • Einbindung in prosoziale Gruppen

..      Abb. 2.1  Schutzfaktoren Klassifikation von personalen, familiären und sozialen Schutzfaktoren nach Bengel, Meinders-Lücking & Rottmann (in Hofmann 2016)

18

2

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

der Faktoren auf Gesundheitsgefährdung durch kritische Lebensbelastungen wird dabei eine wichtige Rolle zugesprochen (Hoffmann 2016). 2.1.1

Resilienzfaktoren

In der Arbeit mit Familiengruppen spielt die Förderung von Resilienz eine große Rolle. Spricht man von Resilienzfaktoren, geht es immer um ein komplexes Zusammenspiel von inneren und äußeren Faktoren: so kann die Fähigkeit, sich mitzuteilen nur dann als Resilienzfaktor wirksam werden, wenn ein passender Ansprechpartner im Umfeld vorhanden ist. Unterschieden wird 55 individuelle Resilienz: wie reguliert der Einzelne Belastungen? 55 familiale Resilienz: die Fähigkeit von Familien, erhöhten Anforderungen standzuhalten zz Individuelle Resilienz Unter individueller Resilienz versteht man die Ressourcen, die der Einzelne zur Bewältigung von Belastungssituationen mitbringt.

Folgende Faktoren der individuellen Resilienz sind für unsere Praxis relevant und mit den uns zur Verfügung stehenden therapeutischen und pädagogischen Mitteln beeinflussbar: 55 Problembewältigung, 55 Aufgabenorientierung, 55 Abgrenzung, 55 Selbstwirksamkeit und 55 Zukunftsvision. Bei der Problembewältigungg geht es darum, ein Problem als solches zu erkennen, Lösungsideen zu entwickeln, diese zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Eine Aufgabenorientierung wird daran deutlich, dass spezielle Interessen, Hobbys sowie die Begeisterung für ein Thema größeres Gewicht haben als das Bedürfnis, bei anderen Menschen „sozial anzukommen“. Aufgabenorientierung erleichtert die Abgrenzung von Peers, aber auch die Abgrenzung von bestimmten familialen Mustern und Aufträgen und stärkt den Mut, eigene Wege zu gehen. Unter Selbstwirksamkeit versteht man die Fähigkeit, Erfolge als persönliche Leistung zu bewerten, das Grundgefühl,

19 Resilienz, Salutogenese und Selbstwirksamkeit

nicht Opfer der Umstände zu sein, sondern selbst Veränderungen bewirken zu können(siehe 7 Abschn. 2.3). Ein wesentlicher Faktor ist eine realistische Zukunftsvision, das heißt Wünsche und Zukunftsträume, die über Filmstar, Model oder Millionär hinausgehen und Bezug zu der eigenen Person mit ihren Stärken und Möglichkeiten haben  

zz Familiale Resilienz Unter familialer Resilienz verstehen wir die Ressourcen des Systems Familie im Umgang mit Belastungen.

Bei der Entwicklung von familialer Resilienz spielen Vertrauen, Beziehungen untereinander wie auch die Art des Umgangs miteinander eine wesentliche Rolle. Offene Kommunikation und gegenseitige Wertschätzung sind wesentliche Voraussetzungen. Der Erziehungsstil der Eltern mit liebevoller Zuwendung und Interesse bei klaren Rahmenbedingungen und elterlicher Kontrolle („autoritativer Erziehungsstil“) fördert ebenfalls familiale Resilienz. Ein nicht zu unterschätzender Faktor ist die Übernahme von Pflichten im Familienleben. Das Zutrauen, dass in jemanden gesetzt wird, stärkt dessen Selbstwert. Der nützliche Beitrag zum Familienleben und das Gefühl, etwas leisten und bewirken zu können, stärken das Gefühl der Selbstwirksamkeit. Dass Mädchen häufig eine höhere Resilienz aufweisen, wird zum Teil darauf zurückgeführt, dass sie oft sehr viel früher Verantwortung in der Familienorganisation übertragen bekommen (z. B. bei der Betreuung der jüngeren Geschwister)und sich dadurch sowohl Kompetenzen als auch Selbstbewusstsein erwerben. Neben dem Erziehungsstil und den vorherrschenden Kommunikationsstrukturen unterstützen bestimmte „Glaubenssätze“ die Resilienz von Familien. Sie wirken sozusagen als „Stoßdämpfer“ in widrigen Situationen (Conen 2002  in Behme-Matthiessen und Pletsch 2016). Dazu gehören innere Überzeugungen wie: 55 „Gemeinsam bewältigen wir Hindernisse“ 55 „Zum Menschsein gehört es, Fehler zu machen“ Dabei ist ein weiterer Aspekt familialer Resilienz die Messlatte, die eine Familie an sich selbst anlegt. Finden dabei ständige Vergleiche mit einem nicht zu erreichenden Idealbild statt oder kann die eigene Art, Familienleben zu gestalten, positiv bewertet werden? Wichtig ist es nach Ansicht der Resilienzforscher auch, mit Niederlagen zu leben, ohne zu resignieren („Stehaufmännchen“).

Faktoren der individuellen Resilienz

2

20

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

Faktoren der familialen Resilienz

2

Sinnfragen und Zukunftsvisionen sind also nicht nur für den Einzelnen von großer Bedeutung, sondern auch für Familien als Ganzes spielen Selbstdefinition, das Identitätsgefühl wie auch Träume und Wünsche für die Zukunft eine größere Rolle als bisher angenommen. Marie Louise Conen (2002), die viel mit Familien in Zwangskontexten gearbeitet hat, spricht in diesem Zusammenhang von dem „spirituellen Hunger“ der Familien. 2.2

Salutogenese

Das Konzept der Salutogenese (lat. salus: Gesundheit, Glück, Unverletztheit; lat./griech. genesis: Entstehung) wurde während der 1960er-Jahre durch den Medizinsoziologen Aaron Antonovsky begründet. Salutogenese beschäftigt sich mit den Wirkfaktoren zur Entstehung und den aufrechterhaltenden Bedingungen von Gesundheit.

Das Konzept der Salutogenese wurde begründet durch Aaron Antonovsky. „Im Rahmen seiner Forschungsarbeiten in Israel traf der Medizinsoziologe während der 1960er-Jahre mit jüdischen Frauen zusammen, die nationalsozialistische Konzentrationslager nicht nur überlebt, sondern sich zudem ein ‚neues‘ Leben aufgebaut hatten. Für Antonovsky ein Wunder – eines, das er als Wert erachtete, es zu untersuchen, um es zu verstehen. Aus seinen Beobachtungen und den Rückschlüssen zu seinen Forschungen entwickelte er das Konzept der Salutogenese.“ (Behme-M./Pletsch, ZTA 3/2009).

»» Eine

salutogenetische Orientierung, die sich auf die Ursprünge der Gesundheit konzentriert, stellt eine radikal andere Frage: Warum befinden sich Menschen auf der positiven Seite des Gesundheit-Krankheit-Kontinuums oder warum bewegen sie sich auf den positiven Pol zu, unabhängig von ihrer aktuellen Position? (Antonovsky 1997)

Salutogenese beschäftigt sich mit der Entstehung von Gesundheit

Er legt in seinen Arbeiten nahe, Krankheit und Gesundheit nicht als Dichotomie, sondern als Kontinuum zu betrachten (. Abb. 2.2).  

»» Das bipolare Konzept der Salutogenese ist gekennzeichnet durch die Vorstellung, dass Gesundheit und Krankheit nie absolute Zustände sind, sondern auf einem Kontinuum liegen. Krankheit und Gesundheit sind voneinander abhängige Faktoren, und der Mensch bewegt sich in eine der beiden Richtungen. (Klappstein 2017, S. 17).

21 Resilienz, Salutogenese und Selbstwirksamkeit

Gesundheit

Krankheit

Lebenslauf

..      Abb. 2.2  Salutogenese

zz Das Kohärenzgefühl (Sense of Coherence)

Antonovsky geht in seinen Ausführungen von der Annahme aus, dass der Gesundheits- und Krankheitszustand eines Menschen unter anderem wesentlich durch seine Lebenseinstellung sich selbst und anderen gegenüber beeinflusst wird. Diese Lebenseinstellung wird fortwährend mit neuen Erfahrungen konfrontiert und kann dabei modifiziert werden: eine Lebenseinstellung zeigt sich damit dynamisch und durch die Person aktiv veränderbar. Antonovsky beschreibt das Vertrauen in das Gefühl 55 der Verstehbarkeit, 55 der Handhabbarkeit und 55 der Sinnhaftigkeit, zusammengefasst als Kohärenzgefühl  – verschiedene Aspekte, die wesentlich die personale Lebenseinstellung positiv und ressourcenorientiert prägen. Das Kohärenzgefühl oder der Kohärenzsinn unterstützt das Selbstwirksamkeitserleben und trägt damit zur Gesunderhaltung eines Menschen und einer Familie bei. Das Vertrauen in das Gefühl von Verstehbarkeit erklärt die Fähigkeit des Menschen, unterschiedliche Ereignisse, Eindrücke, Situationen und Herausforderungen als erklärbare Größen wahrzunehmen. Aktuelle belastende Situationen können wie in einem Puzzle in ein Gesamtbild eingefügt werden. Sie stehen in einem Gesamtzusammenhang und sind nicht als unerklärbare Einzelphänomene nebeneinander existierend.

Das Kohärenzgefühl wird geprägt durch die Lebenseinstellung und stärkt Selbstwirksamkeit

2

22

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

Fallbeispiel

2

Herr Müller ärgert sich seit einigen Wochen sehr über das Verhalten seines Sohnes Marcel in der Schule: Fast täglich gibt es Konflikte zwischen Marcel und seinen Mitschülern, die Mitarbeit ist sehr schlecht, Marcel verhält sich gerade Lehrerinnen gegenüber sehr unangemessen. Herr Müller missbilligt das Verhalten seines Sohnes ausdrücklich, kann den Fragen der Lehrer jedoch mit einer Erklärung begegnen: Marcels Mutter ist vor einigen Wochen für ungewisse Zeit zu ihren Eltern in eine weiter entfernte Stadt gezogen, um die Pflege ihres kranken Vaters zu übernehmen. Die Eltern waren sich in dieser Entscheidung uneins, es gab häufigen Streit. Marcel hängt sehr an seiner Mutter und war gegen diese elterliche Entscheidung.

Das Vertrauen in das Gefühl der Handhabbarkeit meint die Überzeugung, dass es Möglichkeiten zur Bewältigung anstehender Aufgaben gibt. Dabei können die Möglichkeiten sowohl in der eigenen Person als auch in der Mobilisierung von Helfern und dem Schaffen von Netzwerken gesehen werden. Fallbeispiel Herr Müller erkennt, dass Marcel mehr Unterstützung zur Bewältigung der aktuellen Krise und zur Bewältigung seines Schulalltags braucht, als er ihm bieten kann. Er bittet die Familie von Marcels bestem Freund, die wenige Häuser entfernt lebt und eine Tante von Marcel, mit der er sich sehr gut versteht um Hilfe bei der Alltags- und Freizeitversorgung seines Sohnes. Zudem wird Herr Müller mit Marcel an einer unterstützenden multifamilientherapeutisch orientierten Maßnahme in der Schule teilnehmen, um auch für sich selbst noch Strategien für den Umgang mit Marcel zu entwickeln.

Das Vertrauen in das Gefühl von Sinnhaftigkeit schließlich beschreibt, in welchem Umfang ein Mensch sein Leben als sinnvoll wahrnimmt. Das heißt, ob die sich ihm stellenden Probleme und Anforderungen es als Wert erscheinen, gemeistert zu werden. Damit werden Probleme und Anforderungen als lohnenswerte Aufgaben und Herausforderungen definiert, die einen emotionalen oder Reifegewinn z.  B. in Bezug auf das persönliche Konfliktlöserepertoire bringen. Diese Probleme und Herausforderungen werden nicht mehr als Belastungen definiert, die man schnellstmöglich loswerden muss, sondern werden begleitet von der Idee, dass in diesem Lösungsprozess auch ein Gewinn liegt.

23 Resilienz, Salutogenese und Selbstwirksamkeit

Fallbeispiel Herr Müller möchte für Marcel das Bestmögliche aus der aktuellen Situation machen und nicht in seinem Ärger verhaftet bleiben. Er kennt Marcels gute Leistungsfähigkeit, seine Interessen und Neigungen. Er weiß auch, dass Marcel im Grunde sehr bestrebt ist, gute Schulleistungen zu zeigen und in gutem Kontakt zu Mitschülern und Lehrern zu stehen. Er hat eine Idee davon, dass die Art und Weise, wie er und Marcel mit dieser Krise umgehen, später für die Familie von Nutzen sein kann.

Für die Arbeit mit Familiengruppen empfiehlt sich die Betrachtung darüber, in welcher Weise Kinder in ein familiales Kohärenzgefühl hineinwachsen und daraus ihr individuelles Kohärenzgefühl entwickeln. Dieses individuelle Kohärenzgefühl steht im engen Wechselspiel zu der Gewissheit über die eigene Selbstwirksamkeit. 2.3

Selbstwirksamkeit Selbstwirksamkeit beschreibt die Überzeugung eines Menschen, dass die eigenen Ressourcen ausreichen, schwierige Situationen, Herausforderungen und von außen gestellte Aufgaben aus eigener Kraft alleine oder mithilfe selbst akquirierter Helfersysteme zu bewältigen. Dabei spielt auch die Überzeugung, die Situation selbst kontrollieren zu können, eine Rolle.

Das Selbstwirksamkeitserleben oder die Selbsteffizienzerwartungen finden ihre Entsprechung im Aspekt „Vertrauen in das Gefühl der Handhabbarkeit“ bei Antonovsky. Die Verbesserung des Selbstwirksamkeitserlebens steht für Bandura als „gemeinsamer Wirkfaktor aller Psychotherapien“. Laut Bandura kennt das Selbstwirksamkeitserleben unterschiedliche Quellen: „… momentane Fertigkeiten, stellvertretende ­ Erfahrungen durch die Beobachtung anderer, verbale Überzeugung (z.  B.  Feedback) und emotionales Erleben. Die direkte persönliche Erfahrung besitzt für das Bewusstsein der eigenen Effektivität größtes Gewicht“ (B.  Schuch in : Stumm und Pritz 2000). Werden diese Selbstwirksamkeitsquellen familiär positiv genährt, stärkt das in der Wechselwirkung das persönliche Kohärenzgefühl auch des Kindes und damit dessen Selbstwirksamkeitserleben (. Abb. 2.3).  

Selbstwirksamkeit als Vertrauen in die eigene Effektivität

2

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

Abg ren zu n

24

Schutzfaktoren

Zukunftsvisionen

Belastungen

Aufgabeno rienti erun g

2

g

ng ltigu ewä mb e l ob Pr

mkeit twirksa Selbs

Risikofaktoren

..      Abb. 2.3 Resilienz

Fallbeispiel Marcel fühlt sich durch die belastende Situation im Elternhaus zu Beginn hilflos und verzweifelt. Er kann sich nicht vorstellen, wieder wie vorher den Alltag zu meistern. Er erlebt, wie sein Vater im Verlauf versucht, Helfersysteme zu beanspruchen, und er erlebt das Zutrauen seines Vaters in seine, Marcels, Fähigkeiten. Marcel schafft es darüber, sich zum einen mit anderen Gleichaltrigen, die ähnliche Krisen erlebt haben, auszutauschen, zum anderen erkennt er seine Möglichkeiten, sich für seine Situation Unterstützung zu holen. Der starke Wunsch, dass seine Mutter wieder zu Hause ist und die Eltern sich wieder vertragen, bleibt für Marcel. Er erlebt sich dabei jedoch nicht mehr als handlungsunfähig.

25 Resilienz, Salutogenese und Selbstwirksamkeit

Multifamilientherapie bietet Möglichkeiten zur Schaffung von Kontexten, die zur Stärkung des Selbstwirksamkeitserlebens der Familien beitragen. Dies geschieht durch die aktive Teilnahme und das Erleben persönlicher Leistung bei der Bewältigung von Aufgaben innerhalb einer geschützten Atmosphäre. „Wenn eine Leistung nicht der Kompetenz, sondern äußeren Umständen zugeschrieben wird, stimuliert sie nicht die Selbstwirksamkeitserfahrung. Wie wir Barrieren interpretieren, ist von maßgeblicher Bedeutung für Selbstwirksamkeit und Leistungsfähigkeit“ (Schwarzer und Jerusalem 2002). Multifamilientherapie bedeutet, Verantwortung und Entscheidungsfähigkeit bei den Familien zu belassen. Das schafft einen Erlebnisraum für die Familien zur Erfahrung eigener Kompetenz. „Selbstwirksamkeitserwartung wird definiert als die subjektive Gewissheit, neue oder schwierige Anforderungssituationen auf Grund eigener Kompetenzen bewältigen zu können“ (Schwarzer und Jerusalem 2002). Die Unterstützung zum Erleben dieser Gewissheit ist das Ziel der Multifamilientherapie. ??Verständnisfragen 1. Nennen Sie Faktoren der individuellen und der familialen Resilienz. 2. Wie kann Multifamilientherapie die Resilienz stärken? 3. Definieren Sie den Begriff Salutogenese. 4. Welche Aspekte beschreibt Aaron Antonovsky mit dem Kohärenzsinn? 5. Wodurch kann MFT die Stärkung des Selbstwirksamkeitserlebens unterstützen?

Literatur Albert, B. (1997). Self-efficacy: The excercise of control. New  York: Freeman. Antonovsky, A. (1997). Salutogenese  – Zur Entmystifizierung von Gesundheit, Deutsche Ausgabe von Alexa Franke. Tübingen: DGVT. Behme-Matthiessen, U., & Pletsch, P. (2012). Handbuch Familienklasse. ­Aachen: Shaker. Behme-Matthiessen, U., & Pletsch, P. (2016). Praxis Familiengruppe. ­Aachen: Shaker. Conen, M.-L. (2002). Wo keine Hoffnung ist, muss man sie erfinden. Heidelberg: Carl-Auer. Hoffmann, S. (2016).  – Multifamilientherapie -Eine qualitative Interviewstudie mit teilnehmenden „Eltern zur Evaluation der ressourcenfördernden Intervention“, Masterthesis, Magdeburg. Klappstein, K. (2017). Salutogenetische Entwicklungsprozesse von Frauen mit verhaltensauffälligen Kindern im Rahmen der Multifamilientherapie. Heidelberg: Auer.

Multifamilientherapie schafft Kontexte, die das Selbstwirksamkeitserleben fördern

2

26

2

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

Schmidt, L., & Caspar, F. (2019). Selbsthilfegruppen. In M.  A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch  – Lexikon der Psychologie. https://portal.­hogrefe.­com/ dorsch. Zugegriffen am 31.01.2019. Schuch, B. (2000). S.625  in Stumm/Pritz, Wörterbuch der Psychotherapie. Heidelberg: Springer. Schwarzer R., & Jerusalem M. (Mai 2002). Zeitschrift für Pädagogik, 44. Beiheft,Weinheim: Beltz. Wustmann, C. (2004). Resilienz Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern“. Weinheim: Beltz.

27

Therapeutische Haltung Ulrike Behme-Matthiessen und Thomas Pletsch Inhaltsverzeichnis 3.1

Paradigmenwechsel – 28

3.2

Therapeutische Haltung und Familiengruppe – 30

3.3

Das therapeutische Team – 31 Literatur – 32

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Behme-Matthiessen, T. Pletsch (Hrsg.), Lehrbuch der Multifamilientherapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61196-8_3

3

28

U. Behme-Matthiessen und T. Pletschn

3.1

Paradigmenwechsel

In diesem Kapitel soll auf die therapeutische Haltung einge­ gangen werden.

3

Als therapeutische Beziehung wird die Interaktion von The­ rapeut*in und Patient*in bezeichnet. Sie umfasst die wech­ selseitigen Gefühle und Haltungen und ist entscheidend für den Therapieerfolg. Sie wird als allgemeiner Wirkfaktor für 30 % der Veränderung verantwortlich gemacht (Lutz 2010). Die Vorstellung einer idealen therapeutischen Haltung un­ terscheidet sich je nach Therapierichtung. Bei der Multifa­ milientherapie sind die Therapeut*innen Experten für den Rahmen, der eine Lösungssuche erleichtert, die Klient*in­ nen sind Experten für die Lösung.

Therapeuten haben das Expertentum für den therapeutischen Rahmen, Familien haben das Expertentum für die Lösung

Neu und herausfordernd bei der Multifamilientherapie ist die besondere therapeutische Haltung. Im klassischen Setting von Klinikaufenthalten wird bei Aufnahme die elterliche Verantwortung an die Mitarbeiter*in­ nen delegiert, da diese kompetent sind und das Problem lösen werden. Bei engagierten Mitarbeiter*innen und einem anneh­ menden Stationsklima geschieht es nicht selten, dass die Symp­ tomatik des Kindes sich erst einmal relativ schnell reduziert. zz Fallbeispiel Jonas Kluge wird zur teilstationären Behandlung in einer Ta­ gesklinik aufgenommen. Als die Mutter Jonas zwei Tage später abholt, erfährt sie von den Mitarbeiter*innen, dass das opposi­ tionelle Verhalten bisher nicht aufgetreten ist, Jonas verhält sich Erwachsenen und Kindern gegenüber respektvoll. Von der Kli­ nikschule wird er als ausgeglichen und kooperativ beschrieben.

Dies ist eine nicht untypische Situation für einen Behand­ lungsbeginn bei Kindern mit oppositionellem Verhalten. Frau Kluge, die sich Jonas gegenüber häufig hilflos fühlt und viel darüber nachdenkt, was sie in der Erziehung alles falsch macht, wird in ihrem Gefühl bestätigt, als Mutter zu versagen. Aus einer fürsorglichen Haltung heraus passiert es nicht selten, dass die Mitarbeiter*innen sich mit den Kindern ver­ bünden („kein Wunder, dass Jonas zu Hause so über die Stränge schlägt, wenn Frau Kluge so inkonsequent ist“), sie möchten das Kind vor den unfähigen Eltern schützen und fan­ gen an, mit den leiblichen Eltern zu konkurrieren. Und es ist

29 Therapeutische Haltung

natürlich auch befriedigend, wenn es plötzlich gelingt, zu dem störrischen Jonas, der nirgends zurechtkommt, einen Zugang zu finden. Auch im ambulanten Rahmen prägt häufig der Für­ sorgegedanke die therapeutische Haltung und führt dazu, dass Eltern nicht in ihrer Kompetenz angesprochen werden. Oft erwarten die Eltern von den Therapeut*innen die ent­ scheidenden Ratschläge, die das Problem lösen („Wer hat denn studiert, Sie oder ich?“). Sie sind dankbar für jeden Tipp, be­ richten aber nicht selten in der nächsten Woche, dass es wieder einmal nicht funktioniert hat. Entsprechend des Selbstorganisationskonzeptes (Auto­ poiese) der systemischen Therapie kreiert ein System eigene Lösungen und kann auch nur Lösungen nutzen, die mit der Systemlogik kompatibel sind. Auf Familien bezogen bedeutet das, dass eigene Lösungen entwickelt werden müssen, da nur die in der Regel funktionieren. Von daher ist es die therapeu­ tische Aufgabe, einen Rahmen zu schaffen, in dem Eltern sich wieder als wirksam erleben und ermutigt werden, eigene Lö­ sungswege zu entwickeln. zz Fallbeispiel Als Frau Kluge hört, wie angemessen sich Jonas auf der Sta­ tion verhält, seufzt sie und bemerkt, dass es dann ja wohl doch an ihr liege, dass Jonas zu Hause gar nicht höre. Die Mitarbei­ terin, die Frau Kluge stärken möchte, antwortet ihr, dass auf der Station keine Zauberer arbeiteten. Wenn sie als Mutter Jonas nicht so viel mitgegeben und ihn nicht so gut erzogen hätte, würde Jonas sich nicht so positiv verhalten. Sie würden gemeinsam überlegen, was Jonas daran hindere, dieses positive Verhalten zu Hause zu zeigen.

Dadurch, dass die Verantwortung für Veränderung bei den El­ tern belassen wird, sind positive Verhaltensänderungen nicht der Klinik oder ihren kompetenten Mitarbeiter*innen zuzu­ schreiben, sondern den Erziehungsbemühungen der Eltern zuzurechnen. Dies stärkt den Selbstwert und das Selbstwirk­ samkeitserleben als Voraussetzung für starke und präsente El­ ternschaft. Verantwortung bei den Eltern belassen heißt jetzt nicht, dass die Therapeut*innen nichts mehr zu tun haben: Sie sind verantwortlich für die Beziehungsgestaltung und für die Schaffung eines therapeutischen Klimas, das Veränderungen ermöglicht. Eltern müssen sich sicher und angenommen füh­ len, um eigene Ideen zu entwickeln. Unterschiedliche Familien benötigen Begleitung und auch Anleitung in unterschiedlicher Intensität.

Familien entwickeln eigene Lösungen

3

30

U. Behme-Matthiessen und T. Pletschn

3.2

3

Stärkung der Selbst­ wirksamkeit durch eigene Erfolgserlebnisse und gute Ideen für andere Familien

 herapeutische Haltung und T Familiengruppe

Die Familiengruppe bietet als Therapiemodul gute Möglich­ keiten, sowohl die Erziehungsverantwortung der Eltern zu stärken als auch Erfolgserlebnisse zu vermitteln. Jede Idee eines Elternteils, die von anderen Eltern aufgegriffen wird, hat einen doppelten Effekt: Sie hilft einer anderen Familie und stärkt die oder denjenigen mit der guten Idee. zz Fallbeispiel Frau Kluge und Jonas (12), Leon Becker (10) mit seiner Mut­ ter, Familie Rudolf mit Marco (9) sowie Marcel Müller (11) mit Vater und Marie Kling (11) mit Mutter sind in der Multi­ familientherapie. Sie sind dabei, jeder eine Insel zu gestalten. Jonas beschäftigt sich nicht mit seiner eigenen Aufgabe, nimmt der Mutter die Stifte weg und wird zunehmend albern. Frau Kluge spricht Frau R., eine Mitarbeiterin, an, was sie tun solle. Frau R. stellt eine Verbindung zu Frau Kling her, die am selben Tisch sitzt, erinnert sie daran, dass sie letzte Woche eine ähn­ liche Situation mit Marie hatte. Sie fragt nach, wie Frau Kling die Situation letzte Woche gelöst habe. Als sich Frau Kluge und Frau Kling austauschen, zieht sich Frau R. kurz zurück.

Statt selbst aktiv zu sein, geht es immer wieder darum, Eltern anzuregen, die Gruppe zu nutzen, sich gegenseitig Rückmel­ dung zu geben und zu unterstützen. zz Fallbeispiel Frau R. könnte auch Frau Kluge fragen, ob es für sie in Ord­ nung sei, dass die Familien am Tisch einmal gemeinsam überle­ gen, was für Jonas jetzt hilfreich sein könnte. Wenn Frau Kluge einverstanden ist, bittet Frau R. kurz um eine Unterbrechung, benennt noch einmal die Situation und bittet um Ideen der Er­ wachsenen und der Kinder. Zum Abschluss werden Frau Kluge und Jonas gefragt, ob eine passende Idee dabei sei.

Diese Herangehensweise erfordert eine Neudefinition der eige­ nen Rolle: Professionelle sind nicht mehr die „Macher“ oder Ratgeber, das Expertentum für die Problemlösung liegt bei den Familien. Die Aufgabe der Experten besteht darin, einen

31 Therapeutische Haltung

sicheren Rahmen zu schaffen, in dem Familien zu ihren Stär­ ken zurückfinden und in den Austausch miteinander gehen. Asen und Scholz (2009) beschreiben, wie man es vermei­ det, sich in intensiven Einzelgesprächen zu verlieren, und be­ nutzen für ihre Arbeitsweise das Bild des Vogels, der sich kurz niedersetzt, etwas anregt, zwei Eltern in ein Lösungsgespräch verwickelt, um sich dann wieder zu entfernen. Therapeut*in­ nen sitzen nicht lange auf einem Platz, sie wechseln ihre Sitz­ position und arbeiten mit kurzen Interventionen. 3.3

Das therapeutische Team

Zu der therapeutischen Haltung gehört auch, dass eine Multi­ familiensitzung von mindestens zwei Therapeut*innen beglei­ tet wird. Sie unterstützen sich gegenseitig, sprechen sich vor der Gruppe ab und tauschen sich aus, wenn sie unterschied­ licher Meinung sind. Dieses Zusammenspiel zu erleben ist für die Kinder und Jugendlichen hilfreich, da sie andere Strate­ gien der Konfliktlösung kennenlernen, als normalerweise in ihren Familien überwiegen (Asen und Scholz 2017). Die Therapeut*innen sitzen sich gegenüber, sodass sie sich mit Blicken verständigen können. Sie wechseln sich in ihrer Aktivität ab: Während eine/r gestaltet, ist die/der andere wach­ sam und vorbereitet, jederzeit Rückmeldung zu geben und Prozesse zu reflektieren. Im klinischen Kontext ist das therapeutische Team häufig größer, da Kolleg*innen aus dem Pflege- und Erziehungsteam beteiligt sind. Bei größeren Teams ist eine gute Vorbereitung besonders wichtig, in der eine genaue Rollenaufteilung be­ sprochen und festgelegt wird, wer den aktiven Part übernimmt und wer beobachtet (reflektierende Positionen). Bewährt ha­ ben sich gezielte Beobachtungsaufgaben (Beispiele gelungener Kommunikation und des gelungenen Miteinanders). Die Fa­ milien bekommen dann zum Abschluss gezielte Rückmeldun­ gen. Bei einer neu zusammengesetzten Familiengruppe sind die Therapeut*innen zu Beginn sehr aktiv. Sie führen in den Ab­ lauf ein, erläutern Aktionen und bringen die Familien durch gezielte Interventionen miteinander in Kontakt. Wenn sich ein vertrauensvolles Gruppenklima gebildet hat, ziehen sich die Therapeut*innen schrittweise etwas zurück und die Fami­ lien übernehmen mehr Verantwortung für die Gestaltung der Stunde. Dieses Ausschleichen der therapeutischen Aktivität ist nicht immer möglich und muss transparent und vorsichtig ein­ geleitet werden, um die Familien nicht zu überfordern.

Das therapeutische Team als Modell für Konfliktlösungen

3

32

U. Behme-Matthiessen und T. Pletschn

zz Fallbeispiel

3

„In der letzten Multifamiliensitzung haben wir darüber gespro­ chen, Frau Müller, dass es Ihnen in der Gruppe häufig zu laut ist, und Sie, Frau Kling, haben das ähnlich gesehen. Was halten Sie davon, dass wir den Gong hier auf den Tisch legen, und wem es zu laut ist, der schlägt den Gong?“

??Verständnisfragen 1. Erklären Sie den Paradigmenwechsel in der therapeuti­ schen Haltung in der MFT und erläutern Sie ihn an Bei­ spielen. 2. Welche Rolle spielt die Gruppe in der MFT? Beispiele? 3. Beschreiben Sie das therapeutische Team in der MFT.

Literatur Asen, E., & Scholz, M. (2009). Praxis der Multifamilientherapie. Heidelberg: Auer. Asen, E., & Scholz, M. (2017). Handbuch der Multifamilientherapie. Heidel­ berg: Auer. Behme-Matthiessen, U., & Pletsch, T. (2016). Praxis Familiengruppe. ­Aachen: Shaker. Lutz, W. (Hrsg.). (2010). Lehrbuch Psychotherapie. Bern: Huber. Von Schlippe, A., & Schweitzer, J. J. (2012). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen: Vandenhoeck& Ruprecht.

33

Wirkfaktoren Ulrike Behme-Matthiessen und Thomas Pletsch Inhaltsverzeichnis 4.1

Gruppenkohäsion – 34

4.2

Sich gegenseitig gespiegelt sehen – 36

4.3

Modelle nutzen und voneinander lernen – 37

4.4

Laborsituation nutzen/experimentieren – 39

4.5

 egenseitige Unterstützung und Rückmeldung G erfahren – 41

4.6

Ressourcenaktivierung und elterliche Präsenz – 42

4.7

Isolation/Außenseitergefühl überwinden – 44 Literatur – 46

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Behme-Matthiessen, T. Pletsch (Hrsg.), Lehrbuch der Multifamilientherapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61196-8_4

4

34

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

Im Rahmen multifamilientherapeutischer Arbeit können wir unterschiedliche Wirkfaktoren lokalisieren, die im 7 Kap.  6 („Arbeitsmethoden und Interventionstechniken der Multifamilientherapie“) wieder aufgegriffen werden. Durch die Beschreibung spezifischer therapeutischer Prozesse werden diese Wirkfaktoren ergänzt. Einige dieser Aspekte formulieren Asen und Scholz in den „Argumenten für die Multifamilientherapie“ (Asen und Scholz 2009, S. 20).  

4

4.1

Gruppenkohäsion

Wie bei allen gruppenorientierten Verfahren, so spielen auch in der Multifamilientherapie (MFT) das Zusammenwachsen der Gruppe und die Verbindungen der Gruppenteilnehmer*innen miteinander (hier: über die Kontakte innerhalb der eigenen Familie hinaus) eine entscheidende Rolle. Gruppenkohäsion (lat. cohaere: zusammenhängen) beschreibt die Quantität und Qualität der Beziehungen Einzelner in einer Gruppe zueinander. Damit wird durch das „Wir-Gefühl“ der innere Zusammenhalt der Gruppe beschrieben.

»» Die Gruppenkohäsion hängt wesentlich von der Attraktivität der Gruppe für den einzelnen ab. Gruppenkohäsion ist umso größer, je eher Vorteile im Hinblick auf die Erreichung persönlicher Ziele zu erwarten sind. (Wirtschaftslexikon Gabler, Onlineversion 2019)

In der Multifamilientherapie spielen neben dem Erreichen persönlicher Ziele die familiären Ziele eine große Rolle (z. B.: „Wir wollen zu Hause ein friedliches Miteinander haben“). Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die persönlichen Zielsetzungen der einzelnen Familienmitglieder nicht immer deckungsgleich sind. So hat vielleicht das Kind als wichtigstes Ziel für sich, Freunde zu gewinnen, während die Mutter mehr Wert auf Anpassung an familiäre Regeln legt. Unterschiedliche Autoren weisen auf die Bedeutung einer gelingenden Gruppenkohäsion in der Multifamilientherapie hin (siehe Asen und Scholz: Handbuch der Multifamilientherapie, 2017).

»» Voraussetzung

für diese (mentalisierungsbasierte, Anmerkung der Herausgeber) effektive Arbeit mit dem entscheidenden Tiefgang ist jedoch, dass sich die Familien nähergekommen sind, miteinander warm geworden sind. Das bedeutet,

35 Wirkfaktoren

4

dass eine hinreichende Gruppenkohäsion entstanden ist und die MFT-­Fachkräfte zu den Gruppenteilnehmern eine belastbare therapeutische Beziehung aufgebaut haben. (E.  Asen, S. 53 in Asen und Scholz 2017)

Diese belastbare therapeutische Beziehung findet darin ihren Ausdruck, dass die teilnehmenden Familien ein Gefühl dafür bekommen, in dieser Gruppe „sicher“ zu sein. Das heißt, dass die MFT-Therapeut*innen vermitteln, dass in dieser Gruppe ein Schutz vor Beschämung ebenso zur Gruppenethik gehört wie die Erlaubnis, andere als die bisher gewohnten Verhaltensweisen auszuprobieren, ohne vielleicht als „Verlierer“ dazustehen. Abhängig davon, ob eine multifamilientherapeutische Gruppe als sogenannte geschlossene Gruppe (mit gemeinsamen Anfang und Ende) oder als offene Gruppe (beim Verlassen einer Familie aus der bestehenden Gruppe findet sich dafür eine neue Familie ein) agiert, stellen unterschiedliche Kompendien zur Multifamilientherapie entsprechende Praxisaktionen zur Gruppenkohäsion zur Verfügung (siehe z. B. Asen und Scholz 2009; Behme-­Matthiessen und Pletsch 2016). zz Fallbeispiel Aktion zum Thema „Kennenlernen und Ankommen in der Gruppe (Gruppenkohäsion)“ Im Rahmen seines teilstationären Aufenthaltes nimmt Marcel mit seinem Vater zum ersten Mal an der Multifamilientherapie teil. Herr Müller weiß noch nicht viel über MFT und fühlt sich bei dem Gedanken, jetzt gemeinsam mit anderen Familien „Probleme zu wälzen“ eher unwohl. Was gehen ihn die Probleme anderer an? Was, wenn es öffentlich zum Eklat zwischen ihm und Marcel kommt? Marcel hat wenig Lust, mit seinem Vater an einer Gruppe teilzunehmen. Der ist ihm zu streng. Und wenn schon Zeit mit den Eltern verbringen, dann doch lieber mit seiner Mutter! Er weiß noch nicht so genau, was denn dieser Kinderkram bringen soll. Als Einstiegsaktion zur MFT, die Therapeuten sagen zum Aufwärmen, findet heute dann ein „Fußballspiel“ statt: Die Familien sitzen sich in zwei Reihen im Abstand von ca. einem halben Meter gegenüber, die Hände auf dem Rücken. Jede Reihe bildet eine Mannschaft. Gespielt wird mit einem Schaumstoffball. Die Aufgabe für die Mannschaften ist es, den Ball unter der Stuhlreihe der gegenüberliegenden Mannschaft „ins Tor“ zu schießen. Es geht sehr laut, wild und spielerisch-kampflustig zu. Beide Mannschaften wollen

Gruppenkohäsion beschreibt den Aufbau von Vertrauen in einer Gruppe

36

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

gewinnen, Tore werden bejubelt. Man kommt mit seinem Nachbarn ins Gespräch, es wird geflucht und gelacht – so entspannt hätten sich Marcel und Herr Müller das nicht vorgestellt.

Solche Aktionen mögen vielen Neulingen in der Multifamilientherapie auch aus anderen Bezügen, mitunter aus Freizeitaktivitäten, bekannt vorkommen und auf den ersten Blick trivial wirken. Der positive Effekt liegt hier darin, dass genau solche vermeintlichen „Partyspiel-Aktivitäten“ immer wieder als „Eisbrecher“ während der Phase der Gruppenbildung wirken. Daher empfiehlt es sich für Multifamilientherapeut*innen, ein großes Repertoire solcher Aktionen bereitzuhalten. Darüber hinaus gibt es Praxisaktionen, die eine Vernetzung der Familien untereinander in Kleingruppen über den Austausch von „Familiengeschichten“ anregen. So können beispielsweise bestimmte Erlebnisse aus Urlauben oder andere wichtige Ereignisse in Gruppen mit zwei bis drei Familien ausgetauscht und dann im Plenum vorgestellt werden. Es ist die Aufgabe der MFT-Therapeut*innen, aus einer möglichst großen Bandbreite unterschiedliche Aktionen anzubieten, um viele „Eingangstüren“ zur Therapie für die unterschiedlichen Familien zu eröffnen.

4

4.2

Sich gegenseitig gespiegelt sehen

Beim Zusammentreffen der Familien, während der Aufwärmphase und während der unterschiedlichen gemeinsamen Praxisaktionen kommen die Familien nicht umhin, sich anderen Familien interagierend zu zeigen und andere Familien in deren Interaktion zu erleben. Spiegeln im Sinne der Multifamilientherapie bedeutet, eigenes elterliches und kindliches Verhalten im Verhalten anderer Familien während gemeinsamer Aktionen wiederzuentdecken. Der Blick aus der Metaebene unterstützt dabei, das eigene Verhalten neu zu bewerten und gegebenenfalls Korrekturen zu entwickeln.

Gespiegelt sehen bedeutet, eigenes Verhalten in dem Verhalten der anderen wiederzuerkennen

In der Psychotherapie wird Spiegeln in unterschiedlicher Qualität als therapeutische Intervention durch die Therapeut*in eingesetzt. In der Multifamilientherapie funktioniert Spiegeln automatisch durch die Gruppe. Die Familien haben die freie

37 Wirkfaktoren

Wahl, was sie sehen und verwenden, die Therapeut*in tritt dabei als spiegelndes Medium in den Hintergrund. In der Praxis bedeutet das, dass er/sie die Familien dazu anregt, sich gegenseitig zu beobachten und über ihre Beobachtungen zu sprechen. Die Therapeut*in selbst zieht sich zurück, wenn die Familien sich auf diesen Prozess einlassen. Eine Erfahrung für die Eltern kann dabei sein, dass sie sich selbst als Spiegel zum Verhalten anderer Familien erleben oder eigenes Verhalten im Verhalten anderer Eltern gespiegelt sehen. zz Fallbeispiel „Spiegeln“ im Verlauf einer MFT-Aktion Die Praxisaufgabe der Familiengruppe ist heute das Erstellen einer Collage mit dem Titel „Was ist typisch für unsere Familie?“. Leon sitzt mit seiner Mutter, Frau Kluge, an einem Gruppentisch, an dem auch Familie Junge sitzt. Deren Sohn Karl beklagt sich darüber, nicht zu wissen, was er ausschneiden soll. Er wird weinerlich, drängt sich immer dichter an seine Mutter heran und fordert sie auf, ihm zu sagen, was er tun soll. Auf ihre Vorschläge reagiert er gereizt und ablehnend, „das ist doch alles nicht richtig“. Frau Junge wirkt mittlerweile genervt und hilflos, unterbricht diese Dynamik jedoch nicht, sondern macht immer weiter Vorschläge. Frau Kluge erinnert sich an Situationen, in denen sie Leon immer wieder Vorschläge machte, die ihm das Betreten des Klassenzimmers in der Schule erleichtern sollten. Leon lehnte dann alle Vorschläge ab, wurde immer weinerlicher und klammerte sich immer fester an sie. Anstatt ihm klar zu sagen, was sie von ihm erwartet, nahm sie ihn immer wieder tröstend in den Arm, obwohl sie im Grunde ärgerlich auf Leon war. Sie denkt sich jetzt beim Beobachten der Situation mit Familie Junge: „So sieht das also aus, wenn ich mit Leon diese Auseinandersetzungen habe. Ich glaube, Karl sollte von seiner Mutter hören, was sie jetzt konkret von ihm möchte, welches Verhalten sie von ihm erwartet.“

4.3

Modelle nutzen und voneinander lernen

Die Multifamilientherapie bietet den Eltern und Kindern einen Fächer an Möglichkeiten, neue Strategien im Umgang miteinander zu entwickeln. Dies kann durch die Beobachtung der anderen Familien in vergleichbaren Situationen geschehen. Es entwickelt sich aber auch in gezielt eingesetzten Interventionen, z. B. während einer Reflexion in der Gruppe über

Das Modell anderer Familien erweitert das Handlungsspektrum

4

38

4

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

eine Krisensituation einer Familie. Durch das Erleben, dass die Familien „alle in einem Boot sitzen“, ist keinem der Beteiligten eine schwierige Situation in der Familie fremd – ebenso wenig wie das Bestreben, dafür eine Lösung zu finden. Sehe ich als Elternteil, wie eine andere Mutter in ruhigem Ton und scheinbar gelassen auf ihr wütendes Kind reagiert, lädt mich das dazu ein, beim nächsten Streit vielleicht auch einmal in ruhigerem Ton zu reagieren. Oder ich beobachte einen Vater, der seinem oppositionellen Kind in klaren und kurzen Sätzen sagt, was er jetzt von ihm verlangt. Vielleicht beobachte ich auch eine Mutter, die nach vorheriger Ankündigung bei wiederholtem oppositionellem Verhalten ihres Kindes die Therapieeinheit abbricht und (zum Erstaunen des Kindes) den Raum verlässt. So habe ich als Elternteil drei unterschiedliche Möglichkeiten des Umgangs mit oppositionellem Verhalten erlebt und kann abwägen, ob für mich ein passendes Verhalten dabei ist oder ob ich daraus eine ganz andere Variante selbst entwickle. zz Fallbeispiel Auswahl unterschiedlicher Handlungsmöglichkeiten Marie nimmt mit ihrer Mutter, Frau Kling, an einem schulbezogenen multifamilientherapeutischen Angebot teil. Immer wieder meldet sich Marie, um ihrer Mutter oft Belanglosigkeiten mitzuteilen. „Das ist wie zu Hause bei den Hausaufgaben“, denkt sich Frau Kling resigniert. „Du bekommst ja heute Fersengeld“, kommentiert Jonas‘ Mutter das Geschehen. Schließlich beobachtet Frau Kling, wie Marcos Pflegevater mit der Lehrerin Absprachen trifft, wann Marco sich melden kann, um den Pflegevater an seiner Seite zu haben. Daneben beobachtet sie, dass Leons Mutter zu Karl geht, wenn dieser sich meldet. „Das war bei uns am Anfang genauso wie bei dir“, erklärt Karls Vater. „Seit Karl weiß, dass er mich nicht so auf Trab halten kann und dass jemand anderes zu ihm geht, wenn er sich so oft meldet, kommen wir entspannter miteinander klar. Jetzt lernt er das für die Heimatschule: eigenständiger zu arbeiten.“ Frau Kling bedenkt beide Möglichkeiten und teilt Marie mit: „Wenn du die ersten beiden Türme in Mathe gerechnet hast, dann komme ich zu dir. Wenn vorher etwas ist, holst du dir Hilfe von der Lehrerin.“

Peter Schellenbaum beschreibt dies mit dem Begriff der Leitbildspiegelung: „Ich kommuniziere mit dem anderen in einem Bereich, der einen … zentralen Persönlichkeitsanteil in ihm bildet und dessen Entwicklung eben jetzt für mich angezeigt ist“ (Schellenbaum 1966). Bestimmte Verhaltensmöglichkeiten liegen also sozusagen bei den Eltern „in den Startlöchern“

39 Wirkfaktoren

4

und werden durch den Kontakt und die Beobachtungen anderer Familien in der Gruppe zur Aktion angeregt. Natürlich vollzieht sich dieser Prozess auch bei den Kindern. Auch sie sind damit konfrontiert, eigenes, dysfunktionales Verhalten zu verändern und können dazu Anregungen bei anderen Kindern in der Gruppe entdecken. Fallbeispiel Marcel nimmt mit seinem Vater und seinem Bruder an der Multifamilientherapie teil. Während der Aktion (Gestaltung eines Plakates mit Stärken der einzelnen Familienmitglieder) kommt es immer wieder zu Streit zwischen den Geschwistern, dabei wirkt der Vater hilflos und zurückhaltend. Nach Absprache zwischen dem Therapeuten und Herrn Müller wird die Gruppe nach Ideen für den Umgang mit dieser Situation gefragt. Eine Mutter schlägt vor, dass Herr Müller sich zwischen seine beiden Jungs setzt. Das habe ihr in solchen Situationen oft geholfen. Ein anderes Kind macht den Brüdern den Vorschlag „Jeder von euch kann sich doch auf eine Ecke des großen Plakates konzentrieren und nur seine eigenen Sachen aufmalen. Den anderen kann man ja dann in Ruhe lassen“. Herr Müller und seine beiden Söhne beobachten danach noch kurz, wie die anderen Gruppenteilnehmer sich ihren Arbeiten widmen, und entwickeln dann eine Lösung für sich.

