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German Pages 333 [336] Year 2005
Marianne Schark Lebewesen versus Dinge
W G DE
Ideen &c Argumente Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Lutz Wingert
Walter de Gruyter · Berlin · New York
M a r i a n n e Schark
Lebewesen versus Dinge Eine metaphysische Studie
Walter de Gruyter · Berlin · New York
G e d r u c k t mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n in I n g e l h e i m a m R h e i n .
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN-13: 978-3-11-018540-9 ISBN-10: 3-11-018540-7 Bibliografische
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Der Deutschen
Bibliothek
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© Copyright 2005 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere f ü r Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: +malsy, k o m m u n i k a t i o n und gestaltung, Bremen
Vorwort Dieses Buch stellt die überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar. Sie wurde im Jahre 2003 an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen, der Dekan war Prof. Dr. Oswald Schwemmer. Die Disputation fand am 23. Juni 2003 am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität statt. Ohne die vielfältige Unterstützung, die ich erhalten habe, wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Danken möchte ich vor allem meinem Doktorvater Herbert Schnädelbach für die Ermunterung zur Promotion und seine beständige wohlwollende Begleitung dieses Projekts; Christof Rapp für seine kritische Durchsicht der Arbeit und Anregungen zu ihrer Verbesserung; Geert Keil für seine ausdauernde Anteilnahme und Diskussionsbereitschaft; meiner Familie, insbesondere meiner Zwillingsschwester Maike, und meiner Freundin Lydia Böttger für die aufmunternden Worte, wann immer ich ihrer bedurfte. Danken möchte ich darüber hinaus dem Evangelischen Studienwerk, dessen Förderung mir sowohl das Zweitstudium der Philosophie als auch die Promotion ermöglicht hat. Der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften danke ich für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Nicht zuletzt möchte ich Lutz Wingert, Wilfried Hinsch und dem de Gruyter-Verlag für die Aufnahme dieses Buchs in die Reihe „Ideen und Argumente" danken.
Inhalts verz eichnis I
Einleitung 1. Drei Begriffe für eine Kategorie: Lebewesen - Organismus - lebendes System 2. Lebewesen versus Dinge
II
Die Kategorie der Kontinuanten 1. Vorbemerkungen zur Klassifikation 1.1 Klassifikation durch kategoriale Prädikate 1.2 Deskriptive versus revisionäre Metaphysik 2. Die Klassifikation 3. Physische Gegenstände, Vorkommnisse und Kontinuanten 3.1 Kontinuanten und Vorkommnisse: Enduranz versus Perduranz 3.2 Zeitliche Teile 3.3 Warum Kontinuanten keine zeitlichen Teile haben 4. Die Aporie der Veränderung 4.1 Der Einwand der Perdurantisten gegen die Möglichkeit persistierender, veränderlicher Gegenstände 4.2 Einschub: Die aristotelische Individuenkonzeption als Antwort auf die Persistenz-Paradoxie 4.3 Die Unterstellung von Identität 4.4 Probleme des Vierdimensionalismus
III
Lebewesen: Eine Kategorie suigeneris 1. Die cartesianische Ontologie: Lebewesen als belebte Körper
1 10
14 15 22 25 29 35 41 50
56 75 84 88
92 93
VIII
Inhaltsverzeichnis
1.1 Erster Einwand gegen die dualistische Ontologie: Menschliche Personen sind keine mit einem lebenden Körper vereinigte geistige Wesen 1.2 Zweiter Einwand gegen die dualistische Ontologie: Es gibt keine materiellen Körper, denen das Lebendigsein bloß ak2identell wäre 2. Lebewesen und Dinge als Kontinuanten 3. Die Formel 1Vivere viventibus est esse
IV
Zur Individuation und Persistenz lebloser Kontinuanten 1. Materiequanta (Materieaggregate) 2. Dinge 2.1 Zur Einheit und Natur von Dingen 2.1.1 Zur Einheit von Dingen 2.1.2 Uber das Wesen sortal bestimmter Dinge: Zum Doppelsinn der Wendung „die Natur eines Dings" 2.2 Zur Persistenz von Dingen 2.2.1 Der Unterschied in den Persistenzbedingungen von Dingen und Aggregaten 2.2.2 Das Problem raumzeitlich koinzidierender Gegenstände 2.2.3 Zur Persistenz von Dingen 2.2.4 Das Problem von Theseus' Schiff
V
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103 119 131
146 146 158 159
171 177 . 178 182 192 195
Zur Persistenz und Natur von Lebewesen 1. Zum Begriff des Lebens 1.1 Leben als Lebensgeschichte und Leben als Zustand/Aktivität 1.2 Contra van Inwagen: Leben gehört nicht zur Kategorie der Ereignisse 1.3 Kritik am Konzept des Lebensstroms 1.4 Leben als der Zustand der Aktualisiertheit der Lebensfähigkeit 2. Die Entwicklung von Lebewesen und das Problem der Bestimmung des Lebensbeginns
201 203 207 211 221
Inhaltsverzeichnis
3. Die Problematik der ruhenden Lebensformen 4. Zur Natur von Lebewesen 4.1 Zur Natur von Lebewesen im aristotelischen Sinne 4.2 Zur Natur von Lebewesen im Lockeschen Sinne: die Natur von Organismen 4.2.1 Einschub: Zur unterschiedlichen Bedeutung der Begriffe ,Organismus' und ,Lebewesen' 4.2.2 Der Organismus als funktionale Einheit von organischen Teilen 5. Zur Persistenz von Lebewesen 5.1 Der „substantial constituents approach" von Lowe 5.2 Die besondere Natur der Persistenz von Lebewesen 5.3 Konsequenz: Kein dem Problem von Theseus' Schiff analoges Problem bei Lebewesen
VI
IX
232 242 245 247
247 253 264 265 274 287
Schluß 1. Abschließende Bemerkungen zum Begriff des Lebens . 290 2. Lebewesen: lebende Körper oder Wesen, die einen Körper haben? 2.1 Die Positionalität von Lebewesen 292 2.2 Zur Natur der Vermögen von Lebewesen 295
Literaturverzeichnis
308
Personenregister
316
Sachregister
319
I Einleitung 1. Drei Begriffe für eine Kategorie: Lebewesen — Organismus — lebendes System Das Ziel dieses Buches ist es darzulegen, inwiefern die verbreitete Auffassung, Lebewesen seien als lebende Körper oder Systeme konzipierbar, falsch ist, ja, einen Kategorienfehler darstellt. Der Begriff des Lebewesens ist einer der Grundbegriffe unserer deskriptiven Metaphysik. Es wäre ein Fehler, diesen für einen biologischen Begriff zu halten: er ist vielmehr ein ontologischer. Ich plädiere dafür, der Biologie nur den Organismusbegriff zu überlassen, nicht jedoch den des Lebewesens. In diesem Buch soll untersucht werden, was Lebewesen sind, mit dem Ziel, diesen Grundbegriff zu explizieren und der Fundamentaütät der ontologischen Differenz von Lebendigem und Totem gerecht zu werden. Aristoteles ist sich bewußt, daß „der Gegenstand der Untersuchung dann [...] besonders dunkel [ist]", wenn eine Frage der Form „Was ist ein F?" gestellt wird. Denn hier wird nicht gefragt, warum etwas Bestimmtes ein F ist; vielmehr geht hier „die Untersuchung offenbar darauf, weshalb der Stoff dieses Bestimmte ist". 1 Die Frage, was ein Lebewesen ist, muß gelesen werden als die Frage danach, was es heißt, ein Lebewesen zu sein, d.h. als die Frage nach dem Wesen beziehungsweise der Natur von Lebewesen. 2 Die Antwort darauf besteht in der Angabe der Merkmale, die hinreichend und notwendig dafür sind, daß wir etwas ein Lebewesen nennen.
1 2
Aristoteles, Met. VII, 17, 1041a 32-1041b 5. Vgl. ebd., 1041b 8 f.
2
I Umleitung
Es gibt eine Neigung, im Falle von Naturdingen die Antwort auf solche Wesensfragen von den Naturwissenschaften zu erwarten und sie nicht mehr für eine Sache der Philosophie zu halten. Nach der historischen Ausdifferenzierung der Naturwissenschaften aus der Philosophie sei es nun deren Aufgabe, die Natur der Dinge der Natur festzustellen, während für die Philosophie lediglich die Aufgabe der Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften zurückbleibe. Diese Einschätzung mag hinsichtlich der Physik und Chemie berechtigt sein, soweit es sich bei den Gegenständen dieser Wissenschaften um theoretische Entitäten handelt: Auf die Annahme der Existenz solcher Entitäten sind wir typischerweise nur unter der Bedingung verpflichtet, daß wir bestimmte naturwissenschaftliche Theorien für wahr halten, und ihre Eigenschaften erschöpfen sich in denen, die ihnen im Rahmen der Modelle dieser Theorien zugesprochen werden. Auf den Gegenstand der Biologie, die lebenden Wesen, trifft dies jedoch nicht zu: Der Begriff des Lebewesens bezeichnet gerade keine solche theoretische Entität, sondern Lebewesen gehören zu den vertrautesten und hervorstechendsten Bestandteilen unserer Lebenswelt. Überdies ist unser Begriff von Lebewesen maßgeblich von der Erfahrung unserer selbst als lebenden Wesen bestimmt. So bringen wir ein lebensweltliches Vorverständnis des Lebendigen mit, weswegen wir die Beantwortung der Frage, was Lebewesen sind, nicht allein der Biologie überlassen können. Daß die lebensweltliche und die biologische Konzeptualisierung von Lebewesen auseinandergehen, macht sich am deutlichsten dann bemerkbar, wenn wir versuchen, in normalsprachlichen Aussagen den Begriff des lebenden Systems - der in der Biologie zunehmend an Stelle des älteren Organismusbegriffs verwendet wird - an die Stelle des Begriffs des Lebewesens (bzw. des jeweils verwendeten Artbegriffs) zu setzen. Wir stellen fest: In unserer Lebenswelt begegnen uns keine lebenden Systeme. Herrchen ist nicht mit einem bellenden lebenden System unterwegs. Es gibt eine ganze Reihe solcher Prädikate, mit denen wir umgangssprachlich das Verhalten von Lebewesen beschreiben, die sich gegen eine Verknüpfung mit dem Begriff gebendes System' sträuben. Dazu gehören insbesondere unsere aktiomorphen Beschrei-
1.1 l^ebewesen — Organismus — lebendes System
3
bungen des Verhaltens von Tieren. Lebende Systeme wedeln nicht mit dem Schwanz, schnurren nicht, zwitschern nicht; sie blühen und gedeihen indes auch nicht. Es liegt nahe, diesen Sachverhalt so zu deuten, daß es zwei verschiedene Begriffe dessen gibt, was es heißt zu leben und was es folglich heißt, ein Lebewesen zu sein: einen vorwissenschaftlichen, lebensweltlichen, anthropomorphen und einen zweiten, nur biologischen. Einerseits ist klar, daß es keiner elaborierten biologischen Kenntnisse bedarf, um zu verstehen, was ,Leben' heißt. Zum Selbstverständnis des animal rationale gehört die Selbstbeschreibung als ein lebendiges Wesen. Dadurch, daß wir selbst zu den Lebewesen gehören, gibt es eine Zugangsweise zum Leben, die von naturwissenschaftlichen Entdeckungen und Erklärungen unabhängig ist. Ein Mensch, der lebt, tut und erfährt in jedem Moment seines Daseins etwas. Sprechen wir von einem Menschenleben, so mit Blick hierauf: wir meinen damit die Lebensgeschichte eines Menschen, die Totalität seiner Handlungen und Erfahrungen. Dem gegenüber stehen die biologischen Lebensdefinitionen. Diese klingen auf dem heutigen Stand der Wissenschaft etwa so: Leben ist ein „stationärer ,Zustand' eines materiellen Systems komplizierter chemischer Zusammensetzung, der aus einem Zusammenwirken aller Einzelbestandteile auf Grund physikalischer und chemischer Wechselwirkungen resultiert". 3 Diese Definition entspricht der „heute allgemein vertretenefn] Auffassung [...], daß Lebendigsein eine emergente Eigenschaft [...] oder Systemeigenschaft komplexer physiko-chemischer Systeme ist." 4 Konträrer könnten die Bestimmungen dessen, was es heißt zu leben, kaum ausfallen. Insbesondere aber führt das Ansinnen, diese Art von Lebensdefinition nun in die menschliche Selbstinterpretation als das lebendige Wesen, was der Mensch nun einmal ist, aufzunehmen, unweigerlich zu Biologismus, wie das Beispiel von Hubert Markl zeigt: ,,[D]ie Biologen, Molekulargenetiker, Biochemiker [vermö-
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Eintrag ,Leben', Meyers Großes Taschenlexikon Osche/Mahner 2002.
4 1992,
Bd. 13, 34.
4
I Umleitung
gen] zunehmend überzeugender nachzuweisen, daß Lebewesen bis in ihre innersten Erbanlagen hinein als in der Evolution entwickelte chemische Systeme begriffen werden können." Vielen Menschen aber sei es „unbegreiflich, wenn nicht gar widerwärtig", „daß Lebewesen (sie selbst eingeschlossen) einfach eine Art chemischer Maschinen aus den ökologischen Werkstätten der Evolution sein sollen." 5 Ich werde in diesem Buch, das nicht der Kritik an solchem Naturalismus gewidmet sein soll, nicht en detail begründen, warum wir uns selbst nicht als „chemische Maschinen" oder „lebende Systeme" verstehen können — ich gehe hiervon schlicht aus. Die alternative Annahme jedoch, daß man von Menschen dann eben sagen müsse, daß sie „in zweierlei Verstände" lebten, ist indessen genauso unattraktiv wie die biologistische Selbstinterpretation. Doch sind mit diesen beiden Optionen die Alternativen nicht erschöpft. Wir können in der Tatsache, daß solche biologischen Lebensdefinitionen in der Selbstanwendung auf den Menschen Biologismen ergeben, auch das mißliche, jedoch konsequente Ergebnis der Auffassung sehen, daß der Begriff des Lebewesens synonym mit dem des Organismus oder „lebenden Systems" zu verwenden ist. Ein wichtiger Schritt zur Vermittlung des vorwissenschaftlichen, lebensweltlichen Begriffs des Lebewesens mit den naturwissenschaftlichen Konzeptionen von Lebewesen liegt darin, den Begriff des Lebewesens auf der einen Seite und die Begriffe ,Organismus' und gebendes System' auf der anderen Seite nicht als intensionsgleiche, sondern nur als extensionsgleiche Begriffe zu verstehen. Daß die Biologie zu der Identifikation dieser Begriffe neigt, ist verständlich, insofern die Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Grundbegriffe der Disziplin innerhalb der fachlichen Diskussion einer Naturwissenschaft keine zentrale Rolle spielt. Wenn überhaupt einmal die allgemeine Konzeption von Lebewesen artikuliert wird, dann typischerweise in allgemeinen Lexika, in wenigen Sätzen in der Einleitung eines Lehrbuchs oder in allgemeiner gehaltenen Vorträgen, also bezeichnenderweise nur an den „Rän-
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Markl 1988.
1.1 I^ebewesen - Organismus - lebendes System
5
dern" der Wissenschaft. Im Vordergrund steht selbstverständlich die Kausalerklärung der vielfältigen Lebenserscheinungen. Diesem Umstand entsprechend entspringen jedoch auch die biologischen Definitionsvorschläge dafür, was Leben und was ein Lebewesen ist, relativ unvermittelt den in den jeweiligen Disziplinen vorherrschenden Modellvorstellungen (so daß man von einem Evolutionsbiologen auch andere hören wird als von einem Biochemiker). Was solche Vorschläge angeht, gebe ich Janich recht, wenn er sagt: Seit es Biologie im Sinne einer neuzeitlichen Wissenschaft gibt, bemüht sie sich um [eine] Definition von ,Leben'. Ganz gleich, welche Antworten dafür historisch vorgeschlagen wurden, [...] es ist bei solchen Definitionsbemühungen immer auch ein Adäquatheitsproblem zu lösen, das sich auf unser alltägliches Verständnis von lebendig und tot bezieht. Selbst wer sich von einer konsequent materialistischen Naturwissenschaft eine Uminterpretation seines lebensweltlichen Verständnisses von ,lebendig' einreden läßt, kann diese Umorientierung nur relativ zu einem Vorverständnis vornehmen. 6
Mit diesem „Vorverständnis" verweist Janich auf „das lebensweltliche Verständnis von Leben und Tod, von Schmerz und Lust, von Bedürfnis und Befriedigung, von Empfindung, Wahrnehmung und Erkenntnis, von Nahrung und Paarung, von Krankheit und Vitalität, von Ähnlichkeit und Verschiedenheit von Menschen, zumal, wenn sie direkte Verwandte sind". 7 Dieses an uns selbst und an unser vorwissenschaftlichen Erfahrung gewonnene Verständnis von Lebewesen stellt das „lebensweltliche Apriori" der Biologie dar. Ich lese dies so, daß über den vorwissenschaftlichen Begriff des Lebewesens in der Körperwelt eine Art von Entitäten konstituiert wird, die in der Folge zu Gegenständen naturwissenschaftlicher Forschung geworden sind. Gerade daß die Biologie voraussetzt, daß es Ltffe»jphänomene sind, die sie studiert, macht die Auffassung plausibel, daß ihr Gegenstand schon vorgängig konstituiert ist. Pointiert gesagt: Die Biologie ist zwar die Wissenschaft von den lebenden Wesen, nicht aber die Wissenschaft davon, was ein Lebewesen ist. Wegen des
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Janich 1996, 221 f. Ebd., 221.
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I Einleitung
generellen und grundsätzlichen Charakters dieser letzteren Frage ist ihre Beantwortung vielmehr Aufgabe der Metaphysik. Diese tut indes selbstverständlich gut daran, bei der Beantwortung dieser Frage den Erkenntnis stand der Biologie nicht unberücksichtigt zu lassen. Ich will mit der Behauptung der vorgängigen Konstitution des Gegenstandes der Biologie nicht bestreiten, daß die Biologie durch ihre Erklärungen unser Verständnis der Lebensphänomene immens erweitert hat, sondern lediglich, daß dieser Erkenntniszuwachs einen Grund dafür abgeben kann, den Begriff des Lebens oder des Lebewesens neu zu definieren. Statt die in den Kausalerklärungen der Lebensphänomene verwendeten Modelle zu einer l/,%interpretation des Vorverständnisses zu nutzen, sollte das gewonnene Kausalwissen vielmehr als Informierung und Erweiterung dieses Begriffs gesehen und in diesen integriert werden. Es ist so gesehen fragwürdig, von einem separaten, biologischen Sinn von Leben und Lebewesen auszugehen, der neben unserem lebensweltlichen Verständnis von Lebewesen besteht. Es ist wohl vor allem die Vorstellung eines gewissen Subjektcharakters von Lebewesen, zum einen als Wesen, die selber aktiv sind oder, wie Aristoteles sagt, „in sich selbst einen Anfang von Bewegung" 8 haben, wodurch sie sich selbst bewegende Wesen sind; zum andern als Wesen, die bemüht sind, sich am Leben zu erhalten, die das lebensweltliche Verständnis von den naturwissenschaftlichen Konzeptionen von Lebewesen absetzt. Beide Momente sind aus der menschlichen Selbsterfahrung entlehnt: sie stammen zum einen von der Ich-Perspektive her, die jeder von uns auf die Welt hat, der sich als Subjekt von Erfahrungen und eigenen Handlungen als gegen die von ihm erfahrene und handelnd beeinflußte Welt gestellt erlebt. Die Annahme des Strebens nach Selbsterhaltung läßt sich vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Wertschätzung verstehen, mit der wir, lebende, endliche und sich der Endlichkeit ihrer Existenz in Raum und Zeit bewußte Wesen, Leben und Tod ansehen.
8
Phys. II, 1, 192b 14.
1.1 Lebewesen - Organismus — lebendes System
7
Was die generelle Übertragbarkeit dieser Zuschreibungen angeht, ist jedoch eine gesunde Skepsis angebracht. Es muß gefragt werden, was Lebewesen denn generell an sich haben sollen, weshalb man geneigt sein sollte, ihnen generell einen - wie immer minimalen - Subjekt-Status einzuräumen. Läuft dies nicht vielmehr auf einen fragwürdigen Animismus oder Panpsychismus hinaus? Es scheint doch eher zu gelten: Dasjenige Verständnis von Leben, das es einem erlaubt, die allgemeine Kategorie der Lebewesen zu bilden, kann um der Größe der Extension willen nicht so reichhaltig ausfallen wie dasjenige, was sich aus der Reflexion auf die menschliche Selbsterfahrung gewinnen läßt, sondern muß abstrakter ausfallen. Auch soll die Erinnerung daran, daß wir nicht erst wissen, was leben heißt, seit es Biologie gibt, mit anderen Worten daran, daß es eine vorgängige begriffliche Konstitution des Gegenstandes der Biologie gibt, nicht so gelesen werden, als sollte damit die Biologie darauf verpflichtet werden, an diesem ursprünglichen Verständnis von Lebewesen einfach festzuhalten. Die Konzeptionen der Biologie sind in einer bestimmten Hinsicht Prämierungen unseres Begriffs von Lebewesen: Sie stellen gegenüber dem ursprünglichen Verständnis viel genauere Modelle des Körpers von Lebewesen bereit. Als Naturwissenschaft ist die Biologie nicht nur an der Beschreibung, sondern vor allem an der Erklärung der vielfältigen Lebensphänomene interessiert; und für deren Mikro-Erklärung braucht sie Modelle der Feinstruktur der Körper von Lebewesen. Man kann das Verhältnis zwischen dem vorwissenschaftlichen Begriff des Lebewesens und den biologischen Theorien daher auch so skizzieren: Vor aller Theorie sehen wir, daß Lebewesen durch charakteristische Fähigkeiten gekennzeichnet sind, wie die Fähigkeit, sich selbst zu erhalten und zu wachsen oder sich fortzupflanzen. Solche Fähigkeiten geben die zu erklärenden Phänomene ab. Bezüglich solcher Vermögen sind immer zwei Fragen zu beachten: (1) Läßt sich weiter analysieren, worin eine solche Fähigkeit besteht? So schließt etwa die Selbsterhaltungsfähigkeit die Fähigkeit ein, sich selbst zu ernähren, und generell sich die zum Überleben notwendigen Bedingungen zu schaffen oder aufzusuchen,
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I Einleitung
sich nach Verletzungen zu regenerieren, sich gegenüber Freßfeinden, Konkurrenten usw. behaupten zu können, sich gegen Krankheitserreger zu schützen etc. All dies bewegt sich noch auf der Ebene der Beschreibung dessen, was mögliche Explananda biologischer Theorien sind. (2) Vermöge wessen besitzt ein Lebewesen diese Eigenschaften oder Fähigkeiten? Die Biologie fragt, warum Lebewesen diese Fähigkeiten haben und versteht diese Frage als die nach ihrer körperlichen Basis. Die Aufdeckung, welche Kausalzusammenhänge den Vermögen zugrunde liegen, die Lebewesen kennzeichnen, ist eines der wichtigsten Forschungsziele der Biologie. So war es von Anfang ein Problem der Biologie, die Organisation der Körper von Lebewesen zu verstehen. Mit „Organisation" ist hier zunächst einmal die Struktur der Körper von Lebewesen gemeint, die etwas Abstraktes ist, während „Organismus" den materiellen Gegenstand bezeichnet, der diese Struktur (näherungsweise) instantiiert. Während der Begriff des Lebewesens vor allem der eines einfachen einzelnen Wesens ist, dem bestimmte Vermögen und Tätigkeiten zugesprochen werden, steht der Organismusbegriff primär für eine Art von in spezifischer Weise strukturierten oder gegliederten Körpern. Nun ist das Projekt einer Naturwissenschaft auch das Projekt einer kontinuierlichen Sprachreform, in dem eine fordaufende Vertiefung des kausalen Wissens mit fortlaufenden Korrekturen in den explanatorischen Theorien verbunden ist und umgekehrt. Mit diesem Prozeß der internen Kritik verändern sich die verwendeten theoretischen Konzepte. Vor diesem Hintergrund ist die Tatsache zu sehen, daß seit den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts der Organismusbegriff dabei ist, vor allem in den „suborganismischen" Disziplinen der Biologie von dem des gebenden Systems' abgelöst zu werden. Mit beiden Begriffen verbindet sich jeweils ein spezifisches Modell vom Körper der Lebewesen. Grob gesagt, besteht dabei der systematische Kern des Organismusbegriffs in dem eines organisierten Körpers, während man im Rahmen des systemtheoretischen Paradigmas des frühen 20. Jahrhunderts Lebewesen als sich selbst organisierende Körper zu begreifen versucht. Mit anderen Worten, während unter dem Organismusbegriff die Organisation des Körpers noch eher als
1.1 Lebewesen - Organismus - lebendes System
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gegebene und statische untersucht wurde, wird sie unter dem Systembegriff als stetig „werdende" erfaßt; das heißt, es rücken vor allem die ihrer Entstehung und Erhaltung zugrundeliegenden Prozesse in den Vordergrund des Interesses. Unter dem Begriff des „lebenden Systems" wird so der prozessualen Verfaßtheit der Körper von Lebewesen stärker Rechnung getragen. War zu Anfang die Morphologie die dominierende Subdisziplin der Biologie, so kommt diese Rolle heute eher den physiologischen Disziplinen zu. Die Verwendungsweise des Organismusbegriffs ist zwiespältig: Zum einen sind wir daran gewöhnt, in vielen Zusammenhängen dieses Wort synonym für ,Lebewesen' zu verwenden: Die Kopula der Aussage „Lebewesen sind Organismen" scheint demnach als das „ist" der Identität begriffen werden zu müssen. Es läßt sich aber beispielsweise auch sinnvoll vom Organismus einer Maus, eines Pferdes oder irgendeines anderen Lebewesens sprechen. Hier reden wir in der gleichen Weise vom Organismus eines Lebewesens wie wir vom Körper eines Lebewesens sprechen. In dieser Zwiespältigkeit drückt sich meines Erachtens unser schwankendes Urteil in der Frage aus, ob (nicht-menschliche) Lebewesen nun körperliche Wesen oder nichts als organisierte Körper sind. Wenn der Begriff des Organismus ein Begriff für den Körper von Lebewesen ist, so gilt dies auch von dem ihn ablösenden Begriff des lebenden Systems. Dieser ist allerdings auf das Verständnis von Lebewesen als lebenden Körpern verpflichtet: Es ergibt jedenfalls keinen Sinn, vom „lebenden System" eines Lebewesens zu reden, denn hier kommt das Attribut „lebend" einmal zuviel vor. Entweder sieht man daher Lebewesen als identisch mit lebenden Systemen an, oder man muß anerkennen, daß das Attribut „lebend" als Charakterisierung der fraglichen Systeme unpassend ist. Der Körper eines Lebewesens mag ein System bilden und kein Aggregat sein, aber wenn wir davon ausgehen, daß Lebewesen nicht bloß lebende Körper sind, so ist es das einfache, einzelne Wesen, das lebt und nicht sein Körper. Diese Sicht der Dinge hat auch den Vorzug, daß die Frage, wodurch die Grenzen jener Systeme bestimmt werden, auf einfache Weise beantwortet werden kann: Sie fallen mit den Grenzen der Körper von Lebewesen zusammen.
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I Einleitung
Daß mit den Begriffen „Organismus" und „lebendes System" entweder die Körper von Lebewesen bezeichnet werden, oder aber Lebewesen durch sie als organisierte lebende Körper begriffen werden, scheint mir der Grund dafür zu sein, daß die Einsetzung dieser Begriffe in normalsprachliche Aussagen, mit denen wir einzelnen Lebewesen wie Hunden, Katzen oder Vögeln bestimmte Fähigkeiten und Tätigkeiten attribuieren, einen solch merkwürdigen Klang erzeugt. Eine aktiomorphe Beschreibung des Verhaltens von Lebewesen ist mit ihrer Konzeptualisierung als organisierte Körper oder Systeme nicht vereinbar.
2. Lebewesen versus Dinge Den Ausgangspunkt für die Kategorisierung der Lebewesen als lebende Körper bildet die cartesianische Ontologie: die Scheidung der Welt in Geist und Materie, bzw. in denkende Wesen und materielle Körper. Diese Kategorisierung setzt sich fort bis in die „Tier-Mensch"Vergleiche der philosophischen Anthropologie — in dieser Entgegensetzung ist impliziert, daß der Mensch kein Tier ist. In der Tat ist dies eine durchaus gängige philosophische Überzeugung, die beispielsweise Janich so zum Ausdruck bringt: ,,[I]n einem subsumtiven Sinne, indem man etwa in der Biologie die Aussage ,Delphine sind Säugetiere' anerkennt, also ,Säugetier' ein Oberbegriff zu ,Delphin' ist, sind die Aussagen ,Tiere sind Maschinen' oder ,Menschen sind Tiere' schlichtweg falsch." 1 Gewiß, wenn Tiere oder Lebewesen generell nur belebte materielle Körper sind, dann können wir uns nicht als solche verstehen und menschliche Personen nicht unter die Lebewesen subsumieren. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn die als belebte materielle Körper aufgefaßten Lebewesen zugleich als Maschinen analoge Körper angesehen werden. Wer Tiere als Maschinen begreift, kann Menschen nicht als Tiere begreifen. Indessen kritisiert Janich ja im selben Atemzug auch die Subsumtion von Tieren unter die
1
Janich 1996, 297.
1.2 Lebewesen versus Dinge
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Maschinen, mit anderen Worten das technomorphe Verständnis des Lebendigen. Wer aber schon Tiere oder allgemeiner Lebewesen nicht bloß als Maschinen oder organisierte Körper ansieht, dem steht auch die Möglichkeit offen, Menschen als eine mit besonderen Fähigkeiten ausgestatteten Art von Lebewesen oder Tieren zu begreifen: Gerade wenn die erste Subsumtion falsch ist, ist die zweite viel weniger problematisch. Wir müssen demnach von der cartesianischen Ontologie wegkommen, wenn wir uns selbst ohne Biologismus als lebende Wesen verstehen wollen. Ein weiterer Grund dafür, sich von ihr loszusagen, liegt in dem eingangs Gesagten: Der Begriff des Lebewesens ist einer der Grundbegriffe unserer deskriptiven Metaphysik, der eine Kategorie von Seienden bezeichnet. Es griffe zu kurz, an der cartesianischen Ontologie zu kritisieren, daß sie es präjudiziert, daß Lebewesen unter die materiellen Körper zu subsumieren sind. Problematisch ist sie vielmehr, weil sie — wegen ihrer Folge, daß menschliche Personen nicht unter die Lebewesen subsumierbar sind — die Kategorie der Lebewesen als Kategorie ortlos macht: Es findet sich für diese kein rechter Platz mehr im Begriffssystem, wenn man die Unterscheidung von denkenden Wesen und materiellen Körpern als die fundamentale ontologische Unterscheidung annimmt. Dies ist mit der Tatsache nicht verträglich, daß wir in der Regel meinen, mit dem Begriff des Lebewesens eine bestimmte Kategorie von Seienden zu bezeichnen. Wenn man die Annahme zurückweisen will, daß die Unterscheidung von denkenden Wesen und materiellen Körpern die fundamentale Dichotomie im Reiche der konkreten Gegenstände ist, so muß man in der Ontologie von vornherein einen anderen Ausgangspunkt wählen. Ich schlage darum in Anlehnung an die aristotelische Substanzontologie den Begriff der Kontinuanten oder anders gesagt, der in der Zeit andauernden oder persistierenden physischen Gegenstände, als Grundbegriff vor. Der Diskussion dieses Begriffs ist das zweite Kapitel dieses Buchs gewidmet (II). Die Dichotomie von Kontinuanten und Vorkommnissen (s. II.2 u. II.3) stellt die Verallgemeinerung der Unterscheidung von Dingen und Ereignissen dar. Ich verwende den allgemeineren und abstrakteren Begriff des Kontinuanten, da wir den Dingbegriff
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I Einleitung
auch terminologisch verwenden; etwa wenn wir in praktischen Kontexten abschätzig urteilen, daß etwas doch „bloß ein Ding" ist. Den Dingbegriff verwende ich hier ausschließlich als Oberbegriff für alle leblosen Einzeldinge. Der Begriff des persistierenden physischen Gegenstandes hingegen ist abstrakt genug, um unter ihn die lebenden Wesen sowie die leblosen Dinge und Aggregate zu subsumieren. Bevor diese Klassifikation ausgearbeitet und erläutert werden kann, muß jedoch noch ein schwerwiegender Einwand ausgeräumt werden, der gegen die Möglichkeit des Begriffs eines veränderlichen, persistierenden Gegenstandes erhoben wird (II.4). Dieser bezieht sich auf das Problem der Veränderung, auch die Persistenz-Paradoxie genannt, und lautet, daß die Annahme veränderlicher, über Veränderungen hinweg persistierender Gegenstände logisch inkonsistent ist, da sie im Widerspruch zum Leibnizschen Gesetz der Ununterscheidbarkeit des Identischen stehe. Die folgenden Kapitel sind der Ausarbeitung der ontologischen Differenzen zwischen den drei genannten Subkategorien von Kontinuanten gewidmet: Um die ontologische Besonderheit von Lebewesen aufzuzeigen und eine Antwort auf die Frage nach dem Wesen von Lebewesen zu geben, bediene ich mich des Mittels der Kontrastklassen. Aus diesem Grund werden auch die Einheits- und Persistenzprinzipien von Materieaggregaten und Dingen behandelt. Im Kontrast zu der Kategorie der Dinge und der materiellen Aggregate wird deutlich werden, welches die charakteristischen Merkmale von Lebewesen sind, die sie als eine Kategorie von Seienden auszeichnen. Am Ausgangspunkt des dritten Kapitels (III.l) steht die Kritik an der cartesianischen Ontologie, an die sich eine Analyse des Begriffs des materiellen Körpers anschließt, die aufweisen soll, welches sein Ort in dem von mir vorgestellten Begriffssystem ist. Ich meine, daß darunter nur entweder ein Materiequantum oder ein lebloses Ding verstanden werden kann, aber nicht ein Lebewesen. Im Anschluß daran wird zunächst darauf eingegangen, was Dingen und Lebewesen als Kontinuanten gemeinsam ist (III.2). Die Dichotomie von lebenden Wesen und leblosen Dingen macht sich vor allem daran fest, daß für Lebewesen zu persistieren in etwas anderem besteht als für Dinge. Um dies zu erläutern, muß
1.2 Lebewesen versus Dinge
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zuerst geklärt werden, was es vor dem Hintergrund der Kritik der analytischen Philosophie an der Rede von Seinsweisen noch heissen kann, Leben als eine Weise zu sein zu bezeichnen (III.3). Nach diesem einleitenden Kapitel wende ich mich den ersten beiden Arten von Kontinuanten zu (Kapitel IV). Es ist sowohl das jeweilige Verhältnis von Teil und Ganzem, als auch die jeweilige Persistenzweise, oder besser gesagt, die jeweiligen Persistenzbedingungen, durch die sich zum einen Lebewesen und Dinge von Materieaggregaten und schließlich Lebewesen von Dingen unterscheiden. Bei Materiequanta ist vor allem fragwürdig, ob sie überhaupt als individuelle Einzeldinge (Individuen) angesehen werden können und nicht nur gedanklich zusammengefaßte Gesamtheiten von Einzeldingen darstellen (IV. 1). Als nächstes frage ich, welche Prinzipien der Einheit von Dingen unterliegen (IV.2.1), sowie hiervon ausgehend, welches die Persistenzbedingungen von Dingen sind (IV.2.2). Schließlich werden die gleichen Fragen für Lebewesen beantwortet und mit den bezüglich der Dinge gegebenen Antworten kontrastiert (Kapitel V). Dabei beginne ich mit einer Analyse der Bedeutung des Lebensbegriffs (V.l), sowie einiger Konsequenzen daraus (V.2 u. V.3), bevor ich der Frage nach der Einheit und Natur (V.4) und schließlich der Persistenz von Lebewesen nachgehe (V.5). Ich beende dieses Buch schließlich mit der Erörterung der ontologischen Bedeutsamkeit des Kennzeichens von Lebewesen, durch einen permanenten Stoff-Wechsel hindurch zu persistieren (VI.l), sowie abschließenden Bemerkungen zur Frage, ob Lebewesen lebende Körper sind, oder lebende Wesen, die einen Körper haben (VI.2). Die zentrale Frage, an der sich entscheidet, wie man dies beurteilt, scheint die nach dem Akteursstatus von Lebewesen zu sein. Darum wird im Schlußabschnitt dieser Arbeit der Frage nachgegangen, in welchem Sinne die Vermögen von Lebewesen „aktive" genannt werden können.
II Die Kategorie der Kontinuanten Diese Studie versucht, die Frage, was Lebewesen sind, im Rahmen einer neoaristotelischen Ontologie zu beantworten. Dies bietet sich vor allem deshalb an, weil sich herausstellen wird, daß zwei Fragen, die die Philosophie des Lebendigen stets beschäftigt haben, Fragen von genereller Natur sind, die in bezug auf Lebewesen eine besondere Antwort finden: nämlich (1.) das Problem, was es angesichts der materiellen Kontinuität der Welt bedeutet, daß etwas ein von seiner Umwelt abgegrenztes Individuum ist, und (2.) das Problem, wie das Verhältnis eines Individuums als Ganzem zu seinen Teilen zu charakterisieren ist (welches die Frage einschließt, wodurch man überhaupt zu Teilen gelangt). Die neoaristotelische Ontologie unterscheidet sich von Aristoteles' eigenen Positionen indessen dadurch, daß seine Einsichten hinsichtlich dieser Probleme von seiner starken teleologischen Orientierung separiert werden. Es ist zwar ein auffallendes Charakteristikum unseres Sprechens über Lebewesen, daß sie die einzigen „von Natur aus vorkommenden Gegenstände" (physei ontä1) sind, bei denen regelmäßig die Frage nach dem Zweck oder der Funktion von etwas - einem Verhalten, einem Prozeß oder einem Körperteil - gestellt oder der Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit in Anschlag gebracht wird. Bei allen anderen Naturgegenständen halten wir die Verwendung dieses Idioms dagegen nicht für angemessen, geschweige denn für notwendig. Beides wird jedoch mit Bezug auf Lebewesen behauptet. Dies ist gewiß kein Zufall. Angesichts der bekannten Probleme jedoch, die die Verwendung jener teleologisch imprägnierten Begriffe zur Beschreibung von Naturdingen und -Vorgängen in sich birgt, soll hier versucht werden, bei der Charakteri-
1
Aristoteles,
Phjs., II,
192b 13.
II. 1 Vorbemerkungen %ur Klassifikation
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sierung dessen, was lebende Wesen von allen anderen Naturgegenständen unterscheidet, so weit als möglich auf solche Begriffe zu verzichten. Die Frage, welchen Stellenwert diese Begriffe für die Charakterisierung von Lebewesen genau besitzen, muß einer eigenen Untersuchung überlassen bleiben. 2
1. Vorbemerkungen zur Klassifikation 1.1 Klassifikation durch kategoriale Prädikate (a) Die Frage nach dem ontologischen Status von Lebewesen erfragt, mit welcher Art von Entitäten wir es bei Lebewesen zu tun haben. Ein Weg, diese Frage zu beantworten, besteht darin, eine bestimmte kategoriale Hierarchie vorzuschlagen und anzugeben, welche Stelle in diesem System die Kategorie der Lebewesen einnimmt. Nach dem aristotelischen Prinzip der Klassifikation entsteht eine Hierarchie von Klassen durch Teilung eines Gegenstandsbereichs, der obersten Gattung, in Teilklassen. Solche Teilklassen können ihrerseits als Genus für weitere Unterteilungen dienen. In dieser Klassifikationsweise nach genusproximum und differentia speäfica sind den Entitäten der jeweiligen Spezies sowohl die Eigenschaften der Gattung als auch die differenzierenden Merkmale wesentlich. Die Bestimmung der Entitäten wird demzufolge nach unten hin in der Hierarchie immer reichhaltiger, nach oben zu immer ärmer. Dabei ist es wichtig, daß die Bestimmungen, die als differentiae specificae verwendet werden, nicht in Konflikt zu der Bestimmung geraten, die der Gattungsbegriff gibt. Eine dichotomische Teilung entsteht dadurch, daß nur ein einziges Prädikat als Gesichtspunkt verwendet wird, dessen Zutreffen oder Nicht-Zutreffen die beiden Unterklassen von Gegenständen begründet. Diese Art der Teilung bietet von sich aus die Gewähr, daß die so gebildeten Teilklassen disjunkt sind und gemeinsam die Gattung erschöpfen. Anders verhält es sich bei
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Vgl. hierzu Schark 200x.
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II Die Kategorie der Kontinuanten
nicht-dichotomischen Teilungen, die entstehen, wenn ein Gegenstandsbereich mittels mehrerer Prädikate in verschiedene Unterklassen unterteilt wird. Sobald man von der dichotomischen Teilung abläßt, ist der Vollständigkeitsanspruch, also der Anspruch darauf, daß die benannten Klassen die Gattung erschöpfen würden, nur noch sehr schwer einzulösen. Ich will mit nachfolgender Systematisierung diesen Anspruch auch gar nicht erheben. Da ich mit ihr nur verdeutlichen möchte, welchen Grad an Fundamentaütät die Kategorie der Lebewesen besitzt, kann ich die Frage nach der Vollständigkeit hier auf sich beruhen lassen. Mein Projekt verstehe ich als das einer regionalen Ontologie (metaphysica speäalis). Die Disjunktivitäts-Anforderung hingegen gilt es aufrechtzuerhalten. Zwischen den verschiedenen durch die Anwendung verschiedener Prädikate gebildeten Unterklassen von Entitäten einer Gattung darf es keine Überlappungen in der Mitgliedschaft geben. Aufgrund dieser Forderung nach Exklusivität der Klassenzugehörigkeit kann nicht jedes beliebige Prädikat eine Kategorie von Entitäten festlegen. Viele Prädikate werden bloß einen Sortierungsgesichtspunkt darstellen. Für die ontologische Aufgabe einer Klassifikation des Seienden braucht es kategoriale Prädikate, für die gilt, daß das Zutreffen des einen auf eine Entität das Zutreffen eines anderen auf dieselbe Entität ausschließt. Allerdings gilt diese Exklusivitätsanforderung nur für die durch verschiedene differentiae specificae erzeugten Klassen einer jeweiligen Hierarchiestufe, sozusagen nur in horizontaler, aber nicht in vertikaler Richtung. Denn in einem System von Kategorien bilden diese extensional betrachtet eine inklusive Hierarchie, mit anderen Worten, die hochstufigen Kategorien enthalten die untergeordneten Kategorien als Teilmengen. Diese Forderung nach Exklusivität oder Disjunktivität der Klassen nennt eine notwendige Bedingung dafür, daß ein Prädikat als ein kategoriales gelten kann: Sie begrenzt die Anzahl der Prädikate, die Kategorien festlegen können insofern, als aus ihr folgt, daß von allen Prädikaten, die es gibt, nur solche, die irgendeine Art oder Sorte von Entitäten festlegen, zu den kategorialen Prädi-
II. 1 Vorbemerkungen %ur Klassifikation
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katen gehören können. Damit fallen alle Arten von Prädikaten aus, die für Qualitäten stehen. 3 (b) Genauer muß diese Forderung als Forderung nach einem %ot\A-analogen Gebrauch der allgemeinen Gattungsbegriffe verstanden werden. 4 Denn es ist andererseits eine Besonderheit dieser Begriffe, wegen ihrer Allgemeinheit nicht „autonom individuierend" 5 zu sein. Es besteht ein trade o f f zwischen zunehmender Allgemeinheit und abnehmender Individuativität im Sinne der Bestimmung einer abzählbaren Einheit eines Begriffs: „Betrachtet man [...] immer weiter gefaßte Gattungsbegriffe, so nimmt damit die für eine Zählung erforderliche Bestimmtheit immer mehr ab. Diejenigen Begriffe schließlich, die alles umfassen, sind völlig inhaltsleer und können als solche keinerlei Individuation mehr vornehmen." 6 Den allgemeinsten und darum inhaltsleeren und rein formalen Begriff stellt der durch die Substantivierung des Verbs ,sein' gewonnene Ausdruck ,Seiendes' dar. Von dem Terminus ,Seiendes' oder ,Entität' 7 kann nicht gesagt werden, daß er ein Sortal oder auch nur einen kategorialen Begriff darstellte, da mit ihm in keiner Weise sortiert wird. Er ist das Pendant zu der uneingeschränkten Verwendung von ,sein' oder ,existieren' in Existenzaussagen. Erst durch die kategorialen Begriffe wird eine erste Bestimmung von (verschiedenen) Sorten von Entitäten geleistet. Doch auch bei diesen zeigt sich in der Regel noch das Paradox mangelnder Individuativität. Ein gutes Beispiel dafür ist Quines Begriff des physischen Gegenstandes: Quine behauptet zwar, daß „physical objects are well individuated, being identical if 3
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Der Begriff der Eigenschaft hat eine doppelte Verwendung: Einerseits lautet eine Standard-Auffassung, daß jedes Prädikat für eine Eigenschaft steht. Dann meint obige Unterscheidung, daß innerhalb der Klasse der Eigenschaften zwei verschiedene Arten von Eigenschaften unterschieden werden müssen: Eigenschaften im engeren Sinne, die ich Qualitäten nenne, und Eigenschaften, über die bestimmte Arten von Entitäten bestimmt werden. Strawson unterscheidet entsprechend zwischen „characterizing universals" und „sortal universals" (1959) 1980, 215). Diese Unterscheidungen entsprechen der aristotelischen zwischen Substanz- und Akzidens-Prädikaten (s. Kategorien, 3b 18-21). Vgl. dazu Rapp 1995, 233 f. Vgl. Wiggins 1980, 63 f. Rapp 1995, 219. Vgl. auch Kant, KrV, Β 682/A654. Ich verwende auch das Wort .Gegenstand' synonym mit ,Entität'.
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II Die Kategorie der Kontinuanten
and only if spatiotemporally coextensive." 8 Davidson weist jedoch auf eine Schwierigkeit dieser Behauptung hin: „One might have thought that where counting has a clear application, individuation has to be at its best, since we must be able to tell one from two. Yet Quine's clear principle for individuating objects yields no way of counting, while the different and undoubtedly less clear principle that individuates tables, does fairly well when it comes to counting." 9 Obwohl auch mit Quines Begriff des physischen Gegenstandes im weitesten Sinne eine Art von Entitäten benannt wird, kann dieser Begriff nicht als Zählmaß fungieren. Verantwortlich dafür ist gerade seine große Allgemeinheit: Gerade weil so viele verschiedenartige Entitäten zu den physischen Gegenständen gehören (d.h. unter diesem Begriff zusammengefaßt werden), ist die Anzahl physischer Gegenstände in irgendeinem Teil der Raumzeit nicht eindeutig bestimmbar. Eine Zählung ist nur möglich, wenn spezifiziert wird, physische Gegenstände welcher Art gezählt werden sollen. Diese einzelnen Arten von physischen Gegenständen werden durch die (inhaltlich reich bestimmten) sortalen Artbegriffe wie ,Tisch' oder ,Katze' spezifiziert. Insofern diese Begriffe von abzählbaren Individuen sind, werden sie auch „Individuativa" genannt. Das Problem, daß allzu allgemeine Begriffe nicht autonom individuieren, ist ein Grund, in der Ontologie bei der Einteilung der Welt den genuin sortalen Artbegriffen zu beginnen. Bezüglich der Individuation von Einzeldingen verhielten sich solche individuativen Begriffe und Quines Prinzip der Individuation physischer Gegenstände dann komplementär: Nur Sortalbegriffe sind Begriffe abzählbarer Individuen. Darin, solche abzählbaren Einheiten abzugrenzen, liegt die ontologische Bedeutsamkeit der sortalen Artbegriffe, wie sie von Strawson gegenüber Quine eingeklagt wird; 10 und damit hat es seine Berechtigung, in der Ontologie trotz des Strebens „nach einer Darstellung der allgemeinsten Züge der Wirklichkeit" 11 mit dem am wenigsten Allgemeinen und
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Quine 1985, 167. Davidson 1985, 176. Siehe Strawson 1990, 310-320. Quine (1960) 1980,281.
II. 1 Vorbemerkungen ^ur Klassifikation
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nicht mit dem Allgemeinsten anzufangen. Demgegenüber beschreibt Quines Prinzip der Identität und Verschiedenheit für physische Gegenstände, was alle solche Individuen als je einzelne konkrete Exemplare ihrer Arten voneinander abgrenzt: es ist ihre je verschiedene Position in Raum und Zeit. 12 Den von den sortalen Artbegriffen bezeichneten Exemplaren der infimae species - also den Lebewesen und den Artefakten aus dem alltäglichen Leben, all den „mittelgroßen, trockenen Gütern", die Aristoteles die primären Substanzen (prote ousiai) nannte — gebührt auch insofern Priorität gegenüber den allgemeinsten Kategorien, als alle weiteren Zusammenfassungen von Individuen dieser Arten von niedrigster Allgemeinheit (wie ,Tisch' oder ,Katze') in höhere Gattungen auf Abstraktionen beruhen: Gattungsbegriffe — gleich welcher Allgemeinheit — erhält man, indem man die konkreten Individuen all der verschiedenen Arten lediglich nach bestimmten ihrer Eigenschaften klassifiziert und von allen übrigen abstrahiert. So gelangt man beispielsweise zum Begriff des Säugetiers, indem man auf ein bestimmtes Merkmal von Tieren rekurriert und von allen anderen wie der Größe, dem Besitz eines Fells usw. abstrahiert. Aber wenn es wahr ist, daß weder die Idee einer individuellen Essenz (im Sinne einer haecceitas) noch die eines „bare particular" sinnvoll ist; und wenn es auch nicht möglich ist, durch Nennung aller seiner Eigenschaften genau ein Individuum zu spezifizieren; dann besteht das ontologisch Bedeutsame der sortalen Artbegriffe darin, daß wir nur mit ihnen sinnvolle Begriffe von solchen konkreten Individuen in der Hand haben. 13 12
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Code unterscheidet diesbezüglich zwischen einem „principle of indivua/ness" und einem „principle of (synchronic) identity and diversity" (Code 1978, 647). Das „principle of individualness" beantwortet die Frage, worin es besteht, ein Individuum zu sein. Die Antwort lautet: Ein konkretes, physisches Individuum (particular) zu sein heißt, eine bestimmte „Form" zu exemplifizieren bzw. ein bestimmtes Sortal zu instantiieren. In diesem Sinne faßt Aristoteles das atomos eidos als causaformalis eines konkreten Individuums auf. Demgegenüber ist Quines obenstehende „Identitätsbedingung" ein „principle of identity and diversity" (principium individuationis) für physische Gegenstände. Siehe hierzu die m.E. sehr treffende Einschätzung Montgomery Furths (1988, 59 f.): ,,[W]e post-Fregean analytical philosophers, born and raised in the analytical setting of twentieth-century quantification theory, are accustomed to thinking of the domain, or universe, of a language as already consisting of individuals,
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II Die Kategorie der Kontinuanten
(c) Traditionellerweise fungierte die Klasse alles Seienden als oberste Gattung des Klassifikationssystems. Aber die Rede von einer Kategorie, die alles Seiende umfaßt und in verschiedene Teilklassen zerfällt, die durch die Prädikate für unterschiedliche Arten zu sein gebildet werden, implizierte, daß ,sein' oder existieren' wie ein normales Prädikat behandelt wurde, das auf einen Gegenstand zutrifft. Die Widersprüche und Paradoxien, in die sich diese Auffassung verwickelt, und die zu ihrer Aufgabe geführt haben, sind wohl so bekannt, daß ich hier nicht darauf einzugehen brauche. 14 Heute lautet die Standard-Auffassung, daß das Verb ,sein' bzw. ,existieren' univok im Sinne des Existenzquantors der Prädikatenlogik zu verstehen ist. Danach bedeutet zu sein schlicht „to be the value of a variable". 15 Die Langfassung dieses Slogans von Quine lautet: „To be assumed as an entity is [...] to be
well-demarcated and so on - the domain is customarily a class, so that its elements are assumed as - so to speak 'given' as - 'well-distinguished' at the outset; and then we think of each predicate constant of the language as picking out a subset of that totality. The universe being already organized into individuals, it is also natural to conceive every predicate as picking out a class of objects in the same fashion." Für Aristoteles dagegen sei „the existence of material individuals [...] a the Metaphysics is [...] to delineate a kind of [predicate] that [...] marks something out as an individual in the first place. His approach to this problem is along these lines: we have no antecedently-given array of objects to be the subject of [predications]; instead, we have two types of [predicates]: first, the ones that constitute individuals as individuals (these are the specific substantial kinds [i.e. the „substance sortals" (Wiggins)]), and second, the ones that characterise individuals presupposed to be constituted as such (the ones that comprise what „happens to" or „afflicts" them - these are the ones of the non-substantial categories)."
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Eine Hauptthese der Neoaristoteliker wie Wiggins (1980) ist, daß nur dasjenige durch Attribute (Eigenschafts-Prädikate) charakterisiert werden kann, was schon durch ein sortales Prädikat als Angehöriger einer bestimmten Art ausgewiesen ist. Wenn beispielsweise die Prädikation „Ein Mensch ist geduldig" paraphrasiert wird als „Es gibt ein x, für das gilt: χ ist geduldig und χ ist ein Mensch", so soll das ,ist' laut der Standardauffassung in beiden Fällen dieselbe prädizierende Funktion erfüllen. Dagegen wird eingewendet, daß es sich nur bei dem ersten ,ist' um das ,ist' der Attribution, bei dem zweiten ,ist' jedoch um das ,ist' der Klassenzugehörigkeit handelt (vgl. Rapp 1995, 240 ff. über den Unterschied zwischen Klassifizierung und Attribuierung). Diese Probleme werden von Quine in seinem Aufsatz „On What There Is" (1953) vorgeführt. Quine 1953, 15.
II. 1 Vorbemerkungen %ur Klassifikation
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reckoned as the value of a variable". 16 Die Worte ,Entität' oder ,Seiendes' fungieren lediglich als sogenannte „dummy sortals", als (grammatische) Stellvertretersortale. Sie können, analog zum sächlichen Pronomen ,etwas', für alle möglichen Arten von — durch echte sortale Prädikate bestimmten - Gegenständen stehen und beziehen ihren Sinn ausschließlich daher, daß im jeweiligen Aussagekontext entweder implizit verstehbar ist oder explizit gesagt wird, für welche Art sie jeweils stehen. Aufgrund dieser Überlegungen, nach denen die Klasse alles Seienden als solchem als oberste Kategorie wegfällt, rücken die traditionell durch bestimmte Seinsweisen unterschiedenen Kategorien von Gegenständen in den Rang der obersten Gattungen auf. Doch auch die Rede von verschiedenen Arten zu sein' ist irreführend, weil sie erneut nahelegt, ,existieren' als ein echtes Prädikat von Gegenständen zu behandeln, das verschiedenen Modifikationen unterliegen könnte. Richtig muß es heißen: Es gibt nicht verschiedene Arten zu sein, sondern es gibt verschiedene Kategorien von Gegenständen, für die zu sein oder zu existieren jeweils etwas anderes bedeutet - aber nicht, weil das Wort ,sein' oder ,existieren' verschiedene Konnotationen hätte — die allgemeine Existenzaussage lautet in jedem Fall schlicht „Es gibt ... ." - , sondern weil von jeweils verschiedenen Kategorien von Gegenständen die Rede ist. Beispielsweise bedeutet für einen physischen Gegenstand zu existieren: eine definite Position im raumzeitlichen Bezugssystem zu haben - aber nicht, weil das Wort „existieren" raumzeitliche Konnotationen hätte, sondern weil in diesem Fall von physischen Gegenständen die Rede ist. Die allgemeine Existenzaussage lautet auch hier schlicht: „Es gibt physische Gegenstände." Wenn die
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Ebd., 13. Diese These ist nur verständlich vor dem Hintergrund, daß nach Quine der Gegenstandsbereich der Individuenvariablen der Existenz-Quantifikation der Bereich alles dessen, was es gibt, kurz: die Welt ist. Dies entspricht der objektuellen Interpretation der Individuenvariablen der Quantifikation im Gegensatz zur substitutioneilen. Durch diese Interpretation bekommt der ursprünglich mathematisch-logische Ausdruck „Gegenstandsbereich", mitunter auch „Wertebereich" genannt, der angibt, über welche Gegenstände quantifiziert wird, ontologische Bedeutung. Quine betrachtet die Welt als den Referenzbereich der Individuenvariablen der Existenzquantifikation, in Analogie zum Referenzbereich eines Pronomens (s. ebd.).
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II Die Kategorie der Kontinuanten
Mitglieder der Kategorie der physischen Gegenstände als physische Gegenstände dadurch ausgezeichnet sind, daß sie eine definite Raum-Zeit-Position besitzen, dann ist die Aussage „Es gibt physische Gegenstände" nur dann wahr, wenn es etwas gibt, das eine definite Position in Raum und Zeit hat. 17 Nach diesen Überlegungen ist zu erwarten, daß die Eigenschaft, die eine Kategorie von Entitäten festlegt, dem entspricht, was traditionell eine der Arten zu sein genannt wurde. Allerdings muß, was als eine Seinsart aufgefaßt wurde, vielmehr als das Wesen einer Art von Seienden begriffen werden. Das Wesen einer Kategorie von Seienden ist diejenige Eigenschaft, welche die Mitglieder dieser Kategorie als Mitglieder dieser Kategorie auszeichnet.
1.2 Deskriptive versus revisionäre Metaphysik Jede Ontologie ist ein Vorschlag zu einer bestimmten Einteilung der Welt. Und schon bei der Begründung der jeweiligen Kategorisierung beginnen die ontologischen Auseinandersetzungen. Prinzipiell gibt es zwei Wege, für die Einführung einer bestimmten Kategorie von Entitäten zu argumentieren: Man beruft sich entweder auf eine in unserem normalen Sprechen über die Welt enthaltene „implizite Metaphysik", und bemüht sich, die Hauptkategorien freizulegen, in denen wir über die Welt denken. Dies ist in der zeitgenössischen ontologischen Debatte das Projekt von Strawson, Davidson u.v.a., dem Strawson den Namen „deskriptive Metaphysik" gegeben hat, und zu dessen Vorgängern er Aristote17
Es gibt allerdings einen Sinn des singulären Existenzurteils „x existiert" bzw. „x ist", der nicht im Existenzquantor aufgeht; der von Russells Erklärung, in einem solchen Existenzurteil werde einem Gegenstand aus einem geeigneten Gegenstandsbereich eine Beschreibung zugesprochen, nicht abgedeckt wird. In manchen Zusammenhängen hat die Aussage „x existiert" die Bedeutung von „x existiert gegenwärtig". (D.h.: χ hat vor dem Zeitpunkt der Aussage begonnen zu existieren und ist zum Zeitpunkt der Aussage (noch) nicht vergangen.) Hier wird „existieren" nicht als zeitloses, sondern als mit einen zeitlichen Index versehenes Verb gebraucht. Wann immer davon die Rede ist, daß etwas anfange zu existieren oder nicht mehr existiere oder aufgehört habe zu existieren, ist dieser temporale Sinn von ,existieren' bzw. ,sein' im Spiel. Ich komme darauf im Abschnitt III.3 zurück.
II. 1 Vorbemerkungen
%ur Klassifikation
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les und auch Kant zählt. Quine - als einer der Vertreter der anderen Partei - kritisiert daran, daß dabei die Alltags spräche allzusehr als sakrosankt behandelt werde — so daß man darüber ihre Neigung, sich stets weiterzuentwickeln, nicht genügend berücksichtige. Er begrüßt dagegen die wissenschaftlichen Neologismen und die damit einhergehenden Revisionen unseres alltäglichen Verständnisses von der Welt, die „selbst nichts als selbstbewußt gewordene Sprachentwicklung" seien.18 In der Tat orientiert sich Quine in seiner Einführung von ontologischen Kategorien daran, welche metaphysischen Konsequenzen wir ziehen müssen, wenn wir überzeugt sind, daß die Aussagen bestimmter Wissenschaften, vor allem der Physik, wahr sind. Doch auch um der Einfachheit der kanonischen Notation willen scheut er vor Revisionen des alltäglichen Verständnisses von Begriffen nicht zurück. Die Achillesferse solch „revisionärer Metaphysik" ist gewöhnlich ihre Verstehbarkeit, d.h. Übersetzbarkeit in normale Sprache. Noch problematischer ist der Anspruch revisionärer Metaphysiker, die in unserer normalen Sprache implizit enthaltene Metaphysik als illusorisch oder falsch zu entlarven und abzulösen. Der Konflikt zwischen revisionärer und common-sense-Metaphysik wird von manchen dadurch zu entschärfen versucht, daß sie für eine metaphysische Neutralität der alltäglichen Überzeugungen plädieren. Aber ich sehe keinen Grund, warum ausgerechnet unsere normale Rede nicht mit ontologischen Verpflichtungen einhergehen sollte. Die Lebenswelt und die in unserer normalen Sprache enthaltene implizite Metaphysik bilden vielmehr die Grundlage, von der aus auch die Naturwissenschaften ihr Vokabular eingeführt haben, und an die dieses trotz darin enthaltener begrifflicher Revisionen anknüpfbar bleiben muß. Im übrigen scheint es, als hätten nur die theoretischen Weiterentwicklungen der Physik im zwanzigsten Jahrhundert den Anstoß zu ontologischer Revision geboten; Chemie und Biologie scheinen mit der common-sense-Metaphysik völlig auszukommen. Diese These läßt sich in Bezug auf den Gegenstand der Biologie noch stärker machen: Der Begriff des Lebewesens definiert eine der grund-
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Quine (1960) 1980, 21.
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II Die Kategorie der Kontinuanten
legenden ontologischen Kategorien unseres Begriffssystems. Die Relation dieser Kategorie zu anderen ontologischen Kategorien zu klären, ist eine Aufgabe von deskriptiver Metaphysik. Dabei möchte ich gleich ein Mißverständnis ausräumen, das einem manchmal in bezug auf den Begriff „deskriptive Metaphysik" begegnet: Es geht dabei nicht um eine bloße, kritiklose Abschilderung von Uberzeugungen des common sense, sondern nach gutem aristotelischen Vorbild darum, von dem für unsere Erkenntnis Früheren zu dem „an sich", d.h. sachlich Früheren, den allgemeinen Prinzipien zu gelangen. Deskriptiv ist diese Metaphysik nur insofern, als sie das zunächst nicht deutliche System der Prinzipien und Kategorien, das unserem Denken zugrunde liegt, herauszuarbeiten versucht und nicht anstrebt, es (zu welchen Zwecken auch immer) zu verbessern. 19 Damit soll nun nicht naturwissenschaftlichen Weiterentwicklungen der Sprache, die dem Zweck der Erklärung der lebensweltlich vertrauten phänomenalen Gesetzmäßigkeiten geschuldet sind, ein Riegel vorgeschoben werden. Es soll vielmehr nur festgehalten werden, daß es für die Neubestimmung einer Sache, von der es schon einen vorwissenschaftlichen Begriff gibt - wie dies für die Begriffe, die den Gegenstand der Biologie bezeichnen, und andere Grundbegriffe wissenschaftlicher Disziplinen gilt —, Adäquatheitsanforderungen gibt. Diese legen einer naturwissenschaftlichen Neubestimmung Beschränkungen auf, denn in diesem Fall steht einer Naturwissenschaft die Gegenstandsdefinition bei Strafe des Themenwechsels nicht frei. Bei der Einführung von Spezialbegriffen für theoretische Entitäten, zu denen es keine lebensweltliche Entsprechung gibt, besteht diese Schwierigkeit hingegen nicht. Wenn wir es indes mit einer Koexistenz von Begriffen und nicht mit der Ablösung eines Begriffes durch einen anderen zu tun haben, muß geklärt werden, in welchem Verhältnis vorwissenschaftlicher und wissenschaftlicher Begriff zueinander stehen. Diesbezüglich gilt, daß der vorwissenschaftliche Begriff des Lebewesens gegenüber den naturwissenschaftlichen Begriffen des Organismus und des lebenden Systems insofern grundlegend ist,
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Vgl. Löffler 1999, 397.
II. / Vorbemerkungen
Klassifikation
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als hier eine einseitige Identifizierungsabhängigkeit besteht: Man kann etwas nicht wissenschaftlich als Organismus oder lebendes System beschreiben, wenn man es nicht zuvor als ein Lebewesen identifiziert hat, während die Identifikation von etwas als ein Lebewesen nicht von seiner Beschreibung als Organismus oder lebendes Systems abhängt. In diesem Sinne gibt es einen Primat der lebensweltlichen Kategorisierung gegenüber der wissenschaftlichen Verfeinerung des Vokabulars. Im folgenden soll nun dieser grundlegende Begriff des Lebewesens geklärt werden, indem im Lichte der Probleme, die in der neueren analytischen Ontologie verhandelt werden, sein Ort im Begriffssystem angegeben wird. Diesem Zweck dient die folgende ontologische Klassifikation, die ich zunächst vorstellen möchte, um dann ausführlicher für sie zu argumentieren.
2. Die Klassifikation Die erste ontologische Unterscheidung ist die zwischen abstrakten und physischen Gegenständen. Unter einem physischen Gegenstand verstehe ich ganz allgemein ,etwas, das in Raum und Zeit existiert'. Abstrakte Gegenstände unterscheiden sich dagegen von den konkreten u.a. darin, daß für sie raumzeitliche Lokalisation als Individuationsprinzip ausscheidet. Zwar ist auch diese erste Unterteilung nicht unumstritten, da nicht alle Philosophen von der Existenz abstrakter Gegenstände überzeugt sind. Doch alle Fragen hinsichtlich Existenz und Individuation abstrakter Gegenstände lasse ich im folgenden auf sich beruhen, da Lebewesen klarerweise zu den physischen Gegenständen gehören. Da das Wort „existieren" in der Ontologie bereits im Sinne des Existenzquantors verstanden wird und dafür vergeben ist, ist eine Abgrenzung zwischen diesem Sinn von „existieren" und dem hier gemeinten Begriff des Existierens in Raum und Zeit vonnöten. Auch wenn diese letztere Art der Verwendung des Existenzbegriffs normaler Sprachgebrauch sein mag, so hat sich für diesen in der ontologischen Literatur der Begriff der Persistenz eingebürgert.
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II Die Kategorie der Kontinuanten
Die Klasse der physischen Gegenstände möchte ich, einer Unterscheidung von C. D. Broad folgend, in zwei fundamentale Unterklassen teilen, in die der „continuants" und die der „occurrents". 1 Wörtlich übersetzt ist ein „Kontinuant" etwas Fortbestehendes oder Andauerndes, und ein ,occurrent' ein Geschehnis oder Vorkommnis. Diese Bezeichnungen erinnern zunächst an die klassischen Formulierungen, mit denen die Kategorie der Ereignisse und die der Dinge unterschieden wurden: Traditionellerweise hieß es, daß das Sein der Dinge in ihrem Existieren, das Sein der Ereignisse in ihrem Geschehen bestünde. 2 Gegenüber ,Ding' und ,Ereignis' sind allerdings ,Kontinuant' und ,Vorkommnis' die weiteren Begriffe. Gleichwohl bleibt die geläufigere Unterscheidung insofern wirksam, als Lebewesen und Dinge als die paradigmatischen Kontinuanten und Ereignisse als die paradigmatischen Vorkommnisse zählen. Als Kontinuanten lassen sich darüber hinaus aber auch theoretische Entitäten wie die Elemente und Moleküle chemischer Verbindungen 3 oder Gruppen wie biologische Arten oder soziale Institutionen (Clubs, Orchester, etc.) begreifen. Zu den Vorkommnissen gehören neben den Ereignissen auch Prozesse und Zustände. 4 Schwierige Fälle für diese Einteilung in Kontinuanten und Vorkommnisse stellen Entitäten von so fragwürdiger Dinghaftigkeit wie Flüsse, Wellen, Wirbelstürme oder Flammen dar: In manchen Kontexten sprechen wir
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Vgl. Broad (1933) 1976, 138 ff. Vgl. z.B. Tugendhat 1975, 27, oder Hacker 1982, 3. Bei diesen handelt es sich u m theoretische Entitäten in d e m Sinne, daß die Begriffe, durch die sie bezeichnet werden, theoretische Begriffe sind. Dies sind Begriffe, die nur im Rahmen einer wissenschaftlichen Theorie eine Bedeutung haben. Auf die A n n a h m e der Existenz der durch sie bezeichneten Entitäten sind wir dementsprechend ontologisch nur verpflichtet, w e n n wir die betreffende Theorie für wahr halten. Ich ziehe es wie Peter Simons vor, den Begriff „occurrent" v o n Broad zu übern e h m e n , anstatt den Begriff des Ereignisses so weit auszudehnen, daß er auch Prozesse u n d Zustände u m f a ß t (vgl. Simons 1987, 130). Ich halte insbesondere die E i n o r d n u n g v o n Zuständen in die Kategorie der Ereignisse für problematisch, da m a n dann die klassische Definition v o n Ereignissen aufgeben müßte, daß Ereignisse Veränderungen sind. Ich n e h m e daher an, daß es sich bei Ereignissen u n d Zuständen u m zwei verschiedene Spezies v o n „occurrents" handelt. T u g e n d h a t nennt die Klasse, u m die es hier geht, die Klasse der „zeitlichen Gegenstände" (vgl. Tugendhat 1976, 455 ff.).
