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German Pages [281] Year 2019
BIBLISCH-THEOLOGISCHE STUDIEN 183
Alexandra Grund-Wittenberg
Lebenswelt und Gemeinschaft Beiträge zur Anthropologie des Alten Testaments
Biblisch-Theologische Studien Herausgegeben von Jörg Frey, Friedhelm Hartenstein, Bernd Janowski und Matthias Konradt Band 183
Alexandra Grund-Wittenberg
Lebenswelt und Gemeinschaft Beiträge zur Anthropologie des Alten Testaments
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9120 ISBN 978-3-7887-3436-7
Vorwort
Dieser Aufsatzband versammelt Arbeiten zur Anthropologie des Alten Testaments, die an unterschiedlichen Stellen publiziert wurden, inhaltlich jedoch zusammengehören. Es vereint sie die Einsicht, dass die Menschen des alten Israel in elementarer Bezogenheit auf ihre natürliche, und zugleich kulturell geformte Lebenswelt und auf ihre Sozialität lebten. So wird vom Menschen im Alten Testament stets in seiner Beziehungshaftigkeit gesprochen – in seiner Relation zu Gott, zur menschlichen Gemeinschaft und zur mitgeschöpflichen Umwelt. Die Menschen des alten Israel waren somit nicht nur besonders gemeinschaftsbezogen, sondern auch elementar in ihre natürliche, gleichwohl kulturell geformte Umwelt, in ihre Lebenswelt eingebettet. Aus diesem Grund ist eine Anthropologie des Alten Testaments stets nicht nur als Sozial-, sondern auch als Kultur-Anthropologie zu betreiben. Diesen Zusammenhang sucht der einleitende Aufsatz Kulturanthropologie und Altes Testament deutlich zu machen. Er erläutert, dass der – zugegeben weitgespannte – Kulturbegriff beim Projekt einer „Kulturanthropologie des Alten Testaments“ neben der menschlichen Sozialität auch die zum Kulturland transformierte natürliche Lebenswelt sowie die kulturellen Symbolisierungen einer Gesellschaft zu umgreifen vermag. Die Beiträge des ersten Teils Lebenswelt – zur natürlichen und kulturellen Umwelt des Menschen verstehen unter ‚Lebenswelt‘ jene Um-Welt“, die Menschen als vorgegebene, ihnen widerfahrende und durch sie gestaltete Welt umgibt. Sie wird in einer jeweiligen Zeit und Kultur im
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Alltag als selbstverständlich aufgefasst und umfasst die natürliche und kulturell gestaltete Umwelt wie die materiellen und gesellschaftlichen Bedingungen und Strukturen, in denen die Menschen leben und in der ihre alltäglichen Lebenspraxen plausibel sind. Die Lebenswelt wird selbst auf unterschiedliche Weise wahrgenommen, symbolisiert und in Medien (Texte, Bilder usf.) dargestellt, die selbst wiederum Teil der Lebenswelt werden. Nach der Einschätzung der Kultur des alten Israel im Verhältnis zu neuzeitlichen Kulturen fragt der Beitrag: Rhythmus, Dauer, Epiphanie. Das alte Israel – eine Präsenzkultur?, der sich kritisch mit dem kulturwissenschaftlichen Gesamtentwurf des Literaturwissenschaftlers Hans Ulrich Gumbrecht auseinandersetzt, der zugleich aber den heuristischen Wert von Gumbrechts Beschreibung vorneuzeitlicher Präsenzkulturen für das Verständnis des alten Israel fruchtbar zu machen versucht, und zwar im Hinblick auf die Materialität der archäologisch zutage gebrachten Spuren des alten Israel als Zugang zu seiner Lebenswelt, auf die Körperbezogenheit der anthropologischen Grundbegriffe, auf das nicht von abstrakten Begriffen, sondern von anschaulichen Symbolen durchdrungene Denken sowie auf das nicht zuletzt durch wiederkehrende Feste, natürliche und symbolische Rhythmen geprägte Zeitverständnis. Den letztgenannten Merkmalen einer Präsenzkultur geht auch der Aufsatz „Solange die Erde steht ...“ Zur Erfahrung von Raum und Zeit im Alten Israel nach, den ich mit Bernd Janowski zusammen verfasst habe. Der gemeinsame Beitrag verdeutlicht, dass Raum und Zeit im alten Israel als zusammengehörig und Ordnung stiftend erfahren wurden. So gehörten etwa der jahreszeitliche Rhythmus mit seinem Wechsel von der Sommer- zur Winterweide und von der Saat zur Ernte untrennbar zusammen. Die soziale Zeit des täglichen Lebens war eingebettet in die bedeutungsgesättigten Vorstellungen von anfänglicher Schöpfung, Israelgeschichte und endzeitlicher Gerichts- und Heilszeit, ganz ähnlich wie die überschauba-
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ren Räume des Alltagslebens umgeben waren von den kosmischen Dimensionen der Höhe, Tiefe und der Peripherie. Die symbolische Ordnung von Raum und Zeit war vorgeprägt durch die sinnstiftenden Traditionen des alten Israel, die im Wesentlichen durch ihre Verschriftlichung auf Dauer ihre Wirkung entfalten konnten. Nach den institutionellen Orten dieses elementaren Überlieferungsprozesses in der Lebenswelt fragt der Aufsatz: Literalität und Institution. Auf der Suche nach lebensweltlichen Kontexten der Literaturwerdung im alten Israel. Er macht wahrscheinlich, dass diese wie in den Umweltkulturen am ehesten an Palast und Tempel zu suchen ist. Die Frage nach Schriftkultur und Literalität zielt auf die Einbettung der Literaturgeschichte in die Lebenswelt des alten Israel und auf eine realistische Einschätzung der kulturellen Entwicklung des alten Israel im Kontext der umliegenden, bereits jahrtausendealten (Hoch-)Kulturen. Die Aufsätze des zweiten Teils unter der Überschrift: Gemeinschaft – zur Konstitution von Sozialität im alten Israel gehen allesamt dem auf wechselseitige Beziehungen beruhenden Aufbau von menschlicher Gemeinschaft im alten Israel nach, und zwar im Einzelnen durch die Befähigung zur Scham, durch das soziale und kulturelle Gedächtnis, durch den Austausch von Gaben und durch gegenseitiges Handeln, das oft etwas verkürzt unter den Begriff der ‚Vergeltung‘ gebracht wird. Der Beitrag: „Und sie schämten sich nicht ..." (Gen 2,25). Zur alttestamentlichen Anthropologie der Scham im Spiegel von Gen 2-3 behandelt die elementare Bedeutung der Scham. Die nichtpriesterliche Paradieserzählung hält demnach die Einsicht bereit, dass die ambivalente Fähigkeit, sich mit den Augen eines anderen zu sehen, eine wesentliche Voraussetzung für menschliche Selbstreflexivität, für die Anerkennung seiner selbst und anderer als handlungsfähige Person und damit für grundlegende moralische Kompetenzen des Menschen ist. Der Aufsatz: „Des Gerechten gedenkt man zum Segen“ (Prov 10,7). Motive der Erinnerungsarbeit in Israel vom sozialen bis zum
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kulturellen Gedächtnis geht der Bedeutung des sozialen Gedächtnisses in Israel nach, das durch die Erinnerung der Gemeinschaft an lebensförderliche Handlungen für die Etablierung einer konnektiven Gerechtigkeit sorgt. Hiervon zu unterscheiden ist das kulturelle Gedächtnis, in dem, anschließend an Jan Assmann, rituelle Kohärenz (regelmäßige Wiederholung etwa von Festen) und textuelle Kohärenz (Vergegenwärtigung von Vergangenem durch Rezitation fundierender Texte) zusammenwirken, um die Identität einer Gesellschaft dauerhaft zu etablieren. Der Aufsatz Homo donans. Kulturanthropologische und exegetische Erkundungen zur Gabe im alten Israel bringt für das alte Israel Einsichten der Gabetheorie des französischen Ethnologen und Soziologen M. Mauss zur Geltung, wonach der Austausch von Gaben nicht nur materiell, sondern vor allem symbolisch von elementarer Bedeutung ist für die Etablierung und Aufrechterhaltung von Beziehungen vom zwischenmenschlichen bis in den transkulturellen Bereich. Der Beitrag: „... so sollst du geben Auge für Auge, Zahn für Zahn“. Vergeltung als Prinzip der Strafe im Alten Testament? tritt dem anscheinend unausrottbaren Verdacht entgegen, dass das sog. Vergeltungsdenken im Sinne einer negativen Reziprozität die Mentalität, das Ethos und das Recht des alten Israel bestimmte. Er macht deutlich, dass das Alte Testament in ethischen Texten durchgehend zum Verzicht auf Rache auffordert, dass die Talionsformel als ein Strafbemessungsprinzip zu verstehen ist und dass der Tun-Ergehens-Zusammenhang nicht durch ‚Vergeltung‘, sondern durch konnektive Gerechtigkeit zustande kommt. Die in diesem Band beschriebene Einbettung der Menschen des alten Israel in ihre durch Kultur geformte, aber nicht überformte natürliche Umwelt sowie ihr aktives Bemühen um dauerhaften gesellschaftlichen Zusammenhalt mag in vielerlei Hinsicht auch in der heutigen Zeit zur Besinnung Anlass geben, in einer Zeit, in der die fortschreitende Zerstörung der natürlichen Umwelt zum
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immer dringlicheren globalen Problem geworden ist und in der zahlreiche Gesellschaften auf die Zerreißprobe stellen. Den Professoren Dr. Bernd Janowski und Dr. Friedhelm Hartenstein danke ich herzlich für die bereitwillige Aufnahme dieses Bandes in die Reihe „Biblisch-theologische Studien”, Bernd Janowski zudem ganz besonders für die Erlaubnis zum Wiederabdruck des gemeinsamen Aufsatzes „Solange die Erde steht ...“ Zur Erfahrung von Raum und Zeit im Alten Israel. An der Erstellung der Druckvorlage hatte Herr Mag. theol. Patrick Fock einen ganz wesentlichen Anteil, an der verlegerischen Betreuung des Bandes Frau Dr. Elisabeth Hernitschek und Frau Miriam Espenhain; allen genannten möchte ich ebenfalls meinen Dank aussprechen. Marburg, am Erntedankfest 2019 Alexandra Grund-Wittenberg
Inhaltsverzeichnis
Vorwort ……………………………………………… V Zur Grundlegung Kulturanthropologie und Altes Testament. Stand und Perspektiven der Forschung ……….…………. 1 Lebenswelt. Zur natürlichen und kulturellen Umwelt des Menschen Rhythmus, Dauer, Epiphanie. Das alte Israel – eine Präsenzkultur? ………………….…………… 26 „Solange die Erde steht ...“ Zur Erfahrung von Raum und Zeit im Alten Israel …….……………... 45 Literalität und Institution. Auf der Suche nach lebensweltlichen Kontexten der Literaturwerdung im alten Israel …………….…………… 110 Gemeinschaft. Zur Konstitution von Sozialität im alten Israel „Und sie schämten sich nicht ...“ (Gen 2,25). Zur alttestamentlichen Anthropologie der Scham im Spiegel von Gen 2-3 …………………. 134 „Des Gerechten gedenkt man zum Segen“ (Prov 10,7). Motive der Erinnerungsarbeit in Israel vom sozialen bis zum kulturellen Gedächtnis ………………………….………........ 146
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„... so sollst du geben Auge für Auge, Zahn für Zahn“. Vergeltung als Prinzip der Strafe im Alten Testament? ……………………………. 174 Homo donans. Kulturanthropologische und exegetische Erkundungen zur Gabe im alten Israel ………………………………….... 225 Bibelstellenregister …………………………………. 263 Nachweis der Erstveröffentlichungen ………............ 268
Kulturanthropologie und Altes Testament. Stand und Perspektiven der Forschung
1 Die Hinwendung zur Anthropologie in der neueren alttestamentlichen Wissenschaft In vielen der Theologie benachbarten Wissenschaften ist in den vergangenen Jahren eine Hinwendung zu anthropologischen Forschungen zu verzeichnen. Sie wurde bereits mit dem Schlagwort „anthropological turn“1 versehen und hat eine Reihe von „Bindestrich-Anthropologien“2 (Bild-, Medien-, kybernetische, literarische Anthropologie etc.) hervorgebracht. Impulse für diese neue Frage nach dem Menschen gingen, wie vielfach betont wird, von bioethischen Diskussionen um die neuen medizinischen Möglichkeiten am Anfang und am Ende menschlichen Lebens aus, aber auch von der großen öffentlichen Wahrnehmung der Forschung in den sog. Lebenswissenschaften, etwa der Neurophysiologie, Evolutionsbiologie, Genforschung u.a.. Von der philosophischen Anthropologie wird das Gespräch dabei zunehmend nicht nur mit biologischer – wie bereits seit Plessner und Gehlen –, sondern gerade auch mit kulturwissenschaftlich ausgerichteter Anthropologie gesucht.3 Die kulturwissenschaftliche Hinwendung zur Anthropologie reagiert dabei nicht nur auf den 1
Vgl. P. Burke, Was ist Kulturgeschichte? Bonn 2005, 47ff. J. Tanner, Historische Anthropologie zur Einführung, Hamburg 2004, 18f. 3 Vgl. etwa den Ansatz von E. Bohlken / Chr. Thies (Hg.), Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik, Stuttgart u.a. 2009 und G. Hartung, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2008. 2
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Orientierungsbedarf angesichts der u.a. durch Evolutionsbiologie, Psychoanalyse und Neurowissenschaften fraglich gewordenen Sonderstellung des Menschen, sondern sie problematisiert auch die Sonderstellung des westlicheuropäischen, modernen Menschen als Beurteilungsmaßstab vormoderner und nicht-westlicher menschlicher Kulturen und wendet sich von essentialistischen Wesensbestimmungen „des Menschen“ ab. Auf Seiten der theologischen Anthropologie entspricht dem eine Abkehr von der Formulierung normativer christlicher Menschenbilder. Vielmehr wird hier nun die Vielfalt der Rede vom Menschen in den biblischen Überlieferungen betont, zugleich aber auch, dass in ihnen Menschen durchgehend in Relation zu Gott wahrgenommen werden, ja dass selbst die Frage nach dem Menschen an Gott adressiert ist (Ps 8,5-9).4 In diesem Kontext wurde auch in der deutschsprachigen alttestamentlichen Wissenschaft der letzten Jahre die Anthropologie als zentraler Forschungsbereich wieder-, in ihrer Tragweite und in ihrem integrativen Potential sogar gänzlich neu, entdeckt. Wichtige Impulse zu dieser Entdeckung gingen dabei von den Monographien von S. Schroer und Th. Staubli zur Körpersymbolik der Bibel5 und von B. Janowski zur Anthropologie der Psalmen6 aus. Vor allem die seit 2009 in kurzer Abfolge erschienenen Sammelbände zur alttestamentlichen Anthropologie7 4
Vgl. etwa W. Schoberth, Einführung in die theologische Anthropologie, Darmstadt 2006, 9–35. 5 S. Schroer / Th. Staubli, Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt 2 2005 [2000]. 6 B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 42013 [2003]. 7 B. Janowski / K. Liess (Hg.), Der Mensch im alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie und ihren altorientalischen Kontexten (HBS 59), Freiburg 2009; A. Wagner (Hg.), Anthropologische Aufbrüche. Alttestamentliche und interdisziplinäre Zugänge zur historischen Anthropologie (FRLANT 232), Göttingen 2009; Chr. Frevel (Hg.), Biblische Anthropologie. Neue Einsichten aus dem Alten Testament (QD 237), Freiburg / Basel / Wien 2010; M. Dietrich u.a. (Hg.), Religion und
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dokumentieren diese Entwicklung. Die neueren Einsichten und Ergebnisse für den Bereich des Alten Testaments wurden bereits, auch an diesem Ort,8 in Forschungsübersichten zusammengefasst, und es wurden Perspektiven für die weitere Forschung aufgezeigt.9 Auch der Bereich Menschenbild (MARG 20), Münster 2010; B. Janowski (Hg.), Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte, Berlin 2012; A. Berlejung / J. Dietrich / J. F. Quack (Hg.), Menschenbilder und Körperkonzepte im Alten Testament, in Ägypten und dem Alten Orient, Tübingen 2012; J. van Oorschot / M. Iff (Hg.), Der Mensch als Thema theologischer Anthropologie. Beiträge in interdisziplinärer Perspektive, Neukirchen-Vluyn 2010; M. Hilgert / M. Wink (Hg.), Menschenbilder. Darstellungen des Humanen in der Wissenschaft (Heidelberger Jahrbücher 54), Heidelberg u.a. 2010; S. Schroer / Th. Staubli, Menschenbilder der Bibel, Ostfildern u.a. 2014; J. van Oorschot / A. Wagner (Hg.), Anthropologie(n) des Alten Testaments (VWGTh 42), Leipzig 2015. 8 B. Janowski, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, ThLZ 139 (2014) 535–554. 9 Chr. Frevel, Menschenskinder!? Einige Anmerkungen zum Stand der Forschung zur alttestamentlichen Anthropologie – zugleich eine Einführung in den vorliegenden Band, in: ders., Biblische Anthropologie (Anm. 7), 8–28: 11–17; J. van Oorschot, Zur Grundlegung alttestamentlicher Anthropologie – Orientierung und Zwischenruf, in: ders. / M. Iff (Hg.), Der Mensch als Thema theologischer Anthropologie. Beiträge in interdisziplinärer Perspektive, Neukirchen-Vluyn 2010, 1–41: 13–22; A. Schüle, Anthropologie des Alten Testaments, ThR 76 (2011) 399–414 sowie der eher programmatische Beitrag von R. Schmitt, Perspektiven einer Anthropologie des Alten Testaments, in: M. Dietrich u.a. (Hg.), Religion und Menschenbild (MARG 20), Münster 2010, 177–215. Vgl. ferner die Rezensionen der in Anm. 7 genannten Sammelbände, wie etwa Th. Hieke, Rezension zu: Wagner, Andreas (Hg.), Anthropologische Aufbrüche. Alttestamentliche und interdisziplinäre Zugänge zur historischen Anthropologie in: Biblische Notizen 146 (2010) 144–146; K. Liess, Rezension zu Wagner, Andreas [Hrsg.] Anthropologische Aufbrüche. Alttestamentliche und interdisziplinäre Zugänge zur historischen Anthropologie, ThLZ 138 (2013), 25–28; B. Ego, Rezension zu A. Berlejung, J. Dietrich und J. F. Quack (Hg.), „Menschenbilder und Körperkonzepte im Alten Testament, in Ägypten und dem Alten Orient (Tübingen 2012), ThLZ 139 (2014) 849–852.
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Kulturanthropologie und Altes Testament
„Kulturwissenschaften und Altes Testament“ wurde vor wenigen Jahren schon ausgelotet.10 In diesem Beitrag wird nun danach gefragt, welchen Ertrag die Einbeziehung spezifisch kulturanthropologischer Einsichten, Themen und Methoden in die alttestamentliche Forschung hat und haben kann. Im Folgenden sollen daher zunächst solche neueren Arbeiten in den Blick kommen, die auf kultur- und sozialanthropologische Forschungen Bezug nehmen bzw. sich ausdrücklich solchen Studien zuordnen (2.). Da hierbei aber bislang vielfach nur mit einem zumeist impliziten Vorverständnis von „Kulturanthropologie“ operiert wird, werden in einem weiteren Schritt Geschichte und Aufgabenbereich der Kulturanthropologie näher bestimmt (3.), um schließlich Perspektiven einer von Einsichten der Kulturanthropologie inspirierten alttestamentlichen Wissenschaft aufzuzeigen (4.). 2 Kulturanthropologische Forschungen zum Alten Testament Der mögliche Erkenntnisgewinn eines kulturanthropologischen Blickwinkels wurde bereits in früheren Epochen alttestamentlicher Forschung erkannt, und so wurden bereits in der Vergangenheit monographische Studien zur Kultur- bzw. Sozialanthropologie des Alten Testaments vorgelegt. Insbesondere die Pionierarbeit von J. Pedersen11 sowie die Entwürfe von J. W. Rogerson12 oder Th. 10
F. Hartenstein, Kulturwissenschaften und Altes Testament. Themen und Perspektiven, VuF 54 (2009) 31–42. Die dort verhandelten Themenkreise „Körpervorstellungen als leiblich– soziale Symbolik“, „visuelle Repräsentation“ und „biblisches Weltbild“ werden hier nicht erneut eingehend behandelt. 11 J. Pedersen, Israel: Its Life and Culture, 4 Bde., London 1926 / 1940 (dänisch 1920 / 1934). 12 J. W. Rogerson, Anthropology and the Old Testament (Growing points in theology), Oxford 1978. Sein Entwurf ist „kulturanthropologisch“, insofern er nicht nur nicht nach „Wesen und Bestimmung“ des Menschen fragt, auch nicht nach kulturell verschiedenen Menschenbildern, sondern „a study of man’s social
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W. Overholt13 kann man hierzu zählen. Unter den zahlreichen Neuerscheinungen der letzten Jahre zur Anthropologie des Alten Testaments formuliert besonders der von A. Berlejung, J. Dietrich und J. F. Quack herausgegebene Sammelband „Menschenbilder und Körperkonzepte im Alten Testament, in Ägypten und dem Alten Orient“ das Vorhaben, den Weg für kulturanthropologische Zugänge zum alten Israel und dem alten Orient zu ebnen.14 Als primäre Forschungsfelder verstehen die Herausgebenden Menschenbilder, Symbolisierungen des menschlichen Körpers, das Verhältnis des Individuums zur Gemeinschaft und die Bedeutung symbolischer Handlungen. Die Beiträge des Bandes sorgen durch die Einbeziehung von Forschungen zur sog. Umwelt des alten Israel für kulturvergleichende Perspektiven und finden in der Tat ihre Schwerpunkte in Symbolisierungen des Körpers und der Sozialbeziehungen. Auf den ersten Blick bringt man dieses Themenspektrum jedoch eher mit der – für ausgewiesen historische Zugriffe auf antike Kulturen näher liegenden – Historischen Anthropologie in Verbindung, statt mit der vorwiegend empirisch und in der Feldforschung arbeitenden Kulturanthropologie. Warum wird für diesen Forschungsbereich dennoch die Bezeichnung „kulturanthropologisch“ gewählt? Vermutlich, weil sich ein historischer Zugriff auf die antike Welt von selbst versteht, nicht aber die Fokussierung auf den Menschen als kulturelles Wesen. Dieses Interesse wiederum erklärt sich dabei aus dem Desiderat, eine alle Facetten menschlichen Lebens umfassende, gesättigte und dadurch sowohl für andere Fächer als auch für Gegenwartsfragen anschlussfähige anthropologische Forschung zu verfolgen, die über die konventionellere Frage organization, customs, folklore, and beliefs, together with theoretical generalizations or assumptions about these things“ (ebd. 8f) anstrebt. 13 Th. W. Overholt, Cultural anthropology and the Old Testament, Minneapolis 1996. 14 A. Berlejung / J. Dietrich / J. F. Quack, Vorwort, in: dies., Menschenbilder (s. Anm. 7), Vff.
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nach der Bedeutung reflexiver Aussagen wie Gen 1,26-28 oder Ps 8,4-9 hinausgeht. In einigen konkreten Themenfeldern hat sich die jüngere alttestamentliche Forschung bereits auf genuin „kulturanthropologische“ Forschungen bezogen. Das Beispiel der Diskussionen zu „Honor and shame“ sowie zu Gabe und Opfer kann verdeutlichen, welchen Erkenntnisgewinn ihre Einbeziehung eröffnet und welche Schwierigkeiten sie zugleich bereiten kann. 2.1
„Honor and shame“
Die jüngere Frage nach der Bedeutung von „Ehre und Scham“ – eine problematische, aber eingeführte Übersetzung des amerikanischen Begriffspaars „honor and shame“ – im alten Israel und nach dessen etwaiger Zugehörigkeit zu den sog. „Schamkulturen“ ist kulturanthropologisch inspiriert. Die Unterscheidung zwischen fernöstlichen und mediterranen Schamkulturen, in denen Schamgefühle als normatives Regulativ des Verhaltens dominieren, und westlichen Schuldkulturen, in denen weitgehend Schuldgefühle diese Funktion übernehmen, geht zurück auf grundlegende Arbeiten der Pionierinnen der Kulturanthropologie Margaret Mead und Ruth Benedict.15 Sie wurde vom Gräzisten Eric Dodds16 für die frühe griechische Kultur und von Kulturanthropologen um John Peristiany17 für mediterrane Kulturen bis heute reklamiert, und der Neutestamentler Bruce Malina18 u.a. brachten die 15
M. Mead, Interpretive Statement, in: dies., Cooperation and Competition among Primitive Peoples, New York 1937 (Nachdr. 2006), 493–505; R. Benedict, Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur, Frankfurt a. M. 2006 (engl. Orig. 1946). 16 E. R. Dodds, Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970 (engl. Orig. 1951). 17 J. G. Peristiany / J. Pitt–Rivers (Hg.), Honour and Shame. The Values of Mediterranean Society, Chicago 1974; dies (Hg.), Honor and Grace in Anthropology, Cambridge 1992. 18 B. J. Malina, Die Welt des Neuen Testaments. Kulturanthropologische Einsichten, Stuttgart / Berlin / Köln 1993 (engl. Orig.: The New Testament World 1983).
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Ergebnisse für das Neue Testament und seine Umwelt in Anschlag. In der englischsprachigen Bibelwissenschaft wurde der Themenbereich schon vor zwei Dekaden aufgegriffen,19 allerdings die vermeintlichen Parameter einer Schamkultur nicht selten pauschal als hermeneutische Schlüssel zum Verständnis des alten Israel eingesetzt.20 Aber auch von kulturanthropologischer Seite wird die Gegenüberstellung von Scham- und Schuldkulturen bereits seit einiger Zeit als homogenisierend, archaisierend und exotisierend kritisiert.21 Beiträge aus dem deutschsprachigen Raum mahnen daher vielfach zur Vorsicht, betonen aber den hohen heuristischen Wert der kulturanthropologischen Impulse.22 Die Frage, welchen Stellenwert Ehre 19
Die alttestamentlichen Beiträge stammen vorwiegend aus dem englischsprachigen Bereich, darunter an erster Stelle die Beiträge des Themenheftes Honor and Shame, Semeia 68 (1994). Für weitere Literatur s. A. Grund, Art. Scham / Schande, Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet / AT, letzte Änderung Februar 2015, permanenter Link: www.bibelwissenschaft.de/ stichwort/26305/. 20 Vgl. etwa J. Plevnik, Art. Honor / Shame, in: J. J. Pilch / B. J. Malina (Hg.), Handbook of Biblical Social Values, Peabody/MA 2 1998, 106–115: 106 u.a. 21 Vgl. C. Giordano, Der Ehrkomplex im Mittelmeerraum: sozialanthropologische Konstruktion oder Grundstruktur mediterraner Lebensformen? in: L. Vogt / A. Zingerle (Hg.), Ehre. Archaische Momente in der Moderne, Frankfurt a. M. 1994, 172–192: 176ff; M. Herzfeld, Honour and Shame: Problems in the Comparative Analysis of Moral Systems, Man.NS 15/2 (1980) 339– 351; Th. Hauschild, Ritual und Gewalt: Ethnologische Studien an europäischen und mediterranen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 2008, 185–204. 22 J. Dietrich, Über Ehre und Ehrgefühl im Alten Testament, in: Janowski / Liess, Mensch (Anm. 7), 419–452: 420 mit Anm. 4; A. Grund, „Und sie schämten sich nicht ...“ (Gen 2,25). Zur alttestamentlichen Anthropologie der Scham im Spiegel von Gen 2–3, in: Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Ps 8,5), FS B. Janowski, hg. v. M. Bauks / K. Liess / P. Riede, Neukirchen-Vluyn 2008, 114–122: 115f; dies., „Schmähungen der dich Schmähenden sind auf mich gefallen“. Kulturanthropologische und sozialpsychologische Aspekte von Ehre und Scham in Ps 69, in: EvTh 71 (2012) 174–193: 176–179; K. Nojima, Ehre und Schande in Kulturanthropologie und biblischer Theologie, Wuppertal / Wien 2011, 141–144 u. passim.
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und Scham bzw. gewährte oder verweigerte Anerkennung für die Menschen des alten Israel im interkulturellen Vergleich hatte, ist keineswegs leicht zu beantworten, zumal eine „jede Kultur [...] und Gesellschaft unter dem Deckmantel der Ehre diejenigen [...] Ansichten, Normen und Verhaltensmuster ihrer Mitglieder [kontrolliert], die sie zu ihrer eigenen Stabilität benötigt.“23 Dass sich Habitus und Denkmuster der Menschen des alten Israel von denjenigen moderner Gesellschaften unterscheiden, wird nicht überraschen. Umso mehr müsste ein interkultureller Vergleich zwischen Israel und seinen Nachbarkulturen weitere Aufschlüsse geben, dabei aber berücksichtigen, dass bereits innerhalb der alttestamentlichen Überlieferungen und erst recht in denen der Umweltkulturen unterschiedlich beurteilt wird, was als ehrenvoll und was als beschämend gilt. Hier bedarf es weiterer Studien, die sowohl Einsichten der gegenwärtigen Sozialpsychologie als auch Forschungen zu den Umweltkulturen berücksichtigen. 2.2 Gabe und Opfer Die auf den Pionier der französischen Ethnologie Marcel Mauss zurückgehende Gabetheorie ist in den letzten Jahren weit darüber hinaus diskutiert und auch für alttestamentliche Themenfelder in Anschlag gebracht worden. Mauss hatte in seinem „Essai sur le don“ in einer kulturübergreifenden Zusammenschau traditionaler und antiker Gesellschaften herausgearbeitet, dass dort „Austausch und Verträge in Form von Geschenken statt[finden], die theoretisch freiwillig sind, in Wirklichkeit jedoch immer gegeben und erwidert werden müssen“24. Der Austausch von Gaben berührt alle Dimensionen des kulturellen Zusammenlebens; im Gegensatz zum ökonomischen Warentausch oder Kauf symbolisiert er jedoch vor allem 23
Dietrich, Ehre (Anm. 22), 421f. M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1968 [frz.: Essai sur le don, 1 1925], 17. 24
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wechselseitige Anerkennung der Gabepartner und dient dazu, Fremdheit oder Feindschaft zu überwinden und soziale Netze zu knüpfen. Das Eintreten in Gabezusammenhänge bedeutet Aufnahme, die Verweigerung signalisiert Abbruch freundschaftlicher Beziehungen. Angesichts ihres verpflichtenden Charakters enthält eine Gabe aber stets den Aspekt der Herausforderung oder gar der Erniedrigung, so dass Gabebeziehungen horizontale bzw. kooperative und vertikale bzw. agonistische Formen annehmen können, die wie der rituelle Gabentausch des Potlatch vornehmlich auf Statuszugewinn abzielen. Auch in der Theologie bzw. in den Bibelwissenschaften wurde ‚die Gabe‘ in den letzten Jahren entdeckt.25 So konnte für Gelübde26 sowie den Zehnten27 ein gabetheoretischer Deutungsrahmen fruchtbar gemacht werden. Die Bedeutung von Gaben für die Etablierung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen haben G. Stansell und A. Grund in den Blick genommen. Stansell untersucht u.a. die oft schillernde Bedeutung von Gaben in der Josephserzählung und in den Erzelternerzählungen.28 A. Grund fragt nach Bedeutung und Funktion von Gaben zur Besänftigung in konfliktträchtigen Situationen, bei der Etablierung von Verwandtschaftsbeziehungen im Zusammenhang von 25
V. Hoffmann (Hg.), Die Gabe. Ein „Urwort“ der Theologie, Frankfurt a.M. 2009; dies., Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes– und Nächstenliebe, Freiburg 2013; Arbeitsgemeinschaft Religionsphilosophie Dresden e.V. (Hg.), Journal für Religionsphilosophie, Nr. 2 (2013); B. Hamm / B. Janowski, Geben und Nehmen (JBTh 27), NeukirchenVluyn 2013; A. Grund (Hg.), Opfer, Geschenke, Almosen. „Die Gabe“ in Religion und Gesellschaft, Stuttgart 2015. 26 A. K. Gudme, Barter Deal or Friend-Making Gift? A Reconsideration of the Conditional Vow in the Hebrew Bible, in: M. L. Satlow, The Gift in Antiquity, Malden 2013, 189–201. 27 M. Herman, Tithe as Gift. The Institution in the Pentateuch and in Light of Mauss’s Prestation Theory, San Francisco 1991; R. Kessler, Art. Zehnter, Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet / AT, letzte Änderung März 2009, permanenter link: www.bibelwissenschaft.de/stichwort/35262/. 28 G. Stansell, The Gift in Ancient Israel, Semeia 87 (1999) 65– 90.
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Heirat sowie von Huldigungs- und Loyalitätsgeschenken.29 Zwar können für den Bereich des alten Israel keine aus traditionalen Kulturen bekannten zeremoniellen Gabe-Phänomene wie der Potlatch oder der Kula-Ringtausch festgestellt werden, doch erschließt etwa die Einsicht in die symbolische Bedeutung des Gabentauschs als Anerkennungsgeschehen die Beziehungsdimension von Gabeprozessen auch im alten Israel. Auch in der schwierigen Frage nach der Bedeutung des Opfers wurden kulturanthropologische Einsichten mit großem Gewinn in alttestamentliche Problemstellungen eingebracht. Chr. Eberhard30 hat einen Überblick über kulturanthropologisch inspirierte Opfertheorien gegeben, namentlich diejenigen von H. Hubert und M. Mauss, W. Burkert, J.P. Vernant, M. Godelier sowie R. Girard. Diese Autoren heben in verschiedenem Maße den Gabecharakter des Opfers oder seine Funktion der Kanalisierung und Institutionalisierung von Aggressionen hervor und schätzen insbesondere die Bedeutung der Tötung divergent ein. Eberhard selbst mahnt die Unterscheidung zwischen vom Heiligtum wegführenden Eliminationsriten wie dem Sündenbockritual und zum Heiligtum hinführenden Opfern an und macht den reduktiven Charakter auf Tötung fixierter Opfertheorien an vegetabilischen Opfergaben deutlich, um seinerseits den Aspekt der durch symbolische Gaben unterstützten Kommunikation zwischen Mensch und Gott herauszustellen.31 Ein erheblicher Gewinn der Rezeption 29
A. Grund, Homo donans. Kulturanthropologische und exegetische Erkundungen zur Gabe im alten Israel, in: Berlejung / Dietrich / Quack, Menschenbilder (Anm. 3), 97–123. 30 Chr. Eberhart, Opfer und Kult in kulturanthropologischer Perspektive, VuF 56 (2011) 6–16. 31 Zur gabetheoretischen Erschließung des Opfers s. auch Chr. Eberhart, Das Opfer als Gabe. Perspektiven des Alten Testaments, in: B. Hamm / B. Janowski (Hg.), Geben und Nehmen (JBTh 27), Neukirchen-Vluyn 2013, 93–120; B. Janowski, „Womit soll ich JHWH entgegentreten?“ (Mi 6,6). Gabetheologische Aspekte der alttestamentlichen Kultkritik in: A. Grund (Hg.), Opfer, Geschenke, Almosen. „Die Gabe“ in Religion und Gesellschaft, Stuttgart 2015, 22–46.
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der kulturanthropologischen Opferdiskussion in den Bibelwissenschaften ist schon darin zu sehen, dass vorgeprägte theologische Opferkonzepte, die allzu schnell Sühneaspekte attestieren oder gewaltsame Tötung für konstitutiv halten, konfrontiert werden mit einer erweiterten und genaueren Wahrnehmung des Phänomenbestandes. Als ähnlich fruchtbar erwiesen sich bereits die kulturanthropologischen Forschungen von M. Douglas für die alttestamentlichen Reinheitsvorstellungen32 sowie ritualtheoretische Einsichten für die jüngere Diskussion zu Festen im alten Israel33. Bei der Rezeption kulturanthropologischer Einsichten wird zumeist hinreichend bedacht, dass die Generalisierung an traditionalen Gesellschaften erworbener Einsichten sowie deren schlichte Übertragung auf das alte Israel methodisch unzulässig wären. Zugleich wird ihnen zu Recht ein hoher heuristischer Wert zugestanden. Sie gehen über vorgeprägte Deutungsmuster hinaus und erweitern das Theoriespektrum, vertiefen das Verständnis vormoderner Kulturen und stellen Forschungen zum alten Israel in eine kulturübergreifende Perspektive. Allerdings operieren viele neuere Beiträge zur Anthropologie des Alten Testaments mit einem nicht weiter erläuterten Vorverständnis von „Kultur-“ bzw. „Sozialanthropologie“. 2.3 Ein neuer Entwurf einer Sozialanthropologie des Alten Testaments 32
Der ‚Klassiker‘ von M. Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zur Vorstellung von Verunreinigung und Gefahr, Frankfurt a.M. 1988 (englisches Original: Purity and Danger, 1966) wurde in den Bibelwissenschaften mit großem Gewinn, wenn auch nicht ohne Kritik, rezipiert, vgl. dazu jüngst C. Frevel / C. Nihan (Hg.), Purity and the Forming of Religious Traditions in the Ancient Mediterranean World and Ancient Judaism (Dynamics in the History of Religions 3), Leiden 2013, insbesondere dies., Introduction, a.a.O., 1–46. 33 S. hierzu etwa die alttestamentlichen Beiträge in: M. Ebner (Hg.), Das Fest. Jenseits des Alltags, JBTh 18, Neukirchen-Vluyn 2004 sowie E. Blum / R. Lux (Hg.), Festtraditionen in Israel und im Alten Orient (VWGTh 28), Gütersloh 2006.
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Es besteht somit nach wie vor ein Bedarf an Präzisierung, was mit Kultur- bzw. Sozialanthropologie des Alten Testaments gemeint ist. Diesem kommt ein jüngst erschienener Beitrag von J. Dietrich nach, den man als Grundlegung einer Sozialanthropologie des Alten Testaments verstehen kann. Diese bestimmt er wie folgt: „Die Sozialanthropologie des Alten Testaments untersucht […] den alttestamentlichen Menschen als Beziehungswesen und in seinen Beziehungsgefügen.“34 Sozialanthropologie des Alten Testaments geht nach Dietrich aus von der dem Menschen des alten Israel wesentlichen Relationalität – und zwar nicht nur zum Mitmenschen, sondern zu Gott und zu den Tieren. Das Alte Testament selbst legt, so hebt Dietrich hervor, in seinen ersten Kapiteln in den beiden Schöpfungserzählungen eine solche Fokussierung auf die menschliche Beziehungshaftigkeit nahe. Davon ausgehend, überrascht es nicht mehr, warum die bereits seit H. W. Wolffs epochaler Anthropologie des Alten Testaments35 viel besprochenen Körperbegriffe „in vielen Fällen relational konnotierte Begriffe“36 sind, wie Dietrich an den Ausdrücken næpæš, pānîm, raḥamîm u.a. aufweist. Zugleich kommt die tiefe Eingebundenheit des Einzelnen primär in den familiären bzw. dörflichen Kontext und damit seine „mutuelle Sozialidentität“37 in den Blick. Diese ist bezogen auf eine kollektive Identität, die entsteht mithilfe eines kulturellen Gedächtnisses sowie durch „gemeinsame Einstellungen und Überzeugungen […], die die einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft miteinander teilen“38. Zu diesen gehören nach Dietrich das Streben nach Ehre und das Vermeiden von Schande; als ehrenhaft
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J. Dietrich, Sozialanthropologie des Alten Testaments. Grundfragen zur Relationalität und Sozialität des Menschen im alten Israel, ZAW 127 (2015) 224–243: 225. 35 H. W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, Gütersloh 8 2010 [1973]. 36 A.a.O. 226. 37 Vgl. a.a.O. 229. 38 A.a.O. 234.
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wiederum gilt insbesondere eine von Verlässlichkeit, Loyalität und Solidarität geprägte Charakterhaltung, die mit Termini wie ’æmæt / ’æmûnāh und ḥæsæd sowie mišpāṭ und ṣædæq / ṣedāqāh bezeichnet wird. Mit J. Dietrich kann man Sozialanthropologie des Alten Testaments als auf die menschliche Sozialität fokussierte anthropologische Forschung verstehen, im Unterschied zu Konturierungen, die jene als nur eine Dimension neben anderen betrachtet, wie bei Wesensbestimmungen des Menschen als „animal rationale“ o.ä. Zugleich ist zu berücksichtigen, dass der Begriff „Sozialanthropologie“ / „Social Anthropology“ einen eigenen Wissenschaftszweig mit einer eigenen Geschichte und Wissenschaftskultur bezeichnet, der sich explizit von biologischer oder philosophischer Anthropologie abgrenzt. Ebenso treten die Besonderheiten der hier zu erörternden „Kulturanthropologie“ erst vor dem Hintergrund der Geschichte dieses Fachs klar hervor.39 Im Folgenden soll also ein kurzer Blick in ihre Wissenschaftstraditionen geworfen werden, um ihren Gegenstandsbereich genauer zu beschreiben.40 3
Was ist Kulturanthropologie?
Die französische Ethnologie, die lange Zeit als Teilbereich der Soziologie galt, wurde in ihren Anfängen maßgeblich geprägt von Émile Durkheim (1858-1917), dessen Werk sein Neffe Marcel Mauss (1872-1950) eigenständig fortentwickelte, sowie von Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939) 39
S. hierzu I.-M. Greverus, Kultur und Alltagswelt. Einführung in Fragen der Kulturanthropologie, Frankfurt am Main ²1987; M. Harris, Kulturanthropologie. Ein Lehrbuch, Frankfurt a. M. u.a. 1989; W. Kaschuba, Einführung in die Europäische Ethnologie, München 2003; D. Haller, dtv-Atlas Ethnologie, München 2005; R. Girtler, Kulturanthropologie. Eine Einführung, Münster 2006. 40 Zu den Anfängen ‚kulturanthropologischer‘ Interessen und zur Geschichte der Kulturanthropologie seit dem 17. Jh. s. etwa Girtler, Kulturanthropologie (Anm. 36), 15–53; Harris, Kulturanthropologie (Anm. 38), 436–451.