4.4

Laborsituation nutzen/experimentieren

Während der Multifamilientherapie äußern Eltern immer wieder die Bedenken, dass es in dieser Konstellation ja gut funktionieren muss: In einer Gruppe mit sieben Kindern plus eventuell einigen Geschwisterkindern, stehen (mindestens) sieben Elternteile und die MFT-­Therapeut*innen innerhalb eines strukturierten Rahmens zur Verfügung. Der Einwand einiger Eltern „Klar, dass es hier klappt, aber das ist ja in Wirklichkeit alles ganz anders“ sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass eben diese „Laborsituation“ Chancen für die Familien birgt. Dieser Rahmen bietet die Möglichkeit, unterschiedliche Reaktionen auf problematisches Verhalten und dabei andere, ungewohnte Interaktionsmuster auszuprobieren. Eine „sichere“ Gruppe und eine tragfähige therapeutische Beziehung schaffen ein Klima, in dem frei von Beschämung mit neuem Verhalten experimentiert werden kann. Im Vergleich dazu dürfte es den meisten Eltern unangenehmer sein, Konflikte mit ihrem Kind öffentlich im Supermarkt an der Kasse oder auf der örtlichen Einkaufs-

Die Familiengruppe als Experimentierraum nutzen

40

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

straße auszutragen. Die Aufgabe der MFT-­Therapeut*innen besteht unter anderem darin, Eltern zu ermuntern, das Labor zu nutzen und Experimente zu wagen, um ihre Erziehungskompetenzen zu erweitern. zz Fallbeispiel

4

Marco nimmt mit seinem Pflegevater und seinem jüngeren Bruder an der Multifamilientherapie teil. Sie haben die Aufgabe, gemeinsam einen Turm aus unterschiedlichen Papiermaterialien zu bauen. Dabei kommt es immer wieder zum Streit zwischen den Geschwistern: Marco bevormundet seinen jüngeren Bruder und möchte ihm immer wieder vorschreiben, was seine Aufgabe ist. Der kleine Bruder reagiert darauf verärgert und schlägt nach Marco. Herr Rudolf wirkt dabei angestrengt und starr auf seine Tätigkeit konzentriert. Darauf vom Therapeuten angesprochen („Ich habe den Eindruck, dass Sie und Ihre Jungs nicht so richtig ins gemeinsame Arbeiten kommen. Sehen Sie das auch so?“) erwidert Herr Rudolf: „Ja, das ist genau wie zu Hause. Da will ich mit den beiden etwas Schönes machen, und dann passiert so etwas. Ich weiß auch nicht mehr weiter.“ In der Elterngruppe werden daraufhin, mithilfe der Moderation durch die Therapeutin, gemeinsam Ideen erarbeitet, die zu einer Lösung führen könnten. Herr Rudolf probiert anschließend eine für ihn neue Möglichkeit aus, mit dieser Situation umzugehen, und nutzt die Gruppe, um seine Erfahrungen zu reflektieren. Er resümiert anschließend: „Es ist gut, einen Ort zu haben, wo ich mal was Neues ausprobieren kann. Auch wenn‘s mal schiefgeht. Dann überlege ich mit den anderen weiter.“ Tipp

Weitere praktische Möglichkeiten, im „MFT-Labor“ zu experimentieren sind: Elterntausch: Ein Elternteil arbeitet temporär mit dem Kind einer anderen Familie zusammen. Dies führt vielleicht zur Entlastung für die andere Familie, gerade wenn es dauerhaft zu Konflikten kommt. Dabei kann das Gastelternteil im Anschluss an den Tausch mit den Eltern des Gastkindes reflektieren, was im Umgang mit dem Kind hilfreich war. Nebenbei machen die Eltern die Erfahrung, dass, auch wenn sie mit dem eigenen Kind immer wieder an ihre Grenzen kommen, sie doch als Eltern über Erziehungskompetenz verfügen(siehe auch 7 Kap. 6). Außenspiegel: Eine Intervention, die häufig im schulischen MFT-Kontext zur Anwendung kommt. Dabei sitzen die Eltern während des Elterncoachings in einem Nebenraum zum Klassenzimmer (siehe auch „FiSch  – Familie in Schule“,  

41 Wirkfaktoren

4

7 Kap.  11). Manchmal scheint es dienlich, dysfunktionale Dynamiken zu unterbrechen, indem der direkte Sichtkontakt zwischen Eltern und Kind unterbrochen wird. Die Mutter von Jonas setzt sich im Nebenraum in der Elternrunde so, dass Jonas keinen Sichtkontakt zu ihr hat. Eine andere Mutter nimmt stattdessen den „Sichtkontaktplatz“ ein und kann Jonas‘ Mutter spiegelnd berichten, was Jonas gerade macht. Tippgeberrunde: Eine Familie scheint während der praktischen Aktionen immer wieder in Konflikte zu geraten. Die MFT-Therapeut*in unterbricht, nachdem sie sich von der Familie das Einverständnis geholt hat, die gesamte Gruppenaktion und schildert kurz die Problemlage. Jetzt werden die übrigen Familien, Eltern sowie Kinder eingeladen, Lösungsvorschläge zu machen. Nach dieser „Tippgeberrunde“ bedankt sich die Therapeut*in bei den Familien, die weiter an ihren Praxisaktionen arbeiten, und bespricht mit der betroffenen Familie, welche Lösungsvorschläge hilfreich waren.  

4.5

 egenseitige Unterstützung und G Rückmeldung erfahren

Die therapeutische Haltung in der Multifamilientherapie, sich als professionelle Fachkraft zurückzunehmen und die Familien mit ihren Kompetenzen in den Fokus zu rücken, fördert auch die Reifung eines Unterstützersystems in der Gruppe. Dieser Effekt entspricht der Aussage der Studien von Grawe und Miller, dass 40 % der Wirkfaktoren an außertherapeutische Bedingungen geknüpft sind (Grawe 1994; Miller et.al. 2000, in Asen und Scholz 2009). Zu diesen außertherapeutischen Bedingungen wird unter anderem auch die soziale Unterstützung gezählt, die Familien erfahren: „… ein Faktor, der durch die Multifamilientherapie wahrscheinlich besonders angesprochen wird“ (Asen und Scholz 2009). In der Praxis zeigt sich immer wieder, dass Rückmeldungen der Eltern untereinander unvermittelter und direkter platziert werden und anscheinend auch entsprechend direkter beim Adressaten landen. Die Rückmeldung einer Mutter an eine andere – „So pampig, wie du mit deinem Kind redest – da würde ich dir auch nicht mehr antworten“  – mag sehr rüde klingen, bringt jedoch mögliche Problemlagen schneller auf den Punkt. Die Therapeutin hätte vielleicht einen ähnlichen Impuls, ist jedoch innerhalb ihrer Rolle zu einer anderen Formulierung und weniger direktiven Aussage aufgefordert. Geraten diese beiden Mütter jetzt in einen Austausch darüber, was ein angemessener und erfolgversprechenderer Umgangs-

Gegenseitige Rückmeldung häufig direkter und dadurch wirksamer

42

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

ton mit Kindern ist, ergeben sich meist passendere Alternativen, als sie aus den Vorschlägen der Therapeutin hätten entstehen können. Die Eltern finden so schneller ihre eigenen, für sie passenden und damit authentischen Formulierungen im Umgang mit ihren Kindern. Ändert ein Elternteil nach einer solchen Diskussion sein Verhalten zielführend, wirkt das Lob, das darauf von anderen Eltern kommt, ebenfalls treffsicherer. Das Lob der Therapeutin „Das war großartig, wie Sie das gemacht haben“ verfehlt seine Wirkung sicher nicht, das Lob anderer Eltern hat zusätzlich die Qualität der Bedingungslosigkeit Gleichgesinnter.

4

zz Fallbeispiel Gegenseitige Unterstützung und Rückmeldung Frau Becker hat den Eindruck, mit Leons schulischer Entwicklung kaum einen Schritt vorwärts zu kommen: Immer wieder weigert er sich, über längere Zeit eigenständig in der Schule mitzuarbeiten. Immer wieder fordert er seine Mutter während des Multifamilientherapietages auf, neben ihm zu sitzen. Frau Becker ist enttäuscht, den Tränen nah. Frau Kluge sitzt neben Frau Becker im Elternkreis im Nebenraum zum Klassenzimmer und tröstet sie. „Ich kann dich gut verstehen. Da denkt man: ich tue doch alles, damit er auf eigenen Füßen steht, und dann so was. Das ist frustrierend. Was hältst du davon, wenn ich dich heute vertrete? Wenn Leon was möchte, gehe ich zu ihm, mal sehen, wie er reagiert! Hältst du das denn aus?“ Mit der Unterstützung aus der Elterngruppe zieht sich Leons Mutter ein Stück weit mehr zurück, sodass Leon selbstverantwortlicher arbeiten muss. Die Rückmeldung der anderen Eltern an sie, „Stark, dass du das durchgehalten hast“, tut ihr nach ihrer eigenen Aussage gut und ermuntert sie, mit dieser Strategie weiterzuarbeiten.

4.6

Stärkung der elterlichen Präsenz durch Entdecken neuer Ressourcen

 essourcenaktivierung und elterliche R Präsenz

Das Selbstwirksamkeitserleben vieler Eltern ist zu Beginn der Multifamilientherapiegruppen sehr gering. Häufig haben sie über lange Zeiträume wenige Erfolge ihrer erzieherischen Arbeit erfahren. Hinzu kommen zunehmende Rückmeldungen aus dem sozialen Umfeld wie Schule und Familie, das eigene Kind würde bestimmten Anpassungsleistungen nicht genügen oder zu wenige soziale Fertigkeiten zeigen. Im Rückschluss erleben diese Eltern sich selbst oft als hilflos und insuffizient in ihrer Elternrolle. Im Rahmen der Multifamilientherapie wird

43 Wirkfaktoren

den Eltern ein Forum geboten, eigene Kompetenzen wieder zu erfahren. Wenn ich als Elternteil z. B. im Umgang mit einem anderen Kind einen Erfolg erlebe, kann dies zu der Erkenntnis führen, dass ich doch mehr hinkriege, als ich es von mir selbst angenommen habe. Durch die Rückmeldung anderer Eltern „Das war bei uns am Anfang genauso! Jetzt, nach drei Monaten, sehen wir deutliche Unterschiede, es läuft vieles besser“ wird Hoffnung geweckt, dass es auch für die vertrackte Situation in der eigenen Familie Lösungen gibt. Auch das spornt an, Verantwortung für eigenes elterliches Handeln zu übernehmen. Zum Erleben elterlicher Präsenz gehört es auch, die Erfahrung zu machen, dass ich nicht alles alleine regeln muss, sondern dass es gut und hilfreich ist, mir Unterstützer zu holen (andere Eltern, Freunde, Verwandte). Durch die Aktivierung ihrer Ressourcen erfahren die Familien eine Entwicklung von der erlebten Hilflosigkeit beim Umgang mit Konflikten hin zum Erleben eigener Kompetenzen. zz Fallbeispiel Marco besucht mit seinem Pflegevater die Multifamilientherapie. Genau wie letzte Woche, so zeigt sich Marco auch heute: an der Anfangsaktion, dem gemeinsamen Spiel in der großen Gruppe, beteiligt er sich. Danach, während der gemeinsamen Praxisaktion mit seinem Vater, verlässt er den Therapieraum und geht nach draußen. Herr Rudolf, sein Pflegevater, läuft ihm, nach Diskussionen in der Elterngruppe, was jetzt zu tun sein könnte, nicht hinterher, sondern bleibt im Gruppenraum. „Ich weiß, dass Marco oft Probleme in solchen großen Gruppen hat. Und ich möchte, dass Marco sieht, wie wichtig mir die gemeinsame Aktion ist. Das möchte ich nicht mit ihm verhandeln, er kann es sehen.“ Zur nächsten Stunde kommt Marco mit in den Gruppenraum und nimmt aktiv mit seinem Pflegevater an der Praxisaktion teil. Herr Rudolf bekommt für seine Ruhe und Beharrlichkeit, die er Marco gegenüber gezeigt hat, aufrichtige Komplimente von den anderen Eltern. Marco bekommt aus der Gruppe Lob und Anerkennung dafür, dass er sich nach so einer schwierigen Situation anders entschieden hat und teilnimmt.

In Anlehnung an Haim Omer zeigt sich hier, dass elterliche Präsenz darin zum Ausdruck kommt, dass die Eltern sowohl ihre eigenen Bedürfnisse als auch die des Kindes wahrzunehmen in der Lage sind. Haim Omer (Omer und von Schlippe 2006) beschreibt ein Konzept elterlicher Autorität durch Beziehung und ohne Gewalt und legt dar, dass es durch eine Autorität, die auf Dis-

Das Präsenzkonzept: Autorität durch Beziehung

4

44

4

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

tanz, Furcht und Bestrafung begründet ist, zu einem Verlust an Bezogenheit zwischen Eltern und Kind kommt. Als Alternative beschreibt er eine Autorität durch Beziehung, die charakterisiert ist durch elterliche Präsenz, Selbstkontrolle und die Nutzung von Unterstützungssystemen. Einen besonderen Stellenwert haben für Haim Omer dabei die Transparenz des Verhaltens der Erziehungspersonen, eine Grenzsetzung der Erziehungspersonen durch Entschlossenheit ohne Gewalt sowie das Aufzeigen von verschiedenen Möglichkeiten der Versöhnung und der Wiedergutmachung. Aus dieser Haltung lässt sich meist eine angemessene Entscheidung im Sinne der Erziehungsverantwortung treffen, die Eltern ihren Kindern gegenüber haben. „Durch persönliche Präsenz und die wachsame Sorge der Erwachsenen wird ein Rahmen für einen erfolgreichen Entwicklungsprozess hergestellt. Dadurch wird ein respektvolles, konstruktives Miteinander ermöglicht, das zur Erreichung der gewünschten Ziele beiträgt.“ 4.7

Isolation/Außenseitergefühl überwinden

Häufig berichten Eltern nach der ersten Teilnahme an der multifamilientherapeutischen Gruppe, dass sie vorher unsicher und nervös waren, wie es denn werden wird: sich anderen, Fremden mit seinen privaten Problemen zu zeigen, anderen Familien bei ihren Schwierigkeiten im Umgang miteinander zuzusehen und auf ungewohnte Weise Nähe zu unterschiedlichen Familien aus unterschiedlichen sozialen Schichten zu zeigen. Als Reaktion im Nachhinein gibt es meist eine erleichterte und etwas überraschte Rückmeldung; meist wird es als wohltuend erlebt zu sehen, dass es auch andere Familien gibt, die ähnliche Probleme haben. zz Fallbeispiel Überwindung von Isolation Jonas hat mit seinen Eltern zum ersten Mal an der MFTGruppe teilgenommen. Während der Pause, zwischen der gemeinsamen Aktion und der Abschlussreflexion, hört die Therapeutin, wie Jonas‘ Vater, Herr Kluge, sich dem Pflegevater von Marco, Herrn Rudolf, zuwendet: „Ich muss sagen, dass ich ganz froh bin zu sehen, dass es auch anderen so geht wie uns! Wir dachten immer, wir sind die Einzigen im Universum, die das mit ihrem Jungen irgendwie noch nicht so gut auf die Reihe kriegen. Richtig geschämt haben wir uns! Ich hab‘ den Eindruck, dass es irgendwie allen hier so geht, dass man denkt, man ist als Eltern nicht gut genug, obwohl man doch

45 Wirkfaktoren

das Beste will und alles tut, was man kann. Ich bin jetzt ganz froh, dass wir von euch einfach so verstanden werden, ohne schon wieder irgendwas erklären zu müssen, warum das jetzt mit Jonas so ist.“

»» Der Austausch in der Elterngruppe entlastet die Eltern. Sie

fühlen sich oft in Kindergarten und Schule als Außenseiter („die einzigen mit einem so schwierigen Kind“) und erleben sich als Versager. In dieser Gruppe besteht die Gelegenheit, über die eigenen Belastungen im Zusammenleben mit einem vermeintlich „erziehungsschwierigen“ Kind zu reden. Durch das Erleben anderer Kinder mit ähnlicher Problematik relativiert sich die eigene Situation. Auch das Aussprechen von Schuldgefühlen wird erleichtert. (Behme-Matthiessen und Pletsch 2016, S. 35)

Zusammengefasst beschreiben Asen und Scholz wie oben bemerkt folgende Argumente, die für die Multifamilientherapie sprechen: Wirkfaktoren der Multifamilientherapie (modifiziert nach Asen und Scholz 2009, S. 20/21) 55 Förderung von Solidarität 55 Stigmatisierung und schambedingte Isolation überwinden 55 Anregungen zu neuen Sichtweisen und Perspektiven 55 Voneinander lernen 55 Sich in anderen „gespiegelt“ sehen 55 Gegenseitige Unterstützung und Rückmeldung 55 Kompetenzen entdecken und erweitern 55 Mit „Pflegefamilien“ und Surrogaten experimentieren 55 Hoffnung wecken 55 Neue Verhaltens-/Erziehungsmuster im „Schonraum“ üben 55 Offenheit durch „öffentlichen“ Austausch schaffen

??Verständnisfragen 1. Was beschreibt der Begriff der Gruppenkohäsion? 2. Nennen Sie fünf Wirkfaktoren der Multifamilientherapie. 3. Was bedeutet „spiegeln“ als Wirkfaktor der Multifamilientherapie? 4. Welche praktische Möglichkeiten kennen Sie, die zum Experimentieren im „MFT-Labor“ geeignet sind? 5. Wodurch ist die von Haim Omer beschriebene elterliche Autorität charakterisiert?

Überwinden von Isolation durch das Entdecken von Gemeinsamkeiten mit anderen Eltern

4

46

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

Literatur

4

Asen, E., & Scholz, M. (2009). Praxis der Multifamilientherapie. Heidelberg: Carl-­Auer Verlag. Asen, E., & Scholz, M. (2017). Handbuch der Multifamilientherapie. ­Heidelberg: Carl-Auer Verlag. Behme-Matthiessen, U., & Pletsch, T. (2016). Praxis Familiengruppe. ­Aachen: Shaker Verlag. Grawe. (1994). Psychotherapie im Wandel. Bern: Hogrefe. https://wirtschaftslexikon.­gabler.­de https://wirtschaftslexikon.­gabler.­de/definition/gruppenkohaesion-3255. Zugegriffen am 04.07.2020. Omer, H, & von Schlippe, A. (2006). Autorität durch Beziehung. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Schellenbaum, P. (1966). Das Nein in der Liebe. Stuttgart: Kreuz Verlag. https://www.neueautoritaet.at. Zugegriffen am 04.07.2020.

47

Indikation und Kontraindikation Ulrike Behme-Matthiessen und Thomas Pletsch Inhaltsverzeichnis 5.1

Indikationen – 48

5.1.1 5.1.2

 eziehung und Interaktion – 48 B Familiäre Kommunikation – 48

5.2

Besondere Herausforderungen – 49

5.3

Kontraindikationen – 50 Literatur – 51

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Behme-Matthiessen, T. Pletsch (Hrsg.), Lehrbuch der Multifamilientherapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61196-8_5

5

48

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

5.1

Indikationen

5.1.1 Multifamilientherapie setzt einen Schwerpunkt auf Beziehungs- und Interaktionsstörungen

5

Bei der Behandlung von psychischen Störungen legt die Multifamilientherapie einen besonderen Schwerpunkt auf Beziehungs- und Interaktionsstörungen. Die soziale Entwicklung vollzieht sich zwischen den Polen Bindung und Autonomie. Je nach Entwicklungsstand sind Bindungs- und Autonomiebedürfnisse unterschiedlich ausgeprägt. Wichtig ist für eine gesunde Entwicklung, dass sowohl die Sicherheit einer zuverlässigen Bindungsperson wie auch die Möglichkeit, sich von dieser zu lösen und die Umgebung zu erkunden, vorhanden ist. Gelingt dieses Wechselspiel nicht, haben wir es mit Eltern-Kind-Beziehungen zu tun, die durch fehlende Nähe und gegenseitige Verunsicherung gekennzeichnet sind. In solchen Konstellationen kommen Eltern zum Teil nicht ausreichend ihrer elterlichen Fürsorgepflicht nach, sie sind stark mit sich beschäftigt und verlieren dabei ihre Kinder aus den Augen. Die Kinder reagieren darauf nicht selten mit grenzsuchendem Verhalten, aber auch mit Rückzug und Resignation. Haben wir es mit zu großer Nähe zu tun, so ist das Elternteil fast ausschließlich mit dem eigenen Kind beschäftigt, unterscheidet nur schwer zwischen eigener Befindlichkeit und Befindlichkeit des Kindes. Diese Kinder lösen sich nur schwer von ihrem Elternteil, auch die Eltern lassen sich nur begrenzt auf eigene Aktivitäten ein, haben ihr Kinder ständig im Blick. Nicht selten antworten sie für die Kinder, erledigen Aufgaben für sie und trauen ihren Kindern wenig zu. Die Interaktionsprobleme, die hieraus entstehen, reichen von respektlosem Umgang mit gereiztem Ton und gegenseitigen Abwertungen bis zu einer symbiotischen Kommunikation, bei der jeder zu wissen glaubt, was die/der andere denkt und fühlt, und für den anderen spricht. Die Multifamilientherapie bietet durch ihren handlungsbezogenen Ansatz die Möglichkeit, Bindungs- und Interaktionsstile gespiegelt zu bekommen und neue Erfahrungen im Miteinander zu machen. 5.1.2

Phasenspezifische Entwicklungsaufgaben sind Inhalt multifamilientherapeutischer Interventionen

Beziehung und Interaktion

Familiäre Kommunikation

In jeder Lebensphase gibt es entwicklungspsychologische Aufgaben (Cierpka 1996), die Kinder und Eltern zu bewältigen haben und die Einfluss auf die familiäre Kommunikation haben. Multifamilientherapie bietet einen Rahmen, um sich mit den verschiedenen Aspekten der familiären Kommunikation zu be-

49 Indikation und Kontraindikation

5

schäftigen. Phasenspezifische Entwicklungsaufgaben sollten in der Planung der multifamilientherapeutischen Interventionen Berücksichtigung finden (U. Röttger in E. Asen und Scholz 2017). Im Kleinkind und Vorschulalter stehen Bindungssicherheit und Beziehungsregulation im Vordergrund. In dieser Altersgruppe spielt in der Multifamilientherapie die gemeinsame positive Spielzeit eine wichtige Rolle, aber auch das Trennen der Kindergruppe und Elterngruppe. Hier können sich die Eltern unter Anleitung mit anderen Eltern darüber austauschen, was Kinder dieser Altersgruppe können müssen und was sie an elterlicher Fürsorge brauchen. Im Grundschulalter werden die Kinder zunehmend selbstständiger. In diesem Alter kann die Paarbeziehung wieder mehr Raum einnehmen. Abstimmungen zwischen den Eltern, besonders bei unterschiedlichen Erziehungshaltungen bekommen eine größere Bedeutung. Zur Stärkung des Familienzusammenhaltes gilt es, Abläufe des Familienalltags zu planen und Rituale zu entwickeln. Im Jugendalter sind die Ablösung und das Austesten von Grenzen zentrale Themen. Die zunehmende Autonomie der Kinder stellt die Eltern vor die Herausforderung, eigene Wünsche wie auch die Paar- und Elternrolle erneut zu überdenken. In dieser Phase wird sehr viel ausgehandelt, Grenzen werden neu definiert, Absprachen getroffen. Ein wichtiges Thema ist „Verantwortung“(„Wer ist wofür zuständig?“, „Wer entscheidet?“). Bei der Multifamilientherapie mit Jugendlichen ist der Redeanteil sehr viel stärker, geeignet sind unterschiedliche Reflexionssettings („Reflecting Families“, siehe 7 Kap. 6). 5.2

Besondere Herausforderungen

Bestimmte Bedingungen sind zwar kein Ausschlusskriterium für eine Multifamilientherapie, erfordern aber eine besondere Vorbereitung und immer wieder (möglichst gemeinsam mit der Familie) eine erneute Überprüfung, ob der therapeutische Nutzen gegeben ist (Vortrag Röttger, Weinsberg 2019). zz Eltern

55 Sehr dominante Eltern mit eigener Psychopathologie 55 Eltern sind geschieden oder getrennt lebend und haben noch deutliche Probleme miteinander 55 Depressiv sehr beeinträchtigte Eltern, die wenig schwingungsfähig sind 55 Skepsis und geringe Veränderungsmotivation 55 Unregelmäßige Teilnahme

Bedingungen, die eine besondere Vorbereitung der Multifamilientherapie erfordern

50

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

zz Kinder und Jugendliche

55 Kurze Aufmerksamkeitsspanne der kleinen Kinder 55 Jugendliche leben nicht mehr zu Hause, sondern im Heim (Welche Voraussetzungen müssen für eine Teilnahme an der MFT gegeben sein?) 55 Kognitiv schwache Kinder und Jugendliche (Überforderung bei bestimmten Aufgaben)

zz Familie

5

55 Patchworkfamilien (Wer kommt mit wem wann in die MFT?) 55 Familiengeheimnisse und Kommunikationsblockaden 55 Festgefahrene Muster: Über Jahre zerstrittene Familien mit Sündenbockzuweisung an die Jugendlichen oder Kinder 55 Fehlende Generationsgrenzen zwischen Eltern und Großelterngeneration

5.3 Ausschlusskriterien für eine Multifamilientherapie beziehen sich auf Ressourcen und psychische Stabilität der Eltern

Kontraindikationen

Wie schon oben erwähnt, gibt es für die Arbeit mit Familiengruppen ein breites Indikationsspektrum (E. Asen 2009). Ausschlusskriterien beziehen sich eher auf Ressourcen und psychische Stabilität der Eltern. Nicht geeignet ist Multifamilientherapie für Eltern, die sich von einem Gruppenkontext überfordert fühlen. Auch bei Eltern, die sich in ihrem Erziehungsverhalten und ihrer Elternrolle sehr verunsichert fühlen, bei ausgesprochen unruhigen Kindern oder extrem konflikthafter Eltern-Kind-Interaktion muss sorgfältig besprochen werden, ob die Familie von diesem Angebot profitiert. Leider stellen sich einige Kontraindikationen erst im Verlauf einer Behandlung heraus. Dann kann z. B. im Rahmen der wöchentlichen Visiten entschieden werden, ob die Teilnahme an der Gruppe weiter Sinn macht oder beendet wird. Die Entscheidung wird möglichst mit der Gruppe besprochen und den Familien gegenüber begründet. Wichtige Aspekte dabei sind der Zeitpunkt (Ist der jetzige Zeitpunkt für eine Behandlung überhaupt geeignet?) oder passendere Alternativen (Sollten stärkende Angebote vorgeschaltet werden oder sind sie überhaupt die bessere Alternative?). In folgenden Fällen ist eine Multifamilientherapie kontraindiziert (Röttger, Vortrag Weinsberg 2019): 55 Psychisch stark beeinträchtigte Eltern, die nicht gruppenfähig sind

51 Indikation und Kontraindikation

55 Eskalierende familiäre Konflikte mit Fremdunterbringung der Kinder 55 Sexueller Missbrauch 55 Emotionale Misshandlung der Kinder und Jugendlichen aufgrund eigener Psychopathologie der Eltern 55 Kindesmisshandlung mit Kindeswohlgefährdung, schwere Formen von Vernachlässigung 55 Akute psychotische Erkrankung des Jugendlichen 55 Suchterkrankung der Eltern ??Verständnisfragen 1. Erläutern Sie die Möglichkeiten der MFT bei Beziehungs- und Interaktionsstörungen. 2. Nennen Sie alterstypische Merkmale der familiären Kommunikation und entsprechende MFT-Interven­ tionen. 3. Nennen Sie eine herausfordernde Konstellation und überlegen Sie, welche Argumente im Team für und gegen eine mögliche Therapie ausgetauscht werden. 4. Nennen Sie die Kontraindikationen und begründen Sie, warum MFT kontraindiziert ist.

Literatur Asen, E., & Scholz, M. (2009). Praxis der Multifamilientherapie. Heidelberg: Auer. Asen, E., & Scholz, M. (2017). Handbuch der Multifamilientherapie. Heidelberg: Auer. Behme-Matthiessen, U., & Pletsch, P. (2016). Praxis Familiengruppe. ­Aachen: Shaker. Cierpka, M. (1996). Kapitel 10: „Familiäre Lebenszyklen“. Handbuch der Familiendiagnostik, (S. 175–184). Berlin-Heidelberg: Springer. Röttger, U. (2017). Familienorientierte tagesklinische kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung. In E. Asen & M. Scholz (Hrsg.), Handbuch der Multifamilientherapie. Heidelberg: Auer. Röttger, U. „Multifamilientherapie als Behandlungsbaustein tagesklinischer Behandlung von Kindern“ Vortrag auf dem Arbeitstreffen der BAGMFT im Klinikum Weinsberg, 07.05.2019.

5

53

Arbeitsmethoden und Interventionstechniken der Multifamilientherapie Ulrike Behme-Matthiessen und Thomas Pletsch Inhaltsverzeichnis 6.1

Aktion – Reflexion – Transfer (ART-Modell) – 54

6.2

Das 5-Schritte-Modell – 55

6.2.1 6.2.2

 ffnen in die Gruppe – 58 Ö Wertschätzung – 59

6.3

Mentalisieren – 59

6.3.1 6.3.2 6.3.3

F unktion und Nutzen des Mentalisierens – 60 Ziele und Techniken – 62 Mentalisierungsfördernde Interventionen – 63

6.4

Verantwortungsübergabe – 65

6.5

Reflektieren – 65

6.6

Elterntausch und Tandem – 67

6.7

Videofeedback – 68 Literatur – 69

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Behme-Matthiessen, T. Pletsch (Hrsg.), Lehrbuch der Multifamilientherapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61196-8_6

6

54

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

6.1

Aktion – Reflexion – Transfer (ART-Modell)

Bei der Multifamilientherapie werden bei den therapeutischen Interventionen drei Ebenen betrachtet: 55 Aktion: Gemeinsame Aktionen, die die Möglichkeit bieten, sich spielerisch mit Familienthemen zu beschäftigen. 55 Reflexion: Nach der Aktion wird das Verhalten reflektiert, es erfolgt eine Anerkennung und die Erfolgsanalyse, um herauszufinden, was genau geholfen hat. 55 Transfer: Sammeln von Ideen zum Transfer in das häusliche Umfeld.

6

Bei der Multifamilientherapie werden 3 Ebenen betrachtet: die praktische Aktion, die anschließende Reflexion und der Transfer ins häusliche Umfeld. zz Aktion Gemeinsame Aktionen, Reflexion sowie Transferprozesse als Behandlungsebenen

Gemeinsame Aktionen spielen in der Multifamilientherapie eine große Rolle. Sie sind: gruppenbezogen (Gruppenklima, Kontakt, Anwärmen), familienbezogen (Familienthemen), elternbezogen (Elternrolle), individuumsbezogen (mein Platz in meiner Familie) oder auch störungsbezogen. Gezielt werden auch Themen wie Ressourcen, Zukunftsideen, Wünsche und Träume aufgegriffen (7 Kap.  7). Aktionen bieten die Möglichkeit, sich spielerisch mit schwierigen Themen zu befassen und dabei neue Erfahrungen zu machen. Der spielerische Charakter nimmt Ängste und führt nicht selten zu einer Entspannung im Eltern-Kind-Verhältnis, sodass Eltern und Kinder häufig nach langer Zeit wieder einmal das Zusammensein genießen und miteinander lachen.  

zz Reflexion

Nach der Aktion wird das das Verhalten reflektiert. Die Reflexion beginnt mit einer Anerkennung: „Super, wie Sie am Ball geblieben sind, auch wenn es nicht immer ganz einfach war.“ „Schön, dass du die Aufgabe zu Ende gemacht hast.“ „Beeindruckend, wie Sie zu einer gemeinsamen Lösung gekommen sind.“ Danach kommt eine „Erfolgsanalyse“, also das Bewusstmachen hilfreicher Strategien: „Wie haben Sie, wie hast du das geschafft?“ „Was hat Ihnen, was hat dir dabei geholfen?“ Hier wird auch die Rückmeldung des Kindes eingeholt: „ Jonas, du bist jetzt an den Tisch zurückgekommen, super. Was hat dir geholfen? Magst du es Mama einmal erzählen?“

6

55 Arbeitsmethoden und Interventionstechniken der Multifamilientherapie

Aktion

Reflexion

..      Abb. 6.1 ART-Model

Als nächster Schritt wird die Gruppe mit einbezogen. So werden z. B. Familien, die am selben Tisch oder in derselben Raumecke gearbeitet haben, nach ihren Beobachtungen gefragt. „Frau Kluge, Sie saßen Familie Becker gegenüber, was sind Ihre ­Beobachtungen?“ „Leon, du bist doch ein so guter Beobachter, wie hat Jonas das geschafft, an den Tisch zurückzukommen, obwohl er noch sauer war?“ zz Transfer

Wesentlich sind zum Abschluss gemeinsame Überlegungen zum Transfer in das häusliche Umfeld. Die Erfolgsanalyse ist dazu schon ein erster Schritt, bei dem sich die Eltern (und auch das Kind) über hilfreiche Strategien Gedanken machen. Das können ein freundlicher Ton, ein Lächeln sein, aber auch bestimmte Absprachen und Vereinbarungen, die getroffen wurden. Für den Transfer muss gemeinsam überlegt werden: „Wenn eine ähnliche Situation zu Hause auftritt, dass Jonas so wütend wird, wer kann wie zu Hause unterstützen?“ Das kann der andere Elternteil sein, der in den Konflikt nicht so involviert ist. Es kann aber auch eine besondere Örtlichkeit sein (Sofaecke, Küchentisch), ein Kuscheltier oder ein kurzer gemeinsamer Spaziergang. Auch bei dem Transfergespräch können Erfahrungen anderer Familien hilfreich sein. Ein erfolgreicher Transfer kann zu Hause gefestigt werden durch eine besondere Würdigung oder durch eine kleine Belohnung: „Wenn Ihnen/euch das zu Hause so gut gelingt wie hier bei uns heute, was gäbe es dann als Anerkennung? Wie können Sie sich dann gemeinsam belohnen?“ (. Abb. 6.1).  

6.2

Das 5-Schritte-Modell

Das 5-Schritte-Modell (Asen und Scholz 2009, 2017) ist eine Basistechnik der Multifamilientherapie, mit der die therapeutische Haltung der Multifamilientherapie in konkrete Schritte umgesetzt wird. Es kann als Gesprächsleitfaden dienen, der

Transfer

56

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

die Eltern zur Reflexion von kritischem Verhalten anregt mit dem Ziel, nach eigenen Lösungen zu suchen. Es lässt sich zur Einzelarbeit nutzen, eignet sich aber auch hervorragend, um eine Gesprächsöffnung in die Gruppe zu initiieren. Hier wird das Grundmodell vorgestellt, das erweiterte 5-Schritte-­Modell „fünf plus drei“ ist nachzulesen in Asen und Scholz 2017.

6

Das 5-Schritte-Modell ist eine Basistechnik in der Multifamilientherapie. Es setzt die therapeutische Haltung der Multifamilientherapie in konkrete Schritte um und dient als Gesprächsleitfaden: 1. Beobachtung: eine Beobachtung des kritischen Verhaltens 2. Wahrnehmungsvergleich: Abgleich der eigenen Beobachtungen mit denen der Familie 3. Bewertung des Verhaltens durch Eltern/Kinder 4. Veränderungswunsch der Eltern/Kinder 5. Aktion: machbare erste Schritte

zz Schritt 1: Beobachtung

Im ersten Schritt wird den Eltern die Beobachtung einer kritischen Interaktion oder Handlung mitgeteilt. Dabei sollten möglichst wertfreie Begriffe gewählt werden, damit sich die Familie nicht angegriffen fühlt: „Ich sehe/beobachte/bemerke, dass …“ Die Beobachtung kann so formuliert werden: 55 „Ich beobachte, dass Jonas Ihnen immer wieder die Stifte wegnimmt, die Sie gerade benutzen.“ 55 „Ich habe gehört, dass Marie „blöde Kuh“ zu Ihnen gesagt hat. zz Schritt 2: Wahrnehmungsvergleich

»» „Sehen Sie das auch so, oder liege ich völlig falsch?“ In diesem Schritt werden die eigenen Beobachtungen mit denen der Familie abgeglichen. 55 Jonas’ Mutter könnte die Beobachtung teilen und bestätigen, dass ihr das auch aufgefallen ist. 55 Es kann aber auch keine Übereinstimmung vorliegen, wenn Maries Mutter Maries Bemerkung überhört hat oder bagatellisiert. Dann kann man dies erst einmal auf sich beruhen lassen Es besteht aber auch die Möglichkeit, in Abstimmung mit Maries Mutter die Gruppe mit einzubeziehen und in der Gruppe über respektvollen Umgang zu reden.

57 Arbeitsmethoden und Interventionstechniken der Multifamilientherapie

zz Schritt 3: Bewertung

»» „Wollen Sie, dass es so ist? Ist Ihnen das recht oder nicht?“ Hier geht es jetzt darum, wie die Eltern das angesprochene Verhalten bewerten. 55 Es ist wahrscheinlich, dass Jonas Mutter mit dem Verhalten ihres Sohnes nicht einverstanden ist. 55 Bei Marie kann es sein, dass die Mutter Maries Verhalten unterschiedlich bewertet. Häufig taucht in solchen Fällen die Frage auf, ob der Ton, in dem Eltern und Kinder miteinander sprechen, angemessen ist. Oft registrieren Eltern gar nicht mehr, dass sich ihre Kinder im Ton vergreifen und sie selbst auch sehr schnell in eine gereizte Tonlage verfallen. Mit Einverständnis von Maries Mutter kann die Elterngruppe Rückmeldung geben. Auch ergeben sich Anknüpfungspunkte für ein Gespräch („Wie haben die anderen das zu Hause geregelt?“ „Was für Erfahrungen haben Sie gemacht?“). Kontroverse Einschätzungen sind hilfreich, damit die Eltern ihre eigene Position finden. zz Schritt 4: Veränderungswunsch

»» „Wenn es nicht so weitergehen soll, wie würden Sie es gerne haben?“

55 Jonas Mutter könnte hier den Wunsch formulieren, dass Jonas fragt, wenn er einen Stift der Mutter benutzen möchte, und abwartet, bis die Mutter ihn abgeben kann. 55 Maries Mutter könnte nach einem Gespräch in der Elterngruppe den Wunsch äußern, dass Marie und sie in ruhigem, respektvollem Ton miteinander reden. Manchmal haben Eltern Schwierigkeiten, einen Veränderungswunsch zu formulieren. Hier kann es helfen, wenn die oder der Mitarbeiter mehrere Ideen anbietet, aus denen dann die Eltern eine passende aussuchen können („Blumenstrauß“, Asen und Scholz 2017). Oder es kann ein Beispiel aus der eigenen klinischen Erfahrung eingebracht werden: „Neulich war hier eine Familie in der MFT, denen ging es ganz ähnlich …“) („Parallele Geschichten“, Asen und Scholz 2017). zz Schritt 5: Aktion

»» „Was müssten Sie jetzt tun oder sagen, dass alles so wird, wie Sie es wollen?“

Da es häufig für Eltern nicht leicht ist, Ziele zu benennen, macht es Sinn, nach machbaren ersten Schritten zu fragen:

6

58

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

5-Schritte Modell Aktion Veränderungswunsch Bewertung Wahrnehmungsvergleich Beobachtung

6

..      Abb. 6.2 5-Schritte-Modell

»» „Was wäre der erste Schritt, genau dahin zu kommen, wo Sie hinwollen?“

Auch können Blockaden direkt angesprochen werden: „Was hindert Sie daran, das jetzt zu tun?“ Wieder besteht die Möglichkeit, nach Absprache in der Gruppe Ideen zu sammeln: „Wie haben Sie das geschafft, dass Ihr Sohn jetzt anders mit Ihnen spricht?“ „Was hat sich bei Ihnen bewährt?“) (. Abb. 6.2) Dieses einfache Interventionsschema hilft den Therapeut*innen, direkt auf Konflikte und Interaktionsprobleme innerhalb von Familien einzugehen und sie konkret in der Situation zu bearbeiten, in der sie auftreten. Es schützt auch davor, vorschnell selbst zu reagieren und den Familien eigene Lösungen anzubieten. Gerade zu Beginn einer Multifamiliengruppe wenden sich die Familien häufig an die anwesenden Mitarbeiter*innen und erwarten die Ideen von den professionellen „Expert*innen“.  

Das 5-Schritte-Modell setzt die therapeutische Haltung der Multifamilientherapie in Handlungsschritte um

6.2.1 Einbeziehung der Gruppe nur mit Einverständnis von Eltern und Kindern

Öffnen in die Gruppe

Wenn die Gruppe mit einbezogen wird, ist es sehr wichtig, sich jedes Mal das Einverständnis der Eltern zu holen: „Ist es für Sie in Ordnung, wenn wir diese Frage einmal in der Gruppe besprechen?“ „Ist es für Sie in Ordnung, wenn wir Frau Becker und Frau Rudolf nach ihren Beobachtungen fragen?“ Auch sollte die Einbeziehung schrittweise und vorsichtig geschehen, und auch erst, wenn sich in der Gruppe ein vertrauensvolles Gruppenklima gebildet hat. Das ist sehr wichtig, damit Eltern sich nicht beschämt fühlen. Gerade bei heftigen innerfamiliären Konflikten muss mit sehr viel Fingerspitzengefühl vorgegangen werden, da Eltern sich sonst den anderen Eltern gegenüber leicht als Versager fühlen.

59 Arbeitsmethoden und Interventionstechniken der Multifamilientherapie

6.2.2

Wertschätzung

Eltern, die eigentlich erwarten, dass sie Ratschläge von Fachleuten bekommen, müssen ihre Erwartungshaltung in der Multifamilientherapie verändern. Umso wichtiger ist es, positive Schritte und Entwicklungen immer wieder anzusprechen. Damit sie diesen Erfolg auch für sich emotional verankern können, benötigen sie Anerkennung und Würdigung, da sie die Veränderungen häufig selbst gar nicht bemerken oder bagatellisieren. Nur durch diese Bewusstmachung kann sich langsam das Selbstwerterleben verändern. So bekommen Jonas und seine Mutter vom Team die Rückmeldung, wie harmonisch sie jetzt zusammenarbeiten und wie gut sie den Konflikt gelöst haben. Wenn es passt, werden auch die Familien, die mit am Tisch sitzen, in die Rückmeldung mit einbezogen. 6.3

Anerkennung und Würdigung, um Erfolge innerlich zu verankern

Mentalisieren

Seit einigen Jahren beschäftigen sich Eia Asen und Peter Fonagy (Asen und Scholz 2017) damit, mentalisierungsfördernde Interventionen in die Arbeit mit Familiengruppen zu integrieren. Wenn wir versuchen, die Gefühle unseres Gegenübers zu erfassen oder uns mit unserer eigenen psychischen Verfassung beschäftigen, dann mentalisieren wir. Dies kann explizit vor sich gehen, indem wir versuchen, Gefühle, Absichten, Bedürfnisse oder Motive in Worte zu fassen. Aber es läuft auch immer automatisch und vorbewusst. Bei jeder Begegnung machen wir uns ein inneres Bild von unserem Gegenüber und reagieren auf ihn oder sie mit unterschiedlichen Gefühlslagen: mit Interesse oder Neugier, aber auch mit Ablehnung und Distanzierung. Dieses Bild, das wir uns von unserem Gegenüber machen, ist ungenau und bedarf beim näheren Kennenlernen häufig der Korrektur. Mentalisieren kann definiert werden als „ein Prozess, der im Allgemeinen ohne Anstrengung oder spezifische Bewusstheit stattfindet. Man könnte ihn beschreiben als: wir sehen uns selbst von außen und wir sehen andere von innen. Mentalisieren bedeutet, mentale Zustände im Zusammenhang mit Gefühlen und Verhaltensweisen zu verstehen“ (Asen und Fonagy 2014). Als mentale Zustände werden Intentionen, Gefühle, Stimmungen, Bedürfnisse, Überzeugungen, Vorstellungen, Gedanken, Motive und Motivationen, Sehnsüchte und Sichtweisen verstanden.