II. 2 Die Klassifikation
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von ihnen so, als würden sie Prozesse - also eine Sorte von Vorkommnissen — darstellen, in anderen so, als wären sie (wenn auch sonderbar „ephemere") Dinge, also eine Sorte von Kontinuanten. Wenn man diese beiden Kategorien einander wie oben gegenüberstellt, dann wird der Begriff der Persistenz nicht neutral für jegliche Form von Dauern in der Zeit verwendet, sondern so, daß mit ihm das Andauern oder Fortbestehen von Kontinuanten in der Zeit von der zeitlichen Dauer von Vorkommnissen unterschieden wird. Typische Kontinuanten entstehen zu einem bestimmten Zeitpunkt, fahren für eine Weile fort zu existieren und vergehen zu einem späteren Zeitpunkt. 5 Von Vorkommnissen oder Geschehnissen sagt man hingegen nicht, daß sie entstehen und vergehen, sondern daß sie beginnen und enden, daß sie eine bestimmte Zeit lang dauern oder von einer bestimmten Dauer sind. Der wesentliche Unterschied, der die zwei Klassen begründet, ist der Besitz von zeitlichen Teilen: Vorkommnisse besitzen zeitliche Teile, während Kontinuanten dies nicht tun. 6 Damit geht einher, daß sie in jeweils unterschiedlicher Weise auf das System von Raum und Zeit bezogen sind. Schließlich möchte ich in der Klasse der Kontinuanten die Kategorie der Lebewesen der der Dinge gegenüberstellen. Wir brauchen den Oberbegriff des Kontinuanten, weil dieser abstrakt genug ist, um gegenüber der Unterscheidung belebt/unbelebt noch neutral zu sein, denn seine Bedeutung erschöpft sich in der Spezifizierung derjenigen Entitäten, von denen prädizierbar ist, daß sie entstehen und vergehen und nur für eine Weile persistieren. Die Entitäten der Unterklassen dieser Klasse unterscheiden sich dann jeweils darin, wie ihre Persistenz im einzelnen zu charakterisieren ist. Dagegen meine ich, daß wir unter Dingen grundsätzlich etwas Unbelebtes verstehen, wenn wir den Dingbegriff terminologisch — im Sinne von „bloßes Ding" - und nicht gerade als Stellvertretersortal gebrauchen. Wenn es richtig ist, daß die Unbelebtheit zum Definiens von ,Ding' gehört, dann kann die Klasse der Lebe-
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S. Simons 1987, 175. S. ebd., 118.
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wesen nicht zur Kategorie der Dinge gehören. Denn dann träte genau der Fall ein, den ich eingangs des Abschnitts 1.1 ausgeschlossen haben wollte: daß die Bestimmung, die zum Genus gehört, der differentia specifica widerspricht. Man kann nicht von der Klasse alles Unbelebten die Unterklasse des Belebten abzweigen. Demzufolge bilden die Lebewesen vielmehr eine eigene Kategorie, die der Kategorie der Dinge gleichrangig und ihr entgegengesetzt ist. Die Entitäten beider Kategorien, Dinge und Lebewesen, erfüllen jedoch klarerweise das Definiens von ,Kontinuant', zu den Entitäten zu gehören, die entstehen und vergehen und nur für eine Weile persistieren. Mehr noch, sie stellen, insofern sie diejenigen Kontinuanten sind, die materielle Körper sind oder einen materiellen Körper haben, die paradigmatischen Beispiele für Kontinuanten dar. Als Mitglieder der Klasse der Kontinuanten lassen Lebewesen und Dinge sich nicht mehr hinsichtlich ihrer Relation zum raumzeitlichen System unterscheiden, da ihnen die Charakteristika persistierender körperlicher Entitäten gemeinsam sind. Was Lebewesen vielmehr als Kategorie gegenüber den Dingen auszeichnet, ist ihre besondere Art der Persistenz, die von keiner anderen Art von Entitäten erfüllt wird, ihr Verhältnis zu der Materie, aus der sie bestehen. Um letzteres zu verdeutlichen, wird es hilfreich sein, Lebewesen auch mit jenen Kontinuanten zu vergleichen, deren Ding-Status fragwürdig ist. Es ergibt sich also folgender Baum: abstrakte
physische Gegenstände
Vorkommnisse
/
\
Kontinuanten
Dinge (Unbelebtes/Lebloses)
/
\
Lebewesen (Belebtes/Lebendiges)
Im folgenden möchte ich mit der Diskussion des ontologischen Rahmens beginnen, weil es bereits über seine Form grundsätzlich verschiedene Auffassungen gibt. Die Konfliktlinie verläuft zwischen einem physikalistischen Lager, das als einzige Kategorie von
II. 2 Die Klassifikation
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konkreten Gegenständen physische Gegenstände akzeptiert und diese mit Prozessen gleichsetzt; und einem neoaristotelischen Lager, das an einer Ontologie festhalten möchte, in der zwischen der Kategorie der Kontinuanten und der Kategorie der Vorkommnisse unterschieden wird. Ich möchte dagegen zeigen, daß diese beiden als Alternativen diskutierten Ontologien unter bestimmten Umständen miteinander vereinbar sind. Erst wenn die Möglichkeit einer dualen Ontologie von Kontinuanten und Vorkommnissen gegen die Einwände des monistischen Lagers dargetan worden ist, möchte ich zu der Frage übergehen, wodurch sich die Art, in der Lebewesen persistieren, im Vergleich mit der der Dinge und der jener eigentümlichen „Prozeß-Dinge" auszeichnet.
3. Physische Gegenstände, Vorkommnisse und Kontinuanten In der zeitgenössischen analytischen Ontologie stehen sich ein neoaristotelisches Lager, das an einer Ontologie der Dinge und Ereignisse, oder allgemeiner der Kontinuanten und Vorkommnisse festhalten möchte, und ein prozeßontologisches Lager gegenüber. Prozeß-Ontologien stellen den Versuch einer Beschreibung der Welt dar, in der die Kategorie der Substanz im aristotelischen Sinne, d.h. der persistierenden, veränderlichen Einzeldinge, eliminiert ist. Der gemeinsame Nenner der verschiedenen ProzeßOntologien besteht darin, als grundlegende Einzeldinge ausschließlich Ereignisse oder Prozesse anzunehmen. 1 Mit Blick auf die Kategorisierung, die ich im vorangegangenen Abschnitt vorgestellt habe, hieße dies, daß die Kategorie der physischen Gegenstände mit der Kategorie der Vorkommnisse zusammenfiele, so daß eine Hierarchisierung, wie ich sie vorgenommen habe, überflüssig wäre. Dieser monistischen Ontologie gegenüber besteht das neoaristotelische Lager darauf, daß es zwei kategorial verschie-
1
Diese Auffassung wurde und wird von vielen geteilt. S. z.B. Russell (1956a), den frühen Broad (1923), Quine (1960), Lewis (1986), Heller (1984), Seibt (1997), Sider (1997).
30
II Die Kategorie der Kontinuanten
dene Arten von physischen Gegenständen gibt, nämlich Dinge und Ereignisse, oder allgemeiner Kontinuanten und Vorkommnisse, von denen keine verzichtbar oder auf die andere zurückführbar ist. 2 „Neoaristotelisch" nenne ich dieses Lager, weil die aristotelische Substanzmetaphysik als Ursprung der These gelten kann, daß es Kontinuanten gibt. 3 Gewöhnlich wird die letztere Ansicht von den „ordinary language"-Philosophen vertreten. 4 Gegen die Auffassung, daß in der normalen Sprache implizit schon eine Ding/Ereignis-Ontologie enthalten sei, hat Johanna Seibt jedoch eingewandt, daß es kurzschlüssig ist, den alltäglichen, unanalysierten Begriff eines persistierenden Dings oder Lebewesens, also das Analysandum, umstandslos mit dem aristotelischen Konzept einer individuellen Substanz oder mit dem eines Kontinuanten gleichzusetzen. Es sei zwar in der Tat so, daß wir im alltäglichen Umgang mit Dingen und Lebewesen diese ganz selbstverständlich als veränderliche und diverse Veränderungen überdauernde Entitäten ansehen. Dennoch stellen die besagten Konzepte lediglich mögliche Analysantia des alltäglichen Begriffs dar, welche in Konkurrenz zu alternativen ontologischen Analysen stehen. Denn auch die Konzeption der ousia, wie Aristoteles sie in der Metaphysik vorlegt, oder das Konzept eines Kontinuanten gehen über unser Alltagsverständnis von Dingen hinaus. Johanna Seibt definiert das Verhältnis von normaler Sprache und ontologischer Theorie folgendermaßen: An ontology is a theory of truth-makers for the sentences of a certain natural or scientific language L. An ontology describes what there is in the world, as speakers of L conceive it, that makes the true sentences of L true. The structural descriptions of truth-makers provide explanations for why L-speakers may draw certain inferences. 5
Die Aufgabe ontologischer Theorie besteht darin zu analysieren, welche Arten von Entitäten angenommen werden müssen, um erklären zu können, wie wir normalerweise über Dinge sprechen
2 3 4 5
S. z.B. Simons 1987, 129 f., Hacker 1982, Davidson 1985, 176. In dieses Lager gehören z.B. Davidson, Lowe, Lombard, Simons, Hacker, Runggaldier. S. z.B. Hacker 1982. Seibt 1997, 144.
11.3 Physische Gegenstände, Vorkommnisse und Kontinuanten
31
und material schlußfolgern. In diesem Sinne stellt auch die Ontologie der vierdimensionalen, mit Materie gefüllten Gebiete der Raumzeit eine Analyse der alltäglichen und wissenschaftlichen Redeweisen dar. Insofern würde mit der Behauptung, daß allein die (neo)aristotelische Ontologie den privilegierten Status deskriptiver Metaphysik genießt, vorausgesetzt, was eigentlich in Frage steht. Seibts Einwand macht deutlich, daß die einfache Berufung auf den common sense als Argument für eine bestimmte Ontologie nicht ausreicht: Wer von der Ontologie vierdimensionaler Entitäten überzeugt ist, wird diese Entitäten genauso als diejenigen aufführen, auf die wir uns mit unserer normalen Rede (implizit) verpflichten 6 , wie jemand, der von einer Ontologie der Kontinuanten und Vorkommnisse überzeugt ist, die Kontinuanten und Vorkommnisse anführen würde. Für Aristoteles indes stellten Lebewesen den klarsten Fall von persistierenden individuellen Substanzen [prote ousiai) dar. 7 Daß es ein Kennzeichen primärer Substanzen ist, „daß sie, wiewohl der Zahl nach ein und dasselbe, für Konträres empfänglich" sind, und zwar „so für Konträres empfänglich, daß sie sich selbst ändern" 8 , leuchtet ganz besonders ein, wenn man bei diesen an Lebewesen denkt, die wachsen und reifen. Ein Buchensämling etwa, der zu einer Buche oder ein Küken, das zu einem Huhn heranwächst, machen große Veränderungen durch. Daß solche Prozesse - z.B. in der Entwicklungsbiologie — gleichwohl als Ontogenese eines konkreten Individuums beschrieben werden, und nicht als das Entstehen und Vergehen verschiedener Individuen, zählt mit zu den „Daten", denen ontologische Theorie Rechnung tragen muß. Will man das Verständnis von Lebewesen als Veränderungen überdauernde Einzeldinge verteidigen, stellt sich daher die Aufgabe, gegen die Einwände von der monistischen Seite die Möglichkeit einer dualen Ontologie von Kontinuanten und Vorkommnissen zu zeigen.
6 7 8
S. z.B. Lewis (1988, 67): ,,[0]ur common-sense belief in persisting things commits us implicitly to perdurance." Vgl. Met. VII, 7, 1032a 19 und VII, 8, 1034a 4. Kategorien 5, 4a 10-11 u. 29-30; s. auch ebd., 4b 13-14.
32
II Die Kategorie der Kontinuanten
Mit der Beibehaltung des Begriffs eines physischen Gegenstandes als Gegenbegriff zum dem eines abstrakten Gegenstandes ist allerdings ein Zugeständnis an die Prozeßontologen verbunden: Ihrer These ist zuzustimmen, daß physische Gegenstände generell in allen vier Dimensionen eine gewisse Ausdehnung besitzen müssen. Allerdings nur, insofern damit zunächst nicht mehr als die kategoriale Behauptung gemeint ist, daß etwas Physisches genausowenig in einem ausdehnungslosen Punkt des Raumes existieren kann wie in einem ausdehnungslosen Moment der Zeit. Das letztere bedeutet anzuerkennen, daß nicht nur das Stattfinden von Veränderungen Zeit braucht, sondern daß auch Kontinuanten stets eine bestimmte Zeit lang existieren müssen. Daß etwas Physisches, Konkretes sich nicht im Raum befinden kann, ohne auch in der Zeit zu sein, und umgekehrt, sollte zwischen Vierdimensionalisten und Neoaristotelikern nicht umstritten sein und ist es in der Regel wohl auch nicht. Darum verstehe ich auch Deklarationen wie „a four dimensional object [...] does not exist at a single moment", „takes up more than an instantaneous region of time"9 oder „[a physical object] does not exist at [A] and [6], it exists from [t\] until [/2]"10 keineswegs so, daß sie gegen die Annahme von Kontinuanten sprächen, sondern erachte sie als kompatibel mit der Annahme, daß es physische Gegenstände verschiedener Art sein mögen, die da von t\ bis h existieren. Darüber hinaus kommen Prozeßontologen jedoch darin überein, physische Gegenstände generell mit Prozessen gleichzusetzen. Quine hat mit seiner Definition der „physical objects" dieses gemeinsame Credo von Prozeßontologen auf den Punkt gebracht: Physical objects, conceived thus four-dimensionally in space-time, are not to be distinguished from events or, in the concrete sense of the term, processes. Each comprises simply the [material] content, however heterogeneous, of some portion of space-time, however disconnected and gerrymandered. 11
Die Kategorie der Kontinuanten läßt sich jedoch nur dann unter die der physischen Gegenstände subsumieren, wenn der Begriff
9 10 11
Heller 1984, 325. Ebd. Quine 1960, 171; s. auch ders., (1981) 1991, 21; 1985, 167.
II. 3 Physische Gegenstände, Vorkommnisse und Kontinuanten
33
eines physischen Gegenstandes von dem eines Prozesses separiert wird. Das bedeutet, zunächst nur den letzten Satz der Quineschen Definition eines physischen Gegenstandes zu übernehmen, demzufolge ein physischer Gegenstand der materielle Inhalt eines vierdimensionalen Gebiets der Raumzeit ist. Diese Definition genügt, um physische Gegenstände als eine der ultimativen Kategorien des Seienden 12 einzuführen. Doch allein aus der Anforderung, daß ein physischer Gegenstand im vierdimensionalen raumzeitlichen Bezugssystem (eindeutig) lokalisierbar sein muß, folgt nicht, daß es nur eine Kategorie von physischen Gegenständen geben kann. Die Definition für physische Gegenstände läßt sich vielmehr so auffassen, daß sie sich aufgrund ihrer großen Allgemeinheit gegenüber der Unterscheidung von Vorkommnissen und Kontinuanten noch neutral verhält. Im Sinne dieser Neutralität ließe sich Quines These, daß „physical objects" nicht von Ereignissen oder Prozessen zu unterscheiden seien, folgende Wendung geben: Der Begriff eines physischen Gegenstandes ist schlicht zu allgemein, um zwischen Kontinuanten und Vorkommnissen zu unterscheiden. So sollte weder der Satz „Vorkommnisse sind physische Gegenstände" noch der Satz „Kontinuanten sind physische Gegenstände" so verstanden werden, daß hier die völlige Kongruenz zweier Klassen behauptet wird, sondern so, daß mit ihm eine Klassenzugehörigkeit ausgedrückt wird. Ich werde im folgenden davon ausgehen, daß hinsichtlich der Erfüllung der Bestimmung, der materielle Inhalt eines Raumzeitgebiets zu sein, kein Unterschied zwischen Vorkommnissen und Kontinuanten besteht. Worin auch immer sie sich unterscheiden mögen — mit dieser Bestimmung ist gesagt, was den Einzeldingen aller Kategorien von physischen Gegenständen gemeinsam ist. Dies läßt sich auch als die schlichte These formulieren, daß es immer irgendein konkretes materiegefülltes Gebiet der Raumzeit ist, auf das wir uns mit den einzelnen sortalen Begriffen für Vorkommnisse oder Kontinuanten beziehen. In der Tat aber konzeptualisieren wir den materiellen Inhalt eines solchen Gebiets
12
Vgl. Quine (1960) 1980, 282.
34
II Die Kategone der Kontinuanten
sehr verschieden, wenn wir ihn als ein Vorkommnis oder als ein Kontinuant bezeichnen. 13 Festzuhalten ist, daß ,physischer Gegenstand' so verstanden die Bezeichnung für das materielle Substrat dieser Kategorisierungen ist; für das, was von uns wahlweise als Kontinuant oder als Vorkommnis konzeptualisiert wird. 14 In diesem Verständnis ist der Begriff eines physischen Gegenstandes nicht synonym mit dem Begriff eines materiellen Dings.
13
14
Vgl. auch Davidsons Resümee (1985, 176) in seiner Auseinandersetzung mit Quine um den Ereignisbegriff: „[The] difficulties in deciding between objects and events are [...] generated by identifying space-time content with space-time content. Grammar allows no such confusion. [...] Occupying the same portion of space-time, event and object differ. One is an object which remains the same through changes, the other a change in an object or objects. Spatiotemporal areas do not distinguish them, but our predicates, our basic grammar, our ways of sorting do. Given my interest in metaphysics implicit in our language, this is a distinction I do not want to give up." Man mag in dieser Konzeption von physischen Gegenständen sogar die moderne, nämlich um die moderne Theorie von Raum und Zeit ergänzte Version der aristotelischen Vorstellung wiedererkennen, daß die Materie das Substrat unserer Kategorisierungen ist. Zumindest nimmt die Materie bei Aristoteles dieselbe systematische Stelle in der Ontologie ein wie bei Quine die Kategorie der physischen Gegenstände. Beide werden in Abstraktion von jeglicher weiteren Bestimmung gedacht. Vgl. Aristoteles, Met. VII, 3, 1029a 19-21: „Unter Materie {hyle) verstehe ich aber das, was als solches (kath' hauten·, „für sich genommen") weder ein Was ist noch ein Quantum und auch sonst nicht durch irgendetwas charakterisiert ist, wodurch das Seiende bestimmt wird." Das, wodurch bestimmt wird, sind die Kategorien; angefangen mit der Kategorie der Substanz. Die Materie als solche ist demgegenüber „etwas, von dem jede dieser Bestimmungen ausgesagt wird, dessen Seinsweise [to einai] sich aber von der einer jeden Art von Bestimmung unterscheidet" (1029a 22-23; Übersetzung von Frede/Patzig 1988): Sie ist das Bestimmbar«; das, worauf wir uns mit den kategorialen Bestimmungen beziehen. Daraus folgt nicht, daß die Materie „an sich" völlig eigenschaftslos wäre. Dadurch, daß wir zur Gewinnung des allgemeinsten Begriffs dessen, worauf sich unsere Kategorisierungen beziehen, von allen möglichen Eigenschaften abstrahieren, die sie haben mag, verliert sie diese nicht. Es folgt lediglich, daß „die Materie, für sich genommen, unerkennbar ist" (1036a 9-10); denn „für sich genommen" ist ,Materie' unsere Bezeichnung für das, was der Einteilung durch uns (vermittels kategorialer Begriffe) noch harrt; während Erkenntnis erst mit der Konstitution von Gegenständen ansetzt. Irgendeinen solchen Grenzbegriff für das Bestimmbare brauchen wir, und „physischer Gegenstand" verhält sich hier genauso wie „Materie".
II. 3 Physische Gegenstände, Vorkommnisse und Kontinuanten
35
Nach diesen Überlegungen besteht die echte Differenz zwischen Prozeßontologen und Kontinuant-Theoretikern nicht hinsichtlich der Frage, ob auch Kontinuanten in Raum und Zeit existieren oder — wenn man so sagen will - räumlich und zeitlich ausgedehnt sind, sondern hinsichtlich der Frage, ob das räumliche und zeitliche Ausgedehntsein im Falle von Kontinuanten anders zu fassen ist als im Falle von Vorkommnissen oder nicht. Die Auseinandersetzung darum ist als die Frage, ob es nur Persistenz im Sinne von „perdurance" oder auch Persistenz im Sinne von „endurance" gibt, in der ontologischen Literatur bekannt geworden. 15 In dieser Debatte wird von selten der Prozeßontologen gegen die Persistenzweise der „endurance" ein schwerwiegender Einwand erhoben, den es auszuräumen gilt, wenn die These ihre Geltung behalten soll, daß die Kategorie der physischen Gegenstände sowohl Vorkommnisse als auch Kontinuanten umgreift.
3.1 Kontinuanten und Vorkommnisse: Enduranz versus Perduranz Ich habe bislang Kontinuanten als veränderliche, persistierende Einzeldinge bezeichnet. Die paradigmatischen so charakterisierbaren Einzeldinge sind Lebewesen. Jener Debatte ist zur terminologischen Klärung voranzuschicken, daß von „Persistenz" in einem engen und in einem weiten Sinn gesprochen werden kann: Wenn den zeitlich ausgedehnten Vorkommnissen die persistierenden Kontinuanten gegenübergestellt werden 16 , dann wird „persistierend" im engeren Sinne von „beharrend" verwendet: Kontinuanten beharren über Veränderungen und über die Zeit hinweg. Wenn hingegen „Persistenz" als Ausdruck für das Existieren (im Raum und) in der Zeit verwendet wird, um dieses von der zeit-
15
16
Diese Auseinandersetzung ist vor allem durch die Kritik von David Lewis (1986, 202-204) an der Ontologie der Kontinuanten bekannt geworden. Daran schloß sich eine Kontroverse zwischen ihm und E. J. Lowe an, die sich über mehrere Analysis-H'inAt hinzog. (Lowe 1987, Lewis 1988, Lowe 1988a; sowie Sally Haslangers Weiterführung von Lowes Kritik (Haslanger 1989)) Vgl. etwa Simons 1987; Wiggins 1980.
36
II Die Kategorie der Kontinuanten
neutralen Verwendung des Existenzbegriffs abzuheben, dann dient „Persistenz" als ein gegenüber der Unterscheidung von Kontinuanten und Vorkommnissen neutraler Begriff. In diesem Sinne verwendet Lewis den Ausdruck: Let us say that something persists iff, somehow or other, it exists at various times; this is the neutral word. 17
Er unterscheidet im Anschluß daran zwei Weisen der Persistenz: Something perdures iff it persists by having different temporal parts, or stages, at different times, though no one part of it is wholly present at more than one time; whereas it endures iff it persists by being wholly present at more than one time.18
Anhand dieser beiden Persistenzweisen lassen sich die Kategorie der Kontinuanten und die Kategorie der Vorkommnisse unterscheiden. Schlagwortartig ausgedrückt: continuants endure, occurrents perdureP So definiert Simons die Kategorie der Kontinuanten, der beharrenden Einzeldinge, folgendermaßen: A continuant is an object which is in time, but of which it makes no sense to say that it has temporal parts or phases. At any time at which it exists, a continuant is wholly present. Typical continuants come into existence at a certain moment, continue to exist for a period (hence their name) and then cease to exist.20
Wiggins erläutert weiter, was Kontinuanten im Kontrast zu Ereignissen sind: An event takes time, and will admit the question 'How long did it last?' only in the sense 'How long did it take?'. An event does not persist in the way a continuant does — that is, through time [...]. A continuant has spatial parts, and to find the whole continuant you have only to explore its boundary at a time. An event has temporal parts, and to find the whole event you must trace it through its historical beginning to its historical end.21
17 18 19 20
21
Lewis 1986, 202. Ebd. Lewis übernimmt diese Ausdrücke von Mark Johnston. Vgl. Simons 1991, 132. Simons 1987, 175. Vgl. Wiggins (1980, 25), der Kontinuanten als „three-dimensional" beschreibt, als „things with spatial parts and no temporal parts, which are conceptualized in our experience as occupying space but not time, and as persisting whole through time." Ebd., Fußnote 12.
II. 3 Physische Gegenstände, Vorkommnisse und Kontinuanten
37
Im Lichte dieser Definitionen ist klar, daß Kontinuanten die Definition von Persistenz im Sinne von „endurance" erfüllen. Es muß jedoch erläutert werden, (i) was unter einem zeitlichen Teil zu verstehen ist; und (ii) was es heißen soll, daß ein Kontinuant „dreidimensional" ist und so zu jedem Zeitpunkt „ganz" oder „als Ganzes" da ist, wenn gilt, daß Kontinuanten als Mitglieder der Kategorie der physischen Gegenstände eine gewisse zeitliche Dauer besitzen müssen. Aus dieser Erläuterung wird schließlich hervorgehen, inwiefern es nicht sinnvoll ist, von einem Kontinuanten zu sagen, daß es zeitliche Teile besitzt. Doch zunächst zur Kontrastklasse der Vorkommnisse: Simons stellt sie den Kontinuanten folgendermaßen gegenüber: Occurrents comprise what are variously called events, processes, happenings, occurrences and states. They are, like continuants, in time, but unlike continuants they have temporal parts.22
Vorkommnisse haben sowohl räumliche als auch zeitliche Teile. Das heißt, sie sind vierdimensionale Gegenstände, die im Sinne von „perdurance" persistieren. Man nennt darum das Lager derjenigen, die vertreten, daß physische Gegenstände Prozesse sind (häufig wird die Kategorie der Vorkommnisse nicht intern differenziert), auch das Lager der „Vierdimensionaüsten" oder „Perdurantisten". Vorkommnisse unterscheiden sich demzufolge von Kontinuanten dadurch, daß sie zeitliche Teile besitzen. Dies ist entscheidend. Denn im Falle von Entitäten, die sich in zeitliche Abschnitte einteilen lassen, ist eine andere ontologische Analyse von Prädikationen möglich, in denen einem Gegenstand zu verschiedenen Zeitpunkten verschiedene, untereinander inkompatible Eigenschaften zugeschrieben werden, als im Falle von Entitäten, die sich nicht sinnvoll in zeitliche Abschnitte unterteilen lassen: Because occurrents have temporal parts, they enter into predications involving temporal reference in a quite different way from continuants. Characteristic of a continuant is that at any time at which it exists, it is present as whole, and not just in part. So when a continuant has first one property and then another, contrary property, it is the whole continuant which has the properties and not different parts of it, whereas
22
Simons 1987, 129.
II Die Kaiegorie der Kontinuanten
38
with occurrents we can always refer such temporary properties down to temporal parts. 23
Eine einfache attributive Prädikation, in der einem Einzelding (a) zugeschrieben wird, daß ihm zum Zeitpunkt ti die Eigenschaft F zukommt und zum Zeitpunkt t2 eine andere, konträre Eigenschaft G , wird in Bezug auf ein Kontinuant anders logisch analysiert als in Bezug auf ein Vorkommnis. Die Prädikation: (1)
a ist zu ti F und a ist zu t2 G
wird im Falle von Kontinuanten analysiert als: (la)
a ist-zu-ti F und a ist-zu-t2 G;
im Falle von Vorkommnissen jedoch als: (lb)
a-zu-ti ist F und a-zu-t2 ist G.
Mit diesen Darstellungen sind unterschiedliche ontologische Interpretationen verbunden: Die Bindestriche sollen deutlich machen, daß im ersten Falle die Prädikation so verstanden wird, daß ein und demselben Kontinuanten, a, zu verschiedenen Zeitpunkten seiner Existenz verschiedene Eigenschaften zugeschrieben werden. In diesem Fall ist es das Zukommen der Eigenschaften, welches den zeitlichen Index erhält.24 Die Aussage beispielsweise, daß sich ein junger Mensch in einen alten verwandelte, bedeutete demzufolge, daß es eine Phase gab, in der dieser Mensch jung war, und eine spätere, in der dieser selbe Mensch alt war. Oberflächlich betrachtet, mag es so scheinen, als redeten wir von Vorkommnissen in der gleichen Weise: Sagen wir beispielsweise, daß sich eine sachliche Debatte in eine polemische verwandelte, so scheint dies auf dieselbe Weise paraphrasierbar zu sein: es gab eine Phase, während der diese Debatte sachlich war, und eine, während der diese selbe Debatte polemisch war. Doch im Falle von Vorkommnissen läßt sich — anders als im Fall von Kontinuanten — die Prädikation weitergehend so analysieren, daß die verschiedenen Eigenschaften F und G zwei verschiedenen Vorkommnissen zukommen, nämlich ,a-zu-ti' und ,a-zu-t2£,
23 24
Ebd., 176. Das heißt, ich entscheide mich hier für eine Variante der sogenannten „adverbialen Lösung" (s. u., S. 67 f.). Zu anderen Varianten, vgl. Simons 1991, 134-137.
II. 3 Physische Gegenstände, Vorkommnisse und Kontinuanten
39
womit zwei zeitliche Teile von a, dem gesamten Vorkommnis bezeichnet sein sollen. Die eben genannte Aussage beispielsweise, daß sich eine zunächst sachliche Debatte in eine polemische verwandelte, wäre demgemäß so zu interpretieren, daß diese Debatte sich in eine sachliche und in eine polemische Teilphase gliederte. Die entscheidende Differenz ist: Die Aussage „Es gab eine erste Phase, in der die Debatte sachlich war, und eine zweite, in der sie polemisch war" können wir weiter paraphrasieren zu „Die erste Phase dieser Debatte war sachlich, die zweite polemisch". Genau diese Art der Paraphrase ist im Falle der Kontinuanten nicht sinnvoll möglich: Jene Aussage beispielsweise: „Es gab eine Phase, in der dieser Mensch jung war, und eine spätere, in der er alt war" läßt sich nicht weiter paraphrasieren zu: „Die erste Phase des Menschen war jung, die zweite alt", ohne den Sinn des Begriffs „Mensch" zu verändern. Im Falle der Vorkommnisse jedoch braucht infolge besagter Analysemöglichkeit das Zukommen der Eigenschaften nicht mehr zeitlich modifiziert zu werden: [Occurrents] have all their properties timelessly, in the sense that what have different properties are different temporal parts of [an occurrent] and not the whole [occurrent]. 25
Diese Interpretationen führen auf einen weiteren wichtigen ontologischen Unterschied zwischen Vorkommnissen und Kontinuanten: Im Sinne der aristotelischen Definition von Veränderung, nach der Veränderung darin besteht, daß ein (beharrendes) Substrat der Veränderung seine Eigenschaften wechselt, sind nur Kontinuanten veränderlich; Vorkommnisse hingegen nicht. Die Unveränderlichkeit von Vorkommnissen ist nicht kontingent, vielmehr gehören Vierdimensionalität und Unveränderlichkeit zusammen. Welche Eigenschaften auch immer ein Vorkommnis besitzen mag, es besitzt sie „immer" oder „zeitlos". Die Annahme, daß Vorkommnisse sich verändern könnten, würde — wenn man Aristoteles darin folgt, daß Zeit das Maß der Veränderung ist 26 — ja eine 25 26
Simons 1987, 126. Im Original steht hier „process" anstatt „occurrent", aber diese Verallgemeinerung ist in Simons' Sinne. Sie findet sich in Simons (1991, 131-147); siehe vor allem (ebd., 132). Vgl. Phys. IV, 12, 220b 14-16.
40
II Die Kategone der Kontinuanten
Art „Zeit zweiter Stufe" als Maß ihrer Veränderung erfordern; und diese Annahme ist offenkundig absurd. Mit der Ablehnung der Veränderlichkeit von Vorkommnissen ist indessen keineswegs alle Veränderung ausgeschlossen, denn schließlich gehören zu der Kategorie der Vorkommnisse die Ereignisse und Prozesse, die Veränderungen sind oder umfassen. Die Annahme einer Veränderung von Veränderungen führte indes in einen infiniten Regreß. 27 Vorkommnisse sind in jeder Hinsicht unveränderlich. Es ist falsch oder zumindest tendenziös, von Vorkommnissen zu sagen, daß sie entstünden und vergingen, denn damit insinuierte man, daß es sich bei ihnen und ihren zeitlichen Teilen um Kontinuanten handelt. 28 Vorkommnisse beginnen und enden oder fangen an und hören auf. Da sie unbeweglich sind29, muß bei ihnen im Unterschied zu Kontinuanten auch die Ortsangabe nicht zeitlich relativiert werden. So sind Kontinuanten und Vorkommnisse auch auf unterschiedliche Weise in das System raum-zeitlicher Beziehungen eingelassen: Wenn man von Vorkommnissen sagt, daß sie zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort stattfinden, dann meint man damit, daß sie an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit geschehen. 30 Während Kontinuanten sich in der Zeit durch den Raum bewegen, d.h. ihre Position mit der Zeit verändern können, nehmen Vorkommnisse eine fixe Position im raumzeitlichen Bezugssystem ein.
27 28
29 30
Vgl. Aristoteles, Met. XI, 12, 1068a 33 - 1069b 6. Vgl. Seibt 1997, 161. Nur wenn man diesem Irrtum erliegt, kann man - wie z.B. Judith Thomson - glauben, daß die Ontologie vierdimensionaler Gegenstände auf eine creatio ex nihilo von Gegenständen hinausliefe: „The metaphysic yields that if I have had exacdy one bit of chalk in my hand for the last hour, then there is something in my hand which is white, roughly cylindrical in shape, and dusty, something which also has a weight, something which is chalk, which was not in my hand three minutes ago, and indeed, such that no part of it was in my hand three minutes ago. As I hold the bit of chalk in my hand, new stuff, new chalk keeps constandy coming into existence ex nihilo" (1983, 213). Es sind indes lediglich Momente der Zeit hinzugekommen. Vgl. Dretske 1967. Vgl. Simons 1987, 130. Siehe auch Davidson (1985, 176): „[E]vents and objects may be related to locations in space-time in different ways; it may be [...] that events occur at a time in a place while objects occupy places at times."
II. 3 Physische Gegenstände, Vorkommnisse und Kontinuanten
41
3.2 Zeitliche Teile Nachdem der Besitz oder Nicht-Besitz von „zeitlichen Teilen" sich als entscheidender Unterschied zwischen Vorkommnissen und Kontinuanten gezeigt hat, ist es an der Zeit, genauer zu erläutern, was darunter zu verstehen ist. Am besten läßt sich dies am Beispiel von Prozessen demonstrieren — allerdings unter der Voraussetzung eines ganz bestimmten Prozeßbegriffs. Denn es gibt zwei verschiedene Prozeßbegriffe. Einen davon erläutert Simons, wenn er schreibt: Wherever occurrences go on in a way which is not well-delimited, we tend to speak of processes; the earth circling the sun for instance. Here [...] the process is plausibly seen as nothing more than the steady change of spatial relations between two bodies. 31
Hiernach ist ein Prozeß nichts anderes als ein „steady change", eine stetige oder kontinuierliche Veränderung. Dieser Begriff macht es schwer, zwischen Ereignissen und Prozessen zu differenzieren. Denn alle physischen Veränderungen sind stetig, verlaufen prozeßhaft — natura non facit saltus — ; und somit würden die Begriffe ,Ereignis' und ,Prozeß' füreinander austauschbar. Da zu den stetigen Veränderungen auch gleichförmige gehören (d.h. solche, die mit gleichbleibender Geschwindigkeit ablaufen), droht zudem mit diesem Prozeßbegriff auch die Abgrenzung zwischen Zuständen und Prozessen verwischt zu werden, wie Simons' Beispiel zeigt: Typische Beispiele stetiger und gleichförmige Veränderungen sind gleichförmige geradlinige Bewegung oder gleichförmige Rotation. Seit Newton werden diese physikalisch als Bewegungs^Äj/izWi? beschrieben. Gleichförmige Prozesse werden so als Zustände von Veränderung interpretiert. Drei Dinge sind zu diesem Prozeßbegriff zu bemerken: Prozesse dieser Art sind prinzipiell durch Differentialgleichungen beschreibbar. Aufgrund der Stetigkeit der Prozesse, die von solchen beschrieben werden, gibt es für ihre Einteilung in Phasen keine Basis in der Sache; insbesondere bei gleichförmigen Prozessen ist jede Unterteilung völlig arbiträr. Außerdem bedarf ihr
31
Simons 1991, 141 f.
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II Die Kategorie der Kontinuanten
Fortdauern keiner kausalen Erklärung. Was kausal erklärt werden muß und kann, ist Beginn und Ende eines solchen Prozesses, nicht sein kontinuierliches Stattfinden. Es gibt jedoch noch einen anderen Prozeßbegriff, nach dem Prozesse sehr wohl von Ereignissen und Zuständen zu unterscheiden sind. Dieses Konzept formuliert Hacker so: [I]t is an essential feature of our concept of process, that it g o e s on in time, consists of sequential phases, and h e n c e can be interrupted prior to completion. 3 2
Mir scheint vor allem der letzte Punkt für die Unterscheidung des Prozeßbegriffs vom Ereignisbegriff zu entscheidend zu sein: Wir verwenden sowohl Ereignissortale als auch Prozeßnamen als Bezeichnungen für Veränderungen. Doch von Ereignissen können wir nicht sinnvoll sagen, daß sie vor ihrer Vollendung unterbrochen werden könnten. 33 „Fast vollendete" Ereignisse gibt es nicht. Ausdrücke, die für Ereignisse stehen, werden vielmehr „erfolgsimplizierend" verwendet. Wären z.B. zwei Autos beinahe kollidiert, sind es aber nicht, so handelt es sich in diesem Fall nicht um eine unvollendete Kollision, sondern schlicht um gar keine. Das Ereignissortal „Kollision" können wir dann schlicht nicht verwenden, um das Geschehene zu beschreiben. Auf Ausdrücke für Prozesse trifft dies dagegen gerade nicht zu. Wenn wir unter Ereignissen einzelne (erfolgte) Veränderungen, unter einem Prozeß dagegen „a series of changes with some sort of unity, or unifying principle, to it" 34 verstehen, so kann ein bestimmter einzelner Prozeß auch dann noch als Exemplar seines Typs angesehen und mit dessen Namen bezeichnet werden, wenn er vor seiner Vollendung unterbrochen oder sogar abgebrochen wird; d.h. wenn von der Serie von Ereignissen, wel-
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34
Hacker 1991, 125. Ich gehe hier von einem Ereignisbegriff aus, nach dem unter Ereignissen einzelne Veränderungen verstanden werden. Sortale wie „Herzschlag" oder „Kollision" bezeichnen demgemäß Ereignisse. Daß auch länger dauernde Vorkommnisse, wie z.B. Spaziergänge oder Fußballspiele Ereignisse genannt werden, ist darauf zurückzuführen, daß die Kategorie der Vorkommnisse oftmals intern nicht weiter differenziert, sondern schlicht mit der der Prozesse oder der der Ereignisse gleichgesetzt wird. Teichmann 1995, 721; meine Hervorhebung.
II. 3 Physische Gegenstände, Vorkommnisse und Kontinuanten
43
che im Begriff des Prozeßtyps vereinigt sind, nur einige stattgefunden haben. Das Hauptmerkmal von Prozessen in diesem Sinne ist die geordnete Abfolge von Ereignissen, die temporale Ordnung: 35 Prozesse in diesem Sinne bezeichnen Typen von Ereignisfolgen. Die Geordnetheit macht es auch möglich, im Einzelfall ex ante eine bestimmte Abfolge von Ereignissen vorauszusagen. Als Prinzipien, die ihnen Einheit verleihen, werden solche Prozesse beispielsweise auf ihre Funktion oder auf ihr Endprodukt bezogen. Ein typisches Beispiel für einen Prozeß dieser Art stellt die Embryogenese von Mehrzellern dar, an deren Ende ein selbständig lebensfähiges Wesen steht. Die Vierdimensionalisten beschreiben auch die Lebensgeschichte eines Kontinuanten als einen Prozeß. Daran ist so viel richtig: Prinzipiell fällt zwar auch eine solche Geschichte unter die Beschreibung, „a series of changes with some sort of unity, or unifying principle, to it" zu sein. Doch stellt eine Geschichte eine komplexe Serie von Ereignissen und Zuständen dar, deren einigendes Prinzip allein die Tatsache ist, daß sie die Lebensgeschichte eines individuellen Kontinuanten bilden. Die Vorkommnisse, in die ein bestimmtes Kontinuant involviert ist, summieren sich zu seiner Geschichte; sie ist die Summe dessen, was an und mit ihm und durch es geschieht; und wir sagen, daß ein Kontinuant als sich Veränderndes eine Geschichte hat. Die Einheitsrelation, die eine Kette von Ereignissen und/oder Zuständen zu einem Leben
35
Der Ursprung dieses Prozeßbegriffs liegt in dem eines juristischen Prozesses: Dort wird ein Verfahren festgelegt, ein Procedere, das in jedem Prozeß einzuhalten ist. Es ist nicht nur festgelegt, welche Arten von Handlungen im Prozeß zugelassen sind, sondern auch die Abfolge der Handlungen. Von der Rechtswissenschaft wurde der Begriff in die Alchimie übertragen, in der unter „Prozessen" zunächst die Handlungsanleitungen an den Alchimisten, die mehrere HandlungsSchritte vorsehenden Rezepturen zur Herstellung einer gewünschten Substanz verstanden wurden. Erst im 18. Jhdt. wurde im Zuge der Entwicklung der Chemie aus der Alchimie der Prozeßbegriff naturalisiert: „Nun werden ,die Operationen, welche die Kunst oder die Natur selbst unternehmen', explizit zu äquivalenten Vorgängen. Diese Formel ,die Kunst oder die Natur selbst' ist die Schlüsselformel, durch die der Prozeßbegriff übergeht auch zur Anwendung auf Naturvorgänge" (Röttgers 1983, 104). (Das Werk, aus dem Röttgers hier zitiert, ist Scherer (1795).)
44
II Die Kategorie der Kontinuanten
vereinigt, wurde von Camap ,Genidentität' genannt. 36 Das Gemeinsame von Lebensgeschichten und Prozessen besteht darin, daß sie Folgen von Vorkommnissen bezeichnen. Im Unterschied zu Prozessen, die konkrete Instanzen eines als eine bestimmte Ereignisfolge definierten Prozeßtyps sind, besteht jedoch eine solche Geschichte zum einen aus einer unabsehbaren, ex ante nicht prognostizierbaren Serie von Ereignissen. Der Verlauf einer Lebensgeschichte läßt sich prinzipiell nur ex post beschreiben. Auf der anderen Seite besteht das einigende Prinzip von Prozeßtypen, die als Typen von Ereignis folgen definiert sind, gerade nicht darin, daß sich ihn ihnen genau ein Kontinuant durchhält. Es ist nun in bezug auf solche Prozesse oder Lebensgeschichten ganz natürlich, von Stadien oder Phasen zu sprechen, d.h. sie zeitlich in unterschiedliche Abschnitte einzuteilen: A n y p r o c e s s can properly be said to have successive temporal parts. T h e s e are shorter processes w h i c h together m a k e up the longer p r o c e s s by adjunction [...]. Such temporal parts are called 'successive total phases'. 3 7
Wenn ein Prozeß oder eine Lebensgeschichte eine komplexe Serie von Ereignissen darstellt (die einzeln durch Sortale bezeichnet werden), dann bilden die einzelnen, heterogenen Ereignisse die einzelnen Teile dieser Serie. Die Einteilung des Prozesses oder der Lebensgeschichte in Stadien oder Phasen erfolgt über die jeweils als relevant erachteten Ereignisse. Eine solche Serie muß nicht nur aus Ereignissen bestehen, es können z.B. auch Zustände inseriert sein, d.h. Ruhephasen, während derer die Entität, die in den Prozeß involviert ist, sich in den für relevant erachteten Zustandsvariablen nicht verändert. Insofern für den Begriff eines bestimm36
37
Vgl. Carnap 1928, § 128. Carnap vertrat allerdings die Auffassung, daß die Kategorie der Einzeldinge keine Kontinuanten enthält, sondern die einzigen Einzeldinge, datierte, in vier Dimensionen ausgedehnte Zustände sind. Die Relation der „Genidentität" charakterisiert er als die Relation der „Zugehörigkeit verschiedener Dingzustände zu demselben Ding" (§ 125). Durch sie werden verschiedene Zustände zu der Geschichte eines Dings verbunden. Carnap führt die Genidentität der Zustände eines Dings in Analogie zur Artgleichheit von Einzeldingen ein: Die einzelnen Zustände eines Dings verhalten sich zu dem sortalen Begriff, der dieses Ding bezeichnet, wie die einzelnen Exemplare einer Art zu dem sortalen Begriff, mit dem sie bezeichnet werden. Broad (1933-1938) 1976, Vol. I, 147.
II. 3 Physische Gegenstände, Vorkommnisse und Kontinuanten
45
ten Prozeßtyps nur ganz bestimmte Ereignisse zur Kennzeichnung einzelner Phasen hervorgehoben werden, ist auch in dieser Gliederung ein pragmatisches Element der Abstraktion enthalten. Doch insofern sie auf solche abgrenzbaren Ereignisse zurückgreift, ist diese Art der Einteilung weniger willkürlich als die Einteilung eines völlig stetigen, gleichförmigen Prozesses in Phasen. In der Biologie finden sich für eine Verwendung des Prozeßbegriffs in letzterem Sinne Beispiele in Hülle und Fülle: Man nehme z.B. das Konzept des Zellzyklus38 mit seiner Einteilung in verschiedene Phasen, oder sein Pendant für multizelluläre Organismen, das Konzept des Lebenszyklus. Auch die Unzahl zellulärer Prozesse ist nach diesem Begriff modelliert: Man kann sagen, daß ein großer Teil des Wissens in der molekularen Biologie ein Wissen von Prozessen im Sinne von Ereignissequenzen ist. In der Chemie und Biochemie ist dieser Prozeßbegriff ebenfalls prominent; man denke etwa an das Konzept der Stoffwechselwege (z.B. der Biosynthesewege).39 Nur in der Physik spielt dieser Prozeßbegriff so gut wie gar keine Rolle (eine Ausnahme bildet die Astronomie, die immerhin Entwicklungsstadien von Sternen kennt). Nehmen wir einmal als Beispiel für die Geschichte eines Kontinuanten das Leben einer Zelle von ihrer Entstehung bis zu ihrer Teilung. Der Lebenslauf von Zellen wird in der Zellbiologie typischerweise in vier Stadien bzw. Phasen untergliedert: M-Phase, Interphase mit Gi-Phase, S-Phase, G2-Phase. Abgegrenzt werden diese Phasen durch verschiedene Prozesse: Die M-Phase beginnt mit der Kernteilung und endet, wenn die Zellteilung vollendet ist. Für die Tochterzellen beginnt die Interphase mit der Gi-Phase, die durch einen starken Anstieg Biosyntheserate gekennzeichnet ist. Die S-Phase beginnt mit dem Einsetzen der DNS-Synthese und endet, wenn die Chromosomen vollständig verdoppelt vor-
38
39
Findet nacheinander immer wieder die gleiche Art von Prozeß statt, spricht m a n im Lichte dieser Tatsache statt v o n einem Prozeß v o n einem Zyklus. Die Bedingung dafür ist, daß die geordnete Abfolge v o n Ereignissen/Phasen sich so wiederholt, daß das Endstadium v o n Prozeßi unmittelbar als Ausgangsstadium für Prozeß? dienen kann. Z u r Erläuterung: „Stoffwechselwege" werden als „Ketten aufeinanderfolgender enzymatischer Reaktionen, die spezifische Produkte für den Bedarf eines Organismus liefern" ( V o e t / V o e t 2 1994, 417) definiert.
46
II Die Kategorie der Kontinuanten
liegen. Daran schließt sich die G2-Phase an, die mit dem Beginn der Kernteilung und damit der M-Phase endet.40 Als Phasen werden hier bestimmte zeitliche Abschnitte des Lebenslaufes einer Zelle (oder eines Prozesses) bezeichnet. Eine Phase ist das Produkt seiner Untergliederung der Zeit nach. Diese Produkte zeitlicher Einteilung werden - möglicherweise allzu verdinglichend - zeitliche Teile genannt. Daß der Lebenslauf bloß der Zeit nach eingeteilt wird, bedeutet, daß in der Gewinnung des allgemeinen Begriffs eines typischen zellulären Lebenslaufs nicht nur von der jeweiligen räumlichen Lokaüsation der Zellen, deren Lebensläufe die induktive Ausgangsbasis abgegeben haben, bzw. der Ereignisse, die den Grund für die Einteilung lieferten, abgesehen wird, sondern daß überhaupt von ihrer Räumlichkeit abstrahiert wird. Für die Verallgemeinerung zum Begriff eines in definierte Zeitabschnitte untergliederbaren Lebenslaufs ist schlicht nicht von Belang, welche dreidimensionalen Raum„stücke" die jeweiligen individuellen Zellen (zu welchen Zeitabschnitten an welchen Orten in der Welt) ausfüllten. Auf diesem abstraktiven Wege gelangt man zu Prozeßgestalten oder -typen, die man als „Zeitgestalten" auffassen kann. Insofern Phasen oder Stadien unter Abstraktion von der räumlichen Dimension als rein zeitliche Teile einer Geschichte oder eines Prozesses aufgefaßt werden, handelt es sich bei ihnen um Abstraktionen aus der Wirklichkeit. Nehmen wir nun aber an, wir verfolgten etwa das Leben einer individuellen Fibroblastenzelle in einer Zellkulturschale. Sagen wir, sie ist zu ti aus einer Zellteilung hervorgegangen und wächst nun, bis sie zu t2 mit der DNS-Synthese anfängt, die zu t3 abgeschlossen ist, woraufhin sie mit der Mitose beginnt und sich schließlich teilt, so daß sie zu U schließlich aufhört zu existieren.
40
Vgl. Alberts et al. 1990, 869. Der typische Lebenslauf einer Zelle bietet damit ein hervorragendes Beispiel für einen Prozeß, der - wie Broad es beschreibt — aus „zeitlichen Teilen" besteht, die ihrerseits „kürzere Prozesse" darstellen. Auch einzelne Phasen werden auf diese Weise weiter unterteilt: So wird die Kernteilung (Mitose), deren Beginn den Beginn der M-Phase markiert, ihrerseits als ein Prozeß aufgefaßt, der in insgesamt sechs Phasen untergliedert wird, die über bestimmte typische Ereignisse (wie Kondensation der Chromosomen, Zerfall der Kernhülle, Trennung der Schwesterchromatiden, Zerfall der Spindelmikrotubuli) abgegrenzt werden (vgl. ebd., 914 ff.).
11.3 Physische Gegenstände, Vorkommnisse und Kontinuanten
47
Auch hier sagen wir von der Phase der DNS-Replikation (d.h. der Phase, während der die DNA-Replikation erfolgt) ebenso wie von der Mitose-Phase, daß sie je einen zeitlichen Teil der Lebensgeschichte dieser Zelle bilden (wobei die Länge der Phase durch die Dauer der jeweiligen Prozesse, der DNA-Synthese und der Mitose, bestimmt ist). In diesem Fall, in dem wir von zeitlichen Teilen als von Abschnitten eines konkreten Lebenslaufs einer individuellen Zelle sprechen, darf die räumliche Dimension nicht vernachlässigt werden. Die betrachtete Fibroblastenzelle a existierte schließlich in Raum und Zeit: Ihr Leben dauerte von ti bis u, und während dieser Zeit befand sich die Zelle an einem bestimmten Ort im Raum. Die räumliche Lokalisation des Lebens dieser Zelle ergibt sich aus den Orten im Raum, an denen sich die Zelle während ihres Lebens befand. Auf diese Weise besitzt der physische Gegenstand, auf den die Bezeichnung „Leben(sgeschichte) der Zelle a" referiert, eine raum-zeitliche Ausdehnung und Lokalisation. Nun gehört zur Lebensgeschichte der Zelle α auch eine S-Phase, sie ist ein zeitlicher Teil davon. Als Teil einer konkreten Lebensgeschichte ist eine Phase ebenso vierdimensional ausgedehnt wie die Lebensgeschichte selbst, deren Teil sie ist: So wie die Lebensgeschichte an dem Ort im Raum lokalisiert ist, an dem sich die Zelle befindet, deren Geschichte sie ist, gilt dies auch für die S-Phase, die einen Abschnitt der Lebensgeschichte dieser Zelle bildet. In Wirklichkeit handelt es sich also bei konkreten „zeitlichen" Teilen um raum-zeitliche Teile vierdimensionaler Gegenstände. Mit anderen Worten: Sogenannte „zeitliche Teile" von physischen Gegenständen sind selber physische Gegenstände. 41 Zwischen ihnen besteht eine rein extensional bestimmbare Teil-Ganzes-Relation: Für jede materiegefüllte Raumzeitregion gilt, daß in ihr kleinere materiegefüllte Raumzeitregionen enthalten sind; und umgekehrt können wir von beliebigen dieser kleineren Regionen sagen, daß sie Teil der größeren sind. Zwischen der Behauptung, daß etwas Teil eines größeren Ganzen ist und der, daß etwas ein Teil eines größeren Ganzen ist, muß jedoch unterschieden wer-
41
Vgl. Heller 1984, 326.
48
II Die Kategorie der Kontinuanten
den: „To say that something is a part is to say that it is something which is part and has some further additional properties." 42 Zur Abgrenzung eines bestimmten Teils eines größeren physischen Gegenstandes bedarf es sortaler Begriffe. Im Falle, daß zeitliche Teile abgegrenzt werden sollen, verwenden wir hierfür Begriffe einzelner Ereignisse oder Prozesse (wie den der DNA-Synthese). Auch bestimmte, konkrete Phasen werden demnach über Ereignisse oder Prozesse abgegrenzt. Sind sie aber mit ihnen identisch? Warum nicht gleich die Ereignisse bzw. Prozesse als die „zeitlichen Teile" bezeichnen? Worin unterscheiden sich konkrete Phasen/Stadien von konkreten Ereignissen oder Prozessen, wenn es sich bei beiden um vierdimensionale Entitäten handelt? Dies zeigt sich, wenn man den raumzeitlichen Umfang von Phasen und den der Ereignisse oder Prozesse in Relation zum raumzeitlichen Umfang der gesamten Lebensdauer einer Zelle genau anschaut. Betrachten wir noch einmal die S-Phase, den Prozeß der DNS-Synthese, welcher zu ihrer Abgrenzung dient, sowie die Lebensgeschichte unserer Fibroblastenzelle. Oben hatten wir gesagt, daß die Lebensgeschichte dieser Zelle zu ti begann, daß die über den Prozeß der DNS-Synthese abgegrenzte S-Phase zu Vi anfing und zu t3 endete, und daß die Zelle sich zu U teilte. Nehmen wir ferner an, daß wir während dieser ganzen Zeitdauer kontinuierlich die Position dieser Zelle in Raum und Zeit durch Angabe bestimmter Koordinatenwerte bezeichnen könnten, etwa durch Mengen von Koordinatenquadrupeln. Dann läßt sich über die Natur der Teil-Ganzes-Relation, die zwischen dem als „S-Phase" bezeichneten zeitlichen Teil und dem als „Leben(sgeschichte) der Zelle a" bezeichneten vierdimensionalen Gegenstand Folgendes sagen: Die Lebensgeschichte der Zelle a hatte zum Zeitpunkt ti oder t3, zu Beginn und Ende der SPhase, bereits begonnen, war aber noch nicht komplett abgeschlossen; das heißt, das Intervall 112 - t3 I bildet einen echten Teil des Intervalls | ti - U \ . Die S-Phase ist nun nicht deswegen ein Teil des von ti bis u existierenden physischen Gegenstandes — der Lebensgeschichte der Zelle α - , weil sie zwischen t2 und t3 andere
42
Simons 1987, 235. Je nachdem, was für „further additional properties" hinzuk o m m e n , kann die Extensionalität der Teil-Ganzes-Relation verloren gehen.
11.3 Physische Gegenstände, Vorkommnisse und Kontinuanten
49
Koordinatenwerte aufwiese als dieser während der Dauer dieses Intervalls, sondern allein deshalb, weil für ihre Beschreibung von allen Koordinatenwerten, die jenen physischen Gegenstand bezeichnen, nur diejenigen berücksichtigt werden, die dessen Position zwischen den Zeitpunkten t2 und t3 angeben. In der mereologischen Begrifflichkeit von echten und unechten Teilen läßt sich dies so wiedergeben: 43 Phasen oder zeitliche Teile konkreter physischer Gegenstände sind zwar der Natur nach raum-zeitliche Teile, da sie ebenfalls über Mengen von Koordinaten-Quadrupeln bestimmbar sind. Doch gilt von solchen Abschnitten: nur in zeitlicher Hinsicht stellen sie echte Teile des physischen Gegenstandes dar, dessen Teil sie sind, in räumlicher Hinsicht sind sie jedoch unechte Teile. Mit anderen Worten, zu jedem Zeitpunkt sind die räumlichen Grenzen einer Phase eines vierdimensionalen physischen Gegenstandes identisch mit dessen räumlichen Grenzen zu diesem Zeitpunkt. Hier zeigt sich ein Unterschied zwischen den zeitlichen Teilen — den Phasen - und den Ereignissen oder Prozessen, die den Anlaß für die Einteilung in Phasen bieten: Die DNS-Synthese ist ein Prozeß, der sich im Zellkern, einem Zellkompartiment, abspielt. Um die Lokalisation des Zellkerns zu beschreiben, müßten wir in der Phase von t2 bis t3 eine andere Menge von Raumkoordinaten-Tripeln angeben als die, welche den von der ganzen Zelle erfüllten Raum beschreibt. Um die raumzeitliche Lokalisation des Prozesses ,DNS-Synthese der Zelle d zu beschreiben, müßten wir also nicht nur wie oben im Fall der Phase bloß eine Teilmenge der Koordinatenwerte angeben, sondern überdies auch andere Raumkoordinaten-Werte als die, welche den Ort der Zelle während dieser Zeit beschreiben. 44 Wenn wir den Prozeß der DNS-Syn-
43
44
Zur Erläuterung: ein echter Teil ist kleiner als das Ganze, ein unechter dagegen gleich groß wie das Ganze. Der Begriff des „unechten Teils" wird in der extensionalen Mereologie verwendet, um statt der „kleiner als"-Relation (x < y) die „kleiner-oder-gleich"-Relation (x < y) verwenden zu können, die „algebraically more convenient" (Simons 1987, 11) ist. Simons dazu weiter: „It is no minor question what this 'or equal' means. An essential characteristic of extensional mereology is that it mean 'or identical'" (ebd.). Ich lehne mich hierbei an Davidsons Vorschlag zu einer genaueren Lokalisation von Ereignissen an. Er hält die Annahme für irrig, „daß, sofern ein Ereignis eine
50
II Die Kategorie der Kontinuanten
these in dieser Weise lokalisieren, ergibt sich, daß dieser Prozeß ein seiner Natur nach raum-zeitücher Teil des physischen Gegenstandes (der Lebensgeschichte von a) ist, der sowohl zeitlich als auch räumlich ein echter Teil dieses physischen Gegenstandes ist. Die durch die DNS-Synthese gekennzeichnete Phase dagegen ist nicht in gleicher Weise räumlich beschränkt wie der Prozeß, der ihr den Namen gibt. Während Davidsons Vorschlag plausibel ist, den Ort eines Ereignisses zu begrenzen, indem man den kleinsten Teil der Substanz angibt, „in der eine Veränderung mit dem betreffenden Ereignis identisch ist", und dies sich auch auf Prozesse ausdehnen läßt, ergibt es keinen Sinn, auch die ,S-Phase' genannte Phase in gleicher Weise nur auf einen räumlichen Bestandteil der Zelle zu begrenzen. Obwohl die Phase nur über das Ereignis der DNS-Synthese überhaupt als eine Phase im Lebenslauf der Zelle unterschieden wurde, beziehen wir uns mit dem Ausdruck ,S-Phase' keineswegs bloß auf den Zellkern, sondern auf die Zelle als ganze, von der wir sagen, daß sie sich in dieser Phase ihres Lebenslaufs befindet.
3.3 Warum Kontinuanten keine zeitlichen Teile haben Von der Zelle als ganzer zu sprechen, bedeutet nicht dasselbe wie von ihrem kompletten, abgeschlossenen Lebenslauf zu sprechen. Die Behauptung, daß ein Kontinuant zu jedem Zeitpunkt „ganz" da sei, muß vor dem Hintergrund des Kontrastes zwischen Kontinuanten und Vorkommnissen verstanden werden. Es ist begrifflich unmöglich, daß eine teilbare oder als eingeteilt gedachte Entität in jedem ihrer Teilungsprodukte wiederum als ganze vorliegt. Wenn wir mithin einen Prozeß als eine Sequenz von Ereignissen und
Veränderung innerhalb einer Substanz darstellt, der gesamte Raum, der von der Substanz eingenommen wird, den Ort des Ereignisses bildet"; denn diese Annahme hätte letztlich zur Konsequenz, daß alle gleichzeitigen Ereignisse denselben Ort haben (nämlich das Universum). Diese Konsequenz läßt sich dagegen vermeiden, wenn man annimmt, daß ,,[d]er Ort des Ereignisses zu einem bestimmten Zeitpunkt [...] der Ort des kleinsten Teils der Substanz [ist], in der eine Veränderung mit dem betreffenden Ereignis identisch ist" (vgl. Davidson (1980) 1990, 251).
II. 3 Physische Gegenstände, Vorkommnisse und Kontinuanten
51
Zuständen begreifen, der über diese zeitlich in einzelne, begrenzte Phasen untergliedert ist, so können wir nicht zugleich behaupten, daß in jeder dieser Phasen der Prozeß schon als ganzer vorliege. Ein ganzer individueller Prozeß einer bestimmten Art Κ liegt erst dann vor, wenn tatsächlich alle und nicht bloß einige der Phasen abgelaufen sind, die einen Prozeß von diesem Typ ausmachen. Wir hatten indes oben am Beispiel der Zelle gesehen, daß die räumliche Ausdehnung jeder Phase einer Lebensgeschichte eines Kontinuanten (oder eines Prozesses) von der Gestalt des jeweils involvierten Kontinuanten bestimmt ist. Hierauf beruht letztlich die Berechtigung zu der Behauptung, daß ein Kontinuant wie eine Zelle auch dann „ganz vorliegt", wenn noch nicht seine ganze Lebensgeschichte vorliegt, d.h., wenn diese noch nicht beendet ist. Was durch die Quadrupel von Koordinatenwerten beschrieben wird und in vier Dimensionen ausgedehnt ist, ist der konkrete Lebenslauf eines Kontinuanten. So ist es zwar durchaus richtig, daß sich der zugleich mit der Gestalt beschriebene „unmittelbare Ort" 45 oder „Eigenbereich" 46 einer konkreten Zelle nur als Bestandteil unseres raumzeitlichen Systems ermitteln läßt. Doch ist es ebenso richtig, daß die räumlichen Grenzen des vierdimensionalen Gegenstandes nur dadurch bestimmt sind, daß sich eine bestimmte, abgrenzbare Materiekonfiguration von bestimmter räumlicher Gestalt über die Zeit hinweg durchhält, und daß es für deren Definition keine Abmessung irgendwelcher zeitlichen Distanzen braucht. Für diese sind allein bestimmte, synchron bestehende räumliche Relationen zwischen ihren materiellen Teilen charakteristisch. (Um die Beschreibung einer solchen typischen Gestalt zu gewinnen, muß von gewissen Gestaltveränderungen konkreter Kontinuanten sowie gewissen Gestaltunterschieden, die auch zwischen Kontinuanten einer Sorte zu finden sind, abstrahiert werden.) Mit den Begriffen für die einzelnen Arten von Kontinuanten bezeichnen wir solche bestimmte Arten von Materiekonfigurationen: sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie „nur ein Prinzip der
45 46
Aristoteles, Phys. IV, 4, 210b 34 - 211a 1. Plessner 1964, 200.
52
II Die Kaiegone der Kontinuanten
räumlichen Abgrenzung, kein Prinzip der zeitlichen Abgrenzung [enthalten]". 47 Ein Kontinuant wäre nicht ein Kontinuant der Art K, „wenn es nicht eine bestimmte Form und d. h. bestimmte Teile hätte". 48 Diese sind zu jedem beliebigen Zeitpunkt gleichzeitig mit der ganzen Gestalt da, die aus ihnen zusammengesetzt ist. Weil die Begriffe für Kontinuanten für bestimmte Materiekonfigurationen stehen, und diese Konfigurationen selber wiederum ohne Berücksichtigung der Zeitdimension beschrieben werden können, kann man prinzipiell zu jedem beliebigen Zeitpunkt fragen: „Existiert hier und jetzt etwas von der-und-der Gestalt?" Ob eine bestimmte Konfiguration vorliegt oder nicht, ist in jedem beliebigen Augenblick entscheidbar. Dabei können einzelnen, konkreten Kontinuanten Teile fehlen, die definitionsgemäß zu der Gestalt gehören, die sie als ein Kontinuant von der und der Sorte ausweist. Je nach Ausmaß des Mangels werden wir dem Einzelding entweder zubilligen, diese Gestalt noch zu exemplifizieren, obwohl ihm bestimmte Teile fehlen, oder aber sagen, daß sie hier gar nicht exemplifiziert ist, d.h. kein Kontinuant von diesem Typ vorliegt. Mit der These, daß Kontinuanten zu jedem Zeitpunkt ihrer Existenz „ganz" da sind, während dies auf Vorkommnisse nicht zutrifft, wird demnach auf folgenden Unterschied zwischen Vorkommnissen und Kontinuanten aufmerksam gemacht: Die Gestalt, die ein Kontinuant als eines von der-und-der Art definiert, kommt ihm zu jedem beliebigen Zeitpunkt zu, zu dem es existiert; wobei es zu jedem dieser Momente, zu denen die Gestalt vorliegt, lediglich eine empirische Frage ist, ob sie ganz vorliegt oder nur Teile von ihr vorliegen; während die Gestalt, die ein Vorkommnis als eines von der-und-der Art definiert, prinzipiell nicht zu jedem Moment der Dauer dieses Vorkommnisses schon in Gänze vorliegen kann, sondern erst, wenn es von Anfang bis Ende vorliegt. Dagegen kann mit der These, daß konkrete Kontinuanten „dreidimensionale" Gegenstände sind, die zu jedem Zeitpunkt ihrer Existenz „ganz" da sind, nicht gemeint sein, daß Kontinuanten rein räumliche Gebilde seien: dies würde sie zu abstrakten Gegenständen machen, wofür wir das Beispiel geometrischer 47 48
Tugendhat 1976, 454. Ebd.
II.3 Physische Gegenstände, Κorkommnisse und Kontinuanten
53
Körper haben. Lediglich bei den Begriffen von Kontinuanten handelt es sich um Abstraktionen: es sind dies Begriffe spezifischer räumlicher Gestalten, die unter Vernachlässigung der zeitlichen Dimension definierbar sind. Als einer Spezies von physischen Gegenständen hingegen ist es auch Kontinuanten wesentlich, in Raum und Zeit zu existieren. Wir können sie aber, ,,[w]enngleich es für materielle Gegenstände wesentlich ist, in der Zeit zu dauern, [...] als wesentlich räumliche Gegenstände insofern bezeichnen, als das Sortal, das sie konstituiert, keine zeitliche Abgrenzung vorschreibt, sie nur räumliche Teile haben". 49 Daß die Sortale für Kontinuanten die physischen Gegenstände, die unter sie fallen, räumlich bestimmt abgrenzen, jedoch die zeitlichen Grenzen dieser Gegenstände von sich aus indefinit belassen, scheint mir den vernünftigen Sinn der Aussagen wiederzugeben, daß Kontinuanten „dreidimensionale" Entitäten seien, die zu jedem Zeitpunkt „ganz" da sind: Kontinuanten sind physische Gegenstände, bei denen für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Art lediglich eine spezifische, allein mit räumlichen Termini beschreibbare Gestalt essentiell ist, nicht aber eine spezifische zeitliche Gestalt. Diese Unbestimmtheitsthese scheint auf den ersten Blick durchaus vereinbar mit der Auffassung, daß sich konkrete Kontinuanten — wenn uns denn daran läge - in zeitliche Abschnitte untergliedern ließen, obwohl der Inhalt solcher willkürlich gewählten Phasen — wie die willkürlich gewählten Phasen eines stetigen Prozesses — in vielen Fällen wohl nicht sehr unterschiedlich wäre; und daß wir lediglich wegen solcher Gleichförmigkeit darauf verzichten würden, eine zeitliche Untergliederung vorzunehmen. 50 Die These, daß Kontinuanten keine zeitlichen Teile besitzen, ist jedoch in einem stärkeren Sinne gemeint: Kontinuanten „not only happen to lack temporal parts: they lack them of metaphysical necessity. [...] [T]he concept of temporal part does and cannot apply to continuants." 51 Demzufolge ist es ein Kategorienfehler, von Lebewesen, Artefakten oder anderen Gegenständen in der Kategorie der Kontinuanten zu behaupten, daß sie in zeitliche Teile oder 49 50 51
Ebd., 454 f. Vgl. z.B. Seibt 1997, 177. Simons 1991, 143.