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und von Arnold van Gennep (1873-1957) als Antipoden Durkheims. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie grundlegend bestimmt vom Strukturalismus des von Philosophie und Linguistik beeinflussten Ethnologen Claude Lévi-Strauss (1908-2009), der den Kulturvergleich als Vergleich von Strukturen entwickelte. Sein Einfluss wurde von dem des Poststrukturalismus abgelöst, der seit den 1970er Jahren die kulturwissenschaftliche Debatte bestimmte und u.a. mit den Namen Michel Foucault (19261984) und Jacques Derrida (1930-2004) verbunden ist. Die britische Social Anthropology hingegen wurde besonders von 1920-1970 vom Durkheim und Mauss rezipierenden, aber von naturwissenschaftlichen Modellen beeinflussten Funktionalismus dominiert. Diese Forschungsrichtung wurde im Unterschied zu Alfred Radcliffe-Browns (1881-1955) „Strukturfunktionalismus“, v.a. von Bronislaw Malinowski (1884-1942) entwickelt, der die Methode der „teilnehmenden Beobachtung“ einführte und die zentrale Stellung der Feldforschung etablierte. Als „Vater“ der US-amerikanischen „Kulturanthropologie“ gilt der emigrierte dt. Jude Franz Boas (1858-1942), der um 1900 auch den Begriff Cultural Anthropology wählte, um sein Fach von der physischen bzw. biologischen Anthropologie abzugrenzen, und der mit seinem kulturrelativistischen Ansatz eines „Historischen Partikularismus“ die Einzigartigkeit jeder Kultur betonte, die nur aus sich selbst heraus zu verstehen sei. Sein Zugang bestimmte die US-amerikanische Forschung seit der ersten Hälfte des 20. Jh., hinterließ aber auch die dauerhafte Schwierigkeit, adäquate Perspektiven und Beurteilungskriterien für Kulturvergleiche zu finden. Während in Deutschland die Volkskunde, die sich der Erforschung der eigenen Kultur widmet und mittlerweile meist als „Europäische Ethnologie“ geführt wird, und die Völkerkunde, die sich der Erforschung anderer Kulturen widmet, einen verwandten Forschungsbereich abdeckten, wurde als Anthropologie v.a. von 1933-1945 das Verhältnis von „Rasse“ und Kultur aufgefasst. Viele deutsche Ethnologen, darunter Norbert Elias (1897-1990), Karl
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Wittvogel (1896-1988), Julius Lips (1895-1950) und Karl Polanyi (1866-1964) mussten seinerzeit emigrieren, Maurice Halbwachs (1877-1945) starb im KZ Buchenwald. Doch auch die Volks- sowie die Völkerkunde der Nachkriegszeit verschlossen sich noch bis in die 1970er Jahre der internationalen Diskussion. Auch wenn die nationalen Schulen in den letzten Dekaden zunehmend an Einfluss verloren haben, verweisen die Bezeichnungen Kulturanthropologie, Sozialanthropologie oder Ethnologie auf ihre Herkunft aus verschiedenen Wissenschaftstraditionen und auf unterschiedliche Zielsetzungen. Dass sich der Blick der Ethnologie in jüngerer Zeit vermehrt auf moderne Kulturen richtet,41 führt sie in konventionell von der Soziologie beanspruchte Gebiete, was eine erneute Grenzabschreitung beider Fächer nahelegt.42 Der Begriff der „Ethnologie“ nimmt sich aber zunächst bescheidener aus und verzichtet auf eine explizit anthropologische Programmatik, wie sie im anglophonen Bereich mitgegeben ist. Zwar könnte man die Sozialanthropologie als britische Variante der amerikanischen Kulturanthropologie auffassen, doch nach dem Verständnis der amerikanischen Cultural Anthropology nimmt diese den Gegenstandsbereich der Social Anthropology in sich auf und geht über ihn hinaus. Entsprechend plädieren manche neueren Entwürfe für die Kulturanthropologie als eine Soziologie und Ethnologie integrierende Wissenschaft,43 auch wenn diese lange Zeit nahezu ausnahmslos als Erforschung fremder Völker und Kulturen betrieben wurde. Dass der Begriff der Kultur den der Sozialität umfassen kann, leuchtet ein, insofern er über diesen hinaus die Veränderung der ‚Natur‘, sei es der Um- und Mitwelt des Menschen, sei es der menschlichen physis selbst, umgreift und auch, aber nicht nur, die soziale Dimension 41
Vgl. etwa Harris, Kulturanthropologie (Anm. 38), 396–435. Vgl. Girtler, Kulturanthropologie (Anm. 38), 48–53. 43 Girtler, Kulturanthropologie (Anm. 38), passim; Harris, Kulturanthropologie (Anm. 38), 15–31. 42
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symbolischer Sinnrepräsentation in den Blick nimmt. Menschliche Sozialität, bis hin zur Bildung von Institutionen, Organisation und Staaten, wird durch verbales und nonverbales, dabei vielfach medial vermitteltes kommunikatives Handeln konstituiert. Doch nicht nur soziales und politisches, sondern auch technisches, ökonomisches, rituelles und darstellendes Handeln verweist auf implizite menschliche Selbst- und Weltdeutungen. Es basiert für gewöhnlich auf vorgeprägten Subtexten (implizitem Wissen, einem ‚belief system‘, Weltanschauungen o.ä.), die ihrerseits decodiert und verstanden werden können. Im Sinne der These von Bedeutung als Gebrauch, wie auch C. Geertz sie zugrunde legt, ist hiermit nicht nur die kognitive Entschlüsselung kultureller Codes gemeint, sondern die Befähigung zu einer erfolgreichen Teilnahme an einer Kultur, an ihren Praktiken und Sprachspielen.44 Zwar provozieren symbolische Vollzüge immer wieder Deutungen, sie können in ihnen aber nie aufgehen; ihre Performativität bleibt deshalb inkommensurabel. Semiotische und performative Kulturbegriffe, wie sie seit Geertz in der Kulturanthropologie und darüber hinaus dominieren, nehmen den Menschen zugleich als animal sociale und zugleich als animal symbolicum in den Blick. Auf diese Weise ist auch der Gegenstandsbereich einer Kulturanthropologie des Alten Testaments zu bestimmen. Allerdings sind es wiederum die Weite des Begriffs der Kultur, seine unbestimmten Ränder und seine fehlende Prägnanz, die seine sinnvolle Handhabe und sein diagnostisches Potential erheblich einschränken.45 So stand die 44
Eine Kultur zu beschreiben heißt nach Geertz: „ein System von Regeln aufzustellen, das es jedem, der diesem ethnographischen Algorithmus gehorcht, möglich macht so zu funktionieren, daß man (von der physischen Erscheinung einmal abgesehen) als Eingeborener gelten kann“; C. Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1987, 17 (Original: Thick Description. Toward an Interpretive Theory of Culture, in: The Interpretation of Culture, Selected Essays, New York 1973) 45 Vgl. etwa T. Eagleton, Was ist Kultur, München 2001, 48;
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klassische Definition des Kulturanthropologen E. B. Tylor: „Culture … is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law custom, and many other capabilities and habits acquired by man as a member of society”;46 seit 1871 in der Kulturanthropologie für lange Zeit in Geltung, bis zu C. Kluckhohns und A. L. Kroebers Arbeit,47 die mehr als 160 Kultur-Begriffe referierten und damit produktive Irritationen für die weitere Diskussion auslösten. Insbesondere in den Sozialwissenschaften greift die Beobachtung um sich, der Begriff der Kultur habe die schwächste analytische Entwicklung von allen soziologischen Schlüsselbegriffen genommen.48 Da Menschen nicht ohne symbolisierende Darstellung ihrer selbst, ihrer Mitwelt und ihrer Umwelt zusammen leben können,49 kann auch der Begriff der Kulturanthropologie als redundant erscheinen, wenn man die implizite Abgrenzung gegenüber biologischer bzw. physischer und philosophischer Anthropologie nicht mitdenkt. Entsprechend Luhmann, Gesellschaft und Semantik, Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaften, Bd. 4, Frankfurt am Main, 1995, 31–54. Luhmann möchte Kultur daher als Perspektive für die Beobachtung von Beobachtern verstehen, ihn also aus dem Operationsbereich der Beobachtung erster Ordnung in den zweiter Ordnung verlagern. 46 E. B. Tylor, Primitive Culture, 1871, 1 (Kultur ist jenes komplexe Ganze, das Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Brauch und alle anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten umfasst, die sich der Mensch als Mitglied der Gesellschaft erworben hat). 47 A. L. Kroeber / C. Kluckhohn, Culture. A Critical Review of Concepts and Definitions, New York, 1963. 48 M. S. Archer, Culture and Agency, Cambridge 1988, 1: „the weakest analytical development of any key concept in sociology”. Luhmann befindet Kultur gar als „einen der schlimmsten Begriffe, die je gebildet worden sind“ (N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, 398), weil er der Erfassung der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften im Wege stehe. 49 Vgl. Geertz‘ bekannte Definition des Menschen als „Wesen […], das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist; die Kultur ist eben dieses Gewebe“; Geertz, Dichte Beschreibung (Anm. 43), 9, oder Cassirers Verständnis des Menschen als animal symbolicum.
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kritisch wurde der Kulturbegriff zuletzt auch auf Seiten der Theologie auf seine Erschließungskraft hin befragt, insbesondere da, wo er nicht mehr von Gegen- und Relationsbegriffen (Kultur und Natur; Kultur und Zivilisation; Kultur und andere Gesellschaftssysteme, ‚eigene‘ und ‚fremde‘ Kultur) begrenzt, sondern nach deren Dekonstruktion als umgreifender Horizontbegriff gehandelt wird.50 Nun steht der weite Begriff der Kultur einer kritischen Beurteilung aller Bereiche menschlichen, i.e. kulturellen Lebens durchaus nicht entgegen. Gerade dieser weite Begriff in der Wortverbindung Kultur-Anthropologie eignet sich aus forschungspragmatischen Gründen besonders für das Interesse, ein möglichst reichhaltiges Bild der Lebenswelt des alten Israel, der Wechselbeziehungen mit der ‚natürlichen‘ Umwelt und der Symbolisierung der Sozialbeziehungen entstehen zu lassen, um seine Vorstellungswelt näher zu beschreiben und eingehender zu verstehen. 4 Perspektiven einer kulturanthropologisch inspirierten alttestamentlichen Forschung Welche Einsichten der Kulturanthropologie sind für die zukünftige alttestamentliche Forschung von Bedeutung? Zunächst kann sie von methodischen Diskussionen der neueren Kulturanthropologie profitieren. Diese ist gekennzeichnet durch eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die hermeneutische Problematik des Faches,51 die C. Geertz grundlegend umrissen hat: „ethnologische Schriften sind selbst Interpretationen, und obendrein solche zweiter und dritter Ordnung. (Nur ein ‚Eingeborener‘ liefert 50
H. Assel / F. Hartenstein / K. Raschzok, Zu diesem Heft, VuF 54 (2009), 2–5: 3. 51 In der neueren Kulturanthropologie steht nicht mehr nur das Fremde im Zentrum, sondern vielmehr „das wechselseitige Beziehungsgeschehen zwischen dem Eigenen und dem Fremden“; Haller, Ethnologie (Anm. 38), 15.
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Informationen erster Ordnung – es ist seine Kultur.)“52 Entsprechend sind kulturanthropologisch inspirierte Studien zum alten Israel und ihre Theoriebildungen als Interpretationen zweiter Ordnung zu verstehen. Sie sind immer wieder an den Selbstauslegungen Israels, als Interpretationen erster Ordnung, zu bemessen. Die wesentlich empirischen, besonders auf Feldforschung ausgerichteten Methoden der Kulturanthropologie, deren Selbstverständnis von strikter Ablehnung der ‚arm-chairanthropology‘ des 19. Jh. geprägt ist, liegen dabei auf den ersten Blick quer zur Erforschung historischer Kulturen. Anstelle der teilnehmenden Beobachtung, in der Kulturanthropolog_innen ihre eigene Person als Forschungsinstrument aufbieten,53 kann ein historischer Zugriff lediglich alle zur Verfügung stehenden Quellen in eine Art dichter Beschreibung einbeziehen.54 Dass sich auch die Geschichtswissenschaften zunehmend Fragestellungen der Historischen Anthropologie55, Mentalitäts-56 und
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Geertz, Dichte Beschreibung (Anm. 43), 22f. V. Gottowik, Ethnologie, in: Bohlken / Thies, Handbuch Anthropologie (Anm. 6), 124–129: 126. 54 Vgl. hierzu den Zugang von L. Schwienhorst-Schönberger, Zwischen Agonie und Glück. Kulturanthropologische Impulse und alttestamentliche Anthropologie am Beispiel Kohelets, in: Frevel, Anthropologie (Anm. 3), 164–189. 55 Vgl. dazu etwa G. Dressel, Historische Anthropologie. Eine Einführung, Wien 1996; Chr. Wulf (Hg.), Vom Menschen: Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim / Basel 1997; R. van Dülmen, Historische Anthropologie. Entwicklung, Probleme, Aufgaben, Köln / Weimar / Wien 2 2001; W. Reinhard, Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004; A. Winterling (Hg.), Historische Anthropologie, Stuttgart 2006; J. Tanner, Historische Anthropologie zur Einführung, Hamburg 22008. 56 U. Daniel, Die „Annales“, Mentalitätengeschichte, in: dies. (Hg.), Kompendium Kulturgeschichte, Frankfurt a. M. 5 2006 [2001], 221–232; H. Spode, Was ist Mentalitätsgeschichte? in: H. Hahn (Hg.), Kulturunterschiede. Interdisziplinäre Konzepte zu kollektiven Identitäten und Mentalitäten, Frankfurt a.M. 1999, 9– 61. 53
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Alltagsgeschichte57 zu eigen machen, arbeitet einer Verbindung historischer und kulturanthropologischer Forschung aber durchaus zu.58 Nachdem die alttestamentlichen Texte lange Zeit nahezu die einzigen herangezogenen Quellen waren, wird archäologischen bzw. ikonographischen Quellen in den letzten Jahren ein viel höherer Rang zugestanden – mit großem Gewinn. Nach wie vor sind schriftliche Überlieferungen der expliziteste Zugang zu menschlichen Selbst- und Weltdeutungen. Allerdings stellen sie keine unmittelbaren Quellen für Personkonzepte, Menschenbilder oder Mentalitäten der Menschen des alten Israel dar, sondern folgen als religiöse Literatur eigenen Gesetzen und verfolgen ihre eigene Pragmatik. Sie entstammen dem Milieu schreibkundiger, vorwiegend gelehrter Kreise und sind, als im Kanon versammelte Schriften, eine besondere Auswahl aus einem größeren Fundus von Texten jener Zeit. Daher geben sie nur spezifische Perspektiven auf damalige Menschenbilder, Denkformen und kulturelle Praktiken frei, nämlich die des alttestamentlichen Kanons. Insofern aber ist eine „Kulturanthropologie des Alten Testaments“ methodisch immerhin leichter zugänglich als eine „Kulturanthropologie des alten Israel“. Kulturanthropologische Ansätze versuchen, fremde Kulturen in ihrer Andersheit und, soweit als möglich, „aus sich selbst heraus“ zu verstehen, ohne zugleich in die Falle der „postmodernen Generalabsage an interkulturelles Verstehen“59 zu geraten. Sie gehen dabei gerade nicht von 57
U. Daniel, Alltagsgeschichte, Historische Anthropologie, in: dies., Kompendium Kulturgeschichte (Anm. 56), 298–313; A. Lüdtke, Alltagsgeschichte, Frankfurt / New York 1989, Neuausgabe 2002. 58 Vgl. etwa bereits W. Frühwald / H. R. Jauss / R. Koselleck, Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt a.M. 1996, 71: „Das neue Interesse an einer historischen Anthropologie ist darauf gerichtet, die Befunde einer ahistorisch begründeten Diziplin wie der deskriptiven Ethnologie zu vergeschichtlichen, wie umgekehrt die anthropologische Dimension von Sprache, Historie und Ästhetik zu erschließen“. 59 A. Hornbacher, Clifford Geertz, in: Bohlken / Thies, Handbuch
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einem „kulturanthropologische[n] Axiom kultureller Alterität“60 aus. Vielmehr reflektiert die neuere Kulturanthropologie besonders den konstruktiven Anteil der eigenen ‚eurozentrischen‘ Wahrnehmung an der Beschreibung der Fremden als Fremder. Sie macht bewusst, dass ‚eigene‘ Bewertungsmaßstäbe erst in der Begegnung mit Fremdem zutage treten und dass die Anwesenheit der Ethnograph_innen die Selbst-Repräsentation der ‚Erforschten‘ beeinflusst. Beobachtet wird, wie in der Begegnung mit Fremden diese oft als Gegenentwurf zum – oft impliziten – Selbstbild aufgefasst wird. Dieser Prozess blendet „die Gemeinsamkeiten mit dem Fremden aus und macht somit den Fremden fremder als er ist (Veranderung, othering)“61. Paradigmatisch wird dies in der von Edward Said ausgelösten „Orientalismus“-Debatte diskutiert, die als ein Ausgangspunkt der Postcolonial Studies gilt. Auch für neuere alttestamentliche Forschungen ist die hermeneutische Aufmerksamkeit auf die Gefahr zu weit gehender ‚Veranderung‘ ernst zu nehmen. Als Beispiel sei ein vielbeachteter Aufsatz R. Di Vitos angeführt, in dem er das Personkonzept des Menschen im alten Israel im Gegensatz zum modernen folgendermaßen beschreibt: „Das Subjekt ist (1) zutiefst eingebettet in seine soziale Identität bzw. eng damit verbunden. Es ist (2) vergleichsweise dezentriert und undefiniert im Blick auf die Grenzen seiner Person. Es ist (3) relativ transparent, ins gesellschaftliche Leben eingebunden und darin verkörpert (mit anderen Worten: Es ermangelt all dessen, was mit ‚inneren Tiefen‘ bezeichnet ist). Und schließlich ist es (4) ‚authentisch‘ gerade in seiner Heteronomie, in seinem Gehorsam anderen gegenüber und in seiner Abhängigkeit von anderen.“62 Dass sich Personkonzepte antiker von denen moderner Anthropologie (Anm. 3), 86–91: 90. 60 So jedoch Schwienhorst-Schönberger, Agonie und Glück (Anm. 53), 187. 61 Haller, Ethnologie (Anm. 38), 19. 62 R. Di Vito, Alttestamentliche Anthropologie und die Konstruktion personaler Identität, in: Janowski / Liess, Mensch (Anm. 7) 213–241: 217f.
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Kulturen deutlich unterscheiden, dürfte nun nicht überraschen. Weiter führen hier deshalb Forschungen zu der Frage, wie sich bereits vor der Spätantike personale Identität äußert, wo ‚innere Tiefen‘ reflektiert werden und wie sich das alte Israel hierin im Verhältnis zu seinen Nachbarkulturen darstellt.63 Im Blick auf die von Di Vito attestierte grundsätzliche Heteronomie ‚des‘ Menschen im alten Israel ist in den Erzählungen des alttestamentlichen Kanons zu beachten, in welch hohem Maße sie Menschen als Einzelne in den Blick nehmen, die von der ganzen Menschheit abweichend handeln (Gen 6,5-9,17), von ihrer Verwandtschaft und Familie fortziehen (Gen 12,1-4) u.a. Auch wenn diese Einzelnen weniger als Individuen denn als Typen gezeichnet werden, nehmen die Tradenten alttestamentlicher Schriften das Verhalten Einzelner, die aus der ihrem Alter (Gen 15,1-5; 17,1-27; 18,1-16; 21,1-7), ihrem Geschlecht (Gen 38,1-30 u.v.m.) oder ihrem sozialen Status (2 Sam 6,14-23; 19,1-19) geziemenden Rolle fallen und ihr gegenüber in Eigenverantwortung handeln, mit überraschender Häufigkeit und anerkennend in den Blick. Die nahezu antikonformistische Tendenz vieler alttestamentlicher Erzählungen, die verantwortliches Handeln Einzelner coram deo wertschätzend herausstellen, steht zur Diagnose Di Vitos einer prinzipiellen Heteronomie im Kontrast. Dies wirft zum einen die Frage auf, inwiefern alttestamentliche Schriften auf die Selbstwahrnehmung von Menschen als verantwortliche Einzelne coram deo und in der Folge auf das Individualitätsbewusstsein Einfluss genommen haben. Zum anderen stellt sich die Frage, zu welchen Anteilen Di Vitos Entwurf auf das Konto einer zu weit gehenden ‚Veranderung‘ geht. So hat Chr. Frevel jüngst aufgezeigt, dass Di Vito einer 63
Vgl. etwa die Untersuchungen von J. Dietrich, Individualität im Alten Testament, Alten Ägypten und Alten Orient, in: ders. / Berlejung / Quack, Menschenbilder (Anm. 7), 77–96 und J. P. Vernant, Individuum, Tod, Liebe. Das Selbst und der andere im alten Griechenland, in: B. Janowski (Hg.), Der ganze Mensch – Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Nachgeschichte, Berlin 2012, 155–171.
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Interpretationslinie folgt, die seit H. W. Robinsons These einer hebräischen „corporate personality“ in der alttestamentlichen Wissenschaft verbreitet ist und „die antiken Gesellschaften der südlichen Levante aus ‚primitiven Gesellschaften‘ herleitet und daher als ‚entwicklungsverzögert“ begreift.64 In diesem Sinne gehören nicht nur die Menschenbilder der untersuchten Kultur, sondern auch die Menschenbilder der anthropologischen Forschung65 zum Untersuchungsgegenstand einer kritischen Kulturanthropologie des Alten Testaments. Während die Frage nach dem Personkonzept des alten Israel in der alttestamentlichen Wissenschaft derzeit viel diskutiert wird, spielt sie in genuin kulturanthropologischen Forschungen keine nennenswerte Rolle. Viele klassische Bereiche der Kulturanthropologie wurden bereits erschlossen, sind aber noch längst nicht erschöpfend erforscht, darunter Körpersymbolik, Emotionen, Arbeit, Lebenszyklus, Raum und Zeit. Andere Bereiche sind in ihrer anthropologischen Bedeutung noch vermehrt zu berücksichtigen, darunter Ausdrucksformen (Ritual, Bild, Schrift, Kunst / -handwerk, Musik) sowie Heirat und Verwandtschaft, Ethnizität und Identität. Bei allem Interesse an symbolischen Praktiken dürfen elementare Fragen wie die nach materieller Versorgung, sozialer Differenzierung, wirtschaftlicher und politischer Organisation nicht ausgeklammert werden. Vor allem Krieg, Migration, Exilierung, Traumatisierung66 sowie der Umgang mit Fremden und Fremdsein müssen besonders im Blick behalten werden, wenn man die Lebenswirklichkeit der Menschen im alten Israel nicht grundsätzlich verfehlen oder gar 64
Chr. Frevel, Person – Identität – Selbst. Eine Problemanzeige aus alttestamentlicher Perspektive, in: van Oorschot / Wagner (Hg.), Anthropologie(n) (Anm. 7), 65–90. 65 Vgl. Gottowik, Ethnologie, in: Bohlken / Thies, Handbuch Anthropologie (Anm. 3), 127f. 66 Vgl. dazu etwa A. Berlejung (Hg.), Disaster and Relief Management: Katastrophen und ihre Bewältigung (FAT 81), Tübingen 2012; R. Poser, Das Ezechielbuch als Trauma-Literatur (VT.S 154), Leiden u.a. 2012.
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romantisieren will. Schließlich gilt es, die Erforschung der Kategorie Geschlecht bzw. Gender nicht weiterhin als ein feministisch-theologisches Sonderinteresse und als einen lediglich von Frauen zu betreibenden Forschungszweig aufzufassen, sondern als grundlegende anthropologische Fragestellung, die in größerer Breite und auch von Männern aufzugreifen ist. Beim Gespräch mit kulturanthropologischer Forschung kann es gewiss nicht darum gehen, aus hochschulpolitischen Motiven auf Schritt und Tritt interdisziplinäre Anschlussfähigkeit unter Beweis stellen zu wollen oder diese gar im vorauseilenden Gehorsam als Kernaufgabe der Theologie hinzustellen. Die Aufgabe eines genuin theologischen Beitrags der Bibelwissenschaften bzw. der gesamten Theologie im universitären Fächerkanon kann nicht von der wissenschaftspolitischen Situation oder vom sinkenden oder vielleicht auch wieder steigenden Interesse spätmoderner Gesellschaften an theologischen Fragen abhängig gemacht werden. Wenn alttestamentliche Anthropologie den Menschen als kulturelles Wesen in allen Facetten wahrzunehmen und ein gesättigtes Bild des Menschen im alten Israel zu zeichnen versucht, trägt dies schlicht der Gegebenheit Rechnung, dass die alttestamentlichen Überlieferungen in einem kulturellen Universum entstanden sind und auf dieses verweisen. Das große Interesse an kulturanthropologischen Zugängen zum alten Israel in einigen Teilen der alttestamentlichen Forschung verdankt sich gewiss auch dem nachvollziehbaren Bedürfnis, über die seit dem 19. Jahrhundert dominierende Ausrichtung auf die Literaturgeschichte hinauszugelangen und ein reichhaltigeres Bild der Kultur und Religion des alten Israel zu erlangen. Anthropologische Einsichten, die im intensiven, unmittelbaren Kontakt mit nicht-modernen, außereuropäischen Kulturen gewonnen wurden, erweitern das Vorstellungsvermögen, welche Praktiken und Vorstellungen in ihnen leitend sein können. Entsprechend der in den biblischen Schriften durchgehaltenen Überzeugung, dass Menschen unter Gottes Urteil und in seinem Erbarmen stehen, übt eine
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kulturanthropologische Einsichten integrierende Forschung an der Pluralität und Fremdheit biblischer Menschenbilder auch die theologische Einsicht ein, dass Menschen nicht kulturell bedingten Normen entsprechen müssen, um in einer intakten Gottesbeziehung leben zu können.
Rhythmus, Dauer, Epiphanie. Das alte Israel – eine Präsenzkultur?
Zurück zum Realen – Arbeit an der Präsenz Hans Ulrich Gumbrechts Präsenzintuition ist an der Zeit. Leib und Leiblichkeit sind als Thema der humanities aktuell wie nie zuvor; Stimmungen und Atmosphären sollen auch nach anderen die seit ehedem beklagte Subjekt-Objekt-Spaltung überwinden,1 in der Philosophie werden vermehrt realistische Positionen in der theoretischen2, praktischen3 und Religionsphilosophie4 diskutiert, und in Konstanz bearbeitet seit 2010 ein Graduiertenkolleg „Das Reale in der Kultur der Moderne“. Es ist also geradezu ein neuer Trend zu verzeichnen, sich wieder dem Realen und dem Realismus zuzuwenden und sich dem ‚sanften Terror’ von Konstruktivismus und Dekonstruktion zu entziehen. Hans-Ulrich Gumbrecht kann für sich beanspruchen, dem zunehmenden Empfinden des Mangels und der Fadheit an der zur populärwissenschaftlichen Selbstverständlichkeit gewordenen kulturwissenschaftlichen Metathe1
Gernot Böhme, Atmosphäre, Frankfurt a. Main 1995, vgl. v.a. 155ff. 2 Vgl. etwa R. Schantz’ direkter Realismus: Richard Schantz, Wahrheit, Referenz und Realismus (Perspektiven der analytischen Philosophie Bd. 12), Berlin u.a. 1996, v.a. 358ff. 3 Vgl. etwa Dieter Schönecker, Warum moralisch sein? Eine Landkarte für Moralische Realisten, in: Moralische Motivation. Kant und die Alternativen, hg. von Heiner F. Klemme, M. Kühn und D. Schönecker, Hamburg 2006, 299–327 u.a. 4 Vgl. etwa William P. Alston, Perceiving God, Ithaca [u.a.] 1993 u.a.
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orie als einer der namhaften und international rezipierten Autoren Ausdruck verliehen, eine schon ausgegrenzt geglaubte Diskussion wiederbelebt und vielleicht sogar eine Tür zu einem Ausweg aufgeschlagen zu haben. Doch wer wagt sich dort hinaus, und wie weit führt der Weg? Wie weit reichen Gumbrechts Analysen? Bevor ich die Relevanz einiger von Gumbrechts Einsichten für die gegenwärtige alttestamentliche Forschung erkunde, schicke ich einige Anmerkungen zu seiner Präsenzphilosophie voraus. Hans Ulrich Gumbrecht setzt an bei einem an der Interpretation empfundenen Mangel, der bereits Wolfgang Iser in seiner rezeptionsästhetischen Programmschrift „Die Appellstruktur der Texte“ Susan Sontags berühmten Essay “Against Interpretation” zitieren ließ. Auch hier wird ästhetisches Erleben zum neuen Paradigma, allerdings nicht wie in Isers an Husserl orientierter Lese-Phänomenologie als in zeitlichem Verlauf entstehende Konstruktionen vor dem Werk, sondern als Verbleiben am Materiellen des Werks. Und während durch die Rezeptionsästhetik der vorgegebene Text zum nur flüchtig je und je durch Lesende konstituierten Phänomen zerrann, gerät bei Gumbrecht das Paradigma der Konstruktion und Dekonstruktion selbst unter Beschuss. Hierzu zitiert Gumbrecht M. Taussig: „Als der begeisterte Hinweis laut wurde, Rasse, Gender oder Nationalität seien nichts weiter als soziale Konstruktionen, Erfindungen und Repräsentationen, wurde ein Fenster aufgestoßen, und man wurde dazu aufgefordert, mit kritischem Blick an die Analyse und die Rekonstruktion der Kultur heranzugehen […] Diese Verkündigung war so glänzend, daß man nichts mehr sehen konnte. Niemand fragte: Welches ist der nächste Schritt? Was fangen wir mit dieser alten Erkenntnis an? Falls das Leben ein Konstrukt ist, wie kommt es dann, daß es so unveränderlich wirkt? Wie kommt es, daß das Kulturelle so naturwüchsig erscheint?“5 5
Michael Taussig, Mimesis and Alterity. A Particular History of the Senses, New York 1993, XVI, zitiert bei Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik, Frankfurt a. Main 2004, 82
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Tatsächlich müsste es bereits stutzig machen, dass das theoretische Substrat der Geisteswissenschaften in der von Taussig konstatierten Sichtweise heute ähnlich selbstverständlich und unangefochten zu sein scheint wie zu anderen Zeiten und Orten beispielsweise Hegels Dialektik, und dies in einer Zeit, die sich als die pluralste und differenzfreundlichste aller Epochen verstehen möchte. Allerdings ist Gumbrechts eigener Ansatz, anders als es der Anschluss an Taussig ahnen lässt, kaum an bleibenden Gegebenheiten menschlichen Lebens oder am ‚Naturwüchsigen‘ der Kultur interessiert, sondern an der Präsenz des Materiellen, an den materiellen Signifikanten, an ihrer von der Form unlöslichen Substanz. Aber auch so werden die bekannten Einwände seitens der Vertreter des vorherrschenden Paradigmas nicht auf sich warten lassen: „Es gibt wahrscheinlich keine Möglichkeit, der ausschließlichen Vorherrschaft der Interpretation ein Ende zu bereiten […], wenn man keine Begriffe verwendet, die von potentiellen theoretischen Gegnern polemisch als ‚substantialistisch‘ charakterisiert werden können, d.h. Begriffe wie der Substanzbegriff selbst, wie Präsenz und vielleicht sogar ‚Realität‘ und ‚Sein‘. Der Gebrauch solcher Begriffe gilt in den Geisteswissenschaften jedoch seit langem als Symptom eines erbärmlich schlechten intellektuellen Geschmacks. […] Schon seit vielen Jahren beruht der umwerfende Erfolg der Dekonstruktion darauf, daß alle Dekonstruktivisten dazu bereit sind, jedem, der eine nicht ausschließlich sinnfundierte Beziehung zur Welt zu begründen trachtet, den Einwand der Naivität oder zumindest des Substantialismus entgegenzuschleudern … Trotz aller ihrer revolutionären Ansprüche und ihrer Zuversicht, über ein ausreichendes theoretisches Potential zu verfügen, um das Zeitalter des Zeichens ‚zum Ende zu bringen‘, verläßt sich die Dekonstruktion demnach weitgehend auf sanften Terror, um die in den Geisteswissenschaften bestehende Ordnung zu stützen.“ (DH, 72f)
Gumbrecht weiß also um sein Projekt als um einen riskanten Gegenentwurf, dessen Weiterführung der Anstrengung bedarf: „Die Zukunft der Präsenz bedarf unseres gegenwärtigen Engagements“ (DH, 114). Dass ein solcher (unter Angabe der Seitenzahl im Folgenden als DH zitiert).
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Entwurf den Nährboden für fruchtbare Diskussionen bereitet, macht weitere Erkundungen dieses aufgezeigten Auswegs attraktiv. Gumbrechts Diagnose des Weltverlusts und seiner geisteswissenschaftlichen Verarbeitung erscheint treffend: „Heute dürfen wir hinzufügen, daß es höchstwahrscheinlich das seinerzeit durch diesen – durch Interpretation induzierten – ‚Weltverlust‘ ausgelöste Trauma ist, das erklärt, warum der einzige Wert (oder jedenfalls der höchste Wert), den viele Geisteswissenschaftler an den von ihnen betrachteten Phänomenen erkennen können, auf das Motiv hinausläuft, einen weiteren theoretischen Looping der ‚Selbstreflexion‘ fliegen zu dürfen. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum jede andere als eine ‚kritische‘ Einstellung zu den Dingen unserer Lebenswelten zumindest in den Augen des Durchschnittsgeisteswissenschaftlers wie eine Art Erbsünde wirkt.“ (DH, 112)
Allerdings ist fraglich, welcher leidenschaftliche Flugakrobat der Postmoderne sich von seiner Lieblingstätigkeit schon gerne abhalten lassen wird, zumal wenn sie von der breiten Mehrheit der Kritiker als notwendig und jede Alternative als deviant gekennzeichnet wird. Auch wird Gumbrechts engagierte Analyse wahrscheinlich wenig daran ändern können, dass die wirtschaftliche, politische und kulturelle Globalisierung nach wie vor unter fortgesetztem Welt-Verlust stattfindet. Dass der historische Chronotop sich aufgelöst habe (vgl. DH, 139ff), ist bereits von einigen beschrieben worden. Dabei war die „Gegenwart als kurzer Augenblick des Übergangs“ (DH, 141) nicht erst seit dem historischen Chronotop, sondern bereits seit Augustin virulent, zugleich damit auch die Beunruhigung des Denkens und Fühlens, das auf Erlösung aus ist: Dem inquietum est cor nostrum entspringt die Sehnsucht nach vorweggenommener Linderung durch Momente der Präsenz, wie Gumbrecht sie in seinem Ausblick ‚Über Erlösung‘ entwickelt. Fraglich bleibt zudem, wie ‚breit‘ unsere Gegenwart wirklich ist, angesichts wiederkehrender, aber erfolgloser Entschleunigungsversuche der oben skizzierten
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gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen und einer fortgesetzten Beschleunigung, die freilich ein Ziel ihrer rasanten Fahrt (darin ist die Auflösungsanalyse zutreffend) längst aus den Augen verloren hat. Womöglich stellt sich der Eindruck einer breiten Gegenwart aber nur angesichts im Ganzen ungerichteter, aber an sich nicht weniger rasanter Turbulenzen ein. Zugleich zur von Gumbrecht als Simultaneität bezeichneten Versammlung der Objekte vergangener Welten findet heute eine Dispersion der Kultur in zahllose, teilweise kulturübergreifende Subkulturen statt, deren untereinander vernetzte Mitglieder sich nur noch in seltenen Fällen je leiblich ko-präsent geworden sind und das auch von vorneherein nicht vorhaben. Zutreffend ist ferner Gumbrechts Wahrnehmung, dass die Leitidee einer historia magistra vitae ihre Ausstrahlung und Bindekraft verloren hat (DH, 141). Dass man aus der Vergangenheit nicht mehr lernen will, hat in nicht unbedeutenden gesellschaftlichen Strömungen eher damit zu tun, dass die Beschäftigung mit Vergangenem als ökonomisch unrentabel gilt, was sich etwa durch zuweilen angestrebte Nicht-Wiederbesetzung von Lehrstühlen für antike oder mittelalterliche Geschichte an manchen so genannten Universitäten äußert (im Übrigen ein schönes Beispiel für „Macht als Möglichkeit Räume mit Körpern zu besetzen“ [DH, 135] – oder eben nicht zu besetzen). Die Sammlung der auf uns gekommenen Artefakte vergangener Kulturen und das nostalgische und häufig projektive Verhältnis zu vergangenen Kulturen bei den einen wird begleitet von einer zunehmenden Indifferenz gegenüber der Vergangenheit bei den anderen, die zudem die schweigende Mehrheit stellen. Die Frage ist hier eher: Welchen Raum nehmen die an Vergangenheit interessierten ‚Geisteswissenschaften‘ überhaupt noch ein? Präsentifikation – Zugänge zur Welt des alten Israel Diesseits von Faktizität und Deutung
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Ein sanfter ‚konstruktivistischer Terror‘ hat nun durchaus auch Teile der evangelischen Theologie im Griff, die zwar wie meist mit großer Verspätung auf neue Bewegungen in den humanities reagiert, sich ihnen dann aber mit größter Vehemenz in die Arme geworfen haben, schon um ihre von außen gerne angezweifelte Anschlussfähigkeit unter Beweis zu stellen. Auch insofern ist Gumbrechts Entwurf von großem Interesse, doch werde ich mich einstweilen auf die Erkundung von Anschlussmöglichkeiten für die alttestamentliche Forschung beschränken. Hier verfolgen die meisten Forscherinnen und Forscher noch immer mit Standhaftigkeit das seit zwei Jahrhunderten das Feld beherrschende Paradigma der Rekonstruktion der Literaturgeschichte Israels. Die meisten von ihnen sind auf fast schon beneidenswerte Weise von Konstruktivismus und Dekonstruktion, zugleich aber auch von anderen kulturwissenschaftlichen Diskussionen kaum berührt worden; insofern wäre hier eine Beschäftigung mit den Folgen des Auslaufens des historischen Chronotops von großem Interesse. Während nun aber durchaus eine gewisse Strömung von Exeget/inn/en dem geisteswissenschaftlichen Trend entsprechend die alttestamentlichen Geschichts-Erzählungen durchgehend als identitätsbezogene Vergangenheitskonstruktionen oder -fiktionen ansehen, sind es noch eher wenige, die auch bei einem primär auf archäologischen und außerbiblischen Quellen beruhenden Schreiben einer Geschichte Israels die narrativen und konstruktiven Anteile der Historiographie angemessen im Blick haben. An den überkommenen materiellen Artefakten ist für diese alttestamentliche Diskussion ihre Materialität oder gar Substantialität nicht von Interesse; sie kommen hier vorwiegend vielmehr als Primärquelle, also als Übergangsstelle in einem (zudem von ideologischen Interessen belasteten) historiographischen Deutungsrahmen in den Blick, in dem das Sich-Zugetragen-Haben von Ereignissen aufgewiesen und auf einer linear vorgestellten Zeit verortet werden soll. In dieser Situation kann Gumbrechts Vorschlag einer „Präsentifikation vergangener Welten – also Verfahren,
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die den Eindruck (oder vielmehr die Illusion) hervorrufen, vergangene Welten könnten erneut greifbar werden“ (DH, 115), sicher weiterführen. Allerdings bleiben auch hier Fragen, etwa: Wie präsent sind die vor Zeiten aus dem Gebrauch gekommenen, ausgegrabenen und zur Schau gestellten Objekte wirklich? Ist ihre Präsenz trotz aller Materialität nicht entsubstantiiert, wenn denn Substanz mehr ist als bloße Materialität? Ist nicht der jeweilige interpretatorische Rahmen schon durch ihren Kontext im Museum, im ‚Unterricht‘ o.ä. präsenter als es die materiellen Hinterlassenschaften selbst sind? Wie könnte man durch das dichte Netz von Zuschreibungen hindurch noch ‚zu den Dingen selbst‘ gelangen – ohne erneut zu interpretieren? Das alte Israel – eine Präsenzkultur? Die aus meiner Sicht für die alttestamentliche Wissenschaft besonders interessanten Aspekte von Hans Ulrich Gumbrechts Analysen haben zu großem Teil mit dem alten Israel als klassischem Fall einer ‚Präsenzkultur‘ und mit dem von ihm wahrgenommenen nostalgischen Interesse an der Vergangenheit, dem Versuch der Verbreiterung der Gegenwart, zu tun. Denn zum einen begegnet man bei der Beschäftigung mit dem alten Israel auf Schritt und Tritt Zeugnissen seligen Lebens in einer Präsenzkultur, zum anderen ist das in der kulturwissenschaftlich orientierten Geschichtswissenschaft erwachte Interesse an der Alltagsgeschichte sowie an der von F. Braudel neben der Ereignisgeschichte angepeilten Histoire conjoncturelle und Histoire de la longue durée auch in der alttestamentlichen Wissenschaft angekommen. Die Histoire conjoncturelle ist ja nach Braudel „temps social – une histoire lentement rhythmée: on dirait volontiers si l’expression n’avait été détournée de son sens plein, une histoire sociale, celle des groupes et des groupements“, die Histoire de la longue durée ist „une histoire quasi immobile, celle de l’homme dans ses rapports avec le milieu qui l’entoure; une histoire lente à couler, à se transformer, faite souvent
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de retours insistants, de cycles sans cesse recommencés“.6 Beide Dimensionen, insbesondere die Histoire de la longue durée, sind nicht zufällig für die von Gumbrecht als Präsenzkulturen angesprochenen Gesellschaften von besonderem Belang. Die Braudelschen Kategorien werden nun mit Gewinn in der methodischen Diskussion der Geschichte Israels aufgenommen,7 sie sind aber auch für eine historisch-anthropologische Erforschung der Alltagsgeschichte des alten Israel von Interesse, die jedoch noch in ihren Anfängen steht. Dass die als ‚historische Zeit‘ bezeichnete Zeitkonstruktion lange für das einzig mögliche – oder einzig ernstzunehmende – Chronotop gehalten wurde (DH, 140), wird nun auch an der jüngeren Diskussion des israelitischen Zeitkonzeptes gut sichtbar.8 Denn bis vor kurzem galt gerade dieses noch als Musterbeispiel für eine Kultur mit einem an der Geschichte orientierten linearen Zeitkonzept, im Gegensatz zu seinen an Zyklizität orientierten Nachbarkulturen,9 und das wurde bis in die jüngere Vergangenheit als Lehrbuchwissen weitertradiert. Dahinter stand nicht nur O. Cullmanns Studie von 1946 mit ihrem Bild der aufsteigenden geraden Linie als Metapher für Israels Zeitverständnis, die das heilsgeschichtlich-teleologische Denkens des 19. Jhd. in sich aufgenommen hatte, sondern eine letztlich auf Augustins Unterscheidung von 6
Fernand Braudel, La Méditerranée. [1] L’espace et l’histoire, Paris 1977, 13f. 7 Vgl. u.a. Christoph Uehlinger, „Bildquellen und „Geschichte Israels“. Grundsätzliche Überlegungen und Fallbeispiele“, in: Steine – Bilder – Texte. Historische Evidenz außerbiblischer und biblischer Quellen, hg. von Chr. Hardmeier, AzBG 5, 2001, 25–77. 8 Zum Ganzen vgl. Alexandra Grund, „Die Entstehung des Sabbats. Seine Bedeutung für Israels Zeitkonzept und Erinnerungskultur“ (FAT Bd. 75), Tübingen 2011, 9ff, 136ff. 9 Vgl. Gerhard von Rad, „Theologie des Alten Testaments“, Bd. 2. Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels, München 81982 [1969] 120; Werner H. Schmidt, Alttestamentlicher Glaube in seiner Geschichte, Neukirchen-Vluyn 8 1996, 176. M. Görg, „Geschichte / Geschichtsauffassung. II. Alter Orient und Altes Testament“, in: RGG4 3 (2000) 776–779, 778.