Mentalisieren als wichtige Fähigkeit, um die Reaktionen anderer und sich selber zu verstehen

6

60

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

Mentalisieren ist eine wichtige Fähigkeit, um die Reaktionen anderer Menschen zu verstehen, einordnen zu können und angemessen darauf zu reagieren. Holmes (in Asen und Scholz 2017) unterscheidet fünf Ebenen des Mentalisierens: 1. Selbst-Mentalisieren: sich der eigenen Gefühle bewusst sein 2. Andere Mentalisieren: sich der Gefühle anderer bewusst sein 3. Selbst-mit-anderen-Mentalisieren: sich bewusst sein, was man selbst gegenüber anderen fühlt 4. Andere-mit-selbst-Mentalisieren: sich bewusst sein, was andere in Bezug auf mich fühlen könnten 5. Selbst-und-andere-Mentalisieren: sich die Interaktionen zwischen sich selbst und anderen bewusst machen

6

Erfolgreiches Mentalisieren erfordert eine hohe Flexibilität. Ein erster automatischer Eindruck muss angepasst werden, zu äußerlichen Informationen (Aussehen, Kleidung) kommen Informationen zu psychischer Befindlichkeit hinzu, rational-logisches Einordnen wird erweitert durch emotionale Reaktionen. 6.3.1 Mentalisieren zum Regulieren von Affekten und zum Verständnis meines Gegenübers

Funktion und Nutzen des Mentalisierens

Die Fähigkeit zum Mentalisieren entsteht während der ersten Lebensmonate im Kontext einer sicheren Bindungsentwicklung. Wie aus der Bindungsforschung bekannt, ermöglicht bei einer gesunden Konstellation die primäre Bindungsperson dem Kind, durch Spiegeln Affekte wahrzunehmen, zu unterscheiden, zu verstehen und zu steuern. Dabei, so die Bindungsforschung, entwickeln sich mentale Repräsentanten des Selbst und der anderen im Zusammenspiel der Interaktionen. Vor diesem Hintergrund lässt sich Mentalisieren als ein kognitiv-­ emotionaler Prozess beschreiben, der zum Erleben und Regulieren von Affekten dient und dabei hilft, eigenes Erleben und Verhalten von dem anderer zu unterscheiden. Mentalisieren ermöglicht die Voraussage, Erklärung und Rechtfertigung von eigenen Handlungen und den Handlungen anderer Menschen in aktuellen Kontexten. Das dabei wachsende Verständnis für mein Gegenüber ermöglicht eine bessere Einstimmung auf meine soziale Umwelt und unterstützt somit die Bildung sozialer Kompetenzen. Voraussetzungen für effektives Mentalisieren sind nach Asen und Fonagy (Asen und Fonagy, 2014) unter anderem die Offenheit gegenüber neuen Erlebnissen und Entdeckungen, die Fähigkeit, eine fragende Haltung einzunehmen (auch beschrieben als „sichere Ungewissheit“), die Fähigkeit zum Pers-

61 Arbeitsmethoden und Interventionstechniken der Multifamilientherapie

pektivenwechsel, Spielfähigkeit und Humor sowie die Fähigkeit, die eigene Wahrnehmung zu hinterfragen. Hinderlich beim Mentalisieren ist es, die eigenen Annahmen keiner Überprüfung zu unterziehen. Ein überproportional starkes Bedürfnis nach Bindung und Beziehung bremst Mentalisieren ebenso aus wie eine ausgeprägte egozentrische Haltung. Es gibt erhebliche Unterschiede, wie mentalisierungsfähig wir sind, unsere Mentalisierungsfähigkeit ist stark abhängig von unserer emotionalen Erregung (. Abb. 6.3). Bei hohem, aber auch bei sehr niedrigem Erregungsniveau ist unsere Fähigkeit, sich in andere hinzuversetzen, gering. So hat es wenig Sinn, direkt nach einem Streit ein klärendes Ge-

6



..      Abb. 6.3 Wippe

Die Mentalisierungsfähigkeit ist abhängig von Grad der emotionalen Erregung.

62

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

spräch zu führen, bei dem sich die Kontrahenten in den anderen hineinversetzen sollen. Auch Reflexionsrunden in emotional aufgeladenen Situationen in einer Familiengruppensitzung tragen in der Regel wenig zur Klärung bei, hier muss abgewartet werden, bis sich alle Beteiligten beruhigt haben. Erst dann kann die Situation genauer analysiert und besprochen werden. Ein gewisser Grad an Erregung ist also wichtig, um innere Prozesse anzuregen, wenn wir aber zu erregt sind, ist unser Einfühlungsvermögen blockiert. 6.3.2

6 Beim Mentalisieren in der Multifamilientherapie geht es um die Wahrnehmung und um das Ausdrücken von Gefühlen

Ziele und Techniken

Ziel der mentalisierungsorientierten Arbeit ist es, dass die einzelnen Familienmitglieder Gefühle bei sich und bei dem Gegenüber wahrnehmen und passende Worte finden, um sie auszudrücken. Dazu ist es wichtig, immer wieder Gelegenheiten zu schaffen, um über Gefühle zu sprechen, indem unterbrochen wird, nachgefragt und reflektiert wird. Damit wird das Tempo bewusst verlangsamt und es wird auf Gefühle fokussiert. Asen (Asen und Scholz 2017) beschreibt den therapeutischen Prozess in 4 Schritten: 1. Identifizieren 2. Experimentieren 3. Reflektieren 4. Transformieren Er benutzt dafür die Metapher „systemisches Quartett“: 55 Im 1. Satz, dem Allegro, identifiziert und benennt die Therapeut*in problematische Beziehungs- und Kommunikationsmuster. 55 Im 2. Satz, dem Scherzo, wird experimentiert und mithilfe von spielerischen Aktionen nach anderen Lösungen gesucht. 55 Der 3. Satz, das Andante, dient dem gemeinsamen Reflektieren. 55 Beim Finale, dem 4. Satz, wird gemeinsam überlegt, wie das neue Verhalten nach Hause transportiert werden kann. Neben dem Mentalisieren im Hier und Jetzt kann es auch manchmal sinnvoll sein, zurückzublicken, um Veränderungen deutlich zu machen: „Frau Meyer, erinnern Sie sich noch daran, wie es Ihnen vor zwei Wochen ging, als Jonas Sie in der Gruppe beschimpft hat?“ oder eine Zukunftsvision zu entwickeln: „Wenn diese Situation zu Hause wieder auftritt, was würden Sie sich von Ihrem Mann wünschen?“

63 Arbeitsmethoden und Interventionstechniken der Multifamilientherapie

Die Multifamilientherapie bietet einen geeigneten Rahmen, um das Sprechen über Gefühle erst einmal aus sicherem Abstand zu beobachten und das Gesagte mit eigenen Empfindungen abzugleichen. Auch kann Bindung und Beziehung aus sicherer Distanz bei anderen Familien beobachtet werden, was sehr viel weniger Ängste auslöst, als eigene Beziehungsschwierigkeiten zum Thema zu machen. Auch hier ist es wieder sehr wichtig, Familien nicht zu überfordern, sondern abzuwarten, bis eine vertrauensvolle, therapeutische Beziehung aufgebaut ist, die Familien sich nähergekommen sind und eine ausreichende Gruppenkohäsion entstanden ist. Während bei dem 5-Schritte-Modell (7 Abschn.  6.2) Veränderungswünsche und daraus resultierende Aktionen im Fokus stehen, geht es beim Mentalisieren um Innehalten und Reflektieren. Wichtig ist bei der Multifamilientherapie eine Balance zwischen dem aktionsorientierten 5-Schritte-Modell und dem reflexiven Mentalisieren.  

6.3.3

Mentalisierungsfördernde Interventionen

zz Fallbeispiel Gemeinsames Mentalisieren In der Multifamilientherapie geht es heute um positive Zukunftsvorstellungen. Fünf Familien sind anwesend: Jonas Kluge, 12 Jahre, mit seiner Mutter, Marco Schütze, 9 Jahre, mit seinen Pflegeeltern, Marie Kling, 11 Jahre, mit ihrer Mutter, Marcel Müller, 11 Jahre, mit seinem Vater. Es wird ein gemeinsames Bild erstellt zum Thema :„Wie wird Ihre Familie in 15 Jahren leben, was wird jeder so machen, was sind Träume und Wünsche?“ Nach einer kurzen Runde zum Ankommen wird gemeinsam mentalisiert. „Wir fangen jetzt mit Jonas an. Jonas, du kannst dich bequem zurücklehnen und musst gar nichts sagen und nur zuhören. Wir anderen gucken uns Jonas an und überlegen, was uns zu ihm einfällt, was passt zu ihm, wie schätzt jeder von uns Jonas ein. Es macht gar nichts, Frau Kling, dass Sie Jonas heute zum ersten Mal erleben. Gerade so ein spontanes erstes Bild ist häufig aufschlussreich.“ Nachdem alle Mitglieder der Familiengruppe, die sich äußern wollen, ihre Eindrücke gesagt haben, kommt Jonas zu Wort und meldet zurück, welche der unterschiedlichen Ideen mit seinen Träumen und Wünschen zusammenpassen. Danach kommt das nächste Kind an die Reihe. Bei dieser Mentalisierungsübung werden nur die Kinder ausgewählt, weil die Aktion sonst den Rahmen der Eingangsrunde sprengen

6

Mentalisieren zum Innehalten und Reflektieren

64

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

würde und es auch für die Kinder schwierig sein kann, sich in die Wünsche von Erwachsenen hineinzuversetzen. Es ist immer wieder erstaunlich, wie aufmerksam selbst jüngere Kinder bei dieser Aktion sind.

Tipp

6

„Familienschummelsteckbrief“ oder „3 Wahrheiten und eine Lüge“ Diese Aktion eignet sich in der Anfangsphase einer Therapie zum Kennenlernen. Auch ist sie sehr motivierend für Kinder: sie dürfen sich gemeinsam mit den Eltern etwas ausdenken, was nicht stimmt, eine „Lüge“. Jede Familie formuliert – ohne dass die anderen Familien dies mitbekommen  – drei typische Eigenschaften der Familie (z.  B.  Freizeitbeschäftigungen, Urlaubsaktivitäten, Lieblingsessen, besondere Stärken etc.) und eine nicht allzu abwegige Unwahrheit über die Familie auf einem Papier. Familie Rudolf schreibt z.  B.: „Wir wandern gerne, gehen gerne zusammen Eis essen, fahren gerne gemeinsam Fahrrad und gehen gerne gemeinsam ins Kino“. Ein Familienmitglied liest diese „Wahrheiten“ der Multifamiliengruppe vor. Die anderen Familien haben jetzt den Auftrag, sich Familie Rudolf genau anzusehen und – vielleicht auch aus erinnerten ­Vorinformationen – die eine geschummelte Eigenschaft zu erahnen

Tipp

Gehirnscanning Bei dem Gehirnscanning erhalten alle Teilnehmenden einen „Gehirnschnitt“, d.h. den Umriss eines Gehirns, auf Papier, in den Gedanken, Gefühle, Fragen, Wünsche eingetragen werden können. Das Gehirnscanning kann z. B. helfen, neue Impulse in Konfliktsituationen (heftige Auseinandersetzung in der Gruppe, Stimmung in einer Familie)zu bekommen. Eltern und Kinder tragen in ihren Gehirnschnitt die vermuteten Gefühle der anderen Seite ein. Dies kann dann in getrennten Kinderund Elternrunden, aber auch in Familienrunden direkt besprochen und abgeglichen werden.

65 Arbeitsmethoden und Interventionstechniken der Multifamilientherapie

6.4

Verantwortungsübergabe

Ein wichtiges Thema in der Multifamilientherapie ist Verantwortung: Wer trägt in der Familie wofür die Verantwortung? Dieses Thema spielt für den elterlichen erzieherischen Alltag eine wichtige Rolle: Welche Entscheidungen fällen die Eltern, welche werden gemeinsam getroffen und für welche Bereiche können Kinder ab welchem Alter selbst Verantwortung übernehmen? Diese Punkte sind häufig Streitpunkte innerhalb der Familie, von daher drehen sich auch mehrere Aktionen in der Multifamilientherapie genau um die Fragen der elterlichen Verantwortung und des gemeinsamen Aushandelns. Ein wichtiges Ziel in der MFT ist die Stärkung der elterlichen Präsenz, Eltern sollen sich wieder als aktiv Eingreifende und Handelnde erleben. Verantwortungsdiffusion erschwert rechtzeitiges und klares Handeln. Bei teil- oder vollstationärer Behandlung geben die Eltern die Erziehungsverantwortung stunden- oder tageweise an Erzieher*innen und Therapeut*innen ab. Hier ist es besonders wichtig, dass vor einer MFT-Sitzung die Verantwortung eindeutig an die Eltern zurückgegeben wird. Aber auch im ambulanten Setting neigen Eltern dazu, sich zurückzuziehen und die Regulierung ihrer Kinder von den anwesenden Mitarbeiter*innen zu erwarten. Die Verantwortungsübergabe bringt hier Eindeutigkeit. Sie findet in der Regel zu Beginn einer Sitzung statt, häufig in ritualisierter Form (z.  B. mit einem Gongschlag zur Bekräftigung) und wird bei Bedarf während der Sitzung wiederholt. Sind Mitarbeiter*innen des Basisteams im MFT-Team, macht es Sinn, dass sie die Verantwortungsübergabe durchführen, da sie in der Regel diejenigen sind, an die die Eltern Verantwortung für erzieherisches Eingreifen abgeben. 6.5

Reflektieren

Ein wichtiges therapeutisches Element in der Multifamilientherapie ist das Reflektieren in unterschiedlichen Kontexten. Angeregt ist dieses Vorgehen von der Technik des Reflektierenden Teams (Andersen 1990).

Stärkung der elterlichen Verantwortung durch das Ritual der Verantwortungsübergabe

6

66

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

Die Methode des „Reflecting Teams“ kommt aus der systemischen Therapie. Ziel ist es, einen Freiraum für die Entwicklung vielfältiger Perspektiven und angemessener Ideen und Lösungsmöglichkeiten zu schaffen. Dazu begeben sich die beteiligten Systeme (Ratsuchende und Beratende, Beobachtende) in einen gemeinsamen Prozess von abwechselnd gerichteter und ungerichteter Kommunikation.

6

Praktisch nehmen hierbei drei bis vier Mitglieder eines pädagogischen oder therapeutischen Teams eine reflektierende Position ein. Sie verfolgen z. B. das Beratungsgespräch (gerichtete Kommunikation) zwischen einem Therapeuten und einer ratsuchenden Familie entweder durch einen Einwegspiegel aus einem Nachbarraum (klassisches Setting), oder indem sie direkt mit im Raum sitzen. Sie beteiligen sich nicht aktiv am Gespräch, hören jedoch aufmerksam zu. Nach einer gewissen Zeit werden die Positionen gewechselt. Die Mitglieder des Reflecting Teams denken jetzt laut über den von ihnen beobachteten Gesprächsprozess nach (ungerichtete Kommunikation). Sie führen einen „Metalog“, also ein Gespräch über das Gespräch, tauschen eigene Gedanken, Empfindungen und offene Fragen aus. Das vorher beobachtete System hört nun seinerseits zu. Zum Abschluss spricht das Beratungsteam darüber, was für die einzelnen Mitglieder neu war, über Gedankenanstöße und veränderte Sichtweisen. Das Reflektierende Team dient dazu, neue Ideen und Per­ spektiven zu generieren, in wohlwollender Atmosphäre können auch außergewöhnliche Ideen zur Sprache kommen, unterschiedliche Sichtweisen im Reflektierenden Team formuliert werden. Dieser Ansatz des reflektierenden Teams (RT) wurde auf Familien erweitert (Reflecting Families, Caby und Geiken 2000): Hier reflektieren sich Eltern und Kinder in einem Gruppenkontext gegenseitig. Tipp

Reflecting Families Die Kinder führen unter Anleitung ein Gespräch darüber, was sie einmal werden wollen, wie sie sich ihr Leben in 10 oder 15 Jahren vorstellen. Danach findet ein Platzwechsel statt, die Kinder hören zu, die Eltern tauschen sich darüber aus, was für sie neu war, was sie erstaunt hat („Ich hätte nie gedacht, dass sich Jonas so ruhig an einer Gesprächsrunde beteiligt“; „Ich bin überrascht, dass Jonas Berufsvorstellungen hat“). Danach

67 Arbeitsmethoden und Interventionstechniken der Multifamilientherapie

6

erfolgt ein erneuter Platzwechsel, die Kinder äußern jeder einen Satz dazu, was sie gehört haben oder was sie erstaunt, gefreut hat.

Eine weiteres Reflexionssetting sind die reflektierenden Positionen. Hierbei setzen sich einzelne Teammitglieder, aber auch Team und Familienmitglieder etwas außerhalb der Familiengruppe („Adlerhorst“) und führen danach ein kurzes gemeinsames Gespräch über ihre Beobachtungen. Es können auch bestimmte Beobachtungsaufträge (z. B. Beispiele gelungener Kooperation) für einen begrenzten Zeitraum vergeben werden. Neben diesen formalisierten Reflexionskontexten werden Aktionen in der Multifamilientherapie immer wieder kurz von den Therapeut*innen unterbrochen, um Rückmeldungen einzuholen, über den bisherigen Verlauf zu sprechen, aber auch um Kommunikationsstörungen und Konflikte zu thematisieren.

In der Multifamilien­ therapie werden unter­ schiedliche Settings zur Reflexion eingesetzt

zz Fallbeispiel Die Therapeutin bekommt mit, dass sich Marie und ihre Mutter bei einer gemeinsamen Gestaltungsaktion leise „anzischen“. Sie unterbricht und teilt ihre Beobachtung. Entweder wird mit Einverständnis von Frau Kling über diesen Konflikt gesprochen, oder auch ein kurzes Gespräch über die Aktion geführt (Wie gestalten die Familien die Zusammenarbeit? Gibt es Fragen zur Aufgabenstellung? Wie wurden Einstiegsschwierigkeiten gemeistert?).

6.6

Elterntausch und Tandem

Der Elterntausch („Adoptivverfahren“, Asen/Scholz) eignet sich gut für einen Perspektivwechsel. Hierbei arbeiten die Kinder für eine gewisse Zeit mit anderen Eltern zusammen, später geben die „Adoptiveltern“ Rückmeldung. Oft erleben Eltern in diesen Tauschsituationen, dass sie mit anderen Kindern gut zurechtkommen, sie merken z. B., dass sie mit dem Adoptivkind sehr viel ruhiger sind. Auch können sie beobachten, wie andere Elternteile mit ihrem Kind umgehen (Modell) und erhalten in der Regel positive Rückmeldungen über das eigene Kind, was sie stolz macht und den Blick wieder eher auf die Stärken richtet. Tandems werden gebildet, wenn sich Elternteile überfordert fühlen und sehr viel Rückmeldung benötigen. Es arbeiten dann zwei Familien eng zusammen und sprechen sich ab. Die

Elterntausch (Adoptivverfahren) ermöglicht einen Perspektivwechsel

Tandems zur gegenseitigen Unterstützung

68

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

Mitglieder eines Tandems unterstützen sich gegenseitig (teilweise auch praktisch), liefern sich gegenseitig Ideen, können aber auch jederzeit andere Familien oder Therapeut*innen mit hinzuziehen. Familien machen so auch positive Erfahrungen damit, sich Hilfe und Unterstützung zu holen, durchbrechen ihre Isolation und fangen an, sich aktiv zu vernetzen. 6.7

Videofeedback

Der Einsatz von Videoaufzeichnungen ist in der Multifamilientherapie verbreitet. Wichtig ist, dass die Eltern ihr Einverständnis geben und dieses Medium akzeptieren. Wenn nicht anders vereinbart, werden die Bänder nach der Bearbeitung gelöscht. Videofeedback wird in der MFT unterschiedlich eingesetzt: häufig werden ganze Sequenzen aufgenommen (z.  B. das gemeinsame Zubereiten einer Mahlzeit, das gemeinsame Essen oder Spielsituationen). Bei der anschließenden Reflexion werden von den Eltern vorgeschlagene einzelne Sequenzen gemeinsam betrachtet, gelungene Situationen identifiziert oder Alternativen entwickelt. Auch können durch Rückspulen Zeitpunkte gemeinsam identifiziert werden, an denen durch gezieltes Eingreifen Eskalationen hätten verhindert werden können, mögliche Reaktionen können gemeinsam entwickelt werden. Das Videofeedback ist auch geeignet, positive Bilder (gelungene Spielsituationen, Zuwendung, Beziehungsgestaltung) festzuhalten, sodass diese Erfolge noch einmal gemeinsam wertgeschätzt werden können und die Eltern dieses positive Bild anders internalisieren können als Worte (Marte-­Meo-­Methode).

6

Die Marte-Meo-Methode ist eine spezifische Kommunikationsmethode, die von Maria Aarts entwickelt wurde. Zentrales Instrument sind Videoaufnahmen, die Ausschnitte aus Alltagssituationen wiedergeben. Sie werden nach bestimmten Kriterien analysiert und in Hinblick auf Entwicklungsmöglichkeiten erörtert. Das gemeinsame Anschauen der Filmsequenzen im Rahmen eines entsprechend vorbereiteten Reviews erfolgt ressourcenorientiert mit der Zielsetzung, Kommunikations- und Interaktionsprozesse möglichst entwicklungsfördernd zu gestalten.

Videofeedback zur Identifizierung gelungener Situationen und zur Gewinnung neuer Ideen

Bei einigen multifamilientherapeutischen Programmen („Kidstime“, siehe 7 Kap.  10, „Kinder aus der Klemme“, siehe 7 Kap. 9) werden von den Kindern „Filme“ gedreht und später gemeinsam mit den Eltern betrachtet. Gerade ältere Kinder und Jugendliche sind durch dieses Medium gut zu erreichen, es  



69 Arbeitsmethoden und Interventionstechniken der Multifamilientherapie

hat für sie einen hohen Anreiz und macht Spaß. Darüber hinaus bietet es die Möglichkeit, Ängste und Sorgen in Geschichten fantasievoll zu verwandeln und damit eine weniger bedrohliche Form der Auseinandersetzung zu finden. ??Verständnisfragen 1. Erläutern Sie das 5-Schritte-Modell. 2. Wie wird das Mentalisieren in der MFT eingesetzt? 3. Nennen Sie reflektierende Kontexte, die in der MFT eingesetzt werden. 4. Nennen Sie Möglichkeiten des Transfers in das häusliche Umfeld.

Literatur Anderson, T. (1990). Das reflektierende Team. Dialoge und Dialoge über Dialoge. Dortmund: Modernes Leben. Asen, E., & Fonagy, P. (2014). Mentalisierungsbasierte therapeutische Interventionen für Familien. Familiendynamik, 3, 234–249. Asen, E., & Scholz, M. (2009). Praxis der Multifamilientherapie. Heidelberg: Auer Verlag. Asen, E., & Scholz, M. (2017). Handbuch der Multifamilientherapie. Heidelberg: Auer Verlag. Behme-Matthiessen, U., & Pletsch, T. (2016). Praxis Familiengruppe. Aachen: Shaker Verlag. Bünder, P., Sirringhaus-Bünder, A., & Helfer, A. (2015). Lehrbuch der Marte Meo-­Methode. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Caby, F., & Geiken, G. (2000). „Reflecting families“ Vortrag beim Symposium „Zum Stand der Kunst – Systemische Therapie und Organisationsentwicklung in Psychiatrischen Einrichtungen“. Heidelberg. Dorsch. (2017). Lexikon der Psychologie (18. Aufl). Bern: Hogrefe. von Schlippe, A., & Schweitzer, J. (2012). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen: Vandenhoeck& Ruprecht.

6

71

Multifamilientherapeutische Praxis Ulrike Behme-Matthiessen und Thomas Pletsch Inhaltsverzeichnis 7.1

Schweigepflicht – 72

7.2

Multifamilientherapie als Behandlungsmodul – 73

7.3

 nterschiedliche Familienkonstellationen in der U Multifamilientherapie – 73

7.4

 ultifamilientherapie mit psychisch erkrankten M Eltern – 74

7.5

Zielorientierung und Wachstumsorientierung – 75

7.6

Rahmenbedingungen und Zeitstrukturen – 75

7.6.1 7.6.2 7.6.3

 äumlichkeiten – 75 R Ausstattung – 76 Zeitformate – 77

7.7

Einsatz von Gruppenaktionen – 78

7.7.1 7.7.2 7.7.3 7.7.4 7.7.5 7.7.6

T hema „Familie und Identität“ – 78 Thema „Stärken und Ressourcen“ – 78 Thema „Vergangenheit und Zukunft“ – 79 Thema „Kooperation“ – 80 Thema „Mentalisieren“ – 81 Thema „Abschluss“ – 82

Literatur – 83

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Behme-Matthiessen, T. Pletsch (Hrsg.), Lehrbuch der Multifamilientherapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61196-8_7

7

72

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

7.1

Schweigepflicht

Gemäß §  203 Strafgesetzbuch (StGB) sind Therapeut*innen verpflichtet, über alle ihnen in Ausübung ihrer Berufstätigkeit bekannt gewordenen Tatsachen zu schweigen, soweit nicht das Gesetz Ausnahmen vorsieht oder ein bedrohtes Rechtsgut überwiegt. Diese Schweigepflicht ist auch gegenüber Familienangehörigen des Klienten und gegenüber Vorgesetzten zu wahren. Die Schweigepflicht kann entfallen, wenn der Klient eine Entbindung von ihr deklariert, ferner gegenüber Helfern/ Mitarbeitern sowie gegebenenfalls im Kollegenkreis bei gleichzeitiger Behandlung von mehreren Psychologen und Ärzten.

7

Vertraulichkeit der Gruppensituation

Für die Multifamilientherapie ist die Schweigepflicht der Behandler genauso geregelt wie in anderen therapeutischen Settings. Die besondere Situation besteht darin, dass mehrere Familien gemeinsam behandelt werden. In den Familiengruppen erfahren die Familien viel übereinander –nicht nur, wenn Eltern in der Gruppe Schwierigkeiten ansprechen. Die Familien erleben sich ja gegenseitig in den unterschiedlichsten, manchmal auch sehr kritischen Situationen. Erschwerend kommt hinzu, dass Eltern sich zum Teil aus anderen Zusammenhängen (Schulen, Sportvereine) kennen, wenn der Einzugsbereich für die Behandlung wie bei einer teilstationären Behandlung überschaubar ist. Um eine vertrauensvolle Gruppenatmosphäre aufzubauen, ist es sehr wichtig, die Vertraulichkeit der Gruppensituation zum Thema zu machen. Es muss deutlich werden, dass alles, was in der Gruppe passiert und gesagt wird, nicht nach außen getragen wird. Eltern und Kinder in der Gruppe unterliegen nicht, wie Berater*innen und Therapeut*innen der professionellen Schweigepflicht. Umso wichtiger ist es, diesem Thema zu Gruppenbeginn einen großen Stellenwert zu geben, da gegenseitiges Vertrauen die Voraussetzung für eine offene Gruppenatmosphäre ist. Dies kann in schriftlicher Form eines Behandlungsvertrags erfolgen, sollte aber auf jeden Fall immer wieder im Gruppenverlauf angesprochen werden und wenn möglich auch als Gruppenregel im Therapieraum für alle sichtbar aufgehängt werden. Wenn vor Gruppenbeginn bekannt ist, dass Eltern sich auch in anderen Zusammenhängen regelmäßig begegnen, sollte abgeklärt werden, ob ausreichend Vertrauen vorhanden ist, um gemeinsam an einer Multifamilientherapie teilzunehmen.

73 Multifamilientherapeutische Praxis

7.2

Multifamilientherapie als Behandlungsmodul

Multifamilientherapie wird in unterschiedlichen institutionellen Kontexten und Strukturen angewendet. In der Jugendhilfe als Multifamilienarbeit in ambulanten, teilstationären und stationären Settings. In Schulen (FiSch, Familienklasse) bezeichnet als Multifamiliencoaching und natürlich im klinischen Rahmen als ein Baustein multimodaler Behandlung. In Kliniken, meist in Kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken, findet Multifamilientherapie ebenfalls Anwendung in ambulanten, teilstationären und stationären Kontexten. Daneben gibt es unterschiedliche störungs- bzw. diagnosespezifische Anwendungsfelder, wie z. B. in der Behandlung anorektischer Jugendlicher oder bei Kindern mit Diabetes (7 Kap. 8). Schulbezogene multifamilientherapeutische Angebote finden sich in der Kinder- und Jugendpsychiatrie angegliedert an Klinikschulen, verstanden zum einen als therapeutisches Behandlungsmodul, zum anderen als rehabilitative Maßnahme zur Wiedereingliederung in die Heimatschulen der Kinder und Jugendlichen.  

7.3

Unterschiedliche Familienkonstellationen in der Multifamilientherapie

Während der letzten Jahre hat „Familie“ strukturell einen deutlichen Wandel erfahren. Multifamilientherapie findet aus diesem Grund mit ganz unterschiedlichen Familienstrukturen statt. Neben alleinerziehenden Müttern und Vätern, Pflegefamilien und Patchworkfamilien nehmen immer häufiger „Oma-Familien“ (Großeltern, die die Erziehungsverantwortung für ihre Enkel übernommen haben) und immer wieder auch Regenbogenfamilien (homosexuelle Elternpaare) an Multifamilientherapiegruppen teil. Die unterschiedlichen Konstellationen und die damit verbundenen oft unterschiedlichen Bedürfnisse der Familien sind in der Planung und Vorbereitung von MFT-Gruppen unbedingt zu berücksichtigen. In der Arbeit mit „Oma-Familien“ und Pflegefamilien kann es unterstützen, die besonderen Rollen der Groß- und Pflegeeltern wertschätzend zu kommentieren. Sie sind im Besonderen in der Situation, sich quasi wie eigene Eltern für ein Kind zu engagieren, dessen leibliche Eltern aus den unterschiedlichsten Gründen ihrer Erziehungsverantwortung nicht nachkommen können. Sie müssen die Eltern- und Großelternrollen in Einklang bringen und sich mit den Eltern abstimmen. Bei diesen Konstellationen muss kritisch geprüft werden, ob und zu welchem Zeitpunkt Multifamilientherapie hilfreich ist.

Multifamilientherapie als Behandlungsmodul in unterschiedlichen Kontexten

7

74

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

Unterschiedliche Familienkonstellationen

7

Der Einfluss von Familienidealen

Bei der Arbeit mit „Regenbogenfamilien“ kann es hilfreich sein, wenn sich das Therapeutenteam mit seiner eigenen Wertehaltung bezüglich homosexueller Eltern kritisch auseinandergesetzt hat. Anregend und inspirierend zur Reflexion im MFT-Team zum Thema „Familienkonstellationen“ ist die Arbeit von Jochen Schweitzer mit dem Titel „Unglücklich machende Familienideale“ (Schweitzer 2004). Schweitzer beschreibt acht typische Familienideale, die unser Bild von Familie prägen: 55 Kinder brauchen eine Familie, Familien brauchen ein Heim 55 Familien brauchen Zeit 55 Alleinerziehende Familien sind unvollständig 55 Söhne brauchen ihren Vater, Töchter brauchen ihre Mutter 55 Kinder brauchen heterosexuelle Eltern 55 Eltern sollten einander lieben 55 Eltern sollten mit ihren Kindern zusammenleben 55 Kinder sollten sich von ihren Eltern ablösen Diese „Ideale“ prägen nach wie vor noch häufig unser Familienbild. Sie können bei Eltern immer wieder Druck und ein schlechtes Gewissen erzeugen, da sie häufig nicht mehr mit dem Alltagsleben der Familien vereinbar sind. Eine Auseinandersetzung im multifamilientherapeutischen Team mit diesen „Familienidealen, die unglücklich machen“ ist wichtig für eine Thematisierung in den Familiengruppen. 7.4

 ultifamilientherapie mit psychisch M erkrankten Eltern

In den letzten Jahren nehmen zunehmend auch psychisch erkrankte Elternteile an der Multifamilientherapie teil (siehe auch, 7 Kap. 10) In der Arbeit mit psychisch kranken Eltern ist unter anderem zu bedenken, dass diese Mütter und Väter häufig sehr viel empfindlicher auf bestimmte Gruppendynamiken reagieren (z.  B.  Angespanntheit in der Gruppe), weniger stressresistent sein können (unter anderem bezogen auf die Lautstärke im Gruppenraum) und eventuell mit dem Zusammensein mit großen Gruppen überfordert sind. Wünschenswert sind dabei ein offener Austausch und klare Absprachen zwischen den Therapeut*innen und den Eltern, welche Bedingungen für ein optimales Arbeitsklima geschaffen werden müssen. Auch empfiehlt es sich, die Zeitstruktur und die Auswahl der Aktionen entsprechend anzupassen.  

Psychisch kranke Eltern

75 Multifamilientherapeutische Praxis

7.5

Zielorientierung und Wachstumsorientierung

Wir unterscheiden in der Multifamilientherapie zielorientierte und wachstumsorientierte Arbeitsphasen. Beim zielorientierten Arbeiten definieren die Eltern und Kinder entweder individuelle Ziele für sich (z. B. „Ich reagiere gelassen, ich höre zu, ich gebe klare Anweisungen“) oder für die Familie (z. B. „Wir hören einander zu, wir sprechen freundlich“). Diese Ziele können in unterschiedlichen Situationen und Kontexten (Subgruppen, im Anschluss während einer Abschlussreflexion) dann in der Gruppe reflektiert und unter anderem mittels Skalierung von den Familien selbst oder auch den anderen Familien bewertet werden (Selbst-/Fremdeinschätzungen). Innerhalb wachstumsorientierter Arbeitsphasen bietet die Gruppe den Rahmen, um über die eigene Elternschaft, die unterschiedlichen Rollen in der Familie, über Verantwortlichkeiten, Familienbilder und Familienideale nachzudenken, gestalterisch tätig zu sein und sich auszutauschen. Durch getrennte Elternund Kindergruppen, die dabei in einen Austausch miteinander treten, ergeben sich häufig neue Aspekte gegenseitiger Wahrnehmung, und es entwickelt sich ein anderes Verständnis füreinander. Gestalterische, musikalische oder bewegungstherapeutische Aktionen schaffen gemeinsame Erlebnisse und damit neue Bilder der Familien von sich selbst. Das birgt die Chance zur Entwicklung eines anderen Gefühls von Familienidentität (. Abb. 7.1).  

7.6

Rahmenbedingungen und Zeitstrukturen

Exemplarisch werden hier die gängigen Formate kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlungsmodule beschrieben. Das bedeutet nicht, dass Abweichungen davon in der Praxis nicht gestattet sind. Häufig müssen die Strukturen und der Rahmen immer wieder an den unterschiedlichen und sich auch verändernden institutionellen Gegebenheiten ausgerichtet und daran angeglichen werden. Unsere Beschreibungen erklären die in der Praxis bewährten Bedingungen. 7.6.1

Räumlichkeiten

Für Gruppengrößen bis zu sieben Familien empfiehlt sich eine Raumgröße von ca. 45 m2. Es werden neben ausreichender Bestuhlung auch genügend Tische benötigt, um allen Familien Platz zum Arbeiten zu bieten. Die Möbel sollten leicht trans-

Ziel- und Wachstumsorientierung

7

76

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

Zielorienerung

Familienbilder

7

Rollen Familienideale

eigene Elternscha

Verantwortlichkeiten

Wachstumsorienerung ..      Abb. 7.1  Ziel- und Wachstumsorientierung

portierbar und die Stühle im besten Falle stapelbar sein, sodass bei unterschiedlichen Aktionen Tische und Stühle schnell zur Seite geräumt werden können. Die Ausstattung des Raumes mit platzsparenden Schränken zur Aufbewahrung der benötigten Praxismaterialien und Medien empfiehlt sich. 7.6.2

Ausstattung

Neben einer Videokamera und der Möglichkeit zum Ansehen von Filmsequenzen ist für die Grundausstattung des Therapieraumes folgendes Praxismaterial zu empfehlen: 55 4 große Packungen Öl-/Pastellkreide/Wachsmalstifte 55 Klebestifte (1 pro Familie) 55 Kreppklebeband

77 Multifamilientherapeutische Praxis

55 reich bebilderte Zeitschriften zum Ausschneiden 55 Scheren/Kinderscheren (1 pro Familie) 55 verschiedenfarbige Filzschreiber 55 Zeichenpapier (60 × 45 cm) 55 Zeichenpapier (100 × 60 cm) 55 Fotokarton (weiß) 55 DIN-A3-Kopierpapier 55 DIN-A4-Kopierpapier 55 verschiedenfarbiges Tonpapier 55 Ton (mittelschamottiert) 55 Tonwerkzeuge/Modellierhölzer 55 30-cm-Lineale (6 Stück) 55 Kugelschreiber (12 Stück) Für die schulbezogenen Projekte (FiSch und Familienklasse) wird wahlweise ein großer Raum benötigt, der eine Aufteilung in zwei Bereiche verträgt. In einer Raumhälfte sollte eine Gruppe bestehend aus bis zu 8 Erwachsenen Platz finden, während in der anderen Raumhälfte der Unterricht möglichst ungestört stattfinden kann. Optimal sind hier zwei Räume: ein Klassenraum, abtrennbar zu einem Nebenraum für die Elterngruppe. 7.6.3

Ausstattung

Zeitformate

Die aktuell praktizierten Zeitformate unterschiedlicher Standorte und Institutionen weisen eine sehr große Heterogenität auf. Zur besseren Übersicht stellen wir die unterschiedlichen Formate in folgender Auflistung dar. Diese Übersicht erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und schließt andere kontextgebundene Möglichkeiten nicht aus. 55 Multifamilien-Nachmittage/-Vormittage: über eine Dauer von ca. 2 Stunden mit bis zu sieben Familien; sowohl wöchentlich als auch 14-täglich, seltener einmal monatlich; eventuell unterbrochen durch eine kurze Pause. 55 Multifamilien-Tage: über eine Dauer von 6–8  Stunden mit 7–11 Familien; an einigen Standorten wöchentlich, variierend mit MFT-Nachmittagen als Ersatz ausschließlich während der Schulferien (bessere Verfügbarkeit mehrerer Familienmitglieder). 55 Multifamilien-Ausflüge: Tages- oder Halbtagesausflüge in die nähere Umgebung; gekoppelt mit Aufgaben und/oder zielorientierten Aufträgen (z. B. zur anschließenden Reflexion zum Thema Umgangston in der Familie, Verantwortlichkeiten etc.) für die Familien, wenn möglich mit Videobegleitung.

Unterschiedliche Formate der Multifamilientherapie

7

78

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

55 Multifamilien-­Freizeiten: über die Dauer eines Wochenendes oder mehrerer Tage; dabei im Wechsel multifamilientherapeutische Praxisaktionen mit gesamter und geteilter Gruppe und offene (nicht vorstrukturierte) Zeiten für die Familien. 7.7

Einsatz von Gruppenaktionen

Die in der Literatur beschriebenen zahlreichen Gruppenaktionen (Asen und Scholz 2012; Behme-Matthiessen und Pletsch 2016) lassen sich auf unterschiedliche Weise thematisch gliedern. Wir wählen hier die folgende thematische Unterscheidung und beschreiben dabei eine kleine Auswahl der Aktionen, die sich in der Praxis bewährt haben.

7

7.7.1

Thema „Familie und Identität“

zz Aktion: Familienwappentier

Die Familie erstellt gemeinsam eine Tabelle mit allen Namen der Familienmitglieder. In jede Namensspalte werden jetzt zwei besondere Stärken/Fähigkeiten der betreffenden Person eingetragen. Anschließend wird zu jeder Person ein Tier überlegt, durch das diese besondere Eigenschaft repräsentiert wird. Die Tiere können in den Spalten skizziert oder aufgeschrieben werden. Jetzt wird aus allen Tieren auf einem großen Bogen Papier ein gemeinsames Wappentier „konstruiert“ und aufgemalt, sodass alle Tiere in diesem (Wappen-)Tier zum Vorschein kommen (z. B. Kopf eines Löwen, Beine eines Elefanten, Flügel einer Biene etc.). Zum Abschluss bekommt das Wappentier noch einen Namen, der groß auf das Plakat geschrieben wird. zz Aktion: Was ist typisch für meine Familie? Familie und Identität

Alle Familienmitglieder arbeiten gemeinsam auf einem Bogen Malpapier. Jedes Familienmitglied sucht aus Zeitschriften für sich passende Bilder, die Typisches aus der Familie darstellen (Hobbys, Wohnen, Beruf, Charaktereigenschaften, Freizeit etc.). Die Bilder werden nach gemeinsamer Absprache auf das Papier geklebt, bei Bedarf auch beschriftet. 7.7.2

Thema „Stärken und Ressourcen“

zz Aktion: Körperbild mit positiven Eigenschaften

Das Zeichenpapier wird auf den Boden gelegt oder an den Wänden befestigt. Das Kind platziert sich so auf/vor dem Pa-

79 Multifamilientherapeutische Praxis

pier, dass die Eltern die Körperumrisse des Kindes mit einem Stift nachzeichnen können. Danach bekommt das „abgezeichnete“ Kind die Möglichkeit, seinen Körper mit Farbe zu füllen, während die Eltern um diesen bunten Körper herum verschiedenfarbig positive Eigenschaften und Stärken, die ihnen und dem Kind einfallen, aufschreiben. Anschließend lesen die Eltern die gesammelten Stärken/ Eigenschaften ihres Kindes im Plenum vor. zz Aktion: Werbeplakat für mein Kind

Zur Einstimmung wird den Familien vorgeschlagen, sie mögen sich in ihrer Fantasie vorstellen, ein Zirkus komme in die Stadt oder eine Firma preise ein völlig neuartiges Produkt an. Die Familien haben dann die Möglichkeit, den Vornamen des Kindes entsprechend eines solchen Werbeplakates zu gestalten und das dabei entstehende Plakat mit einem Werbeslogan für das Kind zu versehen. 7.7.3

Thema „Vergangenheit und Zukunft“

zz Aktion: Meilensteine der Familiengeschichte

Jede Familie erhält die Anzahl DIN-A3-Blätter, die dem Lebensalter des Kindes entspricht. Die Papiere werden im Querformat verwendet, wenn möglich können auf einer Ecke „Meilensteine“ zu sehen sein. Da jedes Blatt für ein Jahr steht, werden jetzt, beginnend mit dem Geburtsjahr des Kindes, die Blätter mit besonderen Ereignissen gestaltet, die es für die Familie in dem jeweiligen Jahr gab (z. B. ein Bild über einen Umzug, besondere Ferien, Familienfeiern etc.). Abschließend können die Blätter als Heft zusammengebunden oder in einer langen Reihe aneinander geklebt werden. So entsteht eine farbige Familienchronologie besonderer Ereignisse. Variation: Die Familien tauschen sich in Kleingruppen darüber aus, welche besonderen Ereignisse sie seit dem Geburtsjahr des „Therapiekindes“ erlebt haben. Auch hier geht es wieder um die Reflexion positiver und belastender Ereignisse. Bei den belastenden Ereignissen wird angeregt zu reflektieren, wie diese gemeistert wurden, bei den positiven Ereignissen kann überlegt werden, welche hilfreichen Bilder und Erfahrungen als Ressourcen davon in Erinnerung sind. Danach bekommt jede Familie einen ca.  3  m langen und 30 cm breiten Papierstreifen. Nach Absprachen in den Familien werden darauf die Füße des Kindes oder der gesamten Anwesenden der Familie schrittweise nachgezeichnet und gestaltet, sodass eine gemalte Fußspur entsteht. Jetzt steht

Stärken und Ressourcen

7

80

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

den Familien eine größere Auswahl an DIN-A5-Papieren zur Verfügung, die mit vorkopierten „Bilderrahmen“ versehen sind. In diese Bilderrahmen kann die Familie jetzt die unterschiedlichen Ereignisse hineinmalen und chronologisch auf der Fußspur aufkleben. Bei der Präsentation im Plenum kann sich jetzt jede Familie für zwei Ereignisse entscheiden, die sie als besonders wichtig wahrgenommen hat und diese der Gruppe kurz vorstellen. Es kann auch noch angeregt werden, ein Bild als Zukunftsprojektion ans Ende der Fußspur zu kleben, um die Entwicklungspotenziale der Familie darzustellen. zz Aktion: Zeitmaschine Vergangenheit und Zukunft

7

Jedes Familienmitglied arbeitet bei dieser Übung auf einem eigenen Blatt. Nachdem jedes Kind gefragt wurde, wie alt es in 10 oder 15 Jahren ist, geben wir die Idee vor, die Familienmitglieder säßen in einer Zeitmaschine: auf Knopfdruck können sie in die Zukunft reisen. Die Familien werden aufgefordert, sich in ihrer Vorstellung gemeinsam in der Zukunft des Kindes umzusehen: Wie sieht welches Familienmitglied aus? Wer macht was beruflich? Wie und wo leben die Familienmitglieder? Welche besonderen Fähigkeiten hat das Kind entwickelt? Was ist aus den heutigen Zukunftsträumen geworden? Die hierzu in der Fantasie auftauchenden Bilder können jetzt gestalterisch dargestellt werden. 7.7.4

Thema „Kooperation“

zz Aktion: Aquarium

Kooperation

Jedes Familienmitglied malt in einer Ecke eines DIN A 1 Blattes einen einfachen Fisch, maximal von der Größe einer Kinderhand. Wenn die Musik einsetzt, „beginnen die Fische zu schwimmen“ – so, wie sie wollen, quer über das gesamte Blatt. Mit den Wachsmalstiften werden diese Wege als Linien über das Blatt gemalt. Ist die Musik zu Ende, werden die Stifte abgesetzt. Jetzt einigen sich die „Fische“ auf einen gemeinsamen Startpunkt. Wenn die Musik (dasselbe Stück) wieder einsetzt, schwimmen die Fische nebeneinander durch das Aquarium, wieder so lange, bis die Musik aussetzt. Dabei werden die Farbstifte dicht nebeneinander von den Familienmitgliedern über das Blatt geführt. Wichtig: Während der Übung darf kein Wort miteinander gesprochen werden. zz Aktion: Schiffbaumeister

Jede Familie bekommt eine aus fester Pappe vorgefertigte Schiffsrumpfform. Für alle Familien gemeinsam stehen ver-

81 Multifamilientherapeutische Praxis

schiedene Papier- und Pappreste, Schere, Buntstifte und Klebeband zur Verfügung. Jede Familie hat die Aufgabe, gemeinsam aus diesen Rohmaterialien ein Schiff zu bauen, auf dem sich alle Familienmitglieder wohl fühlen, jeder seinen Platz hat. Die Familien müssen sich darüber austauschen, welche Art Schiff passt. Ein Hausboot, ein Segelschiff, eine Luxusjacht und so weiter. Nachdem das Schiff fertiggestellt ist, werden die Familienmitglieder noch passend zur Schiffsgröße auf Papier skizziert und ausgeschnitten, sodass jedes Familienmitglied einen eigenen Platz auf dem Schiff bekommen kann. Zuletzt gibt es noch einen Platz für den Schiffsgeist, der über bestimmte, für diese Familie wichtige Eigenschaften verfügt: ein Geist, der schlichtet, der beruhigt, der ordnet usw. Abschließend können alle Schiffe auf einem großen Ozean (blaues Wachstuch) zueinander in Beziehung gestellt werden, sodass eine Flotte, ein Hafen oder Ähnliches entsteht. 7.7.5

Thema „Mentalisieren“

zz Aktion: Auf der Bühne

Diese Aktion wird oft einer Gestaltungsaktion vorangestellt, um die Gruppe auf das Thema einzustimmen. Dabei wird der Reihe nach jedes Kind „auf die Bühne gestellt“. Dazu bekommen die Gruppenmitglieder die Aufgabe, sich das betreffende Kind (das nur imaginär auf der Bühne steht, ansonsten auf seinem Platz sitzen bleiben kann) anzuschauen und zu überlegen, was diesem Kind wichtig sein könnte, wen oder was es auf eine einsame Insel mitnehmen würde. Das Kind selbst äußert sich dazu weder verbal noch nonverbal. Nachdem einige Aspekte durch die Gruppe „erahnt“ wurden, löst das Kind auf, was davon richtig ist und was gegebenenfalls noch fehlt. Bei der Übung „Körperbild mit positiven Eigenschaften“ (siehe oben) kann diese Übung in der Weise modifiziert werden, dass die Gruppe rät, welches die positiven Eigenschaften des Kindes sind. Im Kontext der Elterngruppe wenden wir die Übung in der Weise an, dass ein Elternteil imaginär „auf der Bühne“ steht. Die anderen Eltern erahnen dann, was die positiven elterlichen Eigenschaften dieses Elternteils sind. Eine Therapeutin schreibt diese Aspekte mit und liest nach dem Sammeln von ca. zwölf Aspekten die Liste vor: „Frau Müller ist zugewandt, freundlich, sie kämpft für ihr Kind, sie ist neugierig auf ihr Kind …“. In einer Kinderrunde kann zum Thema „Stärken und positive Eigenschaften“ gesammelt werden. Nach der

7

82

U. Behme-Matthiessen und T. Pletsch

Sammlung durch die Gruppe wird dem Kind die Liste vorgelesen und das Kind kann korrigieren und ergänzen. zz Aktion: Familienschummelsteckbrief

Diese Übung ist auch bekannt unter dem Namen „Schummelsteckbrief“ oder „3 Wahrheiten und eine Lüge“. Jede Familie formuliert  – ohne dass die anderen Familien dies mitbekommen  – drei typische Eigenschaften der Familie (z.  B.  Freizeitbeschäftigungen, Urlaubsaktivitäten, Lieblingsessen, besondere Stärken etc.) und eine nicht allzu abwegige Unwahrheit über die Familie schriftlich auf einem Papier.