54
II Die Kategorie der Kontinuanten
Abschnitte einteilbar seien; vielmehr hieße dies, sie gerade nicht als Kontinuanten, sondern als Vorkommnisse aufzufassen. Mit der Annahme, daß Kontinuanten gleichwohl physische Gegenstände sind, läßt sich dies auf folgende Weise vereinbaren: Selbstverständlich „braucht" auch das Persistieren eines individuellen, konkreten Kontinuanten Zeit.52 So gibt es immer, wenn ein Kontinuant existiert, einen in vier Dimensionen ausgedehnten Gegenstand, der mit der Lebensgeschichte dieses Kontinuanten identisch ist. Was aber durch die Quadrupel von Koordinatenwerten beschrieben wird und in vier Dimensionen ausgedehnt ist, ist der konkrete Lebenslauf eines Kontinuanten. Es ist dieser Gegenstand, der in verschiedene zeitliche Teile, in Phasen oder Stadien, eingeteilt werden mag. Das Produkt dieser (Ein-)Teilung können jedoch immer nur Teile der Geschichte jenes Kontinuanten sein. Damit Kontinuanten zeitlich teilbar sein könnten, müßten sie sich entweder als identisch mit ihrer Geschichte oder in irgendeinem Sinne als „Teile", d.h. Produkte der Teilung ihrer Geschichte, verstehen lassen. Letzteres scheint ausgeschlossen: es gibt keinen Sinn von „Teil", in dem ein Kontinuant als ein Teil des vierdimensionalen Gegenstandes angesehen werden könnte, welcher seine Lebensgeschichte ist. (Zumindest wäre es eine abwegige Darstellung des Seins von Kontinuanten in der Zeit, wollte man die als räumliche Ganze definierten Kontinuanten, die sich zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten aufhalten können, als räumliche Teile des vierdimensionalen raumzeitlichen Gegenstandes bezeichnen, der ihre Lebensgeschichte ist.) Nimmt man gleichwohl an, daß das Persistieren eines Kontinuanten ein Vorkommnis ist, nicht aber das über eine spezifische räumliche Gestalt als eine Einheit definierte Kontinuant, dessen Weg durch Raum und Zeit es zu verfolgen gilt, so ist einleuchtend, daß nicht Kontinuanten sich in zeitliche Abschnitte einteilen lassen, sondern nur ihre Geschichten. Die Behauptung, daß sich konkrete Kontinuanten in zeitliche Abschnitte untergliedern ließen, beruht dagegen auf der Identifikation von Kontinuanten mit Vorkommnissen: mit Zuständen
52
S. etwa Seibt 1997, 163.
II. 3 Physische Gegenstände, Vorkommnisse und Kontinuanten
55
(oder gleichförmigen Prozessen). Diese Identifikation mag einerseits nahe liegen. Denn betrachtet man (rückblickend) die gesamte Existenzdauer eines individuellen Kontinuanten der Art K, so ist dieses gerade nicht über seine Raumzeit-Position von dem Vorkommnis unterscheidbar, dessen Dauer dadurch abgegrenzt ist, daß für diese Zeitspanne eine bestimmte Materieportion sich in der für Mitglieder der Art Κ essentiellen Konfiguration befand - d.h. seiner Lebensgeschichte. Dennoch muß einen diese raumzeitliche Ununterschiedenheit nicht hindern, die Situation ontologisch so zu interpretieren, daß sich hier zwei Einzeldinge verschiedener Kategorien zur selben Zeit am selben Ort befinden: eben ein Kontinuant und ein Vorkommnis. Entitäten verschiedener Kategorien „simply do not compete for room in the world"; 53 was nichts anderes bedeutet, als daß wir auf ein und dieselben RaumzeitRegionen sowohl Ausdrücke anwenden können, die Kontinuanten bezeichnen, als auch solche, die Vorkommnisse bezeichnen. Ich habe in diesem Abschnitt recht weit vorgegriffen, denn ich habe unter der Voraussetzung, daß der Begriff von Kontinuanten sinnvoll ist, erörtert, ob von Kontinuanten sinnvoll gesagt werden kann, daß sie in zeitliche Abschnitte einteilbar sind. Den wichtigsten Einwand, der von selten der Prozeßontologen gegenüber der Möglichkeit der Existenz von Kontinuanten erhoben wird, habe ich bislang jedoch noch gar nicht berührt. Dieser Einwand wird in der Literatur unter verschiedenen Namen als „PersistenzParadoxie" 54 , „the problem of change" 55 , „the 'aporia of change'" 56 oder „the problem of temporary intrinsics" 57 verhandelt. Während ich in Abschnitt II.3.1 die Begriffe von Enduranz und Perduranz lediglich zur Unterscheidung von Kontinuanten und Vorkommnissen eingeführt habe, dient dieser Einwand als Argument, die endurantistische Auffassung als unhaltbar aufzuweisen.
53 54 55 56 57
Wiggins 1980, 198; Longer Note 1.11. Siehe auch Simons 1987,211. Rapp 1995, 60 ff. Simons 1991, 131. Seibt 1997, 151. Lewis 1986, 203.
56
II Die Kategorie der Kontinuanten
4. Die Aporie der Veränderung 4.1 Der Einwand der Perdurantisten gegen die Möglichkeit persistierender, veränderlicher Gegenstände David Lewis beurteilt „the problem of temporary intrinsics" als ,,[t]he principal and decisive objection against endurance, as an account of the persistence of ordinary things". 1 Der Einwand, den Lewis hier anspricht, lautet genauer, daß die Annahme persistierender, d.h. kontinuierlich existierender und zugleich veränderlicher Dinge in Konflikt mit dem Leibnizschen Gesetz der Ununterscheidbarkeit des Identischen gerät. Die Einschätzung, daß das Problem der Veränderung einen Einwand gegen die Metaphysik von Aristoteles darstelle, ist einigermaßen überraschend in Anbetracht der Tatsache, daß Aristoteles, der Urvater des „Endurantismus", seine Analyse von Veränderung gerade als Lösung des schon von Parmenides aufgeworfenen Persistenz-Problems entworfen hat. 2 Im folgenden will ich versuchen, diesen Einwand zu entkräften. Dazu möchte ich als erstes zeigen, daß dieser Einwand nur aufgrund der Mehrdeutigkeit einer seiner Prämissen schlüssig erscheint. Wird die Ambiguität aufgelöst, erweist er sich hingegen als „question-begging" und taugt nicht mehr als Einwand gegen die (neo)aristotelische Position. Überdies läßt sich gegen den Perdurantismus einwenden, daß er als monistische Position auf eine paradoxe Beschreibung von Veränderung hinausläuft. Denn mit der Aufgabe der Idee eines veränderlichen, d.h. der Veränderung fähigen Substrats ist eine statische Konzeption von Veränderung verbunden. Daß die vierdimensionalistische Position in letzter Konsequenz den Begriff von Veränderung ad absurdum führt, ist ein guter Grund dafür, die aristotelische Auflösung der PersistenzParadoxie vorzuziehen — wenn der mit dieser Auflösung verbundene Essentialismus auf eine akzeptable sprachphilosophische
1 2
Lewis 1986, 203. Zu dieser Einschätzung, vgl. Code 1976, v. a. Section II, VI, VII & VIII; Rapp 1995, 60 ff.
77.4 Die Aporie der Veränderung
57
Grundlage gestellt wird. Denn sie erlaubt es, ein dynamisches Konzept von Veränderung beizubehalten. Was ist Veränderung? Wann eine Veränderung stattfindet, beantwortet in allgemeinster Form folgende, von Lombard „Cambridge Criterion of Change" (CCC) genannte Erläuterung: A c h a n g e occurs if and only if (i) there are distinct times, ti and t2, (ii) there is a proposition, S, and (iii) S is true at ti a n d false at t 2 . 3
Veränderung in der Welt zeigt sich darin, daß einst wahre Aussagen falsch werden (oder vice versa). Lombard beschreibt auch die ontischen Verpflichtungen, die eine solche Bestimmung von Veränderung mit sich führt: T h e C C C m a k e s a c o m m i t m e n t [...] to the existence of things that occur, changes. [...] T h e C C C does not, at least a p p a r e n d y , i m p l y that all c h a n g e s are changes in or of some object; it leaves o p e n the issue of 'subjectless' changes. [...] [TJhough the C C C implies that, if an object changes, a c h a n g e occurs, the C C C does not require that the c h a n g e be a c h a n g e in the object that changes. 4
Wenn man das Stattgefundenhaben einer Veränderung lediglich an das Wahr-bzw. Falschwerden bestimmter Aussagen bindet, ist damit nicht festgelegt, ob es sich bei diesen um solche über „subjektlose" Veränderungen oder Prozesse handelte oder um Aussagen über Veränderungen, die sich an, mit oder in Kontinuanten abgespielt haben. Ich lasse die Frage subjekdoser Veränderungen oder Prozesse einstweilen beiseite; 5 und betrachte nur den Fall,
3
4
5
Lombard 1986, 81; Variablenzeichen geändert zwecks Einheitlichkeit der Darstellung. Der Name stammt daher, daß dies die Erläuterung von Veränderung ist, die Russell und McTaggart vertreten haben (vgl. ebd., 250 (Fußnote 3 des Kap. IV.2)). Ebd., 81 f. Insbesondere die letzte Bestimmung - „the CCC does not require that the change be a change in the object that changes" - gibt wieder, was mit dem Namen „Cambridge change" verbunden wird (s. Geach 1969, 71). In der Literatur wird häufig zwischen „relationaler" und „echter" Veränderung unterschieden. Die Erfüllung des CCC ist nur notwendig, nicht hinreichend für „echte" Veränderung. „Subjekdos" werden die Veränderungen genannt, in deren Beschreibung nicht von einem in die Veränderung involvierten Subjekt die Rede ist. Wir pflegen in den Fällen, in denen eine Veränderung bzw. ein Prozeß so stetig verläuft wie das
58
II Die Kategorie der Kontinuanten
daß es sich bei der Aussage, die zu ti wahr und zu t2 falsch ist, um eine handelt, die einem Kontinuanten ein bestimmtes Attribut zuschreibt. Mit Blick auf solch eine Prädikation der Form ,x ist zu t F' läßt sich Veränderung nun so fassen: An object, χ, changes if and only if (i) there is a property, F, (ii) there is an object, x, (iii) there are distinct times, ti and t2, and (iv) χ is F at ti and fails to be F at t? (or vice versa).6
Ein Kontinuant (das Substrat der Veränderung), χ, hat sich genau dann geändert, wenn χ die Eigenschaft oder das Attribut F zu ti zukommt und zu t2 nicht (oder vice versa). Lombard nennt diese Erläuterung von Veränderung das „Ancient Criterion of Change" (ACC), denn die antiken Autoren verstanden die Frage, worin Veränderung besteht, als die Frage, wann sich etwas verändert oder geändert hat, und nicht als die Frage, wann eine Veränderung stattgefunden hat. Gleichwohl deckt das CCC auch Veränderung gemäß dem ACC ab. Denn schließlich wird immer wenn sich etwas ändert, eine zu ti gemachte wahre Aussage über χ — z.B. „x ist (gegenwärtig) F" — falsch. Zur Kennzeichnung des Zeitpunkts, zu dem χ F ist, werde ich im folgenden statt des indexikalischen Verweises ,ist (gegenwärtig)', dessen Adäquatheit an die Gleichzeitigkeit des Zeitpunktes des Vorkommens des in der Aussage festgestellten Zustandes von χ mit dem Zeitpunkt der Äußerung der Aussage gebunden ist, das allgemeine Zeitadverb „zu t" gebrauchen. Ein typisches Beispiel dafür, wie das Problem der Veränderung als Argument für eine perdurantistische Deutung alltäglicher Dinge und Lebewesen eingesetzt wird, ist folgende Argumentation von Mark Heller:
6
Fließen von Wasser in einem Fluß die Veränderung selber zu vergegenständlichen. Beispiele dafür sind: ein Fluß, eine Kerzenflamme oder ein Wirbelwind. Substratlos sind diese Veränderungen gleichwohl nicht. Zu diesem kann man durch Mikro-Analyse dieser Gegenstände gelangen. Z.B. ließe sich ein Fluß als Masse sich fortbewegender Wassermoleküle bezeichnen. In diesem Fall sind es also viele benachbarte Wassermoleküle, die gemeinsam einer Ortsveränderung unterworfen sind, die zusammen einen Fluß ausmachen. Lombard 1986, 80 f.; Variablenzeichen geändert zwecks Einheitlichkeit der Darstellung.
11.4 Die Aporie der Veränderung
59
The problem with survival through change can be illustrated by the fact that when I was young I was not bearded, but today I am bearded. Thus, Dr. Mark and little Markie differ in their properties. By the principle of the indiscernibility of identicals, therefore, Dr. Mark is not identical to little Markie. [...] In order to say truthfully that I have survived the growing of a beard, it must be that it is one and the same object that existed without a beard and now exists with a beard. And it is the identity of Markie with Dr. Mark in precisely this [...] sense that seems to conflict with the principle of the indiscernibility of identicals. One solution to this difficulty is to admit that objects have temporal parts. There is one thing, call it 'Heller', that has existed for a little over thirty four years [...]. Heller is composed of many temporal parts. Let us call one of the unbearded temporal parts, Heller's 1971 part, 'Markie', Heller's 1991 part, call it 'Dr. Mark', has a beard. To say that Heller has survived change is to say that he is composed of temporal parts with different properties. Markie is not identical to Dr. Mark, since they differ in their properties. But Heller is identical to Heller. It is Heller that changes, not his parts. 7
Hellers Argumentation kann auf folgende Weise rekonstruiert werden: Er hat sich verändert, insofern er, als er jung war (1971), keinen Bart hatte, 1991 aber bärtig ist. Das heißt, mit a = Mark Heller, F = bärtig, ti = 1971 und t2 = 1991: (1) (2) (3)
a ist zu ti nicht F. a ist zu t2 F. (1) und (2) implizieren, daß „a zu ti" und „a zu t2£' sich hinsichtlich einer Eigenschaft unterscheiden.
Aus (3) folgert Heller nun zusammen mit dem Leibnizschen Gesetz (4) (5)
7 8
( x )(y) [( χ — y) 3 (Φ)(Φχ = Φγ)]> daß a zu ti Φ a zu t2.8
Heller 1992, 696 f. (l)-(5) ist meine formale Wiedergabe der Persistenz-Paradoxie. Rapp (1995, 67) beschreibt sie so: „PI Was sich verändert hat, ist anders oder verschieden. P2 Was anders oder verschieden ist, ist nicht mehr identisch [oder: dasselbe], [Schluß:] Was sich verändert hat, ist nicht mehr identisch [oder: dasselbe]." Er stellt ebenfalls die Ambiguität in diesem Argument fest, die ihm den Anschein von Schlüssigkeit verleiht (vgl. ebd., 61 u. 67).
60
II Die Kategone der Kontinuanten
Heller verwendet als Bezeichnung für „a zu ti" den Namen Markie und als Bezeichnung für „a zu vi' den Namen Dr. Mark: (6) (7)
a zu ti = Markie a zu t2 = Dr. Mark
(5) behauptet, daß das von den Ausdrücken „a zu ti" oder „Markie" bezeichnete Einzelding nicht mit dem von den Ausdrücken „a zu t2££ oder „Dr. Mark" bezeichneten Einzelding identisch ist. Der endurantistischen These zufolge, daß das Substrat der Veränderung ein Konrinuant ist, das den Bartwuchs überdauert hat, müssen hingegen die Namen „Markie" und „Dr. Mark" so verstanden werden, daß wir uns mit ihnen beidesmal auf dasselbe Einzelding beziehen. Aufgrund der Transitivität der Identitätsrelation ergibt sich: (8)
a zu ti = Mark Heller (im Jahre 1971 ein bartloser Junge) (9) a zu t2 = Mark Heller (im Jahre 1991 ein bärtiger Erwachsener) (10) a zu ti = a zu t2; d.h. Markie = Dr. Mark. (a) Der erste Einwand der Vierdimensionalisten gegen die Annahme, daß sich die Ausdrücke „a zu tt" und „a zu t2ct auf dieselbe Entität beziehen, lautet: Wenn (10) wahr ist, wenn es sich demnach bei dem „Markie" genannten Individuum um dasselbe Einzelding handelt wie bei dem „Dr. Mark" genannten, dann impliziere dies, daß diesem Einzelding die Eigenschaft, bärtig zu sein, sowohl zu- als auch abgesprochen wird. Dies verstoße gegen den Satz vom Widerspruch.9 Entsprechend charakterisiert Lowe „the metaphysical problem of intrinsic change" als „the problem of how
9 10
Lediglich als (rhetorische) Frage formulieren die Persistenz-Paradoxie die Vierdimensionalisten Lewis (1986, 203 f.) oder Seibt (1997, 153): „How can I be said to be numerically identical through a change in qualities, if the characteristic axiom of numerical identity, Leibniz' Law, precisely precludes that identical items differ with respect to their qualities?" Dieser Einwand wird von Rea (1998, 242) auch „the argument from eternalism" genannt. Lowe 1988a, 76.
II.4 Die Aporie der Veränderung
61
there can exist objects such that we need to be able to say, without fear of contradicting ourselves, that one and the same such object may undergo a change from possessing one intrinsic property to possessing another, incompatible one."10 (b) Dieser Widerspruch, so wird hinzugefügt, dokumentiere sich darin, daß die These des Endurantisten, (10), der Behauptung (5) widerspricht, welche jedoch aus der Tatsache der Veränderung und dem Leibnizschen Gesetz der Ununterscheidbarkeit des Idenschen folge. 11 Es bestehe ein „basic conflict between the qualitative difference required in change and the qualitative non-difference required by numerical identity." 12 Wenn die Argumentation von (1) bis (5) stichhaltig ist, dann schließen Persistenz und Veränderung von Einzeldingen einander aus; und doch will der Endurantist gerade dies als vereinbar miteinander sehen. Daß Persistenz und Veränderung einander ausschließen, vertraten schon Parmenides und Heraklit (wobei sie unterschiedliche Konsequenzen daraus zogen). In aristotelischen Termini gesprochen heißt dies, daß jede Veränderung als eine substantielle Veränderung, d.h. ein Entstehen und Vergehen eines bestimmten Einzeldings anzusehen ist, während Aristoteles zwischen Entstehen und Vergehen {genesis kai phtora) und einer (qualitativen) Veränderung an einem Einzelding (alloidsis) differenzieren möchte.13 Die perdurantistische Position läuft ebenfalls darauf hinaus, diese Unterscheidung einzuziehen.
11
12 13
Das Leibnizsche Gesetz ist die Anwendung des Satzes vom Widerspruch auf Einzeldinge in der Kategorie der physischen Gegenstände (vgl. Coburn 1976, 173). Der Satz vom Widerspruch lautet bekanntlich: ,,[D]asselbe [kann] demselben und in derselben Beziehung [...] unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen" (Aristoteles, Met. 1005 b). Metasprachlich ausgedrückt, lautet das Leibnizsche Gesetz: Für alle singulären Termini χ und y: wenn der Terminus χ sich auf dasselbe Objekt bezieht wie der Terminus y, dann gilt für jedes beliebige (extensionale) Prädikat: Es trifft genau dann auf das Objekt zu, was der Terminus χ bezeichnet, wenn es auf das zutrifft, was der Terminus y bezeichnet. - Wäre der Nachsatz des Konditionals keine strikte Implikation, müßte man ja die Möglichkeit zugeben, daß ein und „demselben dasselbe sowohl zukommen als auch nicht zukommen kann". Seibt 1997,153. S. De Gen. Corr. I, 2, 317a 20-26; besonders aufschlußreich für unsere Diskussion ist das Beispiel eines gebildeten Menschen, der zu einem ungebildeten Menschen
62
II Die Kategorie der Kontinuanten
Heller löst die Persistenz-Paradoxie auf, indem er das „Markie" genannte, bardose Einzelding und das „Dr. Mark" genannte, bärtige Einzelding als numerisch verschieden voneinander auffaßt. Damit gibt es das Problem nicht mehr, daß ein und demselben Einzelding die Eigenschaft, bärtig zu sein, sowohl zu- als auch abgeschrieben würde. Beide Einzeldinge versteht er schließlich als verschiedene zeitliche Teile des insgesamt vierundreißig Jahre lang dauernden Individuums namens Mark Heller: 14 (11) (12) (13) (14)
Markie ist nicht bärtig. Dr. Mark ist bärtig. Markie Φ Dr. Mark Mark Heller = Markie + ... + Dr. Mark
Die perdurantistische Lösung für das Problem der Veränderung, die Heller hier präsentiert, resultiert in einer Auffassung von Veränderung die Endurantisten wie Lombard oder Simons im Gegensatz zum „substratum view" den „replacement view of change" nennen: What is change? There are two opposed views: the substratum view, which goes back to Aristotle, and the replacement view, which goes at least back to Hume. The substratum view is that change consists in an object (the substratum) first having one attribute, then another attribute contrary to the first. [...] According to the replacement view, change consists not in one thing's successively receiving contraries, but in different things having the contraries, these things being conceived as temporal parts or phases of a whole which is extended in time. 15
In meiner Rekonstruktion des Argumentationsgangs von Mark Heller habe ich mich mit der Kategorisierung der Einzeldinge oder des Einzeldings, auf die oder das in den Aussagen Bezug genommen wird, noch zurückgehalten. Simons macht jedoch deutlich, daß der „substratum view" und der „replacement view" die Subjekte, von denen die kontradiktorischen (oder konträren)
14 15
wird, in De Gen. Corr. I, 4, 319b 25-31, wo Aristoteles diese Veränderung einerseits als ein Werden des ungebildeten Menschen und ein Vergehen des gebildeten Menschen beschreibt, andererseits aber als eine Veränderung (atloißsis) in den Eigenschaften (pathos), die an einem Menschen stattfindet, der die Veränderung überdauert ( h j p o m e n e i ) . Für diese Lösung optiert auch Lewis 1986, 204. Simons 1991, 131.
11.4 Die Aporie der Veränderung
Eigenschaften prädiziert werden, ontologisch interpretieren:
63
unterschiedlich
T h e s u b s t r a t u m v i e w r e g a r d s the s u b j e c t s o f c h a n g e as o b j e c t s w h i c h , w h i l e t h e y persist i n time, are n o t e x t e n d e d in time, that is, d o n o t h a v e t e m p o r a l parts. S u c h o b j e c t s are continuants·, they endure o v e r time. T h e r e p l a c e m e n t v i e w takes the o b j e c t s o f w h i c h c h a n g e is p r e d i c a t e d to b e t e m p o r a l l y e x t e n d e d : they are occumnts a n d perdure o v e r time. 1 6
An der perdurantistischen Lösung ist hervorzuheben, daß der Gegenstand, von dem Veränderung prädiziert wird, nicht als das Substrat der Veränderung zu verstanden wird. Er wird vielmehr als ein vierdimensional erstrecktes Vorkommnis verstanden, das sich aus einer Reihe von zeitlichen Teilen — Anfangs- und Endzuständen oder -Stadien von Veränderungen — zusammensetzt.17 Diese Lösung läßt sich somit nur mit der Darstellung von Veränderung verbinden, die das ,Cambridge Criterion of Change' gibt.18 Wäre dies die einzig mögliche Art und Weise, auf die Aporie der Veränderung zu reagieren, dann käme dies einer Elimination der Kategorie der Kontinuanten aus der Ontologie gleich, denn dann hätte sich herausgestellt, daß die alltäglichen Dinge und Lebewesen, die ein Endurantist als Kontinuanten auffaßt, in Wirklichkeit als Vorkommnisse betrachtet werden müssen. Wie kann ein Endurantist, der sowohl Vorkommnisse als auch Kontinuanten in seiner Ontologie haben möchte, der Widersprüchlichkeit seiner Aussagen über Kontinuanten entgehen? Die erste endurantistische Reaktion besteht in dem Versuch einer Widerlegung dieser beiden Einwände, die im Zusammenhang mit der Aporie erhoben werden.
16 17
18
Ebd., 132. Vgl. II.3.1. Eine besonders klare Zusammenfassung dieser perdurantistischen Analyse von Veränderung findet sich bei Broad 1976, 297. Diese Theorie geht auf Carnap und Russell zurück. Insofern scheint es inkonsequent, wenn Heller oben ganz zuletzt davon spricht, daß der gesamte vierdimensionale Gegenstand namens Mark Heller sich verändere. Man kann von einem Eindimensionalen Gegenstand nicht noch einmal prädizieren, daß er sich verändere (vgl. II.3.1, S. 39 f.): ein solcher kann nur aus heterogen gefüllten Zeitabschnitten bestehen.
64
II Die Kategorie der Koniinuanien
(a) Zum ersten Einwand: Ein Endurantist kann mit einem Perdurantisten durchaus darin übereinstimmen, daß wir in der ontologischen Interpretation einfacher Prädikationen davon ausgehen sollten, daß Gegenstände ihre Eigenschaften simplidter besitzen, ohne irgendwelche weitere Qualifizierung. Ein Widerspruch entsteht aus dieser Prämisse nur in Verbindung mit der Auffassung, daß dies so erläutert werden müsse, daß ein Gegenstand eine Eigenschaft „tenselessly" oder immer besitzt, so daß man zu allen Zeiten mit der scheinbar unmodifizierten Aussage „a ist F" etwas Wahres sagt. Wenn man immer, d.h. zu allen beliebigen Zeitpunkten tn, mit der Aussage „a ist F" etwas Wahres sagte, dann implizierte dies, daß a immer (oder „tenselessly") F ist. Wenn das gleiche für die Aussage „a ist nicht F" gälte, erhielten wir den Widerspruch: a wäre immer (oder „tenselessly") F wie auch nicht F; und damit auch zu jedem beliebigen Zeitpunkt zugleich F und nicht F. Dagegen wenden die Endurantisten ein, daß es in Wirklichkeit nur einen bestimmten Zeitpunkt t gibt, zu dem man mit dem Satz „a ist F" etwas Wahres äußert. Das einzige, was man zu allen Zeitpunkten tn, d.h. immer, über a sagen kann, ist daher, daß α ψ t\ F ist. Es besteht aber kein Widerspruch zwischen den Aussagen, daß a zu ti F ist und zu t2 nicht, wenn ti Φ t2. Man kann immer, d.h. zu allen beliebigen Zeitpunkten tn, über a sagen, daß es zu ti F ist und zu t2 nicht, da dies im Gegensatz zu oben nicht impliziert, daß a zu irgendeinem Zeitpunkt gleichzeitig F und nicht F wäre. 19
19
Es gibt m.E. keine Möglichkeit, das in diesen attributiven Prädikationen verwendete Verbum (ob die Kopula oder ein starkes Verb) als „untensed" zu verstehen - die explizite Kennzeichnung des Zeitpunktes, zu dem a F ist, durch den allgemeinen, adverbialen Zusatz „zu t" macht eine Beachtung des Verbtempus keineswegs überflüssig. Genaugenommen ist selbst die obige Behauptung: „wenn wir zum Zeitpunkt ti mit der Aussage ,a ist (gegenwärtig) F' etwas Wahres sagen, dann sagen wir zu allen Zeiten mit der Aussage ,a ist zu ti F' etwas Wahres" nicht ganz korrekt: Denn sie besagt, daß a zu allen Zeiten oder immer zu ti F ist, was keine grammatisch wohlgeformte Aussage ist. Sie mag indes als eine abkürzende Zusammenfassung des folgenden Zusammenhangs hingehen: Zu allen späteren Zeitpunkten als ti lautet der Satz, mit dem wir dieselbe Aussage wie zu ti machen können, „a war zu ti F"; zu allen früheren Zeitpunkten als ti lautete er: „a wird zu ti F sein".
IIA Die Aporie der Veränderung
65
Wenn Lewis fragt: „When I sit, I'm bent, when I stand I'm straight. [...] What happens, must be possible. But how? Nothing can have the two incompatible shapes, bent and straight. How does having them at different times help?"; 20 so ist darauf zu entgegnen: die Berücksichtigung der unterschiedlichen Zeitpunkte hilft genau darum, weil damit vermieden wird, was der Einwand unterstellt, nämlich daß ein und demselben Gegenstand, a, die inkompatiblen Eigenschaften als ihm zu ein und demselben Zeitpunkt zukommend zugesprochen werden. Der Fall, daß die Aussagen „a ist zu ti F" und „a ist zu ti nicht F" immer wahr sind, darf nicht mit dem Fall verwechselt werden, daß zu irgendeinem Zeitpunkt (ob nun ti oder tj) die Aussagen „a ist F" und „a ist nicht F" gleichzeitig wahr sind. Auf das Beispiel von Mark Heller bezogen heißt dies: Zum Zeitpunkt ti (= 1971) hätten wir mit dem Satz (a) „Mark Heller ist (gegenwärtig) bartlos" und mit dem Satz (b') „Mark Heller wird 1991 bärtig sein" etwas Wahres gesagt; und zwischen diesen beiden Aussagen besteht kein Widerspruch. Mit dem Satz (b) „Mark Heller ist (gegenwärtig) bärtig" dagegen hätten wir 1971 schlicht etwas Falsches gesagt; während nur die Wahrheit dieser Aussage im Widerspruch zur Aussage (a) gestanden hätte. Zum Zeitpunkt h (= 1991) hätten wir mit dem Satz (a') „Mark Heller war 1971 bartlos" und mit dem Satz (b) „Mark Heller ist (gegenwärtig) bärtig" etwas Wahres gesagt; und wiederum besteht zwischen diesen beiden Aussagen kein Widerspruch. Dagegen hätten wir 1991 mit dem Satz (a) „Mark Heller ist (gegenwärtig) bartlos" schlicht etwas Falsches gesagt; während wiederum nur die Wahrheit dieser Aussage im Widerspruch zur Aussage (b) gestanden hätte. Dabei drükken wir mit den Sätzen (a) und (a') sowie (b) und (b') jeweils denselben Sachverhalt aus. Der angebliche Widerspruch läßt sich demnach nicht mehr formulieren, wenn man die zeitlichen Indizes der unterschiedlichen Prädikationen berücksichtigt und die Regeln des Gebrauchs indexikalischer Ausdrücke korrekt anwendet. Die Ontologie veränderlicher Kontinuanten läßt sich also konsistent aufrechterhal-
20
Lewis 1988, 65.
66
II Die Kategorie der Konünuanten
ten, wenn man bereit ist zuzugeben, daß „[tjypical predications about continuants, ascribing them an attribute (a property, or a relation to something else), are not semantically definite in truthvalue unless there is some reference to a time". 21 Eine vergleichbare Notwendigkeit zur Aufnahme eines zeitlichen Index in die Aussage besteht bei Prädikationen über die unveränderlichen Vorkommnisse und ihre zeitlichen Teile in der Tat nicht: Diese Prädikationen sind „not semantically indefinite: the phase or slice has its time of existence built into it, and [they are] thus true or false without need of further specification". 22 Dies betrachtet Quine als einen entscheidenden Vorteil der perdurantistischen Metaphysik gegenüber der endurantistischen: ,,[T]he fourdimensional view of space-time is part and parcel of the use of modern formal logic, and in particular the use of quantification theory, in application to temporal affairs." 23 Daß die prädikatenlogische Rekonstruktion unserer alltäglichen Rede von Dingen und Lebewesen erfordert, Prädikationen grundsätzlich mit zeitlichen Indizes zu versehen, ist sicherlich nicht im Sinne einer möglichst einfachen und klaren Quantifikationstheorie, deren Prädikationen zu allen Zeiten zutreffen oder falsch sein sollten, ohne weitere Modifikationen zu enthalten. Der Schwenk zu einer Prozeßontologie bietet hier einen einfachen Ausweg. Indem der zeitliche Index ins logische Subjekt der Prädikation verlagert wird - welches damit ontologisch als zur Kategorie der Vorkommnisse gehörend begriffen wird —, gewinnt man die Möglichkeit, attributive Aussagen zu generieren, die immer wahr sind (wenn sie einmal wahr sind), ohne eine Relativierung auf bestimmte Zeitpunkte enthalten zu müssen. 24 Doch ist dieser logische Vereinfachungsgewinn nur um den Preis einer Verzerrung der normalen Sprache zu haben, was entsprechend problematische ontische
21 22 23 24
Simons 1991, 132. Ebd. Quine 1972, 304. Allerdings sehe ich nicht, wie man sich durch diesen Schwenk der im Verbtempus enthaltenen, impliziten Kennzeichnung der Relation von Äußerungszeitpunkt zum Zeitpunkt des Bestehens des ausgesagten Sachverhaltes endedigen können sollte. Doch dieser Punkt betrifft genauso die Aussagen der Form „a ist zu t F". Zu letzteren s.o., Fußnote 19.
11.4 Die Aporie der Veränderung
67
Verpflichtungen mit sich bringt. Auf weitere kritische Punkte des Vierdimensionaüsmus werde ich im Anschluß an die Entkräftung der beiden Einwände gegen die endurantistische These noch zu sprechen kommen. Der zweite Schritt der endurantistischen Antwort besteht in einer Erläuterung dessen, wie diese zeitliche Relativierung ontologisch zu interpretieren ist. Lewis erwägt neben der perdurantistischen Lösung die Möglichkeit, von den Prädikaten zu behaupten, daß sie nicht für Eigenschaften von physischen Einzeldingen, sondern in Wirklichkeit für Relationen zwischen physischen Einzeldingen und Zeitpunkten stünden. 25 Aber ich stimme seiner Kritik zu, daß eine derartige Rekonstruktion unserer Art und Weise zu prädizieren völlig widerspricht: Wir meinen z.B., daß zwei Dingen genau dieselbe Farbe zukommen kann, auch wenn diese Dinge zu verschiedenen Zeiten existieren. Die endurantistische Lösung sieht den zeitlichen Index vielmehr im Verb der Aussage verankert. In der normalen Sprache ist es das in einem Satz verwendete Verb, das temporal modifiziert wird. Das allgemeine zeitliche Indexwort „zu t" wird demnach als adverbialer Index verstanden. Im Zentrum der ontologischen Interpretation der adverbialen Lösung steht die These, daß nicht die Eigenschaft, sondern das jeweilige Zukommen einer Eigenschaft zu einem Objekt dasjenige ist, was datiert gehört. 26 So sagt Haslanger: ,,[T]he primary instantiation of the property F by the object a need not be construed relationally [i.e. as related to a time], Lewis is bent by instantiating bentness, and this instantiation holds at some times and not at others." 27 Diese Beschreibung der Instantiierungsrelation ist mit der Auffassung vereinbar, daß
25 26 27
S. Lewis 1986, 204. S. Haslanger 1989, 120. Haslanger 1989, 122. Lewis hatte der adverbialen Lösung entgegengehalten, daß ,,[i]t puts the relationality not in the [properties] themselves but in the having of them: there is a three-place relation of instantiation holding between [objects, properties and times]" (Lewis 1988, 66, Fn. 1). Gegen diese Interpretation der adverbialen Lösung verwahren sich sowohl Haslanger (s.o.) als auch Lowe: „To say that the having (instantiating, exemplifying) of a [property] is related to a time is to say that the holding of a two place relation is related to a time, not that a three-place relation is involved, one of whose relata is a time" (Lowe 1988a, 74).
68
I] Die Kategorie der Kontinuanten
ein Kontinuant eine Eigenschaft simpliäter hat, wenn es sie denn hat. Haslanger faßt hier offenbar die Instantiation einer Eigenschaft durch ein individuelles Kontinuant als einen Sachverhalt auf, der „holds at some rime and not at others". Das Hauptproblem dieser ontologischen Deutung sehe ich darin, daß Sachverhalte wohl abstrakte Gegenstände sind, während das vorübergehende F-sein eines konkreten Einzeldings etwas Konkretes sein sollte. 28 Wenn wir sagen, daß einem Einzelding a zu t die Eigenschaft F zukommt, so beschreiben wir, wie a zu t beschaffen ist. Mit dieser Beschreibung umreißen wir daher vielmehr einen bestimmten Zustand, in dem sich a (bzw. die Materie von a) befindet. Daß einem Kontinuanten eine bestimmte Episode lang (u.a.) die Eigenschaft F zukommt, bestünde nach dieser Interpretation attributiver Prädikation darin, daß es sich während dieser Episode in einem bestimmten (komplexen) physischen Zustand befindet. 29 Das konkrete „datierte Einzelding" (Davidson), was mit dem F-sein von a bezeichnet wird, wäre ein Zustand. Jede Eigenschafts-Veränderung von a markierte das Ende dieses Zustandes und den Beginn eines neuen. Zustände sind Vorkommnisse, welche wie alle Vorkommnisse eine gewisse zeitliche Ausdehnung besitzen und eine fixe Position im raumzeitlichen System einnehmen. (b) Zum zweiten Einwand: Er lautete, daß die These des Endurantisten, (10), inkohärent ist, weil sie der Behauptung (5) widerspricht, die aus der Tatsache von Veränderung und dem Leibnizschen Gesetz folgt. Diesem Einwand wird von Seiten des Endurantisten entgegnet, daß die Argumentation von (1) und (2) zu (5) nicht stichhaltig ist, sondern daß der Anschein von Stichhaltigkeit durch eine Ambiguität der Bedeutung von „sich in einer Eigenschaft unterscheiden" entsteht. Wird diese Ambiguität aufgelöst, ist die Folgerung von (1) und (2) zu (3) blockiert, und damit auch die von (3) und (4) zu (5).30 Vor
28 29 30
Zu einigen weiteren Problemen einer Annahme von „tensed states of affairs" siehe Simons 1991, 136. Vgl. Lombard 1986, 104 und Simons 1991, 141. Vgl. Lombard 1994.
11.4 Die Aporie der Veränderung
69
allem ist umstritten, wie (3) zu interpretieren ist. So protestiert Lombard: [P]ointing out that the thing that has F at ti is qualitatively dissimilar from the one that fails to have F at t2 [...] involves a confusion that begs the question. The defender of enduring things will point out that the object that at ti had F and the one that at t2 failed to have F are, indeed, qualitatively alike in that the former lacked F at t2 and the latter had F at t].31
An dieser Erwiderung ist die objektspachüche Fassung unglücklich. Um an Klarheit zu gewinnen, muß sie metasprachlich gefaßt werden. Bezogen auf unser Beispiel von Mark Heller heißt dies: Um zu erweisen, daß die singulären Termini der Aussagen (1) und (2) nur ein Individuum verschiedentlich kennzeichnen, muß der Endurantist zeigen, daß zwischen dem Gegenstand, den der Name „Markie" bezeichnet, der zum Zeitpunkt ti nicht bärtig war, und dem Gegenstand, den der Name „Dr. Mark" bezeichnet, der zum Zeitpunkt t2 bärtig war, keine qualitative Differenz von der Art beteht, daß sie eine Identität des Referenzobjekts der Aussagen (1) und (2) unmöglich machte. Dies kann nur dann der Fall sein, wenn es auf den zu ti mit „Markie" bezeichneten Gegenstand ebenso zutrifft, daß er zum Zeitpunkt t2 bärtig war, wie auf den zu t2 mit „Dr. Mark" bezeichneten, daß er zum Zeitpunkt ti nicht bärtig war. Hierfür muß er allerdings als ein mindestens von ti bis t2 andauerndes Kontinuant begriffen werden. Lombard kritisiert darum an Hellers Argumentation, daß die Annahme einer identitätsgefährdenden qualitativen Verschiedenheit des „Markie" genannten Individuums von dem „Dr. Mark" genannten nur unter der Voraussetzung aufrechtzuerhalten ist, daß diese Namen zwei verschiedene Einzeldinge bezeichnen, die jeweils nur für die Dauer von ti bzw. t2 existieren. Wenn aber die Behauptung (3), daß Markie („a zu ti") und Dr. Mark („a zu t2") sich hinsichtlich einer Eigenschaft unterschieden, aus der dann die Konsequenz (5) gezogen wird, daß es sich um zwei verschiedene Einzeldinge handeln müsse, nur unter dieser Voraussetzung kor-
31
Lombard 1986, 107; Variablenzeichen teilweise geändert zwecks Einheitlichkeit der Darstellung u. meine Hervorhebung.
70
II Die Kategorie der Kontinuanten
rekt ist, dann ist diese Argumentation als ein Argument für den Vierdimensionalismus und gegen den Endurantismus zirkulär. Einem Endurantisten ist es hingegen nach dem unter (a) Gesagten durchaus möglich, von Mark Heller zu sagen, daß er die Eigenschaft, bärtig zu sein, 1991 (zu ti) besaß und 1971 (zu ti) nicht, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln. Denn zum einen muß beachtet werden, daß dem zu ti „Markie" und zu t2 „Dr. Mark" genannten Individuum die kontradiktorischen Eigenschaften (bärtig/bartlos) zu verschiedenen Zeitpunkten zugeschrieben werden. Dieser Punkt geht nicht über das hinaus, was als Entgegnung auf den ersten Einwand gesagt wurde. Hinzu kommt in diesen Fall, daß wir zwei verschiedene Namen haben, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten für die Referenz auf ein Individuum verwendet werden. Die Annahme, daß wir mit „Markie" und „Dr. Mark" nicht auf zwei verschiedene Individuen, sondern nur auf ein einziges, von ti bis t2 persistierendes Kontinuant Bezug nehmen, ist nur dann gerechtfertigt, wenn das zu t] „Markie" genannte Individuum von dem zu ti „Dr. Mark" genannten in folgendem Sinne qualitativ ununterschieden ist: What is required by indiscernibility is that [Markie] and [Dr. Mark] have the same properties at t\ and h. It is not required that [Dr. Mark] have at h the same properties that [Markie] had at t\. So it is irrelevant to indiscernibility that [Markie] was [not bearded] at t\ while [Dr. Mark] is [bearded] at t%. T o put it another way, what our theory says is that [Markie] and [Dr. Mark] are identical just if, at any given time, they have the same properties at that time?2
Das Leibnizsche Gesetz der UnUnterscheidbarkeit des Identischen fordert demzufolge weder, daß Dr. Mark zu ti dieselben Eigenschaften hat wie zu t2, noch daß Markie zu t2 dieselben Eigenschaften hat wie zu t]. Es fordert lediglich, daß das zu t2 „Dr. Mark" genannte Individuum ψ ti dieselben Eigenschaften hatte wie das zu ti „Markie" genannte zu diesem Zeitpunkt und daß das zu ti „Markie" genannte Individuum t2 dieselben Eigenschaften hat wie das zu ti „Dr. Mark" genannte zu diesem Zeitpunkt. Allgemein gesagt, es fordert lediglich:
32
Brody 1980, 22 f. Meine Hervorhebung, Beispiel geändert.
IIA DieAporie der Veränderung
(4)* (x)(y)(t) [(x = y) 3 (φ)(φιχ = φ,γ)],
71
mit φ£χ = χ ist zu t φ.
In Prosa: Für jeden Terminus χ und jeden Terminus y und jeden Zeitpunkt t, wenn der Terminus χ dieselbe Entität bezeichnet wie der Terminus y, dann gilt für jede Eigenschaft φ: die mit ,x' bezeichnete Entität ist zu t φ genau dann, wenn die mit ,y' bezeichnete Entität zu t φ ist; oder: die mit ,x' bezeichnete Entität ist zu t φ genau dann, wenn die mit ,y' bezeichnete Entität diesem Zeitpunkt auch φ ist. 33 Demzufolge gilt: Es wäre es nur dann unmöglich anzunehmen, daß die Namen „Markie" und „Dr. Mark" ein und dasselbe Individuum bezeichnen, welches kontinuierlich von 1971 bis 1991 lebte, wenn dasjenige Individuum, das 1971 „Markie" gerufen wurde und zu dem Zeitpunkt nicht bärtig war (d.h. „a zu ti"), auch 1991 nicht bärtig gewesen wäre, oder dasjenige Individuum, das 1991 „Dr. Mark" genannt wurde und zu dem Zeitpunkt bärtig war (d.h., „a zu t2u), auch 1971 bärtig gewesen wäre; denn in diesem Fall unterschieden sich die „Markie" und „Dr. Mark" genannten Individuen sowohl 1971 als auch 1991 qualitativ voneinander. 34 Die Identitätsaussage „Markie ist derselbe Mensch wie Dr. Mark" behauptet genau dies: daß es ein Individuum der Art
33
34
Erneut gebe ich hier das Leibnizsche Gesetz in metasprachlicher Fassung wieder. Gewöhnlich findet man es nur in objektsprachlicher Fassung formuliert. Vgl. z.B. Lombard 1994, 368, Satz (7): „For any object, χ, and any object, y, and any time, t, if χ = y, then for any property, F, χ has F at t if and only if y has F at t." Das Unglückliche an dieser Fassung ist, daß sie einen zwingt, von der Identität zweier Objekte miteinander zu sprechen; was logisch gesehen ein Unsinn ist (vgl. Wittgenstein (1922) 1984, 62; 5.5303). Seibt (1997, 160) wendet gegen das „temporally relativized reading of Leibniz' Law" (d.h. (4*)) ein: „Given the suggested temporal relativization, Leibniz' Law could no longer be treated as a principle of transtemporal identity adjudicating identity statements across times - it merely would serve to compare objects at any particular time. But when endurantists proclaim persistence as a relation of identity, they understand by persistence a comparison across times, not a comparison at times." Diesen Einwand halte ich nach den obigen Ausführungen für widerlegt, die zeigen, in welcher Weise das Leibnizsche Gesetz in der den Zeitindex der Prädikationen explizit machenden Form bei der Beurteilung von diachronen Identitätsurteilen eingesetzt wird. So trifft auch ihr Einwand nicht, daß ,,[a]s a defense of endurance, this strategy amounts to an outright ignoratio elenchi" (ebd.).
72
77 Die Kategorie der Kontinuanten
Mensch gibt, auf das sowohl zutrifft, daß es 1971 ein kleiner Junge war, der „Markie" gerufen wurde und der zu diesem Zeitpunkt nicht bärtig war, als auch, daß es 1991 ein Erwachsener war, der „Dr. Mark" genannt wurde und der zu diesem Zeitpunkt bärtig war. Wenn diese Aussage wahr ist, dann treffen auch alle übrigen Eigenschaften, die das Individuum besitzt, das Dr. Mark heißt, auf das Individuum zu, das Markie heißt (und umgekehrt), da ja dann mit diesen Namen nur ein Individuum in verschiedenen Stadien seiner Entwicklung bzw. Phasen seiner Lebensgeschichte benannt wurde. Auf die Wahrheit dieser Identitätsaussage stützt sich der Endurantist, wenn er behauptet, daß das Individuum vor der Veränderung identisch ist mit dem Individuum nach der Veränderung. Damit können wir nun darangehen, die Ambiguität in (3) (s. S. 59) aufzulösen. Daß der kleine Junge Markie sich von dem Erwachsenen Dr. Mark in (mindestens!) einer Eigenschaft unterscheidet, z.B. hinsichtlich des Bartbesitzes, kann der Endurantist dem Perdurantisten durchaus zugeben. D.h., er kann dem Perdurantisten in einem gewissen Sinne die Richtigkeit von (3) zubilligen. Die qualitative Verschiedenheit des „Markie" und des „Dr. Mark" genannten Individuums kann der Endurantist summarisch festhalten durch die Feststellung, daß mit dem Namen „Markie" ein bestimmter kleiner Junge, mit dem Namen „Dr. Mark" hingegen ein bestimmter Erwachsener bezeichnet wurde. Sie äußert sich entsprechend darin, daß weder das Sortal „Junge" noch das Sortal „Erwachsener" in das diachrone Identitätsurteil „Dr. Mark ist derselbe wie Markie" eingesetzt werden können, um dieses zu einer wahren Aussage zu komplettieren. Genausowenig taugen dafür die Beschreibungen „der Bartlose" bzw. „bartlose Mensch" (eine Kennzeichnung des „Markie" genannten Individuums) oder „der Bärtige" bzw. „bärtige Mensch" (eine Kennzeichnung des „Dr. Mark" genannten Individuums). Doch wenn dies die richtige Interpretation von Aussage (3) ist, dann folgt aus (3) nicht schon, daß es sich bei dem bartlosen Jungen namens Markie und bei dem bärtigen Erwachsenen namens Dr. Mark nicht auch um ein und dasselbe Individuum handeln könnte: Dies entspräche - im Rahmen der endurantistischen Position - nämlich der Behauptung, daß es überhaupt kein Sortal gibt, mit dem sich obige Identitätsaussage zu einer wahren Aussage komplettieren ließe.
IIA Die Aporie der Veränderung
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Dem wird der Endurantist entgegenhalten, daß es in unserem Falle sehr wohl ein solches gibt: Es handelt sich bei dem bartlosen Jungen Markie und dem bärtigen Erwachsenen Dr. Mark um ein und denselben konkreten Menschen. Um diese Aussage zu rechtfertigen, muß er jedoch erläutern können, welche Beziehungen zwischen dem Sortal ,Mensch' und den Sortalen Junge' und ,Erwachsener' sowie zwischen dem Sortal ,Mensch' und den Kennzeichnungen ,der Bartlose'/,der bärtige Mensch' und ,der Bärtige'/,der bärtige Mensch' es möglich machen, daß mit allen diesen Ausdrücken derselbe Mensch bezeichnet wird. Sortale Prädikate wie Junge' oder ,Erwachsener' stellen das natürliche endurantistische Pendant zu der perdurantistischen Interpretation von solchen formalen Bezeichnungen wie „a zu ti" und „a zu t2c' dar, bei denen grundsätzlich nicht klar ist, auf was für eine Kategorie von Entität sie referieren sollen. Wiggins hebt solche Sortale als „phased-sortals" von den eigentlichen „substance sortals" ab: Er unterscheidet „between sortal concepts that present-tensedly apply to an individual χ at every moment throughout x's existence, e.g. human being, and those that do not, e.g. boy [...]. It is the former [...] that give the priviledged and [...] the most fundamental kind of answer to the question 'what is x?'"35 Worauf wir mit solchen „phased-sortals" referieren, ist kategorial keineswegs unbestimmt: „[Phased-sortals] never denote [...] 'phases' of entities [...]. They denote the changeable changing continuants themselves, the things that are in these phases. [...] [U]nlike 'boyhood', 'boy' cannot denote any phase of a human being." 36 Gegen diese Unterscheidung könnte eingewandt werden, daß ja auch das Prädikat Junge' einem Jungen zu jedem Moment seiner Existenz im Präsens zuschreibbar ist; und daß dieser Junge vergeht, wenn aus ihm ein Erwachsener wird. Um auf diesen Einwand zu entgegnen, muß auf die begrifflichen Beziehungen zwischen dem Sortal Junge' und dem Sortal ,Mensch' hingewiesen werden, die Wiggins so erläutert:
35 36
Wiggins 1980, 24. Ebd., 26 f.
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II Die Kategone der Kontimanten
In the equivalence χ is a boy = χ is a male human being who has not at t reached maturity, we have the substance term 'human being', and two qualifications of it which determine proper subsets of the class of human beings. I have followed Geach in calling these qualifications 'restrictions' of the concept human being.37
Diese Definition von Junge' erläutert, welche Beschaffenheit eines Menschen in die Bezeichnung Junge' eingegangen ist: ein Junge ist ein männlicher Mensch, der noch jung oder „unreif ist. Das Bestehen dieser Äquivalenzbeziehung erlaubt uns den Übergang von der Prädikation „x ist ein Junge" zu der Prädikation „x ist ein Mensch". Zu jeder Zeit, zu der die Prädikation „x ist ein Junge" wahr ist, ist α fortiori auch die Prädikation „x ist ein Mensch" wahr; nicht aber umgekehrt. Insofern erweist sich ,Mensch' als der weniger restriktive, grundlegendere Begriff.38 Dementsprechend kann auf ein Kontinuant das Prädikat ,ist ein Mensch' noch zutreffen zu Zeiten, zu denen das Prädikat ,ist ein Junge' aufgehört hat, auf es zuzutreffen. Wenn mit der Verwendung des Prädikats Junge' gemäß der obigen Definition nichts anderes getan wird, als einen Menschen genauer zu charakterisieren, so gilt: Der auf diese Weise charakterisierte individuelle Mensch hört nicht auf zu existieren, wenn er aufhört, jung bzw. ein Junge zu sein. So verstanden, ist es falsch zu sagen, daß der Junge verginge, wenn er zu einem Erwachsenen wird. Vor diesem Hintergrund schlägt Wiggins einen Test dafür vor, ob ein Prädikat ein Substanzsortal ist oder nicht: „According to whether 'χ is no longer Ρ entails 'χ is no longer', the concept that the predicate stands for is [...] a substance concept."39 Das Prädikat Junge' scheidet nach diesem Test angesichts seiner Definition als Substanzsortal aus. Phasensortalen eine Besonderheit dar: Zwar gilt für alle Phasensortale, daß sie auf die Individuen einer bestimmten Art (wegen 37 38 39
Ebd., 25. Vgl. Burke 1994, 604: „One sortal restricts another sortal just in case it is necessarily true that anything that satisfies the first satisfies the second." Ebd., 64. Entsprechend Burke 1994, 604: „As customarily defined, a substance sortal is a sortal the satisfaction of which is essential to anything that satisfies it." Er vertritt jedoch eine schwächere These. Danach ist es nicht ausnahmslos für alle Entitäten, die ein gegebenes Substanzsortal erfüllen, essentiell, daß sie es erfüllen.
II.4 Die Aporie der Veränderung
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der restriktiveren Bedingungen der Zuschreibbarkeit, die sie setzen) nur während einer bestimmten Phase ihrer Existenz anwendbar sind und somit nur eine Untermenge von Exemplaren dieser Art herausgreifen: eben diejenigen, die sich in dem Zustand befinden, welcher in der Definition des Phasensortals aufgeführt wird. 40 Darüber hinaus zeichnen sich biologische Phasensortale wie ,Kind', Junge', ,Erwachsener' oder ,Welpe', ,Fohlen', ,Stute', ,Hengst', ,Kalb', ,Bulle' etc. - aber dadurch aus, daß sie Sortale sind, „which every member of the extension of the substance term that they restrict must in due course satisfy if only it lives so long." 41 Es ist eine Besonderheit unserer Sprache, daß wir für Lebewesen über solche Phasensortale verfügen. In sie ist unser Wissen eingegangen, daß Lebewesen im Laufe ihrer Existenz eine arttypische Entwicklung durchlaufen. Diese Besonderheit gibt immer wieder Anlaß zu Fragen, ob nun das über das eine Phasensortal herausgegriffene Individuum mit dem über ein anderes herausgegriffenen Individuum identisch ist oder nicht - besonders da, wo die Entwicklungsstadien qualitativ extrem verschieden sind, wie z.B. bei Fröschen oder bei Insekten, die eine Metamorphose durchlaufen. Solche Fragen entscheiden sich daran, ob wir für sie definitorische Beziehungen wie die obige akzeptieren oder nicht.
4.2 Einschub: Die aristotelische Individuenkonzeption als Antwort auf die Persistenz-Paradoxie Ich sagte oben, daß der Endurantist ebenfalls akzeptieren muß, daß die Kennzeichnungen ,der Bartlose'/,bartlose Mensch' und ,der Bärtige'/,bärtige Mensch' nicht zur Komplettierung der Iden40
41
Viele Kennzeichnungen sind zu Phasensortalen geronnen, die ein Individuum nur vorübergehend erfüllt. Beispiele dafür sind die Berufs-, Funktions- oder Standesbezeichnungen. Wiggins führt als weitere Beispiele die Prädikate „'conscript', 'alcoholic', 'captive', 'fugitive'" auf (1980, 27). Was alle diese zu Restriktionen des zugrundeliegenden Substanzsortais ,Mensch' macht, ist, daß sich in allen Fällen eine Aquivalenzbeziehung nach Art der oben für J u n g e ' formulierten anführen läßt, wodurch festgelegt ist, daß ihre Extension eine echte Teilmenge der Extension von ,Mensch' ist. Ebd., 27.
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II Die Kategorie der Kontinuanten
titätsaussage „Markie ist derselbe wie Dr. Mark" taugen; und dies, obwohl mit ,der Bartlose'/,bartlose Mensch' auf Markie und mit ,der Bärtige'/,bärtige Mensch' auf Dr. Mark Be2ug genommen werden kann. Um auch in in diesem Fall die Behauptung zu rechtfertigen, daß diese Beschreibungen ein und dasselbe Individuum kennzeichnen, muß er auch hier erläutern können, aufgrund welcher Beziehungen zwischen dem Sortal ,Mensch' und den Kennzeichnungen ,der Bartlose'/,der bartlose Mensch' und ,der Bärtige'/,der bärtige Mensch' dies möglich ist. Benutzen wir allein die Kennzeichnungen ,der Bartlose' und ,der Bärtige', um die Veränderung zu beschreiben, daß jemand sich einen Bart wachsen läßt, so führt dies geradewegs in die Persistenz-Paradoxie: Wenn wir sagen (1) „Dieser Bartlose ist zu diesem Bärtigen geworden", so stellt sich die Frage, welches hier der Referenzgegenstand von ,dieser Bartlose' sein soll; d.h. welches der Gegenstand sein soll, der ,dieser Bärtige' geworden ist. Es scheint, als könne es sich nicht um den Gegenstand handeln, den wir als ,diesen Bartlosen' bezeichneten, denn dann gälte: (2) „dieser Bartlose = dieser Bärtige"; und dies scheint ganz offenkundig gegen den Satz vom Widerspruch zu verstoßen. Der Kern der aristotelischen Lösung besteht darin zu sagen, daß das Referenzobjekt der Ausdrücke ,dieser Bartlose' und ,dieser Bärtige' weder ein Bartloser noch ein Bärtiger simpliciter ist (dann ergäbe sich der Widerspruch), sondern daß man sich diesen Referenzgegenstand in beiden Fällen als „etwas Zusammengesetztes"42 denken muß: Die Entität, die bärtig wird {ti ginomenon) - der Bartlose - ist ein bartloser Mensch, und die Entität, zu der sie wird {ti ho touto ginetai) - der Bärtige - ist ein bärtiger Mensch.43 Diese Analyse ermöglicht es grundsätzlich zu behaupten, daß jene beiden Ausdrücke in Wirklichkeit auf „ein Drittes"44 referieren, nämlich auf einen Menschen, der einmal bartlos ist und einmal bärtig, welcher als der kontinuierliche Träger dieser beiden wechselnden, einander entgegengesetzten Eigenschaften anzusehen ist. Der Bartlose und der Bärtige sind danach nur insofern „derselbe" 42 43 44
Physik, 1,7, 190b 11. S. Pbjs., I, 7, 190b 11-12; vgl. auch 190a 14-16; 190b 24-25. Vgl. Phjs. I, 6, 189b 1; Met. XII, 1/2, 1069b 3-9.
II.4 Die Aporie der Veränderung
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Gegenstand zu nennen, als das Prädikat, bartlos zu sein, und das Prädikat, bärtig zu sein, (zu verschiedenen Zeitpunkten) auf ein und denselben Menschen zutreffen. 45 Diese Analyse führt auf das bekannte triadische Modell der Veränderung, in dem Aristoteles zwischen den zwei Bestimmungen, die während einer Veränderung wechseln (d.h. aufhören und anfangen zuzutreffen) und einem (in unserem Beispiel über ein drittes Prädikat bestimmten) Zugrundeliegenden differenziert, an dem dieser Wechsel stattfindet. 46 Dieses Modell stellt Aristoteles' Antwort auf die PersistenzParadoxie dar. Um zu sehen, warum Aristoteles meint, in dieser Weise vorgehen zu können, muß seine Konzeption von Individualität hinzugezogen werden. Denn ein Perdurantist würde zwar sicherlich den Schritt mitgehen, daß es sich bei dem Referenzobjekt nicht einfach um „einen Bartlosen" und „einen Bärtigen" handelt, sondern um einen bartlosen Menschen und einen bärtigen Menschen, d.h. daß das Referenzobjekt eines ist, auf das mehrere Prädikate (gleichzeitig) zutreffen. Aber er würde angesichts einer Veränderung, die wir mit dem Satz „Aus einem bartlosen Menschen wird ein bärtiger Mensch" oder dem Satz „Ein bartloser Mensch wird zu einem bärtigen Menschen" beschreiben, den Umstand, daß das Prädikat ,bartlos' nur auf den bartlosen Menschen vor der Veränderung und das Prädikat ,bärtig' nur auf den bärtigen Menschen 45
46
Aristoteles' Ausdruck dafür ist, daß der Bartlose und der Bärtige nur „akzidentellerweise identisch" (tauta kata symbebekos, Met. 1017b 27) sind. Vgl. Met. V, 9, 1017b 27-33. Aristoteles' These lautet genauer, daß es in jeder Veränderung (metabole) zwei einander entgegensetzte Bestimmungen gibt, die das bezeichnen, was in ihr nicht beharrt, sowie eine Bestimmung, die das bezeichnet, was beharrt bzw. ihr zugrunde liegt. Die ersten beiden Bestimmungen bezeichnen (akzidentelle) Eigenschaften des von der letzteren Bestimmung Bezeichneten. Alsdann verfährt er zweistufig: In diesem Modell kann einmal die Materie (hyle) die Rolle des Substrats einnehmen, dann übernehmen ein „antikeimenon" wie ,Ungestaltetheit', ,Formlosigkeit', ,Ungeordnetheit' (Phys. I, 7, 190b 14-16) und ein eidos bzw. eine ousia, d.h. ein Substanzsortal, die Rolle der entgegengesetzten Bestimmungen. Im zweiten Fall (zu dem unser Beispiel gehört) nimmt ein durch eine ousia bestimmtes, konkretes materielles Einzelding die Rolle des Substrats ein, und die Rolle der wechselnden Bestimmungen wird durch „enantia", Paare konträrer Prädikate wie ,gesund-krank' (Met. VII, 1033a 10-13) oder kontradiktorischer Prädikate wie ,ungebildet-gebildet' (oder eben ^ardos-bärtig 1 ) ausgefüllt.
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II Die Kategorie der Kontinuanten
nach der Veränderung zutrifft, während das Prädikat ,Mensch' sowohl vor als auch nach der Veränderung zutrifft, nicht so bewerten, daß der Mensch persistiert hat. Vielmehr würde er bestreiten, daß es dasselbe Einzelding ist, auf das das Prädikat ,Mensch' beide Male zutrifft, und stattdessen sagen, daß das Einzelding, worauf es nach der Veränderung (beim zweiten Mal) zutrifft, ein anderes Einzelding ist als dasjenige, worauf es vor der Veränderung (beim ersten Mal) zutraf. Warum vertritt Aristoteles trotzdem, daß es nur ein (und damit: dasselbe) Individuum ist, auf das sich das Prädikat ,Mensch' vor und nach der Veränderung bezieht? An diesem Punkt kommt seine Konzeption von Individualität zum Tragen, die durch folgende Annahmen gekennzeichnet ist: 1. Es ist sinnlos, von Einzeldingen zu sprechen, wenn nicht explizit gesagt wird oder implizit vorausgesetzt ist, daß diese Exemplare bestimmter Arten sind. Einzeldinge gibt es nur als Exemplare bestimmter Arten. 2. Zwar stellen alle Prädikate einen Sortierungsgesichtspunkt dar, aber nicht alle bezeichnen Eigenschaften, die eine Art von Einzeldingen fesdegen, sondern manche bezeichnen nur Eigenschaften von so bestimmten Einzeldingen. 47 3. Nach (1.) besitzt jedes Einzelding notwendigerweise eine Eigenschaft: diejenige, die bestimmt, was für eine Art von Einzelding es ist. Diese ist die ousia des Einzeldings. 48 Als 47
48
Siehe Kategorien, 3b 18-21. Ein Test darauf, zu welcher der Gruppen ein Prädikat gehört, findet sich ebd., 2a 19-24: Ein Art- oder Substanz-Prädikat zeichnet sich dadurch aus, daß sowohl es als auch seine Definition vom jeweiligen (grammatischen) Subjekt der Aussage prädiziert werden kann, während letzteres bei einem Quaütäts- oder Akzidens-Prädikat nicht möglich ist. Dieser Essentialismus darf nicht mit der These verwechselt werden, daß es „individuelle Essenzen" im Sinne einer „Socrateitas" oder anderer haecceitates gebe, die nur einem Einzelding allein zukommen. Vgl. Furth 1988, 235: „There are [...] [two things with three tides] to deal with here; (1) Man, which is what gets the definition, (2) the essence of Man, which is what the definition formulates, (3) Socrates the individual man, who is not definable but who must satisfy the definition that (1) gets, whatever that is (on pain of perishing, indeed). In [Met. VII], 4 and 6, and frequently elsewhere, Aristotle uses the expression „essence of X" [...] both for a relation between (2) and (1), andfor a relation between (2) and (3). [...] [I]t is clear that they are not the same [relation]. For (1) and (2) [...] stand in the relation of a speafic kind to itself as defmitionally analysed. Whereas, the relation of (2) to
II.4 Die Aporie der Veränderung
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Exemplar einer bestimmten Art Κ besitzt ein individuelles Κ einige seiner Eigenschaften notwendigerweise, andere dagegen nur kontingenterweise: Es besitzt alle diejenigen Eigenschaften notwendigerweise, die im Definiens des Wesens (dem „// en einaz") dieser Art von Individuum aufgeführt sind, durch das die Frage beantwortet wird, was es heißt, ein Individuum der Art Κ zu sein. Alle übrigen besitzt es kontingenterweise. 4. Der Verlust einer Eigenschaft, die ein individuelles Κ nur kontingenterweise besitzt, bedeutet nicht, daß dieses Individuum vergeht: es bleibt als diese individuelle Instanz der Art Κ bestehen. Hingegen besiegelt der Verlust einer Eigenschaft, die ein individuelles Κ notwendigerweise besitzt, das Schicksal dieses Individuums: dieses individuelle Exemplar der Art Κ hört damit zu existieren auf (und ein individuelles Exemplar einer anderen Art fängt zu existieren an). 49 Diese Konzeption ermöglicht es Aristoteles, die Konsequenzen aus bestimmten Arten von definiten Kennzeichnungen eines Individuums α zugunsten anderer zu depotenzieren: 50 Erstens präsupponiert danach eine definite Beschreibung eines Individuums mittels eines Eigenschaftsprädikats wie ,bartlos' oder ,bärtig', daß dieses so gekennzeichnete Individuum (wenn auch mögücher-
49
50
(3) certainly is not identity." Er schlägt vor, „(2) constitutes (3)" zu sagen, und umgekehrt: (3) „exemplifies" oder „is a specimen o f (2) (ebd., 199). Zur Geschichte der Fehlinterpretationen, zu der Aristoteles' ambige Verwendung des Ausdrucks „essence of X" Anlaß gegeben hat, siehe ebd., 235 f., Fußnote 18. Zur Interpretation des ti en einai, vgl. Rapp 1995, 320 ff. Den mit diesen Aussagen einhergehenden Essentialismus bezeichnet Nortmann als „Individual-Essentialismus": „Vertreter irgendeiner Ausformung des Individual-Essentialismus möchten von kennzeichnungsinvariant vorliegenden, notwendigen Eigenschaften von Individuen, kurz: von de re-Notwendigkeit sprechen [...]. Sie möchten beispielsweise Aussagen des Inhalts vertreten können, daß ein Individuum α, verlöre es die Eigenschaft F, zu existieren aufhörte" (Nortmann 2001, 8). Ich kann hier nicht versuchen, diesen aristotelischen Essentialismus gegen die (vor allem von Quine geprägte) Modalitätsskepsis zu rechtfertigen; und verweise für einen solchen Versuch einer „Quine-festen" Etablierung des Essentialismus auf die zitierte Arbeit von Nortmann. Vgl. Quine 1979, 147.
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II Die Kategorie der Kontinuanten
weise nur implizit) bereits als Exemplar irgendeiner Art von Einzeldingen bestimmt worden ist. In unserem Fall wird diese Bestimmung von dem Sortal,Mensch' geleistet, und Beschreibungen wie ,der Bartlose' oder ,der Bärtige' verhalten sich parasitär dazu. Zweitens bildet weder die Bestimmung, bärtig zu sein, noch die, bartlos zu sein, einen Teil der Definition von Menschsein. Es ist lediglich kontingent, ob Menschen bärtig oder bartlos sind. Gehörte hingegen etwa die Bestimmung, bartlos zu sein, zur Definition des Menschseins, wäre es nicht bloß kontingent, daß die Prädikate ,ist bartlos' und ,ist ein Mensch' in unserem Beispiel auf dasselbe konkrete Individuum zutreffen, sondern dann müßte, wann immer das Prädikat ,ist ein Mensch' zutrifft, auch das Prädikat ,ist bartlos' zutreffen. So aber ist es zwar richtig, daß jeder Mensch entweder bärtig oder bartlos ist, aber ob er dies nun ist oder nicht, ist dafür, ob er ein Mensch ist oder nicht, ohne Belang. Da es dafür irrelevant ist, bemißt sich auch die Persistenz eines individuellen Menschen nicht daran, ob dieser nun das Prädikat ,ist bartlos' gerade erfüllt oder nicht. Die Erfüllung oder NichtErfüllung dieses Prädikats tut in der Beurteilung, ob dieser Mensch persistiert hat oder nicht, nichts zur Sache. Demgemäß erwidert Haslanger auf die Forderung von Lewis „to describe the enduring subject of predication in a way which captures how it is throughout its existence" zwar als erstes, daß ,,[t]he endurance theorist is likely to claim that such a description will involve a characterization of it as having different properties at different times."51 Aber auf die weiterhin gestellte Frage, „how it is, abstracted from its changing history, i.e. abstracted from its variation from time to time", lautet ihre nächste Erwiderung, daß „a description of the enduring object which abstracts from its changing history [...] is incomplete":52 Diese Beschreibung muß ohne die temporären Eigenschaften auskommen. Wenn Lewis eine Beschreibung fordere, „how the enduring object is, once and for all", so sei dies nicht möglich, wenn einige seiner Eigenschaften „temporary intrinsics" sind (außer im Sinne der zuerst genannten 51 52
Haslanger 1989, 124. Ebd.; meine Hervorhebung.