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zyklischer Zeit der historia profana (Heidentum) und linearer Zeit der historia sacra (Christentum) zurückgehende Tradition.10 Nach frühem Widerspruch des jüdischen Historikers A. Momigliamo ist die Kritik hieran vielfach erneuert worden,11 so dass es inzwischen weitgehend akzeptiert sein dürfte, dass man das Zeitverständnis Israels als Element der Lebenswelt nicht wie früher häufig mit dem im kanonischen Zusammenhang des Alten Testaments zum Ausdruck kommenden geschichtlich orientierten Zeitverständnis identifizieren darf, zumal heilsgeschichtliche Ereignisse an größere Bevölkerungskreise eher im Rahmen wiederkehrender Feste vermittelt wurden. Den Stellenwert von natürlichen Rhythmen, von Jahreszeiten und von Jahresfesten für die bäuerliche Gesellschaft des alten Israel kann man vielmehr kaum unterschätzen.12 Das Interesse an dem, wie nun inzwischen weithin akzeptiert, vorhistorischen Chronotop des alten Israel speist sich nun zu gewissem Teil aus der Faszination an seiner Langsamkeit, am einfachen Leben und an seinen gleich10
Oscar Cullmann, Christus und die Zeit. Die urchristliche Zeitund Geschichtsauffassung, Zürich 31962, 43ff; Augustin, De civitate Dei XII,14 und dazu Jan Assmann, „Einführung: Zeit und Geschichte“, in: Der Ursprung der Geschichte. Archaische Kulturen, das alte Ägypten und das frühe Griechenland, hg. von ders. und K.E. Müller, Stuttgart 2005, 7–17, 249f, 10ff. 11 Arnaldo Momigliamo, „Zeit in der antiken Geschichtsschreibung“, in: Wege in die Alte Welt, hg. von ders., Berlin 1982, 38–58, 41; James Barr, „Biblical Words for Time“ (SBT Bd. 33), London 21969 [1962], 50ff, 156ff; Othmar Keel und Silvia Schroer, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Göttingen/ Fribourg 2002, 22 und passim; Bernd Janowski, „Das Doppelgesicht der Zeit. Alttestamentliche Variationen zum Thema ‚Mythos und Geschichte‘“, in: Die Welt als Schöpfung. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 4, hg. von ders., Neukirchen-Vluyn 2008, 79–104 u.a. 12 Vgl. hierzu Bernd Janowski und Alexandra Grund, „‚Solange die Erde steht ...‘. Zur Erfahrung von Raum und Zeit im Alten Israel“, in: Der Mensch im alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie (HBS Bd. 59), hg. von B. Janowski und K. Liess, Freiburg u.a. 2009, 487–535, passim.
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bleibenden Rhythmen: An der schleppenden Langsamkeit des Ritts auf einem Esel von Jerusalem nach Beer-Scheba, am Alltag mit einem überschaubaren Set von ‚Zuhandenem‘ von der Handmühle bis zum Dreschschlitten, vom Mehlkrug bis zur Olivenpresse, an der Gebundenheit des Lebens an den natürlichen Wechsel von Tag und Nacht, des zu- und abnehmenden Monds und der Jahreszeiten – kurz: an einem optimalen Bezugspunkt für jede Art von Sehnsucht, „im gleichen Rhythmus zu schwingen wie die Dinge dieser Welt“ (DH, 166). So waren die täglich zu bestimmten Tageszeiten zu verrichtenden Tätigkeiten im Sinne einer Präsenzkultur zugleich stets mit ganz bestimmten Orten verbunden: Das menschliche Leben, das sich „nachts auf geschützte, engere Bereiche zurückgezogen hatte, [griff] ‚parallel zum aufscheinenden Sonnenlicht wieder über Lagerstätten, Haus- und Stadtmauern‘ hinaus. Trat die Sonne […] hervor, dann trat auch der Mensch hervor, wie Ps 104,23 es formuliert. [...] Wenn freilich die Sonnenscheibe hinter dem westlichen Horizont wieder zu versinken begann, war es Zeit, alle Arbeit im Freien zu beenden und rasch den Heimweg anzutreten.“13 Der Rhythmus des sozialen Lebens und der Rhythmus der erlebten, von Gott geschaffenen und erhaltenen Raumzeit waren eng miteinander verschränkt, was auf klassische Weise in der Gottesrede nach der Flut Gen 8,21f zum Ausdruck kommt: 21 Da roch JHWH den angenehmen Duft, und er sagte zu seinem Herzen: „Ich will nicht noch einmal den Erdboden wegen des Menschen verfluchen, denn das Sinnen des menschlichen Herzens ist böse von seiner Jugend an und ich will nicht noch einmal alles Lebendige schlagen, wie ich es getan habe. 13
Helga Weippert, „Altisraelitische Welterfahrung. Die Erfahrung von Raum und Zeit nach dem Alten Testament“, in: Ebenbild Gottes – Herrscher über die Welt. Studien zu Würde und Auftrag des Menschen, hg. von H.-P. Mathys (BThSt Bd. 33), NeukirchenVluyn 1998, 9–34, 12f, vgl. passim.
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Rhythmus, Dauer, Epiphanie 22 Solange die Erde steht, gilt: Aussaat und Ernte, und Kälte und Hitze, und Sommer und Winter, Tag und Nacht werden nicht aufhören.“
Dass die Einschreibung in die Rhythmen des Kosmos als das Normale, Versuche der Veränderung der Welt, Innovationen und Überraschungen dagegen als deviant angesehen wurden, gilt für das alte Israel wie schon für seine Umweltkulturen, in denen als das Wahre und Rechte das galt, das schon immer so gewesen war. Das wird etwa an der frappierend seltenen Verwendung des Ausdrucks ḥdš (‚neu sein‘) und seiner Derivate ersichtlich, der zuerst zur Zeit des babylonischen Exils in einem positiven Sinne zum Tragen kommt, etwa bei Deuterojesaja (s. Jes 42,9f; 43,19; 48,6 vgl. 65,17; 66,22f) oder bei der Ankündigung eines neuen Bundes in Jer 31,31-34 – und diese Entwicklung ist für den alten Orient aufs Ganze gesehen durchaus etwas Neues. So ist das von ḥdš abgeleitete Substantiv ḥōdæš auch keineswegs auf überraschende Ereignisse bezogen, sondern heißt schlicht ‚Neumond‘ (und daher auch „Monat“) und bezieht sich nicht von ungefähr auf eine rhythmische und stabile Zeitordnung. Dass der Körper in einer Präsenzkultur der wichtigste Gegenstand des Selbstbezugs sei und von ihm aus ein wesentliches Verhältnis zum Raum zwischen den Menschen und den Dingen dieser Welt entsteht (DH, 103), ist für das alte Israel gewiss zutreffend; dass die Zeit deshalb eine nur untergeordnete Rolle spiele, trifft hingegen nicht zu. Die rhythmisierte Zeit war, wie bereits erwähnt, auf sehr konkrete Weise an Räume gebunden. Nach Vorstellung einer Sinnkultur wird Zeit durch Tätigkeiten, ästhetische Erfahrungen und stets neue Sinnkonstruktionen gefüllt oder genutzt, denen es jedoch an Dauer, Tiefe und innerem Gehalt zu mangeln scheint – nach heutiger Vorstellung kann Zeit sogar ‚gemanagt‘ werden, obwohl jeder weiß, dass die menschlichen Möglichkeiten des Eingreifens in die und des Veränderns der Zeit illusionär bleiben müssen. In der
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Präsenzkultur des alten Israel wurde die Zeit dagegen als je und je erfüllt erfahren, waren doch die Ordnung der Zeit und damit die rechte Zeit zum Handeln und für die Tätigkeiten des täglichen Lebens vorgegeben (Qoh 3) – es galt, sich ihr entsprechend zu verhalten. In bedeutungsgesättigte Vorstellungen von Schöpfung, Israelgeschichte und kommenden Gerichts- und Heilszeiten war die soziale Zeit des täglichen Lebens auf ähnliche Weise eingebettet, wie die überschaubaren Räume des Alltagslebens umgeben waren von den ‚ewigen‘ Gebirgen (vgl. Gen 49,26; Dtn 33,15; Ps 76,5; 125,1 u.ö.). Das alte Israel zeigt auch sonst eine ganze Reihe der Merkmale einer Präsenzkultur. Das wird nicht zuletzt an der althebräischen Sprache deutlich, nach der ein dābār gleichermaßen eine Sache und ein Ding sein kann, wo debārīm (Pl.) Dinge, Ereignisse und ganze Geschichten sein können. Den Teilnehmenden dieser Sprachgemeinschaft fehlte somit von vorneherein das sprachliche Rüstzeug für das Denken in semiotischen Triaden. Dass das Althebräische zudem geradezu eine Sprache der Präsentifikation ist, wird auch daran ersichtlich, dass mit etwa 1040 Vorkommen der Partikel hinnēh („Siehe: da“) im Alten Testament die Deixis vorherrscht, und zwar gerade auch, wo erzählt wird und mit hinnēh eine zeitlich vergangene Sicht einer Person auf ein leiblich Gegenwärtiges fokussiert – präsent gemacht – wird, z.B.: Da kam zu ihm die Taube zur Zeit des Abends, und siehe: Ein frisches Ölblatt in ihrem Schnabel. Da merkte Noah, dass das Wasser weniger geworden war auf der Erde. (Gen 8,11) Da erschien ihm der Engel JHWHs in einer Feuerflamme mitten aus dem Dornbusch. Und er sah hin, und siehe: Der Dornbusch brannte im Feuer, aber der Dornbusch wurde nicht verzehrt. (Ex 3,2)
Dass für die Menschen des alten Israel der Körper der dominante Gegenstand des Selbstbezugs war (DH, 100), gehört spätestens seit der bahnbrechenden Monographie von H.-W. Wolff zu den Grundeinsichten der alttestamentli-
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chen Anthropologie.14 Wolff ging von vier alttestamentlichen Grundbegriffen aus, die allesamt sowohl Körperbegriffe sind als auch psychische und mentale Fähigkeiten des Menschen bezeichnen und unter diesem Aspekt ‚Stellvertreterausdrücke‘ für den gesamten Menschen sein können. Diese Ausdrücke sind: 1. næfæš (H.W. Wolff: „der bedürftige Mensch“) mit den Bedeutungen: Kehle und deren Funktion; Begehren / Verlangen; Vitalität, Lebendigkeit; (individuelles) Leben, Person; Personalpronomen 2. lēb (H.W. Wolff: „der vernünftige Mensch“) mit den Bedeutungen: Herz (als Organ); Gefühl; Wunsch; Vernunft; Willensentschluss 3. bāśār (H.W. Wolff: „der hinfällige Mensch“) mit den Bedeutungen: Fleisch; Körper; Verwandtschaft, enge Zusammengehörigkeit; Schwäche, Hinfälligkeit 4. ruaḥ (H.W. Wolff: „der ermächtigte Mensch“) mit den Bedeutungen: Wind; Atem; Bevollmächtigung, Begabung; Geist; Gemüt, Haltung; Wille, Willenskraft.
Und so wie das geistige und seelische Leben des Menschen nicht ohne Beteiligung des Körpers vorgestellt werden konnte, so gibt es auch keinen eigenen Ausdruck für ein Denken, das vom Leib losgelöst vonstattengehen könnte. Denken wird als ’mr æl / belēb (Sprechen im/zum Herzen) aufgefasst, also als etwas Leibliches und quasiStimmliches, das im leiblichen Zentrum und Ort des Urteilens und Sinnens, dem Herzen, geschieht (vgl. Gen 17,17; 24,45; 27,41; 1 Sam 27,1 u.a.). Davon ist im Übrigen auch Gott selbst – zumal er nicht nur anthropomorph, sondern auch quasi-körperlich vorgestellt wird – nicht ausgenommen (Gen 8,21). Nicht einmal das Verständnis von Schuld kommt ohne einen materiell-leiblichen Aspekt aus: Schuld muss wie eine Last vom Schuldigen selbst getragen (Gen 4,13; Ex 28,38; Lev 5,11.17; 10.17; 17,16 14
Hans-Walter Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, München 1973. Neu hg. von B. Janowski, Gütersloh 2010.
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u.a.: nś’ ‘āwōn) oder kann von einem anderen aufgehoben (Ex 34,7; Ps 32,5; 85,3; Jes 33,24: ebenfalls nś’ ‘āwōn), d.h. vergeben werden. Dass die Dinge der Welt nicht nur materielles Sein, sondern einen inhärenten (nicht durch Interpretation vermittelten) Sinn haben, wird besonders bei Berücksichtigung der altorientalischen Ikonographie deutlich, die als einer der ersten und mit großer Wirkung für das Verständnis des alttestamentlichen Denkens Othmar Keel herausgearbeitet hat. In der altorientalischen Bildwelt tritt „der stark verbreitete Gebrauch von Ideogrammen und Symbolen [hervor], wobei Ideogramm und Symbol eine konkrete Größe bezeichnen, der aber eine [...] weiterreichende Bedeutung zukommt, als die konkrete Größe an sich besitzt. Während wir uns [sic] im allgemeinen gewohnt sind, fast ausschließlich mit konkreten (Baum, Haus, Tür) oder abstrakten (Wesen, Königtum, Mentalität) Begriffen zu arbeiten, verwendet der Alte Orient mit Vorliebe Begriffe, die an sich konkret sind, aber oft etwas weit über ihre konkrete Bedeutung Hinausreichendes meinen.“15
Ein Thron stellt hier zugleich die Königsherrschaft, ein Baum das von ihm symbolisierte Leben und Fruchtbarkeit dar – und auf diese Weise wurde auch die Welt aufgefasst: „Es findet eine ständige Osmose zwischen Tatsächlichem und Symbolischem statt. Diese Offenheit der alltäglichen irdischen Welt auf die Sphären göttlich-intensiven Lebens und bodenloser, vernichtender Verlorenheit hin ist wohl der Hauptunterschied zu unserer Vorstellung der Welt als eines praktisch geschlossenen mechanischen Systems […] Die Welt ist nach biblischer und altorientalischer Vorstellung auf das Über- und Unterirdische hin offen und durchsichtig.“16
Die Fremdheit eines solchen Denkens ist fraglos faszinierend, doch es bleibt durchaus offen, was aus der Beschäftigung mit solchen Präsenzkulturen folgt – ob uns
15
Othmar Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Göttingen 51996, 8. 16 Keel, Bildsymbolik, ebd., 47.
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‚Sentimentalischen‘ eine solche zweite Naivität möglich und erlaubt, und ob sie für uns überhaupt erstrebenswert ist. Präsenz und Macht Gemäß Gumbrecht ist Macht die „Möglichkeit […], Räume mit Körpern zu besetzen oder zu blockieren“, und Gewalt die „Aktualisierung von Macht, d.h., sie ist Macht als Vollzug oder Ereignis. Indem wir uns auf die Erörterung des Epiphaniecharakters des ästhetischen Erlebens zurückbeziehen und die Beobachtung in Anspruch nehmen, Epiphanie impliziere immer das Auftreten einer Substanz, insbesondere das Auftreten einer augenscheinlich aus dem Nichts kommenden Substanz, können wir in der Tat festsetzen, daß es ohne einen Moment von Gewalt keine Epiphanie und infolgedessen kein wirklich ästhetisches Erleben geben kann, denn ohne das Ereignis der Raumbesetzung durch eine Substanz gibt es keinen Moment der Intensität.“ (DH, 135)
Die Besetzung von Raum ist jedenfalls in politischer Hinsicht nicht weniger als in Präsenzkulturen noch in heutigen Sinnkulturen eine klassische Frage der Macht bzw. Gewalt. Die Bereitstellung und Bestückung ‚heiliger‘ Räume und Tempel, in denen das Erleben der Präsenz von Göttlichem stattfinden soll, war auch im alten Israel und seiner Umwelt eine Frage der Macht, auch wenn sie nach altorientalischem Selbstverständnis eine Kernaufgabe der Könige im Dienst der Götter war und nur aufgrund der Beauftragung und der Legitimierung durch Götter zustande kamen. Die Verschonung oder Zerstörung eroberter Tempel, die Verschleppung und Wiederaufstellung oder Zerschlagung von – immerhin die Gottheiten vergegenwärtigenden, gar mit ihnen identifizierten – Kultstatuen17 oder auch der Bericht von der Zerstörung 17
Vgl. Brigitte Groneberg, Die Götter des Zweistromlandes. Kulte, Mythen, Epen, Stuttgart 2004, 104ff.
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von Kultstätten im eigenen Land zur Zentralisierung des JHWH-Kults, wie in 2 Kön 22-23 als Maßnahmen der josianischen Reform geschildert, verdeutlichen die religionspolitische Brisanz der Macht, die bereits im Vorfeld des Erlebens religiöser Präsenz zur Entfaltung kommt. Heute wird man gewiss nicht mehr in der Weise Rudolf Ottos und der an ihn anschließenden Religionsphänomenologie hinter dem Text Erlebnisse des fascinosum et tremendum aufsuchen, sondern danach fragen, auf welche Weise das Erleben von heiliger Präsenz erzählt und stilisiert wird, welche Stimmungen und Atmosphären alttestamentliche Visions- und Epiphanie-Schilderungen heraufbeschwören, in welchen ‚heiligen Räumen‘ sie geschildert werden und wie diese vermutlich ausgestattet und gestaltet waren. So sieht der Prophet Jesaja in einer der prominentesten Visionen des Alten Testaments, Jes 6,1-7, JHWH auf einem hohen und erhabenen Thron, flankiert von sechsflügligen Seraphen. Nun gehörte zum sichtbaren Tempelinventar tatsächlich ein das Königtum JHWHs symbolisierender Kerubenthron, auf dem man JHWH als unsichtbar thronend gegenwärtig dachte; auch die Vorstellungen von Seraphen und viele weitere Elemente des Tempelinventars lassen sich ikonographisch erläutern.18 Doch die „traditionellen Vorstellungen löschen den Fremdheitsaspekt der Erscheinung Jahwes nicht aus, sie werden vielmehr transparent für die aktuelle, überwältigende Erfahrung des heiligen Gottes.“19 Jesajas Vision hat den Charakter einer „sudden overpowering realization“20, wenn JHWH nun als sichtbar und so ‚hoch und erhaben‘ erfahren wird, dass bereits sein Gewandsaum den Tempel ausfüllt und sein kābōd (seine Herrlichkeit, die sichtbare Außenseite Gottes) die ganze Erde erfüllt. Die Erfahrung des universalen Königsgottes als eines über-präsenten, 18
Vgl. v.a. Othmar Keel, Jahwe-Visionen und Siegelkunst. Eine neue Deutung der Majestätsschilderungen in Jes 6, Ez 1 und 10 und Sach 4 (SBS Bd. 84/85) Stuttgart 1977, 15–124. 19 Jörg Barthel, Prophetenwort und Geschichte (FAT Bd. 19), Tübingen 1997, 97; vgl. aaO. 60–117. 20 Barthel, Prophetenwort, ebd., 99.
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universal mächtigen Gottes hat somit durchaus Anhalt an der Atmosphäre eines heiligen Raumes und seiner symbolischen Ausgestaltung, übersteigt diese jedoch deutlich. Zum Abschluss sei mir als evangelischer Theologin noch eine kritische Anmerkung erlaubt: Gerade angesichts zahlreicher anregender Einsichten von Hans Ulrich Gumbrechts Präsenzphilosophie wünschte man sich, dass er die mehrfache unzutreffende Darstellung des evangelischen Abendmahlsverständnisses als bloßes Gedenkmahl und Signifikationsereignis (DH, 47 u.a.) vermieden hätte. Die dem Lutherischen Weltbund zugehörigen Kirchen bekennen sich nach wie vor mit der Confessio Augustana von 153021 und der Konkordienformel von 1577 (VII. „Vom heiligen Abendmahl Christi“) zur Realpräsenz Jesu Christi beim Abendmahl, auch die Leuenberger Konkordie zwischen lutherischen, reformierten und unierten Kirchen Europas von 1973 erklärt: „In der Verkündigung, Taufe und Abendmahl ist Jesus Christus durch den Heiligen Geist gegenwärtig“, und selbst ein Protagonist reformierter Theologie wie M. Welker spricht beim Abendmahl inzwischen nicht nur von Personal- sondern von Realpräsenz.22 Von Gumbrechts Entwurf her könnte man hier wiederum einige produktive Fragen anschließen, etwa ob die evangelische Kirche somit im ewig Gestrigen einer vorneuzeitlichen Präsenzkultur verharrt, oder umgekehrt, ob es nicht gerade das Abendmahl wäre, von dem ausgehend evangelische Theologie dem Erleben einer nicht wegzudeutenden Präsenz größeres Gewicht beimessen müsste. Aber solch großen Fragen kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden.
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CA Art. 10 „Vom heiligen Abendmahl“: „Vom Abendmahl des Herrn wird so gelehrt, daß der wahre Leib und das wahre Blut Christi wirklich unter der Gestalt des Brotes und Weines im Abendmahl gegenwärtig ist und dort ausgeteilt und empfangen wird. Deshalb wird auch die Gegenlehre verworfen.“ 22 Michael Welker, Was geht vor beim Abendmahl?, Gütersloh 3 2004, 98–102.
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Rhythmus, Dauer, Epiphanie
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„Solange die Erde steht...“ Zur Erfahrung von Raum und Zeit im alten Israel
I
Raum und Zeit als Grundkategorien der Lebenswelt
Wie die Zeit so gehört auch der Raum zu den zentralen Kategorien der menschlichen Lebenswelt, die eine alltägliche – sinnliche – und eine übertragene – symbolische – Bedeutung haben.1 Entsprechend der operativen Entfaltung räumlicher und zeitlicher Grenzen vollzieht sich menschliches Leben in unterschiedlichen, jeweils eigens definierten Räumen, die der natürlichen (Tag / Nacht, geographische Gegebenheiten), der sozialen (Häuser, Dörfer, Städte) und der symbolischen Ebene (Alltag / Fest, Diesseits / Jenseits)2 angehören. Da jede dieser Ebenen der geschichtlichen Veränderung unterliegt, der natürliche Raum im antiken Mittelmeerraum beispielsweise ein anderer war als im Europa des beginnenden 21. Jahrhunderts, ändert sich auch die Art ihrer Wahrnehmung. Selbst der durch die Vermittlung des menschlichen Leibes konstituierte Lebensraum ist „keine schlechterdings feststehende Größe, sondern er unterliegt den Erfordernissen räumlicher Selbstbegründungen und Sinngebungen in der Zeit“.3 Überdies kommt, wer über den Raum spricht, nicht 1
Gehlen, Art. Raum, 378. Zur religions- und kulturwissenschaftlichen Problematik des Raumbegriffs s. Leroi-Gourhan, Hand und Wort, 387ff; Gehlen, Welt; ders., Art. Raum, 377f; Wulf, Anthropologie, 180ff.202ff; Löw, Raum u.a. – Teil I und II der folgenden Überlegungen stammen von B. Janowski, Teil III von A. Grund. Teil IV wurde gemeinsam verfaßt. 2 Zum Fest als „Jenseits des Alltags“ s. Janowski / Zenger, Jenseits des Alltags. 3 Gehlen, Art. Raum, 380.
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Solange die Erde steht
umhin, auch über die Zeit zu sprechen. Beide aber, Raum und Zeit, sind auf Metaphern angewiesen. So ist die Zeit, wie R. Koselleck ausführt, nur über die Bewegung in bestimmten Raumeinheiten anschaulich zu machen: „Der Weg, der von hier nach dort zurückgelegt wird, das Fortschreiten, auch der Fortschritt selber oder die Entwicklung enthalten veranschaulichende Bilder, aus denen sich zeitliche Einsichten gewinnen lassen. Der Historiker, der es mit Geschichten zu tun hat, kommt gar nicht umhin, sich solcher Metaphern, die der räumlichen Vorstellung entlehnt sind, zu bedienen, wenn er seine auf verschiedenen Zeiten bezogenen Fragen sachgerecht behandeln will. Denn Geschichte hat es immer mit der Zeit zu tun, mit Zeiten, die nicht nur metaphorisch, sondern auch empirisch auf räumliche Vorgaben bezogen bleiben, so wie ‚geschehen‘, daß der ‚Geschichte‘ vorangehende Verb, zunächst auf ‚eilen, rennen oder fliegen‘ verweist, also auf räumliche Fortbewegungen. Jeder geschichtliche Raum konstituiert sich kraft der Zeit, mit der er durchmessen werden kann, wodurch er politisch oder ökonomisch beherrschbar wird. Zeitliche und räumliche Fragen bleiben ineinander verschränkt, auch wenn die metaphorische Kraft aller Zeitbilder anfangs den räumlichen Anschauungen entspringt.“4
Zentral für die folgenden Überlegungen ist schließlich der Sachverhalt, daß in traditionellen Kulturen wie dem alten Israel Raum und Zeit unauflöslich miteinander verbunden sind und ein komplementäres, das gesamte Leben prägendes Ganzes bilden, eine, so der Ethnologe K.E. Müller, „erlebte Raumzeit“:5 „Jahreszeiten schied man nach Umlauf und ‚Wendepunkten‘ der Sonne, konkreter jedoch nach Warm- und Kaltphasen, Regenund Trockenzeiten, differenziert nach der Dichte der Niederschläge und Höhe der Temperaturen, sowie den längerfristigen viehzüchterischen oder agrarischen Tätigkeitszyklen, markiert jeweils durch entsprechende, feierliche Eingangs-, Höhepunkts4
Koselleck, Zeitschichten, 9. Instruktiv sind in diesem Zusammenhang die für die Darstellung des geschichtlichen Prozesses verwendeten Metaphern der Bewegung wie Strom/Fluß, Weg, (Kreis-)Lauf, Rad u.a., s. dazu Demandt, Metaphern für Geschichte, 166ff. 5 Müller, Zeitkonzepte, 221.
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und Abschlußrituale, oft wieder zusätzlich kombiniert mit spezielleren saisonspezifisch charakteristischen Vorgängen in der Natur: mit Fischzügen und Wanderbewegungen von Tieren, der Wiederbelebung und den Wachstums- und Reifephasen der Wildvegetation, der Verfärbung des Herbstlaubs u.a. mehr.“6
Auf diese Weise entstanden hochdifferenzierte Kalender, deren Präzision sich ebendort verdichtete, wo die spezifischen Gegebenheiten des Wirtschaftsleben dies erforderten.7 Auch die Lebensführung des einzelnen, ja seine gesamte Lebenszeit war Teil des Ganzen, wobei die einzelnen Phasen, Tätigkeiten und Pflichten sozial strukturiert und räumlich gebunden waren. So ist im Blick auf die Weltbilder vorneuzeitlicher Kulturen wie Mesopotamien, Ägypten oder Israel8 zunächst zu bedenken, daß „diese Welt nicht dieselbe ‚Ausdehnung‘ hat wie die unsere“.9 Sie ist übersichtlich und erfahrungsgebunden. Der Mensch der Antike „erfährt seine Umwelt zergliedert in Raum und Zeit, Ursache und Wirkung. Die Anordnung und Zuordnung der Dinge, ihre raumzeitliche Verortung und die für ihre Bewertung verantwortlichen Kräfte machen ein Weltbild aus“.10 Unter einem „Weltbild“ versteht man das Zusammenspiel der für eine bestimmte Kultur leitenden Anschauungen und Deutungsmuster über den Aufbau des Kosmos, die Natur der Dinge und das Zusammenleben der Menschen, durch die sowohl die Struktur des Ganzen als auch die Funktion seiner Teile organisiert wird und in Erscheinung tritt. Im Sinn dieser Definition hat H. Weippert die
6
Müller, Zeitkonzepte, 222. Zum altisraelitischen Kalender s. Jaroš, Art. Kalender, 429ff. 8 Zum alttestamentlichen (und altorientalischen) Weltbild s. die Beiträge in: Janowski / Ego, Weltbild, ferner Stadelmann, Conception of the World, 37ff; Gese, Frage des Weltbildes, 202ff; Keel, Bildsymbolik, 13ff.333ff; ders. / Schroer, Schöpfung, 102ff; Lang, Art. Weltbild, 1098ff; Oeming, Art. Welt / Weltanschauung / Weltbild, 569ff und Hartenstein, Weltbild, 15ff. 9 Stolz, Weltbilder, 4. 10 Streck, Art. Weltbild, 291. 7
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Solange die Erde steht
intensive Einbindung des einzelnen in Raum und Zeit11 anhand eindrücklicher Beispiele beschrieben. Der Mensch des alten Israel konnte, so Weippert, „räumlichen und zeitlichen Einflüssen ... nicht distanziert gegenüberstehen, beides erlebte er hautnah“. 12 Sei es die Erfahrung des Tag/Nacht-Rhythmus mit seinem „Wechsel von der tags größeren, nachts kleineren Menschenwelt“, 13 sei es der jahreszeitliche Rhythmus mit seinem Wechsel von der Sommer- zur Winterweide und von der Saat zur Ernte – immer erfuhr man Raum und Zeit als etwas Elementares und vor allem, wie der Epilog der nichtpriesterlichen Fluterzählung in poetischer Diktion deutlich macht, als etwas Zusammengehöriges und Ordnung Stiftendes:14 21* Da roch JHWH den lieblichen Duft, und er sagte zu seinem Herzen (= zu sich): „Ich will nicht noch einmal den Erdboden wegen des Menschen verderben. Und ich will nicht noch einmal alles Lebendige schlagen, wie ich es getan habe. 22 Solange die Erde steht (, gilt): Aussaat und Ernte, und Kälte und Hitze, und Sommer und Winter, Tag und Nacht werden nicht aufhören.“ (Gen 8,21f*)
Wie dieser Text zeigt, waren der Rhythmus des sozialen Lebens und der Rhythmus der erlebten, von Gott geschaffenen und erhaltenen Raumzeit eng miteinander verschränkt. Was das konkret bedeutet, soll im Folgenden anhand ausgewählter Beispiele gezeigt werden. 11
Zum alttestamentlichen (und altorientalischen) Raum- und Zeitbegriff s. zuletzt Wyatt, Space; Kaiser, Erfahrung der Zeit, 11ff; Mathys, Art. Zeit, 520ff und die Literaturhinweise bei Janowski / Ego, Weltbild, 546ff. 12 Weippert, Welterfahrung, 15. 13 Weippert, Welterfahrung, 14, s. dazu auch Janowski, Rettungsgewißheit, 19ff u.ö. 14 Vgl. Weippert, Welterfahrung, 15 und zur Sache auch Keel / Küchler / Uehlinger, Orte und Landschaften 1, 38ff.
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II Aspekte der Raumwahrnehmung im alten Israel 1 Der natürliche und der soziale Raum Es gibt Vorprägungen für die Wahrnehmung der natürlichen Lebenswelt – wie die geomorphologische Beschaffenheit des Landes (‚Kleinkammerigkeit‘), der Rhythmus der Zeiten (Klima) und die agrarische Lebensweise seiner Bewohner (Ackerbau und Viehhaltung) –, aufgrund deren die alten Israeliten ein spezifisches Verhältnis zu sich selbst, zu den Mitmenschen, den Tieren, den Pflanzen und den Dingen entwickelt haben.15 Von einer dieser Vorprägungen, nämlich der räumlichen Orientierung durch Himmelsrichtungen, soll zunächst die Rede sein. a)
Die Orientierung im natürlichen Raum
Der Alltag spielte sich im alten Israel „in landschaftlich und sozial kleinen Räumen und in überschaubaren Zeitabschnitten ab, er war eng begrenzt“.16 Diese überschaubare Welt des alten Israel läßt sich an den geographischen Termini des Alten Testaments, seinen Tier- und Pflanzennamen,17 aber auch an seinen Begriffen für die Himmelsrichtungen belegen. Bei der Strukturierung des Raums stand der menschliche Körper mit seiner natürlichen Vertikalachse im Vordergrund, von der aus der Raum in ein Rechts und Links, in ein Vorn und Hinten sowie in ein Oben und Unten zerfällt. Aus diesen Oppositionspaaren resultiert in der Horizontalen eine Vierteilung (Quadrie15
S. dazu Steck, Welt, 52ff; Hopkins, Highlands; Borowski, Agriculture; Weippert, Palästina, 3ff; dies., Welterfahrung, 9ff; Zwingenberger, Dorfkultur, 540ff u.a. Speziell zur Tier- und Pflanzenwelt s. Keel / Küchler / Uehlinger, Orte und Landschaften 1, 54ff.100ff; Janowski / Neumann-Gorsolke / Gleßmer, Gefährten und Feinde; Neumann-Gorsolke / Riede, Kleid der Erde, und Riede, Im Spiegel der Tiere. 16 Weippert, Welterfahrung, 19. 17 S. dazu Weippert, Welterfahrung, 23ff.25ff.30ff.
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Solange die Erde steht
rung) des Raums, die sich am klarsten im System der Himmelsrichtungen widerspiegelt, wobei dem Osten als dem Ort des Sonnenaufgangs Priorität zukommt.18 Die entsprechende Terminologie, die auf drei Ebenen, einer anthropologischen, einer kosmologischen und einer topographischen Ebene angesiedelt ist, läßt sich folgendermaßen darstellen:19 Anthropologie: auf den Standpunkt des Menschen bezogene Ebene Osten ִםי ָקד Ostseite, Osten, Ostwind ֶקדֶ ִם Vorderseite, Vorzeit, vorn ַקדְ מֹנִי östlich, vormalig Westen אָ חֲֹור, אַ חַ ִר Rückseite, hinten אַ חֲרֹוִן hinterer, letzter Norden ׂשמ ֹאל links, linke Seite Süden יָמין rechts, rechte Seite יְמָ ני rechter,-e,-es, südlich תֵּ ימָ ן rechte Seite, Südland Kosmologie: auf die Position der Sonne bezogene Ebene Osten ִמז ְָרה Sonnenaufgang ()שֶ מֶ ש מֹוצָ א Ausgangsort (der Sonne) Westen מַ ע ֲָרב Sonnenuntergang מָ בֹוא Eingangsort (der Sonne) Norden Süden 18
)ִ (הַ שֶ מֶ ֶָש
– –
S. dazu Weippert, Welterfahrung, 21f.31; Baudy, Art. Orientierung, 293; Wyatt, Space, 35f und das altorientalische Material bei Janowski, Rettungsgewißheit, passim und ders., Weltbild, 8ff. 19 Zum Folgenden s. Wyatt, Space, 33ff.43, vgl. Stadelmann, Conception of the World, 131ff; Kronholm, Art. קֶ דֶ ם, 1165; Hübner, Art. Himmelsrichtungen, 161f; Weippert, Welterfahrung, 1f; Kaiser, Erfahrung der Zeit, 13f u.a. Zur allgemeinen Problematik s. Levinson, Space.
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Topographie: auf geographische Gegebenheiten bezogene Ebene Osten ()שֶ מֶ ש (nur in Verbindung mit מז ְָרה und מָ בֹוא, s. unter Kosmologie) Westen יָם Meer Norden צָ פֹון vgl. ug. ṣpn Süden ֶנגֶב Trockenland דָ רֹו ִם Südland (?) Wie N. Wyatt hervorgehoben hat, ist die primäre Orientierungsebene die auf den Standpunkt des Menschen bezogene Ebene, die, wie die Terminologie zeigt, einen elementaren Anhalt am Aufgang der Sonne und der Position des Menschen im Gegenüber zu diesem Tagesgestirn hat. Es genügte, den „eigenen Körper so auf die aufgehende Sonne auszurichten, wie wir mit der Magnetnadel des Kompasses den Norden anpeilen, um uns räumlich zu orientieren“.20 Diese anthropologische Orientierungsebene ist, so N. Wyatt, „ ... also the most subjective one (and so is validated emotionally). Self centeredness may seem ‚selfish‘ in the moral sense, but is the necessarily irreducible basis for all experience. We have to start from our own self-awareness, and even if it is conditioned by our social context (i.e., it is a ‚social construction of reality‘) then society itself is in part a function of innumerable individual experiences. Much that follows in cosmology and ritual may be seen to have its roots in this starting point“.21
Drei Textbeispiele – Gen 13,8ff; Ps 139,1bff und Hi 23,8f – mögen einen Einblick in die komplexe Problematik der alttestamentlichen Himmelsrichtungen geben: (8) So sagte Abram zu Lot: ‚Es soll kein Streitanlaß sein zwischen meinen und deinen Hirten; denn wir sind verbrüderte Männer. (9) Ist nicht das ganze Land vor dir (offen)? Trenn dich doch von mir: 20 21
Weippert, Welterfahrung, 22. Wyatt, Space, 35.
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Solange die Erde steht wenn nach links ( = ׂשמאלnach Norden), so will ich nach rechts gehen ( ימןhif., = nach Süden); wenn nach rechts ()יָמין, so will ich nach links gehen ( ׂשמאלhif.)!‘ (10) Da erhob Lot seine Augen und sah den Jordankreis; denn insgesamt gab er Wasser – bis dahin, daß JHWH Sodom und Gomorrha vernichtete, war er wie der Garten JHWHs, wie das Land Ägypten, bis man nach Zoar kommt. (11) So wählte sich Lot den ganzen Jordankreis, und Lot brach in östlicher Richtung ()מקֶ דֶ ם22 auf. Man trennte sich, ein Mann vom Bruder: (12) Abram ließ sich im Land Kanaan nieder, Lot aber in den Städten des Kikkar, und so zeltete er bis nach Sodom. (13) Die Leute von Sodom waren jedoch bei JHWH sehr böse und frevelhaft. (14) Da sagte JHWH zu Abram, nachdem Lot sich von ihm getrennt hatte: ‚Hebe doch deine Augen auf und schau von der Stätte, an der du bist, nach Norden ()צָ פֹ נָה, nach Süden () ֶנגֶבָ ה, nach Osten ()קֵּדְ מָ ה und nach Westen (( ;)יָמָ ה15) denn das ganze Land, das du siehst, werde ich dir geben und deiner Nachkommenschaft für immer! ... (Gen 13,8–15) 1b JHWH, du hast mich erforscht und erkannt. 2 Du kennst mein Sitzen und mein Aufstehen, hast wahrgenommen mein Wollen von fern. 3 Mein Einherziehen und mein Lagern – du hast es gemessen, alle meine Wege – du bist damit vertraut! 4 Ja, kein Wort ist auf meiner Zunge –Siehe, JHWH, du kennst es ganz. 5 Hinten (ִ )אָ חֹורund vorn ( )קֶדֶ םhast du mich eingeengt, hast auf mich gelegt deine Handfläche! 6 Zu wunderbar ist mir (die) Erkenntnis, zu hoch/unzugänglich
22
ִמ ֶק דֶ םist eine sog. Dislokationsangabe, deren konkrete Bedeutung aus dem jeweiligen Kontext zu erheben und die im Deutschen entsprechend schwierig wiederzugeben ist (Kronholm, Art. ֶקדֶ ם, 1166: „im/nach/von Osten“). Grundsätzlich beschreibt min locale „eine von der Himmelsrichtung weg (separativ) auf den Standpunkt des Ortenden zu laufende Linie“ (Floß, Textanalyse, 74), so daß man מ ֶק דֶ םam ehesten mit „von Osten weg (auf den Standpunkt des Betrachters zulaufend)“ wiederzugeben hätte, s. dazu auch Floß, Textanalyse, 89 Anm.17. Die obige Übersetzung von ( מ ֶקדֶ ם+ Verb der Bewegung נסעqal „aufbrechen“) mit „in östlicher Richtung“ entspricht weniger der hebräischen als unserer Vorstellung, weil sie die Richtungsangabe vom Standpunkt des Betrachters auf die Himmelsrichtung „Osten“ zulaufend, also direktiv und nicht wie im Hebräischen separativ beschreibt. Wertvolle Beobachtungen zur Präposition min finden sich bei Jenni, Präposition min, 91ff.