7

Mentalisieren

Fallbeispiel Familie Müller schreibt z. B.: Wir backen gemeinsam Pizza, wir grillen gerne, wir gehen schwimmen und wir treffen uns zuhause zu einem Filmabend. Die anderen Familien haben jetzt den Auftrag, sich Familie Müller genau anzusehen und – vielleicht auch aus erinnerten Vorinformationen – die eine geschummelte Eigenschaft zu erahnen.

7.7.6

Thema „Abschluss“

zz Aktion: Wunschbaum

Wird ein Kind aus der Gruppe verabschiedet, so bekommt es einen ca. 45 cm hohen Baum aus Sperrholz. Die anderen Teilnehmer schreiben auf kleine vorgeschnittene rote und gelbe Papieräpfel ihre guten Wünsche für die weiteren Wege des Kindes auf. Das Kind klebt diese „Wunschfrüchte“ auf seinen Baum, anschließend liest ein Elternteil die guten Wünsche der gesamten Gruppe vor. zz Aktion: Skalierungen/Aufstellungen

Im Besonderen zum Abschluss der Multifamilientage arbeiten wir gerne mit Skalierungen. Dabei legen wir auf DIN-A4Papier aufgedruckte Zahlen von 1 bis 10 im Gruppenraum in einer ­langen Reihe aus und bitten die Teilnehmer, sich zu bestimmten Fragen zu positionieren: 55 „Wie habe ich den MFT-Tag erlebt?“ 55 „Wie schätze ich (wenn erfolgt) das Erreichen meiner persönlichen Zielsetzungen ein?“ 55 An die Kinder gerichtet: „Wie schätze ich es ein, hat Mama/ Papa die Zusammenarbeit der Familie heute gefallen?“

83 Multifamilientherapeutische Praxis

Umgekehrt werden die gleichen Fragen an die Eltern gerichtet. Im Anschluss können Eltern und Kinder dann ihre jeweiligen „Standpunkte“ gegebenenfalls korrigieren oder kurz erklären. Im Sinne eines Vertrauensaufbaus zum therapeutischen Team kann es auch hilfreich wirken, wenn die Eltern die teilnehmenden Therapeut*innen/Mitarbeiter*innen einschätzen und diese dann ihren „Standpunkt“ einnehmen und erklären. (Behme-Matthiessen und Pletsch 2016 Praxis Familiengruppe, Aachen, Shaker Verlag) ??Verständnisfragen 1. Skizzieren Sie drei unterschiedliche Zeitformate zur Umsetzung der Multifamilientherapie. 2. Welche „unglücklich machenden Familienideale“ (J.  Sch­ weitzer) können Sie benennen? 3. Was ist im Besonderen bei der Arbeit mit psychisch kranken Eltern in der Multifamilientherapie zu beachten? 4. Welche beiden Arbeitsphasen beschreiben wir in der multifamilientherapeutischen Praxis? 5. Beschreiben Sie eine Gruppenaktion, die im Rahmen der Multifamilientherapie angewendet wird.

Literatur Asen, E., & Scholz, M. (2012). Praxis der Multifamilientherapie. Heidelberg: Carl-Auer Verlag. Behme-Matthiessen, U., & Pletsch, T. (2016). Praxis Familiengruppe. Aachen: Shaker Verlag. Schweitzer, J. (2004). Unglücklich machende Familienideale – Ihre Dekonstruktion in der Psychotherapie. Zeitschrift „Der Psychotherapeut“, 49, 15–22. Heidelberg. Wirtz, M. A. (2014). Schweigepflicht. In M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon der Psychologie (18. Aufl., S. 1380). Bern: Hogrefe Verlag.

7

Skalierung und Aufstellung

85

Anwendungsfelder der Multifamilientherapie Ulrike Behme-Matthiessen, Tina Schlüter und Henner Spierling Inhaltsverzeichnis 8.1

Multifamilientherapie bei Anorexiebehandlung – 86

8.1.1 8.1.2

 norexia nervosa – 86 A Familientherapie bei der Behandlung von Anorexia nervosa – 87 Multifamilientherapie bei der Anorexiebehandlung von Jugendlichen – das Dresdener Modell – 88

8.1.3

8.2

 ultifamilientherapie in der Sozialpädiatrie am  M Beispiel des juvenilen Diabetes Typ 1 – 92

8.2.1

T yp-1-Diabetes und Jugendalter: ein besonderes Konfliktfeld? – 93 Das biopsychosoziale Krankheitsmodell – 93 Adverse Childhood Experiences – 94 Anpassungs- und Bewältigungsleistungen der Familien – 95 Familiäre Belastungen bei chronischen Erkrankungen – 97 Multifamilientherapie bei Diabetes – 98

8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.2.6

8.3

 ultifamilientherapie bei stationärer kinder- und M jugendpsychiatrischer Suchtbehandlung – 100

8.3.1

 sychische und Verhaltensstörung durch psychotrope P Substanzen – 100 Stationäre qualifizierte Suchtbehandlung – 101 Familientherapie – 101 Multifamilientherapie im Rahmen einer stationären Suchtbehandlung – 102

8.3.2 8.3.3 8.3.4

Literatur – 105 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Behme-Matthiessen, T. Pletsch (Hrsg.), Lehrbuch der Multifamilientherapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61196-8_8

8

86

U. Behme-Matthiessen et al.

8.1

Multifamilientherapie bei Anorexiebehandlung

Ulrike Behme-Matthiessen 8.1.1

Anorexia nervosa

Anorexia nervosa oder Magersucht wird charakterisiert durch einen „erheblichen, selbst verursachten Gewichtsverlust und die Beibehaltung eines für das Alter zu niedrigen Körpergewichtes, getrieben von der Idee, trotz Untergewicht zu dick zu sein“ (in Asen und Scholz 2017).

„Anorexia nervosa (oft bez. als Magersucht) zählt zu den Essstörungen und ist charakterisiert durch die Weigerung, ein Minimum des normalen Körpergewichts zu halten. Diese Weigerung wird begleitet von großer Angst vor Gewichtszunahme, einer erheblichen Wahrnehmungsstörung der eigenen Figur und des Körpergewichts und ggf. einer Amenorrhoe (Ausbleiben der Menstruation über mehr als drei Zyklen). Der angestrebte Gewichtsverlust wird durch Reduktion der Nahrungsaufnahme (Diäten), durch selbstinduziertes Erbrechen (purging) und/oder Missbrauch von Laxanzien oder Diuretika sowie durch übermäßige körperliche Betätigung erreicht. Das Untergewicht führt häufig zu depressiven Symptomen (Depression), wie depressiver Stimmung, soz. Rückzug, Reizbarkeit, Schlaflosigkeit (Schlafstörungen), vermindertem sexuellem Interesse. Auch Zwangsverhalten (Zwangsstörungen; Sammeln von Rezepten, Horten großer Nahrungsmengen) können die A. begleiten, ebenso wie ein starkes Bedürfnis, die Umwelt zu kontrollieren, rigides Denken, reduzierter emot. Ausdruck (Emotionen), Vorbehalte, in der Öffentlichkeit zu essen“ Anorexia nervosa. In M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon der Psychologie. 7 https://portal.­hogrefe.­com/dorsch/ anorexia-nervosa-1/. Zugegriffen am 04.07.2019).

8

Anorexia nervosa als multifaktorielles Geschehen

Das Krankheitsbild entsteht als multifaktorielles Geschehen, bei dem intrapsychische, soziokulturelle, genetische und neurobiologische Faktoren ineinandergreifen und sich gegenseitig beeinflussen. Zunehmender Kontrollverlust und veränderte Selbst- und Fremdwahrnehmung kennzeichnen den Krankheitsverlauf. Veränderte Kognitionen wie selektives Abstrahieren („wenn ich dünn bin, wird alles besser“) und Alles-

87 Anwendungsfelder der Multifamilientherapie

8

oder-nichts-Denken („wenn ich wieder normal esse, werde ich dick“) erschweren die Behandlung. Die Magersucht ist die dritthäufigste chronische Erkrankung bei adoleszenten Mädchen mit einer hohen Mortalitätsrate von bis zu 15 %. Bei den betroffenen Patientinnen unterbricht die Erkrankung den gesamten Entwicklungsverlauf mit gravierenden somatischen und psychischen Folgen bis ins Erwachsenenleben hinein. 8.1.2

 amilientherapie bei der Behandlung von F Anorexia nervosa

Ein frühzeitiges multimodales Therapiekonzept hat sich in der Behandlung als wirkungsvoll erwiesen Eine stationäre Behandlung ist unabdingbar bei schwerem Gewichtsverlust, ausgeprägten komorbiden Störungen sowie sehr zugespitzten familiären Konflikten. In der Behandlung von jugendlichen Patient*innen kommt der Familientherapie eine besondere Bedeutung zu, der Ansatz wurde in verschiedenen Behandlungsmanualen operationalisiert und in kontrollierten Studien untersucht (Eisler et al. 2016 in Asen und Scholz 2017). Nach Eisler (Asen und Scholz 2017) sind die zentralen therapeutischen Elemente einer Familientherapie bei Anorexie: 55 Verdeutlichen, dass Magersucht eine lebensbedrohende Erkrankung ist und dass bei der Genesung die Familie eine wichtige Rolle spielt. Entlastung von Schuldgefühlen: Es wird betont, dass die Familie die Erkrankung nicht verursacht hat 55 Zu Beginn der Behandlung müssen sich die Eltern vorübergehend um das Essverhalten des Kindes kümmern als Ausdruck elterlicher Fürsorge 55 Psychoedukation über die Auswirkungen des Hungerns, die Rolle von neurobiologischen Faktoren und Persönlichkeitszügen sowie Komorbiditäten 55 Externalisierung der Krankheit, um auf einer Metaebene und mit einer gewissen Distanz die Erkrankung bearbeiten zu können 55 Thematisierung des Lebenszyklus des Jugendlichen und der Familie

Bewährt hat sich ein multimodales Therapiekonzept

Die Multifamilientherapie basiert auf den gleichen Prinzipien wie die Familientherapie, sie unterstützt die Familien zusätzlich, das Gefühl der Isolation und Stigmatisierung zu überwinden und ihre eigenen Ressourcen optimal zu nutzen. Die MFT

Multifamilientherapie als ergänzende Säule in ambulanten und stationären Behandlungskonzepten

Psychoedukation, Abbau von Schuldgefühlen sowie elterliche Fürsorge in der Familientherapie

88

U. Behme-Matthiessen et al.

kann eine ergänzende Säule sowohl in einem stationären wie auch in einem ambulanten Behandlungskonzept sein. Zur Veranschaulichung soll hier beispielhaft das Dresdener Modell (Rix und Scholz in Asen und Scholz 2017) dargestellt werden. 8.1.3

Das Dresdener Modell der Anorexiebehandlung mit Multifamilientherapie

8

 ultifamilientherapie bei der M Anorexiebehandlung von Jugendlichen – das Dresdener Modell

Folgende therapeutische Grundgedanken liegen dem Dresdener Modell zugrunde. Bei der Behandlung der Anorexie mit Multifamilientherapie geht es um die familiären Beziehungen im Spannungsfeld zwischen emotionaler Verbundenheit und Autonomie. Die Eltern bleiben in ihrer Verantwortung und werden aktiv in die Behandlung einbezogen. Das therapeutische Setting soll Perspektivwechsel (intra- und interpersonell) ermöglichen. Dazu finden Wechsel zwischen verschiedenen Gruppenkonstellationen statt (Großgruppe, Kleingruppen, Elterngruppen, Elterntausch) und es wird mit unterschiedlichen Medien und gestalterischen Aktionen gearbeitet. Die Gesamtdauer der Behandlung beträgt 20 Therapietage, verteilt über ein Jahr. 12 Therapieeinheiten finden in den ersten 5  Monaten statt (Intensität), 8  Einheiten sind auf die restlichen 7 Monate verteilt (Kontinuität). Zwischen den Therapieeinheiten werden die jugendlichen Patient*innen und ihre Eltern je nach Bedarf medizinisch sowie individualtherapeutisch und familientherapeutisch betreut. Der Tagesablauf während der Therapietage ist hochstrukturiert mit festgelegten Mahlzeiten und Therapiezeiten (3 Mahlzeiten, 4 therapeutische Einheiten). Pro Therapiedurchgang können 6–8 Familien teilnehmen. Es hat sich bewährt, die Gruppe als geschlossene Gruppe zu führen. Die Behandlung ist in drei Phasen eingeteilt: symptomorientierte Phase, beziehungsorientierte Phase und zukunftsorientierte Phase. zz Phase 1: Symptomorientierte Phase

Symptomorientierte Phase

In der symptomorientierten Phase geht es um Motivation und Gruppenkohäsion. Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung sind der Aufbau einer stabilen und tragfähigen therapeutischen Beziehung sowie eine vertrauensvolle Gruppenatmosphäre. Von daher steht am Anfang der Aufbau einer vertrauensvollen Gruppenatmosphäre mithilfe verschiedener Aktionen,

89 Anwendungsfelder der Multifamilientherapie

8

bei denen sich die Familien kennenlernen (gegenseitige Interviews und erste gemeinsame Mahlzeiten). In der ersten Phase geht es um Verantwortungsübernahme durch die Eltern, Grenzsetzungen durch die Eltern, Kompetenz bezüglich Mahlzeiten, Krankheitswissen sowie Abbau von Schuldgefühlen. Spezifische MFT-Aktionen in dieser Phase sind z. B. Essenscollagen, Visualisierung der Körperschemastörung oder Schreiben eines Briefes an die Magersucht (Externalisierung). Tipp

Essenscollagen Die Mitglieder einer Familie werden aufgefordert, symbolische Mahlzeiten aus Buntpapier oder aus Essensillustrierten auszuschneiden. Anleitung: „Liebe Eltern, erstellen Sie bitte mithilfe der bereitgestellten Bastelutensilien eine Mahlzeit für Ihre Tochter, so wie sie bei Ihnen zu Hause am nächsten Sonntag möglich wäre. Bitte schneiden Sie die Zutaten in realer Größe aus und kleben Sie sie auf die (Papp-)Teller. Und ihr, liebe Jugendliche, bitte stellt jeder ein Essen für sich selbst zusammen, so wie ihr es euch für nächsten Sonntag wünschen würdet.“ (Asen und Scholz 2009, S. 66)

zz Phase 2: Beziehungsorientierte Phase

In der zweiten Phase steht beziehungsorientierte psychotherapeutische Arbeit im Mittelpunkt. Es werden die die Krankheit beeinflussenden familiären Interaktionen identifiziert und bearbeitet. Hierbei geht es um Kommunikationsstörungen, Hierarchieverschiebungen und emotionale Verstrickungen. Auch wird die Funktion der Anorexie im familiären Gefüge zum Thema gemacht. Ziele sind unter anderem, die Konflikt- und Versöhnungsfähigkeit in der Familie zu erhöhen und Veränderungen in den familiären Beziehungen und in der Organisation des täglichen Lebens anzustoßen. Spezifische MFT-Aktionen in dieser Phase sind Tonskulpturen, Genogramme, Videofeedback. Tipp

Tonskulpturen „Alle Familien sitzen an Tischen und erhalten die Instruktion zur Erstellung einer Tonfamilienskulptur. Anschließend werden die Tische weggeräumt, und alle setzen sich in einen gro-

Beziehungsorientierte Phase

90

U. Behme-Matthiessen et al.

ßen Kreis, in dessen Mitte jeweils eine der Skulpturen zur Auswertung gebracht wird. Jede Familie stellt ihre eigene Skulptur vor und berichtet über den Erstellungsprozess, den Titel und seine Begründung.“ Danach sprechen die anderen Familien über die Skulptur, während die Gestalter-Familie zuhört. (Welche Ressourcen werden deutlich? Wo gibt es Veränderungsbedarf ? Wer könnte aktiv werden? Wo wird die Störung sichtbar?) (Asen und Scholz 2009, S. 62,63)

zz Phase 3: Zukunftsorientierte Phase Zukunftsorientierte Phase

8

In dieser dritten Phase geht es um die Stabilisierung erreichter Erfolge und um den Umgang mit Stagnation und Rückschritt. Mit der Familie wird eine Rückfallprophylaxe erarbeitet, und es werden konkrete Schritte besprochen, wie sie mit einem eventuellen Rezidiv umgehen können. Ziele sind die Sicherung des Gewichtes und die Verhinderung von Resignation bei wieder auftretenden Schwierigkeiten. Für die Eltern ist es wichtig, sich stützender Alltagsstrukturen bewusst zu sein und persönliche Kraftquellen beizubehalten. Ziel für die Jugendlichen ist es, Kontakte zu Gleichaltrigen aufzubauen und zu pflegen. Spezifische Aktionen in dieser Phase sind unter anderem Stimmungsbarometer und Zeitreisen. Tipp

Zeitreise Den Jugendlichen stellt man in Abwesenheit der Eltern Papiermasken zu Verfügung, die Erwachsene darstellen. Sie absolvieren mit den Therapeut*innen einen gedanklichen Zeitsprung von ca. 30 Jahren. Die Jugendlichen spielen sich selbst in 30 Jahren, wie sie sich bei einem Kaffeekränzchen wiederbegegnen und über ihr Leben berichten. Dabei sind die Eltern anwesend. „Ich freue mich, dass Sie nach 30 Jahren hergekommen sind. Wie heißen Sie jetzt? Ehen? Kinder? Berufsausbildung? Rückfälle? Was hat damals geholfen? Was hat Ihren Eltern geholfen?“ (Asen und Scholz 2009, S. 88–89)

Die dargestellten therapeutischen Phasen (. Abb.  8.1) und die in jeder Phase angewendeten MFT-Techniken, Übungen und Aktivitäten sind in einem Überblicksartikel (Rix,M und Scholz,K in Asen und Scholz 2017 S. 138–147) erläutert und in  

91 Anwendungsfelder der Multifamilientherapie

8

Phase 1: symptomorienert

Movaon

Vertrauensvolle Gruppenatmosphäre

Therapeusche Beziehung

Behandlungsgrundlage

Phase 2: beziehungsorienert

Vater

Muer

Paenn

Geschwister Phase 3: zukunsorienert

Stabilisierung erreichter Erfolge, Umgang mit Stagnation Zukunft

Jetzt ..      Abb. 8.1  Phasen der Anorexiebehandlung

92

U. Behme-Matthiessen et al.

einem Therapiemanual ausführlich beschrieben (7 www.­carlauer.­de/machbar/handbuch_der_multifamilientherapie). Die Durchführung einer Multifamilientherapie mit essgestörten Kindern und Jugendlichen und ihren Familien setzt fundierte medizinische und psychologische Kenntnisse und Erfahrung in der Diagnostik und Behandlung dieses Krankheitsbildes voraus. In den seltensten Fällen gelingt eine ausreichende Verbesserung bzw. Heilung ausschließlich mit diesem multifamilientherapeutischen Setting. Eine langfristige psychotherapeutische und medizinische Anbindung der Patienten und deren Familien ist dringend zu empfehlen (Rix und Scholz 2017).  

??Verständnisfragen

8

1. Wann ist eine stationäre Anorexiebehandlung indiziert? 2. Nennen Sie wesentliche therapeutische Elemente einer Familientherapie bei der Behandlung von Anorexie. 3. Erläutern Sie die drei Behandlungsphasen des Dresdener Modells mit ihren Schwerpunkten. 4. Was sind wesentliche Interventionen bei der Rückfallprophylaxe?

8.2

 ultifamilientherapie in der Sozialpädiatrie M am Beispiel des juvenilen Diabetes Typ 1

Henner Spierling

Multifamilientherapie ist im klinischen Bereich weit verbreitet, allerdings vorwiegend im kinder- und jugendpsychiatrischen Kontext. Der vorliegende Abschnitt möchte zeigen, dass Mehrfamilienarbeit auch in pädiatrischen Arbeitsfeldern und insbesondere bei chronischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter hilfreich sein kann. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Arbeit mit an Diabetes mellitus Typ 1 erkrankten Kindern und Jugendlichen sowie deren Familien.

Diabetes mellitus Typ 1 resultiert aus einer autoimmunen Zerstörung von Zellen der Bauchspeicheldrüse und hiermit verbundenem Insulinmangel. Die so erhöhten Werte der Blutglukose (Hyperglykämie) führt zu weiteren Folgeschäden am Gefäßsystem mit langfristig erhöhtem Risiko schwerer Folgeerkrankungen. Es handelt sich hierbei um die häufigste Stoffwechselerkrankung im Kindes- und Jugendalter.

93 Anwendungsfelder der Multifamilientherapie

8.2.1

 yp-1-Diabetes und Jugendalter: ein T besonderes Konfliktfeld?

Als chronische Stoffwechselerkrankung stellt der juvenile Diabetes mellitus Typ 1 besondere Herausforderungen an die betroffenen Familien. Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz im Sinne der Autonomieentwicklung geraten dabei häufig in ein Spannungsfeld mit erkrankungsassoziierten Versorgungsthemen. Familiäre Interaktionen werden dadurch oft in einem erheblichen Ausmaß belastet. Satin et  al. (1989) beschreiben diesen Zusammenhang folgendermaßen:

»» Die Adoleszenz ist eine abgrenzbare Entwicklungsphase mit

bedeutsamen Veränderungen in physischer, kognitiver und sozial-­emotionaler Hinsicht. Diese normalen Veränderungsprozesse erschweren erfolgreiches Management der Diabeteserkrankung. Der Aufbau eines Autonomieerlebens und von mehr Unabhängigkeit von der Herkunftsfamilie ist ein Beispiel für eine Entwicklungsaufgabe, die die Adoleszenzphase prägt und die besonderen Herausforderungen für Jugendliche mit Diabetes beinhaltet. Es ist häufig schwierig für Familien, eine passende Balance zwischen gezeigtem Interesse und Freiheitsgraden zu halten, die die Jugendlichen für den Übergang in das Erwachsenenalter und zum Erreichen von Eigenständigkeit benötigen. (…) So haben Eltern oftmals Schwierigkeiten dabei, Kontrolle schrittweise abzugeben, wenn ihre Kinder ein nicht angemessenes Maß an Selbstfürsorge und Versorgung zeigen. Häufig bedeutet die Kombination von Diabetes und Adoleszenz ein hohes Ausmaß an Spannung und Konflikten für die jugendlichen Patienten, die Eltern und versorgende Teams/Akteure im Gesundheitswesen (Satin et al. 1989, eigene Übersetzung) (Goll-Kopka 2012.)

8.2.2

8

Das biopsychosoziale Krankheitsmodell

Das biopsychosoziale Krankheitsmodell schließt die kranke Person in ihrem psychischen Erleben und sozialen Verhältnissen ein. Es werden also nicht nur biologische Phänomene, sondern auch die psychischen, sozialen und verhaltensbezogenen Prozesse berücksichtigt und integriert. Die Erklärung und Behandlung von Krankheit hat daher nicht nur auf einer körperlich-physiologischen Ebene zu erfolgen, sondern auch die Individuen und die Gesellschaft mit ihren psychischen und sozialen Determinanten von Krankheit systematisch in Forschung und Praxis einzubeziehen.

Juveniler Diabetes mellitus im Spannungsfeld zwischen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz und erkrankungsassoziierten Versorgungsthemen

94

U. Behme-Matthiessen et al.

bio psycho

sozial

8

..      Abb. 8.2  Biopsychosoziales Krankheitsmodell

Ein mit dem biopsychosozialen Modell verwandtes Konzept ist die Psychoneuroimmunologie, die eindrucksvoll Zusammenhänge zwischen primär somatisch betrachteten Erkrankungen und psychischen Prozessen sowie deren enge Aufeinanderbezogenheit beschreibt (. Abb. 8.2). Skandinavische Studien zeigen sowohl einen Zusammenhang zwischen der psychischen Belastung der Eltern zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes und dem Risiko des Neugeborenen, eine Diabeteserkrankung im späteren Kindes- und Jugendalter zu entwickeln. Unter anderem zeigt sich ein Zusammenhang zwischen erhöhten Sorgen und psychischen Belastungen der Mütter mit höheren Antikörperkonzentrationen gegen Insulin im Nabelschnurblut während der Schwangerschaft (Schubert und Exenberger 2015).  

8.2.3 Die ACE-Studie untersucht den Zusammenhang zwischen negativen Kindheitserfahrungen und Erkrankungen im späteren Lebensalter

Adverse Childhood Experiences

Die Adverse Childhood Experiences (ACE) Study ist ein groß angelegtes epidemiologisches Projekt der Southern California Permanente Medical Group in San Diego, die den Einfluss von negativen Kindheitserfahrungen (z.  B.  Erfahrungen von Gewalt und Vernachlässigung, belastete ­Elternbeziehungen,

95 Anwendungsfelder der Multifamilientherapie

psychische Erkrankungen oder Gefängnisaufenthalte der Eltern) auf gesundheitsschädliche Verhaltensweisen und Erkrankungen im Erwachsenenalter und in der Adoleszenz untersucht (Felitti et  al 1988). Die Ergebnisse zeigen, dass sich potenzielle Einflüsse von frühen psychischen Belastungen auf das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko über die gesamte Lebensspanne erstrecken. Es zeigt sich auch, dass in der Kausalkette weiter zurückliegende Einflussfaktoren – wie belastende Erlebnisse in der frühen Kindheit  – höhere Vorhersagekraft für späteres Auftreten von z.  B.  Entzündungserkrankungen haben als traditionelle Risikofaktoren (z.  B. gesundheitsschädliches Verhalten). Ähnliche Ergebnisse liegen vor für das Risiko der Entwicklung koronarer Herzerkrankungen, Krebs und chronischer Lungenerkrankungen, aber auch für Risikoverhalten (wie Tabak-, Alkohol- und Drogenkonsum) sowie das Risiko, an Adipositas oder Diabetes zu erkranken (Schubert und Exenberger 2015; Felitti et al. 1988) In der nationalen englischen ACE-Studie berichten fast die Hälfte (47  %) der befragten Personen von wenigstens einem ACE, 9 % berichten von vier oder mehr negativen Kindheitserfahrungen (Bellis et al. 2014). Um Missverständnissen vorzubeugen: Es wird hier selbstverständlich nicht die Auffassung vertreten, dass sich ein großer Teil der Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter direkt – und schon gar nicht monokausal begründet – auf dysfunktionale Familiensysteme zurückführen lassen. Die vorliegenden Studien zeigen jedoch deutlich, dass es sich lohnt, die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Systemebenen mit in Betracht zu ziehen und die Art, wie sich Kommunikation und Beziehungsmuster in den Familien oftmals um einzelne Symptome organisieren. Die Multifamilienarbeit bietet hierzu einen geeigneten Ansatz – insbesondere auch um in den Blick zu nehmen, welche Ressourcen Familien nutzen und weiterentwickeln können, um trotz bestehender Belastungen möglichst gut zurechtzukommen.

8.2.4

 npassungs- und Bewältigungsleistungen A der Familien

Familien als soziale Systeme streben danach, einen ausgeglichenen Zustand zwischen Fähigkeiten, Ressourcen und Bewältigungsmechanismen (Coping) aufrechtzuerhalten. Das Aufrechterhalten eines ausgeglichenen Zustands kann zu einer schwierigen Herausforderung werden, wenn alltägliche Beanspruchungen und Belastungen zunehmen. Hierzu stehen grundsätzlich drei Wege offen (vgl. Retzlaff 2016, S. 84):

8

96

U. Behme-Matthiessen et al.

55 die Aktivierung neuer Ressourcen und Coping-Strategien, 55 eine Entlastung durch Reduzierung der Anforderungen und 55 eine Veränderung der Sichtweise der belastenden Situation. Aktivierung von Ressourcen und neuen Deutungsmustern bei familiären Krisen

Im Prozess des Umgangs mit Krisen entwickelt die Familie neue Regeln, findet neue Freunde, erschließt sich Unterstützungsangebote im sozialen Umfeld oder entwickelt neue Perspektiven und Wertvorstellungen. Verfügbare Ressourcen und familiäre Deutungsmuster sind in dem Familienanpassungsmodell („Family Adjustment and Adaptation Response Model“ – FAAR) nach Patterson (1988) entscheidend für gelingende Anpassungsleistungen, insbesondere bei chronischer Erkrankung oder Behinderung von Kindern in der Familie (. Abb. 8.3). Auf der Grundlage des biopsychosozialen Modells wird Resilienz als prozesshaftes Geschehen verstanden, bei dem das soziale System Familie sich zumindest teilweise autonom gegenüber der Wirkung von Kontextbedingungen entwickeln kann. Dieses beinhaltet Wechselwirkungen und rekursive Prozesse zwischen Individuen, Familie und weiteren sozialen Systemen. Als Schlüsselprozesse der Resilienz von Familien werden unter anderem eine Balance zwischen den Bedürfnissen der Familienmitglieder, aktive Bewältigungsschritte bei Krisen und Belastungen und der Aufbau kooperativer Beziehungen mit Helfersystemen beschrieben (siehe auch 7 Kap.  2). Die Balance zwischen den Bedürfnissen der übrigen Familie und Erfordernissen, die mit chronischer Erkrankung oder Behin 

8

Resilienzentwicklung bei chronischen Erkrankungen



Krise

Anpassung / Adaption der Familie

Bedeutungsgebung Situationsbezogene Einschätzung Familienidentität Weltsicht

Anforerungen Stressoren Beanspruchungen Alltagsprobleme

Fähigkeiten Ressourcen CopingVerhalten

..      Abb. 8.3  Das Familienanpassungsmodell (FAAR, nach Patterson 1988, hier aus Retzlaff 2016)

97 Anwendungsfelder der Multifamilientherapie

derung verbunden sind, ist für viele Familien eine besondere Herausforderung, bei der MFT-Ansätze besonders hilfreich sein können. 8.2.5

 amiliäre Belastungen bei chronischen F Erkrankungen

Folgende Faktoren werden in der Literatur als Belastungsfaktoren von Familien bei chronischer Erkrankung benannt. 55 Eingebundensein in eine gestörte Familiendynamik 55 Belastete Partnerschaft der Eltern 55 Verschlechterung des Krankheitsverlaufs kann latente Paarkonflikte aufbrechen lassen 55 Ablösung/Verselbstständigung erschwert durch wenig auf Autonomie und Reifung ausgerichtetes Erziehungsverhalten 55 Elterliche Angst um Wohlergehen fördert Überfürsorge und Einengung 55 Weigerung der Eltern, über ggf. infauste Prognose zu sprechen 55 Negatives Körpererleben behindert das Selbstwerterleben und behindert unbefangenen Kontakt zu Gleichaltrigen oder anderem Geschlecht 55 Gefühl des Bedrohtseins und Ängste vor Verschlimmerung, Verlassenwerden (soziale Isolation), Tod 55 Gefühl der Sinnlosigkeit Kognitive, emotionale und handlungsbezogenen Bemühungen des Einzelnen oder der Familie, die Gesamtheit der Belastungen der Krankheit zu ertragen und die Anforderungen der Behandlung zu meistern sind bestimmend für das Gelingen der Krankheitsbewältigung. Entscheidend sind auch krankheitsabhängige implizite Krankheitsvorstellungen der Familie und des Kindes sowie die Verarbeitung von kritischen Lebensereignissen und bisherigen Krankheitserfahrungen als Familie. Bei Erkrankungen mit fortschreitendem Charakter oder mit hoher Lebensbedrohlichkeit ist kontinuierliche psychosoziale Betreuung besonders wichtig. Beratungsinhalte sind unter anderem: 55 Emotionale Verarbeitung der hochbedrohlichen Diagnose und Klärung möglicher Schuldgefühle bezüglich der Verursachung der Erkrankung 55 Entwicklung einer angemessenen Bewältigungshaltung 55 Wahrheitsgemäße, an das kognitive und emotionale Reifungsniveau angepasste Aufklärung des Kindes über Krankheit und Behandlung

Familiäre Belastungen bei chronischer Erkrankung

8

98

U. Behme-Matthiessen et al.

55 Stärkung einer offenen innerfamiliären Kommunikation 55 Schutz einzelner Familienmitglieder vor Überbelastung 55 Stärkung des familiären Zusammenhaltes (Kohärenz) 55 Sicherung der Lebensqualität und psychischen Gesundheit aller Familienmitglieder 8.2.6

Multifamilientherapie bei Diabetes

Beispielhaft soll hier der Einsatz von Multifamilientherapie bei Diabetes im Rahmen einer Diabetesschulung (SPZ Rotenburg) dargestellt werden. Dieses Setting bot sich im Rahmen einer Sommerschulung für die jugendlichen Patienten an, die jeweils am Wochenende von ihren Familien gebracht und abgeholt wurden. Mit vergleichsweise geringem Aufwand konnten die gesamten Familien dabei zu einem MFT-Nachmittag eingeladen werden, der auf eine hohe Akzeptanz stieß und zu einem aus vier Nachmittagen bestehenden Programm weiterentwickelt wurde (vgl. Spierling und Mohr 2014; Spierling 2017).

8

zz Besonderheiten des Settings: Störungsspezifisches Wissen und Prozesskompetenz Einbeziehung von speziellen Fachkräften bei der Multifamilientherapie bei Diabetes mellitus

Wie bei anderen MFT-Formaten erfolgt die Durchführung durch mindestens zwei MFT-­ Therapeut*innen. Zusätzlich hilfreich zeigt sich der Einbezug von weiteren Fachkräften , die störungsspezifisches Wissen einbringen und auftauchende Fragen zur Versorgung und Behandlung unmittelbar und kompetent beantworten können. Idealerweise besteht das Team aus drei Personen in unterschiedlichen Rollen: 55 zwei MFT Therapeut*innen, die die Verantwortung für den Gruppenprozess, die Auswahl, Moderation und Reflexion der Übungen und die Entwicklung der Gruppenkohärenz übernehmen und sich – wie in anderen MFT-Formaten  – in ihren Rollen als aktive und beobachtende Therapeut*innen abwechseln 55 eine Fachkraft (idealerweise Diabetolog*in oder vergleichbare Ausbildung), um störungsspezifisches Wissen und die medizinisch-pflegerische Betreuung (z.  B.  Begleitung der Blutzuckermessungen bei den Mahlzeiten) vorzuhalten zz Ablauf und besondere Aktionen in pädiatrischen Kontext

Der Ablauf des dreitägigen MFT-Programms beginnt jeweils mit einer Startrunde zum Kennenlernen und zur Besprechung aktueller Fragen. Am ersten Tag steht neben ressourcenorientierten Aktionen eine Eingangsuntersuchung (CBCL, YSR, „subjektives Familienbild“) auf dem Programm.

99 Anwendungsfelder der Multifamilientherapie

Am zweiten Tag beschäftigen sich die Familien mit Familienregeln (auch bezüglich der Diabetesversorgung) sowie mit Familienkonflikten und Lösungsmöglichkeiten. Am dritten Tag gibt es eine Einheit zur Psychoedukation, bei der die Jugendlichen als Expertenrunde einen Vortrag zum Thema Diabetes erarbeiten und den Eltern präsentieren (ausgestattet mit Kittel und Stethoskop als medizinisches Fachpersonal). Auch beschäftigen Eltern und Kinder sich mit den gegenseitigen Gefühlen und Gedanken zum Thema Diabetes . Tipp

Gehirnscanning Die Familien erhalten Papierkopien von adaptierten Gehirnschnitten mit unterschiedlich großen Hohlräumen mit der Aufforderung, sich das Gehirn ihrer Tochter/ihres Sohns/der Eltern vorzustellen. Sie werden gebeten, die Hirnareale ihrer Größe entsprechend der Wichtigkeit der Dinge zuzuordnen, die sie in ihrem Leben beschäftigen.

Bei der anschließende Reflexion wird die Rolle der Erkrankung im Familienleben in der Familiengruppe besprochen. Zum Abschluss geht es um Zukunftsvisionen. Tipp

Talkshow Jugendliche und Eltern nehmen gemeinsam an einer gespielten Talkshow im Fernsehen zu dem Thema „Zufrieden und erfolgreich im Leben – mit Diabetes“ teil, moderiert von einer Therapeut*in. Die beiden anderen Therapeut*innen übernehmen die Rolle von Fernsehzuschauer*innen, die nach 20 Jahren ehemalige Patient*innen und ihre Eltern im Fernsehen wiederentdecken und im Anschluss über die Sendung reflektieren.

zz Rückmeldungen der Kinder und Eltern

Sowohl Kinder/Jugendliche als auch Eltern beschreiben subjektive Verbesserungen hinsichtlich familiärer Interaktion („Wir konnten einiges klären …“), der Entlastung von Streitthemen, gegenseitigen Austausches statt Isolation („Ich habe gemerkt, wir sind damit nicht alleine“), erhöhten Selbstwerterlebens insbesondere auf Seiten der Kinder/Jugendlichen („Meine Tochter traut sich mehr zu“). Deutlich zeigt sich die Wirkung der Multifamilientherapie zudem in Einzelrückmeldungen. So äußerten die Eltern zum Abschluss unter anderem: „Es tut gut zu sehen, dass andere Familien ähnliche Probleme haben.“ „Ich habe mich nach

8

Familienregeln, Familienkonflikte, Krankheitsverständnis, Gedanken und Gefühle zur Erkrankung als zentrale Inhalte

100

U. Behme-Matthiessen et al.

dem ersten Mal endlich normal mit meiner Tochter unterhalten können und gemerkt, dass ich auch selbst ruhiger bleiben muss.“ „Ich habe ganz neue Stärken an meiner Tochter entdeckt, die hat sich in den letzten Monaten toll entwickelt, hoffentlich bleibt das so.“ Verständnisfragen: 1) Wodurch wird die familiäre Interaktion bei Erkrankungen des juvenilen Diabetes Typ1 im Besonderen belastet? 2) Beschreiben Sie das bio-psyco-soziale Krankheitsmodell! 3) Nennen Sie die drei Möglichkeiten der Anpassungs - und Bewältigungsstrategien von Familien. 4) Welche Besonderheiten zeigt das MFT-Setting bei Diabetes Mellitus - Gruppen? 8.3

 ultifamilientherapie bei stationärer kinderM und jugendpsychiatrischer Suchtbehandlung

Tina Schlüter

8

8.3.1

 sychische und Verhaltensstörung durch P psychotrope Substanzen

Hiermit wird ein breites Spektrum von Störungen von unkomplizierter Intoxikation und schädlichem Gebrauch bis hin zu einer Abhängigkeitserkrankung mit schwerwiegenden psychischen und organischen Folgeschäden bezeichnet. Die häufigsten im Jugendalter konsumierten Substanzen sind Alkohol, Cannabis und Ecstasy. 55 Eine Intoxikation ist ein vorübergehendes rauschartiges Zustandsbild nach Aufnahme einer psychotropen Substanz mit Störung des Bewusstseins, der Wahrnehmung, des Verhaltens und der kognitiven und emotionalen Funktionen. 55 Als schädlichen Gebrauch bezeichnet man ein Konsummuster, das zu einer körperlichen oder psychischen Gesundheitsschädigung führt. Schädliches Konsumverhalten wird oft von anderen kritisiert und hat häufig unterschiedliche negative soziale Folgen. 55 Bei einer Abhängigkeit liegen ein starkes zwangsähnliches Verlangen nach der Substanz, eine verminderte Kontrolle und eine Einengung auf den Substanzmissbrauch, eine Toleranzentwicklung und ein körperliches Entzugssyndrom und ein anhaltender Konsum trotz eindeutig schädlicher Folgen vor. Suchterkrankung als multifaktorielles Geschehen aus Umweltfaktoren, genetisch-konstitutionellen Faktoren und Lerngeschichte

Die Entwicklung einer Suchterkrankung ist multifaktoriell bedingt, dabei spielen sowohl genetisch-konstitutionelle Faktoren als auch Umweltfaktoren und lerngeschichtliche Einflüsse eine Rolle.

101 Anwendungsfelder der Multifamilientherapie

8

Da Abhängigkeitsentwicklungen zur Chronifizierung neigen und frühzeitige Interventionen effektiver sind, ist eine qualifizierte kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik und Therapie möglichst frühzeitig anzustreben. 8.3.2

Stationäre qualifizierte Suchtbehandlung

Eine qualifizierte stationäre Entzugsbehandlung sollte in einem speziellen jugendpsychiatrischen Setting niederschwellig angeboten werden und auf Freiwilligkeit beruhen. Kriterien für die Notwendigkeit einer stationären Suchtbehandlung sind Komorbiditäten, Konsumdauer und die psychosoziale Beeinträchtigung. Die Behandlung sollte über die Entgiftungsphase hinausgehen und etwa 6–12 Wochen dauern, mit einem multimodalen und hochstrukturierten therapeutischen Milieu und suchtspezifischen Gruppentherapieangeboten. Die Behandlung gliedert sich in verschiedene Phasen, sie beginnt mit einer körperlichen Entgiftungsphase, darauf folgt eine Motivations- und Entzugsbehandlung mit Überleitung in eine Entlassvorbereitung mit Rückfallprophylaxe. Behandlungsziel ist neben der Behandlung von komorbiden Störungen die Abstinenz und die Entwicklung anderer Emotionsregulations- und Problemlösefähigkeiten. Dafür muss mit den jugendlichen Patienten durchgängig an der Motivation dafür gearbeitet werden. Sehr wichtig ist begleitend der Aufbau von schulischen und berufsvorbereitenden Maßnahmen zur Wiedereingliederung. Eine Überführung in eine rehabilitative Anschlussmaßnahme (Langzeittherapie) ist häufig sinnvoll. 8.3.3

Kriterien für eine stationäre Behandlung: Komorbidität, Konsumdauer und psychosoziale Beeinträchtigung

Behandlungsphasen

Familientherapie

Bei den meisten Patienten mit einer Suchterkrankung sind die familiären Beziehungen durch typische Verhaltensweisen wie Lügen, Vertrauensbrüche, nicht gehaltene Versprechungen und häufig delinquentes Verhalten sehr belastet und bedroht. Viele Familien haben sich in der Vorgeschichte bereits mit dem Gedanken eines kompletten Beziehungsabbruchs auseinandergesetzt und bringen wenig Hoffnung für eine verbesserte Beziehungsgestaltung mit. Der Einbezug der Familien in die Behandlung ist jedoch für die Patienten wichtig zur Aufrechterhaltung der Behandlungsmotivation, zur Entwicklung einer Perspektive, zur Thematisierung bestehender familiärer Belastungsfaktoren und zur Verbesserung der Beziehungsgestaltung.

Familientherapie als Baustein zur Verbesserung der intrafamiliären Interaktion und der familiären Beziehungen

102

U. Behme-Matthiessen et al.

Häufig sind in diesem Kontext eine hohe Emotionalität und eine große Bedürftigkeit nach Verbesserung der intrafamiliären Interaktion und Beziehung zu sehen. Wichtiges Thema ist, immer wieder ein richtiges Maß von Kontrolle versus Vertrauen und Eigenverantwortung anzupassen und dafür in einen konstruktiven Prozess des Aushandelns von Regeln im Umgang miteinander zu kommen. Auch für Jugendliche, die eine außerhäusliche Wohnperspektive benötigen, ist die Unterstützung durch die Familie auf diesem Weg sehr wichtig. 8.3.4

8

Multifamilientherapie in offener Gruppe mit 6–9 Familien

Entlastung der Eltern durch Thematisierung von Scham- und Schuldgefühlen

 ultifamilientherapie im Rahmen einer M stationären Suchtbehandlung

Beispielhaft soll hier der Einsatz von Multifamilientherapie im Rahmen einer stationären Suhtbehandlung am Klinikum Weissenhof, Weinsberg dargestellt werden. Die Multifamilientherapie findet als offene Gruppe 2- bis 3-wöchentlich für 2–3 Stunden statt. Aufgrund der teilweise sehr großen Entfernungen zum Wohnort werden die Termine auf Abholtage vor dem Wochenende gelegt. Die Gruppe besteht aus 6–9 Familien von Jugendlichen in unterschiedlichen Behandlungsphasen. Familien von bereits entlassenen Patienten können ambulant weiterhin teilnehmen. Eltern erleben es als sehr entlastend, durch die Verbindung zu Familien mit ähnlichem Erfahrungshintergrund aus dem schamhaften Isolationserleben herauskommen zu können und zu sehen, dass sie nicht alleine von den suchtspezifischen Problemen betroffen sind, was zu einer Stärkung führt.