II.4 Die Aporie der Veränderung
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Antwort). Aber darauf reagiert der Endurantist, indem er „denies that the description which characterizes the object 'timelessly' is the description which captures all of the intrinsic properties of the object." 53 Die vom Endurantisten vorgenommene Abstraktion besteht eben darin, daß nur ganz bestimmte der (intrinsischen) Eigenschaften eines Einzeldings als relevant für das Urteil über dessen Persistenz erachtet werden (und weder ausnahmslos alle noch gar keine); und zwar diejenigen, die im Definiens des Wesens der Art angeführt werden, zu der das jeweilige Einzelding gehört (m.a.W. die essentiellen Eigenschaften dieses Einzeldings). Wenn aber die Bestimmung ,ist bartlos' gar nicht zum Definiens des Wesens der Art ,Mensch' gehört, in deren Extension dieser konkrete Mensch, Mark Heller, fällt, dann führt ein Wechsel im Zutreffen dieser Bestimmung auf diesen Menschen nicht dazu, daß das Individuum, das nach der Veränderung existiert, als ein Individuum von einer anderen Art betrachtet werden müßte als das Individuum, das vor der Veränderung existiert. Doch nur in diesem Falle müßte die Veränderung von Aristoteles als Vergehen dieses individuellen Menschen (und das Entstehen eines anderen, d.h. numerisch verschiedenen Individuums) beschrieben werden. So aber kann Aristoteles sagen, daß der Wechsel des Zutreffens der Bestimmung ,ist bartlos' auf den individuellen Menschen Mark Heller für diesen nur eine Veränderung in einer von seinen akzidentellen Eigenschaften (alloiösis) bedeutet; d.h. daß er nur bedeutet, daß dieser Mensch sich verändert. So löst Aristoteles die Persistenz-Paradoxie auf, indem er als Vermittlung zweier Extrempositionen (s.u.) geltend macht, daß in einer solchen Veränderung etwas zugrunde liegt, das der bleibende Träger der wechselnden Bestimmungen ist. In dieser Auflösung erfüllt „der veränderliche Gegenstand [...] einerseits die Forderung nach Unveränderlichkeit, insofern er unter eine spezifische Einheit fällt, er ist jedoch andererseits als individuelle (numerisch eine) Instanz dieser spezifischen Einheit kontinuierlicher Träger anderer, wechselnder Bestimmungen". 54
53 54
Ebd.; meine Hervorhebung. Rapp 1995, 128. Vgl. auch Gill 1993, 381.
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II Die Kategorie der Kontinuanten
Vor diesem Hintergrund erscheint der Perdurantist als jemand, der das zusammengeset2te Prädikat ,bärtiger Mensch' oder bartloser Mensch' als eines ansieht, daß in der gleichen Weise eine Art von Individuen festlegt wie das Prädikat ,Mensch', da er die (ursprünglich von Aristoteles vorgeschlagene) Differenzierung der Prädikate in Sortale und solche Prädikate ablehnt, die den so bestimmten Individuen weitere Eigenschaften attribuieren. Die letzteren könnten dann nämlich nicht zur Definition weiterer, neuer Arten von Individuen herangezogen werden, sondern dienten lediglich noch zum Zusammengruppieren von Individuen bereits bestimmter Arten. Wer keine Essenzen oder grundlegenden Substanzsortale auszeichnet (deren Extension Individuen sind, welche im Folgenden als die Subjekte weiterer Prädikationen fungieren), kann nicht in der gleichen Weise wie Aristoteles mit den Eigenschaften verfahren, die ein konkretes Individuum besitzt. Das Resultat ist entweder eine Art „Super-Essentialismus", demzufolge alle Eigenschaften, die ein Individuum besitzt, essentiell für es sind, welches folglich keine einzige seiner Eigenschaften verlieren könnte, ohne aufzuhören zu existieren: „the ultimate in [this] direction, placing substantial significance in to-us-trifling changes [...] is Heraclitus as cartooned by Plato and the Cratylan tradition ( j w object ever is the same for even a millisecond')." 55 Dieser „Super-Essentialismus" führt dazu, daß das Universum von Unmengen verschiedener Arten von Individuen bevölkert wird, bis zu dem Extrem, das jedes einzelne Individuum seine eigene Art bildet. Oder das Resultat ist ein gänzlicher Anti-Essentialismus, demzufolge keine der Eigenschaften, die ein Individuum besitzt, essentielle für es sind, sondern alle nur akzidentelle Eigenschaften wären, so daß es also jede beliebige dieser Eigenschaften verlieren könnte, ohne daß dies seine Persistenz gefährdete: „the extreme in the [other] direction [...], consigning to-us-drastic changes to the accidental [...], is Parmenides [...] ('no object ever comes into or goes out of existence')." 56 Dieser Anti-Essentialismus führt im Extrem dazu, nur ein einziges Seiendes anzunehmen.
55 56
Furth 1988, 204. Ebd.
11.4 Die Aporie der Veränderung
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Die Auffassung des Perdurantisten, daß einem konkreten physischen Gegenstand keine der Eigenschaften fehlen darf, die er de facto besitzt, ohne daß dies bedeutete, daß ein anderer Gegenstand als der vorliegende vorläge, führt diachron interpretiert dazu, daß der Perdurantist wie jemand erscheint, der (wie Heraklit) jede Veränderung als „substantial change", d.h. als Entstehen eines und Vergehen eines anderen Individuums fassen muß, da er die aristotelische Differenzierung der Prädikate und den damit verbundenen Individual-Essentialismus ablehnt. Daß einem konkreten Gegenstand keine der Eigenschaften fehlen darf, die er de facto besitzt, ohne daß ein anderer Gegenstand als der vorliegende vorläge, bedeutet dann nämlich, daß jeder beliebige Wechsel im Zutreffen eines Prädikats eine zeitliche Grenze markiert, die zwei verschiedenartige Individuen voneinander trennt - und dies ist ja auch genau die Position des Perdurantisten in der Debatte um die Aporie der Veränderung. Wenn die einem physischen Gegenstand zukommenden Eigenschaften nicht in essentielle und akzidentelle differenziert werden, dann beinhaltet das diachrone „Nicht-Beharren" einer einzigen, beliebigen Eigenschaft bereits das Ende des (unter anderem) durch sie gekennzeichneten physischen Gegenstandes. Wenn jedoch die Aussage, daß einem konkreten physischen Gegenstand keine der Eigenschaften fehlen könnte, die er de facto besitzt, ohne daß dies bedeutete, daß ein anderer als der de facto vorliegende physische Gegenstand vorläge, bedeuten soll, daß ihm zu jedem Moment (seiner Existenz) keine der Eigenschaften fehlen dürfte, die er de facto zu diesem Moment besitzt, ohne daß ein anderer als der vorliegende physische Gegenstand vorläge, so sollte über diese Aussage überhaupt keine Differenz zwischen dem Endurantisten und dem Perdurantisten bestehen. Genau dies aber ist die Aussage, die mit (4)*, der die Zeitindizes der Prädikationen explizit machenden Formulierung des Leibnizschen Gesetzes, ausgedrückt wird.
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II Die Kategorie der Kontinuanten
4.3 Die Unterstellung von Identität Kommen wir noch einmal auf die obige Auflösung der Ambiguität von (3) (s. S. 64 ff.) zurück: Wenn sich Markie und Dr. Mark in dem Sinne voneinander in einer Eigenschaft unterschieden, den (4)* artikuliert (wäre etwa der „Markie" genannte Junge zu dem Zeitpunkt nicht bärtig, zu dem der „Dr. Mark" genannte Erwachsene bärtig ist; oder gäbe es gleichzeitig einen Jungen namens Markie und einen Erwachsenen namens Dr. Mark), dann müßten sie in der Tat als numerisch verschieden voneinander gelten - auch für den Endurantisten handelte es sich dann um numerisch verschiedene Menschen. Aber in diesem Sinne unterscheiden sie sich gerade nicht voneinander. Und es ist diese Ununterschiedenheit, die das diachrone Identitätsurteil ausdrückt, daß Markie derselbe Mensch ist wie Dr. Mark. Die Argumentation des Perdurantisten von (1) und (2) zu (3) und von (3) und (4) zu (5) erweist sich somit als ein non sequitur, dessen Anschein von Schlüssigkeit auf der Ambiguität der Prämisse (3) beruht, bei der fraglich ist, ob „sich in einer Eigenschaft unterscheiden" im oben analysierten Sinne zu verstehen ist - nämlich in der Art, wie sich der zu ti existierende, bartlose „Markie" gerufene Junge von dem zu t2 existierenden, bärtigen, „Dr. Mark" gerufenen Erwachsenen unterscheidet — oder aber im Sinne von (4)*. Würde sich der „Markie" genannte Mensch von dem „Dr. Mark" genannten Menschen in dem in (4)* artikulierten Sinne in einer Eigenschaft unterscheiden, so wäre die Argumentation des Perdurantisten gegen den Endurantisten in der Tat schlüssig. In Wirklichkeit aber unterscheidet sich unser zu ti junge, bartlose, „Markie" gerufene Mensch gerade nicht diesem Sinne in irgendeiner seiner Eigenschaften von dem zu t2 erwachsenen, bärtigen, „Dr. Mark" gerufenen Menschen, obwohl ein Junge andere Eigenschaften hat als ein Erwachsener. Nimmt man (4)* an, ist die Argumentation von (3) zu (5) demnach nicht mehr schlüssig. Damit ist aus der Sicht des Endurantisten auch der zweite Einwand widerlegt; und der Anerkennung von Kontinuanten in der Ontologie steht nichts mehr entgegen. Die Zurückweisung des zweiten Einwandes beruhte jedoch zum einen auf der Überzeugung, daß es schlicht falsch ist, das
11.4 Die Aporie der Veränderung
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Leibnizsche Gesetz so aufzufassen, daß Veränderung im aristotelischen Sinne (d.h. im Sinne des ACC) von vornherein ausgeschlossen ist; d.h. so, daß es impliziert, daß einem Gegenstand zu keinem Zeitpunkt seiner Existenz irgendeine Eigenschaft fehlen darf, die ihm zu irgendeinem Zeitpunkt seiner Existenz zukommt. Dies ist die Konsequenz, wenn man das Fehlen der Zeitindizes in (4) nicht als elliptisch wertet, sondern so interpretiert, daß die Eigenschaften (F, G) den von ,x' oder ,y' bezeichneten Gegenstand „immer" („untensed") zukommen müssen. Doch da dies gerade die Position des Vierdimensionalisten ist, wird ihm aufgrund jener Prämisse die Argumentation des Endurantisten gegen die Schlüssigkeit von (l)-(5) ebenfalls als eine petitio erscheinen. Entsprechend läßt sich gegen den Perdurantisten auch nicht beweisen, daß (zumindest) in (manchen) Veränderungen etwas Bestimmtes beharrt, welches als ein kontinuierlicher Träger wechselnder Bestimmungen überdauert: Es läßt sich lediglich zeigen, daß diese Annahme unter der Voraussetzung einer bestimmten Individuen-Konzeption (die der Perdurantist ablehnt) zu einer konsistenten Position entwickelt werden kann. Wir stehen also vor dem merkwürdigen Ergebnis einer argumentativen Patt-Situation, in der sich die Vorhaltungen des endurantistischen und des perdurantistischen Lagers gegeneinander nicht als zwingend erweisen. Es bleibt demnach bei den zwei alternativen Vorschlägen dafür, worauf wir mittels solcher Ausdrücke wie „a zu ti" oder „Markie" und „a zu t2" oder „Dr. Mark" referieren. Die wohlwollendste Interpretation der Position des Perdurantisten, daß mit jenen Ausdrücken zwei „zeitliche Teile der Person Mark Heller" bezeichnet würden, lautet, daß sie auf zwei Zustände der Person Mark Heller referieren und damit zwei Episoden aus der Lebensgeschichte der Person Mark Heller herausgreifen — eben die, während derer sich die Person Mark Heller in den jeweiligen Zuständen des Bartlosseins und des Bärtigseins befindet. Auf diese Zustände trifft das zu, was der Perdurantist in seiner Argumentation gegen den Endurantisten voraussetzt: daß sie jeweils nur für die Dauer von ti bzw. t2 existieren. Zu t2 hat der Zustand, der zu ti existierte, aufgehört zu existieren und ist von dem zweiten Zustand abgelöst worden. Die über das Bartlossein und das Bärtigsein von Mark Heller herausgegriffenen Zustände
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II Die Kategorie der Kontinuanten
markieren zwei Phasen, in die die Existenz (d.h. das Leben) von Mark Heller eingeteilt werden kann: in eine Phase, während der er nicht bärtig war und eine andere, während der er bärtig war. Der Endurantist dagegen beschreibt den vorliegenden Fall folgendermaßen: Mit den beiden Namen ,Markie' und ,Dr. Mark' referieren wir auf ein Kontinuant der Art ,Mensch', nämlich Mark Heller, das sich zu ti und zu t2 in qualitativ wie numerisch verschiedenen Zuständen bzw. Stadien seiner Entwicklung befindet: das zu ti ein Junge und zu t2 ein Erwachsener ist. Dementsprechend kann auf diesen Menschen mittels zweier Kennzeichnungen Bezug genommen werden, die berücksichtigen, daß er sich in zwei qualitativ verschiedenen Zuständen befindet: zu ti mit der Kennzeichnung ,der bartlose Junge' und zu t2 mit der Kennzeichnung ,der bärtige Erwachsene'. Das Problem ist nun: Vorausgesetzt, es waren die Zustände, auf die man sich mit ,Markie' und ,Dr. Mark' beziehen wollte, so ist die Behauptung richtig, daß die Entität vor der Veränderung nicht numerisch identisch ist mit der Entität nach der Veränderung, sondern eine andere ihr nachgefolgt ist. Bezogen auf die Zustände (bzw. die Episoden) des Bärtig- bzw. Bartlosseins befindet sich der Perdurantist im Recht. Diese wären sogar - wie alle Vorkommnisse - schon allein darum numerisch verschieden voneinander, weil sie unterschiedliche Positionen in der Zeit einnehmen. Von den Zuständen wäre es in der Tat falsch zu sagen, sie seien identisch miteinander. Des weiteren gilt von diesen Zuständen, daß jede Abweichung vom tatsächlichen Ablauf der Geschehnisse andere Zustände ergeben hätte als die faktisch vorliegenden. Von ihnen gilt, daß sie unveränderlich sind. Keine der Bestimmtheiten von Mark Heller könnte fehlen, ohne daß dies bedeutete, daß andere als die vorliegenden Zustände vorlägen. Vorausgesetzt andererseits, es war das Kontinuant (d.h. der Mensch) Mark Heller, auf das man sich mit ,Markie' und ,Dr. Mark' beziehen wollte, so ist die Behauptung des Endurantisten richtig, daß die Entität vor der Veränderung numerisch identisch ist mit der Entität nach der Veränderung, d.h. daß es sich bei der verändert» Entität um dieselbe Entität handelt wie die, die schon vor der Veränderung existierte. Auch von einem Kontinuanten gilt, daß es zu keinem der Zeitpunkte, zu denen es faktisch eine
II.4 Die Aporie der Veränderung
87
bestimmte Eigenschaft besaß, diese auch nicht hätte haben können, ohne daß in diesem Fall nicht ein anderes als das faktisch vorliegende Kontinuant existiert hätte. Doch von ihm gilt nicht, daß ihm keine der Eigenschaften, die es zu einem Zeitpunkt besitzt, zu einem anderen fehlen dürften: Bei einigen seiner Eigenschaften ist das möglich. Wenn folglich die Referenz geklärt ist, erweisen sich die Auffassungen der beiden Parteien, die im Widerspruch zueinander zu stehen schienen, als miteinander kompatibel. Die Widersprüche resultieren nur, wenn die eine Seite der jeweils anderen Seite die von ihr selbst vorausgesetzten Referenzobjekte der jeweils anderen unterschiebt. Woran entscheidet sich aber, worauf sich jemand beziehen wollte? Hier stehen wir vor folgender Schwierigkeit: Wenn man sich darauf beschränkt, das Kontinuant nur für die Dauer der Phase betrachten zu wollen, während der es die Bezeichnung ,nicht bärtiger Junge' erfüllt, so ist es während dieser Phase - wenn das in Abschnitt II.3.3 Gesagte richtig ist - ex hypothesi nicht mehr über die Raumzeit-Position unterscheidbar von der Phase seines Lebens, welche über diesen Zustand abgegrenzt wurde. Wir haben hier den Fall, daß mit verschiedenen kategorialen Implikationen versehene Kennzeichnungen koreferieren, d.h. auf denselben physischen Gegenstand referieren. Ontologisch ließe sich diese Situation dahingehend interpretieren, daß sich hier zwei Einzeldinge verschiedener Kategorien zur selben Zeit am selben Ort befinden: ein Zustand und ein Kontinuant. Diese Tatsache scheint mir der Grund dafür zu sein, daß die Debatte zwischen Endurantisten und Perdurantisten zu keiner Entscheidung geführt hat. Das Grundproblem ist, daß „die Unterstellung von Identität [...] hier entscheidend [ist] zur Feststellung des Referenzobjektes" 57 der Ausdrücke „a zu ti" und „a zu t2c'. Wird Identität nicht unterstellt: so beziehen wir uns mit ihnen tatsächlich bloß auf zwei verschiedene Zustände. Indem wir aber unterstellen, es handele sich beidesmal um denselben Menschen, auf den wir uns beziehen - wobei dieser sich (während wir uns auf ihn beziehen) de facto zu jedem Augenblick in einem (wenn auch
57
Quine 1953, 68; meine Hervorhebung.
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II Die Kategone der Kontinuanten
möglicherweise nur minimal) anderen Zustand befindet — zeigen wir an, daß wir uns überhaupt nicht auf die Zustände beziehen wollten, sondern unter Abstraktion von diesen einzelnen Zuständen auf den einen Menschen, dessen Zustände sie sind. Abschließend sollte man daher versöhnlich sagen: Im Grunde stellen Endurantisten und Perdurantisten lediglich Verschiedenes am physischen Gegenstand heraus, auf den sie sich beide beziehen. Im Unterschied zum Perdurantisten hebt der Endurantist nicht die Verschiedenheit der Zustände hervor, sondern das, was dieser Abfolge von verschiedenen Zuständen Einheit verleiht·, daß beide Zustände die eines bestimmten Menschen sind. 4.4 Probleme des Vierdimensionalismus Der letztgenannte Punkt macht allerdings darüber hinaus deutlich, daß auch ein Perdurantist im Grunde auf die Kategorie der Kontinuanten nicht verzichten kann: Ohne sie gelangte er nicht zu jenen vierdimensionalen Gegenständen, an denen ihm gelegen ist: Schließlich zählt nicht jede beliebige Summe von Zuständen von Menschen als genau eine Lebensgeschichte. Um genau die Kette von Zuständen und Ereignissen in der Welt abzugrenzen, die eine Lebensgeschichte bildet, ist der Rekurs auf ein sich durchhaltendes Kontinuant unverzichtbar: Die Zustände und Ereignisse müssen dadurch gekennzeichnet sein, daß sie Teil der Geschichte desselben (und nicht verschiedener) Menschen sind; allgemein dadurch, daß sie Zustände eines Kontinuanten sind. Vierdimensionale Gegenstände solcher Art lassen sich nur einführen über Setzungen wie: „Der Moment-Zustand ,dieser-Mensch-zu-ti' bestehe in der Menge aller Raumzeitkoordinaten-Quadrupel Σ = (ti, xi, yi, Zi), (ti, X2, y2, Z2), ..., (ti, xn, yn, zn); derart, daß ti (ein Moment im Jahre) 1972 ist, und Σ die Menge aller Raumpunkte, die zu diesem Zeitpunkt durch die Materie okkupiert werden, die zu diesem Zeitpunkt diesen Menschen bildet." Das vierdimensionale Gegenstück zu diesem Menschen wäre dann die Serie aller (wie oben definierten) Moment-Zustände für alle die Zeitpunkte, zu denen dieser Mensch existiert. In dieser Definition von „MomentZuständen" spielt die „continuant language designation 'this [hu-
II.4 Die Aporie der Veränderung
89
man being]' [...] an essential role. [...] With this recipe, there is no question of giving an autonomous description in pure four-dimensional terms of the relevant series of sets of quadruples, and then saying that this entity is or represents the [human being]." 58 Die Tatsache, daß solche Moment-Zustände nicht unabhängig von einem Bezug auf Kontinuanten individuierbar sind, ist ein Argument für die ontologische Priorität der Kontinuanten vor solcherart eingeführten Moment-Zuständen. 59 Insofern die Perdurantisten, die an konkreten Lebensgeschichten als vierdimensionalen Gegenständen interessiert sind, zu deren Abgrenzung die Sortale für Kontinuanten benötigen, kann keine Rede davon sein, daß die Ontologie der Kontinuanten (und Vorkommnisse) generell durch eine vierdimensionale Ontologie ersetzt werden könnte. Gleichwohl mag es darüber hinaus auch Prozesse mit anderen einigenden Prinzipien geben, die insofern mit Recht als substratlose Prozesse angesprochen werden können, als in ihnen sich nichts in der Weise durchhält, wie es Kontinuanten tun. Ein schwerwiegendes Problem einer monistischen vierdimensionalistischen Position ist es darüber hinaus, daß sie auf eine paradoxe Beschreibung von Veränderung hinausläuft, da sie es unmöglich macht, Veränderung als etwas zu beschreiben, das kontinuierlich vonstatten geht; kurz: die Binnenstruktur von Veränderung korrekt zu beschreiben. Der „replacement view of change" ist zugleich eine „'static' conception of change". 60 Wir haben oben gesehen, wie der Perdurantist angesichts von Veränderung in der Welt zur herakliteischen Position getrieben wird, daß genaugenommen „no object ever remains the same for even a millisecond". Ihm gilt auch das, was ein Kontinuant-Ontologe als Veränderung an einem Kontinuanten beschreiben würde, als Entstehen und Vergehen von „Moment-Dingen". Interpretiert man ihn wohlwollend so, daß mit diesen „Moment-Dingen" Zustände gemeint sind und nicht „momenthafte Kontinuanten",
58
59 60
Wiggins 1980, 197; Longer Note 1.11. Vgl. auch Lowe 1988b, 68. Dieses Argument wurde schon von Chisholm (1976, 143 f.) als Einwand gegen den Vierdimensionalismus als monistische Ontologie verwendet. Vgl. Lowe 1988b, 68-71; Simons 1987, 350 f. Lombard 1986,109.
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II Die Kategorie der Kontinuanten
so lautet die Übersetzung der Aussage, daß „alles fließt", daß kein Zustand auch nur eine Millisekunde andauern kann. Wenn kontinuierliche Veränderung aber als ununterbrochenes Enden und Beginnen neuer Zustände beschrieben werden muß, so führt dies letzten Endes zu einer Beschreibung, in der sie in eine Serie diskreter, minimal verschiedenartiger, zeitlich infinitesimal kurzer Moment-Zustände aufgesplittert wird, weil sich nur in solchen Zeitpunkten keine Veränderung abspielen kann, welche eine weitere Aufsplitterung erforderte. Diese Konsequenz aber kommt einer reductio ad absurdum der perdurantistischen Position gleich, denn solche punktuellen Moment-Zustände gehören nicht zu den Bewohnern der physischen Welt. Und aus ihnen läßt sich kein Kontinuum zusammensetzen, wie schon Aristoteles wußte. So ist es mehr als fraglich, ob die letzten Endes statische Konzeption von Veränderung der Vierdimensionalisten, die auf die Beschreibung von Veränderung als eine Serie momenthafter Zustände hinausläuft, überhaupt als Beschreibung realer Veränderungen taugt. Demnach scheint die Akzeptanz von Kontinuanten in der Ontologie auch um der Möglichkeit einer sinnvollen, dynamischen Konzeption von Veränderung willlen geboten zu sein. Diese dynamische Konzeption ist an die Vorstellung gebunden, daß es etwas gibt, das sich verändern kann. Veränderungen sind Ereignisse, die sich an einem Substrat abspielen: „the [ordinary] concept of an event is the idea of a thing's coming to be different from the way it was."61 Die Rolle des Veränderlichen scheinen aber nicht nur die Kontinuanten, sondern auch die Materie übernehmen zu können. Nach der Etablierung der korpuskularistischen Konzeption von Materie wurde die Vorstellung gängig, daß jede physische Veränderung letztlich über der Redistribution von Elementarteilchen superveniert. Zwar wurde mit dieser Vorstellung oft die Ablehnung der aristotelischen Vorstellung verbunden, daß es zwei kategorial verschiedene Typen von „Zugrundeliegendem" gibt, nämlich zum einen Individuen verschiedenster Arten und zum anderen Materie. Doch macht die korpuskularistische Konzeption von Materie die
61
Ebd., 109 f.
IIA Die Aporie der Veränderung
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Kategorie der Kontinuanten keineswegs überflüssig: Vielmehr werden in dieser Konzeption nun die Elementarteilchen als Kontinuanten betrachtet, die zumindest einer Form von Veränderung, nämlich der Bewegung unterworfen sind. Es scheint offenbar nicht möglich zu sein, die dynamische Idee von Veränderung zu retten, wenn nicht zugleich irgend etwas der Veränderung Fähiges angenommen wird. Aus den Überlegungen von II.4.3 und II.4.4 ziehe ich das Fazit, daß die Annahme von Kontinuanten in der Ontologie in sich widerspruchsfrei und erforderlich ist, wenn man die common sense-Auffassung von Veränderung beibehalten will.
III Lebewesen: Eine Kategorie suigeneris Ich komme nun zur letzten Verzweigung des Kategorienbaumes, der Dichotomie von Lebewesen und Dingen in der Kategorie der Kontinuanten: Kontinuanten / \ Dinge — Lebewesen / \ geisdose geistbegabte (menschliche Personen) Mit dieser Unterscheidung nehme ich den (spätestens seit der Romantik) geläufigen Sprachgebrauch auf, den Lebewesen die Welt der „toten Dinge" gegenüberzustellen.1 In dieser Verwendung ist der Begriff eines Dings nicht synonym mit dem Begriff eines physischen Gegenstandes oder dem eines Gegenstandes überhaupt.2 Vielmehr wird er in dieser Gegenüberstellung terminologisch verwendet, nämlich im Kontrast zu dem Begriff des Belebten als Sammelbegriff für alles Unbelebte. In diesem Sinne heißt es manchmal abschätzig, daß etwas „doch bloß ein Ding" sei.
1
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Plessner ((1928) 1975, 130 u. 131) unterscheidet schlicht zwischen Dingen und Wesen. Es fällt in der Tat auf, daß von allen Einzeldingen nur Lebewesen mitunter auch einfach ,Wesen' genannt werden, niemals aber Dinge. — Die unterste Ebene habe ich hinzugefügt, um zu verdeutlichen, wo in diesem Baum menschliche Personen ihren Ort haben. Wenn der Dingbegriff in diesem allgemeinen Sinne verwendet wird, dann in alltäglichen oder philosophischen Kontexten, in denen die Unterschiede zwischen Lebewesen und leblosen Dingen gerade nicht thematisch sind und in denen sie daher schlicht übergangen werden.
III. 1 Die cartesianische Ontotogie: Lebewesen als belebte Körper
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1. Die cartesianische Ontologie: Lebewesen als belebte Körper Die These, daß Lebewesen keine Dinge sind, ist jedoch keineswegs selbstverständlich. Denn es gibt eine lange, auf Descartes zurückgehende Tradition der Einteilung der Welt, die mit der hier vorgenommenen Kategorisierung konfligiert. Jede zeitgenössische Metaphysik des Lebendigen muß sich mit dem Erbe der cartesianischen, dualistischen Ontologie von res externa und res cogitans auseinandersetzen, in der die Kategorie der Lebewesen keinen rechten Platz hat. 3 Folgt man diesem Dualismus von denkender und ausgedehnter Substanz, so sind nur folgende drei Kategorien von Einzeldingen denkbar: (i) rein geistige Wesen; (ii) Wesen, die sowohl materielle Körper haben als auch geistbegabte Wesen sind, in denen die beiden Substanzen also „irgendwie" miteinander vereinigt sind; sowie (iii) materielle Körper. Nach Descartes gehören menschliche Personen zur zweiten Kategorie. Zu welcher Kategorie gehören aber nun die lebenden Wesen? Mit dem Argument, daß kein nicht-menschliches Lebewesen geist- bzw. vernunftbegabt ist, schlägt Descartes diese alle der dritten Kategorie zu:4 Sie sind nichts als eine bestimmte, besonders kompliziert aufgebaute Sorte materieller Körper, in ihrem Verhalten Automaten
3
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Einer der schärfsten Kritiker des cartesianischen Dualismus ist Jonas, für den die „Isolierung von res cogitans und res externa, unter Ausschluß des Lebens, Probleme [schafft], die sie zugleich unlösbar macht" ((1973) 1994, 42). Er sieht das Problem dieser Ontologie darin, daß sie eigentlich gar keine Entitäten enthält, von denen gesagt werden könnte, daß sie lebten: Denn ,,[w]enn die Materie als tot auf der einen Seite gelassen wurde, müßte doch das auf der anderen Seite dagegen abgehobene Bewußtsein [...] das Destillat des Lebens sein. Aber dieses verträgt keine Destillation. [...] Die Abstraktionen selber leben nicht" (ebd., 43): „Das reine Bewußtsein ist so wenig lebendig wie die ihm gegenüberstehende reine Materie" (ebd., 42). Der Organismus werde so zu einer „problematische[n] Sonderform und -Ordnung der ausgedehnten Substanz. In ihm allein treffen sich res cogitans und res extensa, Renkendes' und ,ausgedehntes' Sein, nachdem sie erst in zwei ontologische Sphären auseinandergerissen wurden, von denen nur die zweite ,Welt' ist und die erste nicht einmal zu Welt gehört. Ihr Sich-Treffen im Organismus wird so zum unlösbaren Rätsel" (ebd., 29 f.). Vgl. Descartes (1637) 1960, 91 f. [AT 6, 56],
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III Tebewesen: eine Kategorie sui generis
gleich. 5 Gemäß dieser mechanistischen Konzeption von Lebewesen sieht der kategoriale Baum daher folgendermaßen aus: 6 materielle Körper Belebte materielle Körper (Lebewesen)
/
\
menschliche Personen
Unbelebte materielle Körper (Dinge)
Mit dieser Kategorisierung ist zugleich impliziert, daß die Eigenschaft der Lebendigkeit lediglich eine bestimmte physische Dispositionseigenschaft gewisser materieller Körper (später: Systeme) bezeichnet. Die cartesischen Grundthesen faßt Jonas wie folgt zusammen: Danach ist das ,Leben' ein Faktum allein der Physik, die ,Seele' ein Faktum allein des Menschen [...]: gemäß der ersten These ist Leben ein besonderes körperliches Verhalten als Folge einer besonderen körperlichen Struktur, die eine Klasse von Objekten in der Natur auszeichnet, nämlich die natürlichen Automaten; gemäß der zweiten These ist ,Seele' - die mit Bewußtsein jeder Art gleichgesetzt ist, sei es Fühlen, Begehren, Wahrnehmen, Denken, [...] — für keine physische Funktion irgendeiner Art und so auch nicht für Leben erforderlich; sie fehlt beim Tier und ist vorhanden beim Menschen, ist aber auch in seinem Fall kein Prinzip des ,Lebens', das in allen Fällen ein strukturell-verhaltensmäßiges Phänomen bleibt. 7
Es gibt für einen Cartesianer demnach keinen Grund, Lebewesen als eine Kategorie sui generis einzuführen. Alle nicht-menschlichen Lebewesen können als belebte Körper gemeinsam mit den unbelebten Dingen der Kategorie der materiellen Körper zugeschlagen werden. Zwar unterscheiden sich die lebenden von den unbeleb5
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Vgl. ebd., 97; vgl. auch ders., Brief an Regius (Juni 1642), AT III, 566: „Et [...] differentiam inter res viuas & vitae expertes videris maiorem statuere, quam inter horologiam aliudue automatum, dauern, gladium, aliudue instrumentum, quod sponte non movetur: quod non probo." (Für die Übersetzung s. VI.2, S. 303 f.). Ich vernachlässige die dritte Kategorie der reinen Vernunftwesen (Engel, Gott, o.a.), da diese für den Fortgang der Argumentation nicht von Belang ist. Jonas (1973) 1994, 104 f., Fußnote. Vgl. zu diesem Urteil Descartes (1637) I960, 76 f. u. 91 f. [AT6, 46 f. u. 55 f.].
III. 1 Die cartesianische Ontologie: Tebewesen als belebte Körper
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ten Körpern durch einen besonders komplizierten inneren Aufbau und auch durch besondere Verhaltensweisen, die die unbelebten nicht aufweisen. Doch sind alle die besonderen „Funktionen", die auch „in uns ablaufen können, ohne daß wir an sie denken", welches allein die Funktionen sind, „von denen man sagen kann, daß uns in ihnen die vernunftlosen Tiere gleichen", nach dem Vorbild der Leistungen von Automaten zu analysieren und zu erklären. 8 So liegt auch in der Eigentümlichkeit dieser Funktionen kein Grund, nicht-menschliche Lebewesen einer anderen ontologischen Kategorie zuzurechnen als der der materiellen Körper. Lebewesen bilden danach vielmehr eine Unterklasse dieser Kategorie. Ein Unterschied zu den einfachen materiellen Körpern besteht lediglich darin, daß zu ihrer Beschreibung und zur Erklärung ihres Verhaltens das Analyse- und Begriffsinventar von Physik allein nicht ausreicht, sondern auch die begrifflichen Ressourcen von Chemie und Technik herangezogen werden müssen. 9 Gegen die Konzeptualisierung von Lebewesen als physiologische Automaten wurde protestiert, seit Descartes sie aufgebracht hat, insbesondere im Namen ihrer Empfindungsfähigkeit und ihrer Fähigkeit zu eigener Aktivität. Doch ein Kritiker der cartesianischen Auffassung von Lebendigkeit als dem Inbegriff spezifischer physischer Dispositionseigenschaften bestimmter Körper sieht sich mit einem Problem konfrontiert: Im Rahmen des cartesianischen Dualismus von geistigen und physischen Vermögen („Funktionen") besteht die einzige Alternative zur mechanisti-
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Descartes (1637) I960, 77 [AT6, 47], Allerdings war Descartes kein reiner Mechanist, da er Tieren Empfindungsfähigkeit nicht ganz abspricht. Empfindung, „insofern diese von einem Körperorgan abhängt" (AT V, 278) — also etwa Hunger oder Schmerz - gesteht er diesen zu. Wenn er Tiere als Maschinen versteht, so daher als „empfindungsfähige Maschinen" (Baker/Morris 1996, 87 ff.). Man muß ihm jedoch vorhalten, daß er nirgends erklärt, wie Tiere in der Lage sein sollen, Emfindungen zu haben, da seiner Theorie nach Empfindungen aufgrund der Einheit von Körper und Geist entstehen, während er Tieren jedoch jeglichen Geist abspricht: „Wie kann ein reiner Körper etwas empfinden?" (Perler 1998, 228) Erst Descartes' Nachfolger lösten diese Widersprüchlichkeit schließlich so auf, daß sie Tiere konsequent mechanistisch konzipierten, indem sie etwa die Schmerzenslaute von Hunden, die geprügelt wurden, mit Geräuschen verglichen, wie sie auch (Uhr-)Federn von sich geben, wenn sie angeschlagen werden (vgl. Rosenfield 1968, 54).
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III Lebewesen: eine Kategorie sui generis
sehen Auffassung von Lebewesen darin, die Lebendigkeit eines Wesens an seelische Vermögen in Descartes' Sinne, also geistige Vermögen zu binden; das heißt, Leben als Geist- oder zumindest Bewußtseinsbegabtheit implizierend zu verstehen. Während eine solche Bestimmung von Leben gewiß geeignet ist, Lebewesen von materiellen Körpern abzuheben, droht dadurch die Extension dieses Begriffs erheblich kleiner zu werden als intendiert: Pflanzen beispielsweise ließen sich danach kaum zu den Lebewesen rechnen, höchstens in sehr metaphorischer Weise. Auf diese zweite Seite dieser dualistischen Alternative schlägt sich Kant: So bestimmt er in der zweiten Kritik Leben als „das Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln. Das Begehrungsvermögen ist das Vermögen desselben, durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein".10 Etwas begehren und danach handeln ist eine Form von Intentionalität. Nach dieser Definition kann strenggenommen nur geistbegabten Wesen zugeschrieben werden zu leben, weil nur diese Vorstellungen von etwas, was sie begehren, haben und nach diesen handeln können. Eine entsprechende Antwort auf die Frage, was ein Lebewesen ist, lautete: „[A] living being is (for us) one the movements of which we conceptualize under the notion of intentionality."11 Auch in diesem Falle ist kein Bedarf an einer Kategorie von Lebewesen als einer Kategorie sui generis, denn sie fallen schließlich mit der Kategorie der in irgendeinem — und sei es metaphorischem — Sinne als geistbegabte, intentionale Wesen zu verstehenden Wesen zusammen.12
10 11 12
KpV, A 16. Vgl. auch MS, A B l . Von Wright 1998, 100. Entsprechend zögert von Wright, Pflanzen (ganz zu schweigen von Pilzen, Bakterien oder Einzellern) als Lebewesen zu bezeichnen: „Plants can be alive or dead but we do not normally conceptualize their movements (and other changes in them) under the aspect of intentionality. For this reason we may hesitate to call them living beings." Offenbar will von Wright zusätzlich zu der Kategorie der Lebewesen und der der leblosen Dinge eine dritte Kategorie von Entitäten annehmen: Dinge, die lebendig oder tot genannt werden können, jedoch keine lebenden Wesen sind. Indes sehe ich nicht, wie etwas lebendig sein kann, ohne auch ein Lebewesen zu sein.
III. 1 Die cartesianiscke Ontotogie: I^ebewesen als belebte Körper
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Dennoch begreift er sie als eine besondere Kategorie von Naturdingen, indem er ein anderes Kriterium verwendet: Sie zeichnen sich gegenüber den anderen dadurch aus, daß sie für sich selbst und nicht erst im Hinblick auf Intentionen von Menschen betrachtet zweckmäßig sind. Für Kant sind Lebewesen „organisierte und sich selbst organisierende Wesen". 13 Die Besonderheit dieser Wesen, welche sie von allen anderen Naturprodukten unterscheidet, liegt darin, daß der Gesichtspunkt der Zweckmässigkeit für ihre begriffliche Bestimmung unverzichtbar ist. Sie müssen nach Kants Auffassung von uns „als Naturzwecke", d.h. als Zwecke der Natur beurteilt werden. 14 Doch die Annahme der Existenz zweckmäßig organisierter Wesen in der Natur widerspricht einem Naturbegriff materialistischer Provenienz, wonach unter ,Natur' alles Materielle verstanden wird, das den Gegenpol zum Geist bildet. Im Rahmen eines Begriffs der Natur als „Inbegriff der Erscheinungen, sofern diese, vermöge eines inneren Prinzips der Kausalität, durchgängig zusammenhängen" 15 ist die Existenz natürlicher „organisierter und sich selbst organisierender Wesen" vielmehr seltsam unbegreiflich. 16 Da außerdem der Begriff des Naturzwecks ein „Fremdling in der Naturwissenschaft" 17 ist, und der Begriff natürlicher, organisierter (und sich selbst organisierender) Wesen geradezu einen Widerspruch in sich zu beinhalten scheint, droht diese Bestimmung der Lebewesen als eine besondere Kategorie von Entitäten jedoch ein aporerisches Unterfangen zu werden. Kehren wir daher noch einmal zur cartesianischen Alternative zurück. Sie hat den Vorzug, daß sich derlei Rechtfertigungsprob-
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S. KU, § 65, A 288/B 292. Ebd. KrV, Β 446/A 418 f.; 2. Anmerkung. Vgl. Kant, KU, § 65, A290/B 294 f.: „Genau zu reden hat die Organisation der Natur also nichts Analogisches mit irgendeiner Kausalität, die wir kennen. [...] [Ijnnere Naturvollkommenheit, wie sie diejenigen Dinge besitzen, welche nur als Naturzwecke möglich sind und darum organisierte Wesen heißen, ist nach keiner Analogie irgend eines uns bekannten physischen, d.i. Naturvermögens, ja, da wir selbst zur Natur im weitesten Verstände gehören, selbst nicht einmal durch eine genau angemessene Analogie mit menschlicher Kunst denkbar und erklärlich." KU, § 7 1 , Β 320/A 316.
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III Lebewesen: eine Kategorie sui generis
lerne gar nicht stellen, wenn man verneint, daß Lebewesen metaphysisch gesehen eine besondere Kategorie von Kontinuanten darstellen. Zwar sind die Automaten, mit denen Descartes die Lebewesen verglich, zu einem Zweck hergestellte Dinge, doch ihre Arbeitsweise, auf der ihre Verhaltensdispositionen bzw. Leistungen beruhen, ist ganz und gar physisch-mechanisch. Das mechanistische Verständnis von Lebendigkeit als einer physischen, dispositionalen Eigenschaft eines materiellen Körpers ist es, das die Beschreibung von Lebewesen als „belebte" oder „lebende materielle Körper" motiviert und ihre Kategorisierung als Subklasse materieller Körper ermöglicht (hat). Folgen wir diesem Verständnis, ist es allein Aufgabe der empirischen Naturwissenschaften festzustellen, worin Leben und Lebendigkeit besteht. Dabei hat sich das naturwissenschaftliche Verständnis von Leben im Laufe der Geschichte von einem im engen Sinne mechanistischen zu einem prozeßorientierten gewandelt; und im Zuge der Ausdifferenzierung der Einzelwissenschaften ist aus dem Leben, welches ein „Faktum allein der Physik" war, ein physiko-chemisches Faktum geworden. So ist etwa folgende Erläuterung zweier Biochemiker beispielhaft für das in den Naturwissenschaften gegenwärtig vorherrschende Lebensverständnis: In jeder lebenden Zelle gibt es eine verwirrende Vielfalt chemischer Reaktionen, die alle gleichzeitig ablaufen. Diese Reaktionen sind aber so geordnet, daß sie in ihrer Gesamtheit den umfassenden Prozeß darstellen, den man als Leben bezeichnet. 18
Leben wird hier als ein komplexer, geregelter chemischer Prozeß begriffen; nicht mehr nur als eine (im cartesianischen Sinne von „Mechanismus") aus der besonderen Struktur des Körpers folgende Verhaltensweise eines Körpers, als ^'organisation en action". 19 Der wissenschaftliche Fortschritt in der Beschreibung der internen Prozesse, die dem Verhalten der Lebewesen zugrunde liegen, ändert jedoch nichts an der cartesianischen These, daß die Subsumtion der Lebewesen unter die Kategorie der materiellen Körper keine Komplikationen bereitet. Im Laufe dieses Fort-
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Voet/Voet 1994, 16. Auf Vielzeller läßt sich diese Formel genauso anwenden. Broca 1860, 12; zit. nach Jeuken 1975, 16.
III. 1 Die cartesianische Ontotogie: Lebewesen als belebte Körper
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schritts sind lediglich die zur Erklärung der Lebensphänomene verwendeten mechanistischen Modelle verfeinert worden.
1.1 Erster Einwand gegen die dualistische Ontologie: Menschliche Personen sind keine mit einem lebenden Körper vereinigten geistigen Wesen Während die mechanistische Alternative das Problem nicht entstehen läßt, wie die Besonderheit von Lebewesen zu fassen wäre, produziert deren Gleichsetzung mit lebenden materiellen Körpern an anderer Stelle ein metaphysisches Problem: In diesem Fall lassen sich menschliche Personen nicht in adäquater Weise als lebende Wesen auffassen. Vielmehr gerät dieser Versuch in folgendes Dilemma: Folgt man der cartesianischen Auffassung und betrachtet Lebewesen generell als Automaten oder bewegungsfähige [n] Maschinen" 20 vergleichbare Körper, und geht zugleich davon aus, daß Menschen Lebewesen sind, so könnte man sie entweder in derselben Weise wie alle anderen Lebewesen als „natürliche Automaten" begreifen und das Verhalten menschlicher Personen auf entsprechende Weise erklären. Dies liefe aber auf Biologismus oder Physikalismus von der krudesten Art hinaus. Es ist ein Kategorienfehler, Menschen als lebende materielle Körper zu bezeichnen. Hierbei wird schließlich gerade die differentia speäfica unterschlagen, welche Menschen, die animalia rationalia, gegenüber den übrigen Lebewesen auszeichnet: ihre Geist- bzw. Vernunftbegabtheit, aufgrund deren ihr Handeln nur unter Bezug auf ihre Wünsche, Absichten und Überzeugungen beschreibbar und erklärbar ist. Descartes ist dieser Fehler nicht unterlaufen. Er faßt vielmehr menschliche Personen als „substantielle Einheiten" von Geist und Körper auf. Auf diese Weise setzt er sie explizit als eine Kategorie sui generis von allen vernunftlosen körperlichen Wesen ab.21 Indes gibt es bei dieser Charakterisierung menschlicher Personen abge-
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Descartes (1637) 1960, 91 [AT6, 56], Vgl. z.B. Descartes, AT 3, 493.
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III Lebewesen: eine Kategorie sui generis
sehen von der notorischen Schwierigkeit, die Vereinigung von Geist (oder Seele) und Körper verständlich zu machen, noch ein weiteres Problem: Als lebende Wesen können die derart begriffenen Personen nicht verstanden werden — dies hieße ja im Rahmen dieser Auffassung gerade, sie als lebende Körper bzw. „natürlichen Automaten" zu begreifen. Zu diesen gehört vielmehr allein der Körper der Person. Für einen Cartesianer besteht demnach die Alternative zum Biologismus in der Behauptung, daß Personen nur in einem abgeleiteten Sinne leben, nämlich insofern sie mit einem lebenden Körper vereinte geistige Wesen darstellen. 22 Man kann diese Auffassung so charakterisieren, daß ein Cartesianer, um einen biologistischen Personbegriff zu vermeiden, die Aussage „Ich lebe" als abkünftig von der Aussage „Mein Körper lebt" interpretieren muß. Nun gibt es zwar durchaus Prädikate, die sich so verstehen lassen, daß mit ihnen primär etwas vom Körper einer Person prädiziert wird und abgeleitet davon auch von der Person, von deren Körper etwas ausgesagt wurde: So kann ich, wenn z.B. mein Knie blutet, auch sagen, daß ich blute. Aber das Prädikat ,leben' wird so gerade nicht verwendet: Vielmehr sagt eine menschliche Person aus Fleisch und Blut allein von sich selbst, daß sie lebt, und nicht von ihrem Körper. Wenn ich sage, daß ich lebe, dann meine ich damit gerade nicht, daß mein Körper lebt oder gar, daß der mit „mir" verbundene Körper lebt. Das Prädikat ,leben' ist in dieser Hinsicht einzigartig unter allen Prädikaten, die Personen sich zuschreiben können: Während alle übrigen Prädikate sich in Strawsonscher Manier in M- und PPrädikate einteilen lassen; 23 so läßt sich, wenn eine Person von
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Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der These, daß Personen geistige Wesen sind, die qua Verbundenheit mit einem lebenden Körper leben. Wer jedoch so spricht, hat die Person implizit mit dem „geistigen Pol" der „substantiellen Einheit" von Geist und Körper identifiziert und verwendet „Person" wie „res cogitans". Vgl. Strawson (1959) 1972, 134 f.: M-Prädikate sind physische bzw. körperliche Prädikate, „die ebenfalls korrekt auf materielle Körper angewandt werden" und P-Prädikate Person-Prädikate, die „dazu dienen, ,Bewußtseinszustände zuzuschreiben'" oder zumindest „das Vorhandensein eines Bewußtseins bei dem Subjekt voraussetzen, dem sie zugeschrieben werden sollen."
III. 1 Die cartesianiscbe Ontotogie: Lebewesen als belebte Körper
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sich sagt, daß sie lebt, diese Zuschreibung weder so interpretieren, daß sie sich damit zuschreibt, sich in einem bestimmten mentalen Zustand zu befinden, noch so, daß sie damit eine Beschaffenheit oder einen Zustand ihres Körpers charakterisiert. 24 Das Prädikat ,leben' läßt sich keiner dieser beiden Prädikatgruppen zuordnen, weil es in einem gewissen Sinne abstrakter als alle diese Prädikate ist, mit denen eine Person sich zu verschiedenen Zeitpunkten in physischer und mentaler (oder bewußtseinsimplizierender) Hinsicht charakterisieren kann. Denn vom Ich-Standpunkt aus besteht mein Leben in nichts anderem als der kontinuierlichen Folge meiner Handlungen und Erfahrungen - mit ,meinem Leben' bezeichne ich nicht noch etwas Eigenes, darüber hinaus Liegendes. Und objektiv betrachtet besteht das Leben einer Person schlicht in ihrer Persistenz (s.u.). In beiden Fällen umgreift das mit dem Begriff des Lebens Umfaßte alle einzelnen Begebenheiten der Geschichte einer Person, ohne etwas darüber hinaus Liegendes zu benennen. Die cartesianische Auffassung verfehlt unser tatsächliches Verständnis vom Leben einer menschlicher Person, da es ihr nicht gelingt, einen Begriff menschlicher Personen zu entwickeln, der es möglich machte, sie als lebende Wesen zu verstehen. Es mag keine begriffliche Wahrheit über Personen sein, daß Personen Lebewesen sind. Diese Klärung muß der Philosophie der Person überlassen bleiben. Mir kommt es hier allein auf uns an, d.h. auf diejenigen Personen (welche Wesen auch immer sonst noch als Personen qualifizieren mögen), die Menschen sind. Allein daraus, daß wir Menschen zu den Lebewesen wie zu den Personen gehören, folgt, daß der Begriff der Person auf keinen Fall so expliziert
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In der Philosophie der Person wird dagegen oft allzu bedenkenlos angenommen, daß die Tatsache, daß Personen lebende Wesen sind, lediglich impliziere, daß sie eine besondere Art von materiellen Körpern besitzen (und dann gefragt, ob sie diese notwendiger- oder akzidentellerweise besitzen). Es stimmt zwar, daß die Körper von lebenden Wesen eine besondere Art von materiellen Körpern sind, doch das macht ,leben' nicht schon zu einem Prädikat, das bloß zur Kennzeichnung dieser Körper diente. Diese Analysen nehmen m.E. das Faktum nicht ernst genug, daß nur von Personen - Wesen, die einen Geist und einen Körper haben - gesagt werden kann, daß sie leben, und weder von ihrem Geist noch von ihrem Körper.
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III I^ebeivesen: eine Kategorie sui generis
werden darf, daß es unmöglich wird, von einer Person zu sagen, daß sie lebt oder ein lebendes Wesen ist. Denn von Menschen sagen wir beides: daß sie leben und daß sie Personen sind. Die einfachste Möglichkeit, dieser Bedingung Rechnung zu tragen, ist, den „animal-attribute-view" von Personalität zu vertreten. ,Person' ist demzufolge „a non-biological qualification of animal"25, d.h. ein Prädikat, unter dem die rationalen Fähigkeiten bestimmter Lebewesen zusammengefaßt sind. Für diesen Personaütätsbegriff ist Aristoteles das Vorbild.26 Daß mentale Prädikate ausschließlich Personen zugeschrieben werden27, bedeutet zwar, daß es ein Kategorien fehler wäre, materiellen Körpern das Attribut der Geistbegabtheit zuzuschreiben; doch insofern menschliche Personen Menschen sind, und Menschen zu den Lebewesen gehören, liegt kein Kategorienfehler in der Aussage, daß einigen Lebewesen das Attribut zukommt, geist- bzw. vernunftbegabt, kurz: Personen zu sein. Das Dilemma, daß menschliche Personen entweder nur in biologistischer Weise oder gar nicht als Lebewesen begriffen werden können, wenn Lebewesen schlicht als lebende materielle Körper definiert werden, kann als reductio ad absurdum der mechanistischen Konzeption von Lebewesen gesehen werden. Das Dilemma offenbart, daß es ebenso ein Kategorienfehler ist, materiellen Körpern das Attribut der Lebendigkeit zuzuschreiben und das Lebendigsein lediglich als einen Zustand dieser Körper zu charakterisieren. Die Mindestbedingung dafür, daß wir menschliche Personen (Menschen, die Personen sind) ohne konzeptuelle Probleme zu den Lebewesen rechnen können, scheint zu sein, daß Lebewesen generell nicht als bloße „belebte materielle Körper", sondern als Kategorie sui generis aufgefaßt werden. Es fällt dann leicht, Menschen aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten als eine besondere Art von Lebewesen auszuweisen. 25
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Wiggins 1976, 161. Die Bezeichnung „animal-attribute-view" stammt von Snowdon 1990. Nach dieser Auffassung ist die Frage nicht offen, ob etwas, das kein Lebewesen ist, eine Person sein könnte. Vielmehr bedeutet sie die Subsumtion von Personen unter die Lebewesen: Personen bilden danach eine anhand besonderer Merkmale abgezweigte Teilklasse von Lebewesen. Vgl. Aristoteles, De An. II, 3, 414b 16-18. Vgl. Strawson 1959 (1972), 134.
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1.2 Zweiter Einwand gegen die dualistische Ontologie: Es gibt keine materiellen Körper, denen das Lebendigsein bloß akzidentell wäre Es gibt noch ein zweites Argument für die These, daß wir unter Lebewesen generell etwas anderes verstehen als eine Art materieller Körper, denen aufgrund ihrer besonderen inneren Struktur gewisse charakteristische dispositionale Eigenschaften zukommen, und in denen für eine Weile lang einen bestimmter, verwickelter Prozeß abläuft. Diese Lebewesenkonzeption setzt voraus, daß es Körper gibt, denen die Eigenschaft, lebendig zu sein, akzidentell ist, d.h. Körper, die diese Eigenschaft haben oder verlieren können, und für die diese Veränderung lediglich einen Wechsel in ihren Eigenschaften bedeutet. Es ist leicht zu sehen, wie die gravierenden Veränderungen, die beim Sterben jedes warmblütigen Säugetiers vor sich gehen - der Stillstand der Atembewegung, das Erstarren zu völliger Reaktionsund Reglosigkeit und das Erkalten des Körpers — den Anlaß zu der Vorstellung gaben, daß beim Sterben das Leben aus dem Körper „entweicht", dem es vorher innewohnte. Hieran knüpften die dualistischen Leben- bzw. Seele-/Körper-Theorien an: Die Grundintuition dieser Konzeptionen ist, daß einem für sich genommen leblosen (doch potentiell lebenden) Körper Leben „verliehen" oder „eingehaucht" wird, welches ihn mit dem Tode wieder „verläßt". Der Eintritt der Seele in einen solchen Körper belebt ihn, mit dem Verlust der Seele wird er (wieder?) zu einem leblosen Körper. 28 So tief diese Redeweisen auch durch die dualistische Metaphysik des christlichen Abendlandes in der Sprache verankert sind, so handelt es sich bei diesen Vorstellungen dennoch um pure Mythologie. In diesen Vorstellungen wird der Körper als das das Aufhören des Lebens überdauernde Substrat begriffen, an dem als Zugrundeliegendem sich dieser Vorgang abspielt, für den dieser folglich nur einen Zustandswechsel bedeutet. Problematisch an dieser Auf-
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Vgl. z.B. Piaton, Phaidros, 246c. Siehe auch Jonas ((1973) 1994, 32) über den Lebensbegriff der Orphik.
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fassung ist dabei nicht nur die Hypostasierung der Seele zu einer Entität, sondern auch der materielle Part: die Voraussetzung, daß es Körper gibt, die den Wechsel vom Belebtsein zum Totsein überdauern oder gar den entgegengesetzten Wechsel vom Totsein zum Lebendigsein. Insbesondere das letztere ist leicht als falsch einzusehen: denn die von dieser Metaphysik geforderten, vor ihrer Belebung existierenden, belebbaren Körper gibt es schlicht nicht. Und so wenig, wie es diese Körper gibt, so wenig besteht Belebung in einem physischen Vorgang, bei dem ein zuvor schon als Einzelding existierender Körper von einem leblosen in einen lebendigen Zustand überwechselt. 29 Wenn es keine materiellen Körper gibt, denen die Eigenschaft zu leben akzidentell wäre, so folgt, daß die Eigenschaft zu leben für die Kontinuanten, denen sie zugesprochen wird, essentiell ist: Die Eigenschaft zu leben bezeichnet das Wesen dieser darum ,Lebewesen' genannten Kontinuanten. Während es nicht schwerfällt, die dualistische Konzeption von Belebung abzulehnen, scheint es auf den ersten Blick nicht so einfach möglich zu sein, die analoge Charakterisierung des Sterbens als einer Eigenschaftsveränderung eines Körpers zurückzuweisen. So ist es möglicherweise zu rasch, aus dem Mangel an belebbaren Körpern unmittelbar zu schließen, daß auch das Sterben eines Lebewesens als eine substantielle Veränderung begriffen werden muß, und nicht als eine Eigenschafts-Veränderung eines Körpers begriffen werden kann. Als „substantielle Veränderung" (genesis/phtora haplös) unterscheidet erstmals Aristoteles das Entstehen und Vergehen von Individuen von „akzidentellen Veränderungen" 30 , deren Beschreibung die Persistenz eines Individuums präsupponiert, an oder mit
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Gegen diese These könnte eingewendet werden, daß es Lebewesen einst nicht gab, es sie jetzt aber gibt, so daß sie folglich aus irgendetwas entstanden sein müssen, was (noch) kein Lebewesen war. Das ist richtig, doch muß auch dies m.E. als ein Fall von substantieller Veränderung begriffen werden: aus einem leblosen Körper entstand einst etwas, das wir gemessen an unserem Begriff von Lebewesen bereit wären, ein einfaches Lebewesen zu nennen. D.h., was einst geschehen ist, war die Verwandlung eines leblosen Körpers in ein Lebewesen. Dies war keine Veränderung, die sich an einem solchen Körper abspielte. Siehe De Gen. Corr. 317a 21 ff. Zu dieser Unterscheidung, vgl. auch Kant, KrV, A 264/B 230.
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dem sie stattfinden bzw. das ihnen unterliegt, wie etwa der Eigenschaftswechsel oder der Ortswechsel. Einerseits läßt sich diese Unterscheidung relativieren: Danach ist eine Veränderung nur relativ zu einer gegebenen sortalen Charakterisierung der Individuen als substantielle oder akzidentelle zu beschreiben. Was für ein so-und-so charakterisiertes Individuum das Ende seiner Existenz ist, braucht es für ein anders charakterisiertes nicht zu sein. Dies erlaubt aber auch, in einer gewissen Weise eine „absolute" Unterscheidung von substantieller und akzidenteller Veränderung zu treffen: Danach wären substantielle Veränderungen diejenigen, in denen im Gegensatz zu akzidentellen Veränderungen nur noch die Materie simpliäter und überhaupt kein mittels irgendeines sortalen oder quasi-sortalen Begriffs herausgreifbares materielles Einzelding mehr als Substrat fungiert. 31 Wie verhält es sich diesbezüglich nun im Fall des Sterbens eines Lebewesens? Gegen die These, daß dies als substantielle Veränderung begriffen werden muß, und nicht als eine Eigenschafts- (oder Zustands-) Veränderung eines Körpers aufgefaßt werden kann, wird eingewendet, daß diese beiden Beschreibungen in diesem Fall gar keine einander ausschließenden Alternativen bezeichnen: Zwar bedeute der Tod für ein Lebewesen das Ende seiner Existenz, nicht aber für den Körper des Lebewesens (welcher erst zu existieren aufhöre, wenn er zersetzt wird). Für ein 'Lebewesen stelle der Tod folglich eine substantielle Veränderung dar, für dessen Körper jedoch nicht. Der Körper des Lebewesens mache dabei bloß eine Veränderung durch, und so könne man das Sterben eines Lebewesens ebenso gut als eine Eigenschaftsveränderung (alloiosis) dieses Körpers beschreiben: als die Verwandlung eines belebten in einen unbelebten Körper. Dieser verliere „das Leben", d.h. die Eigenschaft zu leben oder lebendig zu sein. Diese Ansicht beruft sich außerdem auf das Argument, daß das Sterben eines Lebewesens ein Prozeß ist: Die Verwandlung eines lebenden Körpers in einen toten Körper sei eine kontinuierliche, bei der zu keinem Zeitpunkt eine materielle Diskontinuität
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Zu dieser Weise der Unterscheidung von Veränderungen einerseits und Entstehen/Vergehen andererseits, vgl. Aristoteles, De Gen. Corr. I, 4, 319b 6-320a 7.
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von einer Art auftrete, daß wir von zweien statt von einem Körper sprechen müßten. Folglich sei es derselbe Körper, der vor und nach dem Tod des Lebewesens existiere. Dieser stelle daher das Substrat der Veränderung dar, für welchen das Leblos-werden nur eine Veränderung seines Zustandes bedeute. Somit sei das Sterben eines Lebewesens nicht in jenem obengenannten absoluten Sinne als eine substantielle Verwandlung zu beschreiben. So plausibel diese Beschreibung auch anmutet, in der der Körper des Lebewesens als das Substrat des Sterbens aufgefaßt wird, welches das Ende der Existenz des Lebewesens überdauert - läßt sich diese bei genauerer Betrachtung halten? Ist es korrekt zu sagen, daß von einem Lebewesen nach seinem Tode nur mehr sein Körper übrigbleibt? Muß man dieser Aussage nicht entgegenhalten, daß die Verwendung des Possessivpronomens in diesem Fall irreführend ist? Richtig ist: Nach dem Tod eines Lebewesen bleibt ein Körper übrig. Doch ist das, was (angeblich) „von ihm" übrigbleibt, ein toter Körper, mit anderen Worten, ein Leichnam. Diesen gab es vorher jedoch noch gar nicht. 32 Zu sagen, daß dieser „übrigbliebe", ist daher falsch. Das Prädikat ,ist ein Leichnam' ist dem Prädikat ,ist ein lebendes Wesen' konträr entgegengesetzt. Dementsprechend lassen sich weder die vom Terminus ,Leichnam' bezeichnete noch die vom Terminus ,Lebewesen' bezeichnete Entität als das Substrat begreifen, was dem Sterben des Lebewesens zugrunde liegt und dieses überdauert. Einem lebenden Wesen kann zu keinem Zeitpunkt seiner Existenz die Eigenschaft zugeschrieben werden, tot zu sein, und einem Leichnam zu keinem Zeitpunkt die Eigenschaft zu leben. Darum ist der Verweis darauf, daß Sterben ein Prozeß ist, d.h., daß die Verwandlung eines Lebewesens in einen Leichnam kontinuierlich vonstatten geht, allein kein Argument gegen die These, daß am Endpunkt des Prozesses eine Entität vorliegt, die von anderer Art ist als diejenige am Ausgangspunkt des Prozesses. Als Substrat des Sterbens des Lebewesens könnte hingegen nur ein Körper begriffen werden, dem sowohl die Eigenschaft zu 32
Das Wort ,Körper' ist eine Eindeutschung des Fremdworts ,corpus' aus dem Latein der Geistlichen und Ärzte und bedeutete ursprünglich .Leichnam' (vgl. Grimm/Grimm (1873) 1999,1833 f.).
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leben als auch die Eigenschaft, tot zu sein, sinnvoll zuschreibbar wäre, als Eigenschaften, welche jeweils eine Phase seiner Existenz markierten. Dieser Körper müßte unabhängig davon, ob er sich nun im lebenden oder im toten Zustand befindet, als ein Körper begriffen werden können. Darum läuft die Argumentation, daß das Sterben eines Lebewesens als Eigenschaftsveränderung eines Körpers auffaßbar ist, darauf hinaus, die Existenz einer Art von Körpern zu behaupten, denen (zu verschiedenen Zeitpunkten) sowohl die eine wie die andere Eigenschaft zugeschrieben werden kann. Läßt sich diese Behauptung rechtfertigen? Zur Verteidigung dieser These ließe sich sagen, daß man hier den Begriff des Körpers nicht im Sinne von ,Leichnam', sondern im Sinne von ,materieller Körper' gebrauche. Es gelte, zwischen ,Körper' im speziellen Sinne von ,toter Körper' oder ,Leiche' und ,Körper' im allgemeinen Sinne von ,materieller Körper' zu unterscheiden. Daraufhin könne präzisiert werden: mit dem vor dem Todeszeitpunkt gebrauchten Ausdruck ,dieses Lebewesen' und dem danach gebrauchten Ausdruck ,dieser Leichnam' beziehen wir uns auf ein und denselben materiellen Körper. Dieser materielle Körper wäre im lebenden Zustand ein Lebewesen und im toten Zustand ein Leichnam. Die Terme ,Lebewesen' und ,Leichnam' würden so als den Begriff eines materiellen Körpers restringierende Begriffe verstanden. 33 Es handele sich bei ihnen um Phasensortale, mithilfe deren wir uns auf einen konkreten materiellen Körper in verschiedenen Phasen seiner Existenz beziehen. 34 Nun bezweifelt niemand die Existenz eines materiellen Substrats, welches das Sterben eines Lebewesens überdauert. 35 Doch
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Zur Erläuterung dieses Verhältnisses, s. S. 73 f. Dementsprechend würde die Klasse der belebten Körper von denjenigen materiellen Körpern gebildet, die zum Klassifikationszeitpunkt gerade belebt sind und die Klasse der unbelebten Körper von denjenigen, die zu diesem Zeitpunkt gerade nicht belebt sind. Diese Auffassung spiegelt sich in der obigen cartesianischen Klassifikation materieller Körper in belebte und unbelebte wider. Dies gilt auch von Aristoteles. Die Kritik, daß er unter Materie nur das „der Möglichkeit nach Seiende" (dynamei on) verstanden habe, das „mysterious in its ontological indeterminacy" (McMullin 1978, 18) sei, beruht wohl auf einer Fehldeutung von Passagen wie etwa Met. XII, 2, 1069b 15 ff. Gegen diese Inter-
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umstritten ist, ob dieses Substrat als ein Körper zu konzeptualisieren ist oder nicht. Gemäß der obengenannten Unterscheidung zwischen „substantieller" und „akzidenteller" Veränderung gilt es zu klären: ist das Substrat der Veränderung in diesem Fall eine Portion Materie, deren Grenzen allein dadurch bestimmt sind, daß sie die Materie dieses Lebewesens ist? Dann wäre das Sterben dieses Wesens nur als eine substantielle Veränderung zu beschreiben, die die Auflösung eines Individuums in die Materie ist, aus der es besteht. Oder ist dieses Substrat eine Materieportion, die unabhängig davon, daß sie zur Zeit die Materie dieses Lebewesens ist, einen von uns individuierbaren materiellen Körper, ein konkretes Einzelding, darstellt? Dann ließe sich das Sterben eines Lebewesens als eine Eigenschaftsveränderung dieses Körpers begreifen. Wie diese Frage entschieden wird, hängt davon ab, was unter einem materiellen Körper verstanden wird. Hier muß zwischen verschiedenen Bedeutungen dieses Begriffs unterschieden werden: (i) Gewöhnlich verwenden wir ihn als einen abstrakten, generellen Oberbegriff für alle möglichen Arten von materiellen Einzeldingen, deren einzige Gemeinsamkeit darin besteht, einigermaßen fest zu sein und so eine klar umreißbare Gestalt zu haben, aufgrund der sie sich vom materiellen Kontinuum abheben lassen. Wenn der Begriff eines materiellen Körpers lediglich der einer „Materie zwischen bestimmten Grenzen, die also eine Figur hat" 36
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pretarion spricht seine Erläuterung in Phys. I, 8, 191b, daß der Stoff stets das in einer bestimmten Hinsicht Nichtseiende ist (to be me on, ebd., 191b 9 f.). Anders ausgedrückt: Eine bestimmte Portion Stoff ist etwas Nicht-F-Seiendes: etwas, das (noch) nicht F ist, aber F werden kann. Diese Kennzeichnung wendet Aristoteles sowohl auf Fälle an, in denen für ,F' ein Prädikat steht, das eine Qualität oder ein Attribut bezeichnet (s. ,leukon' in Met. XII, 2, 1069b) als auch in Fällen, wo für ,F' ein sortales Prädikat (Säge, Haus etc.) eingesetzt ist. Daß eine bestimmte Stoffportion von Aristoteles als etwas potentiell F-Seiendes bezeichnet wird, muß vor dem Hintergrund seiner Erkenntnis gesehen werden, daß nicht Beliebiges aus Beliebigem entstehen kann: So kann man z.B. aus Wolle oder Holz keine Säge herstellen, sondern nur aus einem harten Material wie Eisen. Daß (eine) Eisen(portion) nun „der Möglichkeit nach eine Säge" ist - während Wolle und Holz dies nicht sind - ist Aristoteles' (wenn auch wohl eher unglücklicher) Ausdruck dafür, daß Eisen - im Gegensatz zu Wolle und Holz - ein Stoff ist, der zu einer Säge (geformt) werden kann. Kant 1786, A 85. Im 3. Hauptstück, den Metaphysischen Anfangsgründen der Mechanik, heißt es ebenso, daß unter einem Körper „in mechanischer Bedeutung eine
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ist, so fällt jede beliebige einigermaßen feste Materieportion in seine Extension, wie unförmig und unorganisiert sie auch immer sein mag, so lange sie sich als solche von einem gasförmigen oder flüssigen Medium unterscheiden läßt, natürlich aber auch komplexere materielle Gebilde wie unsere technischen Produkte und andere unbelebte Dinge. Die Frage ist jedoch: Wenn der Begriff des materiellen Körpers so bestimmt ist, daß es sich dabei um ein Stück Materie handelt, das eine von qualitativer Diskontinuität bestimmte physische Grenze 37 und eine bestimmte Gestalt oder Figur hat, fallen dann Lebewesen in seine Extension? (ii) Der Begriff eines materiellen Körpers wird in der analytischen Ontologie jedoch auch in einem restriktiveren Sinne verwendet, wonach mit ihm nur eine bestimmte Subklasse der in (i) aufgeführten materiellen Gegenstände bezeichnet werden soll: diejenige der „unförmigen" festen Körper, die zwar jeweils irgendeine Gestalt haben, jedoch keine artspezifische. Solche materiellen Körper werden von uns typischerweise nur mithilfe bestimmter „dummy sortals" individuiert. So verstanden, fungiert der Begriff eines materiellen Körpers als Kontrastbegriff zu dem eines Dings und dem eines Lebewesens, deren Extension nur aus durch genuine Sortale bezeichneten Kontinuanten besteht, die jeweils über eine artspezifische Form verfügen. (iii) Darüber hinaus gibt es einen physikalischen Sinn des Begriffs ,materieller Körper', in welchem dieser Begriff synonym zu ,Materieaggregat' gebraucht wird. Ich beginne mit (ii), denn wenn wir dieses Verständnis materieller Körper zugrunde legen, ist die Antwort auf die obige Frage rasch gegeben. Danach steht der Begriff ,materieller Körper' für ein relativ festes Stück Materie, das sich als solches von einem gasförmigen oder flüssigen Medium abheben läßt. Solche Stoffportionen lassen sich als Körper nur durch ein den jeweiligen Stoffterminus ergänzendes „dummy-sortal" individuieren. Beispiele für solche „blassen" ergänzenden Sortale, die implizieren, daß die Materieportionen, die sie bezeichnen, einigermaßen feste
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Masse, m.a.W. eine Quantität der Materie, von bestimmter Gestalt" verstanden wird (s. ebd., A 108). Vgl. Smith/Varzi (2000, 401 f.) zu „bona fide boundaries".