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– nicht kann ich (sie) fassen! (Ps 139,1b–6) (8) Siehe, vorwärts (ִ = קֶ דֶ םnach Osten) gehe ich, und er ist nicht da, und zurück (ִ = אָ חֹורnach Westen), und ich nehme ihn nicht wahr, (9) nach links (ִ = ְׂשמ ֹאולnach Norden), doch ich sehe sein Tun nicht, verhüllte er sich zur Rechten ( = יָמיןim Süden), so schaue ich (ihn) nicht. (Hi 23,8f)23
Bemerkenswert ist dabei, in welchem Ausmaß die Orientierung nach Osten, d.h. nach „vorn“ zur aufgehenden Sonne hin, auch das Raum- und Zeitverständnis geprägt hat. Das trifft beispielsweise auf den 61mal im Alten Testament belegten Begriff ֶקדֶ ִםzu, der fast gleich häufig in räumlichem Sinn („Vorderseite“) wie in zeitlichem Sinn („frühere Zeit, Vorzeit“) verwendet wird.24 Bezeichnen „vorn“ ( ֶקדֶ םu.a.) und „hinten“ ( אַ חַ ִרu.a.) als Raumbegriffe den „Osten“ und den „Westen“, so haben sie als Zeitbegriffe die Bedeutung „Vergangenheit“ und „Zukunft“. Daß bei ֶקדֶ םbisweilen die Grenze zwischen Raum und Zeit verschwimmt und ein in bestimmter Hinsicht qualifizierter ‚Zeit-Raum‘ gemeint ist, trifft besonders für die Bedeutung „frühere Zeit, Vorzeit“ im Sinn von „(mythischer) Urzeit“ zu. Neben einigen Belegen, die offen lassen, ob mit קֶדֶ םin relativer Weise eine „frühere Zeit“ oder in absoluter Weise eine „uralte Zeit, (mythische) Urzeit“ gemeint ist,25 gibt es eindeutige Belege für ֶקדֶ םin der Bedeutung „(mythische) Urzeit“,26 und zwar Dtn 33,15; Jes 51,9; Ps 68,34 oder Spr 8,22f: 13* Gesegnet (von) JHWH (ist) sein Land, vom Ertrag an Früchten des Himmels, vom Tau und von der Urflut, die unten lagert. 14 Und vom Ertrag an Früchten, Erzeugnis(se) der Sonne, und vom Ertrag an Früchten, Ertrag des Monats. 15 Und vom Ersten der Berge der Urzeit (ִ)קֶ דֶ ם, und vom Ertrag 23
Übersetzung Strauß, Hiob, 72. S. dazu Jenni, Art. קֶ דֶ ם, 587ff und Kronholm, Art. ֶק דֶ ם, 1163ff. 25 S. dazu mit den entsprechenden Belegen Kronholm, Art. קֶ דֶ ם, 1167f, vgl. Jenni, Art. ֶקדֶ ם, 588. 26 S. dazu Kronholm, Art. ֶקדֶ ם, 1168 und ausführlich Koch, Qädäm, 254ff.262ff.273. 24
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Solange die Erde steht der Hügel von Ewigkeit ()עֹולָם. (Dtn 33,*13–15)27 9
10
33 34
22 23
b)
Reg dich, reg dich, bekleide dich mit Kraft, Arm JHWHs! Reg dich, wie in den Tagen der Vorzeit ()קֶ דֶ ם, den Geschlechtern der Urzeit ()עֹולָמים. Bist du es nicht, der Rahab ‚zerschlagen‘ hat, Tannin durchbohrt hat? Bist du es nicht, der das Meer ausgetrocknet hat, die Wasser der großen Urflut, die Tiefen des Meeres zu einem Weg gemacht hat, daß die Erlösten hindurchziehen können? (Jes 51,9f) Ihr Königreiche der Erde, singt Gott, spielt dem Allherrn! Sela Für ihn, der über die Himmel einherfährt die uralten Himmel (!) ְשמֵּ י־קֶדֶ ם Seht, er läßt seine Stimme erschallen, eine mächtige Stimme. (Ps 68,33f) JHWH schuf mich als Anfang ()ראשית ֵּ seines Weges, als erstes (ִ )קֶ דֶ םseiner Werke, damals ()מֵּ אָ ז, von uraltersher ( )מֵּ עֹולָםwurde ich gewebt, von Anfang ()מֵּ ר ֹאש, von den Vorzeiten der Erde ( מקַדְ מֵּ י־ )אָ ֵּרץan. (Spr 8, 22f)
Die Strukturierung des sozialen Raums
Neben der räumlichen Orientierung durch Himmelsrichtungen gibt es ein zweites Orientierungssystem, das auf einer stufenartigen, aus drei ‚Schichten‘ (Himmel – Erde – Unterwelt) bestehenden Gliederung des Kosmos beruht. Im Blick auf dieses ‚Schichtenmodell‘ ist noch einmal zwischen einer impliziten und einer expliziten Kosmologie zu differenzieren, d.h. zwischen einer raumzeitlichen Ordnung, der – wie die erst nachexilisch nachweisbare Rede vom „Himmel“ als Wohnort JHWHs zeigt – eine eigenständige Bedeutung zukommt, und einer impliziten, an der räumlichen Symbolik des Zentrums (Tempel, Stadt, Palast) orientierten älteren Kosmologie, die keine eigene 27
Teil des Josephspruchs Dtn 33,13–17 innerhalb des Mosesegens Dtn 33, zur Übersetzung und Motivik s. Beyerle, Mosesegen, 169ff.296.
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Begründungsfunktion aufweist, weil sie in den entsprechenden Texten (Jes, 6,1–7; Ps 93; Ps 46,2–8 und Ps 48) immer schon vorausgesetzt wird.28 Charakteristisch für diese ältere Kosmologie ist weiterhin der Sachverhalt, daß die Vorstellung von der Königsherrschaft JHWHs, die die Basisaussage der vorexilischen Zionstradition darstellen dürfte,29 nach ihrer vertikalen (Höhe – Tiefe) wie nach ihrer horizontalen Dimension (Peripherie – Zentrum) entfaltet wird. Dabei handelt es sich nicht um einander ausschließende Konzepte, sondern um Varianten einer Grundvorstellung, die jeweils einen Aspekt – den vertikalen oder den horizontalen – in den Vordergrund rücken, ohne den jeweils anderen einfach auszublenden.30 Ein Beispiel für das vertikale Weltbild ist das Motiv vom „Aufragenden Gottesthron“ (vgl. Jes 6,1– 7 und Ps 93,1–4 [.5]) und ein Beispiel für das horizontale Weltbild das Motiv vom „Paradiesischen Gottesstrom“ (vgl. Ps 46,2–8). Jes 6,1–5 bringt dieses vertikale Weltbild, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe mit großer Deutlichkeit zum Ausdruck (s. Abb.1).31
28
S. dazu Hartenstein, Unzugänglichkeit Gottes; ders., Wolkendunkel, 125ff und im Anschluß daran Janowski, Wohnung, 35ff. 29 S. dazu Janowski, Keruben, 247ff, vgl und Hartenstein, Unzugänglichkeit Gottes, 3ff. 30 So ist in Texten, die wie Ps 46,2-8 das horizontale Weltbild favorisieren, die vertikale Achse nicht einfach inexistent, sondern lediglich in den Hintergrund gerückt. In Ps 46,5b verweist etwa die Formulierung „...die heiligste der Wohnungen des Höchsten“ implizit auf die „Höhe“ des Gottesthrons, s. dazu Janowski, Wohnung, 49 Anm.90. 31 S. dazu Janowski, Wohnung, 35ff.
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Abb.1: Weltbild der Jerusalemer Theologie
Die Strukturierung des sozialen Raums läßt sich vor allem anhand des horizontalen Weltbilds verdeutlichen, weil hier die konkrete Lebenswelt der Menschen im Vordergrund steht. Man könnte das horizontale Weltbild dabei anhand der Funktion des sog. „Vierraumhauses“,32 des Haustyps der israelitischen Eisenzeit (1250–587 v.Chr.), der Anlage der israelitischen Stadt mit Ihrer schützenden Mauer und dem Tor als der Zentralen ‚Schnittstelle‘ zwischen Innen- und Außenwelt33 oder auch anderer architektonischer und landschaftlicher Gegebenheiten eruieren. Wir beschränken uns im Folgenden auf Jerusalem – und auch hier auf einen speziellen Aspekt –, weil die Gottesstadt nach den relevanten Texten und Traditionen der Jerusalemer Theologie mehr als eine topographische Größe, nämlich die „Trägerin eigener, für sie bestimmter theologischer Aussagen“34 ist, die es erlauben, die Grundkoordinaten des sozialen Raums zu benennen und 32
Zu den archäologischen Problemen des Vierraumhauses s. Weippert, Palästina, 393ff.449.480.530ff.594ff; Zwingenberger, Dorfkultur, 205ff u.a. 33 S. dazu Weippert, Welterfahrung, 12ff; Niehr, Himmel, 59f; Otto, Art. שַ עַר, 392f, Fischer, Rut, 231ff u.a. 34 Steck, Zion, 145.
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ansatzweise auch ihre symbolische Qualität in den Blick zu nehmen. Methodisch gesehen ist dies eine Fragestellung der Religionsgeographie,35 die die Wechselbeziehungen zwischen einer bestimmten Religion und ihrer geographischen Umwelt untersucht. Wegen der Wechselseitigkeit dieser Beziehungen, d.h. des Sachverhalts, daß „die Religionen ... durch ihre Bekenner das Erscheinungsbild der Kulturlandschaft (prägen) und der von der Religion vorgeprägte Raum ... auf die Religion in Gestalt ihrer darin ansässigen Anhänger zurück(wirkt), ist die Religionsgeographie an der Erklärung der räumlichen Verhältnisse wie der Religion beteiligt“.36 Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang das Zustandekommen einer sog. „mental map“. Die „mental map“ ist eine Art ‚inneres Modell‘, das den einzelnen und die Gemeinschaft instand setzt, seine/ihre Umwelt wahrzunehmen und zu deuten und aus dieser Deutung Anweisungen für das Verhalten abzuleiten. Beispiele für diese Art der Wirklichkeitswahrnehmung sind die Mythologisierung und Ritualisierung des Raums,37 die kultische und politische Verknüpfung von Zentrum und Peripherie38 oder – im Kontext des „horizontalen Weltbilds“ besonders brisant – die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Toten. Darauf wird gleich zurückzukommen sein. Vor diesem Hintergrund gewinnt unser Beispiel, das der Symbolwelt des königszeitlichen Jerusalem entnommen ist, grundsätzlichere Bedeutung. Diese Symbolwelt wird nämlich von dem Gegensatz von Innen (Zentrum / Kosmos) und außen (Peripherie / Chaos) geprägt und stellt die 35
Zur Religionsgeographie s. besonders Hoheisel, Art. Religionsgeographie, 108ff; Borsdorf, Art. Religionsgeographie, 315ff. 36 Hoheisel, Art. Religionsgeographie, 108, s. zur Sache auch Niehr, Himmel, 56ff. 37 Ein prominentes Beispiel dafür ist die Kulttopographie des babylonischen akītu-Festes, s. dazu Pongratz-Leisten, Ina šulmi īrub, 12ff. 38 S. dazu Pongratz-Leisten, Ina šulmi īrub und Berlejung, Theologie der Bilder, 25ff.
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Gottesstadt als sichtbare Manifestation, gleichsam als „Gelände“39 der schützenden Macht des dort präsenten Zionsgottes vor. Die religiöse Topographie Jerusalems demonstriert dabei von innen nach außen abnehmende Bereiche von Reinheit und Heiligkeit, die sich vom Tempel über die umliegenden Wohnhäuser bis hin zu den Nekropolen im ‚Jenseitsgelände‘ außerhalb der bewohnten Stadt erstreckten. Diese Nekropolen markierten den „Übergang vom Kulturraum der Stadt zum lebensfeindlichen Umland ..., jenseits derer sich die Steppe als Bereich der Antiordnung auftat, der von Nomaden, rechtlosen Personen, Feinden, wilden Tieren und Dämonen besiedelt war und dessen Horizont durch das Bergland oder das Meer als Verkörperung des Chaos begrenzt wurde“.40 Ein Jerusalemer der Königszeit, der sich in seiner Stadt umschaute, sah also zunächst als Wohnort JHWHs den Tempel, als Wohnort der Lebenden die Häuser innerhalb der Stadtmauer und als Wohnort der Toten die Gräber außerhalb der Stadt, die Jerusalem im Lauf der Zeit von allen vier Seiten umgaben: „Auf allen vier Seiten war das königszeitliche Jerusalem von Nekropolen umgeben. So westlich und südlich der Stadt im Hinnomtal, östlich in Silwan und nördlich außerhalb des heutigen Damaskustores. Eine signifikante Ausnahme dazu bilden die Königsgräber in der Davidstadt. Damit ergibt sich folgende mental map eines antiken Jerusalemers der Königszeit: Der Tempel ist ein Abbild des Kosmos; der Götterberg, auf dem JHWH thront. Um ihn herum wohnen die Menschen. Der Bereich der Toten liegt außerhalb des durch die Stadt markierten Ordnungsbereiches, er ist anhand der Gräber ersichtlich. Eine genaue Lokalisierung der Unterwelt muß in diesem Modell offen bleiben, sie scheint an die Nekropolen gebunden zu sein.“41
Schon die Terminologie zeigt, wie schwierig die Frage nach der Lokalisierung der Unterwelt zu beantworten ist. Denn neben einem horizontalen (Diesseits / Jenseits bzw. 39 40 41
Steck, Zion, 128ff. Bieberstein, Pforte der Gehenna, 511ff. Niehr, Himmel, 60ff.
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Tempel / Nekropole) steht ein vertikales Raummodell (oben / unten bzw. Oberwelt / Unterwelt). Und während nach dem horizontalen Modell das Jenseits außerhalb der Stadt (Nekropole), am Rand des Kulturlands (Steppe) oder an den Grenzen der Schöpfungswelt (Chaos) liegt, kann es nach dem vertikalen Modell weit unten in der Erdtiefe verortet werden. Diese Vertikalität belegt auch der Begriff שאֹול, ְ „Totenreich, Unterwelt“,42 der morphologisch mit dem Lokalaffix / ה-/ oder mit den Direktivpartikeln אֶ ִל/ְִִלverbunden werden kann und dann syntaktisch als Richtungsangabe „in die Unterwelt“) fungiert.43 Darüber hinaus können Verben der Bewegung wie „ י ַָר ִדhinabsteigen“ (mit Menschen als Subjekt) und עלהhif. „hinaufführen, heraufholen“ (mit Gott als Subjekt) hinzutreten, die den Weg des Menschen in die Unterwelt als Abstiegs- und den Weg aus der Unterwelt als Aufstiegsbewegung kennzeichnen.44 In dieses Bild paßt schließlich der Sachverhalt, daß die synonym für „Grab“ ( )קֶ בֶ רverwendeten termini „Zisterne“ ( )בֹורund „Grube“ ( )שַ חַ תden Eingang zur Unterwelt bezeichnen.45 Sie stehen für eine räumlich verstandene Gottesferne, die nicht nur abgründig und dunkel ist, sondern auch endgültig zu sein scheint. Es liegt auf der Hand, daß diese Zuschreibungen die symbolische 42
S. dazu Wächter, Art. ש אֹול, ְ 901ff, Podella, Art. Scheol, 471f; Sedlmeier, Art. Unterwelt, 446f; Dietrich / Vollenweider, Art. Tod, 585ff; Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, 236ff.274ff; Oeming, Art. Welt / Weltanschauung / Weltbild, 578; Werlitz, Scheol, 41ff u.a. Die Lokalisierung der Scheol als unter der Erde befindlich basiert zum einen auf ihrem kosmologischen Gegensatz zum Himmel (vgl. Jes 7,11 cj.; Am 9,2; Ps 139,8; Hi 11,8) und zum anderen auf ihrer Verbindung mit den Nekropolen, die etwa Jerusalem rings umgaben, vgl auch Ps 88,4-10aa. 11-13 u.ö. und Niehr, Himmel, 64f. Dennoch ist die Lage der Scheol, wie das Beispiel des Hinnomtals zeigt, nicht einfach dem vertikalen Raummodell zuzuordnen, s. dazu Niehr, Himmel, 70f und Bieberstein, Pforte der Gehenna, 511ff. 43 Vgl. 1Kön 2,9; Hi 7,9; 21,12 u.ö und zur Sache Podella, Totenrituale, 545. 44 S. dazu Janowski, Die Toten, 213f und im Folgenden. 45 Vgl. Jes 14,15; 38,17; Jon 2,7; 16,10; 30,4; 88,5.12; Spr 1,12 u.ö.
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Raumauffassung des Alten Testaments nachhaltig geprägt haben. 2
Der symbolische Raum
In religiösen Symbolsystemen eignet sich der Raum in besonderer Weise zur Repräsentation symbolischer Ordnungen. E. Cassirer (1874–1945) hat in seiner späten Arbeit „Versuch über den Menschen“ den Menschen geradezu als animal symbolicum, also als ein Wesen definiert, das eine eigentümliche Fähigkeit zur symbolischen Gestaltung seiner Lebenswelt besitzt: „Er (sc. der Mensch) lebt nicht mehr in einem bloß physikalischen, sondern in einem symbolischen Universum. Sprache, Mythos, Kunst und Religion sind Bestandteile dieses Universums. Sie sind die vielgestaltigen Fäden, aus denen das Symbolnetz, das Gespinst menschlicher Erfahrung gewebt ist. Aller Fortschritt im Denken und in der Erfahrung verfeinert und festigt dieses Netz. Der Mensch kann der Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar gegenübertreten; er kann sie nicht mehr als direktes Gegenüber betrachten. Die physische Realität scheint in dem Maße zurückzutreten, wie die Symboltätigkeit des Menschen an Raum gewinnt.“46
Die „Symboltätigkeit des Menschen“, also der Schritt vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck, ist auch für das Verständnis der alttestamentlichen Raumvorstellungen aufschlußreich. Dieser Sachverhalt soll im Folgenden am Beispiel der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits (a) sowie der Korrelation von Tempel und Scheol (b) verdeutlicht werden. a)
Die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits
Grenzen dienen der Unterscheidung zwischen dem eigenen und dem fremden Territorium, zwischen Rein und 46
Cassirer, Versuch über den Menschen, 50. Zu Cassirers Ansatz s. die Hinweise bei Janowski, Rettungsgewißheit, 19ff; ders., Weltbild, 18 und Bieberstein, Pforte der Gehenna, 504ff.
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Unrein, Heilig und Profan oder Diesseits und Jenseits. Aus der Verortung der Grenze an der Nahtstelle zwischen diesen beiden Bereichen resultiert ihr „mehrdeutiger, doppelsinniger Charakter, der sie als gleichzeitig angstbesetzten, konfliktbeladenen wie auch als unverletzlichen und ‚heiligen‘ Ort ausweist“.47 Die wichtigste dieser Grenzen ist diejenige zwischen Diesseits und Jenseits bzw. zwischen Leben und Tod. Diese Grenze ist auch in den Psalmen ein zentrales Thema. Da der Tod zum Leben gehört und ein Mensch bei lebendigem Leib „tot“ sein kann, beschränkt sich das Totenreich nicht auf einen besonderen, ihm zugewiesenen Raum. Zu seinem Wesen gehört ein ständiges ‚Über-dieUfer-Treten‘, ein Erobern von Räumen, die eigentlich der Lebenswelt angehören.48 In diesem Sinn gehören die Todesbilder der Psalmen, die nicht direkt einen Sterbevorgang beschreiben, in die Kategorie der tief ins Leben hinein verschobenen Todesgrenze. „Ganz zweifellos“, so charakterisiert G. von Rad dieses Phänomen, „hat Israel den Tod auch als etwas Raumhaftes verstanden, als einen ‚Bereich‘; das wird z.B. daran deutlich, daß es die Wüste mit dem Tod, mit der Scheol geradezu identifizieren oder doch jedenfalls ihr typische Todesprädikate beilegen konnte. Die Domäne des Todes lag für Israel nicht draußen am äußersten Rand des Lebens, sondern war tief in den Bereich des Lebens vorgeschoben“.49
Erstaunlicherweise hat die alttestamentliche Wissenschaft verhältnismäßig lange gebraucht, um die Todesbilder der Psalmen auch theologisch ernst zu nehmen. Immer wieder 47
Gehlen, Art. Raum, 395. Vgl. Barth, Errettung vom Tode, 42ff. 49 Von Rad, Theologie des Alten Testaments 1, 400, vgl. auch Barth, demzufolge sich Leben und Tod nur relativ voneinander unterscheiden, denn „nicht alles ‚Lebendige‘ lebt wirklich, nicht alles ‚Tote‘ ist wirklich tot. Als Kranker, Verfluchter usw. gehört man ‚teilweise‘ schon zu den Toten, und zwar nicht nur bildlich“ (Barth, Leben und Tod, 141); s. zur Sache auch Podella, Totenrituale, 546 u.a. 48
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wurden sie auf die „lebhafte Einbildungskraft der Semiten“ (A. Bertholet) oder die „glühende Leidenschaft der Orientalen“ (H. Gunkel)50 zurückgeführt und die entsprechenden Aussagen über die Errettung vom Tod (Wasser-, Schlamm- oder Grab-/ Grubebilder) als „besonders phantastische Ausdrücke“ für einen Vorgang gehalten, der „objektiv und prosaisch etwa ‚mit Bewahrung vor vorzeitigem Tode‘ ([F.] Nötscher) wiederzugeben wäre“. 51 Erst Chr. Barth hat eine kohärente Gegenposition formuliert, die der Eigenintention der Texte gerecht zu werden vermag. Chr. Barth setzte für seine These an dem verbreiteten Mißverständnis der Bildsprache der Psalmen als „Übertreibung oder dichterische Phantasie“ an. Die Frage war: Sind die Aussagen der Klage- und Danklieder des einzelnen über den Tod und die Errettung vom Tod bildlich oder real gemeint? Und: Inwiefern unterscheidet sich der Tote von dem Bedrängten, der sich bei ‚lebendigem Leib‘ in der Unterwelt weiß und sich deshalb als „tot“ oder „totengleich“ bezeichnet? Nach Barth ist die Situation des Bedrängten mit der des (im physischen Sinn) Toten vergleichbar, sie ist ihr aber nicht gleich. Vergleichbarkeit besteht hinsichtlich der unheilvollen Aspekte der Todesbedrängnis. Dieser Gemeinsamkeit steht ein gravierender Unterschied gegenüber: „Nur die Nähe des Todes, nicht den Tod selbst scheint der Bedrängte erfahren zu haben.“52 Aber: „Im Denken der altorientalischen Völker gilt nun aber gerade diese Nähe als reale Todeserfahrung. Nur in beschränktem Umfang, vielleicht nur punktuell, kommt der Bedrängte mit der Wirklichkeit des Todes in Berührung; aber gerade das genügt, um ihn die ganze Wirklichkeit des Todes erfahren zu lassen (...) Nur vergleichsweise nennt sich der Bedrängte einen Toten; dieser Gedanke hat aber darin seinen Ursprung, daß eine reale, wenn auch nur partielle Identität zwischen Bedrängnis und Todeszustand vorliegt. (...) Der Bedrängte ist weder ein Toter 50 51 52
S. dazu Barth, Errettung vom Tode, 11ff. Barth, Errettung vom Tode, 14. Barth, Errettung vom Tode, 92.
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noch ein in vollem Sinne Lebendiger; irgendwo in der Mitte hält er sich auf. Das Entscheidende für ihn ist aber nicht, daß er noch lebt, sondern daß er nahe beim Totenreich ist.“53
Die Todesbilder der Individualpsalmen stammen, wie man den entsprechenden Texten entnehmen kann,54 allesamt aus Räumen der Lebenswelt, also aus der dem Beter vertrauten Natur-, Kultur-, Tier- und Pflanzenwelt. Durch das Wissen um die Präsenz des ‚Todes mitten im Leben‘ wurden sie aber zu Bildern des Todes umgeformt. Das Jenseits ist dabei offenbar ein Bereich, der geradezu räumlich ins Diesseits hineinragt und dieses zu einem Todesraum, zu einem jenseitigen Bereich in der diesseitigen Welt gestaltet. Im Unterschied aber etwa zu Ägypten mit seinem Motiv von der ‚Rückkehr des Toten ins Diesseits‘55 kehrt in Israel nicht der Verstorbene (und dann der verklärte Totengeist), sondern der von JHWH errettete Beter ins Diesseits zurück. In seinem diesseitigen Leben – und nicht erst nach dem Tod56 – erfährt der Gerettete das, was die Psalmen als ‚Errettung vom Tod‘ qualifizieren.57 Die Bereiche, die in diesem Zusammenhang Jenseitsfunktionen übernehmen, sind das Grab, der Staub, das Gefängnis, die Zisterne, die Fallgrube, die Wasserflut, das Meer, die Wüste, die Steppe, der Rand des Gebirges und – als zeitlicher Bereich – die finstere Nacht.58 Sie bilden die
53
Barth, Errettung vom Tode, 92f. S. dazu die Übersicht bei Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, 250ff. 55 S. dazu Assmann, Tod und Jenseits, 285ff und Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, 260ff. 56 Diese Vorstellung entsteht erst später, s. dazu Janowski, Die Toten, 231ff und Dietrich / Vollenweider, Art. Tod, 589ff. 57 S. dazu Barth, Errettung vom Tode, 98ff. 58 S. dazu Keel, Bildsymbolik, 53ff; Janowski, Rettungsgewißheit, 23ff; Berlejung, Tod und Leben, 485ff und Podella, Totenrituale, 545ff. 54
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schmale und gefährliche Grenze zwischen Leben und Tod, auf der sich der bedrängte Beter befindet:
Abb.2: Die Grenze zwischen Leben und Tod nach den Psalmen
Die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits wird dabei so gezogen, daß der Tod ins Leben hineinragt und das Leben des Beters die Unterwelt berührt (Ps 88,4b) – obwohl die Unterwelt nach den kosmologischen Vorstellungen Israels doch in der äußersten, unerreichbaren Tiefe liegt (vgl. Hi 38,16–18).59 Entscheidend aber war die Frage: Gab es eine Rückkehr aus diesem „Land ohne Wiederkehr“, 60 und wo fand sich der Errettete nach seiner Rettung vor? b)
Die Korrelation von Tempel und Unterwelt
Allen Übergangsriten ist die Symbolik der Schwelle (Tür, Öffnung, Zaun, Grenzfluß) gemeinsam, die vom Diesseits zum Jenseits oder umgekehrt vom Jenseits zum Diesseits zu überqueren ist.61 Der ägyptische Tote, der als 59
Nach Hi 38,17 macht alle Lebens– und Erkenntnismöglichkeit des Menschen vor den „Toren der Unterwelt“ // den „Toren der Finsternis“ halt, s. dazu Strauß, Tod, 246f und zuletzt Liess, Lokalisierung des Totenreiches, 400ff. 60 Vgl. die mesopotamische Unterweltsbezeichnung ašar/erṣet lā târi „Ort/Land ohne Wiederkehr“ und dazu die Hinweise bei Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, 256 Anm.130. 61 Vgl. Gehlen, Art. Raum, 396. Zur Symbolik der Schwelle (speziell in Mesopotamien) s. Hartenstein, Unzugänglichkeit Gottes, 116ff.
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Verklärter ins Diesseits zurückkehrt und sein irdisches Haus besucht, durchschreitet die sog. Scheintür als den Kontaktpunkt zwischen der Welt der Toten und der Welt der Lebenden.62 Eine solche Scheintür ist für das Alte Testament zwar nicht zu erwarten, dennoch wird der Übergang vom Tod zum Leben auch hier als räumlicher Vorgang vorgestellt, der das Jenseits mit dem Diesseits verbindet – und zwar durch einen rettenden Akt JHWHs, der den ‚Toten‘ aus der Unterwelt „heraufführt“ oder aus ihr „herauszieht“. Als räumlicher Vorgang mit vertikaler Dimension wird die Überwindung der – im wörtlichen Sinn – abgründigen Todesnot in den Dankliedern Ps 18,4–7 und 30,2–4 dargestellt: 4 5 6 7
2 3 4
‚Hochgepriesener‘ will ich rufen, JHWH, und vor meinen Feinden werde ich gerettet. Es umgaben mich Schlingen des Todes, Ströme des Verderbens erschrecken mich. Stricke der Unterwelt umfingen mich, es näherten sich mir Fangnetze des Todes. In meiner Not rufe ich JHWH, und zu meinem Gott schreie ich um Hilfe. Er hört aus seinem Tempel meine Stimme, Und mein Flehen wird vor ihn kommen, in seine Ohren. (Ps 18,4–7) Ich will dich erheben, JHWH, denn du hast mich heraufgezogen und hast nicht jubeln lassen meine Feinde über mich. JHWH, mein Gott, ich flehte zu dir, und du hast mich geheilt. JHWH, du hast heraufgeholt aus der Unterwelt mein Leben () ֶנפֶש, du hast mich zum Leben gebracht aus ‚denen, die‘ in die Zisterne ‚hinabsteigen‘. (Ps 30,2–4)
JHWH hat den Beter nach Ps 30 wie einen ledernen Schöpfeimer (דְ לי, vgl. Num 24,7) aus der Tiefe der
62
S. dazu Assmann, Tod und Jenseits, 286ff.
66
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Zisterne „heraufgezogen“ (ִ דלהpi. V.2)63 und sein Leben aus der Unterwelt „heraufgeholt“ ( עלהhif. V.4a, vgl. Jon 2,7b u.ö.). Damit hat er ihn wieder „zum Leben gebracht“ ( חיהpi.) aus denen, die in die Zisterne „hinabsteigen“ (י ַָרד V.4b). Sehr eindrücklich werden in diesen Texten also mit poetischen Mitteln Bilder von Gott, Mensch und Welt evoziert, durch die „das Nicht-Anschaubare ein-sichtig“64 gemacht und das Gedachte, die ‚Idee‘ – wenn auch ‚nur‘ poetischfiktiv – erlebbare Wirklichkeit wird. Dieser Prozeß ist eine Leistung der metaphorischen Sprache,65 die im Rückgriff auf sprachlich Vertrautes Unerwartetes zusammenstellt und so das übliche Sachverständnis durchbrechend eine neue Weltsicht schafft. Ähnliche Bilder eines vertikal – von unten (Scheol) nach oben (Tempel) – verlaufenden Rettungsvorgangs wie in Ps 18,4ff; 30,2ff und anderen Texten66 findet sich auch in dem individuellen Danklied Ps 116,67 das in seinem zweiten Teil (V.12–19) noch ein an der Horizontalen orientiertes Raumkonzept enthält. Aus dem umfangreichen Text sei die Rettungserzählung V.3–9 und der Bericht vom Vollzug des Dankopfers V.*13–19 zitiert: Rettungserzählung 3 Umgeben haben mich Schlingen des Todes, und Bedrängnisse der Unterwelt haben mich angetroffen, Bedrängnis und Kummer traf ich (immer wieder) an, 4 und ich rief den Namen JHWHs (unentwegt) an: ‚ Ach JHWH, laß mein Leben (ִ ) ֶנ ֶפשentkommen!‘ 5 Gnädig ist JHWH und gerecht, und unser Gott ist ein Erbarmer, 63
Zum Vorgang s. Ex 2,16.19 und Seybold, Poetik der Psalmen, 206. 64 Seybold, Poetik der Psalmen, 193. 65 Zur Bildsprache der Psalmen s. Brown, Seeing the Psalms; Janowski, De profundis, 244ff und Seybold, Poetik der Psalmen, 193ff. 66 S. dazu die Zusammenstellung der Texte und Termini bei Barth, Errettung vom Tode, 98ff.103ff.111ff; Adam, Held, 49.55ff; Ego, Wasser, 226 Anm.17 u.a. 67 S. dazu ausführlich Janowski, Dankbarkeit, 275ff.
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ein Hüter der Einfältigen ist JHWH; ich war niedrig, und mich rettete er. Kehre zurück, meine ש ִ ֶנ ֶפ, zu deiner Ruhe, denn JHWH hat an dir gehandelt; ja, du hast (herausgezogen =) befreit mein Leben (ִ) ֶנ ֶפש vom Tod, meine Augen von Tränen, meinen Fuß vom Sturz. Ich werde umhergehen vor JHWH in den Ländern der Lebenden
Dankopferbericht 13 Den Becher der Rettungstaten will ich erheben, und den Namen JHWHs will ich an-/ausrufen. 14 Meine Gelübde will ich JHWH erfüllen, ja, vor seinem ganzen Volk. Kostbar in den Augen JHWHs ist der Tod seiner Frommen. 16 Ach JHWH, ich bin dein Knecht, ich bin dein Knecht, der Sohn deiner Magd, du hast geöffnet meine Fesseln! 17 Dir will ich ein Todaopfer schlachten, und den Namen JHWHs will ich an-/ausrufen. 18 Meine Gelübde will ich JHWH erfüllen, ja, vor seinem ganzen Volk, 19* in den Vorhöfen des Hauses JHWHs, in deiner Mitte, Jerusalem!
Im Blick auf das Raumkonzept dieses Textes kann man von einer „sakralen Topographie“68 sprechen, weil der Psalm eine Gesamtbewegung von der Scheol (V.3) über die Länder der Lebenden (V.9) bis zu den Vorhöfen des Hauses JHWHs (V.19) nachzeichnet und damit den Beter schrittweise den dramatischen Weg vom Unheil zum Heil zurücklegen läßt. Die V.3–9 konstruieren dabei eine Bewegungslinie, die tief unten im (Gefängnis-)Bereich der Scheol (V.3f) ansetzt und in die Nähe des barmherzigen Gottes (V.5) führt, der die Distanz zum „niedrigen“ Beter (V.6ba) durch sein rettendes Eingreifen von oben (= Tempel) her überwindet (V.6bb, vgl. V.8)69 und der diesem 68
Von einer „sacred topography of contrast localities“, nämlich Scheol und Tempel, spricht im Blick auf die Individualpsalmen auch Hauge, Sheol, 281ff. 69 Formuliert mit חלץpi. „herausziehen“ (vgl. Ps 18,20 u.ö.) und
68
Solange die Erde steht
ermöglicht, vor ihm in den Ländern der Lebenden (V.9)70 zu wandeln (ִ הלךhitp.). Die auf die Vergangenheit bezogene Rettungserzählung V.3–6 versprachlicht diese Bewegung als vertikalen Vorgang mit der doppelten Sinnrichtung von unten (Scheol) nach oben (V.3f) und von oben (Tempel) nach unten (V.5f):
Nach der erfolgten Rettung (V.7f) verläuft der Weg des Beters in horizontaler Richtung vom Ort der „Ruhe“ (V.7) / von den „Ländern der Lebenden“ (V.9) zu den „Vorhöfen des Hauses JHWHs“ (V.19), wobei drei konzentrische Kreise: Länder der Lebenden → Jerusalem → Vorhöfe des Tempels die schrittweise Rückkehr des Geretteten in die Gemeinschaft mit JHWH räumlich abbilden.71 Am Ende des Psalms steht der errettete Beter, der den langen Weg von der Scheol zum Tempel zurückgelegt hat, wieder vor seinem Gott und preist ihn dankbar „vor seinem ganzen Volk“ (V.18b, vgl. V.14a). Es gehört zu den Charakteristika der Psalmensprache, daß diese Errettung vom Tod als elementare Bewegungsfreiheit, als „Weite“ bzw. „weiter Raum“ beschrieben wird, die dem Beter in seiner lebensbedrohlichen „Enge“ von JHWH zurückgegeben wurde: 72 dreimaligem partitiven „ מןvon, aus“. 70 Vgl. Tita, Gelübde, 112f.122f. Zum tempeltheologischen Ausdruck „Land/Länder der Lebenden“ (Jes 38,11; 53,8; Jer 11,19; Ez 26,20; 32,23.24.25.27.32; Ps 52,7; 116,9; 142,6; Hi 28,13) s. Hartenstein, „Angesicht JHWHs“, 92ff. 71 Vgl. Tita, Gelübde, 123. 72 Die Antithetik von „Enge/Einengung“ vs. „Weite/Aufschließung/Befreiung“ spielt auch im Hiobbuch eine zentrale Rolle, s. etwa die Klage Hiobs in Hi 3,23; 19,8 oder das selbstzerstörerische Geschick des Frevlers in Hi 18,7–10 (innerhalb der 2. Rede Bildads).
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Auf mein Rufen antworte mir, Gott meiner Gerechtigkeit! In der Enge/Bedrängnis (ִ )צַ רhast du mir Raum geschaffen (רחב hif.). Sei mir gnädig, und höre auf mein Gebet! (Ps 4,2) Sie (sc. die Feinde) näherten sich mir am Tag meines Unheils, doch wurde JHWH mir zur Stütze. Er führte mich hinaus ins Weite ()מֶ ְרחָב, er riß mich heraus, denn er hatte Gefallen an mir. (Ps 18,20)73 Aus den Bedrängnissen ( )צָ רֹותmeines Herzens verschaffe mir Weite (ִ רחבhif.), und aus meinen Beklemmungen führe mich hinaus ( יצאhif.)! (Ps 25,17)74 7 Ich hasse die, die nichtigen Hauch bewahren, ich selbst aber habe auf JHWH vertraut. 8 Ich will jubeln und mich freuen an deiner Güte/Gunst, der du gesehen hast mein Elend, der du dich gekümmert hast um die Bedrängnisse (ִ )צָ רֹותmeines Lebens! 9 Und nicht hast du mich preisgegeben in die Hand des Feindes, du hast gestellt meine Füße auf weiten Raum ()מֶ ְרחָב. (Ps 31,7– 9) Aus der Bedrängnis (ִ )מֵּ צַ רrief ich JH, in der Weite (ִ )מֶ ְרחָ בerhörte mich JH. (Ps 118,5)
Menschliches Leben, so konstatieren diese Texte, ist angewiesen auf Bewegungsfreiheit (vs. Enge/Bedrängnis, vgl. Ps 31,8b) und Standfestigkeit (vs. Preisgabe an den Feind, vgl. Ps 31,9a), also auf Eigenschaften, die die Welt im wörtlichen Sinn ‚begehbar‘ machen. Daß diese ‚Begehbarkeit der Welt‘75 für den Menschen lebensnotwendig ist, 73
Vgl. die Parallelstelle 2Sam 22,20 und Ps 18,37 ( ָר חַבhif.). Zu dieser Stelle vgl. Bartelmus, Art. ר חַב, ָ 454: „Der Beter, dessen Herz ‚beengt‘ ist (was durchaus konkret im Sinne einer Art ‚angina pectoris‘ verstanden werden kann), bittet JHWH, seinem Herzen Raum zu schaffen, d.h. ihm in physiologischem wie in psychologischem Sinne ‚Luft‘ zu schaffen; der elementare Zusammenhang von konkret-räumlicher und abstrakter Bedeutung ist sinnenfällig artikuliert“. 75 Zu diesem für die ägyptischen Sonnenhymnen charakteris74
70
Solange die Erde steht
zeigt auf eindrückliche Weise Ps 104,19–23, wo sich mit dem morgendlichen Aufgang der Sonne, deren Licht die Welt erschließt, die wilden Tiere in ihre Verstecke zurückziehen (V.22) und der Mensch „heraustritt“ zu seinem Tun bis zum Abend (V.23): 19 a Er schuf (den) Mond für (Fest-)Zeiten, b (die) Sonne kennt ihren Untergang. 20 a Du bereitest Finsternis, und es wird Nacht, b in ihr wimmelt alles Getier des Waldes. 21 a Die Junglöwen brüllen nach Beute, b um von Gott ihre Nahrung zu fordern. 22 a Strahlt die Sonne auf, ziehen sie sich zurück, b und zu in ihren Verstecken lagern sie sich. 23 a Es geht hinaus der Mensch zu seinem Tun, b zu seiner Arbeit bis zum Abend.
III
Aspekte der Zeitwahrnehmung im alten Israel
Die Zusammengehörigkeit von Zeit- und Raumerleben für die Menschen des alten Israel veranschaulicht Ps 104,19– 2376 besonders sinnfällig: Wo sich der Lebensraum des Menschen und derjenige der wilden Tiere befand, galt als abhängig von den durch Gott festgesetzten Rhythmen des Lebens. Nun gehörte es in der Vergangenheit geradezu zu den Lehrbuchweisheiten, daß Israel sich vom naturzyklischen Denken der Umwelt – sei es der kanaanäischen, der mesopotamischen, der ägyptischen oder der griechischen Kultur – durch seine geschichtlich-lineare Zeitauffassung grundlegend unterschied.77 Diese auffällig schematische tischen Topos s. Assmann, Re und Amun, 108ff. 76 Zu Ps 104 im Ganzen s. nun Krüger, Lob des Schöpfers; zu Übersetzung und Deutung von V.19-23 insbesondere 40–45.247– 279. 77 Von Rad, Theologie I, 113 ff; Schmidt, Alttestamentlicher Glaube, 176; vgl. u.a. Achtner, Zeit, 145ff. Zur Kritik s. bereits Momigliamo, Zeit, passim; Schmitt, Heilsgeschichte, 107; in neuerer Zeit Herrmann, Zeit, 1191; Böhm, Art. Zeit, 399; Cancik, Zeit, 380; Koch, Art. Zeit, 559; Janowski, Doppelgesicht der Zeit,
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Annahme läßt sich allerdings nur aufrecht erhalten, wenn man den Stellenwert der Rhythmen von Tag und Nacht, von Mondmonat, Jahreszeiten und Jahresfesten für die bäuerliche Gesellschaft des alten Israel ebenso geflissentlich ausblendet wie die Bedeutung von Geschichtsüberlieferungen78 und auch von eschatologischen Vorstellungen79 für die Umweltkulturen. Will man die Zeitauffassung der Menschen des alten Israel rekonstruieren und sinnvoll mit derjenigen anderer Kulturen vergleichen, dann müssen für eine angemessene Gegenüberstellung folgende Dimensionen der Zeitauffassung unterschieden werden:80 (1) Zunächst lassen sich an der Sprache als dem alle Teilnehmer einer Kultur verbindenden Medium Besonderheiten des Ordnens, der Symbolisierung, der Kommunikation von Zeit feststellen. (2) In den (Text-)Zeugnissen einer Kultur wird erkennbar, wie einzelne ihren Lebenslauf, ihre Lebenszeit und ihre Zeitlichkeit deuten, und welche Wege der Vergänglichkeitsbewältigung eingeschlagen wurden. (3) Die Zeitauffassung einer gesamten Kultur kommt aber vor allem als „soziale Zeit“ in den Blick: Welche Tätigkeit übt man zu welcher Zeit aus? Welche symbolischen Vorstellungen verbindet man mit bestimmten Tages- und Jahreszeiten? Welche Zeitstrukturierungen (insbesondere durch Kalender) synchronisieren die 79ff. Schnocks konstatiert bereits: „Diese Kritik ist in den heutigen Ansätzen zum common sense geworden“; Schnocks, Vergänglichkeit, 148 Anm. 464. 78 S. jedoch allein zu Mesopotamien und Anatolien Güterbock, Historische Tradition; Krecher / Müller, Vergangenheitsinteresse, 14ff (Krecher); Glassner, Historical Times; vgl. bereits Gese, Geschichtliches Denken, 81ff. Zur griechischen Kultur, in der immerhin die Geschichtsschreibung im eigentlichen Sinne ihren Anfang nahm, s. Flaig, Vergangenheitsbezug, 215ff. „Die Vorstellung, daß beliebige Zeitpunkte bereits vergangener Geschichte und noch bevorstehender Zukunft auf einer kontinuierlich verlaufenden imaginären Zeitlinie angeordnet werden können, hat ihre Wurzel in der Zeitphilosophie des antiken Griechenland und basiert wesentlich auf der von Aristoteles entwickelten Definition von Zeit“; Ahn, Zukunft, 14. 79 S. hierzu Dietrich, Ordnungen des Himmels, 15ff. 80 S. hierzu Grund, Entstehung, 133-149.