..      Wobei hilft MFT in der Klinik

103 Anwendungsfelder der Multifamilientherapie

Die Gruppenzusammensetzung aus betroffenen Jugendlichen und ihren Familien ermöglicht ein Milieu, in dem wieder neue Beziehungserfahrungen gemacht werden können und eine Ressourcenaktivierung entsteht, die Hoffnung auf die Möglichkeit zur Veränderung macht. Die Familien erfahren Unterstützung durch die Gruppe, die Jugendliche erleben Rückmeldungen von anderen zu Stärken und Fähigkeiten und bekommen so Hoffnung, auch von den eigenen Eltern wieder ressourcenorientierter wahrgenommen zu werden. Der Einbezug von bereits entlassenen Patienten dient deren Nachsorge und Rückfallprophylaxe, umgekehrt können die Vorbildfunktion und die Erfahrungen von Ehemaligen für die Gruppe genutzt und Hoffnung auf Nachhaltigkeit und Problemlösefähigkeiten entwickelt werden. Durch verschiedene Übungen in unterschiedlichen Settings (Großgruppe, gemischte Kleingruppen, Elterngruppe, Jugendgruppe, Adoptivfamilien) können schwierige Themen „über Bande“ bearbeitet werden. Zu Beginn jeder Sitzung werden Übungen gemacht, die die Gruppenkohäsion stärken, die neuen Gruppenmitglieder integrieren und die Familien miteinander ins Gespräch bringen. In symptomorientierten Übungen wird die Auseinandersetzung mit suchtspezifischen Themen angeregt, daneben wird über beziehungsorientierte Ansätze die gegenseitige Wahrnehmung, das Erleben positiver Beziehungserfahrungen und die Kommunikationsfähigkeiten gestärkt. Wichtige Übungen sind: Brief an das Problem, Expertenrunde.

8

Ressourcenaktivierung und neue Hoffnung

Einbezug bereits entlassener Patienten

Tipp

Briefe an das Problem Alle Teilnehmer schreiben einen negativen und einen positiven Brief an die Suchterkrankung. Die Briefe werden gemischt und anonym vorgelesen. Anleitung: „Wir möchten Sie und euch bitten, zwei Briefe zu schreiben. Der erste Brief beginnt mit den Worten: ‚Liebe Sucht, ich hasse Dich, weil …‘. Anschließend listet ihr/listen Sie mindestens 10 Punkte auf, warum Sie die Sucht hassen, Eltern aus ihrer Sicht. Jugendliche schreiben bitte das eigene negative Erleben bezüglich der Krankheit auf. Der zweite Brief beginnt mit den Worten: ‚Liebe Sucht, ich danke Dir für …‘. Der Brief solle nicht sarkastisch oder ironisch sein und 10 Punkte aufzeigen, die ehrlich die positiven Veränderungen oder Momente aufzeigen, die durch die Suchterkrankung in Ihrem/eurem Leben passiert sind.“

Gemeinsame Aktionen ermöglichen neue Erfahrungen und Hinweise auf Hintergründe des Konsumverhaltens

104

U. Behme-Matthiessen et al.

Diese Übung hat eine emotional sehr verbindende Wirkung auf die Gruppe. Die Antworten machen nachdenklich und geben Hinweise auf die emotionalen Bedürfnisse, die ersatzweise durch den Konsum befriedigt wurden, und geben Ideen, wie wichtig eine gute Erlebnis- und Beziehungsgestaltung als Alternative ist. Tipp

8

Pressekonferenz/Expertenrunde Die Patient*innen werden in eine Expertenrolle für die Themen Sucht, Konsum etc. versetzt. In der Inszenierung einer Podiumsrunde mit Experten (und originellen erfundenen Namen auf Schildern) durch die Therapeut*innen, Eltern als Publikum stellen einzelnen Experten konkrete Fragen. Anweisung an die Jugendlichen: „ Wir möchten mit eurer Hilfe eine Expertenrunde moderieren: Ihr seid die Expert*innen zu diesem Thema und sitzt vor dem interessierten Publikum, das euch Fragen stellen wird.“ Anweisungen an die Eltern: „Sie haben Glück, denn wir haben heute ausgewiesene Experten zum Thema Sucht einladen können. Sie haben als Publikum nun die einmalige Gelegenheit, an kompetente und erfahrene Experten Fragen zu diesem Thema zu richten, die Sie schon lange beschäftigen.“

Bei dieser Übung trauen sich Eltern, Fragen zu stellen, und die Jugendlichen haben die Möglichkeit, über ihre Rolle als Experten ehrliche Antworten auf schwierige Fragen zu stellen (Wie kommt man in einer Schule an Cannabis? Wie fühlt sich ein Cannabisrausch an? Wie viel sollten Eltern kontrollieren? etc.) Die Multifamilientherapie hat sich als ein sehr wichtiger Baustein in der qualifizierten stationären Suchtbehandlung von Jugendlichen erwiesen. Die positive Resonanz auf dieses Behandlungsangebot ist erstaunlich hoch. Die Familien nehmen teilweise sehr lange Anfahrtswege in Kauf, um im Rahmen dieser Therapieeinheiten wieder Ressourcen aneinander erleben und aufbauen zu können, Unterstützung von anderen Familien zu erfahren und Hoffnung auf ein gelingendes Miteinander wiederaufbauen zu können. ??Verständnisfragen 1. Warum ist der Familieneinbezug bei einer stationären Suchtbehandlung wichtig? 2. Welche Effekte hat die Multifamilientherapie im Rahmen einer Suchtbehandlung?

105 Anwendungsfelder der Multifamilientherapie

Literatur Asen, E., & Scholz, M. (2009). Praxis der Multifamilientherapie. Heidelberg: Auer Verlag. Asen, E., & Scholz, M. (2017). Handbuch der Multifamilientherapie. Heidelberg: Auer Verlag. Bellis, M.  A., et  al. (2014). Adverse childhood experiences: retrospective study to determine their impact on adult health behaviours and health outcomes in a UK population. Journal of Public Health, 36(1), 81–91. Carpenter, J. L., Price, J. E. W., Cohen, M. J., Shoe, K. M., & Pendley, J. S. (2014). Clinical Practice in Pediatric Psychology, 2(2), 101–115. Eisler, I., Simic, M., Hodsoll, J., Asen, E., Berelowitz, M., Connan, F., … Landau, S. (2016). A pragmatic randomised multi-centre trial of multifamily and single family therapy for adolescent anorexia nervosa. BMC Psychiatry, 16(1), 422. https://doi.org/10.1186/s12888-016-1129-6. Faltermaier, T., & Brütt, A. (2019). Krankheitsmodelle. In M.  A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch  – Lexikon der Psychologie. https://portal.­hogrefe.­com/ dorsch/krankheitsmodelle/. Zugegriffen am 08.08.2019. Felitti, V. J., Anda, R. E., Nordenberg, D. F., Sitz, A. M., Edwards, V., Koss, M. P., & Marks, J. S. (1988). Relationship of childhood abuse and household dysfunction to many of the leading causes of deaths in adults. The Adverse Childhood Experiences (ACE) Study. American Journal of Preventive Medicine, 14, 245–258. Goll-Kopka, A. (2012). Multifamiliengruppe als therapeutisches Angebot bei somatischen Erkrankungen und Behinderungen, Dissertation, Bildungs- und Sozialwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Patterson, J. M. (1988). Families experiencing stress: I. The family adjustment and adaptation response model: II. Applying the FAAR model to health-­related issues for intervention and research. Family Systems Medicine, 6(2), 202–237. Retzlaff, R. (2016). Familien-Stärken. Stuttgart: Klett-Cotta. Rix, M., & Scholz, K. (2017). Anorektische Kinder und Jugendliche im tagesklinischen Setting – Das Dresdener Modell. In E. Asen & M. Scholz (Hrsg.), Handbuch der Familientherapie (S. 138–147). Heidelberg: Auer Verlag. Satin, W., La Greca, A. M., Zigo, A., & Skyler, J. S. (1989). Diabetes in adolescence: Effects of multifamily group intervention and parent simulation of diabetes. Journal of Pediatric Psychology, 14, 259–275. Schubert, C. (2015). Soziopsychoneuroimmunologie – Integration von Dynamik und subjektiver Bedeutung in die Psychoneuroimmunologie. In C.  Schubert (Hrsg.), Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie. ­Stuttgart: Schattauer. Schubert, C., & Exenberger, S. (2015). Einfluss der frühen psychischen Belastungen auf die Entwicklung von Entzündungserkrankungen im Erwachsenenalter. In C.  Schubert (Hrsg.), Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie. Stuttgart: Schattauer. Spierling. (2017). Nicht meine Eltern nerven, sondern der Diabetes. systeme2017, 31(2), 308–317. Spierling, K. H., & Mohr, E. (2014). Multifamilientherapie in der stationären Diabetesbehandlung. Diabetologie und Stoffwechsel, 9(06), 391–395, Thieme-­Verlag. Zillessen, K.-E. (2017). Multifamilientherapie in einer Klinik für Kinderund Jugendmedizin. In E.  Asen & M.  Scholz (Hrsg.), Handbuch der Multifamilientherapie. Heidelberg: Carl-Auer.

8

107

Kinder aus der Klemme – Multifamilientherapie mit hochstrittigen Trennungsfamilien Annegret Eckhardt-Ringel Inhaltsverzeichnis 9.1

Ausgangslage – 108

9.2

Idee – 108

9.3

Therapieprogramm – 110

9.3.1 9.3.2 9.3.3

 orbereitende Termine – 110 V Therapiesitzungen – 111 Gruppenarbeit mit den Kindern – 116

9.4

Grundlagen und Fundament: die Keystones – 117

9.4.1 9.4.2 9.4.3 9.4.4 9.4.5 9.4.6 9.4.7

 altung – 117 H Gemeinschaft – 117 Aufmerksamkeit für die Kinder – 118 Loslassen: Übergang in eine neue Lebensphase – 118 Destruktive Muster – 119 Veränderung durch Erfahrungen – 119 Voraussetzungen für die Umsetzung des Programms – 120

9.5

Systemische Wirkfaktoren – 120 Literatur – 121

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Behme-Matthiessen, T. Pletsch (Hrsg.), Lehrbuch der Multifamilientherapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61196-8_9

9

108

A. Eckhardt-Ringel

9.1 Durch andauernde Trauer, gegenseitige Verletzungen und Enttäuschungen können hochstrittige Trennungen entstehen

9

Bei hochstrittigen Trennungen geraten die Kinder aus dem Blick und oft in Loyalitätskonflikte

Trennung ist kein seltenes Phänomen. Es betrifft ca. ein Drittel aller Eheschließungen. Bei unverheirateten Paaren wird die Trennungsquote ähnlich eingeschätzt. Trennungen bringen vielfältige Veränderungen für die Betroffenen mit sich, die belasten und hohe Anpassungsleistungen von allen Seiten erfordern. Sind Kinder betroffen, müssen auch sie einen Umgang mit den einschneidenden Veränderungen finden, was oft sehr traurig und belastend ist. Trotzdem können viele dieser Kinder nach einer gewissen Zeit einen positiven Umgang mit der neuen Situation und ein Gleichgewicht finden und zeigen dann auf lange Sicht keine Unterschiede zu Kindern ohne Trennungshintergrund. Wichtig hierfür ist, dass die Kinder gesehen werden in ihren Sorgen, Gefühlen und Bedürfnissen und von ihren Eltern unterstützt werden können. Gelingt es den Eltern aber nicht, die Trennung konstruktiv zu gestalten, sind andauernde Trauer, gegenseitige Verletzungen und Enttäuschungen vorhanden, können sich hochstrittige Trennungen entwickeln. Der jeweils andere Expartner wird in der Folge oft pathologisiert oder dämonisiert. Letztendlich führen die nicht enden wollenden Konflikte dazu, dass die Trennung eigentlich nicht wirklich abgeschlossen werden kann. Obwohl sich viele Konflikte um die Kinder drehen, haben die Eltern ihre Kinder nicht mehr wirklich im Blick. Oft geraten die Kinder in einen Loyalitätskonflikt und zwischen die Fronten, obwohl sie beide Elternteile lieben. Darunter leiden die Kinder massiv. Dies kann sie in ihrer Entwicklung stark behindern und in der Folge auch dazu führen, dass sie schwerwiegende psychische Erkrankungen entwickeln können. Meist sind nicht nur die Kinder in diese Konflikte involviert, sondern auch die jeweiligen Netzwerke der Partner wie z.  B. neue Lebenspartner, Eltern, Freunde, Rechtsanwälte. Diese können die Konflikte zusätzlich anfeuern und am Leben erhalten. Auch professionelle Helfer können in diese Konflikte hineingezogen werden bei dem Versuch, Lösungen zu finden, und werden ebenfalls ohnmächtig und hilflos. Für die betroffenen Kinder ist dies oft sehr entmutigend. 9.2

Statt Lösungssuche mit dem einzelnen Paar Behandlung in einer Elterngruppe

Ausgangslage

Idee

Justine van Lawick und Margreet Visser haben einen neuen Weg eingeschlagen, um mit diesen Familien zu arbeiten: das Therapieprogramm „Kinder aus der Klemme“

109 Kinder aus der Klemme – Multifamilientherapie mit hochstrittigen…

(Lawick und Visser 2017). Statt der Lösungssuche mit einer einzelnen Familie wählen sie das Setting der Multifamilientherapie. Es wird in zwei parallelen Gruppen gearbeitet: einer Elterngruppe und einer Kindergruppe. Das Ziel der Therapie ist es, den Streit zwischen den Eltern zu deeskalieren und eine sichere Umgebung zu schaffen, in der die Eltern sich entspannen und die Kinder sich entwickeln können. Statt auf die Fehler und Verletzungen des anderen Elternteils wird in der Elterngruppe der Blick wieder auf die Kinder gewendet. Dies wird durch die Kraft der Gruppe, in der die Sitzungen stattfinden, möglich. Statt wie gewohnt zu zweit in alte Muster zu verfallen (in denen Helfer nur Statisten sind), werden die Eltern angeregt, neue Sichtweisen zu entwickeln, und werden dabei auch kritisch von den anderen gespiegelt. Es entsteht ein ansteckendes Entwicklungsklima, das Mut zum Ausprobieren machen kann. Die Gruppe ist dabei Treibhaus und Schutzraum zugleich. Die verschiedenen MFT-Termine bauen aufeinander auf und helfen den Eltern zu deeskalieren und ihre Kinder wieder wirklich wahrzunehmen. Immer wieder wird der Fokus darauf gelegt, welche Auswirkungen das Handeln der Eltern auf die Kinder hat. Zunächst wird am Aufbau einer Arbeitsbeziehung und an der Verstärkung eines Gefühls der Sicherheit gearbeitet. Dies hilft den Eltern und ihren Kindern, Vertrauen in die Behandlung, zu den anderen Eltern in der Elterngruppe und zu sich selbst zu entwickeln, wodurch Raum entsteht, über neue Möglichkeiten nachzudenken. Am Anfang stehen also immer das Kennenlernen, das Vermitteln von Informationen und die Kontaktaufnahme; erst später wird mit belastenderen, mit Stress verbundenen Themen gearbeitet und neue Lösungswege ausprobiert. Für die Kinder bedeutet es auch neue Erfahrungen, Stärkung und Entwicklung: sie sind nicht allein, anderen Kindern geht es auch so und sie sind nicht komplett ausgeschlossen oder auf sich allein gestellt, wenn die Eltern aufeinandertreffen. Sie können die Eltern zwischendurch sehen und spüren, wie es diesen – für sie so wichtigen – Menschen geht, sie auch anders erleben. Sie haben die Chance, im geschützten Rahmen ihren Gedanken und Gefühlen Ausdruck zu verleihen und werden gestärkt. Die Eltern arbeiten ihretwegen. Unterstrichen wird dies durch ein gemeinsames Warm-up und die Möglichkeit der Kindergruppe, Fragen an die Elterngruppe zu stellen.

9

Die Gruppe als Treibhaus und Schutzraum sowohl für die Eltern als auch für die Kinder

Chancen für die Kinder, im geschützten Rahmen ihren Gedanken und Gefühlen Ausdruck zu verleihen

110

A. Eckhardt-Ringel

9.3

Therapieprogramm

Das Programm „Kinder aus der Klemme“ entwickelt sich ständig weiter, weswegen hier bereits Veränderungen gegenüber den Schilderungen im Buch (Lawick und Visser 2017) enthalten sind. Es besteht aus zwei Vorgesprächen, einem Netzwerkabend und acht MFT-Terminen. Aufgenommen werden sechs Familien. In der Eltern- und Kindergruppe sind je zwei ausgebildete Therapeuten anwesend und gestalten den Prozess. 9.3.1

Vorbereitende Termine

zz 1. Vorgespräch

Zunächst gibt es ein Gespräch mit beiden Elternteilen und den Therapeuten der Elterngruppe, in dem das Programm vorgestellt wird. Erst danach sollen sich die Eltern entscheiden, ob sie teilnehmen möchten.

9

zz 2. Vorgespräch Eltern haben die Chance, über Verletzlichkeiten zu berichten

Kennenlernen der Kinder „zwischen den Eltern“

Im zweiten Vorgespräch findet der Termin gemeinsam mit den Eltern und den Kindern statt. Den Kindern wird erklärt, warum ihre Eltern dieses Programm machen. Danach wird das Gespräch getrennt und ein Therapeut geht jeweils mit einem Elternteil in einen anderen Raum, und ein Kindertherapeut arbeitet mit den Kindern. Die Eltern haben die Chance, die Trennung und Schmerzen, ggf. auch weitere schwere Erlebnisse aus ihrer Geschichte zu erzählen. Dies ist wichtig, da Dynamiken in der Gruppe triggern können und die Therapeuten Reaktionen darauf dann besser einordnen können. Auch haben die Eltern in der Regel das Bedürfnis, zumindest einmal „ihre“ Version der Trennung zu erzählen. Mit den Kindern werden Häuser gemalt, die die Lebensorte der jeweiligen Elternteile darstellen, und die Kinder werden angeregt zu berichten, was an den jeweiligen Häusern (Lebensorten) schön ist und wie es ihnen geht zwischen den Häusern (Eltern). Im gemeinsamen Abschluss berichten die Therapeuten als Reflecting-Team von dem, was sie gehört haben. zz Netzwerkabend

Netzwerke können den Prozess der Eltern unterstützen oder stören, sie müssen einbezogen werden

Bevor die eigentlichen MFT-Termine stattfinden, findet noch ein Abend mit den jeweiligen Netzwerken der Eltern statt, an dem das Programm vorgestellt wird. Es ist wichtig, das Netzwerk in den Prozess mit einzubinden, da diese Menschen oft in der Bewertung und Unterstützung bestimmter Sichtweisen und Handlungen der Eltern wichtig sind. Neue Partner oder auch andere Mitglieder des Netzwerkes könnten den Prozess durch mögliches Misstrauen auch erschweren.

111 Kinder aus der Klemme – Multifamilientherapie mit hochstrittigen…

9.3.2

Therapiesitzungen

Die acht Multifamilientherapiesitzungen dauern zwei Zeitstunden, beginnen mit einer gemeinsamen Aufwärmübung mit Eltern und Kindern und haben in der Mitte eine Pause von ca. 10–15 Minuten, in der sich das Therapeutenteam austauscht und die Eltern und Kinder gemeinsam verbringen. Zwischen den Terminen liegen jeweils 2–3  Wochen. In dieser Zeit müssen die Eltern Hausarbeiten erledigen, in die das Netzwerk einbezogen werden soll. zz 1. Termin Kennenlernen im geschützten Rahmen, Psychoedukation Konfliktmuster

Die Eltern werden langsam an die neue Situation, wieder mit dem ehemaligen Partner zusammenzutreffen, gewöhnt. Die ­gegenseitige Vorstellung erfolgt über das Erzählen von schönen Erlebnissen mit den Kindern anhand von Fotos. Danach werden die typischen destruktiven Konfliktmuster vorgestellt: (. Abb. 9.1)  

A

B

Aufsuchen – Aufsuchen: Eskalation gegenseitiger Vorwürfe, da keiner dem anderen zuhört; Dilemma: der Versuch, sich gegenseitig gleichzeitig zu Überzeugen. ..      Abb. 9.1 Konfliktmuster

9

112

A. Eckhardt-Ringel

A

B

Aufsuchen – Abwehren: beide fühlen sich nicht gehört und verstärken ihre Anstrengungen, gehört zu werden. Dilemma: jede Bemühung verstärkt die gegenseitigen Blockaden.

9

A

B

Abwehren– Abwehren: A resigniert bei der Kontaktaufnahme und B verharrt in Abwehrhaltung. Dilemma: Kontaktabbruch.

..      Abb. 9.1 (Fortsetzung)

113 Kinder aus der Klemme – Multifamilientherapie mit hochstrittigen…

9

In zwei getrennten Gruppen (die getrennten Partner sollen jeweils in verschiedene Gruppen) wird ein Austausch über die Erfahrungen der Eltern mit diesen destruktiven Mustern angeregt. Zum nächsten Termin bekommen die Eltern die Aufgabe, diese Muster ihrem Netzwerk vorzustellen und auf diese Muster zu achten. Sie werden darauf hingewiesen, dass sie am 7. Termin eine kurze Präsentation für ihre Kinder vorbereiten sollen, in der sie ihnen zeigen, was sie gelernt haben und wie sie in Zukunft für sie da sein wollen zz 2. Termin

Die Eltern werden nach ihren Beobachtungen zu den destruktiven Mustern befragt. Manche Eltern berichten auch schon, dass sie versucht haben, etwas anders zu machen, was sehr verstärkt wird. Im zweiten Teil werden die Eltern angeregt, Erfahrungen zu den Konfliktmustern aus der Sicht der Kinder zu machen. Hierzu werden die Eltern reihum angeleitet, in eine imaginäre Kinderrolle (nicht in sie selbst als Kind und auch nicht in die Rolle ihrer Kinder) zu schlüpfen. Symbolisch wird dies unterstrichen, indem sich diese Eltern auf Kinderstühle setzen. Die anderen Eltern sollen sich zu zwei Seiten der Stühle gegenüberstehen und sich entsprechend eines der inzwischen bekannten Konfliktmuster verhalten. Dabei entsteht oft eine große Scheu, sodass vorher erst Beispiele gesammelt werden müssen, auf die die Eltern dann zurückgreifen können. Im Anschluss werden die „Kinder“ dann interviewt. Sie werden danach befragt, wie es ihnen ergangen ist, wie sie sich gefühlt haben und was sie sich gewünscht hätten. Diese Antworten werden protokolliert. So werden alle Konfliktmuster nach und nach durchgespielt. Alle Eltern sollen einmal in der Kinderrolle gewesen sein. Das macht die Eltern oft sehr betroffen, traurig und nachdenklich. Als Hausaufgaben bekommen die Eltern wieder die Aufgabe, auf die destruktiven Muster zu achten. Außerdem sollen sie einen Brief für ihre Kinder schreiben, der die Geschichte der Trennung erklärt, ohne den anderen Elternteil zu entwerten.

Konfliktmuster: wie gewht es den Kindern?

zz 3. Termin

Wieder werden zuerst die Erfahrungen mit den Konfliktmustern und erste Veränderungsschritte erfragt. Im Anschluss werden die Briefe an die Kinder vorgelesen. Damit der zeitliche Rahmen eingehalten werden kann, wird die Gruppe getrennt. Auch hierzu werden jeweils zwei Elternteile angeleitet, wie in der Vorsitzung in eine Kinderrolle zu schlüpfen und sich auf Kinderstühlen vor die vorlesenden Eltern setzen. Sie werden aufgefordert, mit ihren Stühlen nach vorne zu rücken, wenn es sich für die Kinder gut und akzeptabel anhört, und nach hinten zu rücken, wenn der Inhalt für die Kinder belastend

Neues Narrativ für Trennung als Unterstützung des Prozess des Loslassens

114

A. Eckhardt-Ringel

ist. Damit die Eltern, die vorlesen, nicht auf sich gestellt sind, dürfen sie sich jeweils einen anderen Elternteil als Unterstützer zum Vorlesen der Briefe an die Seite holen. Rücken die „Kinder“ beim Lesen nach vorne oder hinten, wird gefragt, wie sie sich fühlen. Hier entsteht oft ein sehr konstruktiver Dialog. Den Eltern wird bewusst, welchen Einfluss ihre Darstellungen auf die Kinder haben. Oft werden hier die Unterstützer gebraucht, um neue Sichtweisen und Ideen zuzulassen. Viele Eltern sind überrascht über die Reaktionen der „Kinder“. Viele sind motiviert, die Briefe im Anschluss umzuschreiben. Gelungene Beispiele sind auch sehr kraftvoll, da sie die anderen Eltern anspornen. An diesem Termin bekommen die Eltern noch Informationen zu Verletzlichkeiten, Gefühlsregulation, Eskalation und den Möglichkeiten angemessener Reaktionen (Eskalationskurve). Als Hausaufgabe werden die Eltern wiederum gebeten, auf die Konfliktmuster zu achten. Außerdem sollen sie zum nächsten Mal Symbole für den anderen Elternteil mitbringen, die widerspiegeln, welche guten Eigenschaften der andere Elternteil hat in seiner Elternrolle.

9

zz 4. Termin Anregung zu neuen Sichtweisen, Stärkung von Ressourcen

Nach einem Erfahrungsaustausch und einem Warm-up, das Ressourcen bei den Eltern unterstreicht, werden die Eltern gebeten, die Symbole für den anderen Elternteil vorzustellen. Die meisten Eltern sind überrascht, was der jeweils andere für sie gefunden hat, da gegenseitig negative Erwartungen verfestigt sind. Sollten in der vorherigen Sitzung nicht alle Briefe vorgelesen worden sein, wird dies angeschlossen. Auch überarbeitete Briefe werden vorgelesen. Dabei wird das Prinzip mit den Kinderstühlen beibehalten. Ist noch Zeit, werden erste kleine Lösungen gemeinsam erarbeitet, siehe 5. Termin. Hausaufgabe ist es nun, die Konfliktmuster zu verändern und dabei darauf zu achten, wie die positiven Eigenschaften des anderen dabei helfen können. Auch sollen die Eltern auf mögliche Veränderungen bei ihren Kindern achten. zz 5. Termin

Neue Lösungen für alte Probleme

Beim Erfahrungsaustausch wird der Fokus auf gefundene Lösungen gelegt. Diesmal werden konkrete Probleme in den jeweiligen ­Familien besprochen, z. B. Übergabesituationen oder wie wichtige Informationen zwischen den Eltern ausgetauscht werden. Zunächst wird das Problem benannt und begrenzt. Wieder werden Eltern gebeten, in die Kinderrolle zu gehen und auf den Kinderstühlen Platz zu nehmen. Die Eltern suchen sich jeweils einen Unterstützer. Dann werden die Eltern gebeten, sich über das Problem auszutauschen und gemeinsam nach Lösungen zu

115 Kinder aus der Klemme – Multifamilientherapie mit hochstrittigen…

9

suchen. Es wird darauf geachtet, was die „Kinder“ machen und entsprechend beraten. Geraten die jeweiligen Eltern in alte Muster, die sie nicht unterbrechen können, werden die Unterstützer um Hilfe gebeten, die nächsten Schritte zu bahnen. Zwischendurch kann auch die ganze Gruppe zu Rate gezogen werden. Je nachdem wie lange es dauert, können auch mehrere Familien ihre Themen einbringen. Die Grundhausaufgabe bleibt. Die Eltern werden an die Präsentation in der kommenden Sitzung erinnert. zz 6. Termin

Es gibt diesmal nur eine kurze Einleitung. Der Fokus liegt auf der Vorbereitung der Präsentation der Kinder. Die Eltern werden ausdrücklich dazu angehalten, nicht zu starke Emotionen zu zeigen, um die Kinder nicht zu verunsichern oder gar zu beschämen. Zunächst kommen die Eltern zu den Kindern. Die Kinder stellen vor, was sie für die Eltern vorbereitet haben. Es geht darum, zum Ausdruck zu bringen, wie sie sich fühlen zwischen den Eltern und was sie sich von den Eltern wünschen. Dazu können ganz verschiedene Wege gewählt werden. Es kommt zur Präsentation von Bildern oder zum Vorlesen von Texten oder Gedichten. Auch ein musikalischer Ausdruck oder ein kleines Theaterstück sind möglich. Es hängt von den Kindern ab, was sie wählen möchten. Da eine große Scheu besteht, die Gefühle vor den Eltern zum Ausdruck zu bringen, unterstützen die Kinder sich sehr oft gegenseitig. Anschließend gehen die Eltern wieder in ihren Raum, um die Eindrücke zu sortieren und sich wieder zu fangen, bevor sie in der Pause wieder auf die Kinder treffen. Im Dialog der Eltern untereinander über das Erlebte werden oft sehr vielfältige Eindrücke gesammelt, die den Eltern die Möglichkeit geben, die Beiträge ihrer Kinder angemessen einzuordnen. Das ist wichtig, da sie zunächst oft noch sehr von den eigenen Gefühlen übermannt sind. In der Kindergruppe geht es nach der Präsentation meist sehr fröhlich und ausgelassen zu. Nach der Pause wird wieder an konkreten Lösungen (siehe 5. Sitzung) gearbeitet. Die Hausaufgabe besteht darin, nun aktiv neue Lösungen für die Kinder zu probieren.

Präsentation der Kinder: Ausdruck, Sicht der Kinder

zz 7. Termin

Nun stellen die Eltern jeweils ihre Präsentation für die Kinder dar. Auch hier kommen sehr verschiedene Ausdrucksformen zum Einsatz. Kinder und Eltern sind zumeist tief berührt. Anschließend gehen die Kinder wieder in ihre Gruppe, und Kinder und auch die Eltern haben noch einmal die Chance, das Erlebte zu reflektieren.

Präsentation der Eltern: Gelerntes und Wünsche

116

A. Eckhardt-Ringel

Es wird nach neuen Erfahrungen gefragt, und ob die Eltern Veränderungen bei den Kindern sehen können. Wenn noch Zeit ist wird wieder in der Gruppe an Lösungen gearbeitet (siehe 5. Sitzung) zz 8. Termin Reflexion des Prozesses, Ausblick

Zum Ende wird die Entwicklung jeder Familie gemeinsam in der Gruppe evaluiert. Sie werden aufgefordert zu berichten, was sie von der Gruppe gelernt haben und was sie in der Zukunft noch anpacken möchten. Auch wird nach den Entwicklungen bei den Kindern gefragt. Ideen für weitere Unterstützungen werden gesammelt. Nach dem Muster der 5. Sitzung wird nun weiter an konkreten Anliegen der Familien gearbeitet. Es können so viele Runden, Themen zur Sprache kommen, wie es die Zeit erlaubt. 9.3.3

9

Entspannung und Entlastung für die Kinder, Psychoedukation, Möglichkeit, eigenen Gedanken und Gefühlen Ausdruck zu verleihen

Gruppenarbeit mit den Kindern

Mit den Kindern wird nicht explizit an Veränderungen gearbeitet. Sie sollen vielmehr eine gute Zeit haben, während ihre Eltern für sie „arbeiten“. Oft sind die Kinder zu Beginn misstrauisch und angespannt, da sie wissen, wie schwierig es wird, wenn die Eltern aufeinandertreffen. Auch sind sie oft große Experten darin, lieber nichts zu sagen, wie es ihnen wirklich geht oder was sie möchten, da sie oft die Erfahrung gemacht haben, dass es falsch sein könnte und neuen Streit mit sich bringen kann. Unter den Kindern entsteht meist ein großer Zusammenhalt. Sie haben oft ein sehr feines Gespür, dass es den anderen ähnlich geht wie ihnen selbst. Dies kennen sie aus ihrem sonstigen Alltag nicht. Da sind sie mit ihrem Kummer in der Regel allein. In den einzelnen Gruppenterminen wird den Kindern die Gelegenheit gegeben, sich auszutauschen über: 55 die Geschichte der Eltern: wie alles begann, mit dem Fokus auf Positives; 55 Konflikte: welche kennen die Kinder, welche sind gut, welche schwierig, wie ist es mit den Eltern; 55 Loyalität und die Präsentation für die Eltern vorzubereiten: Wie geht es mir? Was wünsche ich mir? Hierzu können ganz unterschiedliche kreative Methoden und Mittel zum Einsatz kommen. (z.B. Bilder, Briefe, Theateraufführungen, selbst gedrehte Filme, Lieder). Ziel ist, dass die Kinder eine gute Zeit haben und in ihren Empfindungen und Gefühlen gestärkt werden. Die Therapeuten der Kinder- und Elterngruppe können oft parallele Entwicklungen bei Kindern und Eltern beobachten. Entwickeln sich die Eltern positiv, sieht man dies an den Kindern.

117 Kinder aus der Klemme – Multifamilientherapie mit hochstrittigen…

9

Eine große Altersspanne ist kein Hindernis, sondern kann im Gegenteil bereichernd sein. 9.4

Grundlagen und Fundament: die Keystones

Essenziell für das Programm ist die Gestaltung des therapeutischen Rahmens, der sich durch eine respektvolle Haltung, die Stärke der Gemeinschaft und die Aufmerksamkeit auf die Kinder auszeichnet. 9.4.1

Haltung

Die dem Programm zugrunde liegende Haltung zeichnet sich durch Wertschätzung und Ressourcenorientierung aus. Ziel ist es, innerhalb der Gruppe, aber auch im Therapeutenteam, eine Verbindung und gute Zusammenarbeit herzustellen. Die Haltung gegenüber den Eltern ist empathisch, nicht verurteilend und präsent. Auf die Eltern wird kein Druck ausgeübt. Mehrparteilichkeit und ein Ohr für die Vielzahl der Stimmen sind wichtig. Im Verlauf der einzelnen Termine wird sehr darauf geachtet, dass innerhalb der Gruppe Sicherheit hergestellt ist, damit Vertrauen und Zuversicht den Blick für neue Möglichkeiten und neue Erfahrungen öffnen können, denn jeder braucht Mut, der seinen vermeintlich sicheren Standpunkt verlassen will, um sich auf Neues einlassen zu können („safe uncertainty“, Manson 1993). Das Therapeutenteam ist dafür verantwortlich, dass destruktive Geschichten, Unterdrückung und aufkeimende Ungleichbehandlung keinen Raum bekommen. Gleichzeitig geben sie den Eltern die Verantwortung für die Veränderungsprozesse. Durch gezielte Methoden wird der Blick auf die Vielfalt von Möglichkeiten gelenkt. Das vertraute „Ja, aber …“ weicht einem „Ja, und …“, was neue Möglichkeiten eröffnet. So entsteht eine Atmosphäre mit realistischer Hoffnung (Weingarten 2010). 9.4.2

Wertschätzung, Ressourcenorientierung, Sicherheit, Zuversicht, neue Möglichkeiten

Gemeinschaft

Wie in den anderen Multifamiliensettings auch ist die Kraft der Gemeinschaft essenziell für die Veränderungsprozesse (Asen und Scholz 2010). Der gemeinsame Austausch im sicheren Rahmen schafft die Möglichkeit multipler Sichtweisen, die jeder für sich nutzen kann. Gleichzeitig erfahren die Eltern Wertschätzung und Anerkennung, haben die Chance, sich in anderen gespiegelt zu sehen.

Multiple Sichtweisen, Wertschätzung, gegenseitige Unterstützung

118

A. Eckhardt-Ringel

Auch innerhalb der Kindergruppe spielt die Gemeinschaft eine wichtige Rolle. Die Kinder, die meist mit ihren Schwierigkeiten und Nöten allein sind, sich aus Scham und dem oft ausgeprägten Loyalitätskonflikt zurückziehen, haben die Chance, ihre Gedanken und Gefühle zum Ausdruck zu bringen und sich gegenseitig zu stützen. In der Gruppe der Kinder entsteht oft ein enger Zusammenhalt trotz der teilweise sehr großen Altersspanne. Neben den Eltern und den Kindern ist die Gruppe der dazugehörenden Netzwerke ausgesprochen wichtig und kann konstruktiv für Veränderungsprozesse aktiviert werden (van Lawick 2016). Gegenseitige Unterstützung, Umgang mit Gefühlen, gute Transparenz und Offenheit sind ebenso notwendig in der Therapeutengruppe. 9.4.3

9

Situation der Kinder, Bedürfnisse der Kinder, Gefühle der Kinder

Durch die Methode wird die Aufmerksamkeit ständig auf die Situation, Bedürfnisse und Gefühle der Kinder gelenkt. Die gute Absicht der Eltern für ihre Kinder ist der Motor in der Elterngruppe. So ist der gemeinsame Start mit Eltern und Kindern mit einem gemeinsamen Warming-up inzwischen auch ein wichtiges Ritual geworden. Der Raum zwischen den zerstrittenen Eltern sorgt bei den Kindern für Anspannung, Angst, ggf. Aggressionen, auf jeden Fall aber für Stress. Durch vielfältige Übungen können Eltern erfahren, wie sich ihre Kinder im Spannungsfeld zwischen den Konfliktparteien fühlen. Dieses Fühlen wird durch die Rollenspiele verstärkt, erlebbar gemacht und dient im Verlauf immer als Orientierung für die möglichen Veränderungen. Die Kindergruppe hat die Bedürfnisse der Kinder im Blick, bietet ihnen Raum für sich, z. B. zum Spielen, aber auch den Rahmen, sich mit ihrer Situation auseinandersetzen zu können, Erfahrungen, Gefühle mit anderen zu teilen und einen Ausdruck dafür zu finden. In der Präsentation bringen die Kinder zum Ausdruck, wie sie sich fühlen und was sie sich wünschen. In der Gruppe werden die Kinder unterstützt, für sie angemessene „Überlebensstrategien“ zu nutzen. 9.4.4

Loslassen, Akzeptanz der Trennung, Trauerprozess

Aufmerksamkeit für die Kinder

 oslassen: Übergang in eine neue L Lebensphase

Durch fortwährende Verletzungen und Enttäuschungen kommt es in hochstrittigen Trennungssituationen zu andauernden Konflikten zwischen den Expartnern. Der andere ist

119 Kinder aus der Klemme – Multifamilientherapie mit hochstrittigen…

„böse“, wird pathologisiert und dämonisiert. Dies führt dazu, dass eine wirkliche Trennung gar nicht stattfinden kann. Ein Loslassen des anderen und damit der Beginn einer neuen Lebensphase setzt voraus, dass akzeptiert werden kann, dass der andere und die Tatsache der Trennung nicht zu ändern ist, dass der andere nicht kontrolliert werden kann. Dies geht einher mit einer großen Ambivalenz, die toleriert werden muss, auch mit einem Trauerprozess. Hier kann die Gruppe mit ihren multiplen Stimmen, die es ermöglicht, andere Sichtweisen zuzulassen, enorm hilfreich sein. Die Übung mit anderen Narrativen und der Fokus auf andere Seiten des Expartners bieten Raum für neue Erfahrungen und daraus resultierende Veränderungen (Alon und Omer 2004). Den Kindern wird in ihrer Gruppe die Möglichkeit gegeben, sich mit ihren Ambivalenzen, die sich durch ggf. ganz unterschiedliche Situationen und Rahmenbedingungen bei den jeweils anderen Elternteilen ergeben, auseinanderzusetzen. 9.4.5

Destruktive Muster

Die Eltern haben die Chance, sich mit den destruktiven Mustern, die die Konflikte aufrechterhalten, auseinanderzusetzen. Die Therapeuten verbinden dies mit dem Verletzlichkeitszyklus (Scheikman und Dekoven Fishbane Scheikman and Dekoven Fishbane 2004), den Stressreaktionen und der Emotionsregulation. Durch die Auseinandersetzung mit der Emotionsregulation werden Schmerz und Verletzung gewürdigt und Gefühle validiert, was unterstützt, dass der Stress abnehmen kann und so Raum für Veränderung geschaffen wird. 9.4.6

Veränderung durch Erfahrungen

Durch die verschiedenen Einheiten des Programms haben die Eltern ganz unterschiedliche Möglichkeiten, konkrete neue Erfahrungen zu machen, die ihnen helfen, Veränderungen umzusetzen. Zum einen können die Eltern spüren und erleben, wie es ihren Kindern im konfliktbeladenen Zwischenraum geht. Auch durch die Präsentationen der Kinder können sie dies erfahren. Sie haben aber auch die Möglichkeit, den Expartner anders zu erleben, z.  B. beim Warm-up oder in der Pause. Durch die Übungen werden die Eltern angeregt, ihre Sichtweise auf den anderen Partner zu überprüfen und durch ihre Veränderungen neue Lösungsstrategien auszuprobieren.

Verletzlichkeit, Stress, Emotionsregulation

9

120

A. Eckhardt-Ringel

9.4.7

 oraussetzungen für die Umsetzung des V Programms

Aufgrund der intensiven Dynamik in den Gruppen ist es erforderlich, dass die Therapeuten über eine ausreichende therapeutische Erfahrung und Ausbildung verfügen. Die Grundlagen des Programms müssen sicher beherrscht werden, wozu eine dreitägige Fortbildung erforderlich ist. Teams sollten im Beginn regelmäßig supervidiert werden. Da sich das Programm ständig weiterentwickelt, sollte zudem im Sinne eines guten Netzwerks ein regelmäßiger Austausch mit anderen Teams stattfinden. 9.5

Systemische Wirkfaktoren

Grundsätzlich sind hier die in 7 Kap.  4 beschriebenen Wirkfaktoren der Multifamilientherapie zu nennen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Eltern in hochstrittigen Trennungen zumeist sehr in ihrem System gefangen sind, sodass neue Wege oder Lösungen meist keine Chance haben. In der Regel bestehen sehr eingefahrene Kommunikations- und Konfliktmuster. Indem nun durch die Elterngruppe ein neues System entsteht, besteht die Chance zu neuen Beobachtungen und neuen Kommunikationsmustern. Durch die sehr ähnliche Grundproblematik bei den Elternpaaren besteht zwischen den Eltern eine hohe Anschlussfähigkeit, was diesen Effekt verstärkt. Die Eltern geben sich Mühe, angemessen mitzuwirken und vor den anderen Eltern nicht schlecht dazustehen, weswegen es ihnen in der Gruppe gelingt, auf den anderen Elternteil wieder anders zuzugehen. Dies führt zu neuen Erfahrungen mit dem anderen, die Sicherheit vermitteln und notwendig sind, um weitere Veränderungen zu wagen. Kraftvoll ist auch die starke Fokussierung auf die Bedürfnisse der Kinder, weg von den eigenen Verletzungen. Die ressourcen- und lösungsorientierte Haltung unterstützt beginnende Veränderungsprozesse.  

9

??Verständnisfragen 1. Was kennzeichnet die Situation von Kindern in hochstrittigen Trennungssituationen? 2. Was sind die Keystones des Programms? 3. Welches sind die Wirkfaktoren von Multifamilientherapie bei hochstrittigen Trennungssituationen?

121 Kinder aus der Klemme – Multifamilientherapie mit hochstrittigen…

Literatur Alon, N., & Omer, H. (2004). Demonic and tragic narratives in psychotherapy. Healing plots: The narrative basis of psychotherapy (S. 29–48). Washington, DC: APA Press. Asen, E., & Scholz, M. (2010). Praxis der Multifamilientherapie. Heidelberg: Carl-­Auer. van Lawick, M. J. (2016). Restoring communities for children and separated parents caught in demonising fights. In I. McCarthy & G. Simon (Hrsg.), Systemic therapy as transformative practice (S. 233–249). van Lawick, M. J., & Visser, M. M. (2017). Kinder aus der Klemme. Interventionen für Familien in hochkonflikthaften Trennungen. Heidelberg: Carl-Auer. Lewin, K. (2012). Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Bern: Huber. Manson, B. (1993). Towards positions of safe uncertainty. Human Systems: The Journal of Systemic Consultations & Management, 4(1993), 189– 200. Scheikman, M., & Dekoven Fishbane, M. (2004). The vulnerable cycle: Working with impasses in couple therapy. Family Process, 43(3), 279–299. Weingarten, K. (2010). Reasonable hope: Construct, clinical applications and supports. Family Process, 49, 5–25.