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Körper sind, lauten: ,Stück', ,Brocken', ,Klumpen'. 38 Aristoteles' Standard-Beispiel für solch einen Körper ist das Stück Erz, das zu einer Statue (geformt) wird (oder allgemein „he hyle arithmeti?'39); Descartes' Beispiel ist das Stück Wachs, das zerschmolzen wird, und an Lockes Definition von „masses of matter" 40 kann man ablesen, daß er diese ebenfalls als materielle Körper in diesem Sinne auffaßt. Erzklumpen oder Wachsstücke sind einzelne materielle Körper, für deren jeweilige faktische Gestalt wir keine (art-)spezifischen Namen haben, 41 sondern die wir nur mithilfe solcher blasser, den Stoffnamen ergänzenden Quasi-Sortale wie ,Brocken', ,Klumpen', ,Stück' als einzelne Körper kennzeichnen können. Es liegt aber auf der Hand, daß der Verwandlung eines Lebewesens in einen Leichnam kein solch amorpher Körper zugrunde liegt. Die eigentliche Frage lautet vielmehr: wenn der Begriff eines materiellen Körpers wie in (i) als abstrakter Oberbegriff für verschiedenartige materielle Einzeldinge aufgefaßt wird, gibt es dann in der Extension dieses Begriffs materielle Körper, von denen wir sagen können, daß sie das Sterben eines lebenden Wesens überdauern? Von denen wir sagen können, daß sie zuerst leben und dann tot sind? Was bedeutete, daß lebende Wesen als solche Körper im lebenden Zustand begreifbar wären und so gleichfalls als Teilklasse zur Extension dieses Begriffs zu rechnen wären? Ich meine, daß diese Frage mit „nein" beantwortet werden muß und
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Solche Ausdrücke sind keine echten Sortale, sondern nur aus der Not geborene Behelfsausdrücke in einer Situation, in der uns ein genuiner Sortalbegriff zur Individuation der Materieportion fehlt, die vor der Entstehung einer ousia existiert und sich in eine ousia verwandelt. Daß diese Ausdrücke keine genuinen Sortale sind, sieht man daran, daß eine beliebige Zerteilung z.B. eines Erzbrokkens in kleinere Stücke wiederum Gegenstände ergäbe, auf die der Terminus ,Erzbrocken' anwendbar ist; d.h. daran, daß das mereologische Kriterium (s.u. S. 121 für dessen Erläuterung) für sortale Terme nicht erfüllt ist. Phys. II, 7, 190b 25. Locke (1690), 2. Buch, Kap. 27, § 3 (s.u. IV.l). Vgl. Aristoteles, Met. VII, 7, 1033a 13-16, wo er sagt, daß der Mangel irgendeiner Gestalt beim Erz oder der Mangel der Haus-Form bei den Baumaterialien, dem Holz und den Backsteinen „adylos" und „anonymos" sei; m.a.W., daß wir keinen Namen für das haben, dem eine spezifische Gestalt wie die einer Statue oder die eines Hauses fehlt. Daß wir gar keine haben, ist nach dem oben im Haupttext Gesagten etwas übertrieben.
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daß der Anschein, es gäbe solche materiellen Körper, auf einer Verwechslung von materiellen „Körpern" im Sinne von (iii) mit materiellen Körpern im gewöhnlichen Sinne von (i) beruht. Denn ob wir den Begriff eines materiellen Körpers nun im Sinne von (i) oder (ii) verstehen, entscheidend ist: Wenn wir ihn so verwenden, daß dieser ein Begriff von konkreten materiellen Ein^e Idingen ist, so muß immer zwischen dem begrenzten Körper von einer bestimmten Gestalt und der (Quantität) Materie, aus der er besteht, differenziert werden. Daß dies selbst noch in dem Falle (ii) gilt, in welchem es sich bei dem fraglichen Körper bloß um ein „unförmiges" Materiestück handelt (d.h. eines, für dessen Form wir keinen spezifischen Namen haben), macht Descartes' Wachsbeispiel in den Meditationen deutlich: 42 Descartes fordert uns dort auf, als Beispiel dafür, was man gemeinhin unter materiellen Körpern versteht, „dieses Wachs" („hanc ceram") zu betrachten. Das, worauf er mit diesem singulären Term referiert, ist zunächst ein Stück Wachs (bzw. ein Stück Bienenstock). In die Nähe des Feuers gebracht, verflüssigt sich „dieses Wachs". Das Wachs stück ist verschwunden, wenn das Wachs flüssig geworden ist (es ist unsinnig, von einem flüssigen Stück Wachs zu reden). Gleichwohl sagen wir, daß „dieses Wachs" dasselbe Wachs bleibt, während es flüssig wird: Es ist dasselbe Wachs, welches zuerst in Form eines festen Stücks vorlag und welches nun in flüssiger Form vorliegt. Die Persistenzbedingungen des Stücks Wachs und des Wachses, aus dem das Stück Wachs besteht, klaffen also auseinander: Das Wachs persistiert durch die Erwärmung hindurch, während das Wachs stück aufhört zu existieren. Descartes zieht daraus allerdings nicht die Konsequenz, daß hier ein bestimmter materieller Körper aufgehört hätte zu existieren, sondern die Konsequenz, daß nicht das Stück Wachs, sondern vielmehr „das Wachs selbst' {„ceram ipsam") als ein Körper angesehen werden sollte, - ein Körper, der in verschiedenen „Zustandsweisen" {modi), d.h. Aggregatzuständen, vorliegen kann. (Gerade im Falle der simplen materiellen Körper im Sinne von (ii), zu denen
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Vgl. Descartes (1641) 1992, 52-55 [AT VII, 25-29],
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das Wachsstück gehört, interessiert nicht die Existenz solch eines Stücks, sondern viel mehr die des Wachses. So ist das Beispiel gut gewählt.) Mit dieser Regelung verschiebt sich die Bedeutung des Begriffs ,materieller Körper' von ,Stück', ,Brocken' oder einem anderen begrenzten Einzelding von bestimmter Gestalt zu dem Begriff einer (wie auch immer abgegrenzten) Quantität Materie, wobei die Individuationsprinzipien solcher Portionen bei Descartes im Rahmen seines Beispiels unbestimmt bleiben. Damit sind wir bei (iii), dem physikalischen Begriff eines materiellen Körpers angelangt. Durch diese Verwendung in der Physik hat dieser Begriff eine Bedeutung erhalten, die sich nicht aus der Entgegensetzung von lebendem Wesen und totem Körper speist, sondern sich zu dieser indifferent, neutral verhält. Er wird hier praktisch synonym mit dem Begriff einer konkreten Quantität Materie gebraucht. Ein solcher „Körper" ist das Quantum Wachs in Descartes' Beispiel, das nicht vergeht, wenn das Stück dahinschmilzt, sondern das lediglich seinen Aggregatzustand wechselt. Als materieller Körper im physikalischen Sinne (iii) zählt jede beliebige konkret oder gedanklich abgegrenzte Quantität Materie unabhängig davon, in welchem Aggregatzustand sie sich befindet. Dieser Begriff eines materiellen Körpers ist historisch eng mit der Ablehnung der aristotelischen Materiekonzeption verbunden. Aristoteles nahm an, daß Materie ausschließlich als die Materie eines Einzeldings von bestimmter Form — sei dieses nun ein Lebewesen oder ein unbelebtes (sortal oder quasi-sortal bestimmtes) Ding - in Einzelportionen gliederbar sei. Hiervon rührt der ontologische Primat her, den diese Individuen in der aristotelischen Ontologie gegenüber der Materie besitzen, aus der sie bestehen. Nur von diesen aus kann man sich zu ihren Bestandteilen „vorarbeiten" und von denen zu den Stoffen, aus denen diese bestehen usf. Gegen die Verabsolutierung der Annahme, daß Materie nur als Materie eines Einzeldings von bestimmter Form und nicht von sich aus etwas Bestimmtes ist, richtete sich der neuzeitliche Ato-
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mismus: 43 Welches Verständnis von ,Atom' man auch zugrunde legt; 44 die entscheidende Wendung für den Materiebegriff besteht darin, daß solche Atome als individuelle, auch unabhängig von Lebewesen oder makroskopischen Dingen durch Raum und Zeit verfolgbare Entitäten, gleichsam als „Mikro-Kontinuanten" gedacht werden. Auf der Basis dieser Vorstellung ließ sich ein neuer Begriff des materiellen Körpers entwickeln: Anstatt unter einem solchen allein ein durch einen individuativen Terminus (d.h. sortalen oder wenigstens „quasi-sortalen" Terminus) bezeichnetes materielles Einzelding von bestimmter Gestalt zu verstehen (d.h. einen Körper im Sinne von (i) oder (ii)), wird nunmehr unter einem materiellen Körper eine bestimmte Quantität Materie verstanden, die identisch mit einem konkreten Aggregat von Atomen ist, welches über seine Elemente individuierbar ist. Letzteres ist das Individuationsprinzip von materiellen „Körpern" im physikalischen Sinne von (iii).45
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Ihren antiken Vorläufer hatte die atomistische Materiekonzeption allerdings schon in Demokrit. ,Atom' im strengen mereologischen Sinne bedeutet: ein Ding, das keine echten Teile hat (vgl. Simons 1987, 16). Trifft aber das von Kant (KrV, A 523-527/B 551-555) über die unendliche Teilbarkeit eines physischen Gegenstandes Gesagte zu, so gibt keine Atome in diesem mereologischen Sinne in der physischen Welt. Demgegenüber definiert Kant (1796, A 100) ein Atom als einen „kleinen Teil der Materie, der physisch unteilbar ist", wobei „eine Materie physisch unteilbar [ist], deren Teile mit einer Kraft zusammenhängen, die durch keine in der Natur befindliche Kraft überwältigt werden kann." Es ist offen, ob es Atome in diesem Sinne gibt, oder ob sich nicht auch die Elementarteilchen, die derzeit diese Definition erfüllen, bei Bau noch größerer Teilchenbeschleuniger als physisch weiter teilbar erweisen werden. Wie dem auch sei, heute wird der Begriff eines Atoms in den Naturwissenschaften ohnehin in einem anderen, engeren Sinne verwendet, nämlich als Bezeichnung für die kleinsten mit chemischen Mitteln nicht mehr teilbaren „Bausteine" der Materie (vgl. Janich 1995, 210). Diese „Atome" sind selbstverständlich physisch teilbar, doch stellen sie anhomöomere Ganze (zur Erläuterung s.u., III.2) und in diesem Sinne einfache Individuen dar (vgl. dazu Bürge 1977, 104). Es gibt eine Reihe von Ontologen, die den Materie-Atomen ontologischen Vorrang vor den Dingen einräumen, die aus ihnen bestehen. So bestreitet etwa van Inwagen die Existenz von Stühlen, Tischen etc.: Bei dem, worauf wir uns mit diesen Termini beziehen, handele es sich lediglich um ,,[s]imples arranged chairwise" (1990, 109; vgl. 99).
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Generell wird als ein Aggregat „eine Vielheit von Gegenständen" bezeichnet, „deren Zusammenhang auf einem bloßen und zufälligen Verhältnis der Kontiguität (der räumlichen und/oder zeitlichen Nähe) beruht oder subjektiv auf einer willkürlichen Zusammenfassung". 46 Als „Zusammenhangsprinzip" eines Aggregats fungiert „ausschließlich eine objektiv gegebene oder subjektiv gesetzte Kontiguität." 47 Der Begriff eines Aggregats ist damit kein Begriff eines begrenzten materiellen Körpers von einer bestimmten Gestalt, sondern lediglich der einer bestimmten Gesamtheit von Individuen. 48 Es ist diese auf dem Atomismus aufbauende Charakterisation einer Quantität Materie, für die es in der aristotelischen Materiekonzeption kein Pendant gibt. Wie nun das Wachsbeispiel zeigte, sind die Bedingungen für die Persistenz einer Quantität Materie als solcher, d.h. eines Aggregats bestimmter Teilchen, verschieden von denen für die Persistenz eines materiellen Körpers im Sinne von (i) und (ii), den sie (zu einem Zeitpunkt) bildet. Auf diese werde ich in Kapitel IV noch genauer zu sprechen kommen. Aus diesem Grund können Aggregate materieller Teilchen nicht als identisch mit irgendwelchen materiellen Körpern im Sinne von (i) oder (ii) angesehen werden. Jeder materielle Körper im gewöhnlichen Sinne von (i) oder (ii) besteht aus einer bestimmten Quantität Materie. Wenn man nun nicht sagen will, daß materielle Körper (im Sinne von (i) und. (ii)) aus materiellen Körpern im Sinne von (iii) bestehen, muß man sich entscheiden, für welche Kategorie von Einzeldingen man den Körperbegriff „reservieren" will. Da ich meine, daß es zum Begriff eines materiellen Körpers gehört, daß er „von bestimmter Gestalt" 49 ist, so daß (i) artikuliert, was wir gemeinhin unter mate-
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Holenstein 1983, 314. Ebd. Vgl. auch Riedel 1995, 52 f.: Ein Aggregat wird dort definiert als „die zufällig entstandene (spontane) oder angeordnete (geregelte) Zusammenführung mehrerer gleich- oder verschiedenartiger (mathematischer, physischer, chemischer, technischer, sozialer etc.) Elemente." Diese Definition eines Aggregats macht deutlich, daß „the notion of aggregate, like that of first-order set, presupposes the notion of individual" (Bürge 1977, 103), da stets spezifiziert werden muß, was für Einzeldinge zusammengefaßt werden sollen. Vgl. Rapp 1995, 205. Kant 1786, A 85 (s. Fußnote 36).
III. 1 Die cartesianische Ontotogie: Lebewesen als belebte Körper
115
riellen Körpern verstehen, habe ich von Aggregaten nur in Anführungsstrichen als „Körpern" gesprochen. Daß es problematisch ist, Aggregate materieller Teilchen als materielle Körper zu begreifen, wird insbesondere deutlich, wenn wir betrachten, was uns im Einzelfall die Identifikation solcher Aggregate ermöglicht. Zwar ist jede bestimmte konkrete Quantität Materie für sich genommen eine von anderen Materieportionen distinkte Einheit, insofern jede ein bestimmtes Aggregat distinkter, konkreter Atome darstellt. Doch die Frage ist: Wie werden solche Aggregate identifiziert? Wie schon das prindpium individuationis physischer Gegenstände ist auch das von Aggregaten für sich genommen nicht geeignet, die Herausgreifbarkeit und Zählbarkeit von einzelnen Aggregaten konkreter Teilchen zu gewährleisten. Dies liegt daran, daß durch dieses nicht festgelegt ist, welche der Atome der Welt denn nun zu einem bestimmten Aggregat gerechnet (zusammengefaßt) werden sollen. Es ist kein „principle of individualness", sondern ein (synchrones) „principle of identity and diversity" (vgl. dazu S. 19, Fußnote 12) für bereits identifizierte Materieportionen. Das heißt: daß die Anzahl der Atome eines Aggregats bestimmt ist und werden kann, hängt davon ab, daß zuvor mittels eines individuativen Terminus eine Materieportion vom Rest der Welt abgegrenzt wurde — mit anderen Worten davon, daß ein bestimmter materieller Körper im Sinne von (i) oder (ii) isoliert wurde. Zu einzelnen, voneinander unterscheidbaren Aggregaten von Teilchen gelangen wir nur, wenn sie als die Materie einzelner Individuen individuiert werden, deren Grenze ihre Grenze bildet - so weit war Aristoteles im Recht. Erst aufgrund irgendeiner solchen Grenzfestlegung ist ein bestimmtes Aggregat von Teilchen individuiert. Dessen Geschichte kann daraufhin indes unabhängig von der Geschichte des materiellen Körpers, dessen Grenzen zu einem Zeitpunkt zur Individuation des Aggregats dienten, nach rückwärts oder nach vorwärts extrapoliert und verfolgt werden — dies ist, was Aristoteles nicht in Betracht zog und was sich erst durch die atomistische Materiekonzeption ergibt. Ein und dasselbe Quantum Wachs kann so beispielsweise sowohl ein unförmiges Stück Wachs bilden als auch eine flüssige Masse Wachs als auch eine Kerze aus Wachs.
116
III Lebewesen: eine Kategorie sui generis
Wie lautet nun vor dem Hintergrund dieser Differenzierung des Begriffs eines materiellen Körpers in (i) materielle Körper im gewöhnlichen Sinne und (iii) materielle „Körper" im Sinne von Aggregaten materieller Teilchen die Antwort auf die Frage, ob es einen materiellen Körper gibt, der das Sterben eines Lebewesens überdauert? Diese Frage können wir nun genauer stellen: Verfügen wir über einen individuativen Begriff, der eine bestimmte Art materieller Körper im Sinne von (i) bezeichnete, und der zur Abgrenzung der Quantität Materie dienen könnte, die der Verwandlung eines Lebewesens in einen Leichnam zugrunde liegt? Oder läßt sich als Substrat dieses Prozesses nur allein eine bestimmte Quantität Materie begreifen? Ich meine, daß die erste dieser beiden Fragen negativ beantwortet werden muß und die zweite positiv. Die positive Antwort auf die zweite Frage darf nicht mit einer positiven Antwort auf die erste verwechselt werden. Denn aus der positiven Antwort auf die zweite folgt, daß Sterben genaugenommen nicht als eine Eigenschaftsveränderung eines materiellen Körpers verstanden werden kann. Es gibt danach zwar eine bestimmte Quantität Materie, die vor dem Tod das Lebewesen und nach dessen Tod den Leichnam bildet; die sich also als das Substrat des Sterbens begreifen läßt, was den Tod des Lebewesens überdauert. Doch stellt diese ein bestimmtes Aggregat von Atomen dar und keinen materiellen Körper im Sinne im Sinne von (i). Sie überdauerte insbesondere auch die Zersetzung des Leichnams, und ihre Atome sind, bevor sie Teil (des Körpers) des Lebewesens wurden, auch Teil anderer Körper gewesen. Obgleich es also richtig ist, daß eine bestimmte Quantität Materie den Tod eines Lebewesens überdauert und dieser Verwandlung zugrunde liegt, so ist diese gerade nicht ein materieller Körper im Sinne von (i) - doch die Existenz eines solchen wäre nötig, um diesen Vorgang als eine Eigenschaftsveränderung beschreiben zu können. 50 Die Quantität Materie, die den Tod eines lebenden Wesens überdauert, ist dagegen nur dadurch, daß sie diejenige ist, aus der
50
Vgl. dazu S. 104 f.
III. 1 Die cartesianische Ontotogie: Lebewesen als belebte Körper
117
dieses Wesen kurz vor seinem Tod besteht, vom materiellen Kontinuum der Welt abgegrenzt. Ihre Grenzen, durch die bestimmt wird, welche Atome sie umfaßt, sind die Grenzen des Lebewesens, das eine bestimmte körperliche Gestalt besitzt - wir haben keine andere Möglichkeit, den Körper eines Lebewesens als ein materielles Einzelding von bestimmter Gestalt zu individuieren, als dafür den individuativen Begriff für das jeweilige Lebewesen zu verwenden. Aus diesem Grund kann der Körper des Lebewesens nicht als ein materieller Körper im Sinne von (i) begriffen werden, welcher lediglich akzidentellerweise dieses Lebewesen bildete. So stellt das Sterben eines Lebewesens eine substantielle Veränderung in jenem „absoluten" Sinne dar, daß uns kein sortaler Begriff zur Verfügung steht, der in der diachronen Identitätsaussage „Dieses Lebewesen ist der-/die-/dasselbe Κ wie dieser Leichnam" für Κ einsetzbar wäre. Das Substrat des Sterbens eines Lebewesens ist vielmehr allein eine bestimmte Quantität Materie, aus der das lebende Wesen wie der Leichnam besteht. So läßt sich auch unter den Vorzeichen des atomistischen Materiebegriffs nur von dem in Abstraktion von aller Geformtheit betrachteten Stoff sagen, daß er die Verwandlung eines Lebewesens in einen Leichnam überdauert. Von der Materie bzw. von den Atomen der Materie gilt, daß sie sowohl Teil eines Körpers eines Lebewesens als auch Teil eines Leichnams oder irgend eines anderen unbelebten Dings sein können. Für sie macht es keinen Unterschied, ob sie den Körper eines Lebewesens oder ein unbelebtes Ding bilden. Im Unterschied zum Begriff des materiellen Körpers ist der Begriff eines Kontinuanten nicht von der Entgegensetzung von Lebendem und Toten tangiert oder mit physikalistischen Konnotationen behaftet. Ihm liegt eine andere Abstraktion zugrunde: Mit ihm verbindet sich nur die Vorstellung von etwas Persistierendem überhaupt, wobei unbestimmt bleibt, worin die Persistenz der in diese Kategorie fallenden Einzeldinge jeweils bestehen mag. Damit ist dieser Begriff auch abstrakt genug, um gegenüber der Unterscheidung von Belebtem und Unbelebtem noch neutral zu sein. Die Differenz zwischen lebenden Wesen und leblosen Dingen läßt sich daraufhin über den Aufweis einführen, daß ihre Persistenzbedingungen verschieden sind.
118
III Lebemsen: eine Kategorie sui generis
Die Kategorisierung ,Lebewesen versus Dinge', die diese als verschiedene Arten von Kontinuanten ansieht, umgeht so die hier kritisierte Einteilung der materiellen Körper in belebte und unbelebte. Anstatt materiellen Körpern das Attribut der Lebendigkeit zuzuschreiben, wie es in physiko-chemisch orientierten Ansätzen geschieht, wird im Rahmen dieser Einteilung vielmehr Körperlichkeit als ein Attribut von Lebewesen aufgefaßt. Dies ist der Unterschied ums Ganze: Das erste bedeutet, Lebewesen als eine Unterart von materiellen Körpern zu verstehen; das zweite hingegen, sie als körperliche Wesen zu verstehen. Wenn das bisher Gesagte richtig ist, dann stellt die Rede von belebten oder lebenden Körpern vielmehr einen Kategorienfehler dar, wenn darunter materielle Körper im lebenden Zustand verstanden werden. Materielle Körper — im gewöhnlichen Sinne des Worts (i) — sind nicht unabhängig davon als Einzeldinge faßbar, ob sie die Körper lebender Wesen oder bestimmte leblose Dinge sind. Der Begriff eines materiellen Körpers kann folglich nicht als ein gegenüber der Unterscheidung von Lebewesen und Dingen neutraler Oberbegriff verstanden werden, sondern es gibt nur lebende körperliche Wesen und tote materielle Körper oder Dinge. Daß Lebewesen körperliche Wesen sind, beinhaltet, daß es zwar Attribute gibt, die Lebewesen genauso wie unbelebten materiellen Körpern zukommen (jene von M-Prädikaten bezeichneten Attribute), aber darüber hinaus auch bestimmte Attribute, die im wörtlichen Sinne einzig und allein auf Lebewesen zutreffen; und daß der Begriff von Lebewesen einer von Wesen ist, von denen sowohl die letzteren als auch die ersten aussagbar sind. Die These, daß nicht bloß menschliche Personen, sondern Lebewesen generell nicht bloß materielle Körper mit einer bestimmten, komplizierten Struktur sind, soll im folgenden weiter ausgeführt werden. Lebende Wesen stellen eine distinkte Kategorie von Kontinuanten dar, die sich nicht nur von bloßen Quantitäten von Materie, sondern auch von Dingen oder Körpern unterscheidet. Im folgenden soll daher dafür argumentiert werden, daß die Kategorie der Kontinuanten in (mindestens) drei Unterkategorien eingeteilt werden muß: (1.) „bloße" Materiequanta oder -aggregate, (2.) Dinge, (3.) Lebewesen. Daß die Kategorie der Lebewesen distinkt ist von den beiden anderen Arten von Konti-
III. 1 Die cartesianische Ontologie: Lebewesen als belebte Körper
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nuanten, soll insbesondere mit den Nachweis begründet werden, daß sich die Persistenzbedingungen von Lebewesen von denen dieser anderen Arten unterscheiden. Da die Distinktheit von Lebewesen auf dem Wege des Kontrasts zu diesen anderen Arten von Kontinuanten erwiesen werden soll, ist im folgenden auch eine Analyse von deren Individuations- und Persistenzprinzipien notwendig (vgl. Kapitel IV).
2. Lebewesen und Dinge als Kontinuanten Dinge und Lebewesen sind Kontinuanten, die entweder materielle Körper sind oder materielle Körper haben. Solche mittelgroßen, begrenzten, beweglichen physischen Gegenstände, die „notwendig eine Raumstelle ausfüllen, innerhalb einer Zeitspanne weiterexistieren, von einer Oberfläche eingeschlossen sind und Masse haben" 1 stellen die paradigmatischen Kontinuanten dar. Ich werde hier zunächst darauf eingehen, was Lebewesen und Dinge als Kontinuanten kennzeichnet, um dann, in den folgenden Abschnitten, dafür zu argumentieren, daß die Gegenüberstellung von Lebewesen und Dingen als verschiedene Arten von Kontinuanten gerechtfertigt ist, weil zu persistieren für Lebewesen in etwas anderem besteht als für Dinge. Das Verständnis von Kontinuanten, das dieser Arbeit zugrundeliegt, ist an Aristoteles' Begriff der ersten Substanz angelehnt. Es ist bekannt, daß dessen Begriff eines einzelnen, veränderlichen Wesens - einer „ersten Substanz" — vor allem auf Lebewesen wie z.B. „ein bestimmter Mensch" oder „ein bestimmtes Pferd" gemünzt ist. 2 Indessen ist sein grammatisches Kriterium dafür, daß in einer Aussage von einer individuellen Substanz die Rede ist, so weit gefaßt, daß nicht nur Lebewesen qualifizieren, sondern materielle Einzeldinge generell: ,,[D]ie ersten Substanzen [heißen] deshalb im vorzüglichen Sinne Substanzen, weil sie Subjekt von
1 2
Runggaldier/Kanzian 1998, 115. S. z.B. Met. VII, 8, 1034a 3-4.
120
III I^ebewesen: eine Kategorie sui generis
allem anderen sind und alles andere von ihnen ausgesagt wird." 3 Diesem Kriterium zufolge gehört das, für das der singuläre Term an der Subjektstelle einer Prädikation steht, zur Kategorie der Substanzen. Strawson reformuliert dieses Kriterium so, daß es das Kennzeichen von Einzeldingen („individuals") ist, „irreducibly subjects of predication or, as we now say, objects of reference" 4 zu sein. Dieses Konzept einer Substanz hat sich in der angelsächsischen Philosophie in den Bezeichnungen „material substances" oder „individual substances" für Kontinuanten erhalten. 5 Was Aristoteles als ,zweite Substanz' bezeichnete, wird heute ein sortales Prädikat genannt. 6 Charakteristisch für Sortale ist, daß sie in der Antwort auf die Frage verwendet werden, durch die Aristoteles die Kategorie der Substanz zu definieren suchte, nämlich die Frage, was etwas ist: Ein die Was-Frage beantwortender Begriff wird von ihm als ein Art-Begriff (eidos) bezeichnet und den Eigenschafts-Begriffen gegenübergestellt. Ein Nominalist könnte gegen diese Unterscheidung einwenden, daß jedes Prädikat eine Art von Einzeldingen bezeichnet. Es gibt jedoch drei Kriterien, anhand derer sich im engeren Sinne sortale Prädikate von Prädikaten unterscheiden lassen, die bloß einen Sortierungsgesichtspunkt für Individuen darstellen: 7 (1.) Das grammatikalische Kriterium·. Grammatikalisch sind sortale Terme dadurch gekennzeichnet, daß sie Pluralformen zulassen und daß sie als Einsetzungsinstanzen für Κ in den Formuüe-
3 4 5 6
7
Kat. V , 2 b l 5 - 1 7 . Strawson 1990, 316. So verwendet, dient der Substanzbegriff zur Bezeichnung einzelner Individuen, nicht zur Bezeichnung der Materie oder einzelner Stoffarten. Aristoteles hat gesehen, daß es sich bei den zweiten Substanzen um Prädikate handelt. Vgl. Kat. 3b 13-16: „Jede Substanz scheint ein Dieses zu bezeichnen, und bei den ersten Substanzen ist es zweifellos und wahr, das sie es tun. Das, worauf man hier hinweist, ist unteilbar und der Zahl nach eins. Bei den zweiten Substanzen aber [...] bezeichnet man in diesem Falle ein Qualitatives. Denn hier ist das Subjekt nicht eins [...] sondern Mensch und Sinnenwesen wird von vielen Subjekten ausgesagt." Für diese Auflistung und eine ausfuhrlichere Diskussion dieser Kriterien, vgl. Rapp 1995, 188 ff.
111.2 Lebewesen und Dinge als Kontinuanten
121
rungen „x ist dasselbe Κ wie y"; „ein K, zwei Ks, drei Ks"; „es gibt Ks" dienen können. (2.) Das Kriterium der Zählbarkeit. Gemäß diesem Kriterium ist ein Term sortal, wenn er die Frage „Wieviele sind da?" zu einer sinnvollen Frage ergänzt, ohne daß dazu auf Individuationsprinzipien und Zählverfahren anderer Begriffe zurückgegriffen werden müßte. 8 (3.) Das mereologische Kriterium·. Ihm zufolge ist ein Term sortal, wenn die beliebige Zerteilung des von ihm denotierten Gegenstandes keine weiteren Gegenstände ergibt, die ebenfalls mit diesem Term bezeichnet werden können. 9 Vor allem dieses letzte Kriterium ist wichtig, da sich in ihm ein entscheidender Punkt unseres Verständnisses artikuliert, worin sich die unter einen sortalen Term fallenden physischen Gegenstände von denen unterscheiden, die von nichtsortalen Termen bezeichnet werden: Mit einem sortalen Begriff ist die Vorstellung von einem in Teile eingeteilten Ganzen verbunden, das als dieses Ganze nicht mit einem Aggregat bzw. einer Summe seiner Teile gleichgesetzt werden kann. 10 In diesem Sinne läßt sich der notorisch unklare Slogan „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile" verstehen als die Behauptung: „Das Ganze ist etwas anderes als eine Summe seiner Teile." In dieser Behauptung sind zwei Teilthesen enthalten: (a) Ein unter einen sortalen Term fallender Gegenstand ist keine Summe seiner Teile. Weder mit dem Begriff einer Summe noch mit dem Begriff eines (gedanklich oder physisch in Teile (eingeteilten) Aggregats verbindet sich die Vorstellung, daß die Summanden oder Teile in irgendeiner spezifischen Art und Weise angeordnet sein müßten: De facto werden die Zahlen in einer kon-
8
9 10
Zum Zählbarkeitskriterium, s. Strawson 1959, 168: „A sortal universal supplies a principle for distinguishing and counting individual particulars which it collects. It presupposes no antecedent principle, or method, of individuating the particulars it collects." Kurz: Sortale Begriffe zeichnen sich dadurch aus, daß sie für sich genommen als Zählmaße taugen. Das mereologische Kriterium für sortale Terme geht auf Frege zurück (vgl. Frege 1884 (1987), § 54). Vgl. Rapp 1995, 199 f.
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III Lebewesen: eine Kategorie sui generis
kreten Addition zwar immer in irgendeiner bestimmten Reihenfolge addiert werden, dennoch ist das Ergebnis der Addition vollkommen unabhängig von der Reihenfolge: jede beliebige andere Reihenfolge ergäbe dieselbe Summe. Wenn man unter einem Aggregat eine bloße Ansammlung von Materieteilchen versteht, die durch irgendein ihr äußerliches Prinzip individuiert wird, so gilt analog: De facto werden die Teilchen eines solchen MaterieAggregats immer in irgendeiner bestimmten Anordnung vorliegen, dennoch spielt diese für dessen Identität keine Rolle. Auch in jeder beliebigen anderen Anordnung „ergäben" die Teilchen dieses Aggregats dasselbe Aggregat. Daß ein unter einen sortalen Term fallender Gegenstand keine Summe seiner Teile ist, meint so zum einen, daß seine Teile in einer spezifischen Form angeordnet sind, so daß nicht bloß ihre Anzahl, sondern auch ihre Anordnung für die Identität eines Gegenstandes dieser Art relevant ist. In einer anderen Anordnung als dieser bildeten sie nicht mehr ein Ding oder Wesen dieser Art. Wo aber die Anordnung der Teile in dieser Weise relevant ist, ist der Ausdruck „Summe von Teilen" zur Bezeichnung des Gegenstandes unangemessen. (b) Daß der unter ein Sortal fallende Gegenstand eine andere Entität ist als seine Teile, ist dahingehend zu verstehen, daß seine Einteilung oder — selbstverständlich mögliche — konkrete physische Zerteilung keine Teile liefert, die unter dasselbe Sortal fielen wie er, der zerteilte ganze Gegenstand. In dieser Hinsicht unterscheidet sich ein Gegenstand, der als ein (aus Teilen bestehendes) ,Ganzes' begriffen werden kann, von einem als eine ,Summe' (von Teilen) aufgefaßten Gegenstand, denn „die Summe zweier Entitäten [ist] immer eine eindeutige Entität von derselben Art wie die Summanden". 11 Die Gegenstände, durch deren Teilung nicht wieder Einzeldinge entstehen, die von derselben Art wären wie der zerteilte Gegenstand, heißen in aristotelischer Terminologie anhomöomer. Insofern sie sich nicht mehr in Teile von ihrer Art zerteilen lassen, stellen sie die Individuen ihrer Art dar.
11
Nagel (1955) 1984, 244; meine Hervorhebung. So „ist die Summe zweier ganzer Zahlen eine ganze Zahl und die Summe zweier Matrizes eine Matrix usw." - und so ist analog die mereologische Summe zweier Quanta einer bestimmten Stoffart wieder ein Stoffquantum derselben Stoffart. (Näheres s.u., IV.l)
III. 2 Lebewesen und Dinge als Kontinuanten
123
All die umgangssprachlichen Ausdrücke für Lebewesen und alle biologischen Taxonbezeichnungen, von der Art bis zum Reich, gehören zu diesen so definierten sortalen Termen. Aber auch all die Begriffe für die mittelgroßen trockenen Güter, mit denen wir uns in unserer Lebenswelt umgeben, gehören dazu. Das heißt aber auch: Darin, solche ungleichteiligen Kontinuanten zu sein, unterscheiden sich Dinge und Lebewesen noch nicht voneinander. Dies unterscheidet sie vielmehr gemeinsam von bloßen Materieportionen („masses of matter"), die durch Massen- bzw. Aggregatterme bezeichnet werden. Es kennzeichnet solche Massenterme oder Kontinuativa, daß sie das mereologische Kriterium nicht erfüllen: Eine beliebige Einteilung oder physische Zerteilung einer wie auch immer abgegrenzten Instanz einer durch einen solchen Terminus bezeichneten Stoffart liefert Teile, die genauso wieder Instanzen derselben Stoffart sind. Solche Stoff-Instanzen heißen darum homöomer. Weil die Kontinuativa das mereologische Kriterium nicht erfüllen, d.h. mit ihnen kein Prinzip für eine räumliche Abgrenzung der unter sie fallenden Instanzen verbunden ist, bedarf es wie skizziert für die Abgrenzung einzelner Instanzen einer Stoffart zusätzlicher Begriffe. Aus der Homogenität solcher behelfsmäßig abgegrenzten einzelnen Stoffportionen folgt, daß es in ihrem Falle müßig ist zu fragen, wieviele Teilportionen sie enthalten: Solange nicht eine konkrete physische Zerteilung stattgefunden hat, ist es schlichtweg unbestimmt, wieviele kleinere Portionen desselben Stoffes eine solche Stoffportion enthält. 12 Mit dieser Behauptung einer ontologischen Differenz zwischen Kontinuanten, die von sortalen Begriffen bezeichnet werden, die die eigentlichen Individuen sind, und den Einheiten, die von nicht-sortalen Begriffen bezeichnet werden, wird das aristotelische Konzept einer ousia unter den Vorzeichen der modernen Materieauffassung wiederaufgenommen. Mit der Verwendung eines sortalen Terms zeigen wir an, daß wir die Entität, auf die wir mit ihm Bezug nehmen, nicht bloß als eine bestimmte Quantität Materie, sondern als ein Individuum ansehen. Von diesen Indivi-
12
S. Seibt 1997, 167: „Whatever has the property of homeomerity does not come in fixed portions or units and thus cannot be counted as such."
124
III Lebewesen: eine Kategorie sui generis
duen gilt, daß durch das sie bezeichnende Sortal bestimmt ist, was jeweils als ein einzelnes solches, von anderen distinktes Individuum und was als die Persistenz eines solchen Individuums gilt. Das erste wird mit der These der Sortalabhängigkeit der Identität zum Ausdruck gebracht, die besagt, „daß etwas erst dann als ein eigentliches konkretes Ding gelten kann, wenn es sortal bestimmt ist, wenn seine Bestandteile [...] auf eine gewisse Art miteinander verknüpft sind und so eine Einheit bilden". 13 Vor dem Hintergrund dieser These läßt sich die erste der ganz zu Anfang gestellten Fragen (s. S. 14) nun beantworten. Ich nenne die beiden hier noch einmal: (1.) Was macht etwas zu einem Individuum im Unterschied zu einer bloßen Portion Stoff? Oder: Worin besteht der ontologische Unterschied zwischen einem Materieaggregat und einem Ding oder einem Lebewesen? (2.) In welcher Beziehung stehen ein Ding oder ein Lebewesen zu den materiellen Teilen, aus denen sie bestehen? Wir können nun sagen: Was durch einen sortalen Ausdruck bestimmbar ist, ist ein Individuum. Sortal bestimmbare Individuen unterscheiden sich von bloßen Aggregaten von Materieteilchen dadurch, daß ihre Bestandteile „auf eine gewisse Art verknüpft sind und so eine Einheit bilden"; genauer gesagt dadurch, daß sie heteromere, strukturierte Einzeldinge von je spezifischer Gestalt und/oder Funktion sind.14 Nur solche ungleichteiligen, strukturierten Einzeldinge sind Individuen. Nun ist nicht nur die ontologische Unterscheidung von sortal bestimmbaren Individuen auf der einen Seite und bloßen Stoffportionen auf der anderen Seite mit dem Verweis auf die unterschiedliche Natur der jeweiligen Teil-Ganzes-Beziehung begründbar. Auch die Einteilung der Klasse der sortal bestimmten Kontinuanten in Lebewesen und Dinge läßt sich damit begründen, daß die Relation des Ganzen zu seinen Teilen im Falle von Lebewesen anders ist als im Falle von Dingen. Im folgenden wird daher zwi-
13 14
Runggaldier/Kanzian 1998, 153. Die These sollte allerdings besser die These der Sortalabhängigkeit der Individuation genannt werden. Bürge 1977, 111.
III. 2 I^ebeivesen und Dinge als Kontinuanten
125
sehen verschiedenen Begriffen von ,Teil sein' bzw. verschiedenen Arten von Teil-Ganzes-Beziehungen zu unterscheiden sein. Bevor ich mit der Analyse der Unterschiede zwischen Dingen und Lebewesen beginne, gilt es noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen ihnen festzuhalten, die daraus resultiert, daß beide materielle, körperliche Kontinuanten sind. Als einzelne, prinzipiell bewegliche körperliche Einheiten in Raum und Zeit sind sie in derselben Weise auf das raum-zeitliche System bezogen, in dem sie lokalisiert sind. Es gibt eine generelle, „äußerliche" Bestimmung dessen, worin es besteht, daß ein Kontinuant persistiert, die im Hinblick auf sein Eingelassensein in dieses System formuliert ist und sowohl auf Lebewesen wie auch auf Dinge zutrifft: Ein materieller Gegenstand K, der zur Zeit ti an einem Ort si beobachtet wird, ist identisch mit dem Gegenstand K, der zur Zeit t„ am Ort sm beobachtet wird, genau dann, wenn beobachtet werden könnte, daß der Gegenstand während dieses Zeitintervalls einen kontinuierlichen Weg zwischen si und s m zurückgelegt hat: nennen wir den Gegenstand Κ zur Zeit ti a und den Gegenstand Κ zur Zeit t2 b, so hängt also die Identität von a mit b von der Kontinuität des Trajektoriums im Raum ab, aber es ist die räumliche Kontinuität des Trajektoriums eines K, und es wäre nicht derselbe Gegenstand, wenn es nicht ein Sortal ,K' gibt, das auf den Gegenstand zu jedem Zeitpunkt auf seinem Lebensweg durch den Raum zutrifft. 15
Tugendhat artikuliert hier die These der Sortalabhängigkeit der Kontinuität oder Persistenz. Sie beinhaltet zweierlei: Zum einen setzt ein diachrones Identitätsurteil genau wie jedes andere Identitätsurteil die Individuation eines konkreten Einzeldings voraus. Ein „materieller Gegenstand" kann von uns nur als Exemplar der Extension eines sortalen Ausdrucks Κ identifiziert und als derselbe Gegenstand reidentifiziert werden. Mithin beinhaltet diese These zum einen, daß „nothing whatever is to be made of bare continuity." 16 Nur über sortal (oder wenigstens anhand von Stellvertreter-Sortalen) individuierte Einzeldinge lassen sich sinnvolle Kontinuitätsaussagen treffen. Für diese gilt nun zweitens: Zu persistieren heißt 15
16
Tugendhac 1976, 454; Variablenzeichen geändert zwecks Einheitlichkeit der Darstellung. „Materieller Gegenstand" ist Tugendhats Bezeichnung für Kontinuanten. Wiggins 1980, v.
126
III Lebewesen: eine Kategorie sui generis
für sie, kontinuierlich an irgendeinem Ort im Raum anwesend zu sein. Hinreichend und notwendig für das Persistieren eines bestimmten Kontinuanten der Art Κ in Raum und Zeit ist demnach die Kontinuität seiner Laufbahn durch den Raum. Die Vorstellung vom „Trajektorium im Raum" ist am Paradigma eines sich fortbewegenden Kontinuanten einer Art Κ orientiert: Ein konkretes Kontinuant befindet sich zu jedem Zeitpunkt seiner Existenz an einem bestimmten Ort, und wenn es sich bewegt, nimmt es im Laufe seiner Existenz nacheinander verschiedene Orte ein. Zeichnete man den über die gesamte Dauer seiner Existenz zurückgelegten Weg durch den Raum nach, ergäbe sich ein kontinuierliches Trajektorium, eine kontinuierliche Bahn. Die Beweglichkeit ist dasjenige Charakteristikum von Kontinuanten, aufgrund dessen sie als distinkt von den einzelnen Stellen im System der Raum-Zeit anzusehen sind, die sie im Laufe ihrer Fortbewegung einnehmen. 17 Daß viele Kontinuanten, z.B. Häuser oder Bäume, sich während der gesamten Dauer ihrer Existenz faktisch nicht fortbewegen, ist kein Argument gegen ihre Verschiedenheit von dem System, in dem sie lokalisiert sind. Denn sie gehören in die Klasse der prinzipiell beweg baren konkreten Einzeldinge. Es heißt lediglich, daß ihre „Laufbahn" faktisch besonders einfach zu „verfolgen" wäre. Doch auch für diese bedeutet zu persistieren, kontinuierlich einen Ort im Raum einzunehmen. So besteht generell die Persistenz eines einzelnen Kontinuanten einer Art Κ in der raumzeitlichen Kontinuität seiner Laufbahn. Diese generelle Bestimmung dessen, worin die Persistenz von Kontinuanten besteht, genügt freilich nicht. Sie kommt vielmehr einer Reformulierung des Problems gleich. Denn nun stellt sich die Frage: Unter welchen Bedingungen sagen wir denn, daß ein konkretes Einzelding kontinuierlich fortexistiert hat, und unter welchen, daß es aufgehört hat zu existieren? Wie unterscheiden
17
Vgl. Tugendhat 1976, 27. Der Begriff des Ortswechsels bzw. der Fortbewegung ist an den des Kontinuanten gebunden: Im Rahmen einer vierdimensionalistischen Ontologie ist das Konzept des Ortswechsels bzw. der Fortbewegung nicht explizierbar.
III. 2 Lebewesen und Dinge als Kontinuanten
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wir denn zwischen „the persistence of a thing through change and its replacement by some quite other thing"? 18 Die Antwort auf diese Frage fällt je nach Art der betrachteten Kontinuanten verschieden aus: Da man etwas unter einem Artbegriff herausgegriffen haben muß, um es als „dieses K" weiterverfolgen zu können, ist ,,[t]he continuity in question here [...] the kind of continuity brought into consideration by what it is to be [a K]." 19 Bei jeder Art von Kontinuanten hat das raum-zeitliche Trajektorium gleichsam ein anderes „Aussehen". Es besteht hier ein wechselseitiges Explikationsverhältnis: Einerseits hängt es von der jeweiligen Natur der Kontinuanten ab, welche Veränderungen sie überdauern können und durch welche sie zugrundegehen. Andererseits trägt die Erläuterung, worin die Persistenz von etwas besteht, welche Veränderung es überdauert und welche nicht, mit zur Erhellung der Natur einer Entität bei, d.h. zur Explikation dessen, was es heißt, eine Entität von der Art Κ zu sein.20 Doch handelt es sich hierbei um einen nicht-vitiösen Explikationszirkel, der zeigt, daß das Persistenzprinzip für die Einzeldinge der Art Κ eben nicht unabhängig von dem mit dem Sortal Κ einhergehenden Individuationsprinzip ist. Die These von der Sortalabhängigkeit der Persistenz von Individuen läßt sich zum einen in einem engen Sinne auslegen. Diesem zufolge besagt sie, daß für jede einzelne Art von Kontinuanten — jede einzelne der infimae species, die die Basis der kategorialen Begriffshierarchie bilden —, wie z.B. die Art Homo sapiens oder die Art Inachis io (Tagpfauenaugen), „aparticular kind of continuous path in space and time"21 charakteristisch ist. So sind die Bedingungen der Persistenz eines Menschen andere als z.B. die der Persistenz eines Exemplars der Art Inachis io, dessen Individualentwicklung eine Metamorphose einschließt. 22 18 19 20 21 22
Wiggins 1980, 61. Ebd., 50. Vgl. ebd., 60. Ebd., 49; meine Hervorhebung. Es ist allerdings umstritten, ob die zu ti existierende lar der Art Inachis Io anzusehen ist wie der zu ti Indem ich sage, daß die Individualentwicklung Raupenstadium und eine Metamorphose einschließt,
Raupe als dasselbe Exempexistierende Schmetterling. eines Schmetterlings ein habe ich mich auf die Seite
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III Lebemsen: eine Kategorie sui generis
Aber diese These ist nicht auf solche natürlichen Arten beschränkt. Als Ausdrücke, die bestimmte Sorten von Kontinuanten bezeichnen, kommen z.B. auch die grundlegend verschiedene Lebensformen in der Kategorie der Lebewesen bezeichnenden Begriffe wie ,Tier' oder ,Pflanze' in Betracht. Indes sollen hier die Fragen, was es heißt, ein Κ zu sein und was es dementsprechend für ein Κ heißt zu persistieren, nur in bezug auf die Kategorie der Lebewesen und der Dinge im allgemeinen untersucht und interne Differenzierungen beiseite gelassen werden.23 Daß diese Fragen in Bezug auf Dinge und Lebewesen als solche sinnvoll stellbar und beantwortbar sind, hat zur Voraussetzung, daß es sich bei den Begriffen ,Lebewesen' und ,Ding' um sortale Begriffe handelt; also um Begriffe, die eine sehr generelle „Sorte" oder Gattung von Entitäten benennen, und mit denen wir bestimmte Identitäts- und Persistenzbedingungen verknüpfen. An diesem Punkt scheint sich bereits die erste Differenz zwischen dem Begriff von Dingen und dem von Lebewesen aufzutun. Handelt es sich bei dem Begriff eines Dings überhaupt um einen sortalen Begriff? Das grammatikalische Kriterium für Sortalität erfüllt dieser zwar, das Zählbarkeitskriterium jedoch nicht. Wie der Begriff des physischen Gegenstandes scheint auch dieser Begriff zu generell und abstrakt zu sein, als daß er die zum Zählen nötige Bestimmtheit besäße. Es handelt sich bei ihm um ein
23
derer geschlagen, die die Raupe als das Jugendstadium des Schmetterlings ansehen und nicht etwa als ein vom Schmetterling numerisch verschiedenes Tier. Zu dieser Debatte, auf die ich hier nicht näher eingehen werde, vgl. Wilson 1999. Er führt dort den Begriff eines „developmental individual" ein, als einen von verschiedenen Begriffen biologischer Individualität. Dies ist „a biological entity [...] [that] is the product of a developmental process" (ebd., 60). Er schließt daraufhin, daß „the larva and the adult insect are distinct developmental individuals" (ebd., 100). Vgl. Lombard (1986, 90 f.) für eine Argumentation für die gegenteilige Auffassung, daß die Raupe das unreife und der Schmetterling das reife Insekt ist. S. Burke 1994, 608: „The task of the theory of diachronic identity [i.e. persistence] is that of identifying the general persistence conditions associated with broad categories of objects." Ich meine, daß die Erläuterung der „specific persistence conditions associated with various sorts of objects (and the sortals that name them)" (ebd.) nicht Aufgabe der Metaphysik sein kann, und werde für die Zwecke dieser Arbeit selbst höherstufigen kategorialen Unterscheidungen innerhalb der Kategorie der Lebewesen keine besondere Aufmerksamkeit schenken.
III. 2 Lebewesen und Dinge als Kontinuanten
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„dummy count noun, supplying no principle of counting for the things to which it can apply, standing in instead for determinate £c 24
species terms . Andererseits gilt auch vom Begriff des Lebewesens, daß er als ein solches „dummy count noun, standing in for determinate species terms" verwendet wird - diese Funktion zeichnet kategoriale Begriffe ja geradezu aus. Auch in ihm ist von allen möglichen Einzelheiten abstrahiert, in denen sich die einzelnen Arten von Lebewesen voneinander unterscheiden. Im Unterschied zum Dingbegriff erfüllt der Begriff des Lebewesens jedoch das Zählbarkeitskriterium für sortale Terme. Der Grund dafür ist, daß er anders als der Dingbegriff das mereologische Kriterium für Sortalität klarerweise erfüllt: irgendeine beliebige Einteilung oder physische Zerteilung eines Lebewesens ergäbe nichts, was wieder in die Extension des Begriffs ,Lebewesen' fiele.25 Bei einer beliebigen Zerteilung eines Dings hingegen erhielten wir wieder Dinge: auch Teile von Dingen sind Dinge. Die Erfüllung des mereologischen Kriteriums für Sortalität ist aber eine Voraussetzung dafür, daß das Zählbarkeitskriterium von einem Begriff erfüllbar ist. Könnte dieser Unterschied ein Argument dafür sein, den Dingbegriff für den abstrakteren, allgemeineren der beiden Begriffe zu halten? Und sollten dann nicht — wie dies häufig genug geschieht — Lebewesen als eine Art von Dingen aufgefaßt werden (womit ,Ding' und ,Kontinuant' zu Synonymen würden)? Als Entgegnung ist zunächst zu sagen, daß die Nichterfüllung des mereologischen Sortaütätskriteriums durch den Dingbegriff nicht 24 25
Laycock 1975, 414. Rapp (1995, 221) bezeichnet solche Ausdrücke als „grammatische Stellvertretersortale". Die Betonung liegt auf der Forderung nach Beliebigkeit der Zerteilung (Zerteilbarkeit), denn sonst liegt der Einwand nahe, daß es doch sehr wohl Fälle gibt, in denen durch Teilung aus Lebewesen wieder Lebewesen entstehen. Klarstes Beispiel wäre die Zellteilung von Einzellern; aber man könnte auch die Zerteilbarkeit der sogenannten niederen Tiere als Gegenbeispiel anführen. Wenn wir z.B. einen Süßwasserpolypen (Hydra) zerteilen, entstehen Hydra-Teile, die sich immerhin wieder zu vollständigen Hydra-Individuen regenerieren können, die folglich wohl von Anfang an .Lebewesen' genannt zu werden verdienen. Doch sind solche Beispiele irrelevant, da in allen solchen Fällen von Teilungen nur dann wieder Lebewesen entstehen, wenn diese zu bestimmten Zeitpunkten und/oder auf ganz bestimmte Art und Weise erfolgen (vgl. Rapp 1995, 201 f.).
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III Lebewesen: eine Kategorie sui generis
überbewertet werden darf. Auch wenn dies dazu führt, daß man Dinge als solche nicht zählen kann, verbindet sich dennoch mit dem Begriff eines Dinges die generelle Vorstellung von einer abzählbaren Einheit. Konkrete abzählbare Dinge erhalten wir zwar nur, indem wir spezifizieren, was für Dinge gezählt werden sollen, d.h. indem wir das Substanzsortal nennen, das gleichsam als Zählmaß dienen soll. Dann aber gilt: Es ist zwar richtig, daß die bei der (beliebigen) Zerteilung eines Dings einer beliebigen solchen Art entstehenden Teile wieder Dinge sind, doch werden es nicht Dinge von derselben Art sein wie das, was geteilt wurde. So erfüllen zwar nur die einzelnen Begriffe für die einzelnen Arten von Dingen wie etwa ,Tisch' oder ,Uhr' das mereologische Kriterium für Sortalität. Doch interpretiert als ein Allgemeinbegriff, dessen Extension aus jenen über solche „genuinely sortal predicates" 26 individuierten Einzeldingen besteht, dessen Gebrauch also mit einer impliziten Restriktion versehen ist, enthält auch der Dingbegriff die generelle Vorstellung einer abzählbaren Einheit - im Gegensatz zu Massentermini oder zum Materiebegriff. 27 Als solch ein von sich aus nicht sortaler, doch sortalanalog gebrauchter kategorialer Begriff, der bestimmte, nicht beliebige Gattungen und Arten sortal definierter Einzeldinge umfaßt, ließe sich der Dingbegriff als dem Begriff des Lebewesens hinsichtlich seiner kategorialen Funktion vergleichbar ansehen. Nach dieser Interpretation wären beide Begriffe für eine Kategorie von Kontinuanten, deren jeweilige Extension sich aus der Summe der Extensionen der unter sie subsumierbaren Substanzsortale ergibt. Eine Bedingung dafür, daß ein kategorialer Begriff und verschiedene sortale Art- und/oder Gattungsbegriffe extensional gesehen eine inklusive Hierarchie von Klassen bilden können, ist, daß „they will all agree in the persistence condition they ascribe to an individual lying within their extension. (Such a set of concepts may be called serially concordant,)".28 Unter den gleichen kategoria-
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28
Wiggins 1980, 62. S. Laycock 1975, 415: „[T]he idea of an object or individual or thing [...] is, precisely, the idea of an object or individual or thing - [...] it is the idea of a single item, of one among possible others." Wiggins 1980, 65.
I II. 2 Lebewesen und Dinge als Koniinuanten
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len Begriff kann man nur alle diejenigen Begriffe für verschiedene Sorten von Einzeldingen subsumieren, für die gilt, daß für die Mitglieder ihrer Extensionen die gleichen Prinzipien gelten, was ihre Individuation und ihre Persistenz betrifft. Die Kategorie der Lebewesen wäre nur dann unter die Kategorie der Dinge subsumierbar, wenn diese Bedingung erfüllt wäre. Doch dies ist, so meine These, gerade nicht der Fall. Da zu persistieren für Lebewesen in etwas anderem besteht als für Dinge, ist jene Bedingung nicht erfüllt. Diese beiden Kategorien von Kontinuanten müssen vielmehr als einander entgegengestellte Kategorien angesehen werden.
3. Die Formel Vivere viventibus est esse Für die Persistenz von Lebewesen haben wir ein Wort: Für Lebewesen bedeutet ,sein' zu leben. Die aristotelische Formel ,,/o de χβη tois %ösi to einai esliric 1 erlaubt zwei verschiedene Deutungen: (a) Die erste ist die traditionelle Interpretation: Daß „das Leben bei den Lebewesen das Sein [ist]"2, wird verstanden als die These, daß Leben die Seinsmise von Lebewesen ist. Diese Stelle ist der locus classicus für die Auffassung, daß Leben diejenige Art von Sein bzw. Existenz ist, welche den Lebewesen zukommt und sie als eine Kategorie von Seienden auszeichnet. Diese These ist jedoch nur sinnvoll unter der Annahme, daß das Wort,existieren' mehrdeutig ist in dem Sinne, daß für andere Arten von Entitäten zu existieren in etwas anderem besteht, daß es demnach verschiedene Arten zu sein gibt, von denen ,leben' eine ist.3 Zudem setzt die Idee, daß es verschiedene Modi oder Weisen zu sein gibt, voraus, daß es überhaupt etwas zu modifizieren gibt: Mit anderen Worten, sie beruht auf der Auffassung, daß das Verb ,sein' ein reales Prädikat ist, welches für ein echtes Attribut von Gegenständen steht. 1 2 3
Aristoteles, De An. II, 4, 415b 13. Die lateinische Formel ist Thomas von Aquins Übersetzung des Griechischen (s. Summa Theologica I, 18, 2 ((1266-73) 1934, 123). De An. II, 4, 415b 13 übersetzt von Theüer/Seidl 1995, 37. Vgl. Tugendhat 1975, 17.
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III Lebewesen: eine Kategorie sui generis
Damit steht diese Tradition jedoch im Widerspruch zu der modernen Auffassung des Existenzprädikats, wonach dieses überhaupt kein Prädikat im semantischen Sinne ist, sondern allenfalls eines im grammatischen Sinne. Begründet wird diese mit dem Verweis auf die Wahrheitsbedingungen von Existenzsätzen: Wollen wir eine generelle Existenzaussage wie „Lebewesen existieren" verifizieren, würden wir weder den Begriff des Lebewesens daraufhin untersuchen, ob in ihm der Existenzbegriff enthalten ist, noch (mögliche) Lebewesen daraufhin, ob auf sie das Prädikat existieren' zutrifft. Vielmehr untersuchen wir die Welt daraufhin, ob in ihr auch einige physische Gegenstände anzutreffen sind, auf die das Prädikat ,ist ein Lebewesen' zutrifft. Die generelle Existenzaussage ist wahr, wenn es unter den physischen Gegenständen in der Welt wenigstens einen gibt, auf den dieses zutrifft. In der Tat läßt sich zeigen, daß eine in dieser Form erfolgende Unterscheidung spezifischer Seinsweisen als Mittel zur Auszeichnung von Kategorien des Seienden redundant ist. Um dies zu erkennen, muß man nur fragen, in welchem Sinne denn Leben als eine Art von Sein definiert wird. Vergleichen wir das Prädikat ,sein' dazu mit einem, das klarerweise ein echtes Prädikat ist, z.B. schwimmen. Ist Leben in dem Sinne eine Weise zu sein, wie beispielsweise die verschiedenen Schwimmstile Kraulen, Delphin-, oder Brust-Schwimmen Weisen zu schwimmen sind? Einerseits scheint zwischen es sich mit den Prädikaten ,leben' und ,sein' dasselbe Verhältnis zu bestehen wie zwischen den Prädikaten ,kraulen' und ,schwimmen': So wie die Wahrheit der Aussage „x krault" oder „x schwimmt im Kraulstil" die Wahrheit der Aussage „x schwimmt" impliziert, aber nicht umgekehrt; so impliziert auch die Wahrheit der Aussage „x lebt", die der Aussage „x ist" bzw. „x existiert", aber nicht umgekehrt. Doch erweist sich diese Analogie als trügerisch, wenn man fragt, warum diese Implikationsbeziehung besteht und sich daraufhin die obige Interpretation der aristotelischen Formel noch einmal besieht. Diese Interpretation kann man kurz so fassen: (a) Leben =af. das Sein von Lebewesen. Nach dieser Interpretation wird Leben also allein dadurch als eine Weise zu sein ausgezeichnet, daß es Lebewesen sind, die da „sind", d.h. existieren. Nehmen wir um des Arguments willen vorerst einmal an, daß das Verb ,sein' ein echtes Prädikat ist, das
III. 3 Vivere viventibus est esse
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für ein Attribut von Entitäten steht. Dann unterscheidet sich Leben als das Sein von Lebewesen von anderen Weisen zu sein allein dadurch, daß das Attribut ,sein' hier Lebewesen zugeschrieben wird und nicht anderen Entitäten. Also wird das Attribut ,sein' hier gar nicht direkt modifiziert, sondern nur „via a modification of the subject'.4 Dagegen bezeichnen ,Kraulen' oder ,Delphinschwimmen' bestimmte Schwimmstile, so daß es richtig ist, daß „'crawl' and 'butterfly' modify direcdy the attribute 'swimming'". 5 Dies ist der Grund dafür, daß sich die Unterscheidung von Seinsweisen - im Gegensatz zur Unterscheidung verschiedener Schwimmweisen - als redundant erweisen läßt: 6 Denn wenn Leben bloß darüber als eine Art und Weise zu sein definiert ist, daß es die Existenz ist, die Lebewesen „zukommt", so heißt dies, daß sich das Aussageschema „x lebt" ohne Bedeutungsveränderung ersetzen läßt durch die Aussage „x ist ein Lebewesen und χ ist (= existiert)". Eine analoge Analyse ist im Falle des Kraulens und Schwimmens nicht möglich. Nun entspricht die letztere Aussage jedoch nach Frege der Aussage ,,Ξχ (χ ist ein Lebewesen)". Mit ihr drücken wir unsere ontische Verpflichtung auf mindestens eine Entität von dieser Kategorie aus, wobei es für die Wahrheit der generellen Existenzaussage „Lebewesen existieren" genügt, daß irgendwann einmal etwas existiert oder existierte, das ein Lebewesen ist oder war. Damit hat sich gezeigt, daß die „modes of being distinctions can be reduced to mere category distinctions. This does not entail, of course, that one [...] cannot or should not use different expressions for the being of different kinds of objects as long as it is clear that the difference lies in the objects, not in their being!'''1 Diese Analyse ging von der traditionellen Interpretation der aristotelischen Formulierung „das Leben ist für die Lebewesen das Sein" aus, nach der diese besagt, daß Leben die Seinsweise von Lebewesen ist. Diese These wurde reduziert auf die These, daß
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Reicher 1999,201. Ebd. Ebd., 203; meine Hervorhebung. Reicher reduziert auf diese Weise die Vorstellung, daß sich das Sein von Zahlen (abstrakten Gegenständen) von dem Sein physischer Gegenstände unterschiede.
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eine wahre Aussage der Form „3x (x lebt)" das Sein, d.h. die Existenz von Lebewesen in der Welt impliziert. In diesem Ergebnis kann man einen Grund dafür sehen, daß so schwer zu definieren ist, was ,leben' bedeutet: Dies mag daran liegen, daß es darüber gar nichts mehr zu sagen gibt, wenn man expliziert hat, was für physische Gegenstände Lebewesen sind. Diese Reduktion hat noch eine bemerkenswerte Konsequenz: Sind die Aussagen „3x (x lebt)" und „3x (x ist ein Lebewesen)" gleichbedeutend, weil sie die gleichen Wahrheitsbedingungen haben, so ist es andererseits redundant, von einem einzelnen Lebewesen zu sagen, daß es lebt. Für Lebemsen bedeytet Leben vielmehr nichts anderes als zu existieren. Damit sind wir bei der zweiten Deutungsmöglichkeit der aristotelischen Formel angekommen. Deren Kurzformel lautet: (b) Für Lebewesen gilt: leben = sein. Tugendhat hebt hervor, daß Aristoteles bei dem nicht als Kopula, d.h. „absolut" gebrauchten „ e i n a f ' die Existenz einzelner konkreter Substanzen im Sinn hat.8 Wenn man dies berücksichtigt, läßt sich die aristotelische Formel auch mit „Zu leben heißt für Lebewesen zu persistieren" wiedergeben. Der Persistenzbegriff wurde eingeführt, um eine ganz bestimmte Verwendung des Existenzbegriffs zu kennzeichnen. In bezug auf physische Gegenstände ist ja selbst die bloße Auskunft, daß ein konkretes Einzelding (a) existiert, informativ und gehaltvoll - im Kontrast nämlich zu den möglichen Alternativen, daß die Entität, die im konkreten Einzelfall den Wert der Variable a bildet, nicht mehr oder noch nicht existiert. In dieser zeitlichen Verwendung des Existenzbegriffs artikuliert sich zweierlei: (i) Erstens, daß wir, die Sprecher, endliche Wesen sind, die den Begriff einer Welt haben, die länger andauert als ihre eigene Existenz, und die von der Perspektive ihres bestimmten Ortes in Zeit und Raum aus auf die Welt Bezug nehmen. Wenn wir sagen, daß eine Entität nicht mehr oder noch nicht existiert, so ist dies stets auf den Äußerungszeitpunkt unserer Aussage bezogen. Die scheinbar einfache singulare Existenzaussage, daß dieses oder jenes Kontinuant existiert, bedeutet in
8
Vgl. Tugendhat 1975, 17 u. 28.
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diesem Kontext, daß es aktual existiert. Prädiziert wird von ihm in dieser (zu einem Zeitpunkt t gemachten) Aussage, daß es zeitgleich mit unserer Äußerung existiert, d.h. wir stellen damit fest, daß es „the attribute of belonging to the present" 9 hat. Eine solche Existenzaussage ist der seit Russell Standard gewordenen Analyse singulärer Existenzaussagen nicht zugänglich. Diese lautete, daß mit einer singulären Existenzaussage wie „Mein Hund Fido existiert" lediglich ausgedrückt wird, daß es unter allen Entitäten, die es gibt, genau eine gibt, auf die die Beschreibung „ist mein Hund Fido" zutrifft. 10 Trifft dies zu irgendeinem Zeitpunkt zu, so ist die generelle Aussage, daß es etwas gibt, auf das diese Beschreibung zutrifft, zeidos wahr. Russell zog aus dieser Analyse die Konsequenz, daß die „traditional conception of absolute being - a being that is the being of an individual" 11 als unsinnig aufzugeben sei.12 Dieser Argumentation hält Tugendhat jedoch als Gegenbeispiel Hamlets Frage entgegen — „to be or not to be?" - eine Frage, die jeder versteht und in der doch aus der Perspektive der ersten Person heraus genau dieser inkriminierte Sinn von Existieren artikuliert wird: „the being of an individual that endures through time". 13 Wir verwenden und verstehen solche Fragen wie „Lebt N.N. noch oder ist er schon gestorben?" oder „Wann lebte N.N.?", oder auch eine Feststellung wie „In zweihundert Jahren werde ich nicht mehr leben." Solche Sätze sind nicht unsinnig, sondern zeigen, daß die Russellsche Analyse von singulären Existenzsätzen nicht alle Weisen unserer Verwendung des Existenzprädikats abdeckt: nämlich nicht „this notion of temporal existence", d.h. „the being of objects in space and time".14
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13 14
Baker 1979, 345. Vgl. Tugendhat 1975, 16. Ebd. Russell 1956b, 252: „So the individuals that there are in the world do not exist, or rather it is nonsense to say that they exist and nonsense to say that they do not exist." - Es gibt indessen auch Versuche, die Russellsche Analyse zu verbessern. Quine (1960) schlägt vor, der zeitlich begrenzten Existenz von Individuen durch die Einfügung von Zeitstellen als zusätzlichen Prädikaten Rechnung zu tragen (vgl. Tugendhat 1975, 22 u. 26 ff.). Tugendhat 1975, 17. Ebd. Mit,objects' sind hier Kontinuanten gemeint.