72
Solange die Erde steht Zeit einer Kultur? Welche Bedeutung haben Alltags- und Festzeit? (4) Schließlich sind als einem wesentlichen Bestandteil der bei Festen gepflegten gemeinsamen Sinnwelt einer Kultur den weit ausgreifenden Zeitvorstellungen Beachtung zu schenken: Den Vorstellungen von fundierender Geschichte und von den „Fernzeiten“: von absoluter Vergangenheit, von absoluter Zukunft und von umfassender Dauer.81
Diese verschiedenen Dimensionen des Erlebens, Symbolisierens und Gestaltens von Zeit sind methodisch zu unterscheiden, doch werden sie vom einzelnen keineswegs als voneinander getrennt erfahren, im Gegenteil. So betont Alfred Schütz zu Recht: „Die Struktur der lebensweltlichen Zeit baut sich auf in Überschneidungen der subjektiven Zeit des Bewußtseinsstroms, der inneren Dauer, mit der Rhythmik des Körpers wie der biologischen Zeit überhaupt, mit den Jahreszeiten wie der Welt-Zeit überhaupt und dem Kalender, der sozialen Zeit. Wir leben in allen diesen Dimensionen zugleich“.82
Daß diese Dimensionen sich im Erleben des einzelnen überschneiden, galt nicht weniger auch für die Zeiterfahrung der Menschen im alten Israel, doch wollen wir uns ihnen der Reihe nach nähern. 1
Zeit in der Sprache
Die Ausdrücke des semantischen Felds „Zeit“, temporale Präpositionen und Adverbien, das Verbal- bzw. Aspektsystem u.a. sind Medium und Ergebnis der Verständigung 81
Zu einer in mancher Hinsicht ähnlichen Unterscheidung von Aspekten der Zeitauffassung kommt im Übrigen auch Gretler; sie unterscheidet „Facetten des Zeitkonzepts aus dem natürlichkosmischen Erfahrungsbereich“ (Gretler, Zeit, 24; vgl. dazu unten 3. Soziale Zeit), „aus dem biographisch-biologischen Erfahrungsbereich“ (ebd. 26; vgl. hier 2. Lebenszeit des Einzelnen) und „aus dem religiös-göttlichen Erfahrungsbereich“ (ebd. 30, vgl. dazu unten 4. Fernzeiten). 82 Schütz, Strukturen der Lebenswelt, 63.
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über Zeit und Zeitverhältnisse. Auch wenn Israels Zeitverständnis nicht primär aus den Sprachmitteln der langue, sondern aus den Sätzen der parole zu erschließen ist,83 so läßt sich ein wechselseitiger Einfluss von Besonderheiten der althebräischen Sprache und den von der Sprachgemeinschaft geteilten Zeitvorstellungen nicht leugnen. So ist es etwa bemerkenswert, daß das Althebräische ein Verbalsystem besitzt, das sich an Abgeschlossenheit oder Unabgeschlossenheit von Vorgängen orientiert, und nicht ein auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft abgestelltes Zeitstufensystem, das vom Zeitstandpunkt des Sprechenden ausgeht.84 Wie die spezifische Verwendungsweise von Zeitbegriffen wie עֵּת, יֹוםu.a. (s.u.), läßt auch diese Besonderheit des Aspektsystems die Ereignis- und Phasenorientierung der Zeitauffassung erkennen. G. Dux hat hier in seiner umfassenden Studie „Die Zeit in der Gesellschaft“ eine in traditionalen Kulturen häufig anzutreffende Orientierung weniger an einer übergreifenden Zeitordnung, sondern am Stadium von Handlungen und Prozessen wiedererkannt: „Die Zeitbestimmungen werden nicht nach einer das einzelne Zeitgeschehen übergreifenden Zeit getroffen, geben vielmehr den Entwicklungsstand des einzelnen Geschehnisses selbst wieder.“85
Selbstverständlich vermag auch das Althebräische Zeitrelationen in beiden elementaren Ordnungsformen der Zeit auszudrücken: Sowohl in der am subjektiven Sprecherzeitpunkt orientierten Folge ‚vergangen‘, ‚gegenwärtig‘, ‚zukünftig‘, die sprachwissenschaftlich als deiktisch bezeichnet wird und philosophisch der McTaggartschen AReihe ähnelt, als auch in der objektiven, nicht-deiktischen Folge ‚vorher‘, ‚nachher‘, die an die McTaggartsche BReihe erinnert. So gebraucht das Hebräische deiktische temporale Adverbiale wie ( עַתהjetzt), ( הַ ּיֹוםheute), מָ חָ רu.a. 83 84 85
Vgl. dazu Jenni, Zeitbestimmungen, 92f. Vgl. hierzu etwa Blum, Verbalsystem, 115–117 und passim. Dux, Zeit, 151; vgl. 137ff und hinsichtlich Israels 150ff.
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und nichtdeiktische, wie ( לפְ ֵּנִיvor) oder ( אַ ח ֲֵּרִיnach) gleichermaßen.86 Überwiegend über Begriffsuntersuchungen, vor allem zu „ עֵּתZeitabschnitt, Zeitpunkt, Zeitspanne“, „ זְמָ ןFrist, Termin, Datum, (absichtlich) festgesetzte Zeit“87, „ מֹועֵּדbestimmte Zeit“, „ עֹ לָםfernste Zeit“, „ יֹו ִםTag“88, versuchte die ältere Forschung einen Zugang zur alttestamentlichen Zeitauffassung zu gewinnen.89 Doch dieser erwies sich als nur mit Einschränkungen gangbar, ja er verleitete sogar vielfach zu falschen Folgerungen.90 Daß man im Alten Testament den Ausdruck עֵּתnicht für ‚Zeit‘ unter Absehung von dem sich darin ereignenden oder sie füllenden gebraucht findet, läßt sicher nicht darauf schließen, daß den Menschen des alten Israel eine Vorstellung von einer Zeit an sich, jenseits der Ereignisse fehlte,91 sondern spiegelt zunächst lediglich die Tatsache, daß uns keine Texte erhalten sind, die über Zeit ‚an sich‘ reflektieren. Auch wenn also die Semantik der Zeittermini für sich allein genommen keine Beurteilung der altisraelitischen Zeitauffassung zuläßt, so zeigen sich jedoch gerade am 86
S. hierzu die ausführliche Darstellung bei Jenni, Zeitbestimmungen, v.a.100ff. 87 Vgl. Jenni, Art. עֵּת, 375. 88 Weitere wichtige Zeitbegriffe sind ‚ קֶ דֶ םfrühere Zeit’, אַ חֲרית ‚spätere Zeit’; vgl. hierzu auch im Folgenden. 89 S. hierzu Schnocks, Vergänglichkeit, 145ff mit gründlichem Forschungsreferat zur einschlägigen Kritik Barrs am etymologischen Zugang zu Wortbedeutungen und dem Schluss von der Semantik der Zeitbegriffe auf das alttestamentliche Zeitkonzept in Barr, Bibelexegese, passim und ders., Biblical Words, passim. 90 So werden bei einem grundsätzlich „ähnlichen Inventar an sprachlichen Mitteln“ etwa des Ägyptischen und des BiblischHebräischen in den Textüberlieferungen dann doch sehr unterschiedliche Auffassungen von Zeit erkennbar; Jenni, Art. עֵּת, 382. 91 Daß zwischen grundsätzlichen menschlichen Fähigkeiten des Ordnens von Zeit, die dann in allen menschlichen Kulturen zu finden sind, und spezifischen Zeitauffassungen in den verschiedenen Kulturen unterschieden werden muß, versteht sich ja im Grunde von selbst; vgl. zur Gleichartigkeit der kognitiven Strukturen bei verschiedenartiger Ausprägung der Zeitauffassungen der Kulturen s. die methodische Grundlegung bei Dux, Zeit, 23ff.
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Gebrauch etwa von עֵּתund unter Berücksichtigung der jeweiligen Kontexte durchaus Charakteristika der israelitischen Zeitauffassung. Daß עֵּתso häufig in ConstructusVerbindungen, in Begleitung von ְִלim Sinne von ‚Zeit(abschnitt) des / Zeit zu‘ und so oft im Plural gebraucht wird, weist auf die schon häufig für Israel konstatierte ‚phasenbewusste‘ Zeitauffassung hin92 – die sich freilich in einer ganzen Reihe antiker bzw. traditionaler Kulturen feststellen läßt: „Darum ist das primitive Zeitbewußtsein so ausdrücklich ein Phasenbewußtsein, das heißt von der jeweiligen Separatgeltung bedeutsamer Zeitabschnitte erfüllt und nicht von der Beliebigkeit gleich geltender Zeitabschnitte gelangweilt. Zeit gibt es nur im Plural und mit je eigenem Charakter: spezifische Offenbarungszeiten, inhaltlich konkret gefüllte Festzeiten, besondere Ereignis- und Handlungs- als Reifezeiten, Zeiten für Wunder und Zeiten, die sich erfüllen, Wachstums- und Krisenzeiten usw.“93
Auch in Israel kommt Zeit primär von dem vorfindlich qualifiziert in den Blick, was sich in ihr ereignet, getan wird oder zu tun ist.94 So wird „ עֵּתfür die in den verschiedensten Bereichen der Schöpfung JHWHs zu registrierenden bestimmten Zeitpunkte/ -abläufe gebraucht“. Und so begegnete der Mensch des alten Israel „in den bestimmenden und bestimmten Zeiten dem Wirken Gottes“.95 Dies schließt dann eine ausgeprägte Vorstellung 92
S. hierzu auch Gretler, Zeit, 49ff. Böhm, Art. Zeit, 400. 94 „Die Komponente ‚bestimmte Zeit‘ im Sinne von ‚irgendwie erkennbare, als erkennbar gedachte Zeit‘ ist mit der ersten Komponente ‚Zeitpunkt‘ fast automatisch gegeben“; Jenni, Art. עֵּת, 374. 95 Kronholm, Art. עֵּת, 476–478; vgl. auch Koch, Art. Zeit II., 1803. Zur Konnotation von „ ֵּע תrechte Zeit für“ oder Gelegenheit für“ s. Jenni, Art. עֵּת, 377. Auch wenn Koh 3,2-8 in seiner ausgewogenen, ja leidenschaftslosen Polarität vom Geist vieler anderer alttestamentlicher Überlieferungen doch deutlich abweicht, so zieht der Text doch eine in anderer Hinsicht auch adäquate Summe des hebräischen Zeitphasenbewußtseins und der weisheitlichen Lehre von der rechten Zeit. 93
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vom Verhalten des Menschen zur rechten Zeit ein.96 Auch wenn die kairós-Haftigkeit bereits der alttestamentlichen Zeitauffassung in der Vergangenheit zuweilen überbetont wurde,97 so stimmt sie mit der neutestamentlichen, ebenfalls phasenbewussten Zeitauffassung doch in vieler Hinsicht überein.98 2 Lebenszeit des Einzelnen a) Gewährte Zeit und Zeitlichkeit Gemäß der phasenbewussten israelitischen Zeitauffassung konnte auch die Lebenszeit des einzelnen mit all ihren Wechselfällen als Vielzahl verschiedener Zeiten aufgefasst wurde, wie es etwa der Beter des 31. Psalms formuliert: 16 In deiner Hand sind meine Zeiten; rette mich aus der Hand meiner Feinde und vor meinen Verfolgern!
Ps 31,16 ist der einzige Beleg von עֵּת, der kontextbedingt meist im Sinne von ‚Geschicke‘, ‚Schicksal‘99 verstanden wird. Tatsächlich erscheint das Leben des Beters in diesem Zusammenhang als Aneinanderreihung von Widerfahrnissen, die erst in der Hand des persönlichen Gottes JHWH geeint und gehalten werden. Nun wurde, nicht anders als in anderen Kulturen, auch von den Menschen des alten Israel am Fortschreiten der eigenen Lebenszeit deren Irreversibilität erlebt, was nicht weniger auch für sie Anlass zur Ausbildung einer Vorstellung von ‚Geschichtlichkeit‘ und eines ‚linearen‘100 Ver-
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Vgl. Kronholm, Art. ֵּעת, 476–478; Koch, Art. Zeit II., 1803. Vgl. Jenni, Art. עֵּת, 380. 98 Dabei ist das NT stärker kairologisch geprägt; vgl. ingesamt Erlemann, Art. Zeit, 528ff. 99 Vgl. HAL 853 s.v. ;עֵּתHossfeld, in: Hossfeld / Zenger, NEB 29, 198; Kraus, BK.AT XV/1, 392. 100 Zum (mit Vorsicht zu handhabenden) Begriff der Linearität s. unten 4. 97
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ständnisses von Zeit gab.101 Allerdings darf man sich die Verschiedenheit zwischen heutigen westlichen, von individuellen Lebensplänen geprägten Vorstellungen von der eigenen Lebenszeit auf der einen Seite und den im Leben in einer bäuerlichen Gesellschaft ausgebildeten Zeitauffassungen auf der anderen kaum groß genug denken. Wo Leben und Überleben jedes Jahr aufs Neue von einer ausreichenden Ernte abhingen, war auch das Leben des einzelnen weniger am Zeitpfeil von Vergangenheit zur Zukunft ausgerichtet, sondern bleibend am Rhythmus des Agrarjahrs und damit der Jahreszeiten orientiert. Und wo Zeitmesser wie Uhren102 eine verschwindend geringe Rolle spielten, gaben die natürlichen Rhythmen der TagNacht-Wechsel und der Stand der Sonne den Takt des Lebens an. Das alltägliche Leben in einer agrarischen Gesellschaft und in einer kleinen, und dabei im Verhältnis zu heute nur extrem langsam zu durchquerenden, Welt erlebte man alles andere als schnelllebig. Dennoch drängte sich auch dem israelitischen Menschen angesichts seiner begrenzten Lebenszeit die Erfahrung der Flüchtigkeit des Lebens auf. Eine der bekanntesten Formulierungen dieser Erfahrung findet man inmitten der großen Zeit- und Vergänglichkeitsreflexionen des 90. Psalms: 10 Die Tage103 unserer Jahre sind in sich siebzig Jahre, und wenn durch kraftvolle Taten104 achtzig Jahre, und ihr stolzes Treiben105 ist Mühsal und Unheil, denn es ging eilends vorüber und wir sind dahingeflogen.106 101
S. zur Lebenszeit und zu den Lebensphasen des Einzelnen auch Gretler, Zeit, 26–31. 102 Vgl. als (seltene) Erwähnung einer Sonnenuhr Jes 38,8; 2Kön 20,9ff. 103 Es ist unnötig, יֹוםhier im Sinne von ‚Zahl’ zu deuten (so Gunkel, Psalmen, 397; Kraus, BK.AT XIV I / II, 795); zur Lebenszeit als Spanne von ‚Tagen‘ vgl. weiter unten. 104 Vermutlich JHWHs Taten, vgl. Zenger, in: Hossfeld / Zenger, HThK, 611. 105 Zur Abweisung von Emendationen und zur Übersetzung des Hapaxlegomenon רֹ הַבs. Schnocks, Vergänglichkeit, 93f. 106 Gerade hier ist es sinnvoll, SK und Narrativ im abgeschlossenen
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Auch wenn die menschliche Lebenszeit nach der nichtpriesterlichen Urgeschichte als auf 120 Jahre begrenzt (Gen 6,3)107 galt, formuliert Ps 90 die menschliche Lebenserwartung noch immer recht großzügig.108 Dennoch wird diese vergleichsweise lange Lebensspanne als hinfällig, mühselig und kurz erfahren, sofern sie unter dem Vorzeichen des Zornes Gottes, und also im Bild eines rasenden Fluges gezeichnet. Umso verständlicher ist in V.13– 18 die Hoffnung der Betenden auf von JHWH fest gegründete Werke (V.18 כוןpol.) und auf Sättigung mit JHWHs Treue ‚am Morgen‘, die auch einem befristeten Leben täglich Freude und Fülle verleihen kann. b)
Die Tage des Lebens
Wie in Ps 90,9.10.12.14 wird auch sonst die Lebenszeit eines Menschen meist als eine Anzahl von „Tagen“ aufgefasst, was sich etwa in der häufigen Wendung: „ שָ נָהxy ... NN “שָ נָה109 – „die Lebenszeit [Tage] des NN waren xy Jahre“ manifestiert.110 Die Vorstellung von der eigenen Lebenszeit bleibt also eng am für menschliche Zeitwahrnehmung ohnehin elementarsten natürlichen Rhythmus, dem Tag-Nacht-Wechsel orientiert. Der Tag ist ja die „einzige Zeiteinheit, die alle Menschen jederzeit und ohne weitere Hilfsmittel unmittelbar erkennen“.111 Nur „Tage, nicht Jahre werden vom Menschen unmittelbar erlebt“112. Sinn zu verstehen; anders Schnocks, Vergänglichkeit, 92.97; Zenger, in: Hossfeld / Zenger, HThK, 602. 107 Genau das Alter, das Mose erreicht (Dtn 34,7), das aber von den Patriarchen noch übertroffen wird: Abraham 175 (Gen 25,7); Isaak 180 (Gen 35,28), Jakob 147 Jahre (47,28). 108 S. hierzu Seybold, HAT I/1, 359; Schnocks, Vergänglichkeit, 98 mit Anm.315. 109 Jenni, Art. יֹום, 718; s. v.a. in den Toledot Adams, vgl. Ps 31,16; 39,5-7; 90,9f.12.14; 102,4.12.24f; Hi 7,6; 8,9; 20,20; 17,1.11; vgl. zu ähnlichen Wendungen Jenni, Art. יֹום, 718f. 110 S. hierzu auch Gretler, Zeit, 24ff. 111 Willi-Plein, Zeit, 151. 112 Willi-Plein, Zeit, 152.
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Da יֹוםdarüber hinaus oft die spezifische Bedeutung ‚Tag‘ verliert und zu einem recht allgemeinen Wort für ‚Zeit‘, ‚Zeitpunkt‘ wird,113 ist es kaum erstaunlich, daß יֹו ִםim Alten Testament der „wichtigste... Zeitbegriff überhaupt“ ist.114 Daß die Rhythmisierung der Zeit durch den TagNachtwechsel nach der priesterlichen Schöpfungserzählung der Anfang des Schaffens Gottes (Gen 1,1–5) überhaupt ist, entspricht durchaus der herausragenden Bedeutung des Tages als Zeiteinheit im weiteren Textverlauf des Alten Testaments. c)
Der Lebensweg
Das Leben wird häufig auch als Weg ( )דֶ ֶרְךwahrgenommen, und für den letzten Gang eines Menschen wird gerne die Wendung הלְךִבְ דֶ ֶרְךִ ָכִל־הִָאָ ֶרץ.115 gebraucht. Die einzelnen Lebensphasen Kindheit, Jugend, Erwachsenen- oder Greisenalter haben, kaum überraschend, sehr unterschiedliche Konnotationen:116 Der Weisheit des Alters117 stellte man die Unerfahrenheit gegenüber, die häufig zu den nahezu sprichwörtlichen Sünden der Jugendzeit führt;118 hohes Alter galt als Zeichen des Segens.119 Die „generationale Verortung“,120 die Zuordnung zu Altersgenossen unter den vielen Zeitgenossen, war in soziale Bezüge eingebettet, und so wurden die Übergänge von der einen zur nächsten Lebensphase und besondere Ereignisse im 113
Nach Jenni, Art. יֹום, 711. Jenni, Art. יֹום, 722; vgl. DeVries, Yesterday, 38; Brin, Time, 52–57. 115 Vgl. Jos 23,14; 1Kön 2,2: ִה נֵּה ִאָ נֹוכ י ִהֹולְֵּך] הַּיֹום[ בְ דֶ ֶרְך ִכָל ִ ָה אָ ֶרץ Siehe, ich gehe [heute] den Weg der ganzen Welt. 116 S. dazu auch Gretler, Zeit, 26ff. 117 Hi 12,12; 32,7; vgl. auch Ps 37,25. 118 Hi 13,20, Ps 25,7. 119 Vgl. Hi 21,7; 42,17; Jes 65,20. 120 Die soziale und zeitliche Orientierungsfunktion von „Generationalität“ – das „Ensemble von altersspezifischen inhaltlichen Zuschreibungen, mittels derer sich Menschen in ihrer jeweiligen Epoche verorten“ (Daniel, Kulturgeschichte, 331) – wird vermehrt als Thema der Kulturgeschichte entdeckt, vgl. hierzu ebd. 330ff. 114
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Lebenslauf an privaten Festen,121 die den Charakter von ‚Passageriten‘ trugen, von Familie oder Sippe gemeinsam gefeiert: So etwa die Beschneidung am 8. Tag (vgl. Gen 17,12), die Entwöhnung des Kindes (Gen 21,8), die Hochzeit122 oder das Begräbnis mit der meist einwöchigen Trauerzeit.123 Die Lebenszeit des einzelnen war somit von Beginn bis Ende eingebunden in die gemeinsam gestaltete Zeit: in ‚soziale Zeit‘. 3 Soziale Zeit a) Die Zeit in der Gesellschaft Entsprechend dem israelitischen Phasenbewusstsein sind die rechten Zeitpunkte für die verschiedenen menschlichen Tätigkeiten, das Bewusstsein, zu welcher Zeit man was tut oder zu tun hat, und damit die ‚soziale Zeit‘, von grundlegender Bedeutung. „Von sozialer Zeit als dem Kernbestandteil kollektiver Zeit kann da die Rede sein, wo es um ... gesellschaftliche Zeitvorgaben und Zeitvorstellungen der verschiedensten Art geht: Um kulturelle Normen für Umgangsformen mit der Zeit (z.B. Pünktlichkeit), ... um Rhythmen und Takte, die sich dem individuellen und gruppenspezifischen Zeitbewußtsein und Handeln aufgrund der Existenz sozialer Prozesse aufdrängen (z.B. der agrarische Zyklus)“.124 Während man bei einem von der erlebten Dauer ausgehenden Zeitverständnis die gemessene ‚physikalische‘ Zeit nicht selten als leer, 121
Zur Unterscheidung öffentlicher von privaten Festen sowie von der ‚Fete‘ s. u.a. Berlejung, Heilige Zeiten, 4.10. 122 Der Hochzeitstag יֹום ִ ֲח ֻת נָהgilt nach Cant 3,11 als „Tag der Herzensfreude“ ;יֹום ִׂש מְ חַ ת ִלֵּבmehrfach ist von einer sieben Tage währenden Hochzeit die Rede; vgl. Gen 29,22ff; Ri 14,10ff. 123 Vgl. die Trauer um Saul und seine Söhne 1Sam 31,13; vgl. 2Sam 3,31ff; 1Chr 10,12; eine siebentägige Trauerzeit ist erkennbar in Gen 50,10; Hi 2,13; vgl. ferner Ez 3,15; Jdt 16, 25; Sir 22,12. Ungewöhnlich lange Trauerzeiten sind bei Jakobs Trauer um Josef (Gen 37,34f) und um Mose (Dtn 34,8) zu notieren; vgl. ferner 1Chr 7,22; Dan 10,2; Gen 50,3. 124 Stanko / Ritsert, Zeit, 15.
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geradezu dem Leben entgegengesetzt bewertete,125 ist gemessene Zeit für die ‚soziale Zeit‘ von entscheidender Bedeutung. Denn „für eine jede Vergesellschaftung ... [besteht] die Notwendigkeit und Schwierigkeit, Ereignisse, Handlungen, Handlungs- und Ereignisfolgen (Prozesse), systemische und teilsystemische Bewegungen aufeinander abzustimmen.“126 Und so sind es vor allem gesellschaftliche Faktoren wie die Art der Zeitmessung und die vorrangigen Wirtschaftsformen, die bestimmend sind für eine grobe Kulturtypologie der Zeitauffassungen, die man im Anschluss an Böhm so vornehmen könnte:127 Kulturform primitive Gesellschaften (Sammler, Jäger, Naturvölker)
signifikante Form des Zeiterlebens Wiederholung
archaische Gesellschaften (Staatsorganisationen, Hochkulturen)
Ewigkeit
neuzeitliche Gesellschaften des Okzidents
Beschleunigung
Wie bei jedem Versuch einer Kulturtypologie sind hier selbstverständlich Überschneidungen und Abweichungen einzurechnen. Deutlich ist jedoch, daß sich die frühen Hochkulturen von ‚Jäger- / Sammler‘- und traditionalen Kulturen in ihrem Zeitverständnis durch Erfindung und Gebrauch des Kalenders bereits deutlich unterschieden. „Flächendeckende Verbreitung und Generationen übergreifende Dauer werden zum Signum der ‚auf 125
Der ‚durée‘ bei Bergson, der ‚Dauer‘ bei Husserl. Stanko / Ritsert, Zeit, 159; vgl. ebd. 159ff zur temporalen Regulierung gesellschaftlicher Prozesse und Handlungen. Zur sozialen Zeit s. auch Halbwachs: „Ich bin also gezwungen, mich in meinem Tun … nach dem von den anderen angenommenen Rhythmus zu richten, da ich sonst einige der Chancen und Vorteile gefährden würde, die mir das Leben innerhalb der Gesellschaft bietet“; Gedächtnis, 79f), vgl. auch ebd. 78ff seine weiteren Analysen zur sozialen Dimension der Zeit. 127 Böhm, Art. Zeit, 397. 126
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Perseveranz‘, das heißt auf Verfügung über ein mögliches Maximum von Zeit ausgelegten archaischen Zentralreiche“.128 Als zunächst segmentäre, bäuerliche Gesellschaft, die vom Status eines stabilen Großreichs stets weit entfernt blieb, ist das alte Israel in einer Übergangslage zwischen traditionalen und Hochkulturen anzusiedeln, die wiederum Besonderheiten der Zeitvorstellung mit sich gebracht haben. b)
Vom natürlichen zum sozialen Rhythmus
Wenn soziale Zeit um der institutionalisierten, regelmäßig stattfindenden gesellschaftlichen Tätigkeiten und Ereignisse stets rhythmisiert ist, so ist gerade eine bäuerliche Gesellschaft wie die des alten Israel sowohl im Alltagsleben als auch hinsichtlich der vom Erntedank bestimmten religiösen Feste noch eng am Agrarjahr und den Jahreszeiten orientiert. Diese rhythmisch gegliederte soziale Zeit muß von den viel weiter, in Richtung auf fundierende Geschichte, auf Schöpfung und Endzeit ausgreifenden Zeitvorstellungen aber deutlich unterschieden werden: „Der kosmisch-zeitliche und geographische Rahmen des Alten Testaments ist weit. Er umfaßt Himmel, Erde und Unterwelt, er umspannt die Zeit von der Schöpfung bis an das Ende der Tage ... Wir dürfen diesen Horizont aber keinesfalls mit dem Gesichtsfeld verwechseln, das die Lebenswelt bestimmte. Der Alltag spielte sich in landschaftlich und sozial kleinen Räumen und überschaubaren Zeitabschnitten ab“.129
Die „verschiedenen in der Schöpfung zu beobachtenden Zeiten – Tageszeiten, Jahreszeiten, die Stunden des menschlichen Alltagslebens treten als gottbestimmte 128
Böhm, Art. Zeit, 401 mit einem Zitat aus Heuß, Zur Theorie der Weltgeschichte, 1968, 17. Die seit der Erfindung der mechanischen Uhr im 14.Jh. einsetzende Epoche könnte man hiervon noch einmal als „Merkantil- und Mundanzeit“ unterscheiden, während das seit der Aufklärung entwickelte Zeitverständnis sich als „Fortschrittsund Programmzeit“ (Dupré, Zeit, 105) apostrophieren läßt. 129 Weippert, Welterfahrung, 19.
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Zeiten hervor“.130 Bleibend auf die täglichen biologischen Rhythmen bezogen sind dabei auch die Zeit, da man täglich das Vieh eintreibt (Gen 29,7) und tränkt (Gen 24,11), die Mahlzeiten (Rut 2,14) u.a.131 Die tägliche Zeiteinteilung war nicht an Uhren, sondern am Lauf der Sonne vom Aufgang am östlichen Himmel bis zu ihrem Untergang im Westen und somit räumlich orientiert. Zudem waren die täglich zu bestimmten Tageszeiten zu verrichtenden Tätigkeiten zugleich mit ganz bestimmten Orten verbunden: „Wenn am östlichen Horizont das erste Morgenlicht aufstieg ..., wurde im Tempel das allmorgendliche Schlachtopfer dargebracht (Lev 9,17; Num 28,4; Ez 46,13–15) ... Das Abendopfer ..., das allerdings erst jüngere Texte erwähnen ..., darf man entsprechend in der Abenddämmerung ansetzen ... Mit beiden Opfern wurde die Scheidelinie zwischen Tag und Nacht kultisch an einem ganz bestimmten Ort, nämlich im Jerusalemer Tempel mitvollzogen“132: Das menschliche Leben zog sich in der Zeit der kurzen Dämmerung „nachts auf geschützte, engere Bereiche“ zurück und griff „parallel zum aufscheinenden Sonnenlicht wieder über Lagerstätten, Haus- und Stadtmauern“ hinaus.133
Zudem waren die Tageszeiten nicht nur mit bestimmten Tätigkeiten, sondern auch mit symbolischen Bedeutungen assoziiert. Der Abend ( ) ֶע ֶרבals Zeit der heraufkommenden Finsternis und die Nacht ( ) ָל ְילָהals von der Finsternis dominierte Zeit (vgl. Gen 1,5) waren mit Gefahr und Chaos konnotiert. Zwar galt die Zeit der Finsternis nach Gen 1,3– 5 und Ps 104,19–23 als in den guten Rhythmus des TagNachtwechsels integriert, doch empfand man den Morgen ( ) ֹב ֶקרals ausgesprochene Heilszeit, in der mit dem neuen Aufstrahlen des Lichts und der Sonne die gute, gerechte 130
Kronholm, Art. ֵּעת, 476. Vgl. Kronholm, Art. ֵּעת, 476–478; Koch, Art. Zeit, 1803. 132 Weippert, Welterfahrung, 15 Anm.13. 133 Weippert, Welterfahrung, 12f. „Analoges gilt für den Tagesrhythmus. Man denke nur an die Frauen, die täglich zur selben Zeit Wasser von der Quelle oder vom Brunnen holten, an das Tränken der Herden am Morgen und Abend“; Weippert, Welterfahrung, 15 Anm.13; vgl. ebd. 30. 131
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Weltordnung neu etabliert wird,134 ähnlich den Mittag ()צָ ח ֳָרים.135 Als der Zeit der größten Helligkeit (Hi 5,14) und vor allem der größten Hitze ( ;חֹ םִהַ יֹוםGen 18,1; 1 Sam 11,11 u.a.) hielt man an ihm auch gerne im Schatten seine Mittagsruhe (Cant 1,7; 2 Sam 4,5). Anders als in Ägypten und Mesopotamien136 findet man im Alten Testament noch keine Stundeneinteilung des Tages,137 die Nacht allerdings wird in drei Nachtwachen ( )אַ ְשמֹ ֶרתeingeteilt.138 Wie die täglichen wurden auch die monatlichen und jährlichen Rhythmen auf Gottes Handeln zurückgeführt – etwa durch die Festsetzung der Gestirne (Gen 1,14–19; Ps 74,16f; s.o. zu Ps 104,19–23): „Die Jahreszeiten und die damit zusammenhängenden Termine im Kreislauf der Natur kehren aus der Hand des Schöpfers immer wieder, z.B. die Zeit der Jahreswende 1 Chr 20,1), der Regengüsse (Esra 10,13 ...), des Kommens der Zugvögel (Jer 8,7), der Brunst des Kleinviehs (Gen 31,10).“139 Das Fortdauern dieser guten, lebensnotwendigen Zyklen liegt in Gottes Zusage nach der Flut (Gen 8,22) begründet, wo Saat und Ernte an erster Stelle genannt werden. Sie akzentuieren besonders die Bedeutung des Agrarjahrs, da sie als der für den Fortgang des menschlichen Lebens grundlegende Rhythmus wahrgenommen wurden. JHWH galt als „der je und je Regen gibt, sowohl Frühregen als auch Spätregen, zu seiner Zeit, der die festgesetzten Wochen der Ernte ()שבֻעֹותִחֻקֹותִקָ ציר ְ für uns gewährt“ 134
Vgl. hierzu grundlegend Janowski, Rettungsgewißheit, passim. Hi 11,17, Ps 37,6; Jes 58,10. S. zu den Ausdrücken für die verschiedenen Tageszeiten auch Gretler, Zeit, 24f. 136 In Mesopotamien teilte man den Tag in 6 Doppelstunden ein, deren Länge je nach Jahreszeit wechselte, vgl. von Soden, Art. יֹום, 562; in Ägypten hatten „Tag und Nacht ... je 12 Stunden, deren Länge somit nach der Jahreszeit wechsel[e]“; Bergman, Art. יֹום, 564. 137 Jenni, Art. יֹום, 711, vgl. allerdings zu einem Tagesviertel ְרב יעית Neh 9,3. 138 Jenni, Art. יֹום, 711; vgl.: Thr 2,19 die erste Nachtwache, Ri 7,19 die mittlere: Ex 14,24; 1Sam 11,11 die letzte, die des Morgens. 139 Kronholm, Art. ֵּעת, 476; vgl. auch Ps 74,16: Dir gehört der Tag, dir auch die Nacht, du hast Leuchte und Sonne fest gegründet. 135
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(Jer 5,24). Und so waren die menschlichen Tätigkeiten auf die Jahreszeiten abgestimmt: Es gab „die Zeit der Getreideernte (Jer 50,16; 51,33 ...), die Zeit des Dreschens (Jer 51,33), die Zeit des Schneitelns der Reben (Hld 2,12)“.140 Und so ist uns als vermutliche älteste bekannte hebräische141 Inschrift mit dem Gezer-Kalender (vgl. Abb. 4)142 aus der zweiten Hälfte des 10. Jh. ausgerechnet eine Liste von Monaten samt den dazugehörigen agrarischen Tätigkeiten erhalten: 1 2 3 4 5 6 7
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Zwei Monate davon (sind) Obsternte, zwei Monate davon Saat, zwei Monate davon Spätsaat, ein Monat Flachsschnitt, ein Monat Gerstenernte, ein Monat Getreideernte und Abmessen, zwei Monate Beschneiden, ein Monat des Sommerobsternte.143
Kronholm, Art. ֵּעת, 476–478; vgl. auch Koch, Art. Zeit, 1803. Ob es sich sprachlich eher um einen phönizischen oder einen frühen hebräischen Dialekt handelt, ist freilich umstritten, vgl. zur Diskussion Tropper, Gezer–Kalender, 228ff; Smelik, Dokumente, 24ff u.a. 142 Zum Gezerkalender s. u.a. KAI 182 mit Kommentar; Conrad, TUAT I, 247f; Jaroš, Inschriften, 37f; Smelik, Dokumente, 26; Tropper, Gezer–Kalender, 228ff; Renz / Röllig, Epigraphik, 30ff (Lit.); Emerton, Gezer calendar, 20f; Sivan, Gezer Calendar, 101ff u.a. 143 Übersetzung nach Renz / Röllig, Epigraphik, 34–36; vgl. dazu den Kommentar ebd. 32ff; vgl. auch Conrad, TUAT I, 247f; Smelik, Dokumente, 26; KAI 182 u.a. 141
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Abb.3 Gezerkalender
von Bauern zu verstehen gesucht wird. Zur Diskussion gestellt wurde auch, daß es sich um einen Verwaltungstext144, oder um Notizen eines Vorarbeiters für Arbeitsverträge145 handelt; am ehesten aber war der unbeholfen geschriebene Text eine Schüler-Übungstafel.146 Von den meisten wird eine Deutung bevorzugt, wonach hier zwölf Monate Erwähnung finden.147 Wenn die Liste auch bemerkenswerterweise nicht die Aussaat an den Anfang stellt, sondern mit dem vermutlichen Jahresanfang im Herbst beginnt, so gibt sie doch einen wertvollen Einblick in die Abfolge der landwirtschaftlichen Tätigkeiten im Jahresverlauf148 und belegt zugleich das Gewicht der jährlichen
144
So etwa Talmon, Gezer Calendar, 177. So etwa Galling, BRL2 , 3. 146 So etwa Smelik, Dokumente, 28–30; Renz / Röllig, Epigraphik, 31f u.a. 147 Vgl. Emerton, Gezer Calendar, 20f; Sivan, Gezer Calendar, 101ff; Tropper, Gezer-Kalender, 231; Renz / Röllig, Epigraphik, 33ff (bei freilich in semitistischer Hinsicht durchaus divergierenden Einschätzungen). 148 Vgl. dazu auch Borowski, Agriculture, 36ff. 145
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Rhythmen des bäuerlichen Lebens für die frühe israelitische Kultur. c)
Die Synchronisierung der sozialen Zeit
Gewiss muß man auch für Israel je nach Berufen und Beschäftigungen von unterschiedlich ausgeprägten Orientierungen in der Zeit ausgehen. Die Bauern lebten näher an den Rhythmen der Jahreszeiten von Saat und Ernte, das Leben der priesterlichen Kreise und Tempelbedienstete richtete sich eher nach den Zeiten der täglichen und anderen im Kultkalender aufgezeichneten Opferarten. Die für die königliche Chronologie zuständigen Annalenschreiber waren mehr an der ‚Zeitgeschichte‘ orientiert, und prophetische Kreise waren mehr als andere Zeitgenossen auf außen- und innenpolitische Zukunftserwartungen ausgerichtet. Zugleich war aber weder für diese das agrarische Jahr noch für jene der kultische Festkalender oder der Einschnitt eines Herrschaftswechsels bedeutungslos. Diese Simultaneität regelmäßiger Ereignisse in einer altorientalischen Kultur wird sehr schön von der „Astrolab B“ genannten mesopotamischen Menologie149 veranschaulicht: Hier werden die Monate und ihre Sternbilder vermerkt, bisweilen aber auch regelmäßige politische Feste wie das jährliche Inthronisationsfest des Königs oder die Versammlung der Stadtältesten, besondere kultische Ereignisse wie Opfer und Feste, aber auch wichtige Phasen des Agrarjahres den Monaten zugeordnet: I 1 Monat Bara(zagar) (= Nisannu). Sternbild Pegasus, Wohnsitz des An. 2 Der König wird inthronisiert; der König wird eingesetzt. 3 Guter Anfang durch An (und) Enlil. ... 12 Monat Gu(sisa) (= Ajjaru). Sternbild Plejaden, die Siebengottheit, 13 die großen Götter. 14 Urbarmachen der Erde, die Rinder spannt man an, 15 der Feuchtboden wird geöffnet, 16 die Säpflüge werden abgewaschen. ...150 149 150
S. Römer, Menologie, 48–53. Übersetzung nach Römer, Menologie, 49.
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Die wiederkehrenden Ereignisse aus verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen wurden auf diese Weise auf einen einheitlichen Zeitrahmen bezogen. Für die Synchronisierung der sozialen Zeit im gesellschaftlich-religiösen Leben sind vor allem die Feste von grundlegender Bedeutung: Die Zeitorientierung der bäuerlichen, priesterlichen und höfischen Kreise des vorexilischen Israel wurden vor allem durch die noch großenteils auf den Erntedank ausgerichteten Feste zusammengeführt. Hinzu kamen weitere offizielle Feste: die Feier politischer Ereignisse, wie die Thronbesteigung des Königs151, oder wie Sieges-Feiern (vgl. 1 Sam 15,12), aber auch Klagefeiern mit Fasten (Sach 7,5; 8,19) und besondere kultische Feste wie die Tempelweihe (1 Kön 8).152 d)
Das Fest und die Erfahrung der Fülle der Zeit
Feste führen „den F.[est]teilnehmer aus der Alltagswelt in die Heilige Welt. Sie sind Tage der größten Gottesnähe, in der dem Menschen eine Begegnung mit Gott ermöglicht wird.“153 Auch die regelmäßigen Ausnahmen bleiben dabei Ausnahmen vom ‚Alltag‘. Als „Kontrapunkt zur Alltagswelt“154 ermöglichen Feste – ganz im Gegensatz zu Routinen – eine besondere Qualität des Zeiterlebens:155 In der Tat: Besser ist ein Tag in deinen Vorhöfen als tausend, die ich erwählt habe. (Ps 84,11a)156
151
Vgl. 1Kön 1,33 ff; 2Kön 11,4ff; dabei ist nicht sicher, ob auch ihre Jahrestage begangen wurden. 152 Über die kultischen Feiern an den mannigfachen Heiligtümern in vorexilischer Zeit (vgl. z. B. Am 4,4; 5,5; Hos 4,15; 12,12 u. a.) sind (außer Ri 21,19–21; 1Sam 1,3 ff) kaum Nachrichten erhalten. 153 Altenmüller, Feste, 171. 154 Vgl. Assmann, Fest, 15 u.ö. Dabei kann man die „Übertragung der modernen Unterscheidung von Alltag und Fest“ mit Hartenstein kritisch sehen, denn es gab auch einen „sakralen Alltag des täglichen Opfers“; Hartenstein, Sabbat, 110. 155 S. hierzu auch Grund, Gedenken, 152ff. 156 S. zu Ps 84 Janowski / Zenger, Jenseits des Alltags, 75f.