9

123

Multifamiliencoaching mit psychisch erkrankten Eltern und ihren Kindern – „Kidstime“ Henner Spierling Inhaltsverzeichnis 10.1

Zur Situation Kinder psychisch erkrankter Eltern – 124

10.2

Geschichte von Kidstime – 126

10.3

Modell – 128

10.4

Struktur – 130

10.5

Resilienzsteigerung durch Erklärungen – 132

10.6

 esilienzsteigerung durch Theaterarbeit und das R Erzählen von Geschichten – 132

10.7

I ntrusive Effekte elterlicher psychischer Erkrankung – 133

10.8

Methoden der Multifamilienarbeit in Kidstime – 134

10.9

Ergebnisse – 136 Literatur – 137

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Behme-Matthiessen, T. Pletsch (Hrsg.), Lehrbuch der Multifamilientherapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61196-8_10

10

124

10 · Multifamiliencoaching mit psychisch erkrankten Eltern und ihren Kindern – „Kidstime“

Kidstime ist ein Angebot für Kinder psychisch erkrankter Eltern und ihre Familien. Kidstime kombiniert Multifamilienarbeit mit Psychoedukation und kreativen Elementen. Wie in anderen Formen der Multifamilienarbeit werden mehrere Familien simultan einbezogen, ausdrücklich handelt es sich allerdings nicht um ein therapeutisches Angebot. Es soll Kommunikation zu psychischer Erkrankung in den Familien unterstützen, um verbreiteter Sprachlosigkeit und sozialer Isolation entgegenzuwirken und Resilienz zu stärken. 10.1  Zur Situation Kinder psychisch erkrankter

Eltern

10

Kinder psychisch erkrankter Eltern wurden als Hochrisikogruppe lange Zeit übersehen und sitzen bei versäulten Hilfsangeboten oftmals zwischen den Stühlen der verschiedenen Hilfen und ihren Anbietern. Kidstime schließt diese Lücke und richtet sich dabei an die ganze(n) Familie(n). In mehreren Untersuchungen wurden die Auswirkungen elterlicher psychischer Erkrankung deutlich herausgestellt, im Mittelpunkt stehen dabei oft Ängste der Kinder um die Familie, um den betroffenen Elternteil und in Bezug auf die eigene Entwicklung, insbesondere die Sorge, die Erkrankung zukünftig selbst zu entwickeln (Cooklin 2010). Weitere häufige Auswirkungen sind 55 geringerer Lebensstandard, finanzielle Sorgen der Familien 55 häufigere Beziehungsabbrüche, Phasen der Fremdplatzierung mit unterschiedlichen und möglicherweise verwirrenden Erziehungsmustern 55 Unterbrechungen/Wechsel der Beschulung bis hin zu Schulabsentismus, geringere Lernerfolge und reduzierte Teilhabechancen zz Auswirkungen elterlicher psychischer Erkrankung auf Kinder Auf die eigene Person und Entwicklung bezogene Ängste: 55 selbst zu erkranken 55 vor Schuldzuschreibungen: die Erkrankung verschuldet zu haben oder sich nicht genug um das Elternteil zu kümmern 55 vor widersprüchlichen Erwartungen: Einnehmen einer versorgenden Erwachsenenrolle zu Hause (im Sinne einer Parentifizierung) und einer Kinderrolle im schulischen Alltag; oder vor widersprüchlichen Erwartungen

125 Multifamiliencoaching mit psychisch erkrankten Eltern und ihren …

10

verschiedener Eltern (oder sogar desselben Elternteils in unterschiedlichen Phasen der Erkrankung) 55 vor Ausgrenzung und Stigmatisierungen von Gleichaltrigen oder – in subtilerer Form – von Erwachsenen aufgrund der elterlichen Erkrankung 55 vor Verlust der Beziehung zu dem erkrankten Elternteil Auf den erkrankten Elternteil und die Familie bezogene Ängste: 55 dass der erkrankte Elternteil nicht ausreichend und angemessen versorgt wird, nicht wieder gesund wird oder sich sein Gesundheitszustand noch weiter verschlechtert 55 dass das Elternteil die Erkrankung nicht überlebt, dass die Familie auseinanderbricht, vor Fremdunterbringung 55 dass die Familie stigmatisiert wird und Ausgrenzung erfährt

Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 3 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren mindestens einen psychisch erkrankten Elternteil haben (Mattejat und Remschmidt 2008). Für diese Kinder ist nicht nur eine insgesamt schlechtere Lebensqualität nachgewiesen (Wiegand-Grefe et  al. 2013), sie tragen auch ein deutlich höheres Risiko, selbst psychisch zu erkranken. Etwa jedes sechste Kind ist damit betroffen bzw. etwa vier Kinder in einer typischen Schulklasse. Einen deutlichen Hinweis auf die belastete Situation der Kinder gibt auch die ACE-Studie (Adverse Childhood Experiences) (Feliti et al. 1988), die bereits vor 20  Jahren Zusammenhänge zwischen belastenden Kindheitserfahrungen und Entwicklungsrisiken aufgezeigt hat. Zu diesen Entwicklungsrisiken gehören neben psychosozialen Problemen in auffälligem Maße auch überwiegend als somatisch verursacht betrachtete Erkrankungen wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Bei Vorliegen von vier oder mehr ACE reduziert sich die statistische Lebenserwartung um 20 Jahre. Ein psychisch erkranktes Elternteil erscheint als eines der wichtigsten Items im ACE-­Fragebogen, gehäuft gehen damit weitere Gefährdungen wie fehlende Versorgung oder konflikthafte intrafamiliäre Beziehungen einher. Studien zeigen, dass ein Kind mit zwei psychisch erkrankten Elternteilen eine Chance von ca. 30–50 % hat, selbst eine ernsthafte psychische Erkrankung zu entwickeln (Rubovits 1996). Sie tragen ein bis zu vierfach erhöhtes Risiko, selbst entsprechende Auffälligkeiten und Symptome zu entwickeln. Obwohl damit einige Hinweise für genetische Verursachung gegeben sind, scheint die Interaktion mit der Umwelt von herausragender Bedeutung dafür zu sein, ob eine entsprechende Disposition zum Ausbruch einer Erkrankung führt.

Auswirkungen elterlicher psychischer Erkrankung auf Kinder

126

10 · Multifamiliencoaching mit psychisch erkrankten Eltern und ihren Kindern – „Kidstime“

Ein berühmtes – wenngleich im Sinne der Intensität der Intervention extremes – Beispiel ist die finnische Adoptionsstudie (Tienari 1985, 1994, 2004; zitiert in Cooklin 2013), die deutlich zeigte, dass sich bei zugewandten und feinfühligen Bindungsund Beziehungserfahrungen eine Vielzahl der Kinder gesund entwickeln kann  – trotz erheblicher genetischer Disposition, eine Schizophrenie zu entwickeln. Es ist mittlerweile unbestritten, dass ein interdisziplinärer Ansatz und die Zusammenarbeit unterschiedlicher Helfersysteme den Bedürfnissen der Kinder am besten gerecht wird. Dabei wird allerdings selten klar beschrieben, wie diese Zusammenarbeit aussehen soll und wer was tun sollte. Zudem wird der Wunsch nach Einbezug der Kinder und Jugendlichen deutlich – allerdings oft, ohne deren direkte und aktive Partizipation zu fördern (vgl. Cooklin 2013). 10.2  Geschichte von Kidstime Vorläufer von Kidstime

10

Das Vorläuferformat von Kidstime „Family Matters“ wurde bereits in den späten 1980er-Jahren entwickelt. Hierbei handelte es sich um ein jeweils ganztägiges Programm für psychisch erkrankte Eltern und deren Angehörige in Form eines Multifamilienangebotes, allerdings unter Auslassung von Kindern. Einen Wendepunkt markierte die Merseyside Conference „Keeping family in mind“ 1999, bei der eine Gruppe von betroffenen Kindern und Jugendlichen mit einem eigenen Beitrag auf ihre Situation aufmerksam machte. ein Zitat hieraus übermittelt Cooklin (2013a) wie folgt (eigene Übersetzung):

»» … das Schlimmste war, als sich die psychiatrischen Dienste einschalteten … sie kamen rein wie eine Spezialeinheit, um unser Elternteil mitzunehmen, niemand hat etwas erklärt, und noch schlimmer, niemand hat uns um Rat gefragt oder gefragt, was wir wussten.

zz Bedürfnisse der Kinder – aus der Sicht der Kinder

Kinder psychisch erkrankter Eltern haben in einer Interviewserie, die in Großbritannien, Skandinavien und Australien durchgeführt wurde und die Cooklin (2013) wiedergibt, folgende Bedürfnisse in der Reihenfolge ihrer Bedeutung formuliert: 1. Eine Erklärung zu der elterlichen Erkrankung, die klar, verständlich und informativ ist – dabei aber auch das Wissen und die Vorstellung des Kindes berücksichtigt. Erklärungen sollten nicht nur in eine Richtung in „belehrender Absicht“ erfolgen.

127 Multifamiliencoaching mit psychisch erkrankten Eltern und ihren …

2. Zugang zu einem vergleichsweise außenstehenden, „neutralen“ Erwachsenen, an den sich das Kind wenden kann, mit dem es über die Erkrankung sprechen kann und der das Kind auch in Krisenzeiten unterstützen kann. 3. Die Möglichkeit für das Kind, eigene Ängste auszusprechen, z.  B. sich selbst „anzustecken“ und selbst zu erkranken, die Schuld an der Erkrankung zu tragen (siehe ­Fallbeispiel), vor Verlust des Elternteils 4. Zugang zu einer Gruppe, um der oft bestehenden sozialen Isolierung entgegenzuwirken. Dazu gehört vor allem die Erfahrung, nicht „der oder die Einzige“ zu sein und andere Kinder/ Jugendliche in ähnlicher Situation treffen zu können. 5. Die Möglichkeit, kindliche (Spiel-)Bedürfnisse ausleben und Verantwortung abgeben zu können, die mit einer Rolle als „young carer“ in der Familie oft verbunden ist. zz Fallbeispiel „Ich habe zu viel Ärger gemacht!“ In einem Kidstime-Workshop nehmen die Kinder von Familie J. (5 und 7 Jahre alt) teil, ebenso beide Elternteile. Die Kindesmutter befindet sich aktuell in stationärer psychiatrischer Behandlung und nimmt in Absprache mit dem Team der Station an dem Kidstime-Workshop teil, bei dem sie ihren Kindern das erste Mal seit einigen Tagen wieder begegnet. Im Rahmen der Kindergruppe beginnt Tom, das jüngere der beiden Kinder, spontan ein Spiel mit Duplo-Figuren, die eine Steinzeitfamilie, einige Dinosaurierfiguren und einen Ritter umfasst. In dem Spiel transportiert ein Flugsaurier den Vater und die Mutter, begleitet von Krankenwagengeräuschen, aus der Familie heraus, beide Figuren liegen schlafend auf einem Bett. Einem vorbeireitenden Ritter, den ein Kollege aus dem Team spielt, erklärt Tom, dass „Papa und Mama woanders schlafen wollen. Die sind krank, die haben zu viele Gefühle. Ich habe zu viel Ärger gemacht!“ Dieses Spiel wurde auf Video aufgenommen, gemeinsam mit den Familien wurden Aspekte der Kommunikation zu psychischer Erkrankung reflektiert und diskutiert. Die Eltern der Familie J. zeigten sich betroffen und nachdenklich hinsichtlich des Eindrucks, dass sich Tom die Schuld an der Erkrankung der Mutter zu geben scheint („ich habe zu viel Ärger gemacht“). Dieses sei überraschend, passe aber dazu, wie häufig über Stress innerhalb der Familie gesprochen werde.

10

128

10 · Multifamiliencoaching mit psychisch erkrankten Eltern und ihren Kindern – „Kidstime“

10.3  Modell

Kidstime basiert auf Multifamilienarbeit und stellt – wie der Name es sagt – die Kinder in den Mittelpunkt. Ziele der Kidstime-Workshops sind die Stärkung der Resilienz, sowohl bezogen auf die Gesamtfamilie als auch auf die individuellen Familienmitglieder. Im Einzelnen verfolgt Kidstime folgende Ziele: Bezogen auf die Eltern und die Gesamtfamilie: 55 Entlastungen und das Erleben von Gemeinsamkeiten zu erleichtern 55 gegenseitige Vernetzungen zu fördern 55 die Kommunikation über die oftmals tabubehafteten psychische Erkrankung zu erleichtern und anzuregen 55 ein Medium und einen sicheren Rahmen anzubieten, innerhalb dessen psychische Erkrankung zwischen den Eltern und den Kindern besprochen werden kann 55 den Eltern die Möglichkeit zu geben, ihre elterlichen Kompetenzen, ihr Selbstvertrauen und ihren Stolz auf die Kinder (wieder) zu entdecken 55 insbesondere die Kinder mit ihren Bedürfnissen wieder stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit treten zu lassen

10 Stärkung der Resilienz

Kidstime kombiniert Multifamilienarbeit mit Kinder- und Gruppentherapie

Bezogen auf die Kinder und Jugendlichen: 55 Stärkung der Resilienz, insbesondere durch: 55 Ermutigung der Kinder, eigene Gefühle zu benennen und auszudrücken 55 Aufbau sozialer Beziehungen 55 Setzen erreichbarer Ziele und möglichst positives und konstruktives Denken 55 um diese Resilienzfaktoren zu stärken, zielt Kidstime darauf. 55 bestehende Ängste der Kinder anzusprechen 55 die Gelegenheit, die Eltern positiver und mit hilfreicheren Reaktionen zu erleben 55 verständliche und hilfreiche Erklärungen zu psychischen Erkrankungen angeboten zu bekommen 55 Wege aus sozialer Isolation zu finden 55 kindliche (Spiel-)Bedürfnisse ausdrücken und befriedigen zu können 55 verlässliche Beziehungen zu nichtbetroffenen Erwachsenen zu erleben 55 Ermutigung zu aktiverem Freizeitverhalten und Außenorientierung zu bekommen, auch durch Aufbau gegenseitiger freundschaftlicher Beziehungen Kidstime kombiniert Multifamilienarbeit mit Elementen der kreativen Kindertherapie und Gruppentherapie  – ohne sich selbst dabei als therapeutisches Angebot zu verstehen  – und

129 Multifamiliencoaching mit psychisch erkrankten Eltern und ihren …

Methoden der Theaterarbeit. Die Mitarbeiter*innen in den Kidstime-­Workshops nehmen dabei eine besondere Rolle ein, die sich auf der Ebene der Aufgaben und auf der Ebene der Haltung beschreiben lässt. Dabei gilt, dass das Team multiprofessionell zusammengesetzt sein sollte. Neben Ärzt*innen und Psycholog*innen gehören oft Sozialarbeiter*innen, Krankenpfleger*innen, Ergotherapeut*innen sowie Kunst- und Kreativtherapeut*innen zum Team. Auf der Ebene der Aufgaben sind drei Hauptrollen zu unterscheiden: 55 Clinical Lead (idealerweise Ärzt*in/Psycholog*in mit klinischem Erfahrungshintergrund): trägt die Verantwortung für das Gesamtsetting, spielt oft eine Hauptrolle im Seminarteil und in der Arbeit mit der Erwachsenengruppe, steht als Ansprechpartner für Fragen rund um psychische Erkrankung für Eltern wie für Kinder zur Verfügung. 55 Drama Lead (idealerweise Theaterpädagog*in, Erfahrungen in der kreativen Arbeit mit Kinder- und Jugendlichengruppen): übernimmt eine zentrale Rolle in der Arbeit mit der Kindergruppe, lässt den Ideen der Kinder Raum, regt zu spielerischen Übungen an und begleitet moderierend die Erstellung eines Films aus den Themen der Kinder. 55 Logistical Lead (idealerweise ein Organisationstalent): übernimmt die Bestellung der Pizza, Organisation der Räumlichkeiten, der Technik etc. Auf der Ebene der Haltung ist es wichtig, eine nichthierarchische Position einzunehmen und den Familien – insbesondere den Kindern  – auf Augenhöhe zu begegnen und diese mit ihren Erwartungen, Sorgen und Gedanken ernst zu nehmen. Dieses bedeutet auch, bei Erklärungsmodellen zu psychischer Erkrankung möglichst wenig belehrend aufzutreten, sondern gemeinsam mit den Kindern und Familien nachzudenken und eigenes „Expertenwissen“ eher als Vorschlag anzubieten. Es wurde mehrfach berichtet, dass Kinder in den Londoner Kidstime-Workshops oft Verwunderung darüber ausdrücken, dass die Mitarbeitenden bei Kidstime „so normal“ seien – was ausdrücklich anerkennend gemeint ist. Erklärungsmodelle (unten näher ausgeführt) beinhalten möglichst keinen Fachjargon und knüpfen an vorhandenes Alltagsverständnis und die Expertise der Kinder an. Neben dieser einladenden und auf Augenhöhe befindlichen Haltung steht die mit der Aufgabe verbundene Verantwortung. Diese Verantwortung betrifft das Angebot eines festen, Sicherheit gebenden Rahmens mit wiederkehrender Struktur ebenso wie die Beachtung des Kindeswohls. Mögliche Hinweise auf Kindeswohlgefährdungen werden – wenngleich dieses nicht der Hauptauftrag ist – von den Mitarbei-

10

Unterschiedliche Ansprechpartner

Bedeutung der Begegnung auf Augenhöhe

Verantwortung und Transparenz

130

10 · Multifamiliencoaching mit psychisch erkrankten Eltern und ihren Kindern – „Kidstime“

tenden aufmerksam registriert, mit den Familien besprochen und bei Bedarf weiterverfolgt. Dabei gilt der Grundsatz maximaler Transparenz. Dieses gilt auch in der Begleitung der Spielthemen der Kinder und daraus resultierender Filme: Es geht nicht um den konkreten Alltag einer einzelnen Familie, die Kinder sollten sich nie verleitet fühlen, die eigenen Eltern schamhaft ­vorzuführen. 10.4  Struktur

10

Vorgespräch mit allen beteiligten Familienmitgliedern

Kidstime-Workshops finden einmal im Monat statt und richten sich an Kinder psychisch erkrankter Eltern – gemeinsam mit ihren Familien im Rahmen einer Multifamilienarbeit. Das Team ist multiprofessionell zusammengesetzt und besteht aus Fachkräften aus dem Bereich der Psychiatrie/Familienhilfe und aus dem Bereich der Theaterpädagogik/kreativen Gruppenarbeit. Zumeist besteht das Team aus vier Mitgliedern, die diese Bereiche abdecken und idealerweise Ausbildungen in systemischer Therapie und Multifamilientherapie mitbringen. Die Workshops finden nachmittags statt und erstrecken sich über einen Gesamtzeitraum von 2,5 bis 3 Stunden. Kidstime bietet einen halboffenen Gruppenkontext, das heißt, dass der Einstieg in eine laufende Kidstime-Gruppe im Anschluss an ein Vorgespräch prinzipiell jederzeit und nach Abstimmung mit dem Team möglich ist. Eine Gruppe von ca.  6–8 teilnehmenden Familien hat sich als ideal herausgestellt, es sollten möglichst nicht mehr als eine oder maximal zwei Familien gleichzeitig neu einsteigen, um die Gruppenkohärenz nicht zu sehr zu strapazieren. In einem Vorgespräch, das einer der Kidstime-Mitarbeiter möglichst mit allen beteiligten Familienmitgliedern führt, werden Informationen zu dem Angebot gegeben und einige Fragen gemeinsam erörtert. Dazu gehört eine zumindest grobe Übersicht über den bisherigen Erkrankungsverlauf, Umgang mit Krisen, bestehende Helfernetzwerke und Kommunikation über die psychische Erkrankung innerhalb der Familie. Gibt es Informationen für die Kinder und Vorwissen, an das angeknüpft werden kann? Gibt es Ansprechpartner in möglichen Krisensituationen, mit denen das Kidstime-Team bei Bedarf Kontakt aufnehmen sollte? Sehr wichtig ist auch die Frage nach möglichen Tabuthemen („Gibt es etwas, was in Kidstime nicht Thema werden sollte?“) – diese sollten unbedingt respektiert werden. Diese Frage zielt vor allem darauf, den Kindern eine Erlaubnis zu geben, ihre Gedanken und Gefühle in den spielerischen Angeboten frei auszudrücken – bzw. sofern bestehend,

131 Multifamiliencoaching mit psychisch erkrankten Eltern und ihren …

zu vermeidende Themen vorab klar zu benennen, damit sich niemand „auf das Glatteis geführt“ fühlt. Der Ablauf jedes einzelnen Workshops folgt einer wiederkehrenden Struktur. Zu Beginn findet  – nach einer spielerischen Aufwärmübung – ein kurzes „Seminar“ mit der Gesamtgruppe statt, in dem einzelne Aspekte psychischer Erkrankung oder hierauf bezogene Fragen thematisiert und diskutiert werden. Darauf folgt eine parallele Gruppenarbeit, während der die Kinder/Jugendlichen und die Erwachsenen in separaten Teilgruppen beschäftigt sind. Die Kindergruppe beginnt mit spielerischen Aktivitäten und stellt das Erzählen und Erfinden von Geschichten in den Mittelpunkt. Diese können sich direkt auf Themen psychischer Erkrankung beziehen oder eher indirekt Aspekte hiervon betreffen (z. B. Schulsituationen und wie sich diese in den Familien spiegeln, aber auch Fantasiegeschichten über z. B. traurige Prinzessinnen etc.), sollten dabei aber eher generische Themen fokussieren und nicht einzelne Familien in den Mittelpunkt stellen. Oft werden Impulse aus dem Seminarteil in diesen Geschichten und Erzählungen wiederaufgegriffen. Mit Unterstützung der Kidstime-Mitarbeiter entsteht hieraus ein kurzes Theaterstück, das dargestellt und auf Video aufgenommen wird. Die Erwachsenen besprechen in der gleichen Zeit sie aktuell beschäftigende Themen miteinander, wobei die Kidstime-­ Mitarbeiter moderieren und darauf achten, dass der Fokus auf den Kindern und deren Bedürfnissen bleibt. Im Anschluss kommen die Kinder und die Erwachsenen Feste Struktur der wieder zusammen, essen gemeinsam Pizza und schauen sich Kidstime-Workshops die Filme der Kinder an. Danach folgt eine Gruppendiskussion über das, was die Kinder in dem Film dargestellt haben, und über die Themen, die in der Gruppe der Erwachsenen besprochen wurden. zz Zeitlicher Ablauf eines Kidstime-Workshops 55 15:15 Uhr Treffen des Teams, inhaltliche und organisatorische Vorbereitung 55 15:45 Uhr Eintreffen der Familien 55 16:00 Uhr gemeinsame Eltern-Kind-Gruppe, Seminar 55 16:15 Uhr parallele Eltern- und Kinder-Gruppe 55 17:30 Uhr gemeinsames Essen (Pizza) 55 18:00 Uhr Anschauen des Films (oder sonstiger Produkte) aus der Kindergruppe, Rückmeldung aus Erwachsenengruppe, Reflexion 55 18:30 Uhr Schlussrunde, Verabschiedung 55 18:45 Uhr Teamreflexion

10

132

10 · Multifamiliencoaching mit psychisch erkrankten Eltern und ihren Kindern – „Kidstime“

10.5  Resilienzsteigerung durch Erklärungen

Erklärungen als protektiver Faktor

10

Erklärungen sind ein Hauptbedürfnis, das die betroffenen Kinder selbst wiederholt betont haben. Sie werden als protektiver Faktor gesehen, der aber auch weitergehende positive Effekte mit sich bringt. Erklärungen ermutigen die Kinder, sich selbst eigene Gedanken zu machen, was Alternativen zu den bisherigen spontanen und reflexartigen Reaktionen eröffnet. Erklärungen, die das Erleben der Kinder mit einbeziehen, zeigen Respekt vor der Rolle der Kinder als „young carer“ und ihrem vorhandenen F ­ achwissen – was gleichzeitig dem häufig beschriebenen Erleben der Kinder entgegenwirkt, übersehen oder bevormundet zu werden. Zudem fühlen sich viele Kinder dadurch ermutigt, erwachsenen Fachleuten zu vertrauen und bei Bedarf weitere Hilfsangebote anzunehmen. Erklärungen werden als besonders hilfreich wahrgenommen, wenn sie die Gedankengänge der Kinder einbeziehen und ernst nehmen. Darüber hinaus sollten Erklärungen möglichst anschaulich und bildhaft sein, eher einen dynamischen Prozess als einen Status beschreiben und eine Außenperspektive ermöglichen. 10.6  Resilienzsteigerung durch Theaterarbeit

und das Erzählen von Geschichten

Spielerischer Zugang durch Theaterarbeit

Kreative Kindertherapie und Theaterarbeit bieten hervorragende Möglichkeiten, eine spielerische und gelöste Arbeitsatmosphäre zu fördern. Hiervon profitieren besonders Familien mit psychisch belasteten Elternteilen, die häufig eine hohe Stressbelastung im Alltag aufweisen. Für die Kinder ermöglicht die Theaterarbeit in Kidstime eine Entlastung und Unterstützung auf mehreren Ebenen: 55 Entlastung von der Verantwortung für die Eltern, die diese zumindest unterschwellig tragen. Die Aufteilung in die beiden parallelen Gruppen sorgt für eine Struktur, in der die Kinder ihre Eltern in der Elterngruppe sicher versorgt und aufgehoben wissen  – dieses schafft Raum für die eigenen kindlichen Spielbedürfnisse. 55 Das Erfinden von Charakteren und der Entwurf von eigenen Erzählungen erlaubt es den Kindern, neue Perspektiven auszuprobieren und neue Narrative zu entwickeln. Die Kinder treffen dabei eigene Entscheidungen und erhalten so Kontrolle, was zu einer optimistischeren Perspektive und erhöhter Selbstwirksamkeit beiträgt.

133 Multifamiliencoaching mit psychisch erkrankten Eltern und ihren …

55 Wenngleich die Theaterstücke psychische Erkrankung zum Thema haben, so geschieht dieses zumeist in einer bildhaften, symbolischen und indirekten Art und Weise. Hierdurch entsteht eine Außenperspektive, die die Kinder und Jugendlichen in die Lage versetzt, sich von dem Geschehen zu distanzieren und nicht zu stark in die Dynamiken hereingezogen zu werden. Auch das Kidstime-Team achtet darauf, nicht individuelles Erleben der betroffenen Familienmitglieder in den Mittelpunkt zu rücken, sondern eher generische Aspekte psychischer Erkrankungen und Krisen zu fokussieren und metaphorisch in den Filmen zum Ausdruck zu bringen. 55 Eine zusätzliche Distanzierung erfolgt durch das gemeinsame Anschauen des Films auf Video im Gruppenkontext. In dieser Form wird das Erleben von Gemeinsamkeit verstärkt und zudem die Auseinandersetzung mit psychischer Erkrankung sowohl auf Seiten der Kinder wie auf Seiten der Eltern „nicht so persönlich genommen“. Beides trägt zu einem sicheren Rahmen bei, der wiederum Resilienz fördernd wirkt (vgl. Spierling et al. 2019) 10.7  Intrusive Effekte elterlicher psychischer

Erkrankung

Mit psychischer Erkrankung verbundene Wahrnehmungen haben häufig intrusive Sogwirkungen auf die Wahrnehmungen der Kinder. Viele Kinder und Jugendliche beschreiben, dass sie in akuten Stressphasen im Rahmen von Krisen die elterlichen Gedanken und Gefühle (z.  B. abgehört oder vergiftet zu werden) zu teilen beginnen. Wenngleich eine konkrete und direkte Übernahme dieser Wahrnehmungen eine seltene Ausnahme bildet, so entsteht doch eine Atmosphäre der Verunsicherung und Irritation, der sich die Kinder nur schwer entziehen können. zz Fallbeispiel Cooklin (2013) beschreibt dazu beispielhaft die Schilderung von Carli, die eines morgens von ihrer angsterfüllten Mutter geweckt wurde, die überzeugt war, dass ihr Körper von Käfern bedeckt war. Carli beschreibt in einem Interview zunächst, dass auch für sie diese Käfer sichtbar vorhanden gewesen seien, stellt aber später klar, dass sie so von der Erregung ihrer Mutter gefangen gewesen sei, dass sie bereit gewesen sei, alles wahrzunehmen, was ihre Mutter präsentiert hätte  – „obwohl ich wusste, dass sie in Wirklichkeit nicht da waren“. Einen ähnlichen Gedankengang scheint das Titelbild einer von Katja

Einbezug der Kinder in Ängste und Wahnvorstellungen

10

134

10 · Multifamiliencoaching mit psychisch erkrankten Eltern und ihren Kindern – „Kidstime“

Beeck herausgebrachten Broschüre für Mitarbeiter*innen in Kitas auszudrücken, bei dem ein Mädchen mit verunsichert wirkendem Blick, Zahnbürste und Teddybär den Leser anzuschauen scheint und in einer Sprechblase verkündet „Mama sagt, die Zahnpasta ist vergiftet“.

Vorteile der Multifamilientherapie bei psychisch erkrankten Eltern und ihren Kindern

10

Eine Erklärung zu psychischer Erkrankung vermag den hier angedeuteten intrusiven Effekten entgegenzuwirken, da sie dem Kind eine Außenperspektive ermöglicht und dazu ermutigt, den eigenen Gedankengängen und Wahrnehmungen zu vertrauen – ohne darin die Beziehung zu dem erkrankten Elternteil zu gefährden. Im Rahmen des Kidstime-Modells werden einige besondere Vorteile der Multifamilientherapie für die Zielgruppe Kinder psychisch erkrankter Eltern wirksam: 55 Der Gruppenkontext ermöglicht die Diskussion gemeinsam erlebter Aspekte psychischer Erkrankung ohne zu große persönliche Öffnung. 55 Die positiven und unterstützenden, manchmal aber auch herausfordernden Kommentare von anderen Teilnehmenden sind in der Regel besser annehmbar als von Professionellen. Dieses betrifft sowohl die Kinder als auch die Eltern. 55 Verbundenheit und Freundschaften zwischen Teilnehmenden, häufig über den Kontext der eigentlichen Kidstime-­Workshops hinaus: Elternteile berichten oftmals positiv davon, sich innerhalb von Kidstime in alltäglichen Situationen zu erleben (häufig kennen sich die Eltern ansonsten aus Krisenphasen während stationärer Unterbringungen), Familien entwickeln häufig freundschaftliche Kontakte zueinander. 55 Generationsübergreifende Allianzen und Verbindungen zwischen den Familien ermöglichen oft einen freieren Umgang mit potenziell belastenden Themen als mit je eigenen Kindern/Eltern. 55 Die Multifamilientherapie ermöglicht vielfältige Übungen und Spiele, Aktivitäten, die gleichzeitig eine „Party-Atmosphäre“ schaffen. 55 Die oben dargestellten Hauptbedürfnisse der Kinder (7 Abschn.  10.2) können im Rahmen der Multifamilienarbeit adressiert werden  

10.8  Methoden der Multifamilienarbeit in Kidstime

Im Unterschied zu vielen anderen Formaten der Multifamilienarbeit besteht bei den Kidstime-Workshops ein zeitlich ausgedehnter Teil getrennt in paralleler Kindergruppe und

135 Multifamiliencoaching mit psychisch erkrankten Eltern und ihren …

Elterngruppe. Der Kontext der Gesamtgruppe sowie der jeweiligen gesamten Familien findet sich zumeist zu Beginn des Workshops, in dem eher informellen Teil der gemeinsamen Pizza sowie dem Anschauen des Filmes und der gemeinsamen Diskussion. Häufig genutzte Übungen sind: 55 Soziometrieübungen, insbesondere in Form von „Agree/Disagree“, bei der die einzelnen Teilnehmer sich entlang einer gedachten Linie positionieren, um Grade der Zustimmung oder Ablehnung zu geäußerten Thesen zu zeigen (z.  B. „Man sollte seine Gefühle stets deutlich zeigen“; „Psychische Erkrankung liegt in der Familie“), woran sich Diskussionen und Erklärungsmodelle zu psychischer Erkrankung knüpfen können. 55 Eingefrorene Statuen, die im Rahmen spielerischer Seminarteile angeboten werden können und zunächst „leichte Themen“ (z. B. die Aufforderung an jede Familie, ein Haus oder einen Berg als gemeinsame Skulptur darzustellen) fokussieren, aber im Verlauf auch zur Darstellung potenziell konflikthafter Themen (z.  B. „Streit in der Familie“) genutzt werden können. 55 Diskussionen im Fishbowl-Format (Innenkreis-/Außenkreis): Zuweilen kann es sinnvoll erscheinen, Reflexionen zu Filmen oder Diskussionsthemen im Fishbowl-Format anzubieten. Hierbei beginnen zumeist die Kinder im Innenkreis, während die Eltern die Diskussion der Kinder im Außenkreis sitzend lediglich verfolgen. Anschließend werden die Positionen gewechselt und die Erwachsenen gehen in den Innenkreis, um neben ihren eigenen Gedanken auch die von den Kindern gehörten Beiträge zu reflektieren. Weitere Reflexionsrunden können hieran anknüpfen. 55 Insbesondere bei Gelegenheiten, bei denen nur wenige Familien zu den Workshops kommen (was beispielsweise während der Schulferien häufiger sein kann), nutzen wir Übungen, die einzelne Familien fokussieren, und weichen dann von der gewohnten Struktur ab. Das gemeinsame Anfertigen und Vorstellen von Familienwappen hat sich dabei beispielhaft als ein hilfreiches Format gezeigt. 55 In der Reflexion von Themen, die innerhalb einzelner Familien aufgrund hoher Nähe zueinander konflikthaft oder schambesetzt sein können, ist es auch bei Kidstime oft hilfreich, im „Pflege-/Adoptivfamilienformat“ zu arbeiten und Eltern der einen Familie mit Kindern einer anderen Familie diskutieren und mögliche Alltagslösungen finden zu lassen. Wenngleich Kidstime also in mancherlei Hinsicht ein besonderes Format der Multifamilienarbeit darstellt, so sind damit doch viele aus der Multifamilienarbeit verbreitete Metho-

Spezielle Aktionen

10

136

10 · Multifamiliencoaching mit psychisch erkrankten Eltern und ihren Kindern – „Kidstime“

den und „Techniken“ hilfreich. Das gilt umso mehr für die grundlegende Haltung, die Familien dazu ermutigt, selbst füreinander hilfreich und aktiv zu werden. Von der Erkenntnis, hilfreiche Ideen und Unterstützungen für andere Familien mitentwickeln zu können, und von dem Erleben von Gemeinsamkeit („in einem Boot sitzen“) statt schambesetzter Isolation profitieren die Familien in besonderem Maße. 10.9  Ergebnisse

10

Es liegen mittlerweile mehrere evaluierende Bachelor- und Masterarbeiten vor, die die hohe Akzeptanz und Wirksamkeit der Kidstime-Workshops zeigen. In den im Anschluss an den jeweiligen Workshop durchgeführten Fragebogenevaluationen bestätigen 95% der teilnehmenden Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, dass sie das Angebot als hilfreich erlebt haben und gerne weiter daran teilnehmen möchten. Viele der teilnehmenden Familien berichten darüber hinaus von konkreten Lernerfahrungen zu psychischer Erkrankung und davon, dass die Kommunikation innerhalb der Familien hierdurch erleichtert werde. zz Fallbeispiel 55 Die Kinder nehmen es nicht mehr so persönlich und fühlen sich nicht mehr so verantwortlich, wenn es mir einmal schlecht geht.“ (Mutter, 38 Jahre) 55 „Das war Spaß hier. Können wir nächste Woche wieder kommen?“ (Junge, 5 Jahre) 55 „Ich verstehe besser, was mit meinen Eltern los ist – und kann mich mehr um mich selbst kümmern.“ (Mädchen, 14 Jahre) 55 „Hier verstehen mich die anderen Kinder sofort – Freundinnen in der Schule kapieren das ja einfach nicht.“ (Mädchen, 11 Jahre) 55 „Thank you Mom, for having a mental illness – I just love coming here!“ (Junge, 6 Jahre)

??Verständnisfragen 1. Benennen Sie Ziele von Kidstime bezogen auf Eltern, Familie und Kinder. 2. Beschreiben Sie die Struktur von Kidstime. 3. Nennen Sie einige der Effekte von Kidstime.

137 Multifamiliencoaching mit psychisch erkrankten Eltern und ihren …

Literatur Cooklin, A. (2010). Living upside down: Being a young carer of a parent with mental illness. Advances in Psychiatric Treatment, 16, 141–146. Cooklin, A. (2013). Promoting children’s resilience to parental mental illness: Engaging the child’s thinking. Advances in Psychiatric Treatment, 19, 229–240. Cooklin, A. (2013a). The story of kidstime (unveröffentlicht, Manuskript kann beim Autor angefragt werden). Feliti, V. J., Anda, R. E., Nordenberg, D. F., Sitz, A. M., Edwards, V., Koss, M. P., & Marks, J. S. (1988). Relationship of childhood abuse and household dysfunction to many of the leading causes of deaths in adults. The Adverse Childhood Experiences (ACE) Study. American Journal of Preventive M ­ edicine, 14, 245–258. Lenz, A. (2014). Kinder psychisch kranker Eltern. 2., vollst überarb u erw Aufl. Göttingen: Hogrefe. Mattejat, F., & Remschmidt, H. (2008). Kinder psychisch kranker Eltern. Deutsches Ärzteblatt, 105(23), 413–441. Rubovits, P. (1996). Project CHILD.  An Intervention programme for psychotic mothers and their young children. In M. Göpfert, J. Webster, & M. V. Seeman (Hrsg.), Parental psychiatric disorder. Distressed parents and their families (S. 161–169). Cambridge University Press. Spierling, K.  H., Tahta-Wraith, K., Kulikowska, H., Cunnane, D. (2019). KidsTime workshops: Strengthening resilience of children of parents with a mental illness, IntechOpen. https://doi.org/10.5772/intechopen.87017. https://www.­i ntechopen.­c om/online-first/kidstime-workshopsstrengthening-­resilience-of-children-of-parents-with-a-mental-illness. Tienari, P., Sorri, A., Lahti, I., et al. (1985). Interaction of genetic and psychosocial factors in schizophrenia. Acta Psychiatrica Supplement, 319, 19–30. Tienari, P., Wynne, LC., Moring, J., et al. (1994). The Finnish adoptive family study of schizophrenia. Implications for family research. British Journal of Psychiatry, 164(suppl 23), 20–26. Tienari, P., Wynne, LC., Sorri, A., et al (2004). Genotype–environment interaction in schizophrenia-spectrum disorder. Long-term followup study of Finnish adoptees. British Journal of Psychiatry, 184, 216–22. Wiegand-Grefe, S., Cronemeyer, B., Plass, A., Schulte-Markwort, M., & Petermann, F. (2013). Psychische Auffälligkeiten von Kindern psychisch kranker Eltern im Perspektivenvergleich. Kindheit und Entwicklung, 22(1), 31–34.

10

139

Multifamiliencoaching und Multifamilienarbeit Ulrike Behme-Matthiessen und Thomas Pletsch Inhaltsverzeichnis

11.1

Multifamiliencoaching in der Schule – 140

11.1.1 11.1.2

 ie Praxis : Der Ablauf eines FiSch-Tages – 140 D Ziele und Bewertung – 141

11.2

Multifamiliencoaching in der Kita – 143

11.3

Multifamilienarbeit (MFA) in der Jugendhilfe – 145 Literatur – 147

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Behme-Matthiessen, T. Pletsch (Hrsg.), Lehrbuch der Multifamilientherapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61196-8_11

11

140

T. Pletsch

11.1  Multifamiliencoaching in der Schule Multifamilienarbeit in der Schule

11

Die Multifamilientherapie wird, angeregt durch die gemeinsamen Arbeiten von Eia Asen mit Brenda McHugh und Neil Dawson am Anna Freud Centre in London, seit den 1980er-Jahren auch in Schulen angewendet: in London zu Beginn unter dem Titel „Familiy Education“, in Deutschland seit 2005 in Schleswig unter dem Titel „FiSch – Familie in Schule(im Folgenden FiSch) und in Bremen (2009) und Aßlar (Hessen 2008) als „Familienklassen“. In diesem Beitrag beschreiben wir beispielhaft das Konzept „Familie in Schule (FiSch)“ für den Einsatz des Multifamiliencoachings in der Schule. Wir unterscheiden bewusst die Begrifflichkeiten „Multifamiliencoaching“ von „Multifamilientherapie“. Dabei vertreten wir die Auffassung, dass Regelschulen und außerklinische Förderzentren keinen therapeutischen Auftrag haben, sondern anderen Zielsetzungen verschrieben sind, und daher diese Unterscheidung zur Verdeutlichung auch der unterschiedlichen Methoden sinnvoll ist. An Regelschulen und Förderzentren verfolgt FiSch eine präventive Zielsetzung, im klinischen Kontext eine rehabilitative im Sinne eines Behandlungsmoduls. 11.1.1

Schülerrunde zur Vorbereitung des Materials

Elternrunde zur Besprechung der Ziele

Die Praxis : Der Ablauf eines FiSch-Tages

Zu Beginn eines FiSch-Tages treffen sich Eltern- und Schülergruppen in verschiedenen Räumen: Die Schüler besprechen mit der Lehrkraft ihren individuellen Unterrichtsstoff und finden sich im Rahmen einer Gruppenaktion in der Schülergruppe ein. Währenddessen reflektieren die Eltern mit dem Multifamiliencoach die zurückliegende Schulwoche ihrer Kinder auf der Grundlage der sogenannten FiSch-Mappen. In dieser Mappe (einem DIN-A4-Hefter) findet sich für jedes Kind pro Woche der Teilnahme eine Vorlage mit den individuellen schulischen Arbeitsund Verhaltenszielen sowie einer täglich/schulstündlich erfolgten und wochenweise ausgewerteten Bewertung der Zielerreichung. Typische Ziele sind dabei z. B. „Ich melde mich, wenn ich etwas sagen möchte“, „Ich bin freundlich zu Kindern und Erwachsenen“, „Ich konzentriere mich nur auf meine Aufgaben“ usw. In der Gesamtbewertung für jedes Ziel gilt dieses als erreicht, wenn es mit einem Gesamtwert von 80  % im Verlauf der Woche bewertet wurde. Neben einer Moderation der Wochenreflexion hat der Multifamiliencoach dabei die ­Aufgabe, die Eltern zum gemeinsamen Austausch über ihr Erleben mit ihren Kindern anzuregen und die Eltern zu ermuntern, eigene

141 Multifamiliencoaching und Multifamilienarbeit

elterliche Wünsche, Bedürfnisse und Befindlichkeiten in der Gruppe zu reflektieren. Im Anschluss an diese beiden parallel stattfindenden Gruppen treffen sich Eltern, Kinder, Lehrkraft und Coach zur Vorstellung der Ziele und Bewertungen im Plenum. Anschließend folgt eine kurze Aktion zur Förderung der Gruppenkohäsion, der Mentalisierungsfähigkeit (siehe auch 7 Abschn. 6.3) oder der Aufmerksamkeitsfokussierung. Anschließend finden nach einer Pause zwei Unterrichtsstunden statt, während derer die Schüler an ihren individuellen Lernplänen arbeiten. Der Lehrkraft hat hierbei die Aufgabe, bei Verständnisproblemen die Kinder und ggf. Eltern zu unterstützen und gegenüber den Eltern die Leistungsfähigkeit und Kompetenzen der Schüler einzuschätzen. Bei Problemen mit dem Verhalten der Schüler stehen die Eltern, unterstützt durch den Multifamiliencoach, in der Verantwortung. Dieses klare Rollenverständnis von Lehrerin und Multifamiliencoach unterstützt Eltern und Schüler in ihrem Verantwortungsverständnis für ihre jeweiligen Aufgaben und verleiht dem FiSchTag eine sichere Struktur. Das Multifamiliencoaching in der Schule hat das Ziel, die Selbstverantwortlichkeit und das Selbstwirksamkeitserleben der Eltern in der Erziehung ihrer Kinder zu stärken. Dazu bedient sich das Coaching unterschiedlicher multifamilientherapeutischer Interventionsmöglichkeiten, vordergründig solcher, die die gesamte Elterngruppe mit einbeziehen und die Eltern zum Kontakt und Austausch miteinander und zur gegenseitigen Unterstützung einladen. Im Anschluss an die beiden Schulstunden findet eine Multifamilienrunde statt, in der die Schüler, Eltern und Lehrer die Unterrichtsstunden vor dem Hintergrund der Ziele bewerten. Die Selbsteinschätzung der Schüler wird im Rahmen eines Eltern-Schüler-Interviews von einem anderen Elternteil erfragt. Danach äußern sich die Eltern des Schülers, eventuell noch andere Gruppenmitglieder. Abschließend erfolgt eine in die FiSchMappe eingetragene Bewertung des Vormittags durch die Lehrkraft. Hat ein Schüler im Laufe des Vormittags alle Ziele erreicht, honoriert die gesamte Gruppe dies mit einem Applaus.

11

Gemeinsame Eltern-KindAktionen und Vorstellen der Ziele



11.1.2

Ziele und Bewertung

Neben einer Verbesserung der Interaktion und der Stärkung elterlicher Präsenz geht es bei den beschriebenen Zielsetzungen darum, die Fähigkeit zu einer angemessenen Anpassung zu fördern. So kann es einer gesunden Autonomieentwicklung dienlich sein, Anpassungen an unterschiedliche Kontexte leisten zu können, um in diese integriert zu sein (hier: Kontext Schule).

Unterricht mit unterstützenden Gesprächen im Elternkreis

Gemeinsame Bewertungsrunde

142

T. Pletsch

Beim Bewertungssystem hingegen geht es, wenn die Ziele als „nicht erreicht“ bewertet wurden, auch um die Entwicklung von Strategien zum „Aushalten der Konsequenzen“ auf das eigene Verhalten (bezogen auf das Kind) – eine Fähigkeit, die eine gesunde Autonomieentwicklung ebenfalls unterstützt. Die Eltern sind daneben bei einer „Nicht-geschafft“-Bewertung gefordert, ihre eigenen Strategien und das damit verbundene Verhalten zum Umgang mit Enttäuschung und vielleicht auch Ärger über das Verhalten des Kindes und/oder eine vielleicht als ungerecht erlebte Bewertung von Seiten der Lehrkraft zu hinterfragen und zu modifizieren. Für Eltern und Kind geht es um die Entwicklung angemessener und förderlicher Strategien zum Umgang mit Stress. Entwickelt sich im Rahmen der Maßnahme die Beziehung und Bindung zwischen beiden positiv, hat dies einen positiven Einfluss auf den Umgang mit Stressfaktoren (. Abb. 11.1).

Förderung von Autonomie und Umgang mit Stress



Wertschätzung Schule

Eltern

Kooperation

zen

ung

err eic

hu

ng

n tze stü ter un ng hu eic err

iZ

iel

ätz

iel

tzu

ng

• Selbstwirksamkeit • Akiv und zielgerichtet • Lernlust • Erkennen des

ch

iZ

chä

Schüler

Gebrauchswertes

..      Abb. 11.1 Schulerfolgszirkel

ter stü t

Be

ts Wer

Verantwortung für den Schulerfolg

un

vorhandene Kompetenzen

• Autoritativer Erziehungsstil • Selbstwirksamkeit • Netzwerk • Prāsenz

r We

ts

• Lernbedingungen schaffen • Zutrauen • Neugierde • Vertrauen in

Be

11

143 Multifamiliencoaching und Multifamilienarbeit

Im Unterschied zur Familienklasse oder dem Konzept der „Family Education“ richtet sich bei FiSch der Fokus deutlich mehr auf die rein schulischen Ziele und das unterrichtsbezogene Arbeiten und Verhalten der Kinder. Die multifamilientherapeutischen Gruppenaktionen (wie im 7 Kap. 6 beschrieben) werden hier lediglich, wie bereits erwähnt, im Sinne von kurzen Mentalisierungsaktionen oder Aktionen zur Gruppenkohäsion und zur Interaktion genutzt.  

11.2  Multifamiliencoaching in der Kita zz Familie Stärken im Vorschulalter - Familienstube

Angeregt durch die guten Erfahrungen mit FiSch-Familie in Schule und inspiriert durch die Arbeit dänischer Kolleg*innen in Kitas entstand die Idee, ein familienstärkendes Angebot nicht erst im Schulalter, sondern schon im Vorschulalter anzubieten. Gemeinsam mit verschiedenen Kitas und Familienzentren wurde das Konzept „Familienstube“ im Kreis Schleswig-Flensburg entwickelt. Unterstützt werden in der Familienstube Kinder, die Schwierigkeiten dabei haben: 55 sich in eine Gruppe zu integrieren, 55 sich auf eine Sache zu konzentrieren, 55 Regeln zu akzeptieren, 55 Die Initiative (zum Beispiel beim Spiel) zu ergreifen, 55 einen Lernkontext zu akzeptieren und 55 die Anleitung von Erwachsenen zu anzunehmen. Das Angebot richtet sich an Eltern, die sich Unterstützung wünschen: 55 bei der Stärkung ihrer Erziehungssicherheit, 55 bei der Stärkung ihrer familiären Strukturen, 55 bei der Stärkung ihrer elterlichen Handlungskompetenz, 55 bei der Entwicklung ihrer eigenen Selbstfürsorge und 55 bei der Entwicklung von Verantwortung für das Wohl ihres Kindes. Die Zielsetzungen, an denen die Eltern mit ihren Kindern arbeiten, können zum Beispiel wie folgt formuliert sein: 1. Marie befolgt die Anweisungen der Erwachsenen. 2.  Marie fragt nach, wenn sie etwas von anderen haben möchte. 3. Marie spricht freundlich mit den Kindern und Erwachsenen.