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Genau in diesem Sinne wird persistieren' verwendet, womit diese Verwendung des Existenzprädikats von seiner Verwendung im Existenzquantor unterschieden wird: Daß ein Kontinuant persistiert, sagen wir nur, solange es aktual in Raum und Zeit existiert. Die aristotelische Formel besagt dann: Für Lebemsen ist persistieren gleichbedeutend mit leben. Das heißt, daß wir in jeder Aussage der Form „Lebewesen a existiert (aktual)" bzw. „Lebewesen a persistiert" an die Stelle von ,existiert' oder persistiert' ,lebt' einsetzen können. 15 Und entsprechend bedeutet für Lebewesen nicht mehr zu leben dasselbe wie nicht mehr zu existieren. (ii) Zweitens artikuliert sich in dieser zeitlichen Verwendung des Existenzbegriffs, daß auch die anderen Individuen, über die wir so reden, endliche sind, daß deren aktuale Präsenz in der Welt zeitlich begrenzt ist. Dies unterscheidet individuelle Kontinuanten von der Materie (-Energie), mit der die Welt ausgefüllt ist. Die paradigmatischen Beispiele solcher vergänglicher Entitäten sind wir selbst. So stellt „the activity of living" nicht einfach bloß „a species of temporal being" 16 dar. Leben ist vielmehr das Paradigma, an dem der verallgemeinerte Begriff der Persistenz vergänglicher Entitäten („temporal being") gebildet ist: Das Wort ,Persistenz' drückt seiner Herkunft vom lateinischen ,persistere' entsprechend ein Beharren trotz bestimmter Widerstände aus. Allgemein steht einem solchen Beharren der Ablauf der Zeit entgegen. [...] Die Widerstände, denen zum Trotz ein Gegenstand [...] persistiert, beschränken sich jedoch nicht auf den allgemeinen Umstand, daß es sich um Gegenstände in der Zeit handelt, vielmehr scheint ein weiterer spezifischer Anlaß, um von Persistenz zu sprechen, erst dann gegeben zu sein, wenn ein Gegenstand seine Permanenz auch in Anbetracht von Veränderungen beweist. Im eigentlichen und engeren Sinn soll der Begriff der Persistenz deshalb die [Permanenz] eines veränderlichen und vergänglichen Gegenstandes über bestimmte Zeiträume hinweg bezeichnen. Ein Gegenstand persistiert also, wenn er trotz Veränderungen vom Zeitpunkt t zum Zeitpunkt t+i überdauert. 17
Als diejenigen Kontinuanten, die nicht einfach bloß mit der Zeit gewissen Veränderungen unterworfen sind, sondern sich auch von 15 16 17
Vgl. Rapp 1995, 342. Tugendhat 1975, 18. Rapp 1995,469 f.
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sich aus fortlaufend verändern - die „in sich selbst einen Anfang von Veränderung und Ruhe haben"18 —, sind Lebewesen die hervorragenden Beispiele veränderlicher Kontinuanten, die trotz Veränderung fortbestehen, die unser Verständnis von der Persistenz über Veränderung(en) hinweg prägen.19 Insbesondere der Idee, daß dem Fortbestehen Widrigkeiten entgegenstehen, denen „zum Trotz" es erfolgt, läßt sich bei Lebewesen ein sinnvoller Gehalt geben. Wir wissen aus eigener Erfahrung, daß es zum Überleben gewisser eigener Anstrengung und Tätigkeit bedarf, und können von dieser Erfahrung aus verallgemeinern auf die (Über-)Lebensbedingungen anderer Lebewesen. Es ist diese Erfahrung, die es möglich erscheinen läßt, einem Lebewesen sein Beharren trotz Widrigkeiten als seine eigene Leistung zuzurechnen — als etwas, das ihm gelingen oder worin es scheitern kann (und worin es letztlich scheitern wird).20 Mit diesen Vorstellungen bekommt der Begriff eines Persistierenden, eines (im Dasein) Beharrenden, einen aktivischen Unterton. Daß es überhaupt möglich ist, die Persistenz von Lebewesen als aktives Beharren zu fassen, hat ein fundamentum in re: Die Fort-
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20
Aristoteles, Phjs. II, 1, 192b 14. Entsprechend der paradigmatischen Funktion von Leben sprechen wir oft metaphorisch von der Persistenzdauer lebloser Dinge (z.B. von Artefakten) als von ihrer „Lebensdauer". Einen explizit anthropomorphen Charakter bekommt die aktivische Fassung der Persistenz eines Lebewesens bei Kant, wenn er sagt: „Aus demselben Begriffe der Trägheit, als bloßer I^eblosigkeit, fließt von selbst, daß sie [die Trägheit der Materie] nicht ein positives Bestreben, seinen Zustand zu erhalten, bedeute. Nur lebende Wesen werden in diesem letzteren Verstände träg genannt, weil sie eine Vorstellung von einem anderen Zustande haben, den sie verabscheuen, und ihre Kraft dagegen anstrengen" (1786, A 121). Diese Aussage kann auf zweierlei Weise interpretiert werden: Entweder belegt sie einmal mehr, daß für Kant nur Menschen lebende Wesen sind, da nur sie „eine Vorstellung von einem anderen Zustande haben, den sie verabscheuen, und ihre Kraft dagegen anstrengen"; und alle anderen Wesen, die wir gewöhnlich ebenfalls zu den Lebewesen zählen, wie etwa Pflanzen und Tiere, sind bloß organisierte Produkte der Natur, deren Lebendigkeit dahingestellt bleibt. Oder aber man versteht den Begriff des Lebewesens so, daß er diese mit umfaßt, und könnte diese Aussage dann dahingehend interpretieren, daß sie denjenigen Ausgangspunkt der menschlichen Selbsterfahrung benennt, von dem aus unser teleologisches Sprechen über Lebewesen ableitbar und erklärbar ist.
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existenz eines Lebewesens ist grundsätzlich prekärer als die eines Dinges, insofern „Nichtstun" für es (unter den normalen Umständen) binnen kürzester Zeit das Ende seiner Existenz bedeutet. Warum dies so ist, begründet Jonathan Miller so: The nature of the physical universe is such that the mere existence of a living organism [...] means that it is in a state of jeopardy. [...][T]he physical universe tends towards a state of uniform disorder, a leveling down of all observable differences, and [...] left to themselves things will cool, fall, slow down, crumble and disperse. In such a world the survival of form depends on one of two principles: the intrinsic stability of the materials from which the object is made, or the energetic replenishment and reorganisation of the material which is constantly flowing through it.21
Während die Fortdauer lebloser Dinge dem ersten Prinzip gehorcht, überdauern Lebewesen nur nach dem zweiten Prinzip. Von welcher Bedeutung dieser Unterschied für die Persistenz von Lebewesen und Dingen ist, wird klar, wenn man sich fragt: was geschähe, wenn man ein Ding oder ein Lebewesen von der es umgebenden Welt isolieren würde? Ein Ding würde damit von den diversen störenden Einflüssen isoliert, denen es in der realen Welt ausgesetzt ist und durch die es im Laufe der Zeit allmählich erodiert und schließlich ganz zugrunde geht - je nach der intrinsischen Stabilität seiner Materialien früher oder später. So isoliert, könnte es für immer gleichförmig weiter existieren. Dementsprechend kann die Persistenz eines Dings nicht als ein Beharren im aktivischen Sinne aufgefaßt werden, sondern bloß als ein träges Beharren. 22 Würde man dagegen ein Lebewesen von der Welt isolieren, ginge es binnen kürzester Frist ein, denn ohne Interaktion mit der Umwelt kann es den Prozeß der fortlaufenden Regeneration seiner Körperteile nicht im Gange halten, auf dem seine Persistenz basiert. Darin, daß ein Prozeß im Gange bleiben muß, damit ein Lebewesen persistiert, liegt es begründet, daß die Persistenz eines Lebewesens als ein aktives Beharren auffaßbar ist. Weil dieser im Gange bleiben muß und doch durch so vieles vom Abbruch
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Miller 1978,140 f. Vgl. Kant (1786, A 120 f.) über die Trägheit der Materie.
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bedroht ist, erscheinen Lebewesen viel mehr der Vergänglichkeit ausgesetzt als Dinge: sie sind - anders als die Dinge, wie wir eben sahen — intrinsisch der Vergänglichkeit ausgesetzt. Für solche Wesen ist Persistieren nur dadurch möglich, daß sie allen jenen Widerständen, die ihrer Persistenz entgegenstehen, d.h. den Störungen, durch die sie vom Tod bedroht werden, fortlaufend entgegenwirken — und sie gehen allmählich zugrunde und sterben schließlich, wenn ihre Fähigkeit dazu nachläßt. Was heißt es nun für ein Lebewesen zu sterben? Wir sagten es bereits: So wie gemäß der Lesart (b) der aristotelischen Formel für ein Lebewesen Leben gleichbedeutend ist mit Persistieren, ist Sterben gleichbedeutend mit Aufhören zu existieren. Sterben ist eine substantielle Veränderung; das Ende des Lebens eines Lebewesens ist das Ende seiner Existenz. Vor diesem Hintergrund muß noch geklärt werden, was es bedeutet zu sagen, ein bestimmtes Lebewesen sei tot. Dies erscheint ja zunächst wie eine Aussage, in der von etwas NichtExistierendem etwas prädiziert wird — was unsinnig wäre. Aristoteles wehrt dies ab, indem er betont, daß ein toter Mensch bloß noch „dem Namen nach" ein Mensch ist — aber dem Wesen nach nicht mehr. 23 Der Sache nach stellt dieser genaugenommen nur mehr „einen Klumpen Fleisch und Knochen" dar. Daß ein Toter „dem Namen nach" ein Mensch ist, heißt lediglich, daß wir diesen noch mit demselben Wort bezeichnen, ebenso wie wir einer Statue eines Menschen den Namen des Menschen geben, den sie repräsentiert. Der Grund hierfür ist, daß ihre „äußere Gestalt" („ten morphin tou schematot24) (noch) die eines Menschen ist.
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S. De Part. An. I, 5, 641a: Ein Lebewesen kann nicht „aneu psyches" sein. M. a. W.: Ohne Seele ist etwas kein Lebewesen: „denn wenn diese fortgeht, hört es auf, ein [Lebewesen] zu sein und sogar kein Teil bleibt das, was er war, außer der bloßen Gestalt nach („plen to schemati monon"), wie bei Geschöpfen, die die Dichter versteinern lassen" (ebd., meine Hervorhebung). Aristoteles vertritt sogar die These, daß nicht nur der Tote als ganzer strenggenommen nicht mehr als Mitglied der Art ,Mensch' gezählt werden darf, sondern auch tote Körperglieder nicht mehr als Exemplare der Arten von Lebewesengliedern zu betrachten sind (Siehe z.B. Met. VII, 10,1035b 24 f., De An. II, 1, 412b 18-25, sowie De Part. An. I, 5, 640b 641a). S. De Part. An. I, 5, 640b.
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Gegen Aristoteles' Behauptung, daß ein Toter genaugenommen ebensowenig wie die Statue eines Menschen im eigentlichen Sinne des Worts ein Mensch ist, könnte ein Einwand erhoben werden: Diese Fälle sind nicht vergleichbar, weil Tote doch mit mehr Recht noch als Menschen bezeichnet werden können als bloße gezeichnete oder steinerne Repräsentationen von ihnen. Zwischen der Repräsentation und dem, was sie repräsentiert, besteht ja keinerlei materielle Kontinuität; sie besteht ja sogar aus völlig anders gearteten Material als dem, aus dem Menschen bzw. ihre Körperteile natürlicherweise bestehen. Dagegen hat der unmittelbar nach dem Tod eines Menschen vorliegende Leichnam nicht nur dieselbe „äußere Gestalt" oder Figur, sondern er besteht auch cum grano salis aus demselben Stoff wie der Mensch, der unmittelbar vorher lebte. Sind nicht in diesem Fall die materielle Kontinuität und die Kontinuität der jeweiligen „äußeren Gestalt" {schema) gute Gründe dafür, daß es nicht ungereimt ist, von dem Toten im wörtlichen Sinne zu sagen, daß er ein Mensch ist? Auf diesen Einwand entgegnet Aristoteles, „daß die Natur der Form entscheidender ist als die Natur des Stoffs".25 Für die Klassifikation einer Entität als ein Lebewesen ist die Gleichheit der körperlichen Gestalt dieser Entität mit der eines Lebewesens nicht hinreichend. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob solche Entitäten die Fähigkeiten von Lebewesen haben. Das tertium comparationis zwischen einer bronzenen Statue eines Menschen und einem toten Menschen besteht darin, daß beiden trotz Ähnlichkeit der äußerlichen Gestalt alle Fähigkeiten von Menschen fehlen. Genaugenommen kann daher von einem Toten nicht prädiziert werden, daß er ein Mensch ist.26 Durch diese Analyse vermeidet Aristoteles den Widerspruch, der sich ergäbe, wenn man von einem Menschen prädizierte, daß
25 26
Ebd. Analog muß bei Gliedern wie Augen, Fingern usw. gefragt werden, ob sie dasselbe leisten wie das jeweilige Organ des Lebewesens. Analog gilt hier, daß z.B. das steinerne wie das tote Auge die funktionale Definition eines Auges - d.h. das Sehsinnesorgan zu sein - nicht erfüllen. In Stein gemeißelte Augen sind prinzipiell keine Sehsinnesorgane, und die Augen eines Toten sind es nicht mehr, da weder der Stein noch der Tote den Sehsinn besitzen.
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er tot sei.27 Da Menschen zu den Lebewesen gehören, bedeutet für sie genauso wie für alle anderen Lebewesen zu leben das gleiche wie zu persistieren, und entsprechend nicht mehr zu leben nicht mehr zu existieren. Wenn der Tod eine substantielle Veränderung ist — und das Sterben eines Menschen ist wohl der klarste Fall des Vergehens eines Individuums - , dann existiert dieser Mensch danach nicht mehr. Genaugenommen läßt sich daher von diesem Menschen nicht prädizieren, daß er tot ist - auch wenn wir so reden. Denn in einer wahren Prädikation ist die Existenz des Individuums präsupponiert, welches Subjekt der Prädikation ist. Die Interpretation der Aussage „a ist tot" als Prädikation wäre in der Tat widersprüchlich bzw. unsinnig. An diesem Punkt trifft sich Aristoteles' Auffassung mit Russells Kritik: Denn genausowenig läßt sich danach die negative Existenzaussage „a existiert nicht mehr" so auffassen, als ob in ihr damit von einem Menschen, a, wahrheitsgemäß prädiziert würde, daß er nicht mehr existiere. Diese Interpretation liefe auf denselben Widerspruch hinaus. Entgegen dem ersten Augenschein kann es sich also bei der Aussage „a ist tot" nicht um eine normale prädikative Aussage handeln, mit welcher von diesem Lebewesen prädiziert wird, daß es tot ist (daß es die Eigenschaft verloren hätte, lebendig zu sein). Wenn es mit seinem Tod aufgehört hat zu existieren, dann kann es nicht die Entität sein, die sich nunmehr im Zustand des Totseins befindet. Diese Aussage muß vielmehr anders analysiert werden. Daß a tot ist, bedeutet, daß: nothing identical with a [belongs] to the extension at t of the ultimative individuative kind [...] that is a's kind. 2 8
Wenn wir zum Beispiel zu einem Zeitpunkt t sagen „Mein Hund Fido ist tot", so drücken wir mit diesem Satz den Sachverhalt (Zustand der Welt) aus, daß zu t kein mit Fido identisches Individuum mehr zur Extension der Art ,Hund' gehört. Insofern Hunde wie alle Lebewesen zur Kategorie der Kontinuanten gehören, läßt sich diese Tatsache auch so beschreiben, daß zu t nirgendwo im
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Vgl. De Interpretations 11, 21a 23. Wiggins 1980, 67.
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Raum mehr ein mit Fido identisches Individuum anzutreffen ist.29 Und insofern Kontinuanten zu den physischen Gegenständen gehören, können wir sie auch so ausdrücken, daß die „Weltlinie", welche mit der Lebensgeschichte von Fido identisch ist, zu t abbricht. Wenn Sterben die Veränderung ist, die mit dem Tod des Lebewesens vollendet ist, impliziert die Wahrheit der Aussage „Fido ist tot" die der Aussage „Fido ist gestorben", und vice versa. Folglich können wir sagen, daß mit dem Satz „Fido ist tot" das gleiche ausgedrückt wird wie mit dem Satz „Fido ist gestorben". So verstanden, bedeutet die Aussage „a ist tot" „a ist gestorben" und impliziert, daß es ein Lebewesen gab, welches zum Zeitpunkt der Aussage nicht mehr existiert. Und wenn wir annehmen, daß das Substrat von Entstehen und Vergehen die (Materie der) Welt ist, dann wird damit von der Welt gesagt, daß sie das über den singulären Term a individuierte Lebewesen nicht mehr enthält. Wenn wir dennoch solche Sätze äußern wie: „Dort drüben liegt ein toter Hund"; so kann dies nur als eine laxe Ausdrucksweise für die Tatsache verstanden werden, daß dort der ~Leichnam eines Hundes liegt. Wenn das bisher Gesagte richtig ist, gibt nur einen Kandidaten für die Zuschreibung des Prädikats ,tot': Es ist, wie schon in III.1.2 beschrieben, der Körper, der nach dem Tod eines Lebewesens existiert: der Leichnam, der die gleiche äußere Gestalt besitzt wie zuvor das lebende Wesen, und der darum von uns noch mit demselben Artbegriff wie das Lebewesen bezeichnet wird. Die einzige Möglichkeit, die Aussage „a ist tot" als eine Prädikation zu verstehen, besteht darin, sie so zu lesen, daß mit ihr von einem solchen Körper prädiziert wird, ein toter Gegenstand zu sein. Strenggenommen können auch nur Leichen ,tote Körper' genannt werden: Das übliche Verständnis des Gegensatzes von ,lebendig' und ,tot' ist, daß diese Prädikate einander konträr entgegengesetzt sind. Indessen erhielt dieser Gegensatz diesen Sinn im Rahmen jener mythischen Vorstellung, daß es eine bestimmte Art von Körpern gibt, die entweder lebendig oder tot sein kön-
29
Vgl. Tugendhat 1975, 27 ff.
III. 3 Vivere viventibus est esse
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nen, und die wir im lebendigen Zustand ,Lebewesen', im toten ,Leichnam' nennen. Danach ist ein Leichnam ein toter Körper, der lebendig gewesen ist. Versteht man das Sterben eines Lebewesens hingegen als eine substantielle Veränderung (im absoluten Sinne des Worts (s. S. 104 £)), kann man zwar ,tot' nicht mehr als konträres Prädikat zu ,lebendig' auffassen, welches dafür schließlich derselben Kategorie von Einzeldingen zuschreibbar sein müßte wie lebendig' (d.h. einer bestimmten Art von Körpern, die über das Sterben des Lebewesens hinweg persistieren). Sterben als eine substantielle Veränderung zu begreifen, heißt ja gerade zu bestreiten, daß es einen solchen Kandidaten gibt, dem sowohl das Lebendigsein als auch das Totsein zuschreibbar wäre (bzw. zu behaupten, daß die Vorstellung, bestimmte materielle Körper könnten diese Kandidaten sein, trügerisch ist). Doch auch bei diesem Verständnis von Sterben kann man den begrifflichen Zusammenhang zwischen dem Gestorbensein eines Lebewesens und der Existenz eines toten Dings einholen: Anstatt zu sagen, daß ein Leichnam ein toter Körper ist, der einmal lebendig gewesen ist, muß man nun sagen: Ein Leichnam ist ein toter Körper, der entstanden ist, als das Lebewesen starb. Auch danach können genaugenommen nur die Leichen von Lebewesen ,tote Körper' genannt werden. Hiernach wären nicht ,tot' und lebendig' die einer Art von Körpern zugeschriebenen, konträren Prädikate; vielmehr wären die Prädikate ,Leichnam' oder ,toter Körper' und ,Lebewesen' einander konträr entgegengesetzte Prädikate.3 Einerseits bildet der Tod, die substantielle Verwandlung eines lebenden Wesens in einen toten Körper, den Ausgangspunkt, welcher überhaupt erst den Anlaß gibt, kategorial zwischen Lebendem und Totem zu unterscheiden. Es liegt nahe, den kategorialen Gegensatz mithilfe der Prädikate ,lebend(ig)' und ,tot' zu bezeichnen, mit denen wir auch diejenigen Kontinuanten be-
30
Bei dieser Entgegensetzung von ,Lebewesen' und ,Leichnam' bzw. ,toter Körper' als konträren Prädikaten muß indes beachtet werden, daß es sich bei ihnen aristotelisch gesprochen um Prädikate handelt, die einander entgegengesetzt sind wie eine ousia und ein antikeimenon, nicht wie enantia (vgl. für den Unterschied S. 77, Fußnote 46).
144
III Lebewesen: eine Kategorie sui generis
schreiben, welche den Ursprung dieser Kategorisierung bilden. Doch ist dies nur möglich, wenn man ,tot' als das kontradiktorische Gegenteil von ,lebendig' versteht. Nach diesem Verständnis von ,tot' ließe sich alles, was nicht lebt, als „totes Ding" bezeichnen — die Leiche eines Lebewesens genauso wie jedes beliebige leblose Ding, dessen Anwesenheit in der Welt gar nicht auf den Tod eines Lebewesens zurückgeht. In diesem Fall gebrauchte man ,tot' in demselben Sinn wie ,leblos', denn leblos sind schlicht alle Kontinuanten, die nicht leben, welcher Kategorie sie auch immer angehören mögen. Um aber den besonderen Sinn des Prädikats ,tot' zu wahren, in welchem die Zuschreibbarkeit dieses Prädikats zu einem materiellen Körper den Tod (das Gestorbensein) eines Lebewesens impliziert, ist es klarer, für die kategoriale Unterscheidung zwischen Lebewesen und allem Nicht-Lebenden das Begriffspaar gebendes Wesen' und ,lebloses Ding' zu verwenden. Tote Körper, m.a.W. die Leichen von Lebewesen bilden nach dieser Differenzierung zwischen ,tot' und ,leblos' eine besondere Klasse der leblosen Dinge. Dagegen sind nicht alle leblosen Dinge als „tote Dinge" zu bezeichnen: dies zu tun, erscheint hiernach vielmehr wie eine rhetorische Dramatisierung: es hieße, etwas Lebloses stets als das Produkt des Sterbens von etwas zu begreifen. Nein, die Klasse aller leblosen Kontinuanten umfaßt auch solche nicht-lebenden Dinge, deren Existenz nicht auf den Tod von Lebewesen (oder im übertragenen Sinne von „Stillgestelltsein" auf den „Tod" von irgend etwas anderem) zurückgeht. In den folgenden Kapiteln (IV und V) soll genauer dargelegt werden, worin zu persistieren für Lebewesen im Unterschied zu Dingen besteht. Ich erinnere dabei an die explikatorische Wechselbeziehung zwischen unserer Frage nach der Natur von Lebewesen und der nach ihren Persistenzbedingungen: Unsere Urteile darüber, welche Veränderungen Entitäten bestimmter Arten überleben und welche nicht, sind an unsere Auffassungen über die Natur dieser Entitäten gebunden; und dadurch trägt umgekehrt die Erhellung der Persistenzbedingungen von Entitäten einer bestimmten Art zur Explikation der Natur dieser Entitäten bei, d.h. zu einer Antwort auf die Frage, was es beinhaltet, eine Entität von der und der Art zu sein.
III. 3 Vivere viventibus est esse
145
Für die Beantwortung der Frage, worin die ontische Differenz von Lebewesen und leblosen Dingen besteht, werde ich mich des Mittels der Kontrastklassen bedienen: Einerseits hatte ich behauptet, daß nicht nur Lebewesen, sondern auch (schon) leblose Dinge nicht mit bloßen Quantitäten von Materie gleichzusetzen sind, sondern vielmehr aus solchen bestehen. Um diese Behauptung zu stützen, soll als erstes dargelegt werden, wie Materieaggregate als solche definierbar sind, und was die Persistenzbedingungen solcher Aggregate sind (IV. 1). Dann werde ich auf die Prinzipien eingehen, aufgrund deren wir Dinge als Einheiten auffassen (IV.2.2.1) und danach fragen, wie Dinge definiert sind, um von dort aus anhand der Diskussion bestimmter klassischer Probleme der Persistenz von Dingen (IV.2.2.2) zu verdeutlichen, worin diese besteht. Zuletzt soll dann gezeigt werden, worin die Persistenz von Lebewesen besteht und inwiefern diese sich nicht nur von der der Aggregate, sondern auch von der der Dinge unterscheidet. Dies soll schließlich für eine Bestimmung der Natur von Lebewesen ausgenützt werden (s. V.4 u. V.5). Blicken wir zum Abschluß dieses einführenden Kapitels noch einmal auf den in II.2 vorgestellten Kategorienbaum zurück: abstrakte
physische Gegenstände
/ Vorkommnisse
\ Kontinuanten / \ Dinge Lebewesen
Die folgenden Abschnitte sollen dazu dienen, die in diesem Kapitel eingeführte Unterscheidung von Materiequanta, Dingen und Lebewesen zu untermauern. Dieser zufolge muß die Kategorie der Kontinuanten genauer auf folgende Weise unterteilt werden: Kontinuanten
/
\
Leblose
/ Materiequanta/-aggregate
Lebende (=Lebewesen)
\ Dinge
IV Zur Individuation und Persistenz lebloser Kontinuanten In Abschnitt III.2 wurden bereits ganz prinzipielle ontologische Unterschiede zwischen den durch Kontinuativterme bezeichneten Stoffportionen auf der einen Seite und den sortal bestimmten Kontinuanten auf der anderen Seite angesprochen. Die Diskussion dieser ontologischen Unterschiede soll in diesem Kapitel aufgenommen und vertieft werden. Als Vorbereitung auf die ontologische Differenzierung der Lebewesen von Dingen und Materiequanta (in Kapitel V) sollen in diesem Kapitel zunächst diese beiden letzteren Arten von Kontinuanten ontologisch bestimmt werden. (Dies wird auch deren Verschiedenheit voneinander zeigen.) Dazu soll in diesem Kapitel insbesonders auch die zweite der beiden in III.2 gestellten Fragen (S. 124) ausführlich beantwortet werden, die ich hier so spezifizieren möchte: Welcher Natur sind die Teil-Ganzes-Beziehungen im Falle von Materiequanta bzw. Dingen? In Bezug auf Lebewesen wird diese Frage nach dem Charakter des Teil-Ganzes-Verhältnisses im anschließenden Kapitel beantwortet werden (s. V.4.2).
1. Materiequanta (Materieaggregate) Zunächst möchte ich aber damit beginnen, die verschiedenen und zum Teil schon en passant gesammelten Charakteristika der von Stofftermini bezeichneten Gegenstände, der einzelnen Stoffquanta, systematisch aufzuführen, damit deutlich wird, was es erlaubt, diese als physische Gegenstände eigener Kategorie anzusehen, mit denen weder Dinge noch Lebewesen gleichgesetzt werden kön-
IV. 1 Materiequanta
(Materieaggregate)
147
nen.1 Der Ausdruck ,quantity of some kind of stuff wurde von Helen Cartwright als Bezeichnung für diejenige Kategorie von physischen Gegenständen eingeführt2, auf die wir uns in Aussagen beziehen wie „Der Zucker in meinem Kaffee ist derselbe wie der des Zuckerwürfels, den ich in die Tasse geworfen habe"; oder „Das auf dem Fußboden versprengte Wasser ist dasselbe Wasser wie das, was in jenem Glas war". In diesen Aussagen beziehen wir uns auf je ein einzelnes konkretes Quantum Zucker oder Wasser. Es gibt einen weiten und einen engeren Sinn des Worts ,Aggregat': Einerseits läßt dieser Ausdruck sich als diejenige Beschreibung materieller Körper verstehen, unter der von deren (etwaiger) Form und Struktur gänzlich abgesehen wird. Da ein jeder materielle Körper aus einem Quantum Materie besteht, und ein Quantum Materie sich als ein Aggregat beschreiben läßt, läßt auch ein solcher Körper sich als ein Aggregat beschreiben. In der Behauptung, daß alle Körper auch als Aggregate beschreibbar sind, schlägt sich die atomistische Grundüberzeugung nieder, daß ein materieller Körper zu jedem Zeitpunkt aus einer endlichen Anzahl von elementaren Teilchen zusammengesetzt ist — ob wir nun als solche die Elementarteilchen der Physik (nach gegenwärtigen Stand der Forschung) oder die Atome der chemischen Elemente oder Molekülverbindungen ansetzen.3 Wer das Prädikat „ist 1
2
3
Eine Anmerkung vorweg: ,Materie' verwende ich hier nicht als Name für den Stoff, aus dem alles besteht, sondern als einen logisch höherstufigen Begriff (ähnlich dem Prädikat,farbig'). Die Begriffe erster Stufe sind (ähnlich den Prädikaten ,gelb', ,rot', jblau1) die Bezeichnungen für die einzelnen Stoffarten (Wasserstoff, Sauerstoff, Wasser, Zucker, Kaffee etc.). Das ist die Erklärung dafür, daß ich oft einfach zwischen den Ausdrücken „Materiequantum" und den Ausdrükken für Quanta bestimmter Stoffarten, wie z.B. „Wasserquantum", hin und her wechsle. S. Cartwright 1965 u. 1970. N.B.: Von einer bestimmten Menge Wasser (Cartwright 1970, 28: „amount*) zu sprechen bedeutet etwas anderes als von einem bestimmten Quantum Wasser (ebd.: „quantity'''), d.h. einem einzelnen Quantum Wasser zu sprechen: Zwei Gläser Wasser können dieselbe Menge Wasser enthalten, z.B. 150 ml, gleichwohl befinden sich in ihnen zwei verschiedene Portionen oder Quanta Wasser. Die numerische Verschiedenheit dieser gleich großen Quanta ist in ihrer unterschiedlichen Raum-Zeit-Position begründet. So gibt es Aufstellungen darüber, aus wieviel Anteilen Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff usw. der Körper eines Lebewesens, z.B. eines Menschen, typischerweise zusammengesetzt ist.
148
IV Zur Individuation und Persistenz lebloser
Kontinuanten
ein Materieaggregat" lediglich in diesem Sinne als die basale, anspruchsloseste Beschreibung von materiellen Kontinuanten beliebiger Art versteht, wird auch die These vertreten, daß „the parts of such a quantity of matter (like the parts of a collection or mereological sum) need not be (but may be) united into a complex material object." 4 Ausgehend von den wenigen Bestimmungen, die im Begriff des Aggregats gemäß diesem ersten Verständnis enthalten sind, bietet es sich jedoch an, die Ausdrücke ,quantity of stuff IC, ,mass of matter', ,Materiequantum', ,Materieaggregat' in einem engeren Sinn als Termini zu verstehen, mit denen eine Kategorie von besonders simplen physischen Gegenständen bezeichnet wird: nämlich einzelne konkrete Stoffportionen, wie z.B. Zucker- oder Wasserportionen, die zwar als Einzeldinge individuierbar sind, jedoch nicht beanspruchen können, in irgendeinem gehaltvollen Sinn Individuen zu sein. Kennzeichnend für Stoffportionen ist nämlich, daß wir weder in unseren Urteilen über ihre Identität noch über ihre Persistenz auf irgendwelche ihnen eigentümlichen Formen oder Strukturen oder auf spezifische Eigenschaften, die an solche Formen und Strukturen geknüpft wären, rekurrieren: Vielmehr werden „[qjuantities of substances (like water) and other aggregates [...] individuated purely by reference to individual constituents." 5 Gemäß diesem Sinn von Aggregat stellt folgendes von Bürge „Extensionalitäts-Prinzip" genanntes Prinzip die Identitätsbedingung für Stoffquanta bzw. -aggregate dar: Az
Λ
Ay
ZD
(y = ζ ξ
( χ ) (χ α γ =
χ
α
ζ)).
In Prosa: Wenn ζ ein Aggregat ist und y ein Aggregat ist, dann ist genau dann ζ = y, wenn für alle χ gilt: χ ist genau dann „a member-component o f y, wenn es „a member-component o f ζ ist.6 4 5
6
Hoffman/Rosenkrantz 1997, 75. Bürge 1977, 111. Ahnlich Simons: „A mass is composed of atoms or [...] particles. The identity of a mass of matter is parasitic upon that of the particles of which it is composed; it is some kind of sum of them" (1987, 242). Bürge 1977, 101; Notationsweise geändert zwecks Einheitlichkeit der Darstellung. Das Zeichen ,α' steht für die Relation „is a member-component o f ,
IV. 1 Materiequanta
(Materieaggregate)
149
Eine Vielheit von „Elementen" wird zu einer Einheit zusammengefaßt, indem man sie als ,ein Aggregat' bezeichnet. Ein Aggregat von den-und-den Elementen ist nichts anderes als die Gesamtheit dieser Elemente.7 Die Prinzipien, nach denen bestimmte Elemente zu einem Aggregat zusammenfaßt werden, sind diesen Elementen insofern äußerlich, als diese als unabhängig voneinander existierende Einzeldinge begriffen werden, die sich akzidentellerweise zu einem bestimmten Zeitpunkt t gemäß irgendeinem Prinzip zu einer Einheit zusammenfassen und von der Umgebung abgrenzen lassen: „Aggregat ist [...] das akzidentelle Ganze, dessen Teile voneinander unabhängige Substanzen bilden, im Unterschied zu einem substantiellen Ganzen, dessen Teile [...] durch ein sie umgreifendes Einheitsprinzip [...] verbunden sind."8 Die Rede von den „Elementen" eines Aggregats ist der Mengentheorie endehnt. Aggregate sind jedoch - anders als die Mengen erster Stufe in der Mengentheorie - von ihren Elementen gerade nicht kategorial verschieden: „Aggregates, like their member-components [...] are physical objects having spatio-temporal location [...]. Like their member-components, aggregates come into and pass out of existence."9 Im Unterschied zu Mengen sind Aggregate „aus Teilen zusammengesetzte Ganze"10, welche ebenso wie die Teile, aus denen sie zusammengesetzt sind, zu den physischen Gegenständen gehören. Die Elemente, aus denen ein Aggregat zusammengesetzt ist, stellen dessen kleinste oder minimale Teile dar. Ein typisches Beispiel für ein makroskopisches Aggregat, das diese Bestimmungen erfüllt, ist ein Sandhaufen: Dessen Elemente sind die einzelnen Sandkörner. Diese sind Einzeldinge, die sich unabhängig davon, ob sie nun in einem Haufen zusammenliegen oder nicht, als einzelne Dinge herausgreifen lassen. Insofern ist ihnen akzidentell, daß sie gerade angehäuft vorliegen. Das Zusam-
7 8 9 10
Burges aggregattheoretischem Äquivalent der „Element von"-Relation in der Mengentheorie. Wie von Cartwright begonnen, entwickelt Bürge seine Aggregattheorie von Materiequanta in formaler Analogie zur Mengentheorie. Vgl. Rapp 1995, 205. Riedel 1995, 52 f. Bürge 1977, 102. Vgl. Schroeder-Heister 1995, 841.
150
IV Zur Individuation und
Versisten^lebloserKontinuanten
menhangsprinzip, gemäß dem sie als ein Aggregat zusammengefaßt und von der Umgebung abgegrenzt werden, ist das des Angehäuftseins. Diesen Sachverhalt drücken wir aus, indem wir das Aggregat mit dem Stellvertretersortal ,Haufen' bezeichnen. 11 Und insofern den Sandkörnern ihr Angehäuftsein bloß akzidentell ist, ist ein Haufen bloß ein „akzidentelles Ganzes". 12 Die Annahme, daß jede Stoffportion („mass of matter"), auf die wir mit Ausdrücken wie „das Wasser in diesem Glas" oder „der Haufen Sand dort" referieren, identisch mit einem Aggregat ist, ist an die Annahme der Existenz gewisser minimaler oder „atomarer" Teile des jeweiligen Stoffes gebunden. 13 Nur eine solche Annahme erlaubt es uns, die Teile eines Materiequantums als ein quantum discretum aufzufassen, denn ein quantum discretum machen nur Teile aus, die „auf gewisse Weise in dem gegebenen Ganzen schon abgesondert [...]" H sind. Die minimalen Teile des Materieaggregats sind nicht einfach nur extensional gesehen Teil der Materieportion, sondern es handelt sich bei ihnen um die „Atome" der jeweiligen Stoffart. Diese sind allerdings nicht atomar im Sinne physischer Unteilbarkeit; doch um als einfache und „unabhängige Substanzen" zu gelten, welche nur akzidentellerweise diese konkrete (kohäsive) Stoffportion bilden, genügt es, daß sie insofern „atomar" sind, als es sich bei ihnen um sortal bestimmte Einzeldinge handelt und sie als diese verfolgt werden könnten. Im Beispielsfall des Wassers im Glas sind diese mini-
11
12 13
14
Der Terminus .Haufen' ist bloß ein „Stellvertretersortal" oder „dummy sortal" (Lowe 1989, 25), da er zwar zur Individuation eines Gegenstandes dient, die durch ihn geleistete Abgrenzung jedoch notorisch vage ist, im Unterschied zu echten sortalen Termen, „bei denen eine bestimmte Form des Begrenztseins von einem basalen Verständnis des Terms nicht abzulösen ist" (Rapp 1995, 207), und da er genau wie ein kontinuativer Term das mereologische Kriterium für sortale Terme nicht erfüllt. Vgl. dazu Riedel 1995, 52. Vgl. Zimmermann: „The assumption that every stuff-kind Κ has minimal atoms [...] enables us to carry out a straightforward and fairly simple complete translation of the sum theory of masses in set-theoretical terms" (1995, 97). Dies ist genau das Anliegen, was Bürge mit seiner Aggregattheorie von Materiemengen verfolgt. Kant, KrV, A 526/B555.
IV. 1 Materiequanta
(Materieaggregate)
151
malen Teile die H^O-Moleküle. 15 Welches die minimalen Teile des Aggregates sind, ist de facto mit der Nennung der Stoffart festgelegt, von dem eine Portion abgegrenzt wurde. Somit erfüllen nicht nur die von sortalen Termen bezeichneten Individuen das Prinzip der beliebigen Teilbarkeit nicht 16 , sondern wir stoßen auch bei Materieaggregaten an eine untere Grenze, ab der die Teile des von der jeweiligen Stoffportion eingenommenen Raums zu klein werden, um noch mindestens ein „Atom" des jeweiligen Stoffs enthalten zu können. Darum ist für die klare Unterscheidung von Materieaggregaten und genuinen Individuen das „principle of inclusive reference or cumulative reference" 17 besser geeignet: Dieses besagt, daß „for any two masses of the same kind there is a larger mass of the same kind made of just those two masses and their parts." 18 Dieses Prinzip ist nach dem Prinzip der beliebigen Teilbarkeit der zweite Grundsatz der „sum theory of masses", welche die Standardauffassung bezüglich der Referenzobjekte von Massentermini wie „das Wasser in diesem Glas" darstellt. Die Kernthese dieser Theorie lautet, daß „each referent of an expression like 'the Κ' or '[some] K' is the mereological sum of one or more bits of K". 19 Eine solche einzelne Materieportion stellt zugleich „a literal part of the corresponding sum of the world's total K" 20 dar. In der klassischen extensionalen Mereologie wird die mereologische Summe zweier konkreter Einzeldinge (χ, y) definiert als
15
16 17 18
19 20
So sieht Bürge den Witz der Identifikation „Wasser ist H2O", die entweder als „an identification of aggregates or as a universally quantified biconditional" verstanden werden kann, darin, „to specify the individuals of the macro-stuff aggregate" (1977, 108). Die Probe anhand der Sortalitätskriterien, insbesondere des mereologischen Kriteriums, erweist ,H20-Molekül' ebenso wie ,Wasserstoffatom' als Sortale. Von Zimmermann wird dies das „'downward-looking' principle" genannt: ,,[A]ny proper part of a mass of [a stuff kind K] is also a mass of that kind" (1995, 65). Bürge 1977, 104. Zimmermann 1995, 65. Von ihm wird dies das „'upward-looking' principle" genannt. Vgl. auch Simons: „Mass terms for stuffs are mereologically cumulative: any sum of portions of gold is itself [some] gold" (1995, 298 f.); sowie Quine (1960) 1980, 166 u. (1974) 1989, 81. Zimmermann 1995, 55; meine Hervorhebung. Ebd., 58.
152
IV Zur Individuation und Persisting lebloser
Kontinuanten
„that individual which something overlaps iff it overlaps at least one of χ and y". 21 Eine solche mereologische Summe zweier Einzeldinge („individuals") ist das kleinste konkrete Einzelding, welches sowohl χ als auch y enthält. Dabei lautete eine zentrale These der klassischen extensionalen Mereologie, daß es für beliebige zwei Einzeldinge eine mereologische Summe gibt, d.h. ein (weiteres) konkretes Einzelding, welches aus ihnen beiden besteht. Diese ontologische These der Existenz arbiträrer Summen von Einzeldingen, die ebenso wie die Einzeldinge, aus denen sie bestehen, als Einzeldinge begriffen werden könnten, ist in ihrer Allgemeinheit vielfach angegriffen worden; insbesondere da ihre Vertreter nicht davor zurückschreckten, mereologische Summen von Einzeldingen ganz unterschiedlicher Kategorien zu bilden. Doch individuelle Materiequanta scheinen genau diejenigen physischen Gegenstände zu sein, für die dieses Axiom der extensionalen Mereologie gilt: Jede Fusion zweier verschiedener Stoffquanta einer bestimmten Stoffsorte ergibt wieder ein Stoffquantum von dieser Sorte, in welchem die beiden nun enthalten sind; und dieses Spiel läßt sich wiederholen, bis man bei der Totalität allen Stoffs dieser Art angelangt ist. Umgekehrt sind solche Stoffquanta homöomere Ganze, d.h. aus Teilen (Teilquanta) zusammengesetzt, die von derselben Art sind wie das gesamte Stoffquantum. Die einzelnen Individuen (= minimalen Teile) der jeweiligen Stoffart markieren die Grenze der Homöomerität von Aggregaten. 22 Die Restriktion für die Verwendung eines Massenterminus wie „etwas Wasser" ist, daß mehr als ein isoliertes Wassermolekül damit bezeichnet wird. Wenn wir diese Differenz in der Verwendung der Ausdrücke ,Wassermolekül' und ,Was serquantum' berücksichtigen, dann läßt sich folgendes klarstellen: „Whereas there is an aggregate of all minimal water units there is no aggregate of all quantities of water.,"23 Gleiches läßt sich auch über ein einzelnes, konkretes, abgegrenztes Wasser^»ö«/«w sagen: In dem Quantum Wasser, auf das wir z.B. mit „das Wasser in diesem Glas" referieren, ist keine bestimmbare Anzahl von Wasser quanta enthalten: 21 22 23
Simons 1987, 14. Hacker (1979, 242 u. 249) nennt darum Stoffe „relatively dissective". Bürge 1977, 107; meine Hervorhebung.
IV. 1 Materiequanta
(Materieaggregate)
153
Eine solche Wasserportion ist nicht „an sich selbst schon eingeteilt" 24 in eine bestimmte, von uns nur noch zu bestimmende Anzahl von Wasserquanta, während sie sehr wohl eine bestimmte Anzahl von ^Jassttmolekülen enthält. 25 Homöomere Gegenstände lassen sich nicht als aus einer bestimmten Anzahl von Teilen bestehend begreifen. Die Prinzipien der kumulativen Referenz und der beliebigen Teilbarkeit, die wesentlichen Elemente der „Summentheorie von Materiequanta", artikulieren ein rein extensionales Verständnis von Teil und Ganzem: Hier meint ,Teil eines Ganzen sein' nur ,in einem Teil des Raumes, den das Gan^e einnimmt, enthalten sein\26 In diesem Sinne ist alles Teil eines Gegenstandes, was zu einer gegebenen Zeit eine Subregion - eben einen Teil — des vom ganzen Gegenstand ausgefüllten Raums einnimmt. So gesehen, ist ein Materiequantum ein quantum continuum, von dem gilt, daß es „in Unendliche teilbar" ist, ohne jedoch „aus unendlich viel Teilen [zu bestehen]". 27 Die infinite Teilbarkeit des Materiequantums gründet hier-
24 25
26 27
Kant, KrV, A 526/Β 554. Gemäß dem internationalen Standard wird ein flüssiges Stoffquantum in Litern, ein festes in Kilogramm abgemessen. Da bei einer Veränderung des Aggregratzustands die Dichte der Stoffmenge variiert, sind dies allerdings keine Maße, die bei solchen Veränderungen stabil blieben. Die einzige meßbare Größe, die dadurch unverändert bleibt, ist die Molmenge eines gegebenen Quantums Stoff (welche bei bekannter Atom- bzw. Molmasse für einen gegebenen Zeitpunkt aus Dichte und Gewicht des Stoffs errechnet werden kann). Ein beliebiges Stoffquantum ist also insofern ein quantum discretum, als es eine ganz bestimmte Anzahl (n mol) von spezifizierten minimalen Teilen enthält. Vgl. Nagel (1955) 1984, 244. Kant, KrV, A 525/B 552. Es ist der große Vorzug dieser Kantischen Position, daß sie es erlaubt, die Vorstellung der unendlichen Teiliwkeit physischer Körper mit dem jeweils erreichten Stand ihrer Teil»«f; zu vermitteln. Die gegenwärtige Physik mag Quarks, Leptonen, Gluonen oder Photonen als mereologische Atome ansehen, doch besagt dies nichts hinsichtlich der metaphysischen Frage, ob die den Raum erfüllende Materie in letzte, mereologisch einfache Teilchen eingeteilt ist oder nicht. Vielmehr läßt sich von Kant lernen, daß diese Frage gegenstandslos ist. Die gegenwärtige Situation können wir so beschreiben, daß die ad infinitum mögliche Dekomposition aktual erst bei den besagten Teilchen angelangt ist. Über Revisionen in der Physik, die diese Teilchen als teilbar erwiesen, brauchten wir angesichts der unendlichen Teilbarkeit von Körpern jedoch nicht überrascht zu sein.
154
IV Zur Individuation und Persistenz lebloser Kontinuanten
bei allein in der infiniten Teilbarkeit des Raumes, den sie erfüllt. 28 Diese extensionale Teilrelation ist transitiv, asymmetrisch und irreflexiv. Sie ist die allgemeinste, gehaltärmste oder anspruchsloseste Teil-Ganzes-Relation. Für alle anderen Teilrelationen gilt: To say that something is a part is to say that it is something which is part and has some further additionalproperties,29
Alles, was in einem Körper räumlich enthalten ist, ist Teil dieses Körpers. Ob aber das, was extensional gesehen Teil dieses Körpers ist, auch als ein Teil dieses Körpers zählt, bemißt sich an anderen, über das bloße Enthaltensein hinausgehenden Gesichtspunkten. Über diese gelangen wir zu Teil-Ganzes-Relationen, die nicht extensional definiert sind. Mit der Extensionalität kann die Transitivität der Teilrelation verlorengehen, wenn nämlich verschiedene Aussagen über das Bestehen einer Teil-Ganzes-Relation sich auf unterschiedlich definierte Arten von Teilen und Ganzen beziehen. Auf ein solches besonderes Konzept von ,Teil sein' sind wir schon gestoßen, als wir feststellten, daß das Prinzip der beliebigen Teilbarkeit auf Materieaggregate nur bis zu einer gewissen untersten Grenze zutrifft. Nicht alles, was extensional gesehen Teil eines Materiequantums ist, zählt auch als ein Teil des Aggregats, als welches es aufgefaßt wird. Von einem durch den Terminus „dieses Gold" herausgegriffenen konkreten Stoffquantum können wir daher einerseits sagen, daß es rein extensional gesehen Teile enthält, die (prädikativ) nicht Gold sind, z.B. Neutronen. Andererseits stellt es als ein Aggregat von Goldatomen eine zu einer Einheit zusammengefaßte Vielzahl von Goldatomen dar. Als Teile dieser Pluralität von Goldatomen aber zählen nur Zusammengruppierungen von Goldatomen (bis hinunter zu einzelnen Goldatomen) — also nur Teile, die (prädikativ) Gold sind. 30 Begreift man ein Goldquantum als ein Aggregat von Goldatomen, zählen folglich als dessen Teile nur Teile, die (prädikativ) Gold sind. Nach der Aggregat-Theorie der Materiequanta findet also selbst bei diesen schon ein besonderes Konzept von ,ein Teil sein' 28 29 30
S. ebd. Simons 1987, 235; meine Hervorhebung. So gilt: „[Wjhatever is a part of something is also part of it, but not vice versa" (ebd.; meine Hervorhebung). S. Simons 1987, 234.
IV. 1 Materiequanta
(Materieaggregate)
155
Verwendung, das anspruchsvoller ist als der bloß extensionale Teilbegriff - nämlich das Konzept stoffspezifischer minimaler oder elementarer Teile. Zwar trifft auf diese auch zu, daß sie extensional gesehen Teil der Materieportion sind. Aber sie sind zusätzlich dadurch gekennzeichnet, daß sie selber als sortal individuierte Einzeldinge — als die Individuen der einzelnen Stoffarten — begriffen werden. Im folgenden werde ich von diesen ausschließlich als von elementaren Teilchen sprechen. - Solche Teilthen können vorübergehend zu Teilen eines Aggregats oder eines anderen makroskopischen Kontinuanten werden. Descartes' Wachsbeispiel macht ebenso wie die am Anfang dieses Abschnitts angeführten Identitätsurteile deutlich, daß die Sortale wie „dieses Glas Wasser" oder „dieser Zuckerwä^/', mithilfe deren wir einzelne Materieportionen zu einem bestimmten Zeitpunkt individuieren, letztlich nicht die entscheidende Rolle bei der Festlegung spielen, was über die Zeit hinweg als dasselbe Materiequantum gilt. De facto liegt das Quantum Wasser, das wir zu einem Zeitpunkt mit dem Ausdruck „dieses Glas Wasser" abgegrenzt haben, zu diesem in bestimmten Grenzen vor, doch sind ihm diese Grenzen unwesentlich. Wenn uns das Glas Wasser umgekippt ist, ist das vergossene Wasser dasselbe Wasser wie das, was sich im Glas befand. Ähnlich verhält es sich mit dem Zuckerwürfel in der Kaffeetasse: Der Zucker, der sich in meiner Kaffeetasse befindet, ist derselbe Zucker wie der, der den Würfel bildete, den ich hineingeworfen habe — dennoch befindet sich kein Würfel Zucker in meiner Tasse. Die Beispiele zeigen, daß wir einzelne Materiequanta unabhängig von den Formen oder Modi oder Aggregatzuständen verfolgen, in denen sie vorkommen. 31 Stattdessen zählt als Maßstab der Persistenz allein die Persistenz der elementaren Teilchen des betreffenden Materiequantums: Es sind dieselben Wassermoleküle, die erst im Glas waren 31
Vgl. Hacker 1979, 244: „The specific quantity of S of which a given Ρ of S consists (the water of which the pool consists) as well as the specific quantity of S of which a given object Ο is made (the gold of which the golden ring is made) can retain its identity qua specific quantity despite change of form specified by the partitive P, or destruction of the object made of S."
156
IV Zur Individuation und Persistenz lebloser
Kontinuanten
und sich nun auf dem Boden befinden. Die Persistenz eines Materiequantums beruht damit auf der Persistenz der elementaren Teilchen, aus denen es besteht. 32 Mit anderen Worten, Bedingung der Persistenz für Materieportionen ist die mereologische Konstant Mereologisch konstant zu sein, bedeutet, zu allen Zeitpunkten seiner Existenz dieselben Teile zu besitzen. 34 Eine einzelne konkrete Materiemasse persistiert danach genau so lange, wie alle die elementaren Teilchen persistieren, von denen sie zum Zeitpunkt ihrer Individuation de facto gebildet wird. Das Umstoßen des Glases Wasser führt nicht dazu, daß die Portion Wasser, die sich im Glas befand, aufhört zu existieren. Das einzige, was sich bei diesem Vorgang ereignet, ist, daß sich dieses Wasser von einem kohäsiven Gegenstand in ein „scattered object" 35 verwandelt. Eine einzelne, konkrete Stoffportion hört nur dann auf zu existieren, wenn die sie bildenden elementaren Teilchen aufhören zu existieren. 36 Eine solche Stoffportion mag also zu einem Zeitpunkt ihrer Existenz mithilfe eines Stellvertretersortais individuiert werden 32
33
34 35 36
Der locus classicus dieses Persistenzprinzips für Materieportionen ist folgende Definition einer Materiemasse und ihrer Persistenz bei John Locke: ,,[I]f two or more Atoms be joined together in the same Mass, every one of those Atoms will be the same. [...] And whilst they exist united together, the Mass, consisting of the same Atoms, must be the same mass, or the same Body, let the parts be never so differently jumbled: But if one of the Atoms be taken away, or one new one added, it is no longer the same Mass, or the same Body." (Locke [1690], bk. 2, ch. 27, § 3.) In § 4 benutzt er auch den Ausdruck „Collection of Matter" als Synonym für „Mass of Matter". Während Locke hier für die Existenz und Persistenz von Materiemassen zusätzlich zur Persistenz der Atome fordert, daß diese in räumlicher Nähe zueinander bleiben müssen, sprechen unsere Identitätsurteile eine andere Sprache: Wir würden z.B. nicht sagen, daß die Wasserportion, die sich im Glas befand, durch ihre Verstreuung auf dem Fußboden aufgehört hat zu existieren. Vgl. Simons' Definition einer Materiemasse sowie ihrer Persistenz: „a is a mass of matter iff a exists, every part of a overlaps some particle which is part of a for as long as a exists, and a exists as long as every particle which is ever part of it exists" (1987, 243; meine Hervorhebung). S. ebd. auch die logische Formulierung dieser Definition (CTD 26). Für eine formale Definition des Prädikats ,mereologisch konstant', s. ebd., 242. Quine 1960, 98. Würden etwa die HaO-Moleküle der zu t im Glas befindlichen Wasserportion zu t' in Moleküle anderer Art umgewandelt, hörte diese Portion Wasser auf zu existieren.
IV. 1 Materiequanta
(Materieaggregate)
157
herausgegriffen wird mithilfe eines solchen Terms indes eine Stoffportion, die als ein Kontinuant darüber individuiert ist, aus einer definiten Anzahl konkreter elementarer Teilchen zu bestehen. Darum ist auch die Kontinuität dieses Materiequantums ausschließlich an die Kontinuität der Teilchen gebunden, die es zum gegebenen Zeitpunkt der Abgrenzung bildeten. Es ist daher „inherently more frail than any one of them". 37 Ein solches bloßes Aggregat von sortal bestimmten Einzeldingen, das für seine Fortdauer von dem unveränderten Fortdauern seiner elementaren Teilchen abhängig ist, läßt sich als ein ontologisch „posteriores Ganzes" 38 charakterisieren; Priorität besitzen die sortal bestimmten elementaren Teilchen, die es bilden. Daß die Persistenz eines Materiequantums an die Persistenz der Teilchen gebunden ist, aus denen es zu einem Zeitpunkt besteht, impliziert, daß Materiequanta mereologisch konstant sein müssen, und es ausgeschlossen ist, daß sie „objects in flux" 39 sein könnten, d.h. physische Gegenstände, die irgendwelche Teile verlieren und/oder hinzugewinnen könnten: 40 Hinzugewinn oder Verlust irgendeines beliebigen Teils (Teil-Quantums) bedeutete ja stets das Ende der Existenz der als das Aggregat genau der-undder konkreten elementaren Teilchen begriffenen Materieportion. Wenn eine zu einem gegebenen Zeitpunkt als dieses bestimmte, einzelne Materiequantum individuierte Materieportion eines ihrer elementaren Teilchen (durch Zerstörung) verlöre, oder ein neues hinzukäme, läge daraufhin eine andere als die zuvor individuierte Materieportion vor. Für Materieportionen/-aggregate gilt also der mereologische Essentialismus. 41
37 38 39 40 41
Simons 1987, 244. Vgl. ebd., 214. S. ebd., 124. Vgl. Zimmermann 1995, 79. Diese Bedingung wird von manchen Ontologen (s. z.B. Zimmermann 1995) als zu stark angesehen. Simons (1987, 246) bietet darum als schwächere Persistenzbedingung statt der mereologischen die der materiellen Konstanz an: Materiell konstant ist ein Materiequantum/-aggregat, das keine Bestandteile mit der Umgebung austauscht. Diese Bedingung läßt z.B. die Möglichkeit offen, daß die ursprünglich im Quantum enthaltenen Individuen der Stoffart durch ein Rearrangement von Teilen vergehen und gleichartige neue entstehen.
158
IV Zur Individuation und Persistenz lebloser
Kontinuanten
2. Dinge Von Natur aus vorkommende leblose Dinge sind Steine, wie Kieselsteine oder Diamanten, erstarrte Himmelskörper wie die Planeten und ihre Monde (und auch die Moleküle chemischer Verbindungen und Elemente). Doch das erste, was einem bei dem Gedanken an leblose Dinge in den Sinn kommt, sind die vielen, zum alltäglichen Gebrauch bestimmten technischen Erzeugnisse des Menschen — seien es einfache Dinge wie Tische, Stühle, Betten etc. (oder Säge und Beil, Aristoteles' Lieblingsbeispiele) oder kompliziertere Maschinen wie Uhren, Autos oder Computer. 1 Diese hat Austin einmal alle unter der Bezeichnung „mittelgroße trockene Güter" zusammengefaßt. Leblose Artefakte haben seit Aristoteles' Charakterisation der Körper von Lebewesen als „Werkzeuge der Seele" 2 als Modell für deren Beschreibung gedient. Seit Descartes' Automatengleichnis werden immer wieder Maschinen mit ihrem komplexen inneren Aufbau als Modell für die Beschreibung von Organismen herangezogen. Für eine Kritik der Analogie von Organismus und Maschine wird es daher notwendig sein, die Einheits- und Persistenzprinzipien sowie den ontologischen Status solcher leblosen zusammengesetzten Artefakte zu diskutieren. Der Vergleich der in diesem Abschnitt entwickelten Prinzipien mit denen, auf denen die Einheit und Persistenz von Lebewesen beruht, soll schließlich zeigen, wie verschieden Lebewesen ontologisch von allen Dingen sind.
1
2
Definiert man Artefakte als von Menschen hergestellte Gegenstände, so ist diese Rubrizierung der Artefakte unter die leblosen Dinge lediglich im Sinne einer These zu verstehen, die eine kontingente Tatsache ausdrückt. Denn es erscheint prinzipiell möglich, daß wir eines Tages aus leblosen Materialien auch Lebewesen herstellen können — oder schwächer formuliert, daß wir wissen, was wir tun müßten, um ein Lebewesen herzustellen. So ist kein prinzipielles Hindernis dafür zu sehen, daß auch Lebewesen zu den Artefakten gehören können. Im folgenden (s.u.) werde ich mich jedoch Wiggins' Definition von Artefakt-Arten anschließen, die die Unterscheidung dieser von Arten natürlicher Dinge unabhängig vom Herkunftskriterium macht. Diese Definition erlaubt es dann doch, Artefakte ontologisch als echte Subkategorie der Dinge aufzufassen. De An. II, 4, 415b 18 f.; De Part. An. I, 1, 642a.
IV. 2 Dinge
159
2.1 Zur Einheit und Natur von Dingen 2.1.1 Zur Einheit von Dingen Der Einfachheit halber beginne ich meine Diskussion der Prinzipien der Einheit lebloser Dinge am Beispiel von relativ einfachen materiellen Körpern wie einzelnen Kieselsteinen oder Diamanten, bevor ich mich der Frage nach den Prinzipien der Individuierung, Einheit und Persistenz komplexer, aus vielen Einzelteilen zusammengesetzten Dingen unseren Artefakten zuwende. Jene einfachen Dinge illustrieren besonders gut, worauf die Einheit lebloser Dinge beruht, und was für ontologische Konsequenzen es hat, wenn „the survival of form [...] depends on [...] the intrinsic stability of the materials from which the object is made". 3 Für Kieselsteine oder Diamanten gilt zwar das Prinzip der beliebigen Teilbarkeit in gleicher Weise wie etwa für ein Quantum Wasser in einem Glas; sie sind demnach also homöomere Kontinuanten. Das Prinzip der kumulativen Referenz aber gilt für sie nicht: Ein Aggregat von Kieselsteinen ist ebensowenig ein Kieselstein wie eine Ansammlung von Diamanten ein Diamant ist. Während für Massentermini gilt: „If a mass term is true of aggregates at all, it is ordinarily true of aggregates composed of aggregates that also satisfy the predicate", gilt für Sortale, die Kontinuanten bezeichnen, generell: „One-place physical-object sortals are true of individuals but not [...] of aggregates of those individuals."4 Als weitgehend homöomere Substanzen stehen kristalline Festkörper wie Diamanten oder Kieselsteine an der Grenze zwischen materiellen Kontinuanten, die nichts anderes als Ansammlungen oder Aggregate bestimmter konkreter elementarer Teilchen sind, deren Identität und Distinktheit von anderen allein an die ihrer Teilchen gebunden ist, und solchen, die materielle Körper (im gewöhnlichen Sinne des Worts (vgl. (i), S. 108 f.)) sind, welche eine spezifische, bestimmbare Struktur und Gestalt haben. Daß wir solche festen Körper wie Kristalle nicht bloß als
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Miller 1978, 140 f. Bürge 1977, 106.
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IV Zur Individuation und Persistenz lebloser
Kontinuanten
Ansammlungen oder Summen von so und so vielen elementaren Teilchen begreifen, macht etwa das Beispiel von Diamant und Graphit deutlich: Wenn jemand aus einem bestimmten Diamanten einen Graphitkristall herstellte, so würde diesen gewiß niemand mit jenem Diamanten identifizieren wollen, obwohl beide von derselben Menge Kohlenstoffatome gebildet werden, d.h. aus exakt denselben Kohlenstoffatomen bestehen.5 Schon in diesem Falle einfachster „substantieller Ganzer" wie Kristallen bürgt also die Persistenz und d.h. Identität der im Kristall vorhandenen elementaren Teilchen allein keineswegs für die Persistenz und d.h. Identität des einen aus ihnen bestehenden Kristalls mit dem anderen aus ihnen bestehenden Kristall. Vielmehr zeigt sich hier die ontische Differenz zwischen blossen Materieaggregaten und Dingen: Die mereologische Summe bestimmter Einzeldinge existiert genau dann, wenn diese Einzeldinge existieren, ohne daß sie miteinander auf besondere Weise verbunden sein oder sich in räumlicher Nähe zueinander befinden müßten. Gegen die Auffassung des Konventionalisten oder Pragmatisten, daß es keine ontische Differenz zwischen „bloßen Summen" und „substantiellen Ganzen" gibt, sondern daß es sich dabei lediglich um zwei differierende mögliche Beschreibungsweisen eines Gegenstandes handelt6, läßt sich einwenden, daß Dinge sich von bloßen Materieansammlungen, die als mereologische Summe ihrer Teile begriffen werden, grundsätzlich dadurch unterscheiden, daß es für das Vorliegen eines Dings nicht ausreicht, daß irgendeine Anzahl von Teilchen gemäß den in IV. 1 genannten Summenprinzipien eine Einheit bildet. Dafür, daß diese ein Ding bilden, muß vielmehr eine „further constitutive condition" erfüllt sein.7 Aus diesem Grunde ist es kategorial falsch, den Begriff eines Dings synonym mit dem Begriff eines Materieaggregates zu gebrauchen, d.h. ein Ding mit einem Materieaggregat zu identifizieren.8 Man
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Erhitzt man Diamant unter Luftabschluß auf 1500°C, so geht er in Graphit über. S. z.B. Schlick (1938) 1984, 238. S. Simons 1987, 324: „[A] complex constituted of the same parts as the sum only exists if a further constitutive condition is fulfilled." S. Hoffman/Rosenkrantz 1997, 77: ,,[I]t is essential to a material object that its parts have some principle of unity or organization [...]. But it is not essential to a
IV.2 Dinge
161
mag zwar für die Beantwortung bestimmter Fragen von der Struktur eines Dings abstrahieren, und es insofern so behandeln können, als ob es bloß ein Materieaggregat wäre — etwa wenn man nur sein Gewicht bestimmen will. Doch das Umgekehrte ist nicht möglich: Kein Aggregat von Materieteilchen läßt sich eo ipso als Ding begreifen. So ist es keineswegs der Fall, daß sich an jedem Ort, der zu einem Zeitpunkt von einer Quantität Materie ausgefüllt wird, auch ein Ding befindet. Folglich gilt es als Antwort auf die metaphysische Frage danach, „what makes something a natural (or other) complex" 9 , zu erläutern, welches die der Einheit von Dingen zugrunde liegende Relation ist, bei deren Erfüllung durch gewisse, eine bestimmte Raumzeitstelle ausfüllende elementare Materieteilchen (wir sagen, daß) diese ein Ding bilden. Aristoteles beantwortete die Frage, „weshalb der Stoff dieses Bestimmte ist" 10 mit der Angabe des Wesens (ousia) bzw. der Form (eidos) des jeweiligen Einzeldings. Doch im Rahmen der neuzeitlichen, atomistischen Materiekonzeption nimmt diese Frage auch die Form der Frage nach den Bedingungen an, unter denen (wir sagen, daß) die Atome und/oder Moleküle der diversen Stoffarten, kurz, bestimmte elementare Stoffteik/ra ein zusammengesetztes, zusammenhängendes Ding wie z.B. von der Art eines Diamanten bilden. So formuliert, kommt die Frage ohne die Begriffe von einem Ganzen und seinen Teilen aus. Nur in dieser Form ist sie eine gehaltvolle Frage. Als Frage, unter welchen Bedingungen bestimmte Teile ein Ganzes bilden, wäre sie dagegen gehaltlos, weil es analytisch wahr ist, daß Teile ein Ganzes bilden. Da die TeilGanzes-Relation eine logische Relation ist, ist die Frage nach den Bedingungen, unter denen Teile ein Ganzes bilden, nicht sinnvoll. Wer so fragt und etwas Gehaltvolles sagen will, hat in der Regel jene andere Frage im Sinn, unter welchen Bedingungen (wir
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collection or mereological sum that its parts have a principle of unity of this sort. Hence, [...] it is impossible for a material object to be identified with a collection or sum of other material objects (its parts). Such an identification [...] would be a category mistake." Simons 1987, 326. Met. VII, 17,1041b 5.
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IV Zur Individuation und
Persisten^lebloserKontinuanten
sagen, daß) bestimmte Einzeldinge ein zusammenhängendes, einzelnes Ding bilden. Aufgrund welcher Relation(en) zueinander bilden nun diskrete Einzeldinge ein lebloses Ding? Mit Bezug auf einzelne Arten von Dingen gestellt, ist diese Frage sicherlich empirischer Natur, ebenso wie die Antwort darauf. Doch sofern sich Metaphysik von (Natur-)Wissenschaft durch die Generalität ihrer Fragen unterscheidet, gehört die Frage, ob sich generell, für alle möglichen Arten von Dingen, eine Bedingung angeben läßt, unter der diskrete Einzelteilchen ein zusammenhängendes, von uns als eine Einheit abgegrenztes Ding bilden, zur deskriptiven Metaphysik von Dingen. Auf diese Frage haben Hoffman und Rosenkrantz eine Antwort vorgeschlagen, die zwar auf die zwischen den elementaren Teilchen wirkenden physischen Kräfte Bezug nimmt, jedoch offenläßt, welche der physikalischen und/oder chemischen Kräfte im Einzelfalle beteiligt sein mögen. An ihre Definition der „characteristic stability" 11 eines leblosen Dings läßt sich auch anknüpfen, wenn es später um die Persistenzbedingungen lebloser Dinge geht. Sie stellen sich die Aufgabe, das Prinzip der Einheit von „compound pieces of matter" zu explizieren, d.h. ein Prinzip vorzustellen, das die „unifying relation" nennt, deren Instantiierung durch diskrete Einzeldinge notwendig und hinreichend dafür ist, daß diese Einzeldinge ein zusammenhängendes Stück Materie bilden, das „can be created or destroyed by assembly or disassembly". 12 Ihre erste These übernehmen sie von Aristoteles: Die 11 12
Hoffman/Rosenkrantz 1997, 83. Ebd., 73. Solche „compound pieces of matter" nennen sie auch kurz „mereological compounds". Beispiele dafür sind: ein Stahlblock (ebd., 74), ein zylindrisches Stück Eichenholz (ebd., 81) oder andere Festkörper. (Diese Kategorie entspricht in etwa der der materiellen Körper in dem zweiten der in III. 1.2 unterschiedenen Sinne.) Als weitere „compound physical objects" unterscheiden sie (ii.) Artefakte, (iii.) „inanimate natural formations" wie z.B. Kristalle, Gletscher (ebd., 73) oder Planeten (ebd., 168) und (iv.) Lebewesen. Der Grund für diese Klassifikation ist ihre Annahme, daß „compound pieces of matter" keiner mereologischen Veränderung unterliegen können, während die anderen drei Kategorien von physischen Gegenständen mereologisch variabel sein können. Ich komme auf das Problem mereologischer Veränderung zurück. Aber da ich es hier erst einmal zurückstellen möchte, brauchen wir ihre Differenzierung zwi-
IV. 2 Dinge
163
bloße Berührung zweier diskreter Einzeldinge schafft keinen zusammenhängenden, komplexen Gegenstand, der aus ihnen beiden besteht.13 Diese müssen schon auf irgendeine Weise fest miteinander verbunden sein, wenn sie eine kontinuierliche Einheit bilden sollen.14 Die Frage ist nun, wie diese Verbundenheit zu definieren ist. In Ermangelung eines klaren Kriteriums, so Hoffman und Rosenkrantz, könnten schließlich diejenigen Philosophen Recht behalten, die behaupten, daß es im Grunde in der Welt nichts als „die Atome und den leeren Raum" gebe, d.h. überhaupt keine zusammengesetzten Gegenstände, oder die entgegengesetzten Extremisten (die Anhänger der extensionalen Mereologie), die sagen, daß beliebige Einzeldinge zu einem zusammengesetzten Gegenstand zusammengefaßt werden können, oder jene, die sogar behaupten, daß es letztlich nur einen einzigen Gegenstand gebe: das Universum, die mereologische Summe alles Existierenden. Zunächst beginnen sie, ähnlich wie Kant in seiner „dynamischen Erklärung der Materie"15, mit einer apriorischen Überlegung, derzufolge die Stabilität (Kant sagt „Möglichkeit") eines ausgedehnten materiellen Körpers auf einem Gleichgewicht von attraktiven und repulsiven Kräften zwischen den ihn bildenden (Elementar)-Teilchen beruht (Dl). 16 Dieses Konzept benutzen sie, um die Verbundenheit zweier Gegenstände zu einem größeren Ganzen zu definieren: Miteinander verbunden („joined") sind diese genau dann, wenn ein solches Kräftegleichgewicht zwischen ihnen herrscht, daß es nicht möglich ist, den einen ohne den anderen zu bewegen (D2).17 Mit dieser Definition können auch Objekte als miteinander verbunden gelten, die einander nicht an Kon-
13
14 15 16 17
schen „compound pieces of matter" und „inanimate natural formations" hier noch nicht zu berücksichtigen. Vgl. Aristoteles, Met. V, 6, 1016a 7-9; s. auch van Inwagen 1990, 35. Als .diskret' werden in der Mereologie zwei Einzeldinge definiert, die keinen Teil gemeinsam haben. S. Hoffman/Rosenkrantz 1997, 80. Kant 1786, A 53. Für die genaue Definition dieser Relation, s. Hoffman/Rosenkrantz 1997, 82. Für die genaue Definition dieses Konzepts von Verbundenheit, s. ebd., 84. Sie gebrauchen den Ausdruck „being joined" im folgenden terminologisch, als Bezeichnung für die durch diese Definition definierte Relation.