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Die qualitative Verdichtung die Erfahrung der Fülle der Zeit in erlebbarer Gottesnähe, die hier zum Ausdruck kommt, steht im signifikanten Gegensatz zur in Ps 90 geschilderten Vergänglichkeitserfahrung unter dem göttlichen Zorn. Auch wenn die erwartbar wiederkehrenden Feste an sich die Erfahrung von Gottesnähe und erfüllter Zeit noch nicht garantieren, so belegt Ps 84,11 eindrücklich, daß die Wiederholungsstruktur des Festkalenders das Erleben von erfüllter Zeit keineswegs beeinträchtigte, sondern eben erst ermöglichte. Daß „Gesellschaften sich der Kontinuität ihrer Existenz durch rhythmisierte Diskontinuitäten in Kulten und periodisch wiederkehrenden Feiern“157 versichern, ist universal nachweisbar. Von besonderem Interesse ist aber die je spezifische Art und Weise, „mit der in symbolischem Handeln Bedeutungen der Zeit entworfen werden.“158 Die Feste sind von herausragender Bedeutung für die Pflege der einer Kultur gemeinsamen Sinnwelt, und für eine Kultur ist kennzeichnend, welcher Sinn, welche Auffassungen von fundierender Geschichte, von uranfänglichen und von letzten Zeiten hier gepflegt werden. Daher ist die Ausprägung seiner Erinnerungskultur und das durch sie entstehende spezifische Geschichtsbewusstsein eine greifbare Besonderheit Israels. 4 Geschichtsbewusstsein und Fernzeiten a) Lebensweltliches Zeiterleben und Fernzeiten Israels Vorstellungen von den „Fernzeiten“, wie überhaupt das in der kanonisch gewordenen Großerzählung von Gen 1 bis 2 Kön 25 zum Ausdruck kommende Zeitverständnis, sind in genuin theologischer Perspektive 157
Heimbrock, Gestaltung der Zeit, 81. Heimbrock, Gestaltung der Zeit, 81; vgl. auch ebd. zur kulturanthropologischen Erforschung der Bedeutung von Ritualen zur Strukturierung und Ordnung der Zeit. 158
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gewiss von herausragendem Interesse. Für das alltägliche Zeiterleben der Menschen des alten Israel, das in unserem historisch-anthropologisch ausgerichteten Beitrag im Blickpunkt des Interesses steht, haben der für die jetzige Gestalt des Alten Testaments so prägende Schöpfungsglaube und die umfangreichen Geschichtserinnerungen Israels kaum diese überragende Rolle gespielt.159 Doch ist auch in kulturgeschichtlicher Hinsicht von großem Interesse, wie die anwachsenden, schließlich in einem Erzählzusammenhang vereinten Überlieferungen die Vorstellungen Israels von den Fernzeiten zunehmend veränderten. Daher soll auch dieser Aspekt der israelitischen Zeitauffassung zumindest zur Sprache kommen. Denn immerhin ist es das Erzählen von Geschichte(n), durch das Vergangenheit geordnet, verstanden und verstehbar gemacht wird, und durch das sie Kohärenz und Sinn gewinnt.160 b)
Israel – eine „heiße Gesellschaft“?
Ein Vergangenheitsinteresse und die Ausbildung von Geschichtsbewusstsein waren zunächst nichts für Israel Spezifisches, beides war vielmehr – entgegen einer früher dominierenden Ansicht161 – auch in den umliegenden Kulturen verbreitet. Denn nicht einmal die These, daß schriftlose, traditionale Völker kein ernstzunehmendes Geschichtsbewusstsein hätten, ließe sich halten.162 Erst 159
Vgl. hierzu auch Grund, Gedenken, 141ff. Maßgeblich entwickelt bei Ricœur, Zeit und Erzählung. Zur Bedeutung von narrativer Kompetenz im Prozess der Entstehung von Geschichtsbewußtsein s. vor allem Rüsen, Geschichtsbewußtsein. 161 Vgl. exemplarisch von Rad, der davon ausgeht, daß das ‚sakrale“ Weltverständnis von Israels Umwelt wesentlich geschichtslos gewesen sei, „jedenfalls hat in ihm gerade das, was Israel als für seinen Glauben konstituierend ansah, nämlich die Einmaligkeit innergeschichtlicher göttlicher Heilstaten, schlechterdings keinen Raum“, Theologie, 120. Zur Kritik s. nun vor allem Janowski, Doppelgesicht der Zeit, 79ff. 162 Bereits 1968 hat R. Schott gezeigt, daß auch archaische, schriftlose Kulturen durchaus ein ‚Geschichtsbewußtsein‘, ent160
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recht sind aus den Hochkulturen des Alten Orients seit frühester Zeit neben Königsinschriften zahlreiche Annalen, Epen und Erzählungen von der Vergangenheit überliefert.163 Dennoch bestehen augenfällige Unterschiede zwischen den alten Kulturen, die nach wie vor dazu berechtigen, mit Levi-Strauss ‚kalte‘ von ‚heißen‘ Gesellschaften zu unterscheiden.164 Beide stellen darauf ab, eine sinnhafte Ordnung der Zeit herzustellen; doch wird hier der Wandel eliminiert, um die ursprünglich gestiftete ewige und sinnhafte Weltordnung rein zu erhalten, während dort die Veränderung als das Sinnträchtige erinnert und erwartet wird.165 So wird in Ägypten die Sinnhaftigkeit der Weltordnung nicht erkannt „an den Zeichen, die sich als Ausnahmen auf dem Hintergrund des Regelhaften abzeichnen, sondern an der Regelhaftigkeit der kosmischen bzw. natürlichen Prozesse (allen voran des „Sonnenlaufs“ selbst), die gerade in ihrer zyklischen Wiederkehr als heilig erfahren werden.“166 Daß Israel im Gegensatz dazu als eine ‚heiße Gesellschaft‘ erscheint, ist vor allem zurückzuführen auf seine in dieser Intensität nirgends sonst bezeugte Erinnerungsanstrengung an die eigene Heilsgeschichte und auf die von prophetischen Ankündigungen und deren Erfüllungen geprägten Geschichtsüberlieferungen. Diese haben schließlich in der Kanonisierung eines beträchtlichen Textcorpus wickeln; dabei differiert allerdings auch unter ihnen der Grad der Ausbildung eines ‚historischen Sinns‘. Es ist jedoch weniger „das Fehlen einer Schrift als das einer festen Zeitrechnung, ... [das] die mündliche Überlieferung als historische Quelle unzuverlässig“ macht; Schott, Geschichtsbewußtsein, 170; vgl. auch ebd. 204f. 163 Für Mesopotamien s. bereits Güterbock, Historische Tradition; Krecher / Müller, Vergangenheitsinteresse; zur neueren Forschung s. Cwik-Rosenbach, Zeitverständnis. 164 Levi-Strauss, Anthropologie, 39ff. 165 Vgl. hierzu auch Rüsen, Typen, 369. 166 Assmann, Zeit, 1186f. Für die ägyptische Zeitvorstellung ist der Gedanke der zeitlichen Reversibilität geradezu konstitutiv, da ohne zyklische Erneuerung die kosmische Ordnung keinen Bestand hätte; vgl. dazu auch Hegenbarth-Reichardt, Raum der Zeit, 22ff.
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ihren Niederschlag gefunden, der seinesgleichen sucht. In diesem Sinne muß für Israel durchaus von einer außergewöhnlichen Ausprägung des Geschichtsbewusstseins gesprochen werden. Die methodische Unterscheidung zwischen einer weitgehend rhythmisierten Zeitstruktur des gemeinsamen Lebens und dem von der kanonischen Großerzählung dargebotenen Zeitkonzept bewahrt vor der übereilten Identifikation des letzteren – oder auch des ersteren – mit dem Zeitverständnis Israels.167 Sie verdeutlicht zugleich, daß eine repetitive Strukturierung der sozialen Zeit u.a. durch Feste und ein anwachsendes Geschichtsbewusstsein in Israel nicht im Widerspruch stehen, sondern einander wechselseitig gestützt haben. Fragt man nämlich danach, wie sich ein Geschichtsbewusstsein in Israel verbreiten konnte ist, so ist man vor allem an die in gemeinsamen Festen lebendige Erinnerungskultur verwiesen. Wie Jan Assmanns Arbeiten zum kulturellen Gedächtnis168 gezeigt haben, sind für seine Entstehung und Aufrechterhaltung einerseits die Wiederholung in Form festlicher Begehungen („rituelle Kohärenz“) und andererseits die Vergegenwärtigung fundierender Vergangenheit in Form von (mündlichen oder schriftlichen) Texten („textuelle Kohärenz“) notwendig. Die Intensivierung von Israels Erinnerungsanstrengung läßt sich etwa an der früher ‚Historisierung der Feste genannten‘ Indienstnahme von immer mehr Festen für die Exodusmemoria und der anwachsenden Verschriftlichung der Gründungsereignisses Israels, der Externalisierung des Gedächtnisses ins Medium der Schrift, ablesen.
167
Die kulturgeschichtliche Frage danach, welche Zeitvorstellungen Menschen im alten Israel hatten, überschneidet sich in vielerlei Hinsicht mit der Frage an einen als Teil des christlichen und des jüdischen Kanons verbindlichen Textzusammenhang, sollte hiervon aber auch sorgfältiger getrennt werden, als es in der Vergangenheit häufig geschah. 168 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 87ff sowie viele weitere Publikationen J. Assmanns.
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Israels Verständnis von Geschichte
Nun ist für das moderne Verständnis von Geschichte die Auffassung von einem aus einmaligen Ereignissen bestehenden, aber letztlich kontinuierlichen Geschichtsverlauf prägend, der für Historiker die Aufgabe einer Chronologie der Ereignisse, gewissermaßen einer Kartographie der Geschichtszeit bereithält. Für das alte Israel war hingegen nicht Geschichte an sich von Interesse, schon gar nicht ihre lückenlose, objektive Erfassung auf einem Zeitstrahl. Gemäß ihrem Charakter als von Generation zu Generation weiter getragene Erinnerungskultur erhielten die Ereignisse der eigenen Geschichte gerade durch das Eingreifen Gottes zugunsten seines Volkes ihren Sinn und ihre Relevanz. Und bedenkt man, daß Geschichte neben der vor allem im 19. Jh. verwurzelten169 linear-teleologischen Metapher der zielgerichteten Bewegung170 in vielen alternativen Bildern171 gedeutet werden kann,172 so ist fraglich, ob für das von der kanonischen Großerzählung des Alten Testament entworfene Bild von Geschichte die Metapher der Linie so geschickt gewählt ist. Denn Irreversibilität und zugleich Sinnfülle von Ereignissen der Vergangenheit wird in den prägenden Überlieferungen gerade nicht durch eine immanenten Teleologie dargestellt, sondern unter vielfacher Durchbrechung eines linearen 169
Vgl. etwa Schmied, Soziale Zeit, 158ff. Vgl. Demandt, Metaphern, 198–236. 171 Demandt, Metaphern, passim; Geschichte kann auch als Kreisbewegung gedeutet werden, vgl. Demandt, Metaphern, 236–256. 172 Assmann etwa setzt, ähnlich wie viele andere, den „Gegensatz von Reversibilität und Irreversibilität“ mit den „hierfür gebräuchlichen geometrischen Metaphern, von Kreis und Pfeil, von Zyklischem und Linearem“ gleich; Einführung, 9. Die Zeitmetapher der Linie ist jedoch zugleich mit der Vorstellung einer immanenten Kontinuität konnotiert. Eine passendere Metapher für Irreversibilität ist die (mit Gerichtetheit konnotierte) Metapher des Pfeils. Linie und Pfeil repräsentieren jedoch eher ein spezifisch neuzeitlich-westliches als das israelitische Geschichtsdenken, vgl. zu diesem Kennzeichen neuzeitlich-westlichen Geschichtsdenkens Burke, Historisches Denken, 35ff. 170
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Kontinuums, in Form „eigentümlicher Brechungen und Neuanfänge“173, die auf ein rettendes Eingreifen Gottes zurückgehen. 174 Die Kohärenz der Erzählung bedeutet keine Homogenität der erzählten Zeit; vielmehr wird die Geschichtszeit von herausragenden, qualitativ besonderen Zeiten der Rettung außer Kraft gesetzt. Auch werden in den verschiedenen Epochen wie Ur-, Väter-, Israel- und Königsgeschichte sehr unterschiedliche Zeitqualitäten erkennbar. Datierungen und Zeitangaben hingegen sind weit mehr von zahlensymbolischem als von historisch-chronologischem Interesse geprägt.175 Die Orientierung an einer aus den biblischen Angaben erstellten absoluten Chronologie (seit der Schöpfung)176 und damit die Quantifizierung der Zeitangaben kam hingegen erst im rabbinischen Judentum auf, ohne sich allerdings überall durchzusetzen.177 Die Vorstellungen von den Fernzeiten – von der Schöpfung über die fundierende Väter- und Israelgeschichte bis hin zu den letzten Zeiten – prägten im Zuge der Schriftwerdung des Alten Testaments mehr und mehr den Sinnhorizont des Zeiterlebens der Menschen des alten Israel und gehören zu seinem Vermächtnis, das Christentum und Judentum bis heute prägt.
173
So Blum, Komposition, 260 für die den Pentateuch maßgeblich prägende priesterliche Komposition. Auch DeVries sieht die Zeitauffassung Israels gerade nicht als „a succession of essentially commensurate entities – a given number of days or months or years ... time as quantum“, sondern als „time as a succession of essentially unique, incommensurate experiences“; DeVries, Yesterday, 343. 174 Vgl. hierzu auch Grund, Gedenken, 330ff. 175 Vgl hierzu auch Mathys, Art. Zeit, 522; Willi-Plein, Zeit, 154. In der Apokalyptik werden diese Tendenzen bekanntlich in der zahlensymbolischen Periodisierung der Geschichte weitergeführt. 176 240 n.Chr. = 4000 nach der Schöpfung. 177 Golzio, Art. Zeitrechnung I, 588.
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IV
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Zusammenfassung und Ausblick
Raum und Zeit gehören zu den Grundkategorien der menschlichen Lebenswelt, deren Bedeutung für die Anthropologie konstitutiv ist. In traditionellen Kulturen wie dem alten Israel sind sie unauflöslich miteinander verbunden und bilden ein komplementäres, das gesamte Leben prägendes Ganzes. Zusammenfassend seien noch einmal folgende Aspekte hervorgehoben: 1. Wer sich mit der topologischen Dimension der Kultur, also dem Raum beschäftigt, stößt früher oder später auf die Frage nach dem „angeschauten Raum“ bzw. der Landschaft. Was „Landschaft“ ist, kann dabei sehr unterschiedlich gefaßt werden, je nachdem ob man sie ästhetisch oder kulturwissenschaftlich versteht. Entscheidend für den kulturwissenschaftlichen Landschaftsbegriff ist „... das vom Subjekt über die einzelnen Elemente des Blickfelds hinweg konstituierte anschauliche Ganze. Nicht die einzelnen Motive wie Baum und Fels, Haus und Turm machen eine Landschaft aus ..., sondern deren Integration zu einem übergreifenden Ganzen eigenen Rechts. (...) Es ist dieser Gesamteindruck, in dem es zur erlebnismäßigen und künstlerischen Vereinigung von objektiver Ausdrucksanmutung und subjektiver Bedeutungsprojektion kommt“.178
Die Wechselbeziehung zwischen sinnlichem Eindruck, also „objektiver Ausdrucksanmutung“, und symbolischem Ausdruck, also „subjektiver Bedeutungsprojektion“, ist auch für die Raumwahrnehmung im Alten Testament leitend. Deren Charakteristikum ist weniger eine Sache der Ästhetik als der Religion, für die der Raum – die Orte und Landschaften Palästinas/Israels – zum Gleichnis für Gottes Gegenwart wird. M. Halbwachs hat in diesem Zusammenhang den Ausdruck „Erinnerungslandschaft“ (Mne-
178
Lobsien, Art. Landschaft, 620. Zum ästhetischen Landschaftsbegriff s. nach wie vor Ritter, Landschaft, 150f.
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motop) geprägt179 und damit auf den Zeichencharakter der Natur hingewiesen, durch die die Landschaft zum Medium des kulturellen Gedächtnisses wird. Solche Zeichen können Tempel, Prozessions- und Feststraßen oder auch Gräber sein. Durch sie wird eine Landschaft in den Rang eines Zeichens gehoben, d.h. semiotisiert, und dadurch ihre Bewohner instandgesetzt, Orientierung für das Leben zu gewinnen. Den Ausgangspunkt und die Basis für die Semiotisierung des Raums bilden im alten Israel zum einen die Orientierung im natürlichen Raum (System der Himmelsrichtungen, Quadrierung des Raums, solare Ost-West-Achse) und zum anderen die Strukturierung des sozialen Raums (implizite / explizite Kosmologie, Tempel / Palast / Stadt, Peripherie / Zentrum). Die Fähigkeit des Menschen zur symbolischen Gestaltung seiner Lebenswelt läßt sich darüber hinaus an der Grenze bzw. den Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits (Grab, Gefängnis, Zisterne, Meer, Wüste, Nacht) sowie an der Korrelation von Tempel und Unterwelt (Wohnstatt Gottes / Bereich des Todes) deutlich machen. Beide Sachverhalte belegen die Auffassung, daß der Mensch ein animal symbolicum (E. Cassirer), also ein Wesen ist, das sich durch intensive „Symboltätigkeit“180 auszeichnet. Diese Symboltätigkeit ist für das Verständnis der alttestamentlichen Raumauffassungen aufschlußreich. 2. Wie der natürlichen Gliederung des Raums, so kam auch den natürlichen Rhythmen des Lebens und den in ihrer unterschiedlichen Qualität wahrgenommenen Zeitphasen Zeichencharakter zu. Sonne und Mond bestimmten nach JHWHs anfänglicher Setzung die Rhythmen von Tag und Nacht, Monaten, Jahren und damit Festen (Gen 1,3– 5.14–18; Ps 104,19–22), die Rhythmen von Saat und 179
S. dazu Halbwachs, Stätten der Verkündigung, passim und im Anschluß an Halbwachs Bieberstein, Raum, 3ff mit der dort genannten Lit. 180 Zur „Symboltätigkeit des Menschen“ s. oben II 2 Der symbolische Raum.
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Ernte ruhten auf JHWHs Verheißungswort (Gen 8,21f), somit waren sie Hinweis auf die ordnende Hand JHWHs. Die symbolische Ordnung der Zeit, damit die rechte Zeit zum Handeln und für die Tätigkeiten des täglichen Lebens waren vorgegeben; es galt, sie zu erkennen und sich ihnen entsprechend zu verhalten. In ähnlicher Weise, wie der Tempel in der räumlichen Dimension des israelitischen Weltbildes zur axis mundi gehörte, stellte das Fest einen Knotenpunkt von Israels zeitlicher Orientierung dar. Denn eine Festzeit ()מֹו ֵּעד wurde einerseits in ‚horizontaler‘ Hinsicht durch eine ‚Zusammenkunft‘181 – dadurch daß Israeliten zu einer verabredeten Zeit an einem Ort zusammenkamen – konstituiert, andererseits dadurch, daß es in ‚vertikaler‘ Dimension zur Begegnung JHWH – Israel kam. An den Festzeiten, die jedenfalls bei den Wallfahrtsfesten gemeinsam am Tempel, am räumlichen Mittelpunkt des Kosmos, begangen wurden, verdichtete sich das Zeiterleben zur Erfahrung des erfüllten Augenblicks in der Nähe Gottes. Die Erfahrung der Ferne und des Zornes Gottes dagegen ging einher mit der Erfahrung der Vergänglichkeit und Flüchtigkeit des Lebens (etwa in Ps 90,5ff; Koh u.a.). Während der Mensch der Spätmoderne dem Anschein nach stets aufgefordert ist, Zeit durch Tätigkeiten, ästhetische Erfahrungen und stets neue Sinnkonstruktionen zu füllen, denen es jedoch an Dauer, Tiefe und Fülle zu mangeln scheint, lebte der israelitische Mensch, bei aller Mühe des Überleben von den Erträgen seiner Äcker, in einer ihm vorgegebenen Sinn- und Lebenswelt, die auf der natürlichen Umwelt beruhte. Im Gegensatz zur leeren ‚physikalischen‘ Zeitvorstellung, an deren Beginn vor 15 Milliarden Jahren der Urknall und an deren Ende der Wärmetod des Universums steht, waren im alten Israel auch die Vorstellungen von den Fernzeiten überschaubarer und zudem sinnstiftend. In diese bedeutungsgesättigten Vorstellun181
S. zur Grundbedeutung von ‚ יעדverabreden, festsetzen, treffen‘ Koch, Art. מֹו ֵּעד, 746f; Görg, Art. יעד, 700–702.
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gen von anfänglicher Schöpfung, Israelgeschichte und endzeitlicher Gerichts- und Heilszeit war die soziale Zeit des täglichen Lebens eingebettet, ganz ähnlich wie die überschaubaren Räume des Alltagslebens umgeben waren von den kosmologischen Dimensionen der Höhe, Tiefe und der Peripherie. Literatur Achtner, W. / Kunz, S. / Walter, Th., Dimensionen der Zeit, Darmstadt 1998. Adam, K.-P., Der Königliche Held. Die Entsprechung von kämpfendem Gott und kämpfendem König in Psalm 18 (WMANT 91), Neukirchen-Vluyn 2000. Ahn, G., Die ungewisse Zukunft und der imaginäre Zeitstrahl – Konkurrenz und Koexistenz divergierender Zukunftsbilder und prognostischer Strategien in der europäischen Religionsgeschichte, in: ders. / M. Dietrich / A. Häussling (Hg.), Zeit in der Religionsgeschichte (MARG 13), Münster 2001, 5–48. Altenmüller, H., Art. Feste, LÄ 2 (1977) 171–191. Assmann, A., Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen (GrAA 27), Berlin 22008. Assmann, J., Re und Amun. Die Krise des polytheistischen Weltbilds im Ägypten der 18.–20. Dynastie (OBO 51), Freiburg (Schweiz) / Göttingen 1983. — , Das kulturelle Gedächtnis, München 1990. — (Hg.), Das Fest und das Heilige. Religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt (Studien zum Verstehen fremder Religionen 1) Gütersloh 1991. — , Tod und Jenseits im alten Ägypten, München 2001. — , Zeit. Vorgriechische Zeit, Alter Orient, Altägypten, HWPh 12 (2005) 1186–1190. Barr, J., Bibelexegese und moderne Semantik. Theologische und linguistische Methode in der Bibelwissenschaft, München 1965. — , Biblical Words for Time (SBT 33), London 21969.
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Literalität und Institution. Auf der Suche nach lebensweltlichen Kontexten der Literaturwerdung im alten Israel
Einleitung Neuere Beiträge zur Geschichte oder Literaturgeschichte des alten Israel beginnen gerne mit einem Hinweis auf deren gegenwärtige Umbruchsituation, so auch dieser: Die Disziplin „Geschichte Israels“ ist im Umbruch, und zwar spätestens seit der Diskussion um Verhältnis und Wertung von Primär-, Sekundär- und Tertiärquellen.1 Die Umbruchsituation der Literaturgeschichte nahm ihren Anfang mit der sog. Krise der Pentateuchforschung. Hier wurden zwar mittlerweile auch neue Konvergenzen erarbeitet und in mehreren jüngeren Einleitungen präsentiert, in denen aber insgesamt ein noch breiter werdendes Spektrum literaturgeschichtlicher Modelle vorgestellt wird. Das Verhältnis zur materiellen Kultur ist in der neueren Literaturgeschichte freilich ein anderes als in der Geschichte Israels: Während für die Geschichte der Bezug auf außerbiblische Quellen und archäologische Einsichten zu recht vehement eingefordert wird, wird in vielen literaturgeschichtlichen Modellen der Anschluss an außerbiblische 1
Die Unterscheidung geht zurück auf Arnaldo Momigliano, Alte Geschichte und antiquarische Forschung, in: ders., Wege in die Alte Welt. Mit einer Einführung von Karl Christ, übers. v. H. Günther (Berlin: Wagenbach 1991) 79–107, hier: 80, vgl. hierzu insbesondere Joachim Schaper, Auf der Suche nach dem alten Israel? Text, Artefakt und „Geschichte Israels“ in der alttestamentlichen Wissenschaft vor dem Hintergrund der Methodendiskussion in den Historischen Kulturwissenschaften, ZAW 118 (2006) 1–21; 181–196, hier: 1f.
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Quellen ihrer vermuteten Entstehungszeit eher weniger gesucht als in früheren Generationen. Mit der Zuordnung in vorexilische, exilische oder nachexilische Zeit scheint oft bereits alles gesagt zu sein. Dahinter aber verblassen die lebensweltlichen, religionsgeschichtlichen und politischen Kontexte, aus denen diese schöpfen und in die hinein sie gesprochen haben. Wenn aber die Rekonstruktion des Kommunikationskontextes der Texte nicht mehr anvisiert wird, werden ihre zeitlichen Zuordnungen abstrakt, das ursprüngliche Ziel der Erfassung des historischen Textsinnes gerät aus dem Blick. Und wo Literaturgeschichte sich nur an Konsensen der Sekundärliteratur zu orientieren beginnt, droht sie zur „Stillen Post“ zu verfallen.2 Um das zu vermeiden, bedarf nicht nur die Geschichte, sondern auch die Literaturgeschichte Israels einer besonders engen Rückbindung an außerbiblische bzw. empirische Befunde, etwa durch Berücksichtigung der materiellen Kultur, der Ikonographie und der Epigraphik. Auch die jüngere Diskussion um das allerdings problematische „linguistic dating“3 scheint aus einem Bedarf an empirischer Nachfrage zu erwachsen. Gleiches gilt für die in jüngerer
2
Vgl. hierzu David M. Carr, Data to Inform Ongoing Debates about the Formation of the Pentateuch – From Documented Cases of Transmission History to a Survey of Rabbinic Exegesis, in: Gertz u.a., Formation, 87–106, 105f. 3 Ian Young / Robert Rezetko / Martin Ehrensvärd (Hg.), Linguistic Dating of Biblical Texts, Bd. 1 An Introduction to Approaches and Problems Bd. 2. A Survey of scholarship, a New Synthesis and a Comprehensive Bibliography (London u.a.: Equinox Publ., 2008); Dong–Hyuk Kim, Early Biblical Hebrew, Late Biblical Hebrew, and Linguistic Variability. A Sociolinguistic Evaluation of the Linguistic Dating of Biblical Texts, VT S. 156 (Leiden u.a.: Brill 2013). Eine eingehende Diskussion der Möglichkeiten und Grenzen des Linguistic Dating findet sich im dritten Teil des jüngst erschienenen Bandes Gertz u.a. (Hg.), Formation, 295–475: „The Role of Historical Linguistics in the Dating of Biblical Texts“.
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Zeit zunehmend eingeforderten 4 Untersuchungen zur „empirischen Literarkritik“.5 Ein grundlegender Ansatz für die Re-Kontextualisierung der Literaturgeschichte Israels ist die Frage nach den lebensweltlichen Kontexten, den materiellen und institutionellen Voraussetzungen der Verschriftung von Traditionsliteratur. Im Einzelnen ist zu fragen: 1.
4
Welches sind die Motive der Verschriftlichung, v.a. von Traditionsliteratur? Welche Funktionen hat sie?
Dementsprechend befasst sich der gesamte erste Teil des aktuellen Sammelbandes von Gertz u.a. (Hg.), Formation, 11–195 mit empirischen Perspektiven auf die Komposition des Pentateuchs. 5 Ältere Studien stammen von Stephen A. Kaufman, The Temple Scroll and Higher Criticism, HUCA 53 (1982) 29–43, und Jeffrey Tigay, Empirical Models for Biblical Criticism (Philadelphia: Univ. of Pennsylvania Press 1985), v.a. 21–52; vgl. zur Wiederaufnahme von Tigay: Jan Christian Gertz, Introduction, in: ders u.a (Hg.), Formation, 11–13. Jüngere Arbeiten stammen von Erhard Blum, Notwendigkeit und Grenzen historischer Exegese. Plädoyer für eine alttestamentliche „Exegetik“, in: Bernd Janowski [Hg.], Theologie und Exegese des Alten Testaments/der Hebräischen Bibel. Zwischenbilanz und Zukunftsperspektiven, SBS 200 (Stuttgart: Verl. Katholisches Bibelwerk 2005), 11–40; David M. Carr, The Formation of the Hebrew Bible. A New Reconstruction (Oxford u.a.: Oxford Univ. Press 2011), 13–149; Reinhard G. Kratz, Das Alte Testament und die Texte vom Toten Meer, ZAW 125 (2013), 198–213; Benjamin Ziemer, Die aktuelle Diskussion zur Redaktionsgeschichte des Pentateuch und die empirische Evidenz nach Qumran, ZAW 125 (2013), 383–399. Ziemers Ergebnis freilich ist ernüchternd: „Es ist so gut wie ausgeschlossen, aus einem gegebenen Text dessen literarische Vorlage auch nur annähernd vollständig in Stil, Wortlaut, Umfang und Inhalt zu rekonstruieren. Das gilt schon für eine unmittelbare Vorlage, es gilt aber erst recht für eine Vorstufe zweiten oder dritten Grades“ (a.a.O. 396). Zusammen mit der Evidenz der Textfunde aus Qumran, dass nachmals alttestamentliche Texte noch bis ins 2. Jh. v.Chr. mit großer Freiheit Neugestaltungen und Auslassungen unterzogen wurden, erschüttert dies eine der tragenden Voraussetzungen bisheriger redaktionsgeschichtlicher Arbeit, dass nämlich stetes Textwachstum den Rückschluss auf noch enthaltene Vorstufen erlaube.
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2. 3.
4. 5.
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Welches waren die institutionellen Rahmenbedingungen des Schreibens, Lesens und Vorlesens? Wie groß war die Lese- und Schreibfähigkeit in der Bevölkerung, und welche Relevanz hat die Literalität einer Gesellschaft für Abfassung und Gebrauch von Traditionsliteratur? Wer waren die Produzenten von Traditionsliteratur, wie sahen ihre Ausbildung und ihre Lebensumstände aus? Welche Umbrüche der Schreib- und Lesekultur nahmen Einfluss auf Verschriftlichungsprozesse?
Literaturgeschichtliche Entwürfe setzen zwar implizit Antworten auf diese Fragen voraus, ohne sie jedoch im Vorfeld methodisch gesichert beantwortet zu haben. Diese Fragen werden nun in den neueren Beiträgen zur Schriftkultur im alten Israel ausgiebig diskutiert. Die wichtigsten monographischen Beiträge, die hier leider nicht im Einzelnen referiert werden können, stammen von Susan Niditch,6 David Carr,7 William Schniedewind,8 Karel van der Toorn9, Seth Sanders10 und Christopher Rollston11. Sie 6
Susan Niditch, Oral World and Written Word. Ancient Israelite Literature (Louisville, Ky.: Westminster John Knox Press 1996). 7 David M. Carr, Writing on the Tablet of the Heart. Origins of Scripture and Literature (Oxford: Oxford Univ. Press u.a. 2005), nun in dt. Übersetzung als: ders., Schrift und Erinnerungskultur. Die Entstehung der Bibel und der antiken Literatur im Rahmen der Schreiberausbildung, übers. und redigiert von Martin Leuenberger, Wolfgang Oswald, Dominik Rößler, Annette Schellenberg, Luise Oehrli und Samuel Arnet, AThANT 107 (Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2015). 8 William Schniedewind, How the Bible Became a Book. The Textualization of Ancient Israel (Cambridge u.a.: Cambridge Univ. Press 2005. 9 Karel van der Toorn, Scribal Culture and the Making of the Hebrew Bible (Cambridge, Mass. u.a.: Harvard Univ. Press 2007). 10 Christopher A. Rollston, Writing and Literacy in the World of Ancient Israel (Atlanta: Society of Biblical Literature 2010). 11 Seth Sanders, The Invention of Hebrew (Urbana, Ill. u.a.: Univ. of Illinois Press 2009).
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werden allerdings bis auf seltene Ausnahmen12 jedenfalls in den neueren deutschsprachigen Einleitungen in das Alte Testament nicht rezipiert. Diese Untersuchungen13 weisen in Methode und Ergebnis ein unterschiedliches Profil auf, doch besteht in ihnen u.a. der Konsens, dass Schrift in den nach wie vor oralen Kulturen der Antike nicht als eigenes Kommunikationsmedium diente. Schriftliche Fixierung hatte demnach unterschiedliche Funktionen, wie etwa die Bekräftigung bereits als wirkmächtig geltender Worte, akkurate Internalisierung, exakter Vortrag und schlicht das Schreibenlernen. Verschriftlichung ist demnach, anders als oft vorausgesetzt, nicht nur und nicht einmal primär ein Krisenphänomen. Auch ist der Weg von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit keineswegs eine Einbahnstraße. „Literatur“ ist demnach als ein mündlich wie schriftlich tradiertes Gewebe von Sinnwelten zu verstehen. Sie ist nicht an schriftliche Fixierung gebunden, diese erscheint lediglich als ihre haltbarere Manifestation. „Literaturgeschichte“ vollzog sich im Wechsel mit ihrer Internalisierung und öffentlicher, zumindest lauter Lektüre. Sie ist somit nicht nur ein Prozess der Überarbeitung von Schriften, sondern besteht in einem ständigen Wechselverhältnis mündlicher und schriftlicher Überlieferung.14 Von „Literatur“ ist demnach nicht erst mit der Verschriftlichung zu sprechen. Allerdings weist dieser Literaturbegriff eine methodisch kaum fassbare Fluidität auf, die besonders in solchen Forschungstraditionen auf wenig 12
Eine Ausnahme bildet Konrad Schmid, Literaturgeschichte des Alten Testaments. Eine Einführung (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008), 41–51. 13 Die Diskussion wurde jüngst weitergeführt durch den Sammelband Brian B. Schmidt, (Hg.), Contextualizing Israel's Sacred Writings: Ancient Literacy, Orality, and Literary Production (Atlanta: Society of Biblical Literature 2015). 14 Vgl. hierzu auch Robert D. Miller II, The Performance of Oral Tradition in Ancient Israel, in: Brian B. Schmidt (Hg.), Contextualizing Israel's Sacred Writings: Ancient Literacy, Orality, and Literary Production (Atlanta: Society of Biblical Literature 2015), 175–196.
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Gegenliebe treffen wird, in denen eine exakte Textschichtenrekonstruktion für realisierbar gehalten wird.15 Schon diese Vorüberlegungen machen deutlich, dass es sich lohnt, die Frage nach dem Umfang der Literalität und nach lebensweltlichen Kontexten der Schriftkultur im alten Israel neu zu stellen. Zu ihnen führen verschiedene methodische Zugänge, die auch die oben genannten Beiträge in unterschiedlicher Gewichtung beschreiten: 1. 2. 3. 4.
Kulturgeschichtliche und soziologische Einsichten zu Gebrauch und Verbreitung von Schrift Auf die materielle Kultur gestützte Kenntnisse aus den Umweltkulturen Biblische Belege Außerbiblische, v.a. epigraphische Zeugnisse für den Gebrauch von Schrift aus dem antiken Israel / Palästina
Diese Zugänge sind von unterschiedlicher Relevanz; sie dürfen aber nicht gegeneinander ausgespielt werden, vielmehr gilt es, sie im Ensemble zu berücksichtigen, wenn man ein möglichst reichhaltiges Bild anstrebt. Eine intensivere Erforschung der lebensweltlichen Kontexte der Literaturwerdung ist, als wichtige Voraussetzung der Disziplin Literaturgeschichte Israels, ein Desiderat, das ein größeres Forschungsprogramm erfordert.16 Im Folgenden 15
So zeigt Carr, Data, 87–106, v.a. 88f.106 die methodischen Schwierigkeiten literaturgeschichtlicher Rekonstruktion angesichts der Fluidität der Überlieferung auf. Vgl. hierzu auch Johannes Renz, Die vor- und außerliterarische Texttradition. Ein Beitrag der palästinischen Epigraphik zur Vorgeschichte des Kanons, in: Joachim Schaper (Hg.), Die Textualisierung der Religion, FAT 62 (Tübingen: Mohr Siebeck 2009), 53–81, 73. 16 Vgl. die methodisch bedeutsame und im Ergebnis plausible Studie von Jessica Whisenant, Let the Stones Speak! Document Production by Iron Age West Semitic. Scribal Institutions and the Question of Biblical Sources, in: Brian B. Schmidt (Hg.), Contextualizing Israel's Sacred Writings: Ancient Literacy, Orality, and Literary Production (Atlanta: Society of Biblical Literature 2015), 133–160.
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können nur einige wesentliche Einsichten aus diesen Zugängen, in unterschiedlicher Gewichtung, skizziert werden. 1 Kulturgeschichtliche und soziologische Einsichten zu Gebrauch und Verbreitung von Schrift Kulturübergreifende Studien sind insbesondere zur Verbreitung der Schreib- und Lesefähigkeit von Interesse. Sie heben hervor, dass umfassende Literalität, wie in modernen Gesellschaften, vor allem auf folgenden Faktoren beruht: 1. 2.
Technologie und Ressourcen, um eine große Zahl erschwinglicher Schriftstücke hervorzubringen, wie Druckerpresse oder Papierherstellung Weltanschauliche und ökonomische Motivation der gesellschaftlichen Eliten, für umfassende Verbreitung von Literalität zu sorgen, durch Einrichtung von Schulen, Unterhaltung von Lehrpersonal etc.17
Die Annahme umfassender Literalität ganzer Gesellschaften im Vor-Gutenberg-Zeitalter, darunter auch des alten Israel, darf getrost als anachronistisch gelten. So aufschlussreich er im Allgemeinen ist: Die Reichweite dieses weiten kulturgeschichtlichen Zugangs ist für unsere Fragestellung begrenzt. Befunde aus zeitlicher und räumlicher Nähe zum alten Israel sind von deutlich höherer Relevanz für die Beurteilung seiner Schreibkultur. 2 Auf die materielle Kultur gestützte Kenntnisse aus den Umweltkulturen 17
Vgl. William V. Harris, Ancient literacy (Cambridge, MA u.a.; Harvard University Press 1989); Ian Young, Israelite Literacy: Interpreting the Evidence, in: VT 48 (1998), 239–253.408–422, 241–243; ders., Israelite Literacy and Inscriptions: A Response to Richard Hess, in: VT 55 (2005) 565–568, 566.
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Die Kenntnisse aus den Umweltkulturen können wie alle Analogien nicht einfach auf das alte Israel übertragen werden. Doch schärfen sie den Blick dafür, was als wahrscheinlich anzusehen ist18 und unterstützen die Bildung von Modellen, die allen nicht auf Analogien, sondern auf impliziten Vorverständnissen beruhenden Vorstellungen methodisch vorzuziehen sind. In der Gesamtschau der jüngeren Forschungen kann man in der longue durée von einer Oligoliteralität antiker Schreibkultur sprechen. D.h. schreibkundig waren zuallererst die professionellen Schreiber als Spezialisten und Traditionsverantwortliche sowie in unterschiedlichem Grad Teile des Palast-, Tempel- und Verwaltungspersonals. In Mesopotamien reklamieren gelegentlich Könige wie Šulgi im 21. Jh., Lipit-Eštar im 20. Jh. und Assurbanipal im 7. Jh. v. Chr. Schreibkunst und Gelehrsamkeit. Hinzu kommen konjunkturelle Veränderungen: kulturelle Schübe, die eher im Zeitraum von Jahrhunderten, selten von Dekaden zu verzeichnen sind. Hierzu gehört einige Jahrhunderte nach dem zunächst nur administrativen Gebrauch von Schrift ihre Nutzung auch für literarische Zwecke etwa ab der Mitte des 3. Jt. v.Chr. Hierzu gehört die Standardisierung der Keilschriftliteratur ab der Mitte des 2. Jt. Hierzu gehört auch die Verbreitung einer eigenen Alphabetschrift in der Levante in der EZ für die nordwestsemitischen Sprachen. Nun ist für die griechisch-römische Antike seit der Studie von W.V. Harris19 der Optimismus bezüglich der Verbreitung von Literalität gesunken, und für das antike Judentum hat insbesondere C. Hezser, gegenüber der maximalistischen Position von A. R. Millard20, für größere Skep18
Renz, Texttradition, 61f. Harris, Ancient literacy. 20 Alan R. Millard, An Assessment of the Evidence for Writing in Ancient Israel, in: Janet Amitai (Hg.), Biblical Archaeology Today. Proceedings of the International Congress on Biblical Archaeology, Jerusalem, April 1984 (Jerusalem: Israel Exploration Society 1985),301–312; ders., The Knowledge of Writing in Iron Age 19
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sis gesorgt.21 Jüngere assyriologische Forschungen v.a. von M.T. Larsen22, N. Postgate,23 H.L.J. Vanstiphout24, C. Wilcke25 und D. Charpin26 gehen, anders als frühere Forschungen27, zur Zeit jedoch eher in die gegenläufige Richtung einer nicht nur hohe Verwaltungsträger und Angehörige des Militärs, sondern auch viele Könige28, Händler, Palestine, TynBul 46 (1995), 207–217. 21 Catherine Hezser, Jewish Literacy in Roman Palestine, TSAJ 81 (Tübingen: Mohr Siebeck 2001). 22 Mogens T. Larsen, What They Wrote on Clay, in: ders. / Karen Schousboe (Hg.), Literacy and Society, Copenhagen 1989, 121– 148, zeigt die Diversität von Gestalt und Gebrauch der Keilschrift und damit den unterschiedlichen Grad von Literalität über die Jahrtausende hinauf. 23 Neil Postgate, Early Mesopotamia: Society and Economy at the Dawn of History (London u.a.: Routledge 1992), 69, betont, dass die ab Beginn des 2. Jt. teils sehr privaten und nicht selten als trivial zu bezeichnenden Inhalte von Briefen auf eine weiter verbreitete Literalität verweisen. 24 Herman Vanstiphout, Memory and Literacy in Ancient Western Asia, in: Jack M. Sasson, Gary M. Beckman, Karen Rubison, John Baines (Hg.), Civilizations of the Ancient Near East (New York, NY: Scribner 1995), 2193–2194, hebt hervor, dass in Mesopotamien in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens umfangreiche administrative und d.h. schriftliche Aufzeichnungen existierten. 25 Claus Wilcke, Wer las und schrieb in Babylonien und Assyrien. Überlegungen zur Literalität im Alten Zweistromland, SBAW 2000/6 (München: Beck 2000). 26 Dominique Charpin, Reading and Writing in Babylon (Cambridge u.a.: Harvard Univ. Press, 2010) (frz. Lire et écrire à Babylone, Paris: Presses Univ. de France, 2008). 27 Vgl. etwa Benno Landsberger, Scribal Concepts of Education, in: Carl H. Kraeling / Robert M. Harris (Hg.), City invincible (Chicago: Chicago University Press 1960), 94–123. Landsberger hatte noch nachhaltig das Bild der professionellen Schreiber als allein Schreibkundigen in Mesopotamien geprägt; vgl. in jüngerer Zeit noch ähnlich Laurie E. Pearce, Scribes and Scholars in Ancient Mesopotamia, in: Jack M. Sasson, Gary M. Beckman, Karen Rubison, John Baines (Hg.), Civilizations of the Ancient Near East (New York, NY: Scribner 1995) 2265–2278 u.a. 28 Während man den Selbstpreis der Könige Šulgi (21. Jh.), Lipit– Eštar (20. Jh.) und Aššur–bāni–apli („Assurbanipal“; 7. Jh.) als schreibkundig und gelehrt früher als propagandistische Selbs-
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Privatleute und Tempelbedienstete29 einschließenden Literalität, die gestützt wird durch zahlreiche Schriftfunde in Privathäusern. Dies veränderte Bild der Keilschriftkultur widerspricht freilich nicht dem nüchterneren für die hellenistisch-römische Zeit; denn die Schätzungen bewegen sich für die Antike nun durchweg in einem Spektrum von etwa 1 bis höchstens 15 %. Vielmehr wird die Verbreitung von Literalität nunmehr nicht mehr so eng wie früher an die vermeintlich viel einfacher zu erlernende Alphabetschrift gebunden. Dabei ist elementare Lesefähigkeit, die die Lektüre schwieriger Texte prinzipiell erlaubt, deutlicher als bislang zu unterscheiden von professioneller Schreibfähigkeit, die für die Abfassung komplexerer Texte vorausgesetzt werden muss. Seit der Mitte des 3. Jt. oblag die Verschriftlichung und Weitergabe von Traditionsliteratur allerdings im Wesentlichen den gelehrten Schreibkundigen. Umfassende Literalität der Gesellschaft war für die schriftliche Aufzeichnung umfangreicher Werke auch keineswegs notwendig. Notwendig war allerdings meist ein elementarer Staatsapparat mit einem Stadtfürsten oder König an der Spitze und einem Beamtenstab, zu dem auch professionelle Schreiber gehörten. Seine Bedeutung für die Inganghaltung einer gelehrten Schriftkultur wird aus heutiger Perspektive gerne unterschätzt. Da Lesen in den weiterhin wesentlich oralen antiken Kulturen für gewöhnlich Vorlesen und nicht privates Lesen bedeutete, wird die Bedeutung weitverbreiteter Literalität für die Möglichkeit der Verschriftung und Verbreitung von umfangreicher Traditionsliteratur hingegen meist zu hoch eingeschätzt. Als Institution des Schreibenlernens ist in Mesopotamien das Eduba (vermutlich: ‚Haus der Tafeln‘) textlich gut tüberhöhung und / oder als Ausnahme anzusehen geneigt war, nimmt man heute Asarhaddon und Nabonid zu den explizit gelehrten und schriftkundigen Königen hinzu, die aus guten Gründen, u.a. die eigene Sicherheit betreffend, den eigenen Eliten hierin nicht nachstanden. 29 Charpin, Reading, 10f.