11

144

T. Pletsch

zz Struktur der Familienstube

55 Eine Empfehlung durch die Kita, die das Kind täglich besucht. 55 Das Startertreffen: Kita & Eltern & Familienstuben-Team. 55 Entwickeln von Zielen. 55 Bilanz nach 8 Wochen (Halbzeitbilanz). 55 Ein gemeinsames Abschlusstreffen nach 16 Wochen, Themen: aktueller Stand, Perspektiven & evtl. weitere Planungen. zz Ablauf einer Familienstubeneinheit

11

1. Begrüßungsritual und gemeinsame Mahlzeit Die Familienstube beginnt mit einer gemeinsamen Mahlzeit aller Erwachsenen und Kinder, bei der die Ziele besprochen und den Kindern noch einmal verdeutlicht werden, dann wird eine gemeinsame Nachmittagsaktion geplant wird. 2. Die Elternrunde: In der Elternrunde bespricht der Elterncoach in der Elterngruppe die Rückmeldungen aus den Kitas. Dabei bringen die Eltern auch eigene wichtige Themen ein und berichten, inwieweit sie Ideen aus dem letzten Treffen zu Hause haben umsetzen können. Wichtig ist dabei der Austausch der Eltern untereinander und ihre gemeinsame Lösungssuche. Gegenseitige Unterstützung wird geplant, einige Eltern setzen sich eigene Ziele für den Tag. Parallel dazu findet die Kinderrunde mit gemeinsamen Aktionen/ Freispiel mit der Erzieherin statt. 3. Gemeinsame Gesprächsrunde/Wochenbilanz Im Anschluss an diese Einheit besprechen die Eltern mit ihrem Kind altersangemessen die Rückmeldungen aus der Kita. Der Focus wird dabei auf die bereits erreichten Erfolge gerichtet. Parallel dazu reflektieren Coach und Erzieherin wichtige Abmachungen aus der Eltern- und Kinderrunde. 4. Die gemeinsame Aktionszeit Unter der Anleitung der Eltern werden gemeinsam gestalterische Aktionen oder Bewegungsspiele umgesetzt. Im Anschluss daran reflektieren die Eltern kurz, was ihnen im Kontakt mit ihren Kindern gut gelungen ist und wie sie dies nach Hause übertragen können. Alle Impulse werden auf einer Flipchart festgehalten. 5. Der Abschluss mit Abschlussritual Zum Abschluss der Familienstubeneinheit erfolgt die gemeinsame Tagesauswertung der Ziele: dabei besteigen die Kinder eine Treppe und springen in die Arme ihres Elternteils, das an der Familienstube teilnimmt. Beiden Ansätzen, FiSch und Familienstube, ist gemeinsam, dass sie auf spezifische Kontexte bezogen sind. Das bedeu-

145 Multifamiliencoaching und Multifamilienarbeit

11

tet, dass sich dabei die Ziele auf das Verhalten der Kinder in Schule oder Kita beziehen. Alle „aufkeimenden“ Themen wie Beziehung, Nähe-Distanz, Struktur in der Familie, Klarheit im Umgang miteinander und so weiter, werden bezogen auf den Kontext Schule oder Kita reflektiert. Der Transfer erarbeiteter Strategien ins häusliche Umfeld erfolgt dann bei ausreichender Vertrauensbildung im nächsten Schritt. Jedes Elternteil entscheidet für sich, was er oder sie aus der häuslichen Situation im Rahmen von FiSch oder Familienstube einbringen möchte. Diese Möglichkeit selbstverantworteter Beteiligung erleichtert auch den Familien, die Familienberatungsangeboten bisher eher ablehnend gegenüberstanden, eine Teilnahme. 11.3  Multifamilienarbeit (MFA) in der

Jugendhilfe

»» Seit

den 90er-Jahren ist die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland im Wandel. Vom Jugendwohlfahrtsgesetz zur Hilfe zu Erziehung war ein langer Weg. Heute steht in vielen Bundesländern Jugendhilfe für Elternaktivierung und Elternpartizipation. Die Haltung der Multifamilientherapie/Multifamilienarbeit fügt sich in die emanzipatorische Entwicklung hervorragend ein. Nicht selten starten die Angebote der Jugendhilfe im Zwangskontext. Da ist es besonders hilfreich, wenn man auf weitere „Gezwungene“ trifft. Viele sogenannte Multiproblemfamilien kennen die Kinder- und Jugendhilfe seit Generationen und sind geschult im Hilfesystem. Der Austausch mit anderen Familien wirkt bei der Übersättigung an Helfer*innen oftmals wohltuend. In der Kinder- und Jugendhilfe stellt sich MFA fast ausschließlich als ein zusätzliches Verfahren dar. Eltern und Kinder haben oftmals weitere Hilfen zur Erziehung in Form von ambulanten, teilstationären oder auch vollstationären Hilfen. Wenn MFA diese anderen Hilfen begleitet, können wirksame Effekte erzielt werden, die sich durch Nachhaltigkeit auszeichnen“ (Bundesarbeitsgemeinschaft Multifamilientherapie,7 www.­bag.­mft.­com, 12.06.2019).

Multifamilienarbeit in der Jugendhilfe als eine Maßnahme zur Hilfe zur Erziehung



MFA-­Gruppen werden in der Jugendhilfe in unterschiedlichen Formaten angeboten: ambulant, teilstationär und stationär, oftmals vernetzt mit anderen Angeboten. Dabei finden sich geschlossene, halboffene und offene Gruppen mit unterschiedlichen Laufzeiten, je nach Zielsetzungen der beteiligten Familien. Multifamilienarbeit findet in der Jugendhilfe ebenfalls als niederschwelliges und präventives Angebot in Kindertagesstätten und Schulen statt. Zielgruppe sind dabei in der Regel

Multifamilienarbeit in der Jugendhilfe in unterschiedlichen Settings

146

T. Pletsch

sogenannte Multiproblemfamilien, Familien mit wenig häuslichen Strukturen und Familien, die Schwierigkeiten haben, ihren Kindern adäquate Entwicklungsbedingungen zu bieten. Bemerkenswert ist gerade in der Arbeit mit diesen Familien, dass nach einer gelingenden Gruppenkohäsion von Praktikern eine deutliche Zunahme der Strukturverantwortung innerhalb der MFA-Gruppe durch diese Familien beschrieben wird. Präventive Multifamilienarbeit

Verbesserung der Entwicklungsbedingungen für die Kinder

11

Zutrauen in die Kompetenzen der Eltern

»» Neben den Projekten in klassischen Feldern der Jugendhilfe

wie Tagesgruppen und ambulanten Angeboten entwickelt sich die MFA in präventiven und sozialraumorientierten Bereichen. So werden Projekte beispielsweise in Kindertageseinrichtungen, zur Integration von Flüchtlingsfamilien, zur Unterstützung von Selbsthilfegruppen, in Kontexten von Trennungsund Scheidungsverfahren und zur Unterstützung von Familien mit psychischen Erkrankungen etabliert (Bracht et al. 2017).

Unterschiedliche Autor*innen und Praktiker*innen beschreiben als ein primäres Ziel der ambulanten MFA-Hilfe, mit den weniger sprachabhängig und praxisbezogenen Mitteln der Multifamilientherapie die Familien darin zu unterstützen, die Entwicklungsbedingungen der Kinder zu verbessern. Die oftmals wenig reflexionserfahrenen und bisweilen in ihrer kommunikativen Kompetenz eingeschränkten Eltern bekommen innerhalb handlungsorientierter Übungen praktische Unterstützung dabei, ihre eigenen Ressourcen zu erkennen, zu aktivieren und im besten Falle zu erweitern. Die Familien werden unterstützt, die im Rahmen der MFA-Gruppen entdeckten neuen Handlungsstrategien zu festigen, um sie in ihrem häuslichen Alltag fortzusetzen. Parallel dazu kann im Rahmen der Jugendhilfe gegebenenfalls in Einzelarbeiten an familiären Themen weitergearbeitet werden, die in der Multifamilienarbeit angeregt wurden. In den meisten Fällen findet vor der Aufnahme in die MFA-Gruppe ein Vorgespräch der Familie mit dem Jugendamt und den MFA-Praktikern statt mit dem Ziel einer konkreten Zielplanung für die Teilnahme an der Gruppe. Um MFA-Projekte in der Jugendhilfe gelingend zu gestalten, spielt neben der Kooperation unterschiedlicher Kostenträger eine geänderte Haltung der Akteure eine besondere Rolle. Die Multifamilienarbeiter*innen müssen sich dazu in der Lage zeigen, das tradierte Bild, nach dem Eltern für die Erziehung ihrer Kinder viel professionelle Hilfe brauchen, zu verabschieden und sich eine zutrauende Haltung in die Kompetenzen der Eltern zu eigen machen. Der im Jugendwohlfahrtsgesetz formulierte Gedanke der „Hilfe zur Erziehung“ wird dabei zum Gedanken der „Hilfe zur Selbsthilfe“. In der Jugendhilfe gilt wie auch in den anderen Anwendungsfeldern

147 Multifamiliencoaching und Multifamilienarbeit

der Multifamilientherapie, dass eine gelingende Dynamik eine von Respekt und Demut vor den Leistungen der Familien getragene Haltung benötigt. Damit verbunden gilt es, gerade in der Arbeit mit Migrationsfamilien eine Kultursensibilität zu entwickeln. Zusätzlich zur Aktivierung von Ressourcen gilt in der Multifamilienarbeit im Rahmen der Jugendhilfe auf Seiten der Professionellen der Glaube an die Potenz der Netzwerke, Freundeskreise, Verwandten und an die Fähigkeiten der Familien. Nicht zuletzt erfordert diese Arbeit in der Jugendhilfe ein hohes Maß an Selbsterfahrung. ??Verständnisfragen 1. Welche Auffassung wird durch die Unterscheidung in Multifamilientherapie und Multifamiliencoaching vertreten? 2. Welche Zielsetzungen werden im schulischen Kontext beim Beispiel Familie in Schule (FiSch) beschrieben? 3. Was ist beiden Ansätzen, FiSch und Familienstube gemeinsam? 4. An welche Zielgruppe richtet sie die Familienstube? 5. Was unterscheidet die schulbezogenen Maßnahmen Familienklasse und FiSch – Familie in Schule im Wesentlichen? 6. Welche Zielgruppen der Multifamilienarbeit in der Jugendhilfe können Sie benennen? 7. In welchen Kontexten der Jugendhilfe wird Multifamilienarbeit praktiziert? 8. Welche Aspekte kennzeichnet die Haltung der Multifamilienarbeiter in der Jugendhilfe?

Literatur Asen, E., & Scholz, M. (Hrsg.). (2017). Handbuch der Multifamilientherapie. Heidelberg: Carl-Auer. Behme-Matthiessen, U., & Pletsch, T. (2012). Handbuch Familienklasse. Aachen: Shaker. Bracht, K., Scharfe, C., & Schwegmann, H. (2017). In E Asen & ScholzM (Hrsg.). Handbuch der Multifamilientherapie. Heidelberg: Carl-Auer. Kiehl, P., & Kollewe, C. (2017). In E Asen & M Scholz (Hrsg.), Handbuch der Multifamilientherapie. Heidelberg: Carl-Auer. Website der Bundesarbeitsgemeinschaft Multifamilientherapie. www.­bag.­ mft.­com. Zugegriffen am 12.06.2019.

Netzwerke fördern Kultursensibilität

11

149

Forschung zur Multifamilientherapie Carolin Blanck, Andrea Goll-Kopka, Holger von der Lippe, Ulrike  Röttger und Jeanette Schadow Inhaltsverzeichnis 12.1

 erausforderungen und neue H Herangehensweisen – 150

12.1.1 12.1.2 12.1.3

E ntwicklung der Multifamilientherapie – 150 Wirksamkeit der Multifamilientherapie – 151 Zusammenfassung und Fazit – 161

12.2

 ur Multifamilientherapie-Landschaft im Z deutschsprachigen Raum: MFT aus der Perspektive der Therapeut*innen – 163

12.2.1 12.2.2 12.2.3

E ntstehungskontext und Zielsetzung der Studie – 163 Studienaufbau und Ablauf – 164 Übersicht der Multifamiliengruppen im deutschsprachigen Raum – 165 Zusammenschau und Ausblick – 170

12.2.4

Literatur – 171

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Behme-Matthiessen, T. Pletsch (Hrsg.), Lehrbuch der Multifamilientherapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61196-8_12

12

150

C. Blanck et al.

7 Abschn. 12.1 zeichnet ein mannigfaltiges Bild der sich entwickelnden Multifamilientherapie und den damit verbundenen Hürden für valide Forschungskonzepte zur Untersuchung der MFT mit dem Ziel, den Stand der evidenzbasierten Wirksamkeit zu bewerten und neue Herangehensweisen abzuleiten. Im 7 Abschn.  12.2 wird ausgehend von den Ergebnissen einer empirischen Studie der Implementationsgrad der MFT im deutschsprachigen Raum in Hinblick auf Rahmenbedingungen und konzeptuelle Grundlagen dargelegt. Es wird ein Einblick gegeben in die inhaltliche Konzeptualisierung und Umsetzung der MFT in den verschiedenen klinischen, sozialen und schulischen Einsatzfeldern. Die Perspektive der MFT-Therapeut*innen auf Wirksamkeitsfaktoren, Ausschlusskriterien, Herausforderungen der MFT und auf institutionelle Auswirkungen wird vorgestellt.  



12.1 Herausforderungen und neue

Herangehensweisen

Jeanette Schadow, Carolin Blanck, Holger von der Lippe und Ulrike Röttger

12

Inzwischen liegt eine wachsende Anzahl von Studien zum Nachweis der Wirksamkeit der Multifamilientherapie vor. Die MFT-­ Modelle in unterschiedlichen Behandlungskontexten bei diversen Krankheitsbildern werden jedoch derzeit noch mit ebenfalls sehr unterschiedlichen Forschungsdesigns untersucht. Dies erschwert Schlussfolgerungen darüber, was genau die Multifamilientherapie gegenüber anderen Therapieverfahren auszeichnet und in welchen Bereichen oder bei welchen Klienten sie eine besonders geeignete Methode sein kann. 12.1.1

Entwicklung der Multifamilientherapie

Den Ursprung hat die gleichzeitige Arbeit mit mehreren Familien in den USA während der 1940er und 1950er-Jahre (Asen und Scholz 2012). Obwohl Peter Laqueur mit seiner Behandlung schizophrener Patienten (1969) meist als „Gründervater“ der MFT bezeichnet wird, erprobten Kliniker schon vor ihm die Behandlung durch Patienten-Familientreffen bei chronisch psychotischen Patienten. Familienangehörige wurden dabei zum Austausch untereinander in die Therapie miteinbezogen. Der MFT-Ansatz verbreitete sich seither über weitere Teile der USA und darüber hinaus (Strelnick 1977). Dabei wurden die ursprünglich für erwachsene Patienten entwickelten MFT-­

151 Forschung zur Multifamilientherapie

Modelle immer mehr auch an die Behandlung von Kindern und Jugendlichen angepasst (McDonell und Dyck 2004). In Europa wurde die MFT zunächst in Großbritannien im Kontext mit Multiproblemfamilien populär, sodass Alan Cooklin 1976 die Family Day Unit des Marlborough Family Service in London gründete (Asen und Scholz 2012). Die Familien verbrachten dabei über Wochen oder Monate gemeinsame Zeit in der Familientagesklinik des Marlborough Hospitals, wodurch familiäre Interaktionen direkt beobachtet werden konnten. Auf diesem Modell aufbauend wurden international weitere klinische Stationen, z.  B. in Deutschland, Skandinavien und Italien, errichtet. Auch im Marlborough Family Service selbst fand eine Adaption des Modells in Form einer „Familienschule“ im Marlborough Family Education Service zu Beginn der 1980er-Jahre statt (Asen 2002). In Deutschland fand das MFT-Modell in den 1970er-Jahren zunächst in der ehemaligen DDR Anwendung (Asen und Scholz 2012), bis in den 1990er-Jahren auch Kliniker in weiteren Teilen Deutschlands intensiv damit arbeiteten (Scholz 2010). Asen und Scholz (2017b) fassten Beschreibungen der MFT-Angebote deutscher und englischer Kliniker zusammen, woraus zu entnehmen ist, dass es heute keine einheitliche MFT gibt, sondern eine Vielzahl an unterschiedlichen Modellen und Adaptionen. Dazu ist erwähnenswert, dass sich Praktiker in Deutschland bei der Entwicklung ihrer Modelle nicht nur im klinischen (Spierling 2016), sondern auch im schulischen Kontext (Behme-Matthiessen et al. 2011) und in der Jugendhilfe (Buckel et al. 2013) an den Arbeiten aus England orientierten. 12.1.2

Wirksamkeit der Multifamilientherapie

12.1.2.1 

Allgemeine Wirkfaktoren

Bei der MFT kommen allgemeine Wirkfaktoren der Gruppentherapie wie Kohäsion, Verständnis, Unterstützung, Beobachtungslernen und die wegweisende Funktion des Therapeuten zum Tragen (Lemmens et al. 2009; Hellemans et al. 2011). Die Patienten berichten oft von ähnlichen Problemen, die in der Gruppe ein Gehör und Verständnis finden. Gleichermaßen können Klienten sich gegenseitig ermuntern, Schwierigkeiten zu bewältigen oder Lösungsideen zu entwickeln. Dies führt zu einer Verbundenheit innerhalb der Gruppe, die einen bedeutsamen Einfluss auf positive Veränderungsprozesse hat. Zudem bezeichneten sowohl Voriadaki et al. (2015) als auch Salaminiou (2005) eine hohe Selbstwirksamkeit der Eltern und Verbesserungen in der elterlichen Beziehung als Vermittler von Veränderungen. Ergänzt werden diese aus der Gruppenthe-

12

Von Familiengruppen mit chronisch erkrankten schizophrenen Patienten zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen

152

C. Blanck et al.

Positives Gruppenerleben, Ressourcenaktivierung, Perspektivwechsel, Modelllernen, Selbstwirksamkeit, therapeutische Beziehung als Wirkfaktoren

12

rapie bekannten Wirkfaktoren in gelingenden MFT-Gruppen durch typische systemisch-­familientherapeutische Wirkfaktoren. Hier stehen die Anregung zirkulärer Prozesse (z.  B. die Neugestaltung stockender Systemprozesse durch die Generierung von Multiperspektivität auf Wahrnehmen und Handeln) und die Anregung von Grenz- und Ressourcenwahrnehmungen der Familie (etwa: „Wir sind wir und können was!“) häufig im Zentrum des therapeutischen Interesses. In welchen Wirkfaktoren aber unterscheidet sich die MFT von anderen Therapien? Asen und Scholz (2012) schildern dazu ein Phänomen, welches sie als „Treibhauseffekt“ betiteln. Typisch für die MFT ist demnach ein häufiger und rascher Wechsel von Aufgaben und Rollen für die Teilnehmer durch die Übergänge von einer Aktivität zur nächsten. Dadurch sind die Teilnehmer gefordert, häufiger als in einer Einzel-­ Familientherapie ihren Standpunkt zu ändern und neue Sichtweisen zu entwickeln, was einen Verstärker für Veränderung darstellt. Gelin et al. (2017) berichteten von einem weiteren spezifischen MFT-Faktor. Dieser wird als „dialektische Dynamik zwischen Zugehörigkeit zur Gruppe und Differenzierung innerhalb der Gruppe“ (Gelin et al. 2017, S. 374) beschrieben. In einer Übersichtsarbeit zur Multifamilienarbeit in Deutschland (Born 2012) wurden aus Sicht befragter MFT-Therapeuten sechs Wirkfaktoren für Familiengruppen identifiziert: (1) das positive Erleben in der Gruppe, (2) die Ressourcenaktivierung, (3) der Perspektivwechsel, (4) das Modelllernen, (5) die Förderung von Selbstwirksamkeit und (6) die therapeutische Beziehung auf Augenhöhe. Generell muss allerdings angemerkt werden, dass die vereinzelten Studien zu den Wirkfaktoren der MFT bisher noch wenig verlässlich sind. Vor allem fehlen Informationen über die wichtigsten Interaktionsmuster und deren Entwicklung in den MFT-Gruppen (Gelin et  al. 2017). Im Untersuchungsdesign überwiegen quantitative Studien, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten die Ausprägungen von zuvor festgelegten abhängigen Variablen (z.  B. die Intensität von Symptomen) im Therapieverlauf bestenfalls im Vergleich zu einer Kontrollgruppe messen. Es gibt aber inzwischen zunehmend auch qualitative Studien, die sich meist offener der Behandlungsmethode der MFT nähern. In begleitenden oder retrospektiven Interviews beschreiben beteiligte Familienmitglieder ihre ganz subjektiven Sichtweisen in Bezug auf die MFT und ihre erlebte Wirkung.

153 Forschung zur Multifamilientherapie

Quantitative Forschungsmethoden: Hierbei werden zur Prüfung von aufgestellten Theorien und Hypothesen numerische Daten, die den Gütekriterien der Objektivität, Reliabilität und Validität entsprechen müssen, gesammelt und statistisch ausgewertet. Beispielsweise wird ein bestimmtes menschliches Verhalten mithilfe von etablierten Messinstrumenten (z.  B.  Fragebögen) quantifiziert und unter klar umschriebenen (Labor-)Bedingungen untersucht. Ziel dabei ist es, entsprechende Ursache-Wirkungs-­ Zusammenhänge aufzudecken und die Ergebnisse auf eine bestimmte Grundgesamtheit zu generalisieren. Qualitative Forschungsmethoden: Hierbei wird vor allem die subjektive Sicht der Menschen in Form von vor allem textbasierten Daten (z. B. Interviews) in einem naturalistischen Setting erhoben und interpretativ ausgewertet. Ziel dieser Vorgehensweise ist es, sich menschlichem Verhalten explorativ und offen zu nähern, um es besser zu verstehen und darauf basierend Theorien abzuleiten.

Nach aktueller Literaturlage ist die Wirkung der MFT bei affektiven Störungen (Fristad et al. 1998, 2003; Lemmens et al. 2009), Schizophrenien und chronischen Psychosen (McFarlane et al. 1993; Dixon und Lehman 1995; Asen und Schuff 2006) sowie Essstörungen (Eisler 2005, 2007; Scholz und Asen 2001; Scholz et  al. 2005) am stärksten belegt. Im Folgenden werden exemplarisch diejenigen Forschungsstudien mit quantitativen, qualitativen und methodenintegrativen Herangehensweisen vorgestellt, die am häufigsten in den letzten 15 Jahren in der Fachliteratur (entsprechend Scopus und Google Scholar) zitiert wurden. Fristad et al. (2009) etwa untersuchten in einer randomisiert-­ kontrollierten Studie bei 165 Kindern mit affektiven Störungen den Einfluss einer psychoedukativ orientierten MFT auf die Symptomentwicklung über einen Zeitraum von 18 Monaten. Die MFT erfolgte hier in acht Sitzungen und war durch ein Manual klar strukturiert. Die Autoren konnten zeigen, dass die Symptomatik der Kinder binnen eines Jahres besonders deutlich zurückging, wenn sie zusätzlich zur gewohnten Behandlung (TAU = „treatment as usual“) die MFT-Gruppen mit ihren Eltern besuchten. In einer weiteren randomisiert-kontrollierten klinischen Studie (Hazel et al. 2004) zeigten sich die

Quantitative Studien zur Untersuchung der Wirksamkeit der MFT

12

154

C. Blanck et al.

Vorteile der MFT für familiäre Betreuer bzw. Angehörige von 97 ambulanten Patienten mit Schizophrenie. Hervorzuheben ist für diese Studie, dass nicht die Symptomatik der Patienten im Vordergrund der Untersuchung stand, sondern die Belastungen der Familienangehörigen. Die Unterstützung durch die Multifamiliengruppe führte zu einem deutlich reduzierten Belastungserleben bei den A ­ ngehörigen im Vergleich zur psychiatrischen Standardversorgung. In einer großen Multicenterstudie (Eisler et al. 2016) wurden 169 Jugendliche mit Anorexia nervosa untersucht. Die Patienten nahmen entweder an Multifamiliengruppen oder einer Einzelfamilientherapie teil. Beide Patientengruppen profitierten von den Behandlungen, allerdings zeigte die MFT-Gruppe signifikante Vorteile gegenüber der Gruppe mit der Einzelfamilientherapie. In diesen Studien, die hohen methodischen Standards entsprechen und eine Wirksamkeit der MFT zeigen, bleibt dennoch die Frage offen, was die Patienten oder Familien subjektiv als hilfreich und unterstützend erlebten. Randomisiert-kontrollierte Studie (RCT = für engl. „randomized controlled trial“): Das Studiendesign einer solchen Studie in der klinischen Forschung stellt aktuell den Goldstandard dar und untersucht den Effekt einer Behandlung (z. B. MFT) auf ein definiertes Ereignis (z. B. Symptomatik der Patienten). Dabei wird eine Interventionsgruppe mit einer Kontrollgruppe verglichen, wobei die Zuordnung der Patienten zu den Gruppen zufällig (randomisiert) erfolgen muss. Die Interventionsgruppe erhält die zu untersuchende Behandlung (z. B. MFT), während die Kontrollgruppe eine herkömmliche Therapie, ein Placebo oder keine Behandlung bekommt. Derzeit werden psychotherapeutische Verfahren dann anerkannt, wenn deren Wirksamkeit in randomisiert-kontrollierten Studien nachgewiesen ist.

12

Qualitative Studien zur Identifizierung der therapeutischen Prozesse, die zu positiven Effekten führen

Hellemans et  al. (2011) gingen in einer qualitativen Studie dieser Frage nach und untersuchten, welche konkreten therapeutischen Prozesse zu den viel beschriebenen positiven Effekten führten. Patienten mit depressiven Erkrankungen und ihre Lebenspartner beantworteten retrospektiv offene Fragen zu den bedeutsamen Erfahrungen aus der MFT aus ihrer persönlichen Sicht, aber auch aus der Sicht ihrer Familien. Die qualitative Analyse zeigte acht therapeutische Faktoren auf, die aus der Sicht der Befragten den therapeutischen Effekt der MFT bewirkten: Die Patienten und ihre Lebenspartner benannten (1) die Anwesenheit von anderen, (2) den Zusammenhalt und das Verständnis, (3) die eigene Selbstoffenbarung,

155 Forschung zur Multifamilientherapie

(4) die Offenheit der Gruppe, (5) Gruppen-­Diskussionen, (6) eigene Erkenntnisse, (7) Lernen durch Beobachtung und (8) die Anleitung durch einen Therapeuten. In einer Studie von von der Lippe et al. (2016) wurden ausführliche qualitative Interviews mit sechs Müttern durchgeführt, die ihre erkrankten Kinder (Alter 3–9 Jahre) über mehrere Monate erfolgreich in störungsübergreifenden, altershomogenen und offenen Familiengruppen („Magdeburger Modell“) begleitet hatten. Einer der zentralen Befunde war ein genaues Abbild davon, wie die Familiengruppe als soziale Arena die Ankunft in der Gruppe, das Einlassen auf die Therapie sowie motivationale und volitionale Prozesse während der gesamten MFT-Zeit aus Sicht der Mütter bahnte und unterstützte. Ein weiterer relevanter Befund war die Rekonstruktion eines geteilten Verständnisses der Befragten zum Zuhauseankommen, einem (Rück-)Besinnen auf und (Wieder-)Nutzen von familialen Ressourcen, welches sich als Inbegriff des erlebten Therapieerfolgs der Mütter in der MFT verstehen ließ. Schließlich ist die Untersuchung von Dickerson und Crase (2005) an dieser Stelle erwähnenswert, da sie sich unter Verwendung eines methodenintegrativen (quantitativ-qualitativen) Forschungsansatzes mit dem Einfluss der MFT auf die Eltern-Kind-Beziehung bei substanzkonsumierenden Jugendlichen beschäftigte. Bei 18 Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren wurden die wahrgenommene Nähe und Kommunikation in der Beziehung zu den Eltern vor und nach einer vierwöchigen MFT-­Behandlung sowie die Veränderung der Beziehungsqualität aus Sicht der Jugendlichen erfasst. Die Erhebungsinstrumente bestanden dabei sowohl aus standardisierten quantitativen Fragebögen als auch aus qualitativen offenen Fragen (z. B. „Bitte beschreibe das Verhältnis zu deiner Mutter [oder deinem Vater]“, ebd., S. 55, eigene Übersetzung). Die quantitativen Ergebnisse zeigten eine Verbesserung der wahrgenommenen Nähe zu und Kommunikation mit den Eltern aus Sicht der Jugendlichen, vor allem dann, wenn die Eltern regelmäßig an der MFT teilnahmen. Dies belegte für die Forscher die Wichtigkeit der elterlichen Anwesenheit in der MFT für die Eltern-Kind-Beziehung, da die An- oder Abwesenheit der Eltern den Jugendlichen immer eine bestimmte Botschaft vermittelte. Aus den qualitativen Daten ergaben sich induktiv vier Kategorien, welche die Veränderungen in der Beziehung zu den Eltern beschrieben. Am häufigsten wurde ein Miteinander-­Klarkommen genannt, aber auch Kommunikation, Vertrauen und die Rolle des Drogenkonsums in der Beziehung waren für die Jugendlichen wichtige Themen. Sieben der Jugendlichen berichteten nach der MFT von positiven Veränderungen in der Beziehung zu den Eltern, während zwei Jugendliche eine gleichbleibende und ein*e Jugend-

Methodenintegrative Studien

12

156

12

C. Blanck et al.

liche*r eine Verschlechterung der Beziehung feststellten. Die Untersuchung von Dickerson und Crase (2005) ist vor allem wegen der sich ergänzenden quantitativen und qualitativen Methodik hervorzuheben. Allerdings sind die kleine Stichprobe, eine hohe Dropoutrate von acht Personen, eine mögliche Verzerrung durch sozial erwünschtes Antwortverhalten der Jugendlichen und fehlende Reliabilitätsmaße für die Fragebögen kritisch zu nennen. Die Autorinnen selbst schlagen eine gründlichere qualitative Methodik zur Verbesserung der Ergebnisse vor. Voriadaki et  al. (2015) untersuchten die Multifamilientherapie in Form einer weiteren ­methodenintegrativen Pilotstudie. Ihr Erkenntnisinteresse lag dabei in den Veränderungsprozessen während der einzelnen MFT-Tage. Die Stichprobe wurde aus einer MFT-Gruppe mit sechs Familien rekrutiert. Insgesamt nahmen sechs Mütter, vier Väter und fünf Anorexie-Patientinnen teil. An den ersten vier Tagen füllten alle Teilnehmer täglich eine Rating-Skala, adaptiert von Salaminiou (2005), und die Eltern zusätzlich die „Parents versus Anorexia Scale“ (Rhodes et al. 2005) aus. Die Ratingskala maß die Zuversicht auf Besserung, die empfundene Verantwortung für die Besserung, die intra- und interfamiliäre Kommunikation und das Verständnis für die Positionen anderer Jugendlicher und Erwachsener. Alle Teilnehmer wurden zudem instruiert, an diesen Tagen ein Tagebuch über Veränderungen in den Emotionen, Kognitionen und Verhaltensweisen zu führen und zusätzlich mögliche Auslöser dieser Veränderungen zu notieren. Zudem wurden Diskussionsrunden nach dem 4-Tage-Block und die Beobachtungen der Autoren ausgewertet. In der Analyse der Daten orientierten sich die Autoren an den Empfehlungen von Smith und Osborn (2003) und extrahierten nach Tagen geclusterte Haupt- und Subthemen für die Eltern und Jugendlichen. Die quantitativen Daten wurden dabei deskriptiv ausgewertet und dienten der Erweiterung der qualitativen Analyse, indem der Fokus auf veränderungsauslösende Items gelegt wurde. Am ersten Tag war der Austausch über ähnliche essensbezogene Erfahrungen Auslöser für ein besseres Bewusstsein über die Erkrankung, wodurch sich die Jugendlichen zwar verunsichert fühlten, aber auch Hoffnung schöpften. Die Eltern erlebten vor allem das Gefühl von Gemeinschaft. Am zweiten Tag setzten sich die Eltern und Jugendlichen bewusst mit ihren Positionen und Rollen in Bezug auf die Störung auseinander. Eine entscheidende Veränderung erfolgte am dritten Tag, indem sich besonders die Eltern zutrauten, Konfrontationen einzugehen und ihre Gefühle offen zu zeigen. Schließlich erfolgte am vierten Tag die Reflexion über den erreichten Fortschritt und die Herausforderungen der Gesundung.

157 Forschung zur Multifamilientherapie

Methodenintegrativer (Mixed-Methods-)Forschungsansatz: Hierbei werden quantitative und qualitative Methoden in einer Studie kombiniert eingesetzt (siehe Dickerson und Crase 2005 oder Voriadaki et al. 2015). Ziel ist es, die Vorteile beider Ansätze zu nutzen, um dadurch eine umfassendere Antwort auf eine Fragestellung geben zu können. Mit welchem Schwerpunkt quantitative oder qualitative Methoden angewendet werden, hängt von der jeweiligen Fragestellung ab. In der Studie von Voriadaki et al. (2015) ging es beispielsweise um ein tiefergehendes Verständnis der Ergebnisse und weniger um eine Generalisierung. Die quantitativen Erhebungen konnten den Aussagegehalt von qualitativen Daten vergrößern, indem ermittelt wurde, bei welchen MFT-Sitzungen sich die größten Veränderungen ergaben und welche Prozesse auslösend dafür waren.

Besonders in den letzten hier erwähnten Studien wurden für die Familien bedeutsame therapeutische Wirkfaktoren der Multifamilientherapie extrahiert und auf die Veränderungen in den Beziehungen innerhalb der teilnehmenden Familien fokussiert. Damit steht nicht mehr ausschließlich die Symptomveränderung der Patienten im Mittelpunkt, sondern diese wird viel mehr als ein Teil des Systems betrachtet. 12.1.2.2 

Qualität der Studien in Deutschland

Seit Beginn der MFT-Forschung wurden Übersichtsarbeiten verfasst, um die Güte der Studien zu beurteilen. Strelnick wies schon 1977 darauf hin, dass die Probleme der klinischen MFT-­ Forschung unter anderem in der geringen Vergleichbarkeit der Studien durch unterschiedliche Drop-out-Raten, Kontexte und Patienten lagen. Ebenso fehlten randomisierte Kontrollgruppendesigns. Circa 10 Jahre später wurde diese Arbeit von Strelnick durch O’Shea und Phelbs (1985) wieder aufgegriffen. Auch sie postulierten, dass die Ergebnisse aller betrachteten Studien nur mit Vorsicht zu interpretieren seien. McDonnell und Dyck (2004) konnten dann weitere knapp 20 Jahre später festhalten, dass die Wirkung der MFT bei Erwachsenen bis zu jenem Jahr stärker evidenzbasiert war als bei Kindern und Jugendlichen. Der Unterschied lag dabei vor allem in der Qualität und weniger in der Quantität der Studien. Selbst bei vielversprechenden Ergebnissen, wie beispielsweise im Bereich der MFT bei Essstörungen, können bis heute keine Schlussfolgerungen über die Wirksamkeit spezifischer Modelle bei unterschiedlichen Patientengruppen gezogen werden. Der Grund dafür liegt neben methodischen Mängeln in der ungenügenden

12

158

C. Blanck et al.

Qualitative Mängel der bisherigen Studien durch fehlende Kontrollgruppen und geringe Stichproben

12

Anzahl an Studien, welche verschiedene MFT-Modelle gegeneinander testen oder bereits existierende Ergebnisse replizieren (Gelin et al. 2017). Born (2012) wies darauf hin, dass vor allem in Deutschland methodische Defizite bestehen. Eine Magdeburger Absolventin (Blanck 2017) knüpfte an dieser Stelle an und bewertete 28 MFT-Studien im deutschsprachigen kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich hinsichtlich ihrer methodischen Güte und verglich die Ergebnisse außerdem mit vielzitierten Studien aus England. Ziel war es, methodische Schwächen und Stärken der bisherigen MFT-Forschung zusammenzufassen und daraus zukünftige Vorgehensweisen zur Untersuchung der Wirksamkeit der MFT abzuleiten. Als Grundlage zur Beurteilung der Qualität einer quantitativen Studie nutzte die Autorin die Kriterien aus den Mindestanforderungen für die Begutachtung von Wirksamkeitsstudien im Bereich der Psychotherapie des WBP (Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie 2004). Zur Betrachtung der qualitativen Studien dienten die von Malterud (2001) aufgestellten methodenangepassten Kriterien. Die meisten der quantitativen Studien erwiesen sich dieser Studie zufolge (Blanck 2017) als lückenhaft in der Beschreibung der Stichproben hinsichtlich der Diagnosestellung, ihrer Repräsentativität sowie der Rekrutierung. Da Mütter von Patienten weitaus häufiger untersucht wurden als Väter, ist die Repräsentativität der Stichproben für alle begleitenden Familienmitglieder in Frage zu stellen, wodurch Verallgemeinerungen der Ergebnisse nur in geringem Ausmaß zulässig sind. Auch bei den von der Autorin gesichteten qualitativen Studien waren nur wenige Angaben zur Generalisierbarkeit vorhanden. Bedeutende Defizite bei einem Großteil aller Studien waren ferner sowohl die fehlenden Angaben zum Behandlungsmanual als auch die unterlassene Überprüfung der Manualtreue, z.  B. durch Supervision. Die Folge davon ist laut der Autorin, dass Wirksamkeitsevidenzen nicht über Studien hinweg aggregiert werden können, da Behandlungseffekte möglicherweise nicht auf dieselbe unabhängige Variable zurückzuführen sind. Die Wirksamkeitsindikatoren der quantitativen Studien wurden größtenteils mit reliablen und validen Instrumenten gemessen, während die Güte der Analyseinstrumente bei den qualitativen Studien aufgrund unvollständiger Dokumentationen nur eingeschränkt eingeschätzt werden konnte. Eine der Hauptanforderungen an heutige Wirksamkeitsstudien ist, dass ein Nachweis der Überlegenheit einer Behandlung im Vergleich mit einer Kontrollgruppe erbracht wird. Diese wurde von nur einer deutschen Studie (Bechdolf et  al. 2012) erfüllt, wohingegen die meisten Studien ein Präpost-Design ohne Kontrollgruppe aufwiesen oder lediglich die Akzeptanz der MFT in Form einer Zufriedenheitsbefragung

159 Forschung zur Multifamilientherapie

maßen. Somit können bei diesen Studien Behandlungserfolge durch Spontanremissionen nicht ausgeschlossen und der tatsächliche Nutzen der MFT nicht eindeutig belegt werden. Häufig konnten jedoch aufgrund des oben genannten Präpost-Designs Aussagen über die Stabilität der Verbesserungen gemacht werden. Eine generelle Schwierigkeit vieler Studien war die Untersuchung der MFT als Bestandteil einer multimodalen Behandlung. Veränderungen können also nicht allein auf die MFT zurückgeführt werden, sondern es wurde letztendlich die Effektivität ganzer Kliniken oder Behandlungsprogramme gemessen. Erschwerend beim Aggregieren der Studienergebnisse ist der Umstand, dass sich die untersuchten MFT-Modelle hinsichtlich ihrer Rahmenbedingungen unterscheiden, was zusätzlich die Vergleichbarkeit der Studien reduziert. Zusammenfassend zeigen sich die größten Herausforderungen in der klinischen Forschung zur Multifamilientherapie in Deutschland vor allem in der Akquise repräsentativer Patientenstichproben, dem Fehlen einer Kontrollgruppe und der Untersuchung der MFT als B ­ ehandlungsbestandteil. 12.1.2.3 

 odell für zukünftige M Psychotherapieforschung MFT

Wie also kann ein Verfahren, das in der klinischen Praxis so unterschiedlich eingesetzt wird und meist nur ein Modul innerhalb eines gesamten Behandlungskonzeptes darstellt, erfolgreich evaluiert werden? Im Folgenden werden Empfehlungen für die zukünftige MFT-Forschung aus den Stärken jener Studien, die die meisten Gütekriterien entsprechend Blanck (2017) erfüllten, abgeleitet und in ihren Vor- und Nachteilen beleuchtet. Bei der Betrachtung der beiden am besten bewerteten Studien mit Kontrollgruppendesign (Bechdolf et al. 2012; Eisler et al. 2016) fällt auf, dass in beiden Fällen multizentrisch gearbeitet wurde. Psychotherapeuten in mehreren kooperierenden Kliniken erhielten vor Beginn der Studien in den beiden zu vergleichenden Therapieformen Schulungen und wurden während der Durchführung der Behandlungen supervidiert. In diesen Studien führte jeder teilnehmende Psychotherapeut jeweils beide Behandlungen durch und die Schulungen wurden meist von den Untersuchungsleitern selbst gegeben. Durch die Kooperation zwischen den Kliniken konnten die größten Stichproben (128 und 169) unter den aufgeführten Studien akquiriert werden, was vor allem unter klinischen Bedingungen mit hohen Drop-out-Raten eine grundlegende Voraussetzung für die Bildung adäquater Kontrollgruppen ist. Da zudem eine größere Anzahl an Untersuchern beteiligt ist, wird Multicenterstudien eine höhere wissenschaftliche ­ Aussagekraft

Multizentrisches Studiendesign

12

160

C. Blanck et al.

Methodenintegratives Vorgehen Kombination von Datenerhebungsmethoden

12

z­ ugesprochen als unizentrischen Studien (Metzler und Krause 1997). Dem entgegen steht, dass durch die Schulung der Untersucher und der Therapeuten sowie durch die Koordination der Untersuchungen ein organisatorischer und finanzieller Mehraufwand entsteht. Wenn diese Herausforderungen jedoch bewältigt werden, ist dies ein Mittel, um zusätzlich der mangelnden Vergleichbarkeit der deutschen MFT-Studien entgegenzuwirken. Grundlegend dafür ist, dass die Messinstrumente und das Untersuchungsvorgehen in den einzelnen Standorten aufeinander abgestimmt werden müssen. Schon 2004 schrieben McDonnell und Dyck, dass nur durch Kommunikation unter Wissenschaftlern eine ausreichende Evidenzbasis für die MFT geschaffen werden kann. Offen geblieben ist bis hierher die Schwierigkeit, die MFT als Bestandteil einer Behandlung zu erforschen. Wie kann die Wirkung der MFT gemessen werden, ohne dass auch andere Interventionen mitwirken? Welche Rolle spielen bestimmte Prozesse der MFT bei der Reduktion des Belastungserlebens? Zur Beantwortung dieser Fragen sei auf die Besonderheiten der methodenintegrativen Studie von Voriadaki et  al. (2015) verwiesen. Darin erklären die Autoren, dass die Stärke der Studie in der Kombination von Datenerhebungsmethoden zum tiefergehenden Verständnis der Ergebnisse liegt und weniger in deren Generalisierung. So konnten Voriadaki und Kollegen zeigen, wie quantitative Erhebungen den Aussagegehalt von qualitativen Daten vergrößern konnten, indem ermittelt wurde, bei welchen MFT-Sitzungen sich die größten Veränderungen ergaben. Die Studie unterscheidet sich somit von den anderen Studien dahingehend, dass nicht nur ausgesagt werden kann, ob sich etwas verändert hat, sondern auch welche Prozesse dafür auslösend waren. Zusätzlich konnte davon ausgegangen werden, dass die gefundenen Ergebnisse vor allem unter dem Einfluss der MFT und nicht durch die Auswirkungen anderer Behandlungsbestandteile zustande kamen, da die quantitativen Messungen kontinuierlich und unmittelbar nach den MFT-Sitzungen durchgeführt wurden und parallel in den qualitativen Fragen nach den Erlebnissen während der MFT-Sitzungen gefragt wurde. Auch für die Problematik der mangelnden Vergleichbarkeit der MFT-Studien (siehe oben) wird durch Voriadaki und Kollegen eine Lösungsoption geliefert: Die verwendete Ratingskala maß im Gegensatz zu den quantitativen Instrumenten der anderen englischen Studien keine krankheitsspezifischen Veränderungen, sondern allgemeine Wirkfaktoren wie die intra- und interfamiliäre Kommunikation und das gegenseitige Verständnis der Teilnehmer. Mit Blick auf den vielseitigen Einsatz der MFT bei unterschiedlichen Störungen ist die prozess- und wirkfaktorenorientierte

161 Forschung zur Multifamilientherapie

Evaluation eine Möglichkeit, trotz der Untersuchung unterschiedlicher Patientengruppen Studienergebnisse zukünftig aggregieren und vergleichen zu können. Bei Voriadaki und Kollegen wurde die Interpretation der qualitativen Daten durch die quantitativen unterstützt. Jedoch sollte erwähnt werden, dass auch umgekehrt die Ergänzung der quantitativen durch die qualitativen Daten Vorteile bieten kann. Einige Autoren (Midgley et al. 2014; Bamberger et al. 2010) weisen darauf hin, dass allein durch quantitative Daten z. B. das Ausbleiben von Effekten nicht erklärt werden kann. Durch qualitative prozessnahe Untersuchungen können auch Veränderungen, die von den Autoren nicht erwartet wurden, aufgedeckt und zur Erklärung der quantitativen Ergebnisse herangezogen werden. Wenn z.  B.  Probandengruppen unterschiedlich stark von einer Intervention profitieren, kann mit qualitativen Methoden in ergebnisoffener Weise untersucht werden, welche Bedingungen dazu beigetragen haben (Weiss 1998). In einer methodenintegrativen Studie von Retzlaff et  al. (2008), die die Auswirkungen der MFT bei Familien mit ­teilleistungsauffälligen Grundschulkindern untersuchte, werden die Ergebnisse qualitativer und quantitativer Messungen am Ende verglichen, wobei sich die Datenarten gegenseitig ergänzen, was eine weitere Form der Methodenintegration darstellt. Nach Greene et  al. (2001) kann dadurch entweder die Glaubwürdigkeit und Validität von Schlussfolgerungen erhöht werden oder es werden im Falle von widersprüchlichen Ergebnissen Dialoge und Debatten angeregt. Auch Hanson und Kollegen (2005) betonen die Nützlichkeit dieses Designs, um Ergebnisse zu bestätigen oder mit den Ergebnissen anderer Studien zu vergleichen. 12.1.3

12

Qualitative prozessnahe Untersuchungen

Zusammenfassung und Fazit

Aus den Beschreibungen der Formen der Methodeninte­ gration ist zu entnehmen, dass durch verschiedene Kombinationen sehr unterschiedliche Forschungsziele erreicht werden können. Wichtig ist also, dass die Untersucher eine adäquate Reihenfolge der Erhebungen und den passendsten Zeitpunkt der Integration festlegen. Vorab muss ebenso geklärt werden, wie die Daten zur Integration umgeformt werden können. Dazu sollte das Forschungsteam mit Analysestrategien für qualitative und quantitative Daten und mit Integrationsstrategien vertraut sein. Verschiedene Kritiker (Hanson et al. 2005; Midgley et  al. 2014) empfehlen, Expertenteams für unterschiedliche Datenarten zu bilden, um das nötige Knowhow ge-

Forschungsteam sollte mit Analysestrategien für quantitative und qualitative Daten und mit Integrationsstrategien vertraut sein

162

12

C. Blanck et al.

währleisten zu können. Da ein methodenintegrativer Ansatz in der Evaluationsforschung bisher wenig genutzt wurde, konnte noch keine einheitliche Darstellung der Versuchsdesigns entwickelt werden, was das Verständnis unterschiedlicher Studien erschwert (Hanson et al. 2005). Trotz des Mehraufwandes bei der Methodenintegration soll auf deren Nutzen im Hinblick auf einen bisher unerfüllten Anspruch an klinische Forschung eingegangen werden: Orlinsky forderte 2008, dass psychologische Forschungsparadigmen zukünftig weniger abstrakt und dekontextualisiert konzipiert werden sollten als bisher, indem den Studien eine Theorie menschlicher Kontexte, die über das klinische Setting hinausgeht, zugrunde gelegt wird. Damit war gemeint, dass in Forschungsparadigmen sowohl die Persönlichkeiten des Therapeuten und des Patienten als auch deren wechselseitige Beziehung und Beeinflussung berücksichtigt werden sollen. Ferner verlangte Orlinsky, dass nicht nur die Wirkung der Therapie auf die Psychopathologie des Patienten, sondern auch Auswirkungen auf sein weiteres Leben untersucht werden soll, indem unter anderem die Variablen Lebensfreude, Realitätssinn und Selbstwirksamkeit gemessen werden. Als nächsten Schritt schlug Orlinsky die Entwicklung von ­Messinstrumenten zur Erhebung dieser Variablen vor. Sein Grundgedanke wird von weiteren Kritikern (Midgley et  al. 2014; Greene et  al. 2001) geteilt, welche betonen, dass die Wirkung psychologischer Interventionen zu komplex ist, um sie mit einer einzelnen Methode zu messen. Schon 1987 propagierten Hazelrigg, Cooper und Borduin, dass Familientherapien nicht allein durch die hoch angesehenen randomisiert-kontrollierten Studien untersucht werden können, da „lineare“ und „reduktionistische Paradigmen“ nicht beschreiben können, wie Systeme funktionieren und sich verändern. Wenn also im Bereich der MFT-Forschung qualitative Methoden mit einbezogen werden, können die Komplexität und die Multiperspektivität des Besserungsprozesses optimaler abgebildet werden als in randomisiert-kontrollierten Studien, bei denen die Anzahl der gemessenen Variablen häufig klein gehalten wird. So können methodenintegrative Studien maßgeblich die Kluft zwischen Forschung und Praxis verringern. ??Verständnisfragen 1. Was sind die größten Herausforderungen beim Evaluieren der Wirksamkeit der Multifamilientherapie anhand der dargestellten Forschungsstudien? 2. Warum könnten methodenintegrative Forschungsansätze bei der Untersuchung der Wirksamkeit der Multifamilientherapie besonders hilfreich und innovativ sein?