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IV Zur Individuation und Persistenz lebloser
Kontinuanten
taktflächen berühren. Einzeldinge, die diese Definition erfüllen, lassen sich nur als eine Einheit fortbewegen. 18 Diese Definition ist jedoch noch zu streng formuliert, um alle Fälle abzudecken, bei denen wir normalerweise von miteinander zu einem größeren Gegenstand verbundenen Einzeldingen sprechen würden. Hoffman und Rosenkrantz führen daher als schwächere Bedingung ein, daß es genügt, wenn nur Teile der Gegenstände so miteinander verbunden sind wie zuvor definiert (D3). 19 Summa summarum lautet dann die Bedingung dafür, daß zu einem gegebenen Zeitpunkt t eine Vielzahl diskreter Einzeldinge — ob nun Teilchen oder größere diskrete Objekte — ein zusammenhängendes Ding bilden: (PMC)
(Discrete material objects PI ... PN are united into a mereological compound at [...] t) ξ (at t, Pi ... P„ are connected via the joining relation). 20
Diese Definition, so Hoffman und Rosenkrantz, ergebe eine klare Analyse der basalen, der Einheit aller „material substances which do not perceptibly flow" 21 zugrundeliegenden Relation, die der common sense als Dinge bezeichnet. Sie ermögliche eine klare und präzise Antwort auf die Frage, ob bestimmte materielle Einzeldinge Pi...Pn zu einem zusammenhängenden materiellen Körper verbunden sind oder nicht: Daß „material objects Pi...P n [are] joined and connected is logically sufficient for Pi...P n to compose an inanimate object". 22 Flüssige und gasförmige Materieaggregate 18
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20 21 22
Auch Aristoteles verwendet als Kriterium der Einheit das Merkmal, ob etwas sich ausschließlich als eine Einheit bewegen kann (bzw. ob es ausschließlich eine Bewegung vollführen kann) oder nicht (vgl. Met. V, 6, 1015b 36-1016a 12, sowie Met. X, 1,1052a 22-26). Für die genaue Definition dieser Relation, s. Hoffman/Rosenkrantz 1997, 86. Sie bezeichnen Gegenstände, die auf diese Weise miteinander verbunden sind, als „connected via the joining relation" bzw. kurz als „joined and connected" (ebd.). Ebd.; Notationsweise geändert zwecks Einheitlichkeit der Darstellung. Ebd., 89. Ebd., 158 u. 159. Sie fügen hinzu, daß dies nur unter der Bedingung zutrifft, daß man auch kryokonservierte (d.h. eingefrorene) oder dehydrierte, doch lebensfähige Lebewesen — von deren Teilen die Definiton (PMC) ebenfalls erfüllt wird zu den leblosen Dingen („inanimate objects") rechnet. Sie tun dies, und sprechen angesichts solcher Phänomene von der „intermittierenden Existenz" leben-
IV. 2 Dinge
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sind danach keine „mereological compounds", da ihre Atome oder Moleküle (D3) nicht erfüllen; 23 und genausowenig bilden danach sich in diesen Aggregatzuständen befindende Materiequanta eine zusammenhängende Einheit mit einem sie begrenzenden Behältnis. 24 Es ist jedoch nicht immer notwendig, daß gewisse Einzeldinge Ρ (MC) erfüllen, um ein größeres Einzelding zu bilden. Als allgemeines Prinzip der Einheit von Dingen unterliegt das Prinzip (PMC) vielmehr zwei Einschränkungen: (i.) Die erste Beschränkung leuchtet ein, wenn man bedenkt, daß Hoffman und Rosenkrantz das Prinzip (PMC) explizit als ein Prinzip einführen, nach dem „compound pieces of matter" — materielle Körper im dem von mir in III.2.1 unter (ii) aufgeführten Sinne - als Einheiten oder zusammengesetzte Einzeldinge begreifbar sind. Soweit die übrigen Dinge - also materielle Körper im Sinne von (i) (s. ebd.) - in physischer Hinsicht den in (ii) genannten gleichen, beschreibt (PMC) auch, was ihrer Einheit zugrunde liegt. Mit anderen Worten, (PMC) beschreibt die synchrone Relation, die der Einheit aller relativ rigiden leblosen Dinge zugrunde liegt. So erfüllen gewisse Atome P I . . . P N , die Kristalle oder bestimmte Moleküle chemischer Verbindungen bilden, die Definition (D2). Wenn die Variablen ,Pi...P n ' für größere Objekte stehen wie z.B. einen an einen Stein geklebten Faden, miteinander verschweißte Stahlelemente oder zusammengekittete Becher und Henkel, so erfüllen diese Objekte (PMC), insofern Teile von diesen, letztlich die Materie-Teilchen, aus denen sie bestehen, miteinander wie in (D2) beschrieben verbunden sind. Von dergleichen mittelgroßen Objekten, die so miteinander verbunden sind, „that they can't be pulled apart, or even moved in relation to
23 24
der Wesen. Nimmt man diese Wesen indes wegen ihrer Lebensfähigkeit von der Kategorie der leblosen Dinge aus; so ergibt sich: Nicht immer, wenn diskrete Einzeldinge wie Atome oder Moleküle „connected via the joining relation" sind, bilden sie auch ein lebloses Ding. Danach ist das Erfülltsein der in (PMC) genannten Bedingung zwar notwendig dafür, daß ein lebloses Ding vorliegt, aber nicht hinreichend. Vgl. ebd., 86 f. Vgl. ebd., 88. Der Grund dafür ist, daß schon (Dl) nicht erfüllt ist, insofern die Moleküle im Behälter sich frei gegen ihn bewegen können.
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IV Zur Individuation und
Persisten^kbloserKontinuanten
one another, without breaking some of them", sagt van Inwagen, daß sie dazu gebracht wurden „to cohere" Was aber ist mit denjenigen Dingen, deren Einzelteile Pi...P n so zusammengefügt sind, daß diese oder einzelne dieser gegeneinander beweglich sind, wie dies etwa bei einem Fahrrad der Fall ist? 26 Gemäß (PMC) wäre dieses kein zusammenhängendes Einzelding: Insofern die Räder oder die Pedale sich relativ zu ihrer Aufhängung bewegen lassen - wenn auch nur in einer festgelegten Richtung —, ohne daß der Rest des Fahrrades sich bewegt, wird durch diese (D3) nicht erfüllt. Dies heißt, daß ein Fahrrad nach Hoffman/Rosenkrantz' Kriterien kein „inanimate object" ist. 27 Das gewöhnliche Verständnis der Bedeutung von solchen Begriffen wie ,Fahrrad', ,Auto', ,Schere', etc. ist jedoch, daß dies sortale Begriffe sind. Wenn ein Fahrrad demnach als ein Einzelding gilt, so gibt offenbar Hoffman und Rosenkrantz' nur den physischen Aspekt lebloser Dinge berücksichtigendes EinheitsPrinzip nicht die Relation an, deren Bestehen notwendig für die Existenz von solchen Dingen wie diesen Artefakten ist. (PMC) 25
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Van Inwagen 1990, 58. Er unterscheidet als Weisen, in denen mittelgroße Einzeldinge miteinander verbunden sein können, „fastening", „cohesion" und „fusion". Zu „fastening", siehe unten. Der Unterschied zwischen „cohesion" und „fusion" liegt darin, daß im ersteren Fall zwischen den Einzeldingen, die miteinander zu einem dritten verbunden wurden, eine Grenze wahrnehmbar bleibt, im letzteren Fall nicht (vgl. ebd., 59). Allerdings ist van Inwagen der Auffassung, daß keine dieser Weisen dafür hinreichend sei, daß so miteinander verbundene mittelgroße Einzeldinge einen zusammengesetzten Gegenstand bildeten, da es einem nicht gelänge, durch das Herbeiführen einer solchen Art von Verbindung zwischen zwei Lebewesen einen zusammengesetzten Gegenstand herzustellen (ebd., 62). Dieses Argument überzeugt indes nicht, denn richtig ist nur, daß es auf keine dieser Weisen gelingt, aus zwei Lebewesen ein I^ebewesen zu bilden. Ein zusammengesetztes Ding (Artefakt) dagegen stellten indes auch ein zusammengeleimter Hamster und Hund dar. Daß es verschiedene Arten der Verbundenheit gibt, eröffnet indes die Möglichkeit, dafür zu argumentieren, daß es Grade der Integrität komplexer Entitäten gibt (vgl. dazu Simons 1987, 326). Ein anderes Beispiel für zwei diskrete materielle Dinge, die nach (PMC) nicht zu einem „mereological compound" miteinander verbunden sind, ist „the boltshaped piece of iron and the nut-shaped piece of iron which turns freely on the bolt-shaped piece of iron" (Hoffman/Rosenkrantz 1997, 86). Hoffman und Rosenkrantz (1997, 154-156, 165 ff.) argumentieren in der Tat dafür, „that artifacts, as well as typical inanimate natural formations, are not genuine substances" (ebd., 165).
1V.2 Dinge
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expliziert vielmehr allein die Relation, die der Einheit einzelner einfacher Komponenten eines solchen Artefakts zugrundeliegt, wie etwa der Nabe, dem Pedalkopf, der Pedalkurbel etc. eines Fahrrades:28 Diese stellen ebenso wie fest miteinander verbundene Komponenten in materieller Hinsicht „compound pieces of matter" in Hoffman und Rosenkrantz' Sinne dar. An solchen zusammengesetzten Artefakten zeigt sich dagegen eine der Beschränkungen, denen das Prinzip (PMC) als generelles Prinzip der Einheit von Dingen unterliegt. Wenn es jedoch nicht dieses Prinzip ist, dem gemäß wir solche Artefakte als zusammengesetzte Dinge betrachten, so stellt sich die Frage, nach welchem Prinzip wir das dann tun. Ich habe soeben mit Absicht zum Wort „Komponente" als Bezeichnung für die Dinge gegriffen, aus denen ein Artefakt zusammengesetzt ist, da dessen Sinn bereits auf diejenige „unifying relation" verweist, aufgrund der wir auch ein aus gegeneinander beweglichen Einzeldingen zusammengesetztes Artefakt als Eines ansehen. Dem genauen Wortsinne nach sind Komponenten „zusammenzusetzende Teile eines Ganzen, die im Blick auf die Zusammensetzbarkeit und das Zusammenwirken für die vorgegebene, bezweckte Funktion hergestellt sind."29 Mit den Komponenten eines Artefakts haben wir einen Fall von „Teilen" vor uns, die nicht Produkte des Teilens irgendeines vorfindlichen Dinges sind - daher auch die Rede von den „Einzelteilen", aus denen Artefakte bestehen. Es ist ein Gebot der methodischen Ordnung, daß die Produktion der Einzelteile der Produktion des Ganzen, d.h. ihrer Zusammensetzung zu einem komplexen Artefakt, vor-
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Mit „einfachen Komponenten" meine ich diejenigen, die nur durch Formung eines Stoffquantums hergestellt werden, nicht durch Zusammensetzung von Einzeldingen. Man kann natürlich z.B. auch die Gangschaltung zusammenfassend als eine Komponente des Fahrrads bezeichnen, dies wäre dann eine „komplexe", d.h. zusammengesetzte Komponente. Janich 1996, 294 f. Siehe auch Simons 1987, 235: „For artefacts, something is a part when it is a component of a thing, a piece typically existing as a unit before the whole artefact is assembled, capable of unitary replacement, capable of surviving dismemberment of the whole, perhaps in addition fulfilling a unitary function [...]. But 'part' does not normally mean 'component', where the whole is not created by assembly."
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IV Zur Individuation und Persistenz lebloser
Kontinuanten
hergehen muß. Daher ist auch in diesem Fall die Behauptung berechtigt, daß die Einzelteile „ontologically prior to their whole" sind, während das Ding als ganzes, „[a] whole put together out of independently pre-existing parts", ein „ontologically posterior whole" ist. 30 Diese These ist insbesondere in bezug auf solche Dinge plausibel, die so zusammenmontiert sind, daß sie (von einem Kundigen) wieder vollständig in ihre Komponenten auseinandergenommen werden können, ohne irgendeine dieser zu beschädigen. Solche Dinge, die aus einzelnen Komponenten zusammengesetzt wurden, die in diese zerlegbar und aus diesen re-konstruierbar sind, bilde(te)n das Paradigma für die mechanistische Vorstellung, daß physische Gegenstände in bestimmte Teile zerlegt werden können, aus denen sie zusammengesetzt sind. Bei anderen Dingen als menschlichen Artefakten bedeutet zwar ,ein Teil sein' nicht wörtlich ,eine Komponente sein', doch stellen Komponenten das Vorbild für das allgemeine Konzept von spezifischen (sortal bezeichneten) Bestandteilen („constituents") dar, insofern es sich bei ihnen klarerweise um diskrete und unabhängig von dem größeren Gegenstand, zu dem sie zusammengesetzt sind oder werden sollen, eindeutig abgegrenzte Einzeldinge handelt. Auch wenn von den Bestandteilen eines Κ die Rede ist, werden darunter stets bestimmte Einzeldinge verstanden, die nicht bloß im schlichten extensionalen Sinne von ,Teil' Teil von Κ ist: Zu sagen, daß etwas ein Teil ist, kann beispielsweise heißen, daß es „a salient or prominently delimited part" oder ein „functionally unitary part" eines physischen Gegenstandes ist.31 Ich werde im folgenden von solchen selber als Einzeldinge definierten Teilen eines Ganzen als bestimmten ,Einzelteilen' oder ,Bestandteilen' des Gegenstandes sprechen. 32 30
31 32
Simons 1987, 214. Sein Beispiel für ein solches „ontologically posterior whole" ist allerdings ein Steinhaufen, also ein Aggregat. Hier gilt das gleiche: Die Steine existieren vor und unabhängig von ihrer Anhäufung zu einem Haufen. Simons 1987, 211. Zum Unterschied von „Teil sein" und „ein (Bestand-)Teil sein", s. S. 154. Damit ist gesagt, daß in Beschreibungen wie „die linke Hälfte des Hauses" oder „der Bug des Schiffes" keine Teile des Hauses oder Schiffes bezeichnet werden, die Bestandteile dieser Dinge wären. Das Wort „Bestandteil" hat die Konnotation
IV.2 Dinge
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Der funktionale Aspekt gehört ebenso zum Wesen von Komponenten als einer bestimmten Art von Teilen wie ihr materieller Aspekt: Komponenten sind Einzelteile von spezifischer Gestalt, die durch eine bestimmte Funktion gekennzeichnet sind, die sie in einem in einem ebenfalls durch eine bestimmte Funktion charakterisierten Ganzen erfüllen (sollen); kurz: funktionale Teile. Wenn daher die Komponenten eines Fahrrades in physischer Hinsicht strenggenommen keine zusammenhängende Einheit bilden mögen, da sie in reversibler Weise und z.T. gegeneinander beweglich aneinander befestigt sind, so bilden sie doch eine funktionale Einheit. Eine funktionale Einheit stellt ein Ding dar, in welchem „jeder Teil [...] um der andern und des Ganzen willen"33 existiert, in dem jeder Teil eine Aufgabe übernimmt, einen Beitrag zu dem Zweck leistet, dem das Ganze dient. Ein solche Einheit ist auch ein Fahrrad. Es ist die Erfüllung dieser Bedingung durch die physisch zum Teil nur lose verbundenen Komponenten eines Fahrrades, weswegen wir ein Fahrrad als ein Ding und nicht als eine Vielheit von Dingen ansehen.34 (ii.) Die zweite Einschränkung, der (PMC) unterliegt, ergibt sich ebenfalls daraus, daß es die Relation beschreiben soll, aufgrund der selbst unförmige Stücke Materie abgrenzbare Einheiten darstellen. Es muß daher so anspruchslos formuliert sein wie es ist, d.h. ohne jeden Bezug auf spezifische Gestalten oder Eigenschaften der aus den Materieteilchen gebildeten Dinge. Geht man davon aus, daß jedes auf spezifische Weise geformte Ding α fortiori ein bestimmtes Stück Materie ist, kann man (PMC) als die generelle Bedingung auffassen, unter der bestimmte diskrete Einzeldinge irgendein zusammenhängendes größeres Objekt bilden (mit der in (i) genannten Einschränkung). Doch dies bedeutet andererseits, daß (PMC) kein Prinzip ist, anhand dessen bestimmt werden
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eines aus dem Ganzen prinzipiell abtrennbaren oder herauslösbaren einzelnen Dings. Kant, KU, Β 291/A 288. Soweit es als Mittel zum Zweck des Ganzen dienlich ist, können die Komponenten eines Artefakts dabei auch so fest zusammengefügt sein, daß sie die Definition von (PMC) erfüllen (siehe die Tasse, den Stahlschiffsrumpf), aber notwendig für die Einheit solcher Dinge ist dies nicht.
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IV Zur Individuation und Persistenz lebloser
Kontinuanten
könnte, ob diese Einzeldinge nun ein zusammenhängendes Ding der Art Κ oder eines der Art L bilden. Denn es abstrahiert davon, ob die Gegenstände, die es erfaßt, zur Extension genuin sortaler Begriffe gehören. Für die Beantwortung der Frage, welches die notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür sind, daß diskrete Einzeldinge ein Ding einer bestimmten Art — z.B. einen Diamanten und nicht einen Graphitkristall - bilden, ist vielmehr ein zweiter Aspekt relevant, der im allgemeinen Prinzip (PMC) keine Berücksichtigung findet: nämlich daß solche Dinge nur dann ein zusammenhängendes Ding einer bestimmten Art bilden, wenn die-unddie spezifischen strukturellen Relationen zwischen ihnen bestehen. Selbst wenn also die aristotelische Frage, „weshalb der Stoff dieses Bestimmte ist"35, als die Frage nach den Bedingungen interpretiert wird, unter denen (wir sagen, daß) die Atome und/oder Moleküle der diversen Stoffarten ein zusammenhängendes und zusammengesetztes Ding bilden, genügt es nicht, bloß auf die physischen Kräfte Bezug zu nehmen, aufgrund deren diese eine zusammenhängende Einheit bilden: es muß auch angegeben werden, welches die Bedingungen sind, unter denen die so zusammenhängenden Materieteilchen gerade eine Einheit des Typs Κ und nicht des Typs L bilden. Allgemein besteht die „further constitutive condition" dafür, daß gewisse Teilchen oder Teile ein zusammenhängendes Ding der Art Κ - und nicht ein L - bilden, demnach zusätzlich in einer besonderen Struktur, zu der diese (aufgrund der in (PMC) genannten Relation) angeordnet sein müssen.36 Zu analysieren, welcher Art die Struktur von Dingen der Art L im Gegensatz zu Dingen der Art Κ ist, ist keine metaphysische Aufgabe, sondern eine der Empirie. Diese Analyse setzt ihrerseits voraus, daß wir sortale Begriffe für Arten von (natürlich vorfindü35 36
Vgl. Met. VII, 17, 1041b 5. Das Beispiel von Diamant und Graphit ist hier besonders eindrücklich, weil diese beiden Arten von Substanzen von Materieteilchen derselben Art gebildet werden, nämlich ausschließlich von Kohlenstoffatomen. Die enormen Unterschiede in den Eigenschaften und Dispositionen von Diamant und Graphit, derentwegen wir diese als zwei verschiedenartige Substanzen ansehen, können daher nur auf Differenzen in der Struktur beruhen, welche die zu ihnen formierten Kohlenstoffatome ausbilden.
IV. 2 Dinge
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chen) Dingen haben. Erst mit Bezug auf solche als Ks und Ls begrifflich erschlossenen Dinge stellt sich die Frage, wie sie aufgebaut sind. Wir müssen daher zum Abschluß noch einmal auf die Bedeutung dieser Begriffe und ihre ontologische Relevanz zurückkommen.
2.1.2 Über das Wesen sortal bestimmter Dinge: Zum Doppelsinn der Wendung „die Natur eines Dings" Wie gelangen wir zu den Begriffen für Dinge? Hacking moniert an diesem Punkt, daß ,,[t]here is a tendency in much analytic philosophy to conceive things as given, and then to speculate on what laws they enter into. On the contrary, things are in the first instance recognized by regularities". 37 Dementsprechend hält Wiggins fest: [Γ] he determination of a natural kind stands or falls with the existence of lawlike principles, known or unknown, that will collect together its [...] extension [...]. For the name to stand for a natural kind, everything depends on whether there is some nomological grounding for what it is to be of that kind. [...] To be something ofthat [i.e. a natural] kind is to exemplify the distinctive mode of activity that they [the relevant principles] determine. 38
Liest man hier den Verweis auf die „lawlike principles" als Verweis auf die charakteristischen Verhaltensdispositionen von Dingen einer Art Κ und die Wendung „distinctive mode of activity" als summarischen Ausdruck, mit dem das charakteristische Bündel dispositionaler Eigenschaften von Dingen der betreffenden Art zusammengefaßt wird, so läßt sich sagen: Unsere Begriffe von natürlichen Arten von Dingen sind Begriffe von Dingen, die
37 38
Hacking 1972, 148. Wiggins 1980, 80; meine Hervorhebung. Dies ist seine nicht teleologisch eingefärbte Wiedergabe jenes berühmten aristotelischen Unterscheidungsmerkmals natürlicher Wesen/Dinge von Artefakten in Phys. II, 1, 192b 14, wonach es Naturdinge/-wesen auszeichnet, eine „arche kineseos kai s[i\aseos" in sich zu haben, ein Prinzip von Veränderung und Ruhe, welches die Natur dieser Dinge/Wesen ausmacht, und welches den Grund für „non-accidental change or rest in anything to which it (the nature) belongs" darstellt (vgl. Aristoteles, Phys. II, 1, 192b 21-23; englische Übersetzung zit. nach Wiggins 1980, 80).
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IV Zur Individuation und"Persistenzlebloser Kontinuanten
durch ein für sie charakteristisches Bündel von Dispositionen gekennzeichnet sind.39 Erst mit Bezug auf solche, über ihre Dispositionen als Mitglieder einer Art Κ oder L identifizierten Dinge fragen wir, worauf die ihnen zukommenden Eigenschaften und Dispositionen „beruhen" oder worin sie gründen. Diese letztere Frage ist die Frage nach dem, was Locke als das „wirkliche Wesen" („real essence") der von Natur aus vorkommenden „corporeal substances" bezeichnet hat; d.h. die Frage nach der „real internal, but generally (in substances) unknown, constitution of things".40 Realistisch interpretiert, ist hier mit der „unbekannten inneren Verfaßtheit" der natürlichen Dinge und Wesen nicht ein prinzipiell unerkennbares Substrat der erkennbaren und der bekannten, zu ihrer Identifikation verwendeten charakteristischen Eigenschaften und Dispositionen der Dinge gemeint, sondern bloß ein Substrat, dessen intrinsische Beschaffenheit, d.h. Struktur noch nicht bekannt ist.41 Demnach geht es hier nicht um den Gegensatz von unerkennbarem Wesen versus erkennbaren Eigenschaften der Dinge. Vielmehr wäre die Frage nach der Natur der Dinge hiernach die Frage, welcher spezifische Aufbau der Dinge die okkurente Basis ihrer charakteristischen Eigenschaften und Dispositionen bildet. Wenn nun das Wesen von Einzeldingen das ist, „wodurch" oder „vermöge dessen" etwas ein Einzelding von der-und-der Art ist, dann scheint es nunmehr zwei konkurrierende Kandidaten dafür zu geben: Zum einen den Begriff K, mit dem wir bestimmen (oder die vom Wort Κ bezeichnete Art-Form (eidos), durch die bestimmt wird), was für ein Einzelding es ist, das da existiert, 39
40 41
Zur These, daß unsere Begriffe (natürlicher) Arten von Dingen Begriffe von Dingen mit jeweils charakteristischen Dispositionen sind, siehe auch Strawson (1985, 26) und Davidson (1995, 274). Locke 1690, III, 3, § 15. Während sich praktisch alle Eigenschaften der Dinge bzw. Wesen bei näherem Hinsehen letztlich als dispositionale Eigenschaften erweisen, die diesen nur aufgrund einer bestimmten Relation zu bestimmten Umgebungsbedingungen oder zu anderen Dingen zukommen - selbst solche Eigenschaften wie das Gewicht gehören dazu - , so stellt die innere Struktur eines Dings eine Ausnahme dar: Die-und-die Struktur zu haben, kommt ihm nicht im Verhältnis zu irgendetwas außerhalb seiner zu, sondern dies ist eine genuin intrinsische Eigenschaft. Eine weitere Ausnahme stellt die Gestalt dar, die ein Lebewesen oder ein Ding hat.
IV. 2 Dinge
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bzw. dessen (deren) Definition, in der erläutert wird, was es heißt, ein Einzelding von der Art Κ zu sein. Diese Definition wird die charakteristischen Dispositionen von Dingen der Art Κ aufführen. Dies wäre das Wesen der Ein^eldinge im aristotelischen Sinn des Worts. 42 Oder aber das, wodurch oder vermöge dessen ein Einzelding die Eigenschaften hat, die es zu einem Einzelding der Art Κ machen, nämlich das materielle Substrat dieser Eigenschaften, die (entdeckbare) physische Feinstruktur. Dies wäre das Wesen (die Natur) der Dinge im Ijockeschen Sinn des Worts. 43 Man kann diese beiden Verständnisse einander auch als den dispositionalen und den mikrophysikaüstischen Ansatz in der Bestimmung dessen, was die Natur einer Art von Einzeldingen ausmacht, gegenüberstellen. Diese Konkurrenz läßt sich auflösen, wenn man zugesteht, daß die reale Essenz von Einzeldingen stets nur die von Einzeldingen einer bestimmten Art ist. Wenn sich die Frage nach der realen Essenz eines Einzeldings erst auf der Grundlage seiner Bestimmung als eines Einzeldings von der-und-der Art stellt, geraten „nominale Essenz" und „reale Essenz" eines Einzeldings gar nicht mehr in Konkurrenz zueinander um die Rolle, konstituierend für Einzeldinge zu sein: In diesem Fall gilt vielmehr: eine nominale Essenz gibt den Begriff einer Art von Einzeldingen, für die gilt: die Existenz von Mitgliedern dieser Art wird durch eine spezifische Verfaßtheit der Materie, aus der sie bestehen, konstituiert, die es zu entdecken gilt. Wiggins macht sich nun diesen Aspekt der allen Mitgliedern einer Art gemeinsamen intrinsischen Struktur (eines gemeinsamen „realen Wesens") zunutze, um anzugeben, was Artefakt-Arten von Arten natürlicher Dinge und Wesen 44 unterscheidet: 42 43
44
In der Wissenschaftstheorie hat sich hierfür die Rede von der „Aristotelian nature" der Dinge eingebürgert (vgl. etwa Cartwright 1992). Auch Aristoteles kennt diesen Sinn von „Natur" (physis) der Dinge bzw. Wesen (vgl. De Part. An. I, 1, 641a); doch ist für ihn die Natur im Sinne der Form (eidos, morphe) entscheidend für die Konstitution von Einzeldingen. Vgl. ebd., § 41 für diese Unterscheidung zwischen natürlichen und artifiziellen Arten von Dingen. In einem anderen Sinn sind alle Arten „artifiziell", nämlich in dem nominalisrischen, daß alle Artbegriffe Produkte des menschlichen Geistes sind.
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IV Zur Individuation und Persistenz lebloser
Kontinuanten
Artifacts are collected up not by reference to a theoretically hypothesized inner constitution but under function descriptions that have to be indifferent to specific constitution and particular mode of interaction with environment. A clock is any time-keeping device [...]. The description gives what it is usually impossible to specify in the other cases, an explicit nominal essence·, whereas a finite and determinate set of marks suitable for definitional purposes is precisely not what the members of natural kinds endowed with a scientifically palpable real essence have in common. 45
Was immer zur Zeitmessung geeignet ist, ist eine Uhr; doch ist damit keineswegs verbunden, daß allen Mitgliedern der Art ,Uhr' eine Natur im Sinne einer artspezifischen inneren Feinstruktur gemeinsam ist. Im Gegenteil, Funktionen sind dadurch gekennzeichnet, daß sie, wenn auch nicht durch Beliebiges, so doch auf multiple Weise realisiert werden können, d.h. durch materielle Gegenstände verschiedenster Struktur und Gestalt. Mit der multiplen Realisierbarkeit geht einher, daß „there are no lawlike sentences to be had about particular utensil, implement or tool kinds as such".Ab Der Vorzug dieser Art und Weise, zwischen natürlichen Arten und Artefaktarten zu differenzieren, besteht darin, daß „this is without prejudice to the question, which is scientific and not philosophical, of the possibility of artificial synthesis of natural things,"47 Dieser Unterschied zwischen dem, was Exemplare natürlicher Arten eint — nämlich eine gemeinsame intrinsische Struktur —, und dem, was Mit45
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47
Wiggins 1980, 87. Wiggins vergleicht hier natürliche Einzeldinge mit komplexen, aus mehreren Komponenten zusammengefügten Artefakten wie Uhren. Aber auch einfache Artefakte, die bloß durch die Formung eines homogenen Stücks Stoff erzeugt wurden, sind als solche nicht durch eine gemeinsame „real essence" charakterisierbar, sondern allein durch eine „nominal essence" definiert, worauf Hacker (1979, 259) aufmerksam macht: „The nominal essence of a ball is given by its sphericity — but it has no real essence given by the particulate constitution (if any) of its constitutive stuff - for the particulate constitution, be it what it may, does not differentiate a ball from a ring [...] of that stuff." Wiggins 1980, 87. Dies liegt daran, daß in Gesetzesaussagen nur generelle Termini zulässig sind und nicht etwa irgendwelche Disjunktionen von Beschreibungen. Ebd. Gemäß dieser Definition wäre z.B. eine Portion künstlich hergestellter Zitronensäure ebenso eine Instanz der natürlichen Art ,Zitronensäure' wie eine aus Zitronen oder Himbeeren extrahierte Portion.
IV. 2 Dinge
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glieder einer Artefaktart eint - nämlich eine gemeinsame Funktion, bleibt auch bestehen, wenn es gelingt, Mitglieder natürlicher Arten (nach-) zu synthetisieren. 48 Unter der metaphysischen Prämisse, daß es ein reales Wesen der Mitglieder natürlicher Arten gibt, ist es schließlich eine empirische Frage, welches die jeweilige „real internal constitution" von Exemplaren einzelner natürlicher Arten ist, beispielsweise die von Mitgliedern der natürlichen Art Diamant im Unterschied zu denen der Art Graphit. Die Beantwortung dieser Frage ist Sache der Naturwissenschaften, in diesem Falle der Chemie. 49 Was die Aufdeckung der Natur der Dinge (und Wesen) in diesem Lockeschen Sinne von ,Natur' angeht, braucht eine philosophische Untersuchung nur den Stand der Forschung der betreffenden Naturwissenschaft zur Kenntnis zu nehmen. Wenn das bisher Gesagte richtig ist, bedeutet dies aber m.E. auch, daß diese Forschung zwar aufdeckt, was für die Existenz von Einzeldingen von der-und-der Art konstitutiv ist. Doch es ist eine berechtigte Frage, ob das, was sie aufdeckt, essentiell für den Begriff dieser Dinge ist. Man versteht aufgrund von Entdeckungen dieser Art zwar, mit welcher spezifischen Anordnung materieller Teil(ch)e(n) die Existenz von Einzeldingen mit den-und-den charakteristischen Dispositionen einhergeht. Doch immerhin war das 48
49
Dieses Kriterium läßt sich gleichwohl mit jenem an der Herkunft orientierten Unterscheidungskriterium zwischen Artefakten und natürlichen Dingen kombinieren, wonach „natürlich" diejenigen Dinge sind, die „von Natur aus da sind" und Artefakte die Dinge, deren Existenz auf menschliche Produktion zurückgeht. Ein nach obigem Kriterium als „natürlich" geltendes Ding oder Wesen ist Exemplar einer Art, die zugleich auch andere Exemplare umfaßt, die „von Natur aus" da und entstanden sind, während dies auf Arten von Artefakten nicht zutrifft: „Von Natur aus" entsteht kein einziges Ding z.B. von der Form eines Betts (vgl. Aristoteles, Phjs. II, 1, 193a 11-17 u. 193b 9) geschweige denn eines Autos oder Computers. So konnte mithilfe der Röntgenstrukturanalyse ermittelt werden, daß Kohlenstoffatome genau dann Diamant bilden, wenn sie in einem dreidimensionalen tetraedischen Gitter angeordnet sind. In diesem ist jedes Kohlenstoffatom mit je vier benachbarten Atomen kovalent verbunden, wobei die Abstände zwischen den Atomen alle gleich sind. Dagegen bilden sie genau dann Graphit, wenn sie nur mit je drei benachbarten Atomen kovalent verbunden sind und in ebenen Schichten regelmäßige Sechsecke ausbilden, und diese Schichten schwach (durch Van-der-Waals-Kräfte) zusammengehalten werden.
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IV Zur Individuation und Persistenz lebloser
Kontinuanten
Wissen um die den Dispositionen zugrunde liegenden Strukturen nicht notwendig für die Bildung des Begriffs von Einzeldingen der betreffenden Art. Dieser ist primär einer von Entitäten mit bestimmten, charakteristischen Eigenschaften und Dispositionen, mit einem „distinctive mode of activity", wie Wiggins diese zusammenfassend nennt (s.o.). Soll die „innere Natur" von Entitäten einer solchen Art, nachdem sie aufgedeckt worden ist, daraufhin in den Rang der nominalen Essenz von Entitäten dieser Art erhoben werden? Dies ist die Art von Begriffsrevision und „nothing-buttery", mit der die im Zuge des mechanistischen Forschungsprogramms gemachten Entdeckungen oft begleitet werden. Wittgenstein bemerkt dieses „Schwanken wissenschaftlicher Definitionen: Was heute als erfahrungsmäßige Begleiterscheinung des Phänomens Α gilt, wird morgen zur Definition von ,A' benützt."50 Auf unseren Kontext gemünzt, besagte dies: Was gestern als die okkurente physische Basis der charakteristischen Dispositionen von Ks (Einzeldingen einer bestimmten Art K) aufgedeckt wurde, soll heute definieren, was ein Κ „in Wirklichkeit" ist. Indessen sehe ich keinen Grund, dieser „nothing-buttery" zu folgen. Im Gegenteil, plausibler erscheint es, in derartigen Entdeckungen nur eine nachträgliche Erweiterung und Anreicherung des ursprünglichen Begriffs zu sehen.51 Die-und-die innere Feinstruktur zu haben, wäre demzufolge lediglich als eine weitere der essentiellen Eigenschaften von Ks anzusehen, die den charakteristischen Dispositionen hinzugefügt werden kann, die von den Ks nicht unter allen Umständen manifestiert werden. So möchte ich folgendes Fazit ziehen, was das Verhältnis jener Dispositionen und Eigenschaften, über die wir etwas als ein Exemplar der Art Κ identifizieren, zu deren mikrostruktureller Basis betrifft: Ratio cognoscendi einer Substanz sind ihre manifestierten Dispositionen; ihre intrinsische (Mikro-)Struktur jedoch ist die ratio essendi der Dispositionen. So haben das „principle of activity", bzw. die charakteristischen dispositionalen Eigenschaften oder Vermögen, durch die ein Κ als ein (Mitglied der Art) Κ wenn auch
50 51
Wittgenstein, PU, § 79. Vgl. für ein Plädoyer in dieser Richtung auch Wiggins 1980, 80 u. 85 f.
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nicht definierbar, so doch identifizierbar ist (sowie bei makroskopischen natürlichen Kontinuanten auch eine spezifische Gestalt), begriffliche Priorität. Ontologische Relevanz besitzen diese Begriffe insofern, als durch sie überhaupt erst Arten von Einzeldingen bestimmt werden. Hieran kann die materialistische Hypothese anschließen, daß die Existenz von Entitäten mit denund-den charakteristischen Dispositionen oder Vermögen an eine bestimmte Strukturiertheit der Materie gebunden ist, aus der sie bestehen; und daß diese gemeint ist mit der „essence or nature whose exemplification is logically independent of the existence of human beliefs or decisions". 52 Der naturwissenschaftliche Beitrag zur Explikation dessen, was es heißt, ein Κ zu sein, bestünde danach eben darin zu entdecken, mit welchem spezifischen körperlichen Aufbau die essentiellen Dispositionen jener Ks einhergehen.
2.2 Zur Persistenz von Dingen Eine kurze Zwischenbilanz der bislang festgehaltenen Punkte zur Individuation und Einheit lebloser Dinge: (1.) Sortale bezeichnen heterogen gegliederte Einzeldinge, während Massentermini homogene Materiemassen bezeichnen. (2.) Mit den Sortalen für natürliche Arten geht die generelle Hypothese einher, daß die Exemplare einer Art als solche bzw. als Gan^e durch besondere dispositionale Eigenschaften, kurz: durch eine Natur oder „Form" (eidos) im aristotelischen Sinne des Wortes charakterisiert sind, und daß (b) alle Exemplare der Art dieselbe typische physische Feinstruktur besitzen, kurz: eine Natur im Lockeschen Sinne (auch wenn diese nicht immer bekannt (gewesen) sein mag). Artefakte sind dagegen Kontinuanten, die wir im Hinblick auf unsere Zwecke in Klassen einteilen: was immer dieselbe Funktion erfüllt, zählt als ein Mitglied der Art. Mit anderen Worten: Sortale Begriffe für Artefakte sind funktional definiert. (3.) Ein Bestandteil eines Ks zu sein bedeutet nicht dasselbe wie bloß im extensionalen Sinne Teil eines Ks zu sein: Gewiß sind die
52
Hoffman/Rosenkrantz 1997, 170.
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Kontinuanten
Bestandteile eines Ganzen in diesem räumlich enthalten, aber was als ,ein Bestandteil' im Unterschied zu ,Teil ! bezeichnet wird, sind stets selbst sortal bestimmte materielle Kontinuanten. Solche Bestandteile werden als Einzeldinge begriffen, die vom jeweiligen Ganzen, in dem sie vorkommen, prinzipiell isolierbar sind und außerhalb dessen als „eigenständige" Einzeldinge existieren könn(t)en. Unter bestimmten Bedingungen bilden solche Einzeldinge zusammenhängende Einheiten, zu deren Bestandteilen sie damit werden. Nur bezogen auf solche Einzeldinge ist es überhaupt sinnvoll zu sagen, daß die komplexen Einzeldinge aus ihnen als Teilen bestehen. Nicht sinnvoll wäre dagegen die Frage, aus wie vielen Quanta eine einzelne, konkret abgegrenzte Stoffportion besteht, weil es hierauf keine eindeutige Antwort geben kann. Nur eine Frage wie etwa die, aus wie vielen Wassermolekülen eine konkret abgegrenzte Wassermenge besteht, ist ein gehaltvolle Frage, weil es hier ein „fact of the matter" gibt. Von Teilen im Plural kann nur sinnvoll in bezug auf solche spezifisch gearteten Bestandteile gesprochen werden. Außerdem hatte ich hervorgehoben, daß bei komplexen, d.h. zusammengesetzten Artefakten zwei Arten von Bestandteilen unterscheidbar sind: Die „proximaten" Bestandteile solcher Artefakte, wie ich sie nennen will, sind die Komponenten, aus denen sie zusammengefügt wurden. Erst die Komponenten, die nur durch Formung eines Stoffs hergestellt werden, sind genauso wie alle leblosen Naturdinge aus den einzelnen Stoffteilchen, d.h. den Individuen der verschiedenen Stoffsorten, als ihren Bestandteilen zusammengesetzt. Im Unterschied zu einfachen leblosen Naturdingen wie Kristallen lassen sich also bei komplexen Artefakten proximate und weniger proximate Bestandteile unterscheiden.
2.2.1 Der Unterschied in den Persistenzbedingungen von Dingen und Aggregaten Welches sind nun die Persistenzbedingungen für solche zusammengesetzten Dinge? Zunächst möchte ich daran erinnern, daß Persistenz sortalabhängig ist, d.h. daß wir nur einen Gegenstand durch die Zeit verfolgen können, den wir unter einem Sortal
IV 2 Dinge
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herausgegriffen haben. Unter welchen Umständen sagen wir nun, daß ein Mitglied der Kategorie der Dinge, ein K, aufgehört hat zu existieren, unter welchen, daß es fortexistiert? Worin besteht im Unterschied zur Persistenz von Materieaggregaten die Persistenz von Dingen? Die grundsätzliche Differenz zwischen unseren Urteilen über die Persistenz zusammengesetzter Dinge und denen über die Persistenz von Materieaggregaten besteht darin, daß wir bei Dingen mereologische Veränderung tolerieren. Wenn z.B. einem Auto in einer Werkstatt ein defekter Auspuff ersetzt wird, dann würden wir gewiß sagen, daß das mit dem neuen Auspuffrohr versehene Auto dasselbe Auto ist wie das, was dorthin gebracht wurde. Ebenso würden wir einen Felsen, der im Laufe der Jahre verwittert und also Teile seiner Substanz einbüßt, trotzdem immer weiter als denselben Felsen bezeichnen. Es ist auch üblich, vom Kristallwachstum zu sprechen, z.B. vom Wachstum der Stalagmiten und Stalagtiten in einer Tropfsteinhöhle. Trotz des Zugewinns an Bestandteilen halten wir in diesem Fall das größer gewordene Ding für dasselbe Ding wie das, was zu einem früherem Zeitpunkt kleiner war. Die Arten mereologischer Veränderung sind: Austausch, Verlust oder Hinzugewinn von Bestandteilen. Daß Aggregate demgegenüber notwendigerweise mereologisch bzw. materiell konstant sind, beruht darauf, daß sie nichts anderes als bestimmte Vielheiten oder mereologische Summen konkreter Stoffteilchen sind, die allein über ihre Elemente individuiert sind (vgl. IV. 1). Während sich komplexe Artefakte in die Einzelteile zerlegen lassen, aus denen sie bestehen, sind solche Vielheiten zwar in Teil-Aggregate zerlegbar, doch sie bestehen nicht aus diesen. Die einzigen Bestandteile von Aggregaten sind die Stoffteilchen, weshalb sich in Bezug auf Aggregate die Unterscheidung zwischen proximaten und weniger proximaten Bestandteilen erübrigt. 53 Andererseits überdauern einzelne Aggregate, gerade weil sie keine Individuen von irgendeiner spezifischen 53
Hier zeigt sich einmal mehr die Nähe von Dingen, die im physikalischen Sinne Festkörper sind, wie Diamanten, Stalagmiten, Granitfelsen, etc. zu Aggregaten: Auch diese bestehen allein aus bestimmten Stoffteilchen und sind ansonsten homöomer.
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Kontinuanten
Gestalt, Strukturiertheit oder Funktion sind, auch eine völlige Zerstreuung der Stoffteilchen, aus denen sie zum Zeitpunkt ihrer ersten Identifikation bestanden, und hören erst auf zu existieren, wenn eines dieser Teilchen zerstört wird. Demgegenüber werden Dinge über ihre Form und Vermögen oder über ihre Funktion als einzelne Exemplare bestimmter Arten identifiziert. Dementsprechend ist der Fortbestand ihrer spezifischen Form oder Funktionsfähigkeit notwendig und hinreichend dafür, daß (wir sagen, daß) diese weiterexistieren. Da nun solche Dinge nur dann existieren, wenn gewisse diskrete Einzeldinge von anderer Art als sie selbst, d.h. ihre Bestandteile, in einer spezifischen Anordnung vorliegen, besteht die Fortdauer eines Dings in dem Fortbestand derjenigen Relationen zwischen seinen Bestandteilen, welche für die Existenz eines Dings von dieser Art essentiell sind: Die Persistenz von Dingen „consists in the preservation of certain relationships between their constituents at any given time. Thus the [persistence] of a ship consists (roughly speaking) in the maintenance of certain structural relationships between the objects that constitute its component planks and spars at any given time."54 Dagegen ist mereologische Konstanz für die Persistenz eines Dinges nicht notwendig, wie die obigen Beispiele von Persistenz über mereologische Veränderung hinweg aufzeigen. Dies steht im klaren Gegensatz zur Persistenz eines Aggregats, für die essentiell ist, daß genau diejenigen konkreten Stoffteilchen weiterexistieren, die dieses zum Zeitpunkt seiner Identifizierung ausmachten. Das Weiterexistieren der konkreten Bestandteile ist darüber hinaus auch nicht hinreichend für die Persistenz eines Dings. Denn wenn wir uns dessen materielle Bestandteile als Einzeldinge 54
Lowe 1988a, 76. Vgl. auch Lowes (1988b, 71 ff.) Darstellung dieses von ihm „substantial constituents approach" genannten Ansatzes der Erläuterung, worin die Persistenz eines Dings besteht. Diesen verteidigt er gegen den Vierdimensionalismus, wonach die Persistenz eines Dings in der „Genidentität" seiner zeitlichen Teile bestehen soll (vgl. zu dieser Diskussion II.3 u. II.4), und gegen den „property instantiation approach" (ebd., 63), wonach die Persistenz eines Ks in der kontinuierlichen Instantiation der K-heit an einer Stelle in Raum und Zeit besteht. Gegen diesen wendet er ein, daß er „presupposes and hence cannot help to provide, an account of the [persistence-]conditions of [Ks]" (ebd., 65).
IV.2 Dinge
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vorstellen, deren Laufbahn einzeln verfolgt werden kann, so läßt sich auch denken, daß diejenigen Einzeldinge, die zum Zeitpunkt ti Bestandteile eines konkreten Ks sind, zu einem späteren Zeitpunkt tz nicht mehr Bestandteile dieses Dinges sind, sondern z.B. eines Aggregats. Allgemein gesagt: Wenn ein a aus bs besteht, so kann a dadurch aufhören zu existieren, daß die bs einer Veränderung unterliegen mit dem Resultat, daß sie nicht mehr in der Relation zueinander stehen, die notwendig (und hinreichend) für das Existieren eines Exemplars der Art Κ ist. In diesem Falle hört a auf zu existieren, ohne daß die bs aufhörten zu existieren: „the complex ceases to exist while the sum continues."55 So hört ein Diamant (a) auf zu existieren, wenn er so stark erhitzt wird, daß die Kohlenstoffatome (die bs), aus denen er besteht, aufhören, in der Diamantgitterstruktur vorzuliegen - die Kohlenstoffatome jedoch nicht. Genauso hört eine feinmechanische Uhr (a) auf zu existieren, wenn sie in alle ihre diversen einzelnen Komponenten (die bs) zerlegt wird. Wenn a ein „constituted object"56 ist, dann ist für das Ende seiner Existenz nicht notwendig, daß die bs ihrerseits zerstört werden; es genügt eine völlige Zerlegung in die bs, damit a aufhört zu existieren. In diesem Falle stellen die bs das Substrat von a dar.57 Während somit Aggregate eine völlige Zerstreuung ihrer Elemente überdauern, nicht jedoch Zerstörung und Ersatz irgendeines dieser Bestandteile; überdauern Dinge eine völlige Zerlegung in ihre Bestandteile nicht, Zerstörung und Ersatz einzelner dieser Bestandteile aber sehr wohl — vorausgesetzt, daß dieser mereologische Wechsel so geschieht, daß das Arrangement der übrigen Bestandteile nicht zerstört wird, so daß die typische Struktur und damit die Form und Vermögen und/oder die Funktionsfähigkeit der Dinge über diese Veränderung hinweg (weitgehend) erhalten bleibt.58 Das heißt, die Differenz der Natur (im Lockeschen Sinn
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Simons 1987, 325. Ebd., 240. Vgl. ebd., 238 f. Vgl. Lowe 1988b, 72: ,,[I]t is only in virtue of the persistence from moment to moment of a sufficient proportion of [substantial] components that [a K] as a whole manages to persist." Es läßt sich aber nicht für alle Dinge allgemein ange-
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IV Zur Individuation und Persistenz lebloser
Kontinuanten
des Worts) von Dingen und Aggregaten zeigt sich nicht nur darin, daß „a complex constituted of the same parts as the sum only exists if a further constitutive condition is fulfilled"59; sie setzt sich auch in diesen verschiedenartigen Persistenzbedingungen fort. 2.2.2 Das Problem raumzeitlich koinzidierender Gegenstände Doch dieses Ergebnis, daß sich die Persistenzbedingungen von Aggregaten und Dingen unterscheiden, führt zu einem gravierenden Problem: Es scheint nun, als müßten wir zugestehen, daß es in einem von einem konkreten Ding der Art Κ zur Zeit t eingenommenen Raumgebiet sowohl das Ding der Art Κ als auch das -Aggregat bzw. die mereologische Summe der Bestandteile dieses Dings gibt. Dies hieße, daß hier %wei verschiedenartige materielle Kontinuanten zur selben Zeit am selben Ort existierten. Durch welche Prämissen gelangt man zu dieser Auffassung? Folgende Überlegung demonstriert, wie es dazu kommt: Angenommen, zu ti existiert ein konkretes Ding der Art K, das aus diversen Einzeldingen der Arten F, G, Η besteht. Dann existiert gemäß einem der Axiome der extensionalen Mereologie zu
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ben, welches der „hinreichende Anteil" von Teilen ist, bei dem (wir sagen, daß) ein Ding trotz einer Veränderung in seinen Bestandteilen dasselbe Ding ist wie zuvor und nicht etwas anderes aus ihm geworden ist. Ein Beispiel für mikroskopische Dinge, die aus so wenigen Teilen bestehen, daß bei ihnen der Verlust oder Gewinn auch nur weniger Bestandteilen geradezu immer als Vergehen und Entstehen gewertet wird, sind die Moleküle der niedermolekularen anorganischen und organischen Stoffe. Chemische Reaktionen zwischen diesen werden nicht so beschrieben, daß die Moleküle der Ausgangssubstanzen die Reaktion überstehen würden, sondern so, daß diese vergehen und andere entstehen. Ein bekanntes Beispiel ist die Verwandlung von Wein in Essig — chemisch gesehen die enzymatische Oxidation der im Wein enthaltenen Ethylalkoholmoleküle zu Essigsäuremolekülen. Für solche Moleküle gilt dann doch, anders als für typische makroskopische Dinge, daß die Atome, aus denen sie bestehen, essentielle Bestandteile von ihnen sind. Erst organische Makromoleküle — z.B. Eiweiße oder DNS-Moleküle — sind so groß, daß sie als Einzeldinge aufgefaßt werden, die bestimmte chemische Veränderungen (d.h. Veränderungen der atomaren Zusammensetzung) überdauern. So spricht man etwa von einer Methylierung der DNS oder der Phosphorylierung eines Enzyms. Simons 1987, 324.
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diesem Zeitpunkt auch die mereologische Summe bzw. das Aggregat dieser Bestandteile. Die „Laufbahn" des Dings und die derjenigen Einzeldinge, aus denen es zum Zeitpunkt ti besteht, können jedoch zu anderen Zeitpunkten als ti divergieren - nämlich dann, wenn an dem Ding Κ eine mereologische Veränderung stattfindet, wenn z.B. ein bestimmter Bestandteil, etwa ein G (Gi), durch ein anderes G (G2) ausgetauscht wird. Das Ding, K , überdauert diesen Wechsel als ein zusammenhängendes Einzelding. Doch auch das Aggregat der Einzeldinge, aus denen das Ding Κ zu ti bestand, überdauert ihn; dieses Aggregat wird damit lediglich zu einem „scattered object". Es ist demnach zu t2 nicht mehr mit Κ kongruent. Gewiß besteht das Ding, K , auch nach dem Austausch eines Bestandteils aus einer bestimmten Anzahl konkreter Einzeldinge. Doch die mereologische Summe dieser ist ein anderes Aggregat als das der Einzeldinge, aus denen Κ zu ti bestand. Folglich ist das Ding der Art Κ mit dem Aggregat der Einzeldinge, aus denen es zu ti bestand, nicht identisch. Würde man die Identität von Κ und diesem Aggregat behaupten, so müßte man zu t2 sagen, daß Gi sowohl Bestandteil von Κ als auch nicht Bestandteil von Κ ist, und dies wäre widersprüchlich. Wie die Möglichkeit mereologischer Veränderung zeigt auch die Möglichkeit, daß ein konkretes Ding der Art Κ aufhört zu existieren, während die Einzeldinge, die zuvor seine Bestandteile waren, weiter existieren, daß das Ding und die Summe bzw. das Aggregat der betreffenden Einzeldinge „superposed rather than identical"60 sind. In allen solchen Fällen ist der Grund dafür, das aus den-undden Einzeldingen bestehende Ding Κ und das Aggregat dieser Bestandteile nicht miteinander zu identifizieren, das Leibnizsche Gesetz, das Prinzip der Ununterscheidbarkeit des Identischen. Für diesen Zusammenhang besagt es: ,,[I]f a and b are identical then they must have the same life history."61 Dieses Prinzip gibt den
60 61
Simons 1987, 325. Wiggins, 1980, 31. Vgl. ebenso Simons 1987, 120. Genaugenommen muß dieses Prinzip metasprachlich formuliert werden, um den unglücklichen Eindruck zu vermeiden, den die obige Formulierung erweckt, daß hier zwei verschiedene Dinge identisch miteinander sein sollen. In dieser Form lautet es: Die Aussage:
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Kontinuanten
Ausschlag dafür, daß nichts, was mereologisch veränderlich ist, d.h. mereologische Veränderung überdauern kann, als identisch mit der Summe der Einzeldinge begriffen werden kann, aus denen es zu einem Zeitpunkt besteht. Und wenn das Aggregat der Einzeldinge, die im Zeitabschnitt ti-t2 Bestandteile von Κ sind, sowohl bereits vor dem Beginn der Existenz von Κ als auch nach seinem Ende noch existieren kann, so heißt auch dies nichts anderes, als daß die Lebensgeschichte des Ks und die des Aggregats verschieden lang sein können. Daraus folgt zusammen mit dem „lifehistory principle", daß das Ding der Art Κ (das zu ti von dem Terminus ,dieses Ding der Art Κ da' bezeichnete Kontinuant) und das Aggregat (das zu ti von dem Terminus ,dieses Aggregat von Einzeldingen der Arten F, G, H, etc. da' bezeichnete Kontinuant) zu keinem Zeitpunkt miteinander identisch sein können - d.h. auch dann nicht, wenn sie wie im Zeitintervall ti-t2 raumzeitlich koinzidieren.62 Es sind folglich (i.) die substanzontologische Annahme, daß sortal bestimmte, zusammengesetzte, leblose Einzeldinge existieren; (ii.) die Annahme, daß diese Dinge aus sortal bestimmten Einzeldingen als Teilen bestehen; (iii.) die Annahme der extensionalen Mereologie, daß das Aggregat dieser Einzeldinge (Teile) existiert; sowie (iv.) die Annahme der Geltung des Leibnizschen Gesetzes, welche zusammengenommen auf die Annahme raumzeitlich koinzidierender Gegenstände führen. Man kann sogar sagen, daß die Annahme (ii.) in einem bestimmten Sinn bereits eine Annahme raumzeitlich koinzidierender Kontinuanten beinhaltet. Simons hält dafür, „that one thing the concept of part does is to account for things being wholly or partially in the same place at the same time".63 Wie verhält sich das Ding als ganzes zu seinen Teilen, wenn diese als
62 63
„Die Termini ,a' und ,b' bezeichnen ein oder dasselbe Kontinuant" ist genau dann wahr, wenn auch die Aussage: „Die Laufbahn des vom Terminus ,a' bezeichneten Kontinuanten ist gleich der Laufbahn des vom Terminus ,b' bezeichneten Kontinuanten" wahr ist. Den Begriff einer „vorübergehenden Identität" zweier verschiedenartiger Entitäten haben wir nicht. Simons 1987, 229.
IV.2 Dinge
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Kontinuanten eigener Art begriffen werden? Nehmen wir beispielsweise ein Fahrrad und seine Pedale: Zweifellos ist ein Pedal nicht identisch mit dem Fahrrad; es ist schließlich nur eine K o m ponente des Fahrrades. Daß es (2ur Zeit t) ein Bestandteil des Fahrrades ist, heißt jedoch genau, daß es einen Teil des Raumgebiets einnimmt, welches das Fahrrad als ganzes einnimmt. Wenn wir jedoch nicht sagen wollen, daß sich an der Stelle, wo sich die Pedale - dieser Bestandteil des Fahrrades — befindet, das Fahrrad nicht befindet, bleibt nur übrig zu sagen, daß in diesem Teilgebiet des Raums das größere Einzelding, d.h. das Fahrrad, mit dem kleineren Einzelding, d.h. der Pedale, „überlappt". („Überlappung" ist der mereologische terminus technicus dafür, daß zwei verschiedene Einzeldinge einen (Bestand-)Teil gemeinsam haben.) Nehmen wir das Axiom der extensionalen Mereologie hinzu, daß jedes Einzelding ein „unechter Teil" seiner selbst ist, so können wir sagen: Pedale und Fahrrad haben einen Teil gemeinsam, nämlich die Pedale. Wann immer wir sagen, daß ein Gegenstand aus sortal bestimmten Teilen besteht, legen wir uns also zumindest darauf fest, daß dieses Ganze und alle die Teile, aus denen es besteht, und von denen schließlich kein einziger identisch mit dem Ganzen ist, sich zur selben Zeit am selben Ort befinden. Diesen Standpunkt bezeichnet Doepke als die „Eins-Viele-Auffassung". 6 4 Diese Überlegungen lassen sich, so Simons, schließlich auch heranziehen, um die Möglichkeit der raumzeitlichen Koinzidenz eines Dings der Art Κ mit dem Aggregat seiner Bestandteile zu erläutern. Der obige Gedankengang macht die Vorstellung einer „one-many superposition" plausibel, d.h. einer Deckungsgleichheit („superposition") eines „single object" mit einer „plurality of
64
Vgl. Doepke 1982, 45 f. Doepke ist der Ansicht, daß die Eins-Viele-Auffassung geeignet ist, die Annahme der Superposition verschiedener materieller Kontinuanten zu vermeiden. Seine Begründung: Zwischen einem Ganzen und seinen Teilen bestehe eine Eins-Viele-Relation. Unterläßt man es, die vielen einzelnen Teile separat noch einmal zu einer Einheit zusammenzufassen zu „einer Ansammlung", d.h. einem Aggregat von Teilen, entfällt das Problem der Koinzidenz eines aus den-und-den Teilen bestehende Ganzen mit dem Aggregat dieser Teile: an der fraglichen Stelle in Zeit und Raum befindet sich danach nur das aus den-und-den Teilen bestehende Ganze, d.h. ein Ding, und nicht außerdem noch ein Aggregat oder eine Ansammlung dieser Teile.
186
IV Zur Individuation und Persistenz lebloser
Kontinuanten
objects".65 Ausgehend von diesem Fall kann man schließlich sehen, daß das Ding der Art Κ und das Aggregat seiner Bestandteile genau dann zur selben Zeit am selben Ort sein können, wenn die beiden einander zu t vollständig überlappen, d.h. alle ihre Bestandteile gemeinsam haben; oder anders ausgedrückt, wenn beide zu t aus denselben Teilen bestehen.66 Auf diese Weise kann (vorübergehende) mereologische Koinzidenz als Grund der Möglichkeit (vorübergehender) räumlicher Koinzidenz angeführt werden. Der große Vorzug dieser Auffassung, daß zwei verschiedene materielle Kontinuanten sich zur selben Zeit am selben Ort aufhalten können, wenn es denn Kontinuanten verschiedener Subkategorien sind, liegt darin, daß sie es uns erlaubt, die starke Intuition des common sense zu bewahren, daß wir mit unseren sortalen Termen konkrete Einzeldinge abgrenzen, welche mereologische Veränderungen überdauern können, die also wesensverschieden von Aggregaten sind. Vertritt man jene Auffassung, kann man zu jedem Zeitpunkt konzeptuell Folgendes auseinanderhalten: (i) das Einzelding der Art K, z.B. ein Auto67, (ii) seine Komponenten und (iii) die mereologische Summe bzw. das Aggregat seiner Komponenten. Es läßt sich dann mit der NichtIdentität des Autos mit dem Aggregat der Komponenten, aus denen es zu einer Zeit ti besteht, begründen, warum das zu t2 - etwa durch Zerstörung eines Bestandteils des Autos - bewirkte Vergehen des zu ti existierenden Aggregats nicht dem Vergehen des Autos gleichkommt. Nähme man dagegen die Identität des Autos mit dem Aggregat seiner Komponenten an, so müßte man nach dem in IV. 1 über die Individuation und Persistenz von 65
66
67
Vgl. Simons 1987, 212. Demzufolge gelingt es auch der „Eins-Viele-Auffassung" nicht, jeden Fall von Deckungsgleichheit auszuschließen, wie Doepke meint, sondern nur den Fall der „one-one superposition" eines Aggregats mit einem Ding. In der extensionalen Mereologie impliziert vollständige Überlappung zu t des vom Term ,a' bezeichneten Individuums mit dem vom Term ,b' bezeichneten Individuum die Identität von a und b. Ziehen wir jedoch in Betracht, daß die Laufbahnen des zu t mit ,a' bezeichneten und des zu t mit ,b' bezeichneten Individuums zu anderen Zeitpunkten als t divergieren, kann vollständige Überlappung zu t nicht hinreichend für Identität sein, sondern nur für die oben beschriebene räumliche Koinzidenz. Analoges ließe sich auch über einen aus einer gesättigten Salzlösung auskristallisierenden Salzkristall und seine minimalen Bestandteile sagen.
IV.2 Dinge
187
Aggregaten Gesagten beispielsweise auch zugeben, daß das Auto identisch mit dem Haufen Autoteile ist, der nach des Autos vollständiger Zerlegung in seine Komponenten existiert. Mit der Annahme koinzidierender Gegenstände vermeidet man dagegen die Schwierigkeit, auf solche kontraintuitiven Persistenzannahmen verpflichtet zu sein. Aufgrund dieser Vorzüge ist die Vorstellung vorübergehend raumzeitlich koinzidierender Gegenstände im neoaristotelischen Lager der analytischen Ontologie geradezu zum „standard account of the relations among objects, sorts, sortals and persistence conditions" 68 avanciert. Gleichwohl ist die Verpflichtung auf die These, daß zwei numerisch verschiedene materielle Kontinuanten zur selben Zeit am selben Ort sein können, ein hoher Preis für die Rettung unserer Intuition, daß die von Sortalen bezeichneten Dinge mereologisch veränderliche Dinge sind. Auch wenn mereologische Koinzidenz zur Erläuterung der räumlichen Koinzidenz angeführt wird: es widerspricht unserer Intuition, Objekte, die nicht räumlich diskret voneinander sind, als numerisch verschiedene Objekte anzusehen. Gewöhnlich gilt das Extensionalitätsprinzip: Für numerische Verschiedenheit ist räumliche Diskretheit der Objekte essentiell. 69 Die Annahme räumlich koinzidierender Gegenstände ist somit kaum weniger revisionär gegenüber dem common sense als der Vier68
69
Burke 1994, 592. Wiggins war der erste, der diese These als Folge seiner Theorie der Individuation verteidigt hat (Wiggins 1967, Teil I; 1968; 1980, Ch. 1). Als weitere Philosophen, die die Vorstellung der möglichen räumlichen Koinzidenz verschiedenartiger materieller Kontinuanten akzeptieren, nennt Burke (1994, 592): Chappell (1990), Doepke (1982, 1986), Forbes (1977), Hirsch (1982), Johnston (1992), Kripke (1971), Lowe (1983), Pollock (1974), Salmon (1981), Shorter (1977), Simons (1987), Thomson (1983), Yablo (1987). Rapp (1998, 372) wendet ein, daß diese These nur in Bezug auf solche Objekte plausibel sei, die grob den Substanzen in der klassischen aristotelischen Metaphysik entsprechen. Die Ontologien, die zum Überlagerungsproblem führten, hätten jedoch einen allgemeineren Objekt-Begriff. In Bezug auf andere Objekte als solche Substanzen müsse jene These jedoch gar nicht gelten. Dieser Auffassung zufolge wäre etwa die raumzeitliche Koinzidenz eines Dings mit einem Aggregat unproblematisch, da Aggregate nicht als aristotelische Substanzen qualifizieren. Zwar gehe ich auch davon aus, daß ein \^orkommnis und ein Kontinuant sich zur selben Zeit am selben Ort befinden können. Doch nach dem hier entwickelten Konzept von Kontinuanten, das eng an Aristoteles' Substanzbegriff angelehnt ist, fällt es schwer zu sehen, wie zwei solche dies tun könnten.
188
IV Zur Individuation und Persistenz lebloser
Kontinuanten
dimensionalismus, der ebenso als Lösung dieses (hier durch die Möglichkeit mereologischer Veränderung hervorgerufenen) Problems eingesetzt wird.70 Es ist schwer vorstellbar, daß sich in einem Raumzeitgebiet zusätzlich zu einem Ding noch ein weiteres, numerisch verschiedenes, materielles Kontinuant befinden können soll; auch wenn Simons dies so plausibel zu machen versucht: „That different objects may be superposed follows from the fact that a single parcel of matter may be in such a state that it happens simultaneously to fulfil several sets of persistence conditions at once."71 Auch wenn letzteres tatsächlich möglich sein sollte, stellt sich doch die Frage, ob man nicht dennoch immer nur einen Satz von Persistenzbedingungen zur Zeit auf „ein Stück Materie" anwenden sollte und nicht zwei gleichzeitig. Das irritierende Moment der Annahme raumzeitlich koinzidierender Gegenstände ist nicht, daß man eine Raumzeitstelle als von materiellen Kontinuanten von verschiedener Art ausgefüllt betrachten kann. Dies könnte man auch so verstehen, daß man den materiellen Inhalt je nach Interesse eben verschieden kategorisieren kann, einmal als Ding der Art Κ oder unter Abstraktion von jedweder Struktur, Form oder Funktion als Materieaggregat. Irritierend ist vielmehr, daß man nicht genötigt sein soll, sich für eine dieser Kategorisierungsmöglichkeiten zu entscheiden, sondern daß diese stattdessen zu der ontologischen These umgemünzt wird, es könnten zwei materielle Kontinuanten verschiedener Art gleichzeitig an dieser Raumstelle vorliegen und sich die dort befindliche Materie (in der oben beschriebenen Weise) teilen. So hat diese These denn auch vielfachen Widerstand hervorgerufen: Van Inwagen nennt sie „a desperate expedient";72 Noonan bezeichnet sie als „a bad case of double vision"; 73 Lewis hält „this multiplication of entities" für „absurd on its face."74 Van 70 71
72 73 74
Vgl. z.B. Heller 1984. Simons 1987, 223 f. Simons' terminus technicus dafür, daß sich zwei Kontinuanten zur selben Zeit am selben Ort befinden, ist „superposition". Diese erläutert er genauer so: „no matter how exacdy we specify the position of an object, it is the same as that of another" (ebd., 215). Van Inwagen 1981, 129. Noonan 1988, 222. Lewis 1986, 252.
IV.2 Dinge
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Inwagens Strategie zur Vermeidung dieser These besteht in der Ablehnung der Prämisse (i.) (s. S. 184) - d.h. der Leugnung der Existenz jeglicher zusammengesetzter lebloser Dinge. Ihm zufolge gibt es — außer Lebewesen — nur die (von den Physikern entdeckten) „ultimate simples".75 Unser Sprechen von leblosen zusammengesetzten Dingen paraphrasiert er dagegen als Rede über „simples arranged thingwise".76 Wird die Existenz der zusammengesetzten Dinge zugunsten der Existenz der Ultimaten Teilchen geleugnet, so befinden sich an jeder Raumzeitstelle nur noch materielle Kontinuanten einer Sorte, nämlich jene „simples". Dieser Reduktionismus ist ein beliebter Weg, sich des Problems räumlich koinzidierender Gegenstände zu entledigen. Diesem Ausweg ist jedoch zu entgegenzuhalten, daß die Leugnung der Realität von zusammengesetzten Dingen wie Diamanten, Felsen, Autos oder Fahrrädern ein kaum minder „desperate expedient" darstellt. Eine alternative, weniger weitgehende reduktionistische Auffassung lautet, daß „our ordinary substance terms [...] accidental properties of something more basic"77 ausdrücken. Dieser zufolge würde von bestimmten, in der-und-der Anordnung und Relation zueinander vorliegenden Materieteilchen prädiziert, daß sie ein Ding der Art Κ sind; daß sie (vorübergehend) die Eigenschaft haben, ein Ding der Art Κ zu sein.78 Auch diese Auffassung läuft darauf hinaus, daß sich nur eine Sorte materieller Kontinuanten zu einer Zeit an einem Ort befindet, nämlich die betreffenden Materieteilchen. Leblose Dinge würden jedoch in diesem Fall nicht gänzlich aus der Ontologie eliminiert, sondern lediglich als ontologisch posteriore Ganze begriffen. Gemäß dieser weniger weitgehenden reduktionistischen Auffassung sind die Materieteilchen die grundlegenden Entitäten, während die Exi75
76 77 78
Zu dieser Auffassung kommt van Inwagen (1990) allerdings nicht aufgrund mereologischer Probleme, doch er preist diese These als Lösung des Problems räumlich koinzidierender Gegenstände an — insofern es dieses gar nicht erst entstehen ließe. Hoffman/Rosenkrantz dagegen kommen explizit aufgrund der mit mereologischer Veränderung verbundenen Probleme zu dem Schluß, daß „ordinary inanimate physical objects are indeed unreal" (1997, 156). Vgl. van Inwagen 1990, 109. Sidelle 1998, 427. Vgl. Doepke 1982, 45; Sidelle 1998, 426 f.