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belegt, auch sind aus Mesopotamien wie Ägypten Curricula verschiedener Altersstufen relativ gut rekonstruierbar. Das Eduba ist archäologisch aber schwer lokalisierbar, am ehesten in Privathäusern von literati, in denen eine Vielzahl von Schülertafeln gefunden wurden. Als Aufbewahrungsorte von Schriftstücken ist insbesondere an Palast- und Tempelarchive zu denken. Daneben gibt es einen weiteren Bereich, in dem Aufbewahrung, d.h. wohl auch Überlieferung von Texten stattgefunden hat. Aus Mesopotamien ist bekannt, dass Berufsschreiber in der ihnen bleibenden Zeit Kopien anfertigten und private Textsammlungen besaßen. Bedenkt man, dass Söhne der Schreiber für gewöhnlich den Beruf des Vaters erlernten und seine Sammlungen erbten, sind Schreiberfamilien als Traditionsort zu bedenken. Ein solcher Überlieferungsort wäre auch für das alte Israel im Blick zu behalten, insbesondere für ‚dissidente‘ Literatur, die von der dominanten Linie des königlichen Hofs oder Tempels abwich, wie etwa prophetische Literatur – umfassende prophetische ‚Bücher‘ sind bekanntlich das einzige Genre, für das es, im Gegensatz zu Mythen, Epen, Annalen, Spruchweisheit und Gebetsliteratur, in altorientalischen Literaturen nur in Ansätzen Parallelen gibt.30 3 Biblische Belege Auf welche Weise die alttestamentlichen Überlieferungen selbst den Gebrauch von Schrift darstellen, ist selbstverständlich ein weites Feld. Daher soll an dieser Stelle lediglich ein Überblick gegeben werden, wer schrieb und las, und welchen gesellschaftlichen Gruppen diese Personen zuzuordnen sind. Ein Bild vermittelt Tabelle 1. 30
Zur Bedeutung der neuassyrischen Sammlungen von Prophetensprüchen SAA 9 1–4 s. im Einzelnen Alexandra Grund, Kritik, Unheil, erste Sammlungen. Zum altorientalischen Hintergrund der israelitischen Schriftprophetie, BZ 57 (2013), 216– 243.239–242.
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Tabelle 1 Alttestamentliche Belegstellen zu Lesen und Schreiben und ihre Verteilung auf gesellschaftliche Gruppen31 Schreiben (meist )כתב Lesen (ִ)קרא Professionelle Schreiber ()סֹ פרים Baruch Jer 36,4 u.ö. Baruch Schreiber Jer 8,8 (Pl.) Schemaja 1 Chr 24,6 Führende des Volks Mose Ex 17,14 Mose u.ö. Josua Jos 8,32 Josua König / Königin König Dtn 17,18 König Hiskia Jes 38,9 u.ö. Hiskija David u.ö. 2 Sam 11,14 Isebel 1 Kön 21,8 u.ö. Jehu 2 Kön 10,1 u.ö. Salomo 2 Chr 35,4 König von Israel (Joram?) Josia Kultpersonal und / oder Prophet der Priester Num 5,23 ()הַכֹ הֵּן Samuel 1 Sam 10,25 Jeremia Jer 30,2 u.ö. Ezechiel Ez 24,2 u.ö. Habakkuk Hab 2,2 Jesaja Jes 8,1 u.ö.
Daniel 31
der Priester Zefanjah Esra Leviten (Weitere) Angehörige der Elite Dan 7,1 Daniel
Jer 36,6 u.ö.
Ex 24,7 u.ö. Jos 8,34 u.ö. Dtn 17,19 2 Kön 19,14
2 Kön 5,7 2 Kön 23,2 u.ö.
Jer 29,29 Neh 8,3 Neh 8,8 Dan 5,17
Vgl. hierzu die Tabelle bei Young, Literacy, 245–247, mit allerdings abweichenden Einschätzungen im Einzelnen.
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Deligierte der Stämme Esther u. Mordechai
Jos 18,4 Est 8,8 Jehudi (vom Hof Jojakims) Serajah („Quartiermeister“) nicht kategorisiert
ein junger Mann () ַנעַר Bezalel u. Oholiab
Jer 36,21 u.ö. Jer 51,61 u.ö.
Ri 8,14 Ex 39,30 ?
Dtn 31,11
Unter den Lesenden und Schreibenden befinden sich, wie zu erwarten, auch professionelle Schreiber, aber sie gehören nicht zum am häufigsten genannten Personenkreis. Auch bei Führenden des Volks wie Mose und Josua, Königen, Kultpersonal sowie weiteren Angehörigen der Elite ist von Lesen und / oder Schreiben die Rede. Allerdings ist bei einer Vielzahl der Stellen zu diskutieren, ob tatsächlich an eigenes Schreiben und Lesen gedacht ist oder nicht vielmehr an ein Lesen- oder Schreibenlassen durch Spezialisten.32 In Jer 36,2 ergeht der Auftrag an Jeremia: Nimm dir eine Schriftrolle und schreib darauf all die Worte, die ich zu dir geredet habe über Israel und über Juda und über alle Nationen, von dem Tag an, da ich zu dir geredet habe, von den Tagen Josias an bis auf diesen Tag!
Nach Jer 36,4 vollzog Jeremia den Auftrag wie folgt: Da rief Jeremia Baruch, den Sohn des Nerija. Und Baruch schrieb nach dem Wortlaut Jeremias all die Worte JHWHs, die er zu ihm geredet hatte, auf eine Schriftrolle.
Zwar spricht es nicht prinzipiell gegen jemandes Lese- oder Schreibfähigkeit, wenn ein Schreiber oder Sekretär an seiner Stelle schrieb. Aber insbesondere an den Stellen, 32
Vgl. in Bezug auf das Lesen etwa 2 Kön 22,10.16.
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wo davon die Rede ist, dass ‚das Volk‘ schreibt oder liest (Dtn 6,9; 11,20; 24,1.3 27,2f.8; Neh 9,3), dürfte an eine Ausführung durch professionelle Schreibkundige gedacht sein. Der von den Umweltkulturen her zu erwartende Befund einer die Eliten nicht substantiell überschreitenden Literalität wird hiervon durchaus gestützt. 4 Außerbiblische Zeugnisse des Gebrauchs von Schrift aus dem antiken Israel / Palästina Um Näheres über die Voraussetzungen von Verschriftlichungsprozessen im eisenzeitlichen Israel und Juda zu erfahren, sind diese Quellen von herausgehobener Bedeutung. Zunächst ist zu fragen, inwiefern sie uns Aufschluss über die Verbreitung der Schreib- und Lesefähigkeit geben können. 4.1 Zur Frage nach der Verbreitung von Literalität Der in der Spätbronzezeit einsetzende Gebrauch der Alphabetschrift ist gewiss eine bemerkenswerte kulturelle Innovation – für die Levante und darüber hinaus. Früher wurde sie gerne als die große Erleichterung von Literalität gehandelt, als habe sie geradezu zu einer „Demokratisierung und Popularisierung des Schreibens“33 geführt. In neueren Studien ist man zu dieser Annahme nicht mehr bereit.34 Vielmehr gilt, dass die Schwierigkeit einer Schrift unter Umständen wenig Auswirkung auf die Literalität der Bevölkerung hat, die von ganz anderen kulturellen Faktoren bestimmt wird. Der Gebrauch einer Konsonantenschrift von der althebräischen bis zur Quadrat-Schrift wird
33
R. Lehmann, Ist damit das Nötige gesagt? Zu einem neuen Trend in der althebräischen Epigraphik, OLZ 108 (2013) 221–229, 222. 34 So u.a. Carr, Writing; John Baines, Visual and Written Culture in Ancient Egypt (Oxford: Oxford University Press 2007) u.a.
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allgemein als weiteres Indiz der substantiellen Mündlichkeit der Überlieferung gewertet.35 Die vor einer Forschergeneration noch ausführlich debattierte Frage nach der Existenz von Schulen36 hat sich als wenig fruchtbar erwiesen, weil chronisch unklar war, was mit ‚Schule‘ gemeint sein soll und wie diese Institution als Gebäude archäologisch identifizierbar sein soll.37 Dass es ausgebildete Schreiber und somit eine professionelle Schreiber-Ausbildung ab dem 9. Jh. in Israel und Juda gab, zeigt aber die paläographische Auswertung der Inschriften. Für eine solche Ausbildung darf man Institutionen wie das Eduba für eine Modellbildung hinzuziehen, ohne jedoch die Analogie überzustrapazieren. Der Alphabetisierungsgrad wird nach wie vor diskutiert. Paradigmatisch ist hier die Kontroverse zwischen Richard Hess und Ian Young: Young sieht Literalität auf professionelle Schreiber bzw. die gesellschaftliche Elite beschränkt, wobei er sich in seiner Argumentation lediglich auf allgemeine, kulturübergreifende Einsichten und den Befund der alttestamentlichen Belegstellen bezieht.38 Hess argumentiert für eine darüber hinaus verbreitete Schreibfähigkeit und führt seinerseits allein epigraphische Befunde der EZ ins Feld.39 Gewiss machen die zahlreichen Funde von Bullen deutlich, wie wenige der gesiegelten Dokumente auf Papyrus uns erhalten sind und dass die Schriftkultur weit umfangreicher gewesen sein wird als 35
Vgl. dazu u.a. Renz, Texttradition, 79. Als Protagonisten dieser älteren Debatte dürften A. Lemaire und D.W. Jamieson-Drake gelten, s. insbesondere André Lemaire, Les écoles et la formation de la Bible dans l'ancien Israel (OBO 39) (Fribourg / CH: Ed. Universitaires u.a. 1981) und David W. Jamieson-Drake, Scribes and Schools in Monarchic Judah, The Social World of Biblical Antiquity Series 9 (Sheffield: Almond Press 1991). 37 Vgl. dazu das bereits oben unter 2. zum Edubba Gesagte. 38 Young, Literacy; ders., Response. 39 Richard S. Hess, Literacy in Iron Age Israel, in: David W Baker u.a. (Hg.), Windows into Old Testament History. Evidence, Argument, and the Crisis of “Biblical Israel” (Grand Rapids: Eerdmans Publishing 2002), 82–102. 36
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der magere Befund an Ostraka es suggeriert. Doch ihre bloße Existenz besagt nicht viel, sie müssen durch Evidenzen aus anderen Quellenbereichen zu einem vollständigeren Bild ergänzt und jeweils en détail ausgewertet werden.40 Der meistdiskutierte Beleg für Literalität über den Kreis der Berufsschreiber hinaus ist gewiss das Ostrakon Lachisch 3 (IDAM 38.127). Die 21 Ostraka wurden 1935 und danach bei Ausgrabungen unter Leitung von James L. Starkey am Tell ed-Duwēr / Lachisch gefunden, im Zerstörungsschutt von Stratum II, das mit guten Gründen 587/6 v. Chr. datiert wird. Sie stellen kurze Briefe von Angehörigen des judäischen Heeres an einen übergeordneten Befehlshaber in Lachisch dar.41 Von vorrangigem Interesse für unsere Fragestellung ist der Text der Vorderseite von Lachisch 3: Recto
2 3 4 5
40
1 Dein Diener Hoschajahu schickt hiermit, um [meinem Her]rn Jausch zu [berichten]: JHWH lasse meinen Herrn hören eine Friedensnachricht und [Nachricht des Guten]. Und jetzt: Öffne doch [das Ohr]42 deines Dieners bezüglich des Schriftstücks, das
Vgl. etwa den instruktiven Überblick von Nadav Naa’man, Literacy in the Negev of the Late Monarchical Period, in: Brian B. Schmidt (Hg.), Contextualizing Israel's Sacred Writings: Ancient Literacy, Orality, and Literary Production (Atlanta: Society of Biblical Literature 2015), 47–70. 41 Nach der alternativen Deutung, die ursprünglich bereits von Olga Tufnell und Yigael Yadin vertreten wird; sind die Ostraka Entwürfe für Briefe auf Papyrus, die von Lachisch nach Jerusalem gesandt wurden, zur Diskussion s. D. Ussishkin, Biblical Lachish. A Tale of Construction, Destruction, Excavation and Restoration (Jerusalem: Israel Exploration Soc., 2014), 384–389. Literalität wäre für Lachisch nicht so überraschend, die Ostraka wären zugleich Hinweis auf einen weit größeren Umfang an Schriftverkehr auf Papyrus. 42 Fraglich ist die in Z.5 von Diethelm Conrad, TUAT II/6, 1991 621; Johannes Renz / Wolfgang Röllig, Handbuch der althebräischen Epigraphik Bd. 3 Texte und Tafeln (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995), 417; W. Schniedewind,
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du gestern Abend deinem Diener [schicktest]; denn das Herz [deines Die]ners [ist betrübt], seit Du deinem Diener schicktest. Und wenn mein Herr sagte: „Du kannst ein Schriftstück nicht lesen“ – so wahr JHWH lebt: Nie versuchte mir je mand ein Schriftstück vorzulesen. Und außerdem: Jedes Schriftstück, das zu mir kommt – : Wenn ich es gelesen habe, kann ich es danach wiedergeben bis ins Detail. Und: Deinem Knecht wurde Folgendes mitgeteilt: Der Oberkommandierende des Heeres Konjahu, Sohn des Elnatan, ging hinab, um nach Ägypten zu kommen, und
Dass das Ostrakon für die Frage nach der Literalität über den Schreiberstand hinaus interessant ist, liegt auf der Hand, wenn man die überwiegend vertretene Deutung zugrunde legt.43 Demnach setzt sich Hoschajahu in Z.8-13 Sociolinguistic Reflections on the Letter of a „Literate“ Soldier (Lachish 3), ZAH 13 (2000), 157–167: 158, vertretene Lesung ‛yn in Z.5. Auf den Nachzeichnungen von Frank Moore Cross, A Literate Soldier: Lachish letter III. Biblical and Related Studies Presented to Samuel Iwry, Winona Lake 1985, 41–47, 44 und Shmuel Aḥituv, Echoes from the Past. Hebrew and Cognate Inscriptions from the Biblical World (trans. A. Rainey; Jerusalem: Carta, 2008), 65 ist der erste Buchstabe gut als Alef zu identifizieren, der zweite eher als Zadeh denn als Jod; deren Lesart folge ich hier. 43 Grace J. Park, Polar אםin Oaths and the Question of Literacy in Lachish 3, ZAW 125 (2013), 463–478 hat jüngst argumentiert, der Soldat verteidige nicht seine Lesefähigkeit, sondern bekräftige seine Unfähigkeit, den Sinn des Briefes seines Vorgesetzten zu verstehen. Das überzeugt freilich nicht, da schwerlich vorstellbar ist, dass ein Untergebener gegenüber einem Vorgesetzten seine Inkompetenz, sogar durch einen Schwur, bekräftigt, da ferner unplausibel ist, dass qr᾿ spr in Z.10 und Z.11f „einen Brief lesen“, in Z.9 dagegen „rufe einen Schreiber“ bedeuten soll, und da ihre neue Deutung von –אםSätzen in Eidaussagen als rhetorische Fragen fraglich bleibt. Schließlich: Wenn Hoschajahu der Meinung gewesen wäre, dass Jausch auf einen Schreiber angewiesen sei, um Briefe zu lesen, wäre es wenig sinnvoll gewesen, ihm das schriftlich mitzuteilen.
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gegen den im Schreiben vom Vorabend geäußerten Vorwurf mangelnder Lesefähigkeit durch seinen Vorgesetzten Jausch zur Wehr. Er bekräftigt, dass er jedes zu ihm kommende Schriftstück nicht nur vortragen, sondern auch getreulich memorieren könne – Letzteres ein weiterer Beleg für die Praxis schriftgestützten Auswendiglernens mit dem Ziel mündlicher Wiedergabe. Ob ein untergebenes Heeresmitglied wie Hoschajahu Lachisch 3 selbst schrieb, steht aber durchaus in Zweifel. Cross etwa hält die Schrift für die eines professionellen Schreibers, den Hoschajahu beauftragt hat.44 Tatsächlich macht die kursive Schrift den Eindruck großer Geläufigkeit. Doch die Eigentümlichkeiten der Sprache und Orthographie ziehen den Ausbildungsgrad des Schreibers in Zweifel. Sie machen es wahrscheinlich, dass Hoschajahu selbst schrieb. Meist wird angenommen, dass die Briefe aus Maresha stammen; in einer so kleinen Festung eigens gelehrte Schreiber zu stationieren, erscheint auch wenig ökonomisch. Dass der Soldat seine Literalität mit besonderem Nachdruck verteidigt, nimmt Schniedewind als Hinweis, dass Analphabetentum zu Beginn des 6. Jh. in Juda bereits stigmatisiert, Literalität somit verbreitet gewesen sei.45 So zu generalisieren ist jedoch wenig angebracht. Die Möglichkeit regen Briefwechsels war militärisch geboten, ebenso wie die Literalität militärischer Geheimnisträger. Man wird Lachisch 3 nicht für einen umfassenden Alphabetisierungsgrad in Anspruch nehmen können. Ähnlich wären nun zahlreiche weitere Inschriften, etwa aus Kuntillet Adjrud oder das Yabneh-Yam-Ostrakon, in dieser Hinsicht zu diskutieren, worauf in diesem Rahmen aber verzichtet werden muss.
44 45
Cross, Literate soldier, 47. Schniedewind, Book, 102.
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4.2 Rahmendaten der althebräischen Schriftkultur Was ist über die Entwicklung der Schreibkultur im antiken Israel / Palästina darüber hinaus zu sagen? Abseits der spätbronzezeitlich vorherrschenden Keilschrift mit dem Akkadischen als einer Art lingua franca der Levante bildete sich eine für die westsemitischen Sprachen eigenständige Schrift heraus: Der ‚phönizische Standard‘, besser die ‚levantinische scriptio franca‘. Hieraus entwickelt sich in Israel und Juda im 9. Jh. eine spezifisch ‚hebräische‘, auch identitätsrelevante Schrift, „die sich deutlich vom Moabitischen und Ammonitischen unterscheidet“.46 Aramäische (Sefire-Inschrift) und moabitische (MeschaStele) Inschriften adaptieren, wie S. Sanders hervorgehoben hat, im 9. und 8. Jh. den Stil neuassyrischer Königsinschriften: Die Könige der Kleinstaaten gerieren sich wie die Großkönige, wenden sich mit eigener Sprache und Schrift aber an ihre Bevölkerung.47 Dagegen sind in Israel und Juda königliche Inschriften und Monumentalinschriften insgesamt auffällig schwach vertreten.48 Bemerkenswert ist zudem, dass mit der Tell Dēr ̒Allā -Inschrift der älteste erhaltene ‚literarische‘ Text prophetischen Inhalts ist,49 und dass zahlreiche Funde aus der Peripherie stammen. Ab dem 9. Jh. zeigt die Standardisierung der hebräischen Schrift eine professionelle Schreiberausbildung in Israel und Juda.50 Die Ausbildung einer in Nord- und Südreich 46
Renz, Texttradition, 66. Sanders, Invention, 113–122. 48 Vgl. Renz, Texttradition, 67. 49 Vgl. Sanders, Invention, 140–142. 50 Dem Kern–Curriculum der Schreiberausbildung nähert sich Chr. Rollston, Scribal Curriculum during the First Temple Period: Epigraphic Hebrew and Biblical Evidence, in: Brian B. Schmidt (Hg.), Contextualizing Israel's Sacred Writings: Ancient Literacy, Orality, and Literary Production (Atlanta: Society of Biblical Literature 2015), 71–102. Dazu gehörten: 1) eine professionelle, akkurate Schrift 2) eine sich einheitliche entwickelnde Orthographie 3) der Gebrauch hieratischer Zahlen sowie von 4) (Brief -) Formularen sowie eine 5) Fremdsprachen-Ausbildung (vgl. 2 Kön 47
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bemerkenswert ähnlichen Schrift weist dabei auf enge kulturelle und institutionelle Verbindungen beider Staaten hin.51 Wie stellt sich die hebräische Schriftkultur im Verhältnis zu den Umweltkulturen dar? J. Renz zählt beim Corpus der bekannten Inschriften aus dem Zeitraum 9.-6. Jh. v.Chr.: Inschriften aus Israel / Palästina phönizische Inschriften aramäische Inschriften
etwa 650 Texte etwa 32 Texte etwa 90 Texte52
Auch wenn man für Israel / Palästina höhere Grabungsaktivitäten in Anschlag bringt, bleibt es quantitativ bemerkenswert, dass das Corpus der bekannten phönizischen und aramäischen Inschriften aus dem gleichen Zeitraum gegenüber dem aus Israel / Palästina so gering ist. Die Verhältnisse für Siegel und Bullen sind ähnlich: 38 phönizischen und 107 aramäischen stehen 711 hebräische Siegel gegenüber.53 Für die israelitische Schriftkultur darf also ein im Verhältnis zu den unmittelbaren Nachbarn höheres Niveau angesetzt werden. Im zeitlichen Verlauf stellt sich die Anzahl der Inschriften nach Niemann54 wie folgt dar: 10. Jh. 9. Jh. 1. Hälfte 8. Jh. 2. Hälfte 8. Jh. 1. Hälfte 7. Jh. 2. Hälfte 7. Jh. Anfang 6. Jh.
4 Inschriften 18 Inschriften 16 Inschriften 129 Inschriften 50 Inschriften 52 Inschriften 65 Inschriften
18 sowie Lehre des Amenemope und Prov 22,17–24,22). 51 Renz, Texttradition, 66f. 52 Renz, Texttradition, 64. 53 Vgl. hierzu Renz, Texttradition, 64. 54 Hermann M. Niemann, Kein Ende des Büchermachens in Israel und Juda (Koh 12,12) – Wann begann es?, BiKi 53 (1998),127–134, 128.
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Die 2. Hälfte des 8. Jh. stellt dabei den relativ höchsten Anteil an Inschriften, was auch der um diese Zeit archäologisch belegten wirtschaftlichen und kulturellen Blüte entspricht.55 Angesichts der anzunehmenden Bindung der Schriftkultur an einen funktionierenden Königshof ist ebenfalls nicht überraschend, „dass es auf dem Territorium des ehemaligen Staates Israel nach dessen Untergang so gut wie keine Texte mehr“56 gibt. Die Zerstörung Samarias führt dort fast zum völligen Abbruch althebräischer Inschriften. Dass nach dem Ende des Nordreichs in Juda alte wie neue Buchstabenformen weitergeführt werden, ist vermutlich auf ein breiteres Spektrum von Schreibern nun aus Juda und Israel zurückzuführen. Der größte Bruch für die hebräische Schriftkultur ist das Ende Judas als Staat. Er zog einen eklatanten Abfall an Befunden der althebräischen Schrift nach sich. Angesichts der Bindung professioneller Schreibkunst an staatliche Strukturen überrascht dies freilich nicht. Möglicherweise wurde ein Großteil der Schreiber mit der Elite bereits 598 v Chr. exiliert. Sie hatten ihren Lebensunterhalt von Seiten des judäischen Hofs verloren, die Fortführung professionellen Schreibens war grundsätzlich bedroht. 55
So rechnet etwa I. Finkelstein, “Digging for the Truth: Archaeology and the Bible”, in Brian B. Schmidt (ed.), The Quest for the Historical Israel: Debating Archaeology and the History of Early Israel, ABS 17, Atlanta: Society of Biblical Literature 2013, 9–20, mit der Komposition literarischer Werke ab dem 8. Jh., was aus Sicht einiger aktueller literaturgeschichtlicher Modelle freilich eine recht frühe Datierung darstellen dürfte. Die epigraphisch basierte Diskussion um die Schreibkultur dreht sich hingegen um die Produktion annalistischer und literarischer Werke im 9. und sogar 10. Jh., für die A. Lemaire, Levantine Literacy ca. 1000–750 BCE, in: Schmidt, Writings, 11–46 mit einer, weniger überzeugenden, erneuten Ausbreitung des frühen inschriftlichen Befundes, und, methodisch schlüssiger, Chr. Rollston, Inscriptions Evidence for the Writing of the Earliest Texts of the Bible – Intellectual Infrastructure in Tenth- and Ninth-Century Israel, Judah, and the Southern Levant, in: Gertz u.a. (Hg.), Formation, 15–45, argumentieren. 56 Renz, Texttradition, 67f.
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Schniedewind hat dies Problem gesehen und das Umfeld des exilierten Königs Jojachin als Ort des Traditionskontinuums vorgeschlagen. Solches ist in der Tat denkbar, auch wenn die Diskrepanz zwischen den Erwähnungen des „Ja’ukinu, König des Landes Juda“ auf Rationenlisten aus der Südburg Babylons einerseits, die Notiz von der Freilassung Jojachins aus dem bēt kælæ (2 Kön 25,27-30) unter Amel-Marduk Fragen aufwirft.57 Die vielen epigraphischen Funde in der Peripherie aus der vorexilischen Zeit lassen zudem die Möglichkeit offen, dass Schrifttradierung jenseits des judäischen Hofs bzw. der Verwaltung stattgefunden hat, auch wenn wir ab der exilischen Zeit keine vergleichbaren epigraphischen Belege vorliegen haben. Schniedewind hat nun aus dem weitgehenden Fehlen althebräischer Inschriften aus der Perserzeit die Folgerung gezogen, dass die alttestamentlichen Überlieferungen im Wesentlichen in vorexilischer Zeit entstanden seien.58 Dies geht jedoch weit über das methodisch Vertretbare hinaus, da der Umfang der hebräischen Textüberlieferung auf Papyrus und Leder eine unbekannte Größe bleibt. Schmid hat im Gegenzug auf das große aramäische Schriftcorpus aus der Achämenidenzeit verwiesen.59 Doch sind Texte in aramäischer Schrift zugleich in aramäischer Sprache abgefasst, während die wenigen perserzeitlichen Bullen und Münzen in althebräischer Schrift auch in hebräischer Sprache abgefasst sind.60 Daher kann das aramäische Textcorpus nicht positiv für eine reiche hebräische Literaturproduktion in Anschlag gebracht werden. Erst in hellenistischer Zeit entstand mit der Quadratschrift als Abzweig der aramäischen Schrift eine eigene frühjüdische 57
S. hierzu etwa Rainer Albertz, Die Exilszeit: 6. Jahrhundert v. Chr., Biblische Enzyklopädie 7 (Stuttgart u.a.: Kohlhammer 2001), 86–91. 58 Schniedewind, Book, 167–172. 59 Schmid, Literaturgeschichte, 44. 60 Yosef Naveh, Early History of the Alphabet. An Introduction to West Semitic Epigraphy and Palaeography (Jerusalem: Magnes Press 21987), 114–121.
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Schriftform, seitdem sind hebräische Texte in dieser Schrift belegt, wie die Funde aus der Nähe von Hirbet Qumran überreich zeigen. Ausblick Im Blick auf den außerbiblischen Befund müssen zwar leider viele Fragen nach den Überlieferungsorten der schriftlichen hebräischen Literaturtradition ausgerechnet für die Achämenidenzeit offenbleiben. Man kann angesichts des Gesagten gleichwohl formulieren, dass die Königszeit ab dem 8. Jh. v.Chr. hinsichtlich der lebensweltlichen Bedingungen nicht unbedingt die schlechteste Zeit für die Verschriftung von Traditionsliteratur gewesen sein muss. Im Blick auf die institutionellen und infrastrukturellen Bedingungen erscheinen die sog. Exilszeit und die frühnachexilische Zeit hierfür nicht unbedingt als die besten Epochen. Das muss für die aktuell konsensuellen literaturgeschichtlichen Modelle keine ernsthafte Schwierigkeit darstellen, hinterlässt aber zumindest eine gewisse Irritation. Dass dieser Zugang eine ganze Reihe neuer Fragen aufwirft, ist im Interesse vitaler Forschung jedoch zu begrüßen, und es ist das Interesse dieser Studie, auf diese im Sinne einer Problemanzeige hinzuweisen. Im Rückblick auf die Evidenz der Umweltkulturen wird ferner deutlich, dass die Bedeutung des Alphabetisierungsgrads für eine rege Abfassung von Traditionsliteratur gelegentlich zu hoch veranschlagt wird, da diese ohnehin eher im Umfeld bzw. ausgehend von gelehrten ‚Schreibern‘ zu suchen ist. Die Rezeption dieser Literatur ging kaum in privater Lektüre der wenigen Schreibkundigen vonstatten, sondern im lauten Lesen vor kleinen und größeren Menschenansammlungen, wie auch dadurch belegt wird, dass ‚lesen‘, anders als gelegentlich im Akkadischen, nie als ‚sehen‘, sondern bekanntlich mit hebräisch qr᾿ wiedergegeben wird. Es verbleibt eine wichtige Aufgabe der Forschung, Literaturgeschichte und Geschichte der Schreibkultur im alten
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Israel einander anzunähern und die Frage nach den lebensweltlichen Kontexten der Literaturwerdung in die Literaturgeschichte einzubeziehen. Die Frage nach der Schriftkultur des alten Israel gehört jedenfalls nicht an den Rand, sondern in die Prolegomena einer Literaturgeschichte Israels.
„Und sie schämten sich nicht ...“ (Gen 2,25). Zur alttestamentlichen Anthropologie der Scham im Spiegel von Gen 2–3
„Die reine Scham ist nicht das Gefühl, dieser oder jener tadelnswerte Gegenstand zu sein; sondern überhaupt ein Gegenstand zu sein, das heißt, mich in einem degradierten, abhängigen und starr gewordenen Gegenstand, der ich für Andere geworden bin, wiederzuerkennen“1. J.-P. Sartres Analyse des vergegenständlichenden Blickes des anderen in „L’être et le néant“ sucht ihresgleichen, wenn es um eine ‚dichte Beschreibung’ der Scham als einer menschlichen Grunderfahrung geht. Der umtreibende Gedanke „Was mögen die anderen nun über mich denken?“ zeigt das Schamgefühl als einen sozial angestoßenen, selbstbezüglichen Affekt, der einerseits für den Erwerb sozial erfolgreicher Verhaltensweisen notwendig ist, andererseits Anpassung an gesellschaftliche Normen und Konventionen und damit auch Konformität fördert.2 Sie offenbart zugleich die Verwandtschaft von Schamgefühl und dessen spiegelbildlicher Entsprechung, dem Stolz: Das Schamgefühl stellt sich bei (vermeinter) Entehrung 1
So die Übersetzung von J. Streller (in: J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg 1962, 381, im Original: „La honte pure n’est pas sentiment d’être tel ou tel objet répréhensible; mais, en général, sentiment d’être un objet, c’est–à–dire de me reconnaître dans cet être dégradé, dépendant et figé que je suis pour autrui“; J.-P. Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris 1950, 349 (Hvbg. jeweils im Orig.). 2 Zu Untersuchungen über das Fehlen des Schamgefühls bei Störungen wie Exhibitionismus, Masochismus u.a. s. Tisseron, Scham, 26ff.
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ein, Stolz bei (vermeinter) Anerkennung durch andere.3 Das selbstmindernde Gefühl der Scham erwacht, wenn „etwas, das der einzelne als zu seiner Intimsphäre gehörend betrachtet“4, öffentlich wird, wenn er gar im Kern des eigenen Wesens von ‚bedeutenden anderen’ („significant others“)5 erkannt wird. Sartres berühmtes Diktum: „L’enfer, c’est les autres“6 zeigt uns eine Hölle, die ihre vorgebliche Vernichtungslegitimation nicht aus der moralischen Schuld des einzelnen, aus faktischer und verwerflicher Schädigung von Leben bezieht, sondern allein aus der Perspektive ‚der anderen’ – wie sehr deren Maßstab auch echter Moralität ermangeln mag.7 Schuld- und Schamgefühl müssen also deutlich unterschieden werden. Andererseits ist Scham „Ausdruck der Internalisierung von Normen“ 8 3
S. hierzu M. Lomen, Sünde und Scham im biblischen und islamischen Kontext. Eine ethno-hermeneutischer Beitrag zum christlich–islamischen Dialog (Edition Afem. Mission scripts 21), Nürnberg 2003 69f.166 u. passim; Tisseron, Scham, 20ff; S.M. Olyan, Honor, shame, and covenant relations in ancient Israel and its environment, JBL 115 (1996) 201–218204; L.M. Bechtel, Shame as a Sanction of Social Control in Biblical Israel: Judicial, Political, and Social Shaming JSOT 49 (1991) 47–76, 49f; J. Dietrich, Über Ehre und Ehrgefühl im Alten Testament, in: B. Janowski / K. Liess (Hg.), Der Mensch im alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie (HBS), Freiburg u.a. 2009, 419– 452. An dieser Stelle sei Jan Dietrich, Leipzig, ausdrücklich gedankt, dass er mich sein Manuskript noch vor der Veröffentlichung hat einsehen lassen. 4 Tisseron, Scham, 17. 5 Vgl. dazu etwa Lomen, Sünde, 59ff; H. Moxnes, Honor and Shame, Biblical theology bulletin (1993) 167–176, 168. 6 So die berühmte Formulierung in Geschlossene Gesellschaft), Hamburg 1997, 53. 7 Psychologische und soziologische Definitionen von Schuld lediglich als Verstoß gegen internalisierte soziale bzw. elterliche Normen, die von Furcht vor Strafe wie etwa Liebesverlust begleitet sind (vgl. Lomen, Sünde, 41ff; Bechtel, Shame, 53ff), sind deutlich unterbestimmt gegenüber solchen, die die faktische Schädigung durch schuldhaftes Verhalten anderer im Blick behalten. 8 K. Huxel, Art. Scham II. Ethisch, RGG 4 7 (2004) 862–863; 863, s. aaO. passim für weitere differenzierte Analysen des Begriffs der Scham.
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und ermöglicht die Ausbildung eines moralischen Sensoriums. Und so wird das menschliche Miteinander zu nicht geringem Teil, aber nahezu unmerklich von Gefühlen der Scham – und sei es nur von Scham-Angst – mitbestimmt und reguliert. Die Bedeutung von Scham und Ehre für die Mentalität gerade auch der Menschen des alten Israel wurde bislang noch wenig wahrgenommen.9 Betreibt man, wie es B. Janowski vielfach vorbildlich unternommen hat,10 alttestamentliche Wissenschaft im Horizont der Fragestellungen und Einsichten der Historischen Anthropologie, so gehören Studien zu diesem Gebiet gewiss zu den Forschungsdesideraten. Einige neuere Arbeiten greifen nun das Thema auf; dabei wird Israel hier gerne wie die angrenzenden mediterranen Kulturen als ‚Schamkultur’ beschrieben.11 Doch die im Anschluss am Mead und Benedict12 lange Zeit prägende, schematische Gegenüberstellung von (‚primitiven’, antiken, östlichen) ‚Schamkulturen’, in denen vermeintlich nur externe Sanktionen ihre Mitglieder zur Konformität bewegen, und (vermeintlich moralisch und technisch fortgeschritteneren westlichen) ‚Schuldkulturen’, in denen ein verinnerlichtes Schuldbewusstsein dominiere, wird mittlerweile sehr kritisch gesehen.13 Östliche und alte Kulturen im Gegensatz zu heutigen westlichen schablonenhaft als Scham- und 9
Zur – überschaubaren – Forschungssituation s. Olyan, Shame, 203 mit Anm. 5; Bechtel, Shame, 47f mit Anm. 1; Moxnes, Honor, 168ff; vgl. auch das Themenheft ‚Honor and Shame’ Semeia 68 (1994). 10 Vgl. dazu etwa B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 22006, 2ff. 11 Bechtel, Shame, 51ff. 12 M. Mead, Interpretive Statement, in: dies., Cooperation and Competition among Primitiv Peopless, New York 1937, 493–505; R. Benedict, Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur, Frankfurt a.M. 2006. 13 J.K. Chance, The anthropology of honor and shame. Culture, values, and practice, Semeia 68 (1994) 139–151, 141ff; Moxnes, Honor, 168f; vgl. Lomen, Sünde, 43ff.75; zur Kritik s. hierzu auch Dietrich, Ehre, (s. Anm. 3).
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Ehrenkulturen zu klassifizieren, kann zumindest den Blick darauf verstellen, dass Statuslosigkeit, Armut, Rufschädigung und weitere Formen sozialer Deklassierung auch in unserer Gesellschaft in hohem Maß mit Entehrung und Scham verbunden sind.14 Auch wird dem Unterschied zwischen Scham- und Schuldgefühl häufig zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Scham wegen eines moralischen Fehlverhaltens ist ja nur eine von vielen Typen der Schamerfahrung, die auch durch das Erleiden von Rufschädigung, Diskriminierung, Niederlagen verschiedener Art, körperliche Unvollkommenheit oder Verfehlung der Etikette verursacht sein können.15 Das Verhältnis von Scham und Schuld ist gerade im Blick auf das Alte Testament von großer Wichtigkeit. So ist Scham (abzulesen etwa an der Verwendung von )בושim Alten Testament zwar auch mit der sozialen Rolle unangemessenen Handlungen verbunden – oft handelt es sich dabei dann um Verstöße gegen Loyalitätsverhältnisse.16 Doch sind Scham und Beschämung hier meist an ganz konkrete, ethische bzw. theologische Maßstäbe gebunden: Nicht sollen beschämt werden, die JHWH vertrauen17 bzw. die seine Gebote halten;18 beschämt sollen 14
Zugleich kann man kaum davon sprechen, dass unsere öffentliche, jedenfalls die politische Kultur in dem Maße von einem bewussten, reifen Umgang mit Schuld geprägt ist, wie es für eine vermeintliche ‚Schuldkultur’ wünschenswert wäre. 15 Vgl. die bei Lomen, Sünde, 163 aufgeführten Typen der Schamerfahrung nach L.L. Noble, Naked and Not Ashamed. An Anthropological, Biblical, and Psychological Study of Shame, Jackson/ MI 1975, 4f. J. Dietrich unterscheidet mit Status-, Leibes, Totenehre und Ehre des Weise Dimensionen der Ehre, die man ähnlich auch bei der Scham erkennen kann. 16 Zu Scham und Status vgl. etwa G. Stansell, Honor and Shame in the David Narratives, Semeia 68 (1994) 55–80, v.a. 59ff.65ff; zu Scham in Loyalitätsverhältnissen vgl. Olyan, Honor, 204ff; ferner Klopfenstein, Scham, 48. 17 Ps 14,6; 22,6; 25,2.3.20; 31,2.18; 37,19; 71,1; 127,5. Oft wird auch ganz Israel zugesagt, sich nicht schämen zu müssen: Jes 29,22; 41,11; 45,24; 49,23, 54,4; Joel 2,27; Zef 3,11. 18 Ps 119,6.31.80.116.
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werden die Verehrer anderer Götter,19 die Übeltäter,20 die Feinde Israels bzw. (in den Psalmen) die Feinde des Beters.21 Nach Esr 9,6 sind Sünden, nach Hi 6,20 Treulosigkeit, in Prov sind oft Faulheit oder Fehlverhalten gegenüber den Eltern22 Anlass zur Scham. Ehre und Scham werden also zu beträchtlichem Anteil an der (Un-)Treue zum Gott Israels, an (Un-)Gerechtigkeit und ethischem Fehlverhalten bemessen. Israels Schamkultur ist also zu nicht geringem Umfang Teil seiner Schuldkultur. Welch hohe Bedeutung der Scham als menschlicher Urerfahrung in der Sicht des alten Israel zukommt, zeigt an vorderster Stelle die Darstellung von ihrer anfänglichen Entdeckung in der so genannten Fallerzählung Gen 3,23 wo bekanntlich keineswegs explizit von Sünde, wohl aber ausdrücklich von Scham die Rede ist. Vorbereitet wird dies bereits am Ende der Menschenschöpfungserzählung im überleitenden Satz24 Gen 2,25: Und sie beide waren nackt, der Mensch und seine Frau, und sie schämten sich nicht.