163 Forschung zur Multifamilientherapie

12

12.2 Zur Multifamilientherapie-Landschaft im

deutschsprachigen Raum: MFT aus der Perspektive der Therapeut*innen

Andrea Goll-Kopka

In diesem Abschnitt wird ausgehend von den Ergebnissen einer empirischen Studie der Implementationsgrad der MFT im deutschsprachigen Raum in Hinblick auf Rahmenbedingungen und Grundlagen dargelegt. Es wird ein Einblick gegeben in die inhaltliche Konzeptualisierung und Umsetzung der MFT aus Sicht der verantwortenden und gruppenleitenden Therapeut*innen. MFT-Therapeut*innen sehen MFT als das Familientherapieangebot an, das sich am konsequentesten auf den Einbezug aller Familienmitglieder einlässt, das heißt Kinder als feste, miteinbezogene Zielgruppe im Blick hat und diesen deutlich eine aktive Teilnahme ermöglicht durch den festen Einbezug erlebnisorientierter Methoden. MFT wird als das systemische Angebot benannt, welches einen partizipativen, transparenten Mehrgenerationenansatz verfolgt. Die konsequente Verankerung und Umsetzung der MFT in der jeweiligen Institution hat einen deutlichen, positiven Einfluss auf die Kommunikation, Strukturen und Haltungen im Team, hin zu mehr Offenheit, Transparenz und je nach Zielgruppe auch hin zu mehr Freude und Spaß beim Arbeiten und zu einem partizipativeren Umgang mit den jeweiligen Familien in den Institutionen 12.2.1

 ntstehungskontext und Zielsetzung der E Studie

Bisher gibt es in den Publikationen zur MFT im deutschsprachigen Raum nur einzelne praxisbasierte Erfahrungsberichte und Studien mit kleinen Stichproben (siehe 7 Abschn.  12.1; Goll-Kopka und Born 2018). Die Studie, von deren Ergebnissen hier ausschnittartig berichtet wird, entstand als Grundlage für eine anzustrebende multizentrische Studie zur systematischen Evaluation der Wirksamkeit sowie Nachhaltigkeit des Ansatzes der MFT im deutschsprachigen Raum anhand ausreichend großer, repräsentativer Stichproben mit Kontrollgruppen (Goll-Kopka 2019). Es stellt sich die Frage, ob man heute noch von einer einheitlichen Multifamilientherapie sprechen kann, nachdem inzwischen eine bundesweite Implementierung in den verschiedenen Kontexten und Institutionen mit verschiedenen thematischen Inhalten und Zielgruppen stattgefunden hat.  

Implementierung der MFT im deutschsprachigen Raum

Gemeinsamkeiten und Differenzen in Konzeptualisierung und Praxis

164

C. Blanck et al.

Die Studie sollte zur weiteren Differenzierung und zum Verständnis der zugrunde liegenden Konzeptualisierungen und Vorgehensweisen von MFT beitragen. Welche Gemeinsamkeiten und Differenzen lassen sich in den Konzeptualisierungen und in der Praxis bei den Multifamiliengruppen(MFG)-Angeboten identifizieren? 12.2.2

12

Datenerhebung durch Fragebogen und Expertenfokusgruppe

Studienaufbau und Ablauf

Die Datenerhebung erfolgte zum einen durch eine empirische Studie mit einem halbstandardisierten Fragebogen mit quantitativen und qualitativen Fragen und der Durchführung einer Expertenfokusgruppe mit MFT-Gruppenleitenden aus verschiedenen institutionellen Kontexten. Die Entwicklung des Fragebogens erfolgte in einem mehrstufigen Prozess. Der auf der Grundlage von Literatur und Studien zu Multifamiliengruppen entwickelte Fragebogen wurde zunächst im Forschungskolloquium der SRH Hochschule Heidelberg vorgestellt und diskutiert. Die überarbeitete Fassung wurde mehreren Experten der b ­ undesweiten Forschungsgruppe MFT vorgelegt zur Korrektur und Veränderung. Der finale Fragebogen gliedert sich in zwei Teile – zur Praxis der MFG in der jeweiligen Einrichtung und zu Forschungsinteressen. Um den Rücklauf zu erhöhen, wurde der finalisierte Fragebogen bei der 4. Bundestagung für MFT in Essen ausgeteilt und nach mehrmaligen Erinnerungsrunden direkt vor Ort in Essen eingesammelt. Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft Multifamilientherapie (BAG MFT) und die Arbeitsgruppe MFT der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) und ihre Mitglieder wurden um Unterstützung bei der Mitarbeit der Fragebogenstudie gebeten. Auf diese Weise konnte eine repräsentative Grundgesamtheit von 87 MFG-­Anbietern im deutschsprachigen Raum erreicht werden. Einige repräsentieren und geben mehrere thematische MFG-Projekte in ihren jeweiligen Institutionen an. Die Expertenfokusgruppe wurde in Form eines Fachtages mit acht führenden Vertretenden der derzeit aktuellen MFG-Ansätze realisiert. Zunächst wurden Präsentationen der jeweiligen MFG-­Ansätze zu vorgegebenen Aspekten gehalten und anschließend eine gemeinsame moderierte Fokusgruppe zu den Herausforderungen, Differenzen und Gemeinsamkeiten der verschiedenen Ansätze durchgeführt. Die Präsentationen und drei Mitschriften der Vorträge und Fokusgruppe wurden inhaltsanalytisch nach induktiv und deduktiv gewonnenen Kategorien ausgewertet.

165 Forschung zur Multifamilientherapie

12.2.3

12

 bersicht der Multifamiliengruppen im Ü deutschsprachigen Raum

Im Folgenden wird eine Zusammenschau, Auswahl und Einordnung der wichtigsten Ergebnisse der empirischen Fragebogenstudie und der Expertenfokusgruppe der MFT-Therapeut*innen vorgenommen. zz Einsatzkontext

Unsere Befragung zeigt, dass es inzwischen zwei große Einsatzfelder der MFT gibt: in der Kinder- und Jugendhilfe (n  =  45) und im klinischen Kontext (n  =  33). Familienklassenzimmer (n  =  15) werden sowohl im klinischen, z.  B. kinder- und jugendpsychiatrischen Rahmen, im Kinder- und Jugendhilfekontext als auch in Schulen direkt umgesetzt. Es gibt aktuell zwei Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) in Ludwigshafen und Rotenburg (Wümme), die MFT realisieren. Das SPZ Frankfurt-Mitte, in dem über 20 Jahre die Arbeit mit Mehrfamiliengruppen in Form von F ­ amilienseminaren durchgeführt wurde, zeigt eine wesentliche noch bestehende Herausforderung der MFT auf (Goll-Kopka und Born 2018): Der Einsatz von MFT ist immer noch an die Therapeut*innen gebunden, die das MFT-Projekt verantworten und durchführen, verlassen diese die Institution, so findet die MFT vielfach keine Fortführung oder wird in einem wesentlichen kleineren veränderten Rahmen umgesetzt. Hier gilt es eine konzeptuelle Verankerung innerhalb der Institution anzustreben, die unabhängig ist von den jeweiligen Gruppenleitenden. Vereinzelt werden Praxen und Familientageskliniken durch freie Träger als institutionelle Kontexte benannt.

Einsatzfelder Kinder- und Jugendhilfe, Kliniken und Schulen

zz Geografische Verteilung

Multifamiliengruppen werden grundsätzlich deutschlandweit eingesetzt; in insgesamt 77 Städten in Deutschland findet der Interventionsansatz Anwendung; in einzelnen Städten, da­ runter Essen, Ludwigshafen und Berlin gibt es sogar mehrere Standorte und Träger, an denen MFT angeboten wird. Insgesamt sind ein Nord-Süd- und West-Ost-Gefälle in der Verbreitung zu konstatieren. Fünf Standorte in der Schweiz geben an, mit Multifamiliengruppen zu arbeiten. Für Österreich liegen derzeit keine aktuellen Daten vor (. Abb. 12.1).  

zz Involvierte Berufsgruppen und Ausbildungshintergrund

Die teilnehmenden Institutionen geben an, dass es im Durchschnitt zwei bis drei Gruppenleitende gibt, diese Therapeuten können verschiedenen Berufsgruppen zugeordnet werden. Ein großer Teil der Multifamiliengruppen wird von Psycholog*innen, Sozialpädagog*innen, Sozialarbeitenden, Päda-

Verschiedene Berufsgruppen mit unterschiedlichem Ausbildungshintergrund

166

C. Blanck et al.

..      Abb. 12.1  Geografische Verteilung (Quellen: Google Maps)

12

gog*innen, Ärzt*innen und Kranken- und Gesundheitspflegepersonal geleitet. In den meisten Fällen arbeiten verschiedene Berufsgruppen zusammen. Je nach Arbeitsfeld und Einsatz von multimodalen Methoden kommen weitere Berufsgruppen wie Ergo-/Musik- und Physiotherapeut*innen, Kunst- oder Tanztherapeut*innen zur Gruppenleitung oder als Assistenz hinzu. Vereinzelt werden auch Dolmetscher*innen eingesetzt. Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Ausbildungshintergrund der beteiligten Personen im Hinblick auf das Thema MFT eine große Spannbreite aufweist und von formaler expliziter Weiterbildung in MFT plus systemischer Ausbildung bis hin zum Erfahrungslernen durch praktische Teilnahme an Multifamiliengruppen bzw. entsprechenden Angeboten reicht. zz Finanzierung

Die Finanzierung der Multifamiliengruppen erfolgt im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe zumeist durch gesetzlich festgelegte Maßnahmen, z. B. durch Hilfen zur Erziehung durch das zuweisende Jugendamt. Es gibt auch MFT-Projekte, die durch das Schulamt und Bildungsministerium finanziert werden. Im klinischen Kontext sind die Krankenkassen die vorwiegenden Finanzgeber. Vereinzelt kommen Träger wie Diakonie oder Caritas und Fördervereine in Form von Spenden

167 Forschung zur Multifamilientherapie

12

oder projektgebundenes Fundraising zum Einsatz. Bei einigen MFT-Angeboten, z. B. in Form von Familienseminaren oder Familienwochenenden mit Übernachtungen und Vollverpflegung, wird auch je nach den finanziellen Möglichkeiten der Familien ein Beitrag erhoben. zz Konzeptuelle Grundlagen

Insgesamt besteht eine große Bandbreite im Hinblick auf die konzeptuellen Grundlagen. Ein großer Teil der befragten In­ stitutionen in Deutschland und der Schweiz geben an, auf der konzeptuellen Grundlage nach Asen und Scholz (2017a) zu arbeiten. Hier wiederum wurde eine breite Auslegung dieser Grundlagen deutlich: Das gesamte MFT Team hat zusätzlich zu einer systemischen Weiterbildung auch die MFT-Zusatzausbildung durchlaufen bis hin zum „Learning on the Job“  – MFT-Lernen im Tun mit erfahrenen Kolleg*innen (siehe oben). Der systemische Beratungs- und Therapieansatz wird ebenso als Grundlage genannt. Ein großer Anteil der befragten Institutionen gibt auch an, nach „eigenen Materialien und kreativen Methoden“ neben der Konzeption der videobasierten Rückmeldung oder dem bindungsbasierten Ansatz zu arbeiten. MFG-Anbieter von „Kinder aus der Klemme“ oder „KidsWorkshops“ und andere arbeiten nach vorgegebenen „Manualen“ und Programmabläufen. Auch die Ansätze der Familienklassen und Familiengruppe nach Behme-Matthiesen und Pletsch (2012, 2016) werden als konzeptuelle Grundlagen aufgeführt.

Große konzeptionelle Bandbreite auf der Grundlage von systemischen Beratungsund Therapieansätzen

zz Rahmenbedingungen/Setting

In den Kliniken, in denen MFT durchgeführt wird, ist MFT als ein fester vorgegebener Bestandteil in einem komplexen und multimodalen Behandlungssetting innerhalb eines Gesamtkonzeptes verankert. Hier wird bei Aufnahme den Familien das Angebot der MFT und die verpflichtenden Bedingungen der Teilnahme besprochen. Im Kinder- und Jugendhilfekontext kann es vereinzelt z. B. bei Gruppenangeboten zu familiärer Gewalt auch einen Zwangskontext geben, während ansonsten die Teilnahme der Familien auf freiwilliger Basis geregelt ist. Es gibt vereinzelt MFT als alleiniges ambulantes Angebot eines Anbieters für diese Familien. Die Gruppen finden im offenen, halboffenen oder geschlossenen Format statt, sowohl in einer Heterogenität als auch Homogenität der Gruppenzusammensetzung. Bei den offenen und halboffenen Gruppenformaten finden meistens begleitete Neuaufnahmen von Familien durch „Patenschaften“ durch schon länger teilnehmende Familien statt. In einzelnen Gruppen finden sich eine große Spannbreite im Alter der Kinder, während vielfach die Gruppen (Kitaalter, Grund-

MFT als Bestandteil eines komplexen und multimodalen Behandlungsoder Betreuungssettings

168

C. Blanck et al.

schulalter und Jugendlicher) nach Alter der teilnehmenden Kinder zugeordnet werden. In der Frequenz und den Gruppenzeiten finden sich zwischen 6 und 10 Sitzungen à 90 bis 150 Minuten mit einem zusätzlichen ganzen Tag über 3 bis 6 Monate wöchentlich oder 14-täglich oder ein Wochenende mit gemeinsamer Unterbringung. Im Zeitrahmen eines gemeinsamen Wochenendes oder gemeinsamer Tage aller Familien unter der Woche werden zusätzliche Leistungen wie eine Vollverpflegung und gemeinsame Unterbringung erbracht, sodass es den teilnehmenden Familien auch einen zusätzlichen Effekt der Regenerierung ermöglicht, im Gegensatz zu ambulanten Angeboten, die zum oftmals belastenden Familienalltag noch dazukommen (GollKopka 2012; Goll-Kopka und Born 2018). Die Freistellung bzw. Verfügbarkeit der einzelnen Familienmitglieder fördert oder hemmt eine Gruppenteilnahme, z.  B. eine Fahrtkostenerstattung für teilnehmende Familien oder die Möglichkeit der Krankschreibung einzelner Familienmitglieder erleichtert diesen die Teilnahme. In einigen Institutionen werden jahreszeitliche Nachtreffen zur Netzwerkförderung der Familien untereinander angeboten. zz Methoden/Verfahren der Multifamilientherapie

12 Systemische und gruppentherapeutische Methoden unter Einbezug erlebnisorientierter Interventionen

Hier werden MFT-geeignete Methoden und Verfahren aus dem gruppentherapeutischen, systemischen und psychoedukativen Repertoire angeführt. Ein konsequenter Einbezug von erlebnisorientierten, multimodalen Methoden wird von allen MFG-­Anbietern betont, diese werden je nach Gruppenleitenden und Zielgruppen aus dem kunst-, gestaltungs-, bewegungs- oder musiktherapeutischen Bereich integriert. Es werden alltagsnahe und familienorientierte Aktivitäten wie das gemeinsame Essen oder kleinere jahreszeitliche Unternehmungen durchgeführt. In manchen Gruppen wird der Ansatz des Mentalisierens, Videofeedback, eigene entwickelte Methoden und eine begleitende sozialrechtliche Beratung integriert. Hier wird betont, eine MFT braucht klare Regeln und die Bildung von Subgruppen. zz Wirksamkeitsfaktoren/Effekte der Multifamilientherapie

Solidarisierung, Ressourcenaktivierung Erhöhung der Bindungssicherheit

Aus Sicht der MFT-­Gruppenleitenden findet eine Solidarisierung und ­hoffnungsgebende Atmosphäre sowie eine Ermutigung unter anderem durch Austausch und gespiegelte Erfahrungen in den Gruppen statt: „über Bande spielen“. Auch die ressourcenfördernden Methoden und Haltungen der Gruppenleitenden ermöglichen die Reduktion des Elternstresspegels und deren Anstrengungen. In der Durchführung realisiert sich eine Modellfunktion des MFT-Teams für Eltern

169 Forschung zur Multifamilientherapie

12

und Kindern: Wie die Mitarbeitenden miteinander umgehen, ihre Kommunikation und Wertschätzung untereinander und gegenüber den teilnehmenden Familien hat einen positiven Effekt auf die Kommunikation innerhalb der einzelnen Familien und in der Familiengruppe. Konsequente erlebnispädagogische, multimodale Vorgehensweisen ermöglichen den Einbezug aller Altersgruppen und eine ausdrucksfördernde Externalisierung von inneren Bildern und Gefühlen. Vielfach wird angegeben, dass das gemeinsame Tun bei aktiven musik-, tanz-, bewegungs- oder kunsttherapeutischen Angeboten auch die Bindung(ssicherheit) innerhalb einer Familie positiv beeinflusst. Es wird als Wirkeffekt auch vermerkt, dass es keinen Druck braucht, Familien zur Mitarbeit zu bewegen, da Familien der MFT vielfach eine hohe Akzeptanz entgegenbringen. zz Ausschlusskriterien für eine Teilnahme

Hier werden graduelle Unterschiede in den Kontraindikationen bei den verschiedenen Ansätzen benannt. In Bezug auf die Eltern werden im klinischen Setting keine verfügbaren Eltern als Ausschlusskriterien genannt. Vereinzelt können Jugendliche auch einmal ohne Eltern eine MFT-Gruppe auf eigenen Wunsch weiterführen. Sehr starke psychische Beeinträchtigungen bis hin zu psychotischen Phasen, aktuell beeinträchtigende Suchterkrankungen oder heftige offene, nicht zu kontrollierende Paarkonflikte werden als Hürden bis hin zu Ausschlusskriterien genannt. Eskalierende familiäre Gewalt bis hin zur Kindeswohlgefährdung führt zuweilen zum Ausschluss aus einer Gruppe, da andere Lösungen gefunden werden müssen. In Bezug auf die Kinder wird die Gruppenfähigkeit als Grundbedingung genannt. Bei Multifamiliengruppen zu familiärer Gewalt bilden die Indikationen oftmals die Ausschlusskriterien bei anderen thematisch orientierten MFG-Angeboten.

Akute Psychose, Sucht, Gewalt und massive Paarkonflikte als Ausschlusskriterien

zz Herausforderungen/Hürden

Bei Jugendhilfeträgern stellt sich die Hürde, dass die jeweiligen ASD-Mitarbeiter – also die zuweisenden Stellen – eine hohe Fluktuation am Arbeitsplatz haben. MFT ist kein Selbstläufer – es muss immer wieder dafür „geworben“ werben bei verschiedenen Stellen innerhalb und außerhalb der Institution. Die Implementationsphase eines MFT-Angebotes ist teilweise aufwendig und zeitintensiv, hier werden bis zu einem Jahr ­Planungsphase mit Durchführung von Pilotprojekten benannt. Die nichtkontinuierliche Teilnahme von Familien oder einzelnen Familienmitgliedern stellt die Gruppenleitenden und Gruppen immer wieder vor Herausforderungen und vor die Suche nach geeigneten Lösungen. In Hinblick auf kulturelle

Implementierung eines MFT-Angebotes ist zeitintensiv und aufwendig

170

C. Blanck et al.

und lebensweltliche Unterschiede und Spannungsfelder der teilnehmenden Familien gilt es, einen gelingenden Umgang in der oftmals heterogenen und weitgespannten Gruppenzusammensetzung zu finden. zz Evaluationen

Viele Therapeut*innen führen schriftliche und mündliche Evaluationen ihrer MFT-Projekte und -Gruppen durch in Form von Fragebögen, mündlichen Rückmelderunden zum Gruppenabschluss oder mit den einzelnen teilnehmenden Familien. Es werden auch bilanzierende Reflexionsgespräche zwischen der Familie, den MFT-Therapeut*innen und dem jeweiligen Kostenträger wie dem Jugendamt durchgeführt. Einige MFT-Angebote wurden auch durch Bachelor- und Masterarbeiten evaluiert. zz Prägnante Aussagen zur MFT aus Sicht der Therapeut*innen

12

Ergänzend zu den oben genannten Ergebnissen werden hier in einem Ausschnitt weitere verbale Daten der Studie zusammenfassend dargestellt: In der MFG wirkt eine „Treibhausatmosphäre“, die unter anderem einen Peer-zu-Peer-Beratungsansatz verfolgt. Es ist das Familientherapieangebot, das sich am konsequentesten auf den Einbezug aller Familienmitglieder einlässt, sich in der Planung und Durchführung des Angebotes darum konsequent bemüht, alle Familienmitglieder und deren Voraussetzungen, Möglichkeiten im Blick hat. Die einzelne Familie wird konsequent als Team angesprochen. MFT verändert Teamkommunikation und -strukturen hin zum positiveren Umgang und führt sowohl zu mehr Freude und Spaß untereinander als auch zu einem partizipativeren Umgang mit den Familien in der Institution. 12.2.4

Zusammenschau und Ausblick

Im vorliegenden Beitrag wird ausgehend von den Ergebnissen einer empirischen Studie der Implementationsgrad der MFT im deutschsprachigen Raum in Hinblick auf Rahmenbedingungen und Grundlagen dargelegt. Es wird ein Einblick gegeben in die inhaltliche Konzeptualisierung und Umsetzung der MFT aus Sicht der verantwortenden und gruppenleitenden Therapeut*innen. Die konsequente Verankerung und Umsetzung der MFT in der jeweiligen Institution hat einen deutlichen ­positiven Einfluss auf die Kommunikation, Strukturen und Haltungen im Team, bis hin zu mehr Freude und Spaß beim Arbeiten. Möglichkeiten der Weiterführung des vorliegenden Forschungsprojektes bestehen auf der konzeptuellen,

171 Forschung zur Multifamilientherapie

empirischen und praktischen Ebene, die im Abschlussbericht aufgezeigt werden (Goll-Kopka 2019). Diese Untersuchung und weiterführende Arbeiten, z. B. in Form von multizentrischen Studien zur Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der MFT, können einen Beitrag leisten zu einer verbindlicheren konzeptuellen institutionellen Verankerung und Akzeptanz und einer längerfristigen gesicherten Finanzierung der MFT. ??Verständnisfragen 1. Wie wirkt sich die konsequente institutionelle Einführung der MFT in der Perspektive von MFT-Therapeut*innen auf das Team und die Kommunikation mit den Familien aus? 2. Was könnten Gründe für die Sichtweise von MFT-Gruppenleitenden sein, MFT als das Familientherapieangebot zu sehen, das sich am konsequentesten auf den Einbezug aller Familienmitglieder einlässt? 3. Welche Wirksamkeitsfaktoren und Herausforderungen der MFT benennen MFT-Therapeut*innen?

Literatur Asen, E. (2002). Multiple family therapy: An overview. Journal of Family Therapy, 24(1), 3–16. https://doi.org/10.1111/1467-6427.00197. Asen, E., & Scholz, M. (2012). Praxis der Multifamilientherapie (2., vollst. überarb. u. erw. Aufl). Familientherapie. Heidelberg: Carl-Auer Verlag. Asen, E., & Scholz, M. (2017a). Handbuch der Multifamilientherapie. Systemische Therapie und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer Verlag GmbH. Asen, E., & Scholz, M. (2017b). Handbuch der Multifamilientherapie (1. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer Verlag. Asen, E., & Schuff, H. (2006). Psychosis and multiple family group therapy. Journal of Family Therapy, 28(1), 58–72. https://doi.org/10.1111/j.14676427.2006.00337.x. Bamberger, M., Rao, V., & Woolcock, M. (2010). Using mixed methods in monitoring and evaluation: Experiences from international development. In Sage handbook of mixed methods in social & behavioral research (S. 613–614). Los Angeles: Sage. Bechdolf, A., Wagner, M., Ruhrmann, S., Harrigan, S., Putzfeld, V., Pukrop, R., … Klosterkötter, J. (2012). Preventing progression to first-episode psychosis in early initial prodromal states. The British Journal of Psychiatry : The Journal of Mental Science, 200(1), 22–29. https://doi. org/10.1192/bjp.bp.109.066357 Behme-Matthiessen, U., & Pletsch, T. (Hrsg.). (2012). Handbuch Familienklasse. Aachen: Shaker Verlag. Behme-Matthiessen, U., & Pletsch, T. (2016). Praxis Familiengruppe. Aachen: Shaker Verlag. Behme-Matthiessen, U., Bock, K., Nykamp, A., & Pletsch, T. (2011). FiSch – ­Familie in Schule. Forum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 21(1), 5–18. Blanck, C. (2017). Evaluation der Studien zur Erforschung der Multifamilientherapie in der klinischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland anhand eines Vergleichs mit englischen Studien. Magdeburg: Otto-von-Guericke-Universität.

12

172

12

C. Blanck et al.

Born, A. (2012). Multifamilientherapie in Deutschland [Multi-family group therapy in Germany]. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 61(3), 167–182. https://doi.org/10.13109/prkk.2012.61.3.167. Buckel, S., Eggemann Dann, H.  W., & Mohrke, C. (2013). „Wir helfen uns“  – Das Ludwigshafener Multifamilientraining. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 62(1), 77–90. Dickerson, A. D., & Crase, S. J. (2005). Parent-adolescent relationships: The influence of multi-family therapy group on communication and closeness. American Journal of Family Therapy, 33(1), 45–59. https://doi. org/10.1080/01926180590889194. Dixon, L. B., & Lehman, A. F. (1995). Family interventions for schizophrenia. Schizophrenia Bulletin, 21(4), 631–643. https://doi.org/10.1093/ schbul/21.4.631. Eisler, I. (2005). The empirical and theoretical base of family therapy and multiple family day therapy for adolescent anorexia nervosa. Journal of Family Therapy, 27(2), 104–131. https://doi.org/10.1111/j.1467-6427. 2005.00303.x. Eisler, I., Simic, M., Russell, G.  F. M., & Dare, C. (2007). A randomised controlled treatment trial of two forms of family therapy in adolescent anorexia nervosa: A five-year follow-up. Journal of Child Psychology and Psychiatry, and Allied Disciplines, 48(6), 552–560. https://doi. org/10.1111/j.1469-7610.2007.01726.x. Eisler, I., Simic, M., Hodsoll, J., Asen, E., Berelowitz, M., Connan, F., … Landau, S. (2016). A pragmatic randomised multi-centre trial of multifamily and single family therapy for adolescent anorexia nervosa. BMC Psychiatry, 16(1), 422. https://doi.org/10.1186/s12888-016-1129-6 Fristad, M. A., Gavazzi, S. M., & Soldano, K. W. (1998). Multi-family psychoeducation groups for childhood mood disorders: A program description and preliminary efficacy data. Contemporary Family Therapy, 20(3), 385–402. https://doi.org/10.1023/A:1022477215195. Fristad, M. A., Goldberg-Arnold, J. S., & Gavazzi, S. M. (2003). Multi-family psychoeducation groups in the treatment of children with mood disorders. Journal of Marital and Family Therapy, 29(4), 491–504. https://doi.org/10.1111/j.1752-0606.2003.tb01691.x. Fristad, M. A., Verducci, J. S., Walters, K., & Young, M. E. (2009). Impact of multifamily psychoeducational psychotherapy in treating children aged 8 to 12 years with mood disorders. Archives of General Psychiatry, 66(9), 1013–1021. https://doi.org/10.1001/archgenpsychiatry.2009.112. Gelin, Z., Cook-Darzens, S. & Hendrick, S. (2017). Evidenzbasis. In E. Asen & M.  Scholz (Hrsg.), Handbuch der Multifamilientherapie (Erste Auflage) (S. 354–375). Heidelberg: Carl-Auer Verlag. Goll-Kopka, A. (2019). Vorbereitende Studie für eine mögliche Multicenterstudie  – Überblick zur MFT im deutschsprachigen Raum. Abschlussbericht zu einem Forschungsprojekt für die DGSF, Köln. Goll-Kopka, A. (2012). Multifamiliengruppen als therapeutisches Angebot bei somatischer Erkrankung und Behinderung. Kumulative Dissertation, Fakultät I Bildungs- und Sozialwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Goll-Kopka, A., & Born, A. (2018). Multifamiliengruppen als psychosoziales und kontextorientiertes Angebot bei somatischer Erkrankung und ­Behinderung. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 67/2018, 461–479. Greene, J. C., Benjamin, L., & Goodyear, L. (2001). The merits of mixing methods in evaluation. Evaluation, 7(1), 25–44. https://doi. org/10.1177/13563890122209504. Hanson, W. B., Creswell, J. W., Piano Clark, Y. L., Petska, K. S., & Creswell, D. (2005). Mixed methods research designs in counseling psychology.

173 Forschung zur Multifamilientherapie

Journal of Counseling Psychology, 52(2), 224–235. https://doi. org/10.1037/0022-0167.52.2.224. Hazel, N. A., McDonell, M. G., Short, R. A., Berry, C. M., Voss, W. D., Rodgers, M. L., & Dyck, D. G. (2004). Impact of multiple-family groups for outpatients with schizophrenia on caregivers’ distress and resources. Psychiatric Services, 55(1), 35–41. https://doi.org/10.1176/appi.ps.55.1.35. Hazelrigg, M. D., Cooper, H. M., & Borduin, C. M. (1987). Evaluating the effectiveness of family therapies: An integrative review and analysis. Psychological Bulletin, 101(3), 428–442. https://doi.org/10.1037/00332909.101.3.428. Hellemans, S., De Mol, J., Buysse, A., Eisler, I., Demyttenaere, K., & Lemmens, G. M. D. (2011). Therapeutic processes in multi-family groups for major depression: Results of an interpretative phenomenological study. Journal of Affective Disorders, 134(1-3), 226–234. https://doi. org/10.1016/j.jad.2011.05.050. Lemmens, G. M.D. [Gilbert M.D.], Eisler, I. Dierick, P., Lietaer, G., & Demyttenaere, K. (2009). Therapeutic factors in a systemic multi-family group treatment for major depression: Patients’ and partners’ perspectives. Journal of Family Therapy, 31(3), 250–269. https://doi.org/10.1111/ j.1467-6427.2009.00465.x von der Lippe, H., Radloff, J., Schadow, J., Röttger, U., & Flechtner, H.-H. (2016). Was geschieht in der sozialen Arena? Der Therapieprozess begleitender Mütter in Multifamiliengruppen einer kinderpsychiatrischen Tagesklinik [The therapy process of accompanying mothers in multiple family therapy groups: Evidence from a German child psychiatric setting]. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 65(8), 609– 624. https://doi.org/10.13109/prkk.2016.65.8.609. Malterud, K. (2001). Qualitative research: standards, challenges, and guidelines. The Lancet, 358(9280), 483–488. https://doi.org/10.1016/S01406736(01)05627-6. McDonell, M. G., & Dyck, D. G. (2004). Multiple-family group treatment as an effective intervention for children with psychological disorders. Clinical Psychology Review, 24(6), 685–706. https://doi.org/10.1016/j. cpr.2004.02.004. McFarlane, W. R., Dunne, E., Lukens, E., Newmark, M., McLaughlin-Toran, J., Deakins, S., & Horen, B. (1993). From research to clinical practice: Dissemination of New York state’s family psychoeducation project. Hospital and Community Psychiatry, 44(3), 265–270. Metzler, P., & Krause, B. (1997). Methodischer Standard bei Studien zur Therapieevaluation. MPR-online, 2(2), 55–67. Midgley, N., Ansaldo, F., & Target, M. (2014). The meaningful assessment of therapy outcomes: Incorporating a qualitative study into a randomized controlled trial evaluating the treatment of adolescent depression. Psychotherapy, 51(1), 128–137. https://doi.org/10.1037/a0034179. O’Shea, M. D., & Phelps, R. (1985). Multiple family therapy: Current status and critical appraisal. Family Process, 24(4), 555–582. https://doi. org/10.1111/j.1545-5300.1985.00555.x. Orlinsky, D. (2008). Die nächsten 10 Jahre Psychotherapieforschung. Eine Kritik des herrschenden Forschungsparadigmas mit Korrekturvorschlägen [What would I like to read in the next 10 years of psychotherapy research? A critique and suggested correction of the therapy research paradigm]. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 58(9-10), 345–354. https://doi.org/10.1055/s-2008-1067444. Retzlaff, R., Brazil, S., & Goll-Kopka, A. (2008). Multi-Familientherapie bei Kindern mit Teilleistungsfertigkeiten [Multifamily therapy in children with learning disabilities]. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 57(5), 346–361. https://doi.org/10.13109/prkk.2008.57.5.346.

12

174

12

C. Blanck et al.

Rhodes, P., Baillie, A., Brown, J., & Madden, S. (2005). Parental efficacy in the family-based treatment of anorexia: Preliminary development of the parents versus anorexia scale (PVA). European Eating Disorders Review, 13, 399–405. Salaminiou, E. E. (2005). Families in multiple family therapy for adolescent anorexia nervosa: response to treatment, treatment experience and family and individual change. Dissertation, University of London, London. Scholz, M. (2010). Multifamilientherapie bei psychisch kranken Kindern und Jugendlichen. Psychotherapie im Dialog, 11(3), 219–221. https://doi. org/10.1007/s00451-010-0040-x. Scholz, M., & Asen, E. (2001). Multiple family therapy with eating disordered adolescents: Concepts and preliminary results. European Eating Disorders Review, 9(1), 33–42. https://doi.org/10.1002/erv.364. Scholz, M., Rix, M., Scholz, K., Gantchev, K., & Thomke, V. (2005). Multiple family therapy for anorexia nervosa: concepts, experiences and results. Journal of Family Therapy, 27(2), 132–141. https://doi.org/10.1111/ j.1467-6427.2005.00304.x. Smith, J. A., & Osborn, M. (2003). Interpretative phenomenological analysis. In J. A. Smith (Hrsg.), Qualitative Psychology: A practical guide to research methods. London: Sage. London, England: Sage. Spierling, K. H. (2016). Kidstime Workshops – ein Projekt mit Multifamilienarbeit für Familien mit psychisch erkrankten Elternteilen. System, 30(1), 54–74. Strelnick, A. H. (1977). Multiple family group therapy: A review of the literature. Family Process, 16(3), 307–325. Voriadaki, T., Simic, M., Espie, J., & Eisler, I. (2015). Intensive multi-family therapy for adolescent anorexia nervosa: Adolescents’ and parents’ dayto-­day experiences. Journal of Family Therapy, 37(1), 5–23. https://doi. org/10.1111/1467-6427.12067. Weiss, C. H. (1998). Evaluation: Methods for studying programs and policies (2. Aufl.). New Jersey/Upper Saddle River: Prentice Hall. Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie. (2004). Mindestanforderungen für die Begutachtung von Wirksamkeitsstudien im Bereich der Psychotherapie. Deutsches Ärzteblatt, 2, 81.

175

Serviceteil Stichwortverzeichnis – 177

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 U. Behme-Matthiessen, T. Pletsch (Hrsg.), Lehrbuch der Multifamilientherapie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-61196-8

177

A–H

Stichwortverzeichnis A Abhängigkeitserkrankung 100 Abstinenz 101 ACE-Studie  94, 125 Adoptionsstudie 126 Adoptivverfahren 67 Adverse Childhood Experiences (ACE)  94 Aktionen 54 Anorexia nervosa  86 –– MFT-Aktionen 89 Anschlussfähigkeit 7 Aquarium 80 ART-Modell 54 Auf der Bühne  81 Aufgabenorientierung 18 Aufstellung 82 Ausschlusskriterien  50, 169 Außenseitergefühl 44 Außenspiegel 40 Autopoiese  5, 29 Autorität durch Beziehung  43 autoritativer Erziehungsstil  19

B Behandlungsmodul MFT  73 Belastungserleben 154 Beziehungs- und Interaktionsstörungen  48 biopsychosoziales Krankheitsmodell  93 Briefe an das Problem  103

C chronische Erkrankungen  97 Coping 95

D Definition Multifamilientherapie  2 Diabetes mellitus Typ  1 92 –– MFT-Formate 98 Dresdener Modell  88

E Einzeltherapie 2 Eisbrecher 36 elterliche Präsenz  29, 42 Eltern-Kind-Beziehung 155 Elterntausch  40, 67 Emotionsregulation 119

Entwicklungsaufgaben 49 Entwicklungsrisiken 125 Entzugsbehandlung 101 Essenscollagen 89 Evaluation 170 Experimentieren 40 Expertenrunde 104

F familiäre Kommunikation  48 familiale Resilienz  19 Familie in Schule (FiSch)  140 Familienanpassungsmodell 96 Familiengruppe  30, 167 Familienideale 74 Familienklassen  140, 167 Familienklassenzimmer 165 Familienkonstellationen 73 Familienschummelsteckbrief   64, 82 Familienseminare 165 Familienskulptur 3 Familientagesklinik 165 Familientherapie 3 –– bei Anorexia nervosa  87 –– bei Suchterkrankungen  101 –– strukturelle 4 Familienwappentier 78 Familie und Identität, Gruppenaktionen  78 Family Adjustment and Adaptation Response Model (FAAR) 96 FiSch – Familie in Schule  140 Forschung zur Multifamilientherapie  149

G gegenseitige Unterstützung und Rückmeldung  41 Gehirnscanning  64, 99 Geschichte der Multifamilientherapie  9 geschlossene Gruppe  35 Grundhaltung, wertschätzende  3 Gruppenaktionen  54, 78 Gruppenklima 31 Gruppenkohäsion 34 Gruppentherapie 8 –– Wirkfaktoren 151

H Handhabbarkeit 21 Helfernetzwerke 130 Homöostasemodell 3

178

Stichwortverzeichnis

I Indikationen 48 individuelle Resilienz  18 Interaktionsmuster 152 Interaktionsstörungen 48 Intoxikation 100 intra- und interfamiliäre Kommunikation  160 Isolation 44

J Jugendhilfe 165 juveniler Diabetes mellitus  92

K Kidstime 126 –– Methoden 134 –– Workshops 128 KidsWorkshops 167 Kinder aus der Klemme  108, 167 –– Keystones 117 Kinder psychisch kranker Eltern  124 Kinder- und Jugendhilfe  165 Körperbild mit positiven Eigenschaften  78 Kohärenzgefühl 21 Kommunikation –– familiäre 48 –– intra- und interfamiliäre  160 Kommunikationsmuster 120 Konfliktmuster 120 Konstruktivismus 6 Kontraindikationen  50, 169 Kooperation, Gruppenaktionen  80 Krankheitsvorstellung 97 Krisen, Umgang mit  130 Kultursensibilität 147

Methoden der Multifamilientherapie  168 methodenintegrative Studie  153, 157 Migrationsfamilien 147 Mixed Methods  157 Modelle nutzen  37 Multicenterstudie  154, 159, 171 Multifamilienarbeit  73, 139, 145 –– in der Jugendhilfe  145 –– in der Schule  140 –– mit Kindern psychisch kranker Eltern  128 –– präventive 146 Multifamiliencoaching  73, 139 –– in der Schule  140 Multifamiliengruppen im deutschsprachigen Raum 165 Multiperspektivität 152 Multiproblemfamilien 146

N Nachhaltigkeit 145

O offene Gruppe  35

P Parentifizierung 4 Perspektivwechsel 67 präsente Elternschaft  29 präventive Multifamilienarbeit  146 Pressekonferenz 104 Problembewältigung 18 psychisch kranke Eltern  74, 124 –– Entwicklungsrisiken 125 –– intrusive Effekte  133 Psychotherapieforschung MFT  159

L

Q

Laborsituation 39 Leitbildspiegelung 38 lineares Ursache-Wirkungs-Modell  2 Loyalitätskonflikt 108

qualitative Studie  152 quantitative Studie  152

M

Rahmenbedingungen  75, 167 randomisiert-kontrollierte Studie  153, 154 Reflecting Families  66 reflektierende Position  31, 67 Reflektierendes Team  65 Reflexion  54, 65 Resilienz  16, 96, 128 –– familiale 19 –– individuelle 18 Resilienzfaktoren 18

Magersucht 86 Marte-Meo-Methode 68 Mehrgenerationentherapie 5 Meilensteine der Familiengeschichte  79 Mentalisieren 59 –– Gruppenaktionen 81 –– Interventionen 63 –– Techniken 62

R

179 Stichwortverzeichnis

Ressourcen  18, 152 Ressourcenaktivierung 42 Ressourcenorientierung 3 Risikofaktoren 16 Rollenaufteilung 31 Rückmeldung, gegenseitige  41

S Salutogenese 20 schädlicher Gebrauch  100 Scham 58 Schiffbaumeister 80 5-Schritte-Modell 55 Schutzfaktoren 17 Schweigepflicht 72 Selbsthilfegruppe 9 Selbstorganisationskonzept 29 Selbstwirksamkeit  19, 23 Selbstwirksamkeitserleben 23 Setting 167 Sinnhaftigkeit 21 Skalierung 82 soziale Arena  155 Sozialpädiatrische Zentren  165 Spiegeln 36 Stärken 3 Stärken und Ressourcen, Gruppenaktionen  78 strukturelle Familientherapie  4 Studiendesign 152 Studienqualität 157 Suchtbehandlung 101 –– MFT-Aktionen 102 Suchterkrankung 100 –– komorbide Störungen  101 Symptomveränderung 157 systemisches Quartett  62 systemische Therapie  5, 7

T Talkshow 99 Tandem 67 Teamkommunikation und -strukturen  170 Theaterarbeit 132 therapeutische Beziehung  28 therapeutische Haltung  28 therapeutisches Klima  29

I–Z

therapeutisches Team  31 Therapieabschluss, Gruppenaktionen  82 Therapieraum und Ausstattung  75 Tippgeberrunde 41 Tonskulpturen 89 Transfer 55 Transparenz 7 treatment as usual  153 Trennungsfamilien 108 Trennungsquote 108 Triangulation 4

U Unterstützung, gegenseitige  41 Ursache-Wirkungs-Modell, lineares  2

V Verantwortungsübergabe 65 Vergangenheit und Zukunft, Gruppenaktionen  79 Verstehbarkeit 21 Videofeedback 68

W Wachstumsmodell 3 Wachstumsorientierung 75 Was ist typisch für meine Familie  78 Werbeplakat 79 wertschätzende Grundhaltung  3 Wertschätzung 59 Wirkfaktoren  33, 45, 151, 168 Wirksamkeit 150 Wunschbaum 82

Y young carer  132

Z Zeitformate 77 Zeitmaschine 80 Zeitreisen 90 Zielorientierung 75 Zukunftsvision 19