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IV Zur Individuation und Persisting lebloser
Kontinuanten
Stenz zusammengesetzter Dinge über der Existenz und besonderen Anordnung dieser Teilchen superveniert.79 Will man dagegen im Rahmen einer neoaristotelischen Ontologie an der schlichten, unrelativierten Annahme (i.) der Existenz zusammengesetzter Dinge festhalten und dennoch die Annahme koinzidierender Gegenstände vermeiden, so bleibt als Alternative zu diesen reduktionistischen Auflösungen nur, die Annahme (iii.) zu bestreiten: mit anderen Worten, die These zu vertreten, daß sich dort, wo sich zu t ein Ding befindet, nicht auch noch ein Materieaggregat befinden kann.80 Diese These beinhaltet ebenfalls, von den oben am Beispiel des Autos unterschiedenen Sorten von Kontinuanten — d.h. (i) dem Auto, (ii) seinen Komponenten, (iii) dem Aggregat seiner Komponenten — nur die Existenz zweier zu akzeptieren, jedoch in diesem Fall die des Autos und die seiner Komponenten. Wir wären damit wieder bei der „Eins-Viele-Auffassung" angelangt. Für die Leugnung der Existenz des Aggregats spricht, daß die Vorstellung, an der Stelle des Autos befinde sich ein Aggregat von Komponenten, nur das Resultat einer Abstraktion ist: Während sowohl die einzelnen Komponenten, aus denen das Auto zusammengesetzt wurde, als auch das Auto selbst konkrete, einzeln manipulierbare Dinge sind, gelangt man nur zu der Idee, daß diese Komponenten ein Aggregat bilden, indem man sie unter Abstraktion von ihrer Anordnung zu einem Auto betrachtet. Verzichten wir auf diese Abstraktion, so bleibt nur das aus denund-den Einzelteilen in der-und-der Anordnung bestehende Auto als Bewohner der Raumzeitstelle übrig. Wenn man leugnet, daß am Ort eines Dings zur selben Zeit auch noch ein Aggregat existiert, muß die Herstellung eines Artefakts aus seinen Komponenten anders beschrieben werden denn als nach der Standard-Auffassung. Nach dieser führt die Zusammensetzung von diversen Einzelteilen zu einem Auto dazu, daß das Aggregat all dieser Einzelteile nun räumlich mit dem Auto koinzidiert. Die hier vertretene, alternative Auffassung hat dagegen zur Konsequenz, daß das Entstehen des Dings mit dem Ver-
79 80
Vgl. Hoffman/Rosenkrantz 1997, 155 f. Diese Alternative zu der Standard-Auffassung hat Burke 1994 vorgeschlagen.
IV.2 Dinge
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gehen des Aggregats verbunden ist.81 Mit anderen Worten, diese Auffassung versteht unter einem Aggregat ein bloßes Aggregat. Ein solches bloßes Aggregat von Einzelteilen stellt etwa der nach der vollständigen Zerlegung des Autos vorhandene Haufen Autoteile dar, aber auch jede flüssige oder gasförmige Stoffmenge. Ein solches „bloßes Aggregat" von Autoteilen kann keine Veränderung überdauern, die aus den Autoteilen ein Auto werden ließen. Demnach unterscheiden sich die Persistenzbedingungen „bloßer Aggregate" von den Persistenzbedingungen, die Aggregate der in IV. 1 vorgetragenen Standardauffassung zufolge besitzen.82 Die Verschärfung des Begriffs ,Aggregat' zu dem eines ,bloßen Aggregats' erleichtert es, in Aggregaten materielle Kontinuanten suigeneris zu sehen: Danach sind nur mereologische Summen von (sortal bestimmten) Einzeldingen, die kein durch ein Sortal bestimmtes Einzelding von spezifischer Gestalt, Funktion oder Struktur bilden, Aggregate. Ein so definiertes bloßes Aggregat von Einzeldingen muß vergehen, wenn die Einzeldinge, die zu ti seine Elemente waren, zu t2 zu Bestandteilen eines wohlgeformten Dings werden. Diese Auffassung kommt einer Zurückweisung des Grundsatzes
81
82
Vgl. das, was Aristoteles über die Herstellung eines Hauses aus Ziegeln in Met. VII, 1033a 20-23 sagt: Man sagt zwar, ein Haus werde aus Ziegeln (ek plinthon) hergestellt. Doch das, aus dem (ex hoü) etwas anderes wird, überdauert die Veränderung nicht, sondern vergeht mit ihr. (Zu Aristoteles' „triadischem" Modell der Veränderung, vgl. Rapp 1995, 327 f.; sowie Π.4.2., S. 76 ff.) Die Ziegel jedoch überdauern die Veränderung, die in ihrer Zusammenfügung zu einem Haus besteht. Daher sei es genaugenommen nicht richtig zu sagen, daß ein Haus aus Ziegeln entstehe, da dies so klingt, als ob diese dabei vergingen. Es ist vielmehr, so kann man hier ergänzen, das bloße Aggregat der betreffenden, zum Hausbau verwendeten Ziegel — für das wir keinen rechten Namen (sortalen Term) haben, wie Aristoteles bemerkt, wenn er (ebd., 1033a 13-15; Ubersetzung: Patzig/Frede 1988, 83) sagt, daß „der Mangel von was auch immer für einer Gestalt beim Erz oder der Mangel der Hausform bei Ziegeln und Bauhölzern" „adylos" (nicht leicht zu erkennen) und „anonymos" (ohne Namen) sei — welches vergeht, wenn mit ihnen ein Haus hergestellt wird. Bei dieser substantiellen Veränderung nehmen also die Ziegel die Rolle des zugrundeliegenden Stoffes ein, während das ungeformte, ungeordnete Aggregat aller der zum Hausbau verwendeten Ziegel das ist, aus dem (ex hoü) das Haus entsteht, und das Haus das ist, zu dem (eis to) dieses Aggregat wird. Vgl. auch Burke (1994, 608): „[A] mere piece of copper could not survive changes that would make it a statue."
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IV Zur Individuation und Persistenz lebloser
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der extensionalen Mereologie gleich, wonach in allen Fällen gilt, daß die mereologische Summe, das Aggregat der Bestandteile existiert, wenn die Bestandteile existieren; bzw. wonach diese Summe ein weiteres Einzelding ist. Die Leugnung, daß die Komponenten zu der Zeit, zu der sie in Form eines Autos vorliegen, noch irgendein anderes Ganzes außer dem Auto bilden, löst das Problem der „one-one superposition"83 eines Dings mit einem Aggregat im Prinzip auf dieselbe Weise wie die reduktionistische Position: nämlich durch Negation der Existenz eines dieser beiden Kontinuanten — nur eben in diesem Fall nicht der des Dinges, sondern der des Aggregats. 2.2.3 Zur Persistenz von Dingen Kommen wir nach der Auflösung des Problems räumlich koinzidierender Gegenstände zugunsten der „Eins-Viele-Auffassung" auf die Persistenzbedingungen von Dingen zurück. Ich hatte mich oben (s. S. 180) Lowes Thesen angeschlossen, daß (i) die Persistenz von zu einem Zeitpunkt über ihre Form oder Funktion als Ks identifizierten Dingen in der Kontinuität ihrer spezifischen Form oder Funktionsfähigkeit besteht, und daß (ii), insofern Form und Funktion eines Dings an eine bestimmte physische Struktur gebunden sind, der Fortbestand eines solchen Dings in dem Fortbestand derjenigen Relationen zwischen seinen Bestandteilen besteht, welche für die Existenz eines Dings von dieser Art zu irgendeinem Zeitpunkt essentiell sind. Lowe fügt im Anschluß an diese Erläuterung eine wichtige Unterscheidung an: [Tjhere is a distinction to be made between explaining a [thing's] existence and saying what that persistence [...] consists in. [...] [W]hat is involved here is the quite general distinction between providing a causal explanation of the occurrence of a phenomenon and saying in some revealing way what that phenomenon really is - disclosing its 'real essence'. (Compare the distinction between saying why lightning occurs and saying that it is an electrical discharge.) 84
83 84
Simons 1987, 212. Lowe 1988b, 61 f.
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Die obigen Erläuterungen (i) und (ii) sind nicht im Sinne einer kausalen Erklärung der Persistenz von Dingen zu verstehen. Sie beschreiben das Wesen der Persistenz von Dingen. Die Aussage (ii) kann erweitert werden um das, was man über die jeweilige Feinstruktur der Dinge weiß. Diese strukturellen Relationen zwischen den Bestandteilen der Dinge sind synchrone Relationen von unterschiedlicher Komplexität. Das Wesen der Persistenz von Dingen läßt sich daraufhin relativ kurz abhandeln: Für die Weiterexistenz eines individuellen Ks ist nicht mehr als das Gleichbleiben dieser bestimmten Relationen zwischen den Bestandteilen erfordert. Generell gilt, daß die Identifizierung eines Dings als eines von der-und-der Art im Prinzip ohne Berücksichtigung der zeitlichen Dimension erfolgen kann. Welche Beschaffenheiten auch immer dabei als Artzugehörigkeit definierende Merkmale (als Charakteristika von Ks) angesehen werden: in diesen darf ein Exemplar der betreffenden Art sich im Laufe der Zeit bei Strafe seines Untergangs als eines Exemplars dieser Art nicht ändern. Daß die Kontinuität eines Dings in der Kontinuität bestimmter struktureller Relationen zwischen seinen Bestandteilen besteht, ist der Grund dafür, daß es für ein Ding möglich ist, einen Wechsel in den jeweiligen konkreten Bestandteilen, die seine Struktur aufbauen, zu überdauern. Mereologische Veränderung findet an Dingen indes nur durch Einwirkung von außen statt: So korrodiert ein Auspuff eines Autos aufgrund von Witterungseinflüssen irgendwann und fällt ab, und ein KFZ-Schlosser muß einen neuen einbauen; ist das Heruntertropfen kalkhaltigen Wassers die Ursache für das Wachstum des Stalagmiten; führt das kontinuierliche Verdunsten des Lösungsmittels zur Auskristallisation einer gelösten Substanz und dem Wachstum von Kristallen; gehen einem Diamanten durch Schliff Bestandteile verloren etc. Grundsätzlich ist dasjenige Ding, an dem die mereologische Veränderung stattfindet, nicht - und schon gar nicht ursächlich - in das Ereignis involviert, welches die Ursache seiner mereologischen Veränderung ist. Soweit also überhaupt mereologische Veränderungen an Dingen stattfinden, kann man das Verhältnis der Dinge zu ihnen umgangssprachlich als ein „passives" charakterisieren: Sie „erleiden" diese, sie stoßen ihnen lediglich als Wirkung bestimmter Ereignisse in ihrer Umgebung zu.
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IV Zur Individuation und Persistenz lebloser Kontinuanten
Wir mögen dementsprechend zwar mereologische Veränderungen bei Dingen tolerieren, wenn sie stattfinden; doch es liegt nicht in der Natur von Dingen, daß sie stattfinden: Isolierte man ein Ding von der es umgebenden Welt, würde keine mereologische Veränderung mehr an ihm stattfinden. Doch wir würden auch etwas als ein Ding bezeichnen, an dem niemals irgendeine mereologische Veränderung stattfände. So mögen sich konkrete Dinge de facto mereologisch verändern, weil sie de facto nicht von der Umgebung abgeschirmt sind, doch ist solche Veränderung ihnen als Dingen akzidentell. Könnten wir konkrete Dinge gänzlich von äußeren Einflüssen abschirmen, müßten diese nicht mit der Zeit altern. In Abwesenheit solcher externer Störungen besteht die Persistenz eines Dings nicht bloß in der Persistenz spezifischer struktureller Relationen zwischen seinen Bestandteilen, sondern in materieller Kontinuität. Die für die Existenz eines Dings essentiellen strukturellen Relationen zwischen seinen Bestandteilen bleiben dann allein deswegen gleich, weil alle seine Bestandteile über die Zeit hinweg dieselben bleiben. Anders gesagt: In diesem Falle ist der Grund für die Kontinuität der Struktur, in der die Kontinuität des Dings besteht, die Kontinuität aller seiner Bestandteile. Diese blieben dann über die Zeit hinweg so miteinander verbunden, wie es das Prinzip (PMC) für einen Zeitpunkt t beschreibt, und ein solches Ding wäre perfekt stabil. Mereologische Konstanz, d.h. permanent aus denselben materiellen Teilen zu bestehen, ist demnach hinreichend für die Persistenz eines Dings. Zusammenfassend kann man festhalten, daß leblose Dinge schlicht „by mere default of anything happening to destroy [them]" persistieren.85 Ihre Fortdauer besteht schlicht in „the brute passive continued existence of all or most of their matter, [...] of a certain shape, arrangement of parts - in short, a structure."%(i Die Fortexistenz eines Dings entspricht damit dem Andauern eines bestimmten Zustandet (der Materie). In diesem Sinne ist das Persistieren eines Dings ein träges Beharren, für das wir
85 86
Simons 1987, 214. Ebd., 353 f. Ebenso Jonas: Die Persistenz lebloser Dinge wie Maschinen „comes down to the mere inert persistence of matter" (1965, 50).
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genausowenig eine kausale Erklärung benötigen wie für die gleichförmige Bewegung eines Körpers.87 Insofern die Persistenz eines Dings dem Andauern eines bestimmten Zustandes entspricht, und schlichte materielle Kontinuität, d.h. Abwesenheit mereologischer Veränderung, hinreichend für die Persistenz eines Dings ist, rücken leblose Dinge schließlich doch wieder in eine gewisse Nähe zu Aggregaten — für deren Fortexistenz die Abwesenheit mereologischer Veränderung allerdings essentiell ist. Dieser Sachverhalt legt nahe, in Dingen wenn auch nicht gleich „bloße Aggregate" - dagegen steht ihre Strukturiertheit und/oder spezifische Geformtheit - so doch nichts anderes als stabile Aggregationen oder Formationen von Materie zu sehen, welche wir unserem (Erkenntnis-)Interesse gemäß aus dem materiellen Kontinuum abgrenzen mögen. Dies gilt insbesondere für die von Natur aus vorkommenden Dinge.
2.2.4 Das Problem von Theseus' Schiff Selbst die Persistenz von Artefakten beurteilen wir nicht nur nach dem Kriterium der Kontinuität der Funktion, sondern auch hierfür spielt der Gesichtspunkt der materiellen Konstanz, m.a.W. der Permanenz der Bestandteile eine wichtige Rolle - was hieße, daß wir sie ebenfalls wie eine Art von Aggregationen behandelten. Das zeigt das notorische Beispiel der Geschichte von Theseus' Schiff.88 87
88
Simons 1987, 353: „For continuants with a claim to existence independently of the occurrence of occurrents, we might ask what sustains the continuant's continued existence from moment to moment. The ultimately correct answer to this is surely - nothing. In so far as a continuant such as a material body continues to exist independendy of continuing processes, no explanation is required for the fact that it does carry on existing, and nothing further is required to sustain its continued existence." Vgl. auch Harre 1970, 248: „At this point, I come to the most fundamental and most powerful of methodological principles. It is this. Enduring is in no need of explanation. We are not required to explain the fact that something remains the same; only if there is a change is explanation called for." Lowe (1988b, 61) spricht in Analogie 2u Newtons Trägheitsgesetz davon, daß für die Persistenz von Kontinuanten ein „law of existential inertia" gelte. Der locus classicus für die Fassung, in der das Problem von Theseus' Schiff heute verhandelt wird, ist Hobbes, De corpore (1655), Teil II, Kap. 11, Sektion 7.
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IV Zur Individuation und Persistenz lebloser
Kontinuanten
Diese illustriert, daß beide Prinzipien in der Beurteilung der Persistenz von zusammengesetzten Artefakten angewandt werden und wie diese bei dem Urteil über die Persistenz eines mereologischer Veränderung unterliegenden Dings miteinander in Konflikt geraten können. Die Geschichte geht wie folgt: Theseus' Schiff wird von Zeit zu Zeit zur Reparatur in die Werft gebracht, wo jedesmal ein paar seiner Planken ausgetauscht werden. Die alten Planken werden auf einem großen Haufen auf dem Werftgelände gesammelt, neue werden eingebaut. So geht das über viele Jahre. Mit der Zeit wechseln die Eigner, aber nie würde einer von diesen sagen, daß das Schiff, was die Werft verläßt und weiter auf den Weltmeeren segelt, numerisch verschieden sei von dem Schiff, was er zur Werft gebracht hat und wieder dorthin bringen wird. Nach vielen Jahren ist dieses Schiff so oft repariert worden, daß jede Komponente einmal ausgetauscht worden ist. Nachdem alle originalen Schiffsteile auf der Werft angesammelt worden sind, werden diese in ihrer ursprünglichen Form wieder zusammengesetzt. Es gibt nun zwei Schiffe: eines, das komplett aus neuen Bestandteilen zusammengesetzt ist, welches aber seit Theseus' Tagen kontinuierlich zur See gefahren ist, und eines, das aus den Originalbestandteilen von Theseus' Schiff zusammengesetzt wurde, welche aber vorübergehend nicht in Schiffsform vorlagen. Welches der beiden Schiffe, die wir nun vor uns haben, ist Theseus' Schiff? Dasjenige, was — nur durch kurze Reparaturaufenthalte in der Werft unterbrochen — kontinuierlich seinen Dienst auf See tat? Oder dasjenige, was aus den originalen Bestandteilen wieder aufgebaut wurde? Oder keines von beiden? Zunächst scheint ganz klar zu sein: Dasjenige, was von Eigner zu Eigner weitervererbt wurde und kontinuierlich zur See fuhr, auch wenn es dafür ab und an auf der Werft überholt werden mußte. Bei keiner der Reparaturen war (ex hjpothesi) der Abbau
Hobbes baute die Original-Geschichte von Plutarch (in: Über das Leben von Theseus) um das Element der Wiederherstellung des alten Schiffs aus seinen Bestandteilen aus. Die griechischen Sophisten hatten das Schiff des Theseus lediglich als Beispiel für die Diskussion genommen, ob Dinge mereologische Veränderung wie Austausch von Teilen oder Wachstum, d.h. Hinzugewinn von Teilen überstehen können oder nicht.
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und Neueinbau von Komponenten so umfangreich, daß die Form dieses Dings und seine FunktionsFähigkeit als Schiff ernstlich angetastet wurden. Sie blieben vielmehr erhalten. Aus diesem Grund läßt sich die Geschichte dieses Schiffs kontinuierlich vom heutigen Tage bis zu den Tagen Theseus' zurückverfolgen. Folglich ist dieses Schiff Theseus' Schiff. Daß man zunächst diesem Urteil zuneigt, liegt jedoch allein daran, daß einem die Idee, bestimmte Dinge könnten aufhören und wieder anfangen zu existieren, also „intermittierend" existieren, zunächst fremd vorkommt. Es scheint selbstverständlich zu sein, daß jedes materielle Kontinuant nur einmal anfängt und nur einmal aufhört zu existieren. Doch eine Variation des Beispiels vermag Zweifel zu streuen, ob dies wirklich ohne weiteres gilt: Angenommen, die Geschichte ginge so: man hätte Theseus' Schiff gleich beim ersten Werftaufenthalt komplett auseinandergenommen, seine Einzelteile auf einem Haufen verwahrt, dann einen Haufen neuer Planken etc. genommen, daraus ein Schiff gebaut und dieses Schiff Theseus übergeben. In diesem Fall würden wir urteilen, daß Theseus ein neues, lediglich nach dem Muster seines alten Schiffes gebautes Schiff von der Werft bekommen habe. Stattdessen würden wir das Schiff, was entsteht, wenn die verwahrten, originalen Schiffsteile von der Werft wieder in ihrer ursprünglichen Anordnung — d.h. so, daß alle relativ zueinander wieder an dieselbe Stelle im Ganzen gelangen, an der sie sich vor der Auseinandernähme befanden - zusammengesetzt werden, als das (alte) Schiff von Theseus' ansehen. Der Grund dafür ist, daß dieselben Einzeldinge, die zuvor zu diesem Schiff verbunden waren, es nach einer Phase, während der sie es nicht waren, jetzt wieder sind, und zwar in derselben Weise wie vorher: Wenn Form, Struktur und materielle Komponenten dieselben sind wie zuvor — weshalb sollte das Einzelding, was sie bilden, ein anderes sein als zuvor?89 Wenn man darüber hinaus bestreitet, daß Schiffe in Form von Haufen einzelner Komponenten weiterexistieren
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Vgl. Simons 1987, 208: ,,[I]ntermittently existing objects presuppose some continuously existing material substrate (mediate or immediate) whose continued existence allows to identify across the gap."
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IV Zur Individuation
und
Persisten^lebloserKontinuanten
können, so muß man anerkennen, daß Schiffe intermittierend existieren können.90 Weshalb sollte nun der Umstand, daß — wie es die Geschichte will - der Haufen originaler Bestandteile sich nur peu äpeu über die Jahre ansammeln ließ, etwas an dem Urteil ändern, daß die Zusammensetzung der originalen Bestandteile eines Dings in der ursprünglichen Form wieder genau dasjenige Ding ergibt, was sie schon zuvor bildeten? Wenn dieser Umstand aber irrelevant ist, so gilt auch in diesem Fall, daß das aus den originalen Bestandteilen zusammengesetzte Schiff Theseus' Schiff ist, und nicht das (nunmehr) ausschließlich aus neuen Komponenten bestehende, zur See fahrende. Somit gelangen wir zu dem dem anfänglichen entgegengesetzten Urteil. In der Beantwortung der Frage, welches dieser diachronen Identitätsurteile denn nun richtig ist, ,,[t]he problem is precisely that there are competing claims: one side favours continuity of function despite flux of parts, while the other part favours material continuity despite the intervening period in which the original parts are not together in the form of a ship."91 Die Geschichte ist so konstruiert, daß sie sich kaum lösen läßt. Wie der Konflikt gelöst werden kann, ist letztlich eine Frage unseres Begriffs von Schiffen: Vor die Wahl gestellt, würde der Kurator eines archäologischen Museums wohl das aus den Originalbestandteilen zusammengesetzte Schiff als Theseus' Schiff präsentieren und das andere für eine Kopie halten. Die Erben von Theseus würden dagegen wohl ihr Schiff als Theseus' Schiff betrachten. Für das Urteil der Erben spricht, daß wir in der Regel „Schiff eher nicht im Sinne von „originales Schiff" verstehen. Das heißt, daß es uns bei der Beurteilung der Persistenz von Schiffen in der Regel auf die Originalität der Bestandteile nicht ankommt, son-
90
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Bezeichnenderweise sind die einzigen überzeugenden Beispiele für intermittierend existierende Dinge Fälle von aus spezifischen Komponenten Zusammengesetzen Artefakten. Dies bestätigt einmal mehr den Charakter von Komponenten als „zusammenzusetzende [n] Teile [n] eines Ganzen, die im Blick auf die Zusammensetzbarkeit und das Zusammenwirken [...] hergestellt" wurden (Janich 1996, 294 f.). Simons 1987, 199.
IV. 2 Dinge
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dern daß wir lediglich kontinuierliche Schiffsform und Nutzbarkeit als Schiff als essentiell für die Persistenz von Schiffen betrachten. Hätte man dagegen klarer gefragt: „welches der beiden nunmehr existierenden Schiffe ist Theseus' originales Schiff?" so wäre die Antwort ebenso klar gewesen: das aus den Originalbestandteilen wieder zusammengesetzte; denn für die Persistenz von „Original-Schiffen" ist die Originalität der Bestandteile essentiell. Das Schiff von Theseus hörte auf, das originale zu sein, als die erste Planke ausgetauscht wurde - Theseus' originales Schiff hörte damit auf zu sein. Erst als alle originalen Komponenten wieder zusammengesetzt wurden, entstand es wieder. Was über die Jahre zur See fuhr und auf der Werft überholt wurde, war nicht Theseus' Original-Schiff. So gesehen, wird der Konflikt in der Geschichte von Theseus' Schiff dadurch hervorgerufen, daß eine weitere essentielle Bedingung zu der Bedingung der Kontinuität von Form und Funktion hinzutritt: Wer urteilt, daß das aus den Originalbestandteilen wiederaufgebaute Schiff Theseus' Schiff ist, der verwendet „Schiff so, daß für dessen Persistenz mereologische Konstanz essentiell ist, also im Sinne von „Original-Schiff: Danach ist nur dasjenige der zu ti existierenden Schiffe, das die Form und Funktionsfähigkeit eines Schiffs hat und das aus denselben Komponenten besteht wie das zu ti (vor der ersten Werftreparatur) existierende Schiff des Theseus, das Schiff des Theseus. Die Geschichte von Theseus' Schiff lehrt so zum einen, daß wir, sobald wir die Kontinuität der Funktionstüchtigkeit als Persistenzkriterium anlegen, mereologische Veränderungen an Dingen tolerieren, durch die andere Teile als die ursprünglichen die Funktion der vorigen übernehmen. In diesem Fall besteht die Persistenz eines Dings in dem Fortbestand einer bestimmten Organisation der Bestandteile durch den Wechsel der konkreten materiellen Komponenten hindurch. Allerdings sind wir es, die im Falle von Artefakten das Auswechseln der Komponenten übernehmen. Ohne unsere Eingriffe wäre für die Persistenz eines leblosen Artefakts die Permanenz aller seiner Komponenten notwendig und hinreichend. Wie bei allen leblosen Dingen ist das Persistieren von Artefakten intrinsisch statisch: es handelt sich um Persistenz, die dem Andauern eines Zustandes entspricht.
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IV 7.ur Individuation und Persistenz lebloser
Kontinuanten
Wenn zum andern „[a] whole put together out of independently pre-existing parts", ein „ontologically posterior whole" ist (s.o. S. 168); dann zeigt ferner die Bereitschaft, bei komplexen Artefakten von intermittierender Existenz zu sprechen; d.h. die Auffassung, daß es genügt, daß die Bestandteile die Zerlegung eines Artefakts überdauert haben, damit bei ihrem erneuten Arrangement zu der ursprünglichen Organisations form von der Wiederherstellung des Artefakts gesprochen werden kann, daß wir auch solche Dinge eher als Ganze ansehen, die gegenüber ihren Komponenten ontologisch posterior sind.
V Zur Persistenz und Natur von Lebewesen 1. Zum Begriff des Lebens 1.1 Leben als Lebensgeschichte und Leben als Zustand/Aktivität In Abschnitt III.3 habe ich die Aussage sowie einige Konsequenzen daraus diskutiert, daß für Lebewesen zu persistieren zu leben bedeutet. Leben ist „the distinctive mode of activity"1, die alien Lebewesen und nur Lebewesen gemeinsam ist. Damit ist der erste Schritt zur Benennung der Differenz getan, doch ist mit dieser Auskunft noch kein Analysefortschritt verbunden. Was fehlt, ist die Explikation, worin Leben, das Persistieren von Lebewesen, besteht. Vor der Beantwortung dieser Frage müssen zwei verschiedene Verwendungen des Wortes ,Leben' unterschieden werden: (1.) Wir verwenden den Ausdruck ,das Leben eines x' zum einen als singulare tantum für all die Geschehnisse, mit der die Zeitspanne gefüllt ist, die ein einzelnes Lebewesen persistiert: „The word 'life' can [...] be used in such a way that, for example, the phrase 'Bertrand Russell's life' denotes something like the totality of Lord Russell's adventures or that event the course of which is narrated in his autobiography."2 Auch vom Leben nicht-menschlicher Lebewesen läßt sich in diesem Sinne sprechen, obwohl es nicht besonders sinnvoll wäre, ihren Lebenslauf zum Gegenstand einer Biographie zu machen.3 Allgemein gesagt, bezeichnet ,ein
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Wiggins 1980, 80. Van Inwagen 1990, 83. Im Griechischen wird dieser Unterschied durch zwei verschiedene Bezeichnungen für Leben im allgemeinen und für das Leben von Menschen im besonderen ausgedrückt: und bios. - Im Prinzip ließen sich zwar auch „Biographien" vom Leben einzelner, nicht-menschlicher Tiere anfertigen, doch wären diese ganz
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V Zur Persistenz
und
Natur von Lebewesen
Leben' in diesem Sinne die gesamte Lebensgeschichte eines individuellen Lebewesens: einen Lebens lauf. Die Lebensgeschichten von Lebewesen können wir in typische Entwicklungsphasen untergliedern, welche von jedem Mitglied einer Art im Laufe seines Lebens durchlaufen werden (so es entsprechend lange existiert und nicht früh stirbt): So wird z.B. das Leben von Menschen in Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter unterteilt, oder das Leben von Insekten in ein Larval- und ein Adultstadium. Daß hier als ein Leben das Leben - d.h. die Lebensgeschichte — eines individuellen (Lebe-)Wesens zählt, heißt, daß die Frage, was als „ein Leben" zählt, auf die Frage zurückverweist, was als ein Leb Alvesen zählt. (2.) Vom Leben eines Individuums wird jedoch auch noch in einem anderen Sinne gesprochen. Der Ausdruck „Russell's life", so skizziert van Inwagen diesen Sinn, könne auch so verstanden werden, daß er „a purely biological event" bezeichne, „an event which took place entirely inside Russell's skin and which went on for ninety-seven years."4 Er ist der Auffassung, daß ,Leben' hier wie ein „count noun" gebraucht werde, das ein einzelnes, konkretes Ereignis bezeichne. Er verwendet den Ausdruck ,ein Leben' in diesem Sinne eines „biologischen Ereignisses", wenn er als Antwort auf die Frage, unter welchen Bedingungen elementare Teilchen („simples") ein Lebewesen („organism") bilden, sagt: Sie tun es genau dann, wenn ihre Aktivität(en) ein Leben bilden.5 Ihm zufolge verläuft die Explikationsrichtung also gerade in der entgegengesetzten Richtung als im ersten Abschnitt beschrie-
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uninteressant, weil diese im Verlauf ihres Lebens — kantisch gesagt — „nichts aus sich selber" machen. So bestehen bei Tieren keine entscheidenden Unterschiede in den individuellen Lebensverläufen. Alle Mitglieder einer Art zeigen im wesentlichen das gleiche Verhaltensrepertoire, und dieses Repertoire ist stets recht beschränkt. Van Inwagen 1990, 83. S. ebd., 91: „If [...] the particles of matter whose activities constitute lives thereby compose objects, it seems reasonable to identify the object they compose with the objects ordinarily called organisms and to suppose that, for any x, if the activity of those xs constitutes a life, then those xs compose exacdy one organism." (Meine Hervorhebung.) So bezeichnet er als einen Organismus etwas, das „is such that certain objects compose it in virtue of their activity's constituting a life" (ebd., 90; meine Hervorhebung).
V. 1 Z.um Begriff des Trebens
203
ben: An Stelle der These, daß ein Leben nur als die Existenzspanne eines einzelnen lebenden Wesens individuierbar ist, vertritt van Inwagen die These, daß es diesen zweiten, „biologischen" Sinn von ,Leben' gibt, in welchem mit ,Leben' ein „reasonably well individuated event" 6 bezeichnet wird und daß die Identifikation dieser Ereignisse die Grundlage der Individuation von Lebewesen bildet. Aufzudecken, worin Leben in diesem Sinne besteht, sei dabei letztlich Aufgabe der Biologen. 7
1.2 Contra van Inwagen: Leben gehört nicht zur Kategorie der Ereignisse Doch ist der biologische Begriff des Lebens wirklich der einer besonderen Art von Ereignissen und beruht die Individuation von Lebewesen (Organismen) auf der Individuation von Ereignissen dieser Art? Erste Skepsis gegenüber der selbständigen Individuierbarkeit einzelner Leben ohne vorgängigen Bezug auf Individuen, die leben, läßt schon van Inwagens eigene Formulierung aufkommen, daß dieses „einigermaßen gut individuierte Ereignis" sich „vollständig unter Bertrand Russells Haut" abspiele, mit anderen Worten, „im" Körper eines bestimmten Lebewesens. Van Inwagen benötigt diesen Begriff einzelner Leben als selbständig individuierbarer Ereignisse, da nur dieser es ihm erlaubt, sein Analyseziel zu erreichen: ohne Anwendung mereologischer Begrifflichkeit die Bedingungen angeben zu können, unter denen bestimmte Teilchen ein Lebewesen bilden. Wenn man wie van Inwagen fragt „what [...] relations must hold among the xs if they are to compose something?" 8 , kann man als Antwort nicht Bedingungen angeben, in denen als der Wert der Variablen ,the xs' auf Teile von Lebewesen Bezug genommen wird. Dies wäre zirkulär, da man, indem man von bestimmten Dingen als Teilen von Lebewesen spricht, schon anerkannt hat, daß diese ein Lebewesen bilden.
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S. ebd., 87. S. ebd., 84: ,,[W]hat is a life? What features distinguish lives from other sorts of events? In the last analysis, it is the business of biology to answer this question." Ebd., 81 f.
204
V Zur Persistenz und Natur von l^ebewesen
Indessen halten Hoffman und Rosenkrantz van Inwagens Analyse mit Recht entgegen, daß der Begriff der Zusammensetzung und die Teil-Ganzes-Relation nicht bloß auf Kontinuanten anwendbar sind, sondern übergeordnete Begriffe darstellen, die sich ebenso auf Vorkommnisse anwenden lassen.9 Van Inwagen täuscht sich daher, wenn er der Ansicht ist, daß seine Antwort auf die Frage, unter welchen Bedingungen bestimmte Teilchen (xs) einen Organismus bilden, - daß sie es genau dann tun, wenn die Aktivitäten dieser Teilchen ein Leben „konstituieren" - ganz ohne die Annahme auskomme, daß bestimmte physische Gegenstände etwas zusammensetzen oder bilden; sprich ohne die mereologische Begrifflichkeit von Ganzen und Teilen: Dieses Analysans setzt schließlich voraus, daß die Aktivitäten vieler einzelner Teilchen ein Ganzes, nämlich ein Leben, bilden. Sein Anspruch, ohne Verwendung mereologischer Konzepte die Bedingungen für die Anwendbarkeit des mereologischen Vokabulars bei Organismen angegeben zu haben, muß darum als nicht eingelöst betrachtet werden. Abgesehen von dieser Schwierigkeit müßte (ein) Leben tatsächlich von sich aus ein „einigermaßen gut individuiertes Ereignis" sein, damit gesagt werden kann: was als ein Lebewesen zählt, wird bestimmt davon, was als ein Leben zählt. Ich meine indes, daß wir unter „einem Leben" — z.B. einem Menschenleben — nichts anderes als einen Lebenslauf verstehen können, der als die Lebensgeschichte eines Individuums individuiert ist. Doch was für eine Art von Vorkommnis bezeichnet ,leben' dann, wenn wir vom Leben eines Individuums in jenem zweiten der von van Inwagen unterschiedenen Sinne sprechen? Wenn van Inwagen recht damit hätte, daß wir den Begriff des Lebens u.a. so gebrauchten, daß wir damit eine Art von „biologischem" — genauer: physiologischem - Ereignis bezeichneten, so müßte es möglich sein, Leben als solche zu zählen, ohne daß es dazu der vorgängigen Individuation einzelner Lebewesen bedürfte. Denn Ereignisnamen zeichnen sich dadurch aus, daß sie das Zählbarkeitskriterium für Sortalität erfüllen.10 Anders gesagt: Zur
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Vgl. Hoffman/Rosenkrantz 1997, 182 f. Vgl. Tugendhat 1976, 456 f.
V. 1 Zum Begriff des Lebens
205
Kategorie der Ereignisse gehören diejenigen Vorkommnisse, die unter sortale Begriffe fallen. Doch zeigt sich an diesem Test, daß es auf das Verbalsubstantiv ,Leben' gerade nicht zutrifft, daß es von sich aus ein Vorkommnis im raumzeitlichen Kontinuum bestimmt abgrenzt. Man vergleiche z.B. die Frage: „Wie viele Gasexplosionen gab es während des Jahres 2000 in Berlin?" mit der Frage: „Wie viele Leben gab es während des Zeitraums X in Y? Während die erste eine sinnvolle Frage darstellt, läßt die zweite einen stutzen. Und wie will man sie beantworten, außer indem man zählt, wie viele lebende Wesen während des Zeitraums X in Y existierten? Anders als der Begriff des Lebewesens erfüllt der Begriff des Lebens das Zählbarkeitskriterium für sortale Terme gerade nicht. Dies heißt nichts anderes, als daß das Verb ,leben' nicht wie z.B. das Verb ,explodieren' eine Art von Ereignissen bezeichnet. „Reasonably well individuated" ist ein Leben nur als das Leben eines Wesens von einer bestimmten Natur. Van Inwagen hat nur insofern recht, als umgekehrt auch gilt, daß die Grenzen eines Lebewesens von den Grenzen seines Lebens bestimmt sind. Der Begriff des Lebens eines Wesens ist gleichwohl nicht der eines Ereignisses, sondern vielmehr der einer Aktivität. Auch was die „Aktivität(en) bestimmter Dinge unter Russells Haut" konstituierten und was 97 Jahre andauerte, war nicht ein Ereignis, sondern eine Art von Zustand: in ihnen bestand Russells fortdauerndes Am-l^eben-Sein.n Am Leben oder lebendig ist ein Wesen, das sich in einer charakteristischen körperlichen Verfassung befindet, welche die Biologie untersucht, wenn sie „das Leben", d.h. die Funktionsweise von Organismen studiert. Der Frage, ob Leben, als Aktivität begriffen, schlicht als eine mereologisch superveniente Eigenschaft einer bestimmten Art von Systemen (oder m.a.W. von auf bestimmte Weise aufgebauten Körpern) zu verstehen ist12, oder ob der Lebensbegriff anders erläutert werden muß, wird unten (vgl. V.l.4 u. VI.l) noch weiter nachgegangen werden.
11 12
An anderer Stelle spricht auch van Inwagen von den „events and processes that collectively constitute an organism's being alive" (1990, 87). Für den Begriff der mereologischen Supervenienz, vgl. Kim 1998, 85 f. Er erläutert dieses Konzept dort wie folgt: „Suppose that we say that a certain property Ρ of something s supervenes on microphysical properties or facts about s. What
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V Zur Persistenz und Natur von Lebewesen
Van Inwagens Auffassung vom Leben als einem selbständig individuierbaren Ereignis scheint mir jedenfalls auf einem Mißverständnis zu beruhen, das durch die biologische Redeweise von Lebewesen nahegelegt wird: Häufig genug nämlich wird von Biologen (und anderen) der Ausdruck „Leben" metonym für „Lebewesen" verwendet. Wenn aber die Biologie fragt: „Was ist Leben?"; dann wird damit nicht erfragt, was ein Leben im obengenannten, ersten Sinne einer Lebensgeschichte ist, sondern entweder nach der Natur von „Leben" im Sinne der für Lebewesen charakteristischen Vermögen und Aktivitäten (I), oder aber nach der Natur jenes Zustandes, den man statt als das heben eines Wesens genauer als dessen Am-heben-Sein bezeichnen sollte (II). Es ist eine Aufgabe der Biologie, aufzuklären, welches die physische Natur („the real essence") dieses Zustandes ist — soweit ist van Inwagen zuzustimmen. Wenn indes bei dieser Charakterisierung der physischen Natur des Am-Leben-Seins nur vom Leben simpliäter die Rede ist, ohne daß explizit hinzugefügt wird, daß das Leben einzelner Wesen gemeint ist, so liegt dies daran, daß diese Annahme jener Charakterisierung als selbstverständliche Voraussetzung zugrunde liegt, und nicht daran, daß Leben als solches als ein selbständig individuierbares Ereignis aufgefaßt würde. Dies ist der weitere Grund dafür, daß ich van Inwagens Versuch zu bestimmen, unter welchen Bedingungen elementare Teilchen ein Lebewesen bilden, für verfehlt halte. Letztlich vermengt er die Frage, unter welchen Bedingungen ein Lebewesen persistiert, mit der Frage, unter welchen Bedingungen eine gewisse Menge von elementaren Teilchen („simples") als ein Lebewesen zählt.13
13
we mean to say is that the fact that s has P, or whether or not s has P, is fixed once the micro-constituents of s and the properties and relations characterizing these constituents are fixed. This means that the base property [of s] on which Ρ supervenes is a micro-based property, the property of having such-and-such proper parts that have such-and-such properties and are configured by such-andsuch relations. This is a micro-based property of s, not a property that belongs to any of its proper parts. In general, supervenient properties and their base properties are instantiated by the same objects." Diese Vermengung des Begriffs eines Lebens („a life") mit dem eines Lebewesens drückt sich auch darin aus, daß van Inwagen einem Leben Fähigkeiten zuschreibt, die normalerweise einem Lebewesen zugeschrieben werden. So heißt es: „Lives [...] are self-maintaining events" (1990, 87) oder „the life of ten years
V. 1 Zum Begriff des Löbens
207
Denn als Antwort auf die Frage, unter welchen Bedingungen ein zu einem gegebenen Zeitpunkt über einen sortalen Artbegriff an einer Raumstelle individuiertes Lebewesen persistiert, ist die Antwort korrekt: „it exists whenever and wherever [...] the event that is its life at that moment is occurring."14 Ein Lebewesen persistiert genau so lange, wie dessen Leben dauert bzw. wie es am Leben ist. 1.3 Kritik am Konzept des Lebensstroms Wenn Leben stets das Persistieren eines individuellen Lebewesens ist, so muß noch eine weitere Verwendung des Lebensbegriffs kritisiert werden. Ich meine die Verwendung dieses Begriffs in Aussagen wie „Vor 3.5 Milliarden Jahren entstand das Leben auf der Erde", mit der daran anschließenden Behauptung, daß seitdem die „Kontinuität des Lebens" ununterbrochen sei; oder Formulierungen wie die, daß „das Leben [...] uns stets in überaus prägnanten individuierten Formen entgegen [tritt]"15; oder „daß Zellen die morphologischen Grundeinheiten des Lebens darstellen"16, etc. Als rhetorische Figur ist dies unproblematisch. Doch besonders bei romantischen Naturphilosophen und den an sie anknüpfenden Lebensphilosophen sind solche Formulierungen zum Ausdruck einer überhöhten Auffassung des Lebens geworden: Dieses
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ago has propagated itself [along a continuous path in space-time]" (ebd.); „a life takes the energy it finds and turns it to its own purposes" (ebd., 89). Die Zuschreibung solcher Aktivitäten zu einem Ereignis ist schlicht kategorienfehlerhaft und unverständlich. Daß er dennoch meint, „ein Leben" für „ein Lebewesen" benutzen zu können, basiert darauf, daß er lebende Wesen hier in strikter Analogie zu Prozessen wie Wirbelstürmen betrachtet, und in ihnen nichts anderes als eine Art von „Teilchenwirbeln" sieht, die sich über die Erde bewegen. Ein Vierdimensionalist, der die Unterscheidung von Kontinuanten und Vorkommnissen ohnehin für ontologisch irrelevant hält, mag an dieser Bestimmung, mit der Lebewesen als eine Art von Vorkommnissen beschrieben werden, nichts auszusetzen haben. Doch in der dualen Ontologie des common sense gehören Lebewesen zu den Kontinuanten. Zum Vergleich von Lebewesen mit solchen „Prozeß-Dingen" wie Wirbelstürmen, s.u. mehr. Ebd., 145; meine Hervorhebung. Gerhardt 1999, 162; Italisierungen von mir aufgehoben. Voet/Voet 1994, 3.
208
Κ Zur Persistenz und Natur von l^ebewesen
erscheint dann wie ein überindividueller Gesamtprozeß (ein „Strom"), der immer neue Formen hervorbringt. Zu dieser Auffassung über das Leben kann man nur gelangen, wenn man den Tod eines einzelnen Lebewesens nicht als Diskontinuität des Lebens wertet und die Fortpflanzung von Lebernsen so interpretiert, als würde sich damit „das Leben" fortpflanzen. Die einzelnen Lebewesen erscheinen dann in der Tat nur noch wie einzelne Formen, in denen „das Leben" sich (vorübergehend) verkörpert. Gegenüber dieser Redeweise muß daran erinnert werden, daß ,leben' genaugenommen kleingeschrieben gehört: Es wird allein von Einzelwesen prädiziert, daß sie leben. Die Stilisierung des Lebens zu einem überindividuellen Prozeß, der sich in immer neuen Formen entäußert, übersieht die Differenz von type und tokem Leben als überindividuelle Entität ist eine Universalie; Universalien sind aber abstrakte Gegenstände. Prozesse dagegen sind Konkreta. So läuft diese Stilisierung auf die verwirrte Vorstellung von einer Universalie als einem Prozeß hinaus, die die Grenzen des Sinns des Prädikats leben verletzt. Die notorische Dunkelheit dieses Lebensbegriffs ist daher nicht weiter verwunderlich. Es gibt allerdings einen Fall, in dem die These zunächst berechtigt erscheinen mag, daß das Leben über die Existenz eines bestimmten einzelnen Wesens hinaus andauert. Wilson verteidigt die Auffassung, daß „the continuation of life is insufficient for numerical identity" 17 - was heißt, daß es Fälle gibt, in denen das Leben eines verschiedener Individuen sein kann — mit dem Argument, daß „[njothing dies when a single-celled organism divides into new daughter cells, but despite the continuity of life, the initial organism ceases to exist after the division." 18 Wenn z.B. eine Amöbe (a) sich teilt, so entstehen zwei Amöben, b und c. Es ist leicht einzusehen, daß von diesen beiden Zellen keine mit Amöbe a identisch sein kann. Auch Wilson behauptet dies nicht. Folglich hat aber Amöbe a mit ihrer Zerteilung aufgehört zu existieren, und das heißt: aufgehört zu leben. Das Argument „nothing dies when a single-celled organism divides into new daughter
17 18
Wilson 1999, 101. Ebd.
Κ. 1 Zum Begriff des Lebens
209
cells" ist eher als eine grammatische Bemerkung über den Sinn des Wortes ,sterben' zu lesen: Wir zögern, das Ende der Existenz von Amöbe a ihren Tod zu nennen, weil in diesem Fall kein toter Körper, keine Leiche, existiert, nachdem a aufgehört hat zu existieren. Unser Zögern beruht darauf, daß wir den Tod nicht bloß schlicht als das Ereignis verstehen, mit dem ein Lebewesen aufhört zu existieren. Verstünden wir unter dem Tod nicht mehr als dies, so wäre auch die Zerteilung eines Einzellers in zwei Tochterzellen als dessen Tod aufzufassen. Doch unser Begriff vom Tod ist am Sterben eines höheren Tieres - wie wir es sind - ausgerichtet, in welchem Falle er die substantielle Verwandlung eines lebenden Wesens in einen toten Körper bedeutet. 19 Daß nach der Zellteilung der Amöbe a kein totes Ding existiert und wir darum nicht sagen mögen, daß a gestorben ist, darf einen indes nicht zu der Annahme verleiten, daß das Leben der Amöbe a gar nicht aufgehört habe. Denn dies käme der Behauptung gleich, daß das Leben von a sowohl mit dem Leben der Tochterzelle b als auch mit dem der Tochterzelle c identisch sei - und das ist Unsinn. Diese Verwirrung läßt sich leicht auflösen, indem man zwischen type und token unterscheidet: Wenn man - wie Wilson — akzeptiert, daß es sich bei der Teilung der Amöbe a um einen Akt der Fortpflanzung handelt, dann muß man auch akzeptieren, daß a mit der Teilung aufgehört hat zu existieren. 20 Das 19
20
Daß der Tod scheinbar bloß schlicht als das Ende des Lebens definiert ist, während er dabei jedoch implizit als Bezeichnung für diese Verwandlung verstanden wird — diese Konstellation hat viele dazu verführt, von der „potentiellen Unsterblichkeit" der Einzeller zu sprechen. (Nur „potentiell", weil Einzeller natürlich auch getötet werden können.) Ich halte diese Annahme für verwirrt, da sie ignoriert, daß das Individuum a mit der Teilung aufgehört hat zu existieren. Aus der Tatsache, daß es danach nichts gibt, daß sich als toter Körper bezeichnen ließe, kann man nicht folgern, daß a noch existierte. Das aus Sicht des Paradigmas höherer Tiere Ungewöhnliche an Einzellern ist, daß in ihrem Falle der Akt der Fortpflanzung und das Ende der Existenz des sich fortpflanzenden Individuums zusammenfallen. Dies ist bei Vielzellern grundsätzlich nicht der Fall. Zu oft wird dagegen die ungeschlechtliche Fortpflanzung von Einzellern durch Zellteilung als bloßes Wachstum eines Klons genetisch gleicher Zellen beschrieben. (Wilson [1999, 64] etwa bezeichnet solch einen Klon als ein „genetisches Individuum".) Dies ist jedoch verwirrt: Ein solcher Klon frei beweglicher Einzeller wird m.E. zu Unrecht als ein Individuum aufgefaßt, welches wachsen könnte. Er stellt vielmehr ein Aggregat dar, dessen Elemente genetisch gleiche Zellen
210
Κ Zur Persistenz und Natur von Lebewesen
heißt aber nichts anderes, als daß die Episode, die das Leben von a war, beendet ist. So wie durch die Teilung von a zwei neue Individuen vom gleichen Typ (von derselben Art) wie a entstanden sind, so haben mit dem Leben von b und dem Leben von c zwei neue Episoden vom gleichen Typ begonnen wie der, die das Leben von a war. 21 Auf diese Weise reduziert sich die hypostasierende Rede vom kontinuierlichen „Lebensstrom" 22 auf die Tatsache, daß alle Lebewesen von Lebewesen abstammen. Grundsätzlich besitzt jedes heute lebende Lebewesen einen Stammbaum, der bis zu den ersten auf der Erde existierenden Lebewesen zurückreicht. Die sogenannte „Kontinuität des Lebens" ist allein als metonymischer Ausdruck für die Tatsache verständlich, daß alle Lebewesen, die je auf der Erde gelebt haben und die heute auf ihr leben, über einen einzigen, weitverzweigten, bis auf 3,5 Milliarden Jahre vor unserer Zeit zurückreichenden Stammbaum miteinander verwandt sind — kurz: für die Tatsache, daß Lebewesen nur aus Lebewesen entstehen.
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sind. (Zum Unterschied von Aggregaten und Individuen im ontologisch bedeutsamen Sinne, vgl. III.2, S. 119-124, sowie IV.l u. IV.2.1.1) Dasselbe gilt von einem Klon genetisch gleicher vielzelliger Lebewesen, z.B. einer Anzahl auf ungeschlechtlichem Wege durch Bildung von Ausläufern entstandenen Erdbeerpflanzen. Daß wir den Begriff des Aggregats haben, zeigt, daß nicht jede theoretisch relevante Einheit („unit") als ein Individuum begriffen werden muß, wie Wilson (1999) anzunehmen scheint. Zur Problematik der Unterscheidung von Wachstum und ungeschlechtlicher Fortpflanzung, vgl. Wilson 1999, 23-27 u. 64-66. Im Fall der Embryonalentwicklung vielzelliger Lebewesen wird die Zellteilung dagegen (in der Regel) grundsätzlich anders beurteilt, nämlich als das Wachstum eines Individuums. In diesem Fall nehmen wir in der Tat an, daß das vormals einzellige Individuum a auch nach der Teilung noch lebt. D.h., dieser Fall wird so aufgefaßt, daß ein bestimmtes Wesen, a, zu ti von einer bestimmten Zelle gebildet wird. Dieses Wesen überdauert die Teilung dieser Zelle, die damit aufhört zu existieren, und besteht zu ta aus den beiden Tochterzellen dieser Zelle. Es ist mit der Teilung der ursprünglichen Zelle vom Einzell- ins Zweizellstadium (der Entwicklung) übergegangen. Das heißt, in diesem Fall wird der Term .Individuum a' von Anfang an nicht so begriffen, daß er auf die Zelle referiert, die zu ti existiert, sondern so, daß er auf ein auf andere Weise sortal bestimmtes Individuum referiert, - z.B. eines der Art Hund - , welches als einzelliges Individuum zu existieren beginnt. Wenn auch die Zelle, die zu ti existierte, nach der Teilung, zu t2, nicht mehr existiert, so existiert doch das Individuum der Art Hund - nun im Zweizellenstadium - weiter und kann weiter wachsen. Vgl. Bergson (1907) 1912, 33.
V. 1 Zum Begriff des Lebens
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1.4 Leben als der Zustand der Aktuaüsiertheit der Lebensfähigkeit Ich hatte oben (s. S. 205) gegen van Inwagen gesagt, daß der Begriff des Lebens, wenn damit etwas anderes gemeint ist als die Lebensgeschichte eines Lebewesens, nicht der eines Ereignisses, sondern der einer Aktivität ist: Leben ist die Lebewesen eigentümliche Art von Aktivität. Was bedeutet es zu sagen, daß Leben eine Aktivität ist? Ich gebrauche „Aktivität" hier als die Übersetzung des aristotelischen Begriffs der energeia. Sagt man in diesem Sinne, daß etwas eine Aktivität ist, so schillert dies. Es gibt zwei Interpretationen, die beide legitime Lesarten der aristotelischen Bestimmung des Lebens als einer energeia23 sind: (I) Man kann die Aussage so verstehen, daß Leben Aktivsein oder stärker noch Handeln heißt. Wenn Leben Tätigsein heißt, dann muß zur Explikation des Begriffs angegeben werden, welches die charakteristischen Tätigkeiten lebender Wesen sind. Dem entspricht der Begriff eines Lebewesens als eines lebensfähigen Kontinuanten mit charakteristischen, es als ein Lebewesen auszeichnenden Vermögen. (II) Zum andern kann man die Aussage, daß Leben eine Aktivität ist, jedoch auch als die schwächere Aussage verstehen, daß Leben bloß „Tätigkeit" im Sinne eines „Aktivzustands" oder „Aktualisiertheitszustands" ist; genauer, daß Leben hiermit als die aktuelle Manifestation der Lebensfähigkeit eines Individuums bestimmt wird. Zu sagen, daß etwas lebt, heißt danach, daß es am 'Leben oder lebendig ist. Es gilt dann zu sagen, vermöge wessen etwas leben fähig ist: Wodurch gehört ein Kontinuant zur Kategorie der lebensfähigen? Was unterscheidet die (Körper der) lebensfähigen von den leblosen Kontinuanten? Und als zweites gilt es dann zu sagen, was es heißt, „am Leben" oder lebendig zu sein; d.h. vermöge wessen ein lebensfähiges Individuum aktuell am Leben ist. Hier muß die Frage beantwortet werden, wodurch das Am-Leben-Sein eines lebensfähigen Kontinuanten gekennzeichnet ist, wodurch dies sich von der Persistenz lebloser Kontinuanten unterscheidet.
23
S. Aristoteles, Met. IX, 6, 1048b 27 f.
212
]/ Zur Persistenz und Natur von Lebewesen
Ich will in diesem Abschnitt zunächst den zweiten, neutraleren Sinn verfolgen, wonach Aristoteles mit der Kennzeichnung von Leben als einer energeia einen ontologischen KlassifikationsVorschlag macht, d.h. die Subkategorie von Vorkommnissen angibt, zu der die Manifestation der Lebensfähigkeit, das Am-Leben-Sein eines Kontinuanten zu rechnen ist. Die Bestimmung von Leben als energeia der Lebensfähigkeit ist dabei als erstes im Kontext seiner Unterscheidung von dynamis und energeia zu verstehen. Allgemein begreift Aristoteles Vorkommnisse — mögen dies Handlungen oder Prozesse, Ereignisse, Zustände, Aktivitäten sein - als Aktualisierungen bestimmter Fähigkeiten oder, neutraler ausgedrückt, Dispositionen einzelner Dinge oder Wesen (Substanzen). Eine konkrete Aktivität oder eine konkrete Veränderung muß danach stets als Aktualisierung eines bestimmten Vermögens analysiert werden. Andererseits ist ein Vermögen nichts anderes als das Vermögen einer bestimmten Art von Aktivität oder ψ (dem Durchleiden oder Bewirken) einer bestimmten Art von Veränderung. Sowohl hinsichtlich der begrifflichen Bestimmung von Vermögen als auch hinsichtlich der Frage, welche Vermögen eine bestimmte Art von Wesen besitzt, haben daher deren aktuale Aktivitäten bzw. die sich aktual an ihnen abspielenden Veränderungen Priorität. 24 Einem Wesen, das φ-t, läßt sich auch die Disposition zu φ-en zusprechen. Diese läßt sich ihm auch in dem Zeitraum zuschreiben, in dem es sie nicht manifestiert. Von einem Wesen, das eine bestimmte Disposition hat, diese aber gerade nicht aktualisiert, sagt Aristoteles, daß es (in dieser Hinsicht) ruht. 25 In der Unterscheidung von dynamis und energeia wird also der bloße Besitz der tatsächlichen Manifestation eines Vermögens gegenübergestellt. Im Kontext dieses Gegensatzes wird mit der Charakterisierung des Am-Leben-Seins als einer energeia daher nur gesagt, daß ein Wesen, das am Leben ist, seine Lebensfähigkeit aktuell manifestiert.
24 25
Vgl. Met. IX, 8, 1049b 12-17; De An. II, 4, 415a 18-20. Vgl. Phjs. IV, 12, 221b 7-13, insbes. 12 f. über das Vermögen zur Fortbewegung: Ruhen tut ein Wesen, was „von Natur aus zwar zur Bewegung ausgestattet" ist, doch „(gegenwärtig) einen Zugang zur Bewegung nicht hat". S. a. ebd., III, 3, 202a 4 f.
V. 1 Zum Begriff des Löbens
213
Indes ist dies nicht das einzige, was die Kennzeichnung von Leben als einer energeia beinhaltet. Aristoteles unterscheidet in der Kategorie der Vorkommnisse zwischen kineseis und energeiai.2b In dieser Unterscheidung ist mit „kinesis" ein Prozeß27 oder eine Veränderung und mit „energeia" eine Aktivität und/oder ein Zustand (der fortwährenden Aktualisiertheit eines Vermögens) gemeint. Auch im Kontext dieser Unterscheidung führt er Leben auf der Seite der energeiai auf.28 Danach stellt Am-Leben-Sein einen Zustand oder eine Aktivität eines Wesens dar, nicht jedoch einen Prozeß oder ein Ereignis. Mit der ersten Unterscheidung (von dynamis und energeia) steht dieser Gegensatz insofern in Einklang, als er sich an zwei verschiedenen Weisen festmacht, in denen Vermögen sich ausprägen·. In einem Fall äußert sich die Aktualisierung eines Vermögens darin, daß ein bestimmter Prozeß bzw. eine bestimmte (kontinuierliche) Veränderung stattfindet. Im anderen Fall dagegen besteht die Aktualisierung des Vermögens in der unmittelbaren Aufnahme und anschließenden bloßen Fortführung der betreffenden Tätigkeit. Im ersten Fall spricht Aristoteles davon, daß die Aktualisierung des Vermögens eine kinesis darstelle, im zweiten davon, daß sie die „energeia (hap/os)"29, d.h. in einem engeren Sinne von Aktualisierung' die Aktualisierung eines Vermögens sei. 26
27
28 29
S. Met. IX, 6, 1048b 18-36. Dort führt er die Unterscheidung allerdings mit Bezug auf Handlungen (praxeis) ein. In Bezug auf diese bildet diese Unterscheidung letztlich die Grundlage des Unterschieds von Praxis und Poiesis. Die häufig anzutreffende Übersetzung von ,kinesis' mit ,Bewegung' ist unglücklich, weil ,Bewegung' seit der Neuzeit nur noch in dem eingeschränkten Sinne von ForAewegung verwendet wird. Um die von Aristoteles intendierte Allgemeinheit des &»£r/r-Begriffs wiederzugeben, ist es angemessener, ihn mit Prozeß' oder ,Veränderung' zu übersetzen (s. dazu Röttgers 1983, 94). Fortbewegung ist danach lediglich eine besondere Art von Veränderung - wohl die für den Begriff von Prozessen als stetigen Veränderungen paradigmatische (vgl. zu diesem Prozeßbegriff S. 41). Wenn die Natur keine Sprünge macht, gilt allerdings auch, daß die Binnenstruktur von Veränderungen, die wir mit Ereigniswöxtem (wie z.B. .Explosion 1 ) bezeichnen, prozeßartig sein muß, was bei genügend hoher zeitlicher Auflösung der betreffenden Ereignisse zutage treten sollte. Mit anderen Worten: Was sich bei Anlegen eines groben Zeitmaßstabs wie ein Ereignis ausnimmt, nimmt sich bei Anlegen eines sehr feinen wie ein Prozeß aus. S. Met. IX, 6, 1048b 27 f. S. De An. III, 7, 431a 7.
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Κ Zur Persistenz und Natur von Lebewesen
Prozesse unterscheidet Aristoteles von Aktivitäten dadurch, daß ein Prozeß nur eine „unvollendete" bzw. „unvollkommene" Aktualisierung eines Vermögens darstelle, eine Aktivität jedoch eine (immer schon) „vollendete" bzw. „vollkommene". Dementsprechend ist ein Prozeß zwar „eine Art von Aktualisierung" (energeia tis) eines Vermögens - nämlich, so ist zu ergänzen, im Sinne des Gegensatzes von djnamis und energeia—, jedoch eine „unvollendete" (ateles).i0 Als Prüfverfahren dafür, ob das Verb in einer Aussage einen Prozeß/ eine Veränderung oder eine Aktivität/einen Zustand bezeichnet, gibt er einen grammatischen Test an:31 Verbprädikationen bezeichnen Prozesse, wenn gilt: Ist die Aussage „x hat ge-φ-ΐ" wahr, so ist per definitionem die Aussage „x φ-t" (bzw. „x ist dabei zu φ-en") falsch, und vice versa. Dagegen bezeichnet eine Verbprädikation eine energeia (haplös), d.h. eine Tätigkeit oder einen Zustand fortwährender Aktuaüsiertheit eines Vermögens, wenn man zur selben Zeit wahrheitsgemäß sagen kann: „x φ-t" und „x hat ge-φ-ΐ". 32 Wie lassen sich diese beiden Merkmale, daß Prozesse „unvollendete" Aktualisierungen von Vermögen darstellen, und daß es Prozeßprädikationen auszeichnet, daß man nicht zur selben Zeit sagen kann „x φ-t" und „x hat ge-φ-ΐ", verstehen und zusammen30
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S. De An. II, 5, 417a 16 f.; Phjs. III, 2, 201b 31-33. Genauso verwendet Aristoteles den Begriff der praxis in Met. IX, 6 in einem engeren und in einem weiten Sinne. In einem weiten Sinne bedeutet dieser Begriff schlicht ,Handlung'; andererseits ist eine praxis im engeren Sinne eine um ihrer selbst willen ausgeführte Handlung im Unterschied zu einer poiesis, einer um eines herbeizuführenden Ziels willen ausgeführten Handlung. Eine poiesis ist als Handlung erst dann abgeschlossen, wenn der Zweck erreicht ist, um dessentwillen sie unternommen wurde. Bei einer praxis ist der Zweck jedoch (immer schon) mit der Handlung selbst erreicht. Eine poiesis ist danach als Handlung noch unvollendet, solange sie noch ausgeführt wird. Eigentlich, so Aristoteles, ist sie daher keine Handlung - oder zumindest keine vollendete (ou teleia) (s. ebd., 1048b 21 f.). Genauer gesagt, müssen einzelne Verbprädikationen unterschieden werden, da viele Verben sich nicht eindeutig als Bezeichnungen für nur eine bestimmte Kategorie von Vorkommnissen einordnen lassen. ,Sterben' z.B. wird sowohl als Prozeßverb als auch als Ereignisverb verwendet; ,gehen' kann sowohl als Aktivitätsverb als auch als Prozeßverb (im Sinne von ,gehen von X nach Y1) verstanden werden; etc. Vgl. dazu Mourelatos 1978. Vgl. Met. XI, 6, 1048b 23-28. In der Literatur wird dieser Test als der „Präsens/Perfekt-Test" bezeichnet. Vgl. Furth 1988, 265-267; Liske 1991.
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Zum Begriff des Lebens
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bringen? Um zu sehen, was Prozesse von Aktivitäten unterscheidet, muß man genauer auf das Verhältnis von vollendeter Ausprägung des Vermögens und Abschluß des Geschehens eingehen. Nach dem aristotelischen Prozeßbegriff kennzeichnet es einen Prozeß, daß er seinen Abschluß in einem bestimmten Zielzustand itelos) findet, dessen Herbeiführung er dient. Neutraler ausgedrückt: Prozeßnamen und/oder -prädikationen sind erfolgsqualifizierte Beschreibungen von Veränderungen, die „involve a product, upshot or outcome".33 Solange der Zustand, der als dessen Ergebnis in den Prozeßnamen eingeht, nicht erreicht ist, ist der Prozeß nicht vollendet. Mit dem Erreichen dieses Zustandes ist der Prozeß hingegen auch zu Ende, abgeschlossen. Nehmen wir als Beispiel die Ausbildung von Organanlagen in der Entwicklung eines Säugetier-Embryos. Ein einzelnes Exemplar eines solchen Prozesses ist erst, aber auch genau dann abgeschlossen, wenn die Organanlagen des Embryos vollständig ausgebildet sind. Zuvor ist dieser Prozeß im Gange, jedoch noch nicht abgeschlossen. Faßt man nun in aristotelischer Manier diesen Prozeß als Aktualisierung eines Vermögens des Embryos auf, 33
Mourelatos 1978, 417. Er führt dieses Merkmal dort als Kriterium dafür auf, daß Handlungen zur Kategorie der „performances" gehören, zu der Kenny Vendlers Kategorien der Accomplishments und Achievements zusammenfaßt (s. ebd.). Vendler (1957) hatte vier Typen von Handlungsverben unterschieden: Achievement-, Accomplishment-, Activity- und State-Verben. Da sich Aristoteles' kinesis-Verben im Präsens/Perfekt-Test genauso verhalten wie Vendlers Accomplishment-^erben, denke ich, daß Pro^eßve.rben - die für bestimmte, zu einem bestimmten Ergebnis führende, in unterscheidbare Etappen gegliederte Procedere stehen — die generelle Kategorie von Verben bilden, die den Accomplishment-Verben im Handlungsbereich entspricht. (Zur Unterscheidung von Accomplishments von den anderen Typen von Vorkommnissen, vgl. Mourelatos 1978, 416 f.; sowie Liske 1991, 171, Fn. 14.) Die generellen Korrelate von Achievement-^erben, die ja ebenfalls erfolgsimplizierende Beschreibungen von Handlungen sind, stellen Ereignisverben dar. Dabei unterscheidet es m.E. Prozeßprädikadonen gegenüber Ereignisprädikationen, daß wir im ersten Fall das erfolgsimplizierende Prädikat auch dann zur Bezeichnung des Geschehens verwenden, wenn der Prozeß noch nicht vollendet ist und nie garantiert werden kann, daß er nicht vor seiner Vollendung abgebrochen und so gar nicht vollendet wird. Eine Abmagerungskur oder den Bau eines Hauses kann man unter- wie abbrechen. Dagegen läßt sich ein Ereignis wie beispielsweise eine Explosion nur dann als solches bezeichnen, wenn der „Erfolg" eingetreten ist - unvollendete oder abgebrochene Explosionen gibt es nicht.
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V Zur Persisting und Natur von Lebewesen
so ist dieses erst dann vollkommen ausgeprägt (aktualisiert), wenn die Organanlagen vollständig ausgebildet sind. Zuvor, wenn der Prozeß noch im Gange ist, ist es erst unvollkommen ausgeprägt; es nähert sich sukzessive seiner vollendeten Ausprägung. Vollendetheit der Ausprägung des Vermögens und Abschluß des Geschehens fallen damit zusammen: es ist logisch unmöglich, daß ein Prozeß fortdauert, wenn der Zustand, der als Ergebnis in den Prozeßnamen eingeht, erreicht worden ist. Daß Vollendung der Ausprägung des Vermögens und Abgeschlossenheit des Geschehens zusammenfallen, bzw. stärker noch: daß die Vollendung der Ausprägung des Vermögens die Abgeschlossenheit des Geschehens impliziert, kennzeichnet folglich Prozesse. Genau dies zeigt auch der Präsens/Perfekt-Test an: Die Aussagen „Der Embryo bildet die Organanlagen aus" oder „Der Embryo ist dabei, die Organanlagen auszubilden" und „Der Embryo hat die Organanlagen ausgebildet" können nicht gleichzeitig wahr sein. Mit dem Perfekt drücken wir die Vollendung und folglich die Abgeschlossenheit des Prozesses aus, und dies ist nicht kompatibel mit der gleichzeitigen Wahrheit der beiden anderen Aussagen. Es ist eine analytische Wahrheit, daß es nicht zum gleichen Zeitpunkt wahr sein kann, daß ein Prozeß im Gange ist und daß er vollendet und abgeschlossen ist, so daß klar ist, daß man immer nur entweder im Perfekt oder im Präsens auf ihn Bezug nehmen kann. Was besagt dieses Ergebnis aber für die Verb(prädikation)en, die eine Tätigkeit oder einen Zustand fortwährender Aktualisiertheit eines Vermögens bezeichnen? In deren Fall sollte ja gelten, daß man zur selben Zeit wahrheitsgemäß sagen kann: „x φ-t" und „x hat ge-