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Jes 42,17; 44,9.11.16.17; Jer 51,17.47; Ps 97,7. Daher der Vielzahl der Belege in prophetischen Anklagereden und Unheilsankündigungen, vgl. hierzu Klopfenstein, Scham, 85– 88; F. Stolz, Art. בוש, THAT I (1971) 269–272; 272 und im Einzelnen Hos 2,7; 4,18; 10,6; Mi 3,7; Jer 2,26; 3,26; 6,14; 8,9.12; 9,18 etc.; Ez: 16,52.63; 36,32; Joel 1,11; 2,26; Sach 13,4. 21 S. hierzu Klopfenstein, Scham, 106f und im Einzelnen Ps 6,11; 25,3; 31,18; 35,4.26; 40,15; 44,8; 53,6; 70,3; 71,13.24; 83,18; 86,17; 109,28; 119,78; 129,5; vgl. Jes 26,10; 65,17; 66,5; Jer 17,18; 20,11; Mi 7,16; Sach 9,5; 10,5 vgl. 22 Prov 10,5; 12,4; 19,26. 23 Die neueren Diskussionen zu Gen 2,4b–3,24 können auf diesem begrenzten Raum selbstverständlich nicht ausgebreitet werden, vgl. für einen Überblick u.a. E. Blum, Von Gottesunmittelbarkeit zu Gottesähnlichkeit. Überlegungen zur theologischen Anthropologie der Paradieserzählung, in: G. Eberhardt / K. Liess (Hg.), Gottes Nähe im Alten Testament (SBS 202), Stuttgart 2004, 9–29 (Lit.). 24 . hierzu E.–J. Waschke, Untersuchungen zum Menschenbild der Urgeschichte. Ein Beitrag zur alttestamentlichen Theologie (Theologische Arbeiten 43), Berlin 11984, 56.80f. 20
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In V.25b wurde von vielen eine reziproke anstelle einer reflexiven Deutung von בושhitp. unterstrichen:25 „Sie schämten sich nicht voreinander“. Eine wechselseitige Interpretation des Hitp. ist jedoch kaum nachweisbar, auch weil בושni., das die reflexive Funktion bereits abdecken könnte, im Biblischen Hebräisch nicht vorkommt. Noch schwieriger ist es, eine faktitiv-reziproke Bedeutung (so Sasson: „they did not embarrass each other“)26 nachzuweisen, da auch ש ִ בוpi., das eine faktitive Bedeutung haben könnte, im Alten Testament nicht belegt ist. Hartensteins Deutung, „dass das erste Menschenpaar wohl auch speziell insofern ‚nackt’ ist, als sie sich nicht gegenseitig in ‚Schande’ kleiden“27, überfordert also den Text. Ein reziproker faktitiver Sinn ist für Hitp. sonst alles andere als üblich.28 Die immer auch soziale Dimension der Scham, auf sich die Westermann, Hartenstein u.a. für die reziproke Deutung berufen,29 ist auch in der QalBedeutung ‚sich schämen’ bereits mitenthalten. Da die Nacktheit beider aber vor allem auf ihre völlige Statuslosigkeit hinzeigt, beide sich genau darin aber gleich gestellt sind, wird man die (fehlende) Scham nicht auf das gegenseitige Verhältnis des Menschenpaars beschränken können. Statuslos sind sie – ohne es zu ahnen 25
B. Jacob, Das erste Buch der Tora. Genesis, Berlin 1934, 101; M. A. Klopfenstein, Scham und Schande nach dem Alten Testament. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zu den hebräischen Wurzeln bôs, klm und hpr (AThANT 62), Zürich 1972, 31–33; J.M. Sasson, welō’ yitbōšāšū (Gen 2,25) and its implications, Bibl. 66 (1985) 418–421; C. Westermann, Genesis 1–11 (BK I/1), Neukirchen-Vluyn 1974, 320f; H. Niehr, Art. עָרֹום, ThWAT VI (1989), 375–380, 378f; F. Hartenstein, „Und sie erkannten, dass sie nackt waren ...“ (Gen 3,7). Beobachtungen zur Anthropologie der Paradieserzählung, EvTh 65 (2005) 277–293; 286–288; vgl. HAL s.v. 26 Sasson, Gen 2,25, 420. 27 Beobachtungen, 288 (im Orig mit Hvbg.). 28 Das ergäbe auch eine Durchsicht der Hitpa’el bzw. Hitpolel.– Belege (vgl. in kanonischer Abfolge: Gen 3,8 ;חבא3,24 ;הפך5,22.24 u. 6,9 ;הלך6,6 ;עזב9,21 גלהetc.); vgl. u.a. G–K § 54 3.e). 29 Westermann, BK.AT I/1, 321; Hartenstein, Beobachtungen, 286.
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– aber vor allem im Verhältnis zu ihrem Schöpfer, in dessen Gegenwart sie sich unbekleidet aufhalten. Nach Gen 2,25 ist der Blick des anderen auf die eigene Nacktheit noch nicht als unangenehm und bedrängend ins eigene Bewusstsein getreten. Gerade im alten Israel, wo wie in den anderen altvorderorientalischen Kulturen die Leibesscham eine so hohe Bedeutung hatte,30 ist ihr völliges Fehlen umso frappierender. 31 Nun wurden und werden bis heute – etwa von Michel und Rottzoll32 – sowohl die Scham als auch die Erkenntnis von Gut und Böse immer wieder mit der Entdeckung der Geschlechtlichkeit gleichgesetzt33 – in Fortführung der 30
Zum Begriff der Leibesehre s. Dietrich, Ehre; zu Nacktheit als Zustand der Demütigung und Ehrlosigkeit s. Hartenstein, Beobachtungen, 289ff und passim; Niehr, עָרֹום, 375f.379. 31 Westermanns Vergleich mit Vorweltschilderungen (BK.AT I/ 1, 319) geht dennoch etwas zu weit. 32 D. Michel, Ihr werdet sein wie Gott. Gedanken zur Sündenfallgeschichte in Genesis 3, in: A. Wagner / A. Müller (Hg.), Studien zur Überlieferungsgeschichte alttestamentlicher Texte (ThB 93), Gütersloh 1997, 93–114, 102ff; D.U. Rottzoll, Die Schöpfungs– und Fallerzählung in Gen 2 f. Teil 1: Die Fallerzählung (Gen 3), ZAW 109 (1997) 481–499, 486ff; vgl. zuvor Klopfenstein, Scham, 31–33.48 u.a. Rottzoll scheidet für diese Deutung 3,6aβ – und damit das Klugwerden als Bestandteil der Erkenntnis von Gut und Böse – wegen dessen vorgeblicher Holprigkeit aus (Schöpfungserzählung, 486). Im Ganzen kann seine Rekonstruktion einer älteren Fallerzählung, in der es in Gen 3* um die Erlangung der Geschlechtlichkeit gehe, nicht überzeugen, vgl. hierzu u.a. Blum, Gottesunmittelbarkeit, 11 Anm. 12. 33 Zu Vertretern der Deutung, dass es hier um geschlechtliche Erkenntnis gehe, vgl. Westermann, BK.AT I/1, 331f; s. aaO. 330– 333 zu weiteren Deutungstypen der Erkenntnis von Gut und Böse. Dass bewusste Geschlechtlichkeit und Erkenntnis von Gut und Böse nahezu identisch, und ausgerechnet diese Erkenntnisfähigkeit zur Gottesähnlichkeit, ja Vergöttlichung des Menschen führe, hatte vor Michel bereits R. Gordis, The Knowledge of Good and Evil in the Old Testament and the Qumran Scrolls, JBL 76 (1967) 123–138 vertreten. Michel weist diese Sicht und ihre extremen Konsequenzen für Gottesvorstellung und Anthropologie dann lediglich einer früheren Überlieferungsstufe zu (Ihr werdet sein wie Gott, 102ff), doch ist auch dies im Ganzen alles andere als überzeugend.
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Sexualisierung der sogenannten Sündenfallerzählung in ihrer Rezeptionsgeschichte. Doch hat בושnichts mit sexueller Scham,34 und die Erkenntnis von Gut und Böse nichts mit ידעim Sinne geschlechtlichen Beiwohnens zu tun,35 noch ist bei עָרֹום/ עֵּירֹ םeine sexuelle Konnotation erkennbar.36 Wie Niehr und jüngst Hartenstein u.a. anhand von Beispielen aus der Ikonographie des unterlegenen Feindes gezeigt haben, hat עָרֹו ִםdurchgehend mit niedrigem oder verlorenem Status bzw. Ansehen zu tun, ist also ein Zeichen der Ehrlosigkeit bzw. Demütigung.37 Darin, dass Schamgefühl und volle Ausbildung der Geschlechtsreife je eigenständige Entwicklungen sind, konvergieren also Einsichten der modernen Entwicklungspsychologie und der biblischen Urgeschichte,38 die hier die Entwicklung des Menschen als eines Kollektivs, also menschliche Phylogenese und Ontogenese zugleich darstellt.39 Die Deutung von Schambewusstsein und Körperlichkeit als „Kompetenzen ..., die den selbstständigen, reifen und insofern weisen Menschen ausmachen“,40 presst den Text jedoch zu sehr in die jüngere Debatte um die weisheitliche Intention der Erzählung. Insgesamt beschreibt weder die alte Hybris-Deutung noch die Deutungslinie einer erst mit Gen 3 erfolgten ‚vollen Menschwerdung’ richtig die dramatischen Ereignisse um den „selbstverschuldeten Ausgang des Menschen aus einer seligen Unmündig-
34
H. Seebaß, Art. בוש, ThWAT I (19) 568–580; 571, und auch Gen 3,1–5 hat keine sexuellen Konnotationen, vgl. H. Seebass, Genesis. Bd. 1: Urgeschichte (1,1-11,26), Neukirchen-Vluyn 1996, 122; Hartenstein, Beobachtungen, 292. 35 Gen 4,1; 19,5.8; Num 31,17; 1 Kön 1,4 jeweils mit dem Objekt des Beischlafs im Akk. 36 Niehr, עָרֹום, 377. 37 S. hierzu auch Lomen, Sünde, 128f. 38 S. A. Schüle, Der Prolog der hebräischen Bibel. Der literar– und theologiegeschichtliche Diskurs der Urgeschichte (Gen 1-11) (AThANT 86), Zürich 2006, 175. 39 Vgl. bereits H. Gunkel, Genesis (HK1 / 1), 6. Aufl. (Nachdr. der 3. Aufl.), Göttingen 1964 u.a.; Blum, Gottesunmittelbarkeit, 22. 40 Schüle, Prolog, 175.
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keit“41: Der Verlust ungebrochener Gottesnähe und unerschöpflicher Fülle des Lebens 42 wiegen unbeschreiblich schwer. Die Weisheitlichkeit der Erzählung zeigt sich also womöglich gerade darin, der zur ethischen Entscheidung befähigenden menschlichen Erkenntnis zwar einiges, aber realistischer Weise zugleich auch nicht zu viel zuzutrauen – wie gerade die nachfolgende Erzählung des in voller ethischer Mündigkeit ausgeführten, religiös motivierten Brudermords nur zu plastisch vor Augen führt. Noch bevor Scham, Realisierung der Erkenntnis von Gut und Böse, Versuchung oder gar Übertretung überhaupt ins Blickfeld geraten, ist in Gen 2,23f von der geschlechtlichen Orientierung und Zusammengehörigkeit von אישund אשָ הdie Rede.43 Geschlechtlichkeit wird also als zum Menschsein zugehörig bejaht,44 und ist angesichts der Sequenz Gen 2,23f.25 gerade nicht notwendig mit Scham verbunden.45 Wenn Scham mit Geschlechtlichkeit in Gen 2-3 also nicht unmittelbar zusammengehört – sind nicht zumindest Schamgefühl und Sünden- bzw. Schuldbewusstsein direkt miteinander verknüpft? Nach vielen anderen46 hat dies in jüngerer Zeit wieder Dohmen vertreten.47 Aufschluss muss hier die Darstellung des ‚Falls’ selbst geben: 41
Blum, Gottesunmittelbarkeit, 22. So treffend Blum, Gottesunmittelbarkeit, 22. 43 Vgl. Westermann, BK.AT I/1, 342f. 44 Als Erschaffung des ‚Sexualtriebs’ (Rottzoll, Schöpfungserzählung, 487) ist Gen 2,23f viel zu plakativ beschrieben. 45 Es ist zu erwarten und mehr als angemessen, dass ein ätiologischer Reflexionstext wie V.24, der sich auf alle künftigen Menschengeschlechter bezieht, in einer solchen fundierenden Erzählung begegnet; die jüngste Problematisierung seiner Ursprünglichkeit bei Schüle (Prolog, 171f) ist unbegründet. 46 Vgl. etwa Klopfenstein: „Scham ist (subjektiv) Ausdruck von Schuldgefühl; Beschämung ist (objektiv) Ausdruck von aufgedeckter Schuld“; Scham, 33. 47 Chr. Dohmen, Schöpfung und Tod. Die Entfaltung theologischer und anthropologischer Konzeptionen in Gen 2/3 (SBS 17), Stuttgart 1988, 174ff. 42
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Da wurden ihrer beider Augen geöffnet, und sie erkannten, daß sie nackt48 waren; und sie hefteten Feigenlaub zusammen und machten sich Schurze. (Gen 3,7)
Mit dem Essen der Frucht ist das Menschenpaar, wie Gen 3,22 besagt und wie es auch die Schlange angekündigt hatte,49 hinsichtlich der Erkenntnis von Gut und Böse Gott gleich geworden. Hier jedoch zeigt der Erzähler nur die Kehrseite der neu gewonnenen Erkenntnis: Die Menschen haben jetzt einen Blick für den Blick des anderen, sie erleben Leibesscham und erkennen die eigene ehrlose Situation vor dem anderen und vor allem vor Gott: „Wenn Nacktheit ... zunächst ganz allgemein Statuslosigkeit anzeigt, dann erscheint hier erstmals die Wahrnehmung der eigenen Niedrigkeit angesichts des als ‚hoch’ erfahrenen Gottes“50. Nun fürchtet sich und versteckt sich das Paar vor dem herannahenden Gott – dies nach eigener Aussage (3,10) jedoch nicht wegen der Übertretung, sondern wegen ihrer Nacktheit. Hier wurde zwar oft ein frommer Vorwand Adams hineingelesen, der die Übertretung zu kaschieren sucht. Doch auch Gott schließt von ihrem 48
Hier nun treffen sich die Bedeutungsaspekte des Wortspiels ( עָרּום2,25, nackt) / (3,1; ‚klug’) in der Erkenntnis der Nacktheit; vgl. hierzu P. Kübel, Ein Wortspiel in Genesis 3 und sein Hintergrund: Die „kluge“ Schlange und die nackten Menschen. Überlegungen zur Vorgeschichte von Gen 2–3, BN 93 (1998) 11– 22; seine Folgerungen zur Überlieferungsgeschichte von Gen 2-3 sind freilich gewagt. – Der Wechsel von ( ָערֹום2,25) zu עֵּי ֹר ם (3,7.10f) zeigt die nunmehr negative Qualifikation (vgl. ָע רֹוםin Dtn 28,48; Ez 16,7.22; 39; 18,7.16; 23,29) der Nacktheit an (so Niehr, עָרֹום, 378). Hinsichtlich der nun negativen Sicht der Statuslosigkeit des Menschenpaares kann man hier durchaus von einem ‚Fall’ sprechen; vgl. ähnlich Lomen, Sünde, 140. 49 „Voll bitterer Ironie, es sind die Worte der Schlange, sie hatte recht gehabt, aber ach in welch anderem Sinne“ – so hat noch am treffendsten Jacob (Genesis, Berlin 1934, 107; Hvbg. im Orig.) die äußerliche Übereinstimmung mit der Ansage der Schlagen kommentiert; vgl. ähnlich Seebaß, Genesis, 121. 50 Hartenstein, Beobachtungen, 289.
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offenkundigen Schamgefühl zuerst darauf, dass beide vom Baum gegessen haben, und erst hiervon auf die Übertretung (3,11). Offenbar ist ihr „Schutzbedürfnis gegenüber dem Schöpfer ... stärker, als das Bewußtsein, Gottes Weisung mißachtet zu haben“.51 Die Scham ist hier also nicht Symptom oder Folge der Sünde, sondern geht unmittelbar mit der Erkenntnis von Gut und Böse einher. Scham und Schamangst können vielmehr, wie Westermann zu Recht hervorgehoben hat, durchaus vor unrechten Taten bewahren: Scham ist also nicht eine üble Folge der Sünde, sondern eine Mitgift der Erkenntnis von Gut und Böse.52 ‚Jenseits von Eden’ ist die Schamangst steter Begleiter des Menschen, der Orientierung gibt, aber auch die fortwährende Gefahr der Entehrung und des Gesichtsverlustes anzeigt. Unter der Last der üblen Nachrede und der Entehrung durch ihre Feinde hoffen Beter in den Psalmen, dass jene beschämt und in der Öffentlichkeit als verleumderisch gebrandmarkt werden, dass sie selbst hingegen ins Recht gesetzt und in ihrem Ansehen wiederhergestellt werden.53 Ps 31,2 verleiht gar der Hoffnung Ausdruck, sich bis in fernste Zeit nicht schämen zu müssen – eine Hoffnung also auf gleichsam paradiesische Verhältnisse. Und gerade angesichts der hohen Bedeutung der Statusehre im alten Israel formuliert Ps 119,46 eine wirkliche Spitzenaussage: Und ich will vor Königen reden von deinen Bestimmungen, und werde mich nicht schämen. 51
Seebaß, Genesis, 123; vgl. auch Jacob: „Es heißt nicht, dass die Menschen ihre Schuld fühlten, sondern nachher erklärt Adam, er habe sich versteckt“; Genesis, 109. 52 Westermann, BK.AT I/1, 342; vgl. auch Seebaß, Genesis, 122. Zwar müsste spätestens die Erkenntnis von Gut und Böse – aber erst in einem zweiten Schritt – das Menschenpaar dazu bringen, sich über das Ausmaß der Übertretung im vollen Umfang im Klaren zu werden – doch füllt man mit diesen Überlegungen bereits eine Leerstelle aus. 53 Ps 14,6; 22,6 25,2.3.20; 31,2.18; 37,19; 71,1; 127,5; vgl. zur Sache Dietrich, Ehre (s. Anm. 3).
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Vor dem König die Stimme zu erheben, war für den gänzlich abhängigen Untertan mehr als riskant.54 JHWHs Bestimmungen sind dem Beter aber offenbar das Wagnis des Status- und Gesichtsverlustes wert – wohl, weil er den Geber der Gebote als Patron und damit auch dessen Weisung als von noch größerem Gewicht einschätzt als die von Königen. Eine solche Überwindung der Schamangst um der göttlichen Weisung willen mag christliche Leser/innen an Röm 1,16 erinnern. Auch jenseits von Eden verbleibt also die Hoffnung, im rechten Augenblick von beklemmender Scham befreit zu sein.
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Zum Wagnis des Redens des Untergebenen vor dem König als oberstem Patron vgl. auch auch Seebaß, בוש, 576.
„Des Gerechten gedenkt man zum Segen“ (Prov 10,7). Motive der Erinnerungsarbeit in Israel vom sozialen bis zum kulturellen Gedächtnis
I Ambivalenz des Gedächtnisses: Gebrauch und Missbrauch des Gedenkens Die beträchtliche Konjunktur der Erinnerungsthematik in den Kulturwissenschaften1 liegt gewiss zu großem Anteil in der unhinterfragbaren Bedeutung und den besonderen Schwierigkeiten des Erinnerns der Shoa begründet – in einer Zeit, in der die Schwierigkeit der Begegnung mit Augenzeug/inn/en immer größer wird. Hinzu kommen Probleme vor allem der westlichen Kultur, ihre identitätsstiftenden Traditionen in lebendiger Erinnerung zu halten. Die Diskussion um das ‚kulturelle Gedächtnis‘ erhält aber nicht zuletzt wichtige Impulse aus der hohen Bedeutung des Gedenkens in der alttestamentlich-jüdischen Tradition selbst.2 Angesichts dessen ist es durchaus verwunderlich, dass Einsichten und Methoden der jüngeren kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung in der alttestamentlichen Diskussion bislang vergleichsweise spärlich aufgegriffen wurden.3 Denn immerhin lässt sich auch die 1
Vgl. für einen Überblick über die in den letzten zwei Jahrzehnten förmlich explodierende kulturwissenschaftliche Literatur zum Thema etwa A. Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, in: A. Nünning / V. Nünning (Hg.), Konzepte der Kulturwissenschaften, Stuttgart 2003, 156–185, 156f. 2 Vgl. hierzu etwa exemplarisch Y.H. Yerushalmi, Zachor, erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1988. 3 Neben den älteren Studien zur Semantik von זכרund H.-J. Fabry, "Gedenken" im Alten Testament, in: Freude am Gottes-
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biblische Überlieferungsbildung von den Anfängen bis zur Kanonbildung in weiten Teilen als Geschichte einer Erinnerungskultur verstehen.4 Die Aufnahme der kulturwissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden, die sich beim Schreiben von Geschichte der Erinnerungskulturen 5 bewährt haben, können gewiss zu einem vertieften Verständnis der biblischen Überlieferungsbildung beitragen. So könnten diejenigen alttestamentlichen Überlieferungen, die oft immer noch als frühe Form von Geschichtsschreibung oder als Geschichtswerke beschrieben6 und daher immer wieder implizit oder explizit an historiographischen Kriterien gemessen werden, als Bestandteil einer Erinnerungskultur in ihrer Eigenart viel präziser erfasst werden.7 Das gestiegene Interesse an der kulturellen Bedeutung lebendiger, identitätskonkreter Erinnerungskulturen, die in dienst. Aspekte ursprünglicher Liturgie (FS J.G. Plöger), hg. von J. Schreiner (Hg.), Stuttgart 1983, 177–187 vgl. in jüngerer Zeit G. Braulik, Das Deuteronomium und die Gedächtniskultur Israels. Redaktionsgeschichtliche Beobachtungen zur Verwendung von lmd, in: ders., Studien zum Buch Deuteronomium (SBAB 24), Stuttgart 1997, 119–146; R. Lux, Erinnerungskultur und Zensur im alten Israel, BThZ 15 (1998) 190–205; I. Fischer, Erinnern als Movens der Schriftwerdung und der Schriftauslegung. Woran und warum sich Israel nach dem Zeugnis der hebräischen Bibel erinnert und wieso dies für unsere heutige Erinnerung relevant ist, in: P. Petzel (Hg.), Erinnern. Erkundungen zu einer theologischen Basiskategorie, Darmstadt 2003, 11–26. 4 Vgl. hierzu auch vgl. Fischer, Erinnern, 19ff. 5 Vgl. hierzu U. Schneider, Geschichte der Erinnerungskulturen, in: Chr. Cornelissen (Hg.), Geschichtswissenschaften. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 22000, 259–270 sowie insbesondere das Forschungsprogramm des Gießener SFB 'Erinnerungskulturen', s. dazu v.a. A. Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart / Weimar 2005, v.a. 31–38. 6 S. zu dieser Problematik etwa M.A. Signer, Introduction, in: ders., (Hg.), Memory and history in Christianity and Judaism, Notre Dame /IN 2001, ixff; M. Brettler, Memory in Ancient Israel, in: Signer, Memory, 1–17, hier 1ff. 7 Etwa in den jüngeren Diskussionen um das Schreiben einer Geschichte Israels.
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ihrem Kontrast8 zur identitätsabstrakten9 Geschichtswissenschaft insgesamt eine merkliche Aufwertung erfahren haben, hat alte Fragen nach Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben10 neu gestellt und neue Diskussionen und Bestimmungen11 von Reichweite, Grenzen und Aufgaben der Geschichtsschreibung erbracht, die auch für Theorie und Praxis der historischen Forschung in den Bibelwissenschaften zuträglich sein werden. Auf der anderen Seite kann das genauere Hinsehen auf einschlägige alttestamentliche Texte auch zu einer gegenüber bisherigen kulturwissenschaftlichen Beiträgen präziseren Darstellung der Überlieferungs- und Kanonbildung führen. Die jüngeren Diskussionen und Forschungen zu Erinnerungskulturen haben über die Beiträge der ersten Generation hinaus Differenzierungen, Erweiterungen und Verschiebungen der Fragestellungen erbracht. So wurde vermehrt nach Medien, Rahmenbedingungen bzw. Herausforderungslage des Erinnerns, ferner nach der 8
Alle ‚klassischen’ Beiträge zum kollektiven Gedächtnis haben den Gegensatz zwischen ‚identitätskonkretem‘ Gedächtnis und ‚identitätsabstrakter‘ Geschichtsschreibung bearbeitet: s. M. Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1990 [ 11967; frz. Orig. 1950] 66ff); P. Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek 16), Berlin 1990, 2ff; Y.H. Yerushalmi, Zachor, 105f; J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Gedächtnis und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 40ff. 9 Zu den Begriffen s. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 42ff. 10 Bereits in Nietzsches Historismuskritik sind viele Fragen dieser neueren Diskussion formuliert; Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Werke Bd. 1, hg. v. K. Schlechta, München 1954, 208–285. 11 Unter den zahlreichen neueren Beiträgen zum Verhältnis von Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur sind besonders die Ausführungen von J. Rüsen, Geschichte im Kulturprozess, Köln/ Weimar/ Wien 2002, 124ff hervorzuheben. Rüsen stellt zu Recht die Erinnerungsfunktion auch der Geschichtswissenschaft heraus. vgl. hierzu auch W. Kansteiner, Postmoderner Historismus – Das kollektive Gedächtnis als neues Paradigma der Kulturwissenschaften, in: F. Jaeger / B. Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart / Weimar 2004, 119–139
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Pluralität von Gruppenerinnerungen und also nach Erinnerungskonkurrenzen innerhalb einer Kultur gefragt. Kaum in den Blick gekommen ist bislang aber eine reflektierte Ethik des Gedenkens. Die (implizite) Verwurzelung der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsdiskussion im Shoa-Gedenken bringt offenbar eine selbstverständliche Hochschätzung des Erinnerns und eine unbefragte Ächtung des Vergessens mit sich. So ist der Satz des Baal Shem Tov: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ – meist um die erste Zeile verkürzt12 und aus seinem kabbalistischen Kontext herausgelöst13 missverständlich zitiert – zu einem Leitwort der Erinnerungsdiskurse geworden. Der vom ShoaGedenken inspirierte Erinnerungsimperativ kann jedoch nicht beliebig und mit gleicher Berechtigung auf alle anderen geschichtlichen Ereignisse und Gruppenerinnerungen übertragen werden – die jeweilige kulturelle Relevanz konkurrierender Gruppenerinnerungen muss vielmehr jeweils in der politischen Kultur einer Gesellschaft und mit der Hilfe der Geschichtswissenschaften bestimmt und errungen werden. Dass P. Ricœur in seinem letzten großen Werk14 die Handlungsdimension des Gedenkens in den Blick gerückt hat, führt in dieser Problematik gewiss weiter. Ricœur zeigt sich geleitet von einer Beunruhigung „über das Schauspiel, das von einem Zuviel an Gedächtnis hier und einem Zuviel an Vergessen dort veranstaltet wird, ganz zu schweigen vom Einfluß der verschiedenen Formen des Gedenkens sowie des Mißbrauchs des Gedächtnisses – und des Vergessens.“15 12
„Vergessen verlängert das Exil.“ Es geht hier um die Erlösung der Schekhina aus ihrem Exil, um die Einung Gottes mithilfe von Israels Gebet. 14 P. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, 21ff. 15 Ricœur, Gedächtnis, 15. Die Frage, inwiefern Erinnerungsimperative ihre erhofften Wirkungen tatsächlich erzielen oder nicht vielmehr notwendiges authentisches und spontanes Erinnern verfehlen können, muss gerade um der handlungsorientierenden Kraft der authentischen Erinnerung willen gestellt werden, vgl. 13
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Denn auch das Gedächtnis zeigt sich als ambivalent, dem Missbrauch ausgesetzt. Es kann Umstände geben, unter denen Vergessen angebracht, gut oder heilsam sein kann.16 Nach einigen alttestamentlichen Texten gilt Vergessen sogar als ein wesentlicher Aspekt von Erlösung: Denn siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde. Und der Früheren wird man nicht mehr gedenken, und sie werden nicht mehr in den Sinn kommen. Jes 65,17
Bereits die dtjes. Botschaft verbindet scheinbar widersprüchlich den Aufruf zur Schöpfungserinnerung Gedenket des Anfänglichen seit entferntester Zeit: Ja, ich bin Gott. Und es gibt sonst keine Gottheit, und keiner ist mir gleich. Jes 46,9
mit dem Aufruf zum Vergessen des Früheren: Gedenkt nicht des Anfänglichen, und auf das Frühere achtet nicht! Jes 43,18
Die Erinnerung des Vergangenen könnte offenbar der rechten Aufmerksamkeit und dem Begreifen des aktuellen, neuen Handelns JHWHs im Wege stehen (vgl. Jes 43,19).17 Und so gehört zum Leben in einer neuen Heilszeit auch das Vergessenkönnen: Ricœur, Gedächtnis, 139ff. 16 So vermag gerade JHWHs Nicht-Gedenken den Sünde-UnheilZusammenhang außer Kraft zu setzen (vgl. Jes 43,25 Ps 25,7; Jer 31:34; Ez 33,16) und durch Sündentilgung eine Beziehung (neu) zu stiften. Vgl. zum Gedenken Gottes (Gen. subj.) den Beitrag von B. Janowski und E. Zenger in diesem Band. 17 Zum Verhältnis von altem und neuem Exodus in Jes 43,18f und seinem Kontext s. die ausführliche Diskussion bei K. Elliger, Deuterojesaja. Jesaja 45,8 – 49,13 (BK.AT XI/1), NeukirchenVluyn 1978, 350–355.
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Fürchte dich nicht, denn du wirst nicht zuschanden, und schäme dich nicht, denn du wirst nicht beschämt werden. Sondern die Schande deiner Jugend wirst du vergessen und an die Schmach deiner Witwenschaft nicht mehr denken. Jes 54,4
Dass Israel die leidvolle Erfahrung der eigenen Geschichte hinter sich lassen kann, gilt hier als Zeichen der Befreiung von den Traumata der Vergangenheit. Angesichts der Ambivalenz des Gedächtnisses ist auch für die alttestamentlichen Überlieferungen die Frage zu stellen, woran sich hier ein rechter Gebrauch des Gedenkens bemisst, welche Absichten und Motivationen die Erinnerungsarbeit im alten Israel leiten. Die Motive des Gedenkens sind aber auch in anderer Hinsicht von Interesse. Die meisten Beiträge der deutschsprachigen kulturwissenschaftlichen Erinnerungsdiskussion beschreiben die zu einem kollektivem Gedächtnis gehörigen Prozesse dezidiert aus einer Außenperspektive, in der als Triebkraft für dessen Etablierung lediglich die identitätsstabilisierende Funktion von Vergangenheitskonstruktionen in den Blick kommt. Kulturelle Erinnerungsarbeit lässt sich aber nicht allein als Mechanismus akteurs- und subjektblinder Strukturen bzw. Prozesse verstehen. Dagegen wird in der neueren Sozialgeschichte „in Anlehnung an die verstehende Soziologie und mikrosoziologische Handlungstheorien oder mit Hilfe des Habitus-Begriffs von Pierre Bourdieu nun von einer doppelten, durch das Handeln (und das Sprechen) der historischen Akteure vermittelten, dialektischen Konstituierung der historischen Wirklichkeit ausgegangen. Diese läßt sich zum einen als soziale, wirtschaftliche oder politische Struktur einer Gesellschaft beschreiben, zum anderen wird sie aus der Perspektive der Akteure erfaßt, welche die Strukturen durch ihr Handeln und ihre Deutungen erst hervorbringen, sie verfestigen. Damit werden Erfahrungen, Deutungen, Weltbilder oder Ideen von Individuen und Gruppen zu legitimen Forschungsgegenständen der Sozialgeschichte,
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die in ihrer Wechselwirkung zu sozialen und ökonomischen Strukturen und Prozessen untersucht werden können.“18 Neben den für Gruppen, Organisationen und Gesellschaften charakteristischen Dynamiken, die deren Stabilisierung und Selbsterhaltung dienen, und neben den allgemeinmenschlichen Motiven (Subsistenzerhalt, Machtgewinn, Machterhalt etc.) sind also auch die Mentalitäten, die Selbst- und Weltverständnisse und eben die Motive der Akteure der beteiligten Trägerkreise als treibende Kräfte kultur- (und religions-)geschichtlicher Prozesse zu berücksichtigen. Auf diese Weise können auch die Probleme der frühen Beiträge der Erinnerungsdiskussion überwunden werden in der Frage, wie denn kollektives und personales Gedächtnis korreliert sind und wo die Grenzen der Gedächtnismetapher bei der Beschreibung überindividueller Prozesse („kollektives, kulturelles etc. Gedächtnis“)19 liegen. Es ist wiederum Ricœur, der sich ausdrücklich der Frage widmet, wem sinnvoller Weise Gedächtnis zuzuschreiben ist: „Gibt es zwischen den beiden Polen des individuellen und des kollektiven Gedächtnisses nicht eine mittlere Bezugsebene, auf 18
Th. Kroll, Sozialgeschichte, in: Chr. Cornelißen, Geschichtswissenschaften. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 22000, 149–161; 159. M.a.W.: Auch ‚wertrationales Handeln’ im Weberschen Sinne ist zu berücksichtigen; M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922, 12. 19 Vgl. zum Problem v.a. Erll, Erinnerungskulturen, 95ff. Insbesondere J. Assmann ist bisweilen der Versuchung erlegen, Phänomene des individuellen Gedächtnisses unüberlegt auf kulturelle Vorgänge zu übertragen, vgl. etwa die Rede von ‚kultureller Verdrängung‘ bei J. Assmann, Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2004, 83–96; vgl. ders., Das kulturelle Gedächtnis, 24: „es ist ein Gedächtnis, weil es in Bezug auf gesellschaftliche Kommunikation genauso funktioniert [sic] wie das individuelle Gedächtnis“. Vgl. dagegen die grundsätzliche Kritik M. Erdheims an solcherlei Versuchen: Das Unbewusste, in: F. Jaeger / B. Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart / Weimar 2004, 92–108, 92ff.
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der die konkreten Austausche stattfinden zwischen dem lebendigen Gedächtnis individueller Personen und dem öffentlichen Gedächtnis der Gemeinschaften, denen wir angehören? Diese Ebene ist die der Beziehung zu den uns Nahestehenden, der wir zu Recht ein Gedächtnis eigener Art zuschreiben dürfen. Die uns Nahestehenden, jene Menschen, die für uns zählen und für die wir zählen, befinden sich auf einer Skala variierender Distanzen innerhalb der Beziehung zwischen dem Selbst und den anderen.“
Dieser zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis vermittelnden Form des Gedächtnisses des Selbst und der Nahestehenden, in der die konkreten Austausche des lebendigen Gedächtnisses stattfinden, entspricht dem, was in der jüngeren deutschsprachigen Erinnerungsdiskussion als kommunikatives und soziales Gedächtnis20 bezeichnet und vom kulturellen Gedächtnis unterschieden wird. Und es erscheint in der Tat ratsam, sich bei den nun folgenden Erkundungen nach Motiven der Erinnerungsarbeit im alten Israel an erster Stelle der Frage zuzuwenden, welches Gewicht die Menschen des alten Israel dem Gedenken der Nahestehenden und der näheren sozialen Gruppe beimaßen, um sich auf dieser Basis dann den Motiven für die Etablierung eines kulturellen Gedächtnisses zuzuwenden. II
Bindungen des sozialen Gedächtnisses
Sich an jemanden zu erinnern, des anderen zu gedenken, kommt im Alten Testament vielfach als elementare Voraussetzung zwischenmenschlicher Beziehungen und sozialer Netze in den Blick. Denn da זכ ִר, wie die lexikographischen Studien der letzten Jahrzehnte einhellig 20
Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 48ff; ders., Der zweidimensionale Mensch. Das Fest als Medium des kollektiven Gedächtnisses, in: ders. (Hg.), Das Fest und das Heilige. Religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt (Studien zum Verstehen fremder Religionen 1), Gütersloh 1991, 13–30, 20ff; H. Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002; vgl. auch die Beiträge in ders. (Hg.), Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001.
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herausgestellt haben, sich nicht wie dt. ‚gedenken‘ oder ‚sich erinnern‘ allein auf Vergangenes bezieht, sondern die „gedanklich engagierte Befassung mit einer Person, bzw. einem Sachverhalt“21 meint, ist Gedenken im Alten Testament nicht nur ein intellektueller Vorgang, sondern zugleich personale Zuwendung. Das Gedenken in diesem relationalen Sinne ist gerade für besonders auf andere Angewiesene – Kinder,22 Kranke, sozial Schwache23 – im wörtlichen Sinne lebensnotwendig. Soziales Gedächtnis im Sinne des Aneinander-Denkens stiftet Beziehungen24 und befestigt das Leben der Gemeinschaft. Die durchs Vergessen besiegelte soziale Isolation und Entfremdung des einzelnen von den Nächsten hingegen kommt sozialem Tod gleich: Meine Verwandten bleiben aus, und meine Bekannten haben mich vergessen.25 Hi 19,14 In Vergessenheit bin ich geraten wie ein Toter aus dem Herzen26 fort, bin geworden wie ein zerbrechendes Gefäß. Ps 31,13 21
Eising, זכר, 573. Vgl. Jes 49,15 u.a. 23 In Ps 109, in dem זכרgeradezu als Leitwort dient, ist die Verfehlung gegen die Gedächtnisverpflichtung gegenüber dem Armen (V.16) einer der Gründe für den Wunsch des Beters dieses ‚Rachepsalms’, dass JHWH durch sein Gedenken der Sünde des Feindes den Sünde-Unheil-Zusammenhang in Kraft setzen möge, auf dass dessen Gedächtnis ausgerottet werde (V.13–15). 24 Darauf deutet auch hin, dass שכחvergessen oft parallel zu עזב verlassen steht, vgl. Jes 49,14; Jes 65,11; Thr 5,20; Prov 2,17; häufig geht es um "ein zwischenmenschliches Nicht–mehr–Kennen und Nicht-mehr-Kennen-Wollen, ein Distanzieren"; H.-D. Preuß, שָ כַח, ThWAT VII (1993), 1318–1323, hier 1320; vgl. auch Ps 45,11. 25 S. zu Hi 19,13–17 schildern auf eindringliche Weise die Entfremdung von der Großfamilie bis hin zum Knecht; hierzu und zu ähnlichen Schilderungen im Alten Orient s. H. Strauß, Hiob. Bd. 2: 19,1–42,17 (BK XVI/2), Neukirchen-Vluyn 2000, 11–13; s. zum Abschnitt auch B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 22006 (1 2003), 175. 26 D.h. aus dem Denken. 22
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Von den Nahestehenden und vom eigenen sozialen Umfeld vergessen zu werden, bedeutet, mitten im Leben zum Toten zu werden. Und so ist das Verlöschen jeder Erinnerung an jemanden27 als sozialer Dimension des Todes dessen gefürchteter Stachel (vgl. Hi 24,20), und der Versuch zu dessen Überwindung ist ein wesentlicher Impuls für das Totengedenken. Aus diesem Grund stellt Etablierung sozialer Netze des Gedenkens, die über den physischen Tod hinaus Bestand haben sollen, für das alte Israel einen so hohen Wert dar. Der Tod und dann das Vergessen der Nahestehenden als eine Art zweiter Tod haben aber nach israelitischem Denken noch eine andere quälende Dimension, und das hat mit einem weiteren Aspekt des sozialen Gedächtnisses zu tun: Dass es zum Zustandekommen von konnektiver Gerechtigkeit im Rahmen des Tun-Ergehens-Zusammenhang beiträgt. Nach J. Assmann ist es nach Denken der ägyptischen und nach B. Janowski auch der israelitischen Weisheit das soziale Gedächtnis, durch das auf den Täter des Guten schließlich Gutes, auf den Übeltäter Schlechtes zurückkommen wird.28 Eine Crux29 dieser Annahme ist sicher, dass sich zu ägyptischen Weisheitssprüchen, die diesen Zusammenhang ganz ausdrücklich zur Sprache bringen, in der altisraelitischen Weisheit kein vergleichbar klares Pendant findet. Immerhin formuliert aber Prov 27
Dass die Vernichtung eines Volks oder einer Gruppe erst dann als vollständig gilt, wenn ihres Namens nicht mehr gedacht wird, zeigen Jes 23,15f; Ez 25,10; Ps 9,7; 34, 17; 83,5; 109,15. 28 Einschlägig J. Assmann, Vergeltung und Erinnerung, in: Studien zu Sprache und Religion Ägyptens, FS W. Westendorf, Bd. 2, Göttingen 1984, 687–701; B. Janowski, Die Tat kehrt zum Täter zurück. Offene Fragen im Umkreis des "Tun-ErgehensZusammenhangs" [1994], in: ders., Die rettende Gerechtigkeit, Neukirchen-Vluyn 1999, 167–191, hier 168ff. 29 Für eine Darstellung der Positionen und verbleibender Probleme s. A. Grund, „ ... so sollst du geben Auge für Auge, Zahn für Zahn.“ Vergeltung als Strafprinzip des Alten Testaments?, in: K. Berner / H. Sünker u.a. (Hg.), Vergeltung ohne Ende? Strafe im 21. Jahrhundert, 2008.
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10,6f die Erfahrung und die Erwartung, dass das Gedächtnis der Mitwelt am Zusammenhang von Tun und Ergehen maßgeblich beteiligt ist: 6 Segnungen gelangen zum Haupt des Gerechten, aber der Mund der Frevler bedeckt Gewalttat. 7 Das Gedenken an den Gerechten dient zur Segnung, doch der Name der Frevler verfault.
„Ebenso wie die Auswirkungen der Haltung eines Menschen kommen auch ihre Rückwirkungen auf ihn selbst in Prozessen sozialer Kommunikation zustande: Der Gerechte wird gesegnet, und seiner wird gedacht (V.7a)“.30 Anstoß dafür, dass das soziale Gedächtnis zur Segnung des Gerechten führt, gibt nicht eine einzelne Tat,31 aber auch nicht bloß seine Haltung; vielmehr ist es der gesamte Lebenswandel, der einen in der Gemeinschaft als צַ דיקanerkannt sein lässt.32 Voraussetzung für diese konnektive Gerechtigkeit ist, dass die gemeinschaftsförderliche Tat im sozialen Gedächtnis behalten und früher oder später segensreich zu ihm zurückkehrt. Solches ist allerdings ohne eine verbreitete Bereitschaft zur Anerkennung der guten Tat und ohne moralische Sensibilität im sozialen Umfeld nicht denkbar. Daher sind es gerade Entsolidarisierung und soziales Vergessen, die das Vertrauen in das gute Ergehen des צַ דיקin Zweifel ziehen. Und so wird bei Qoh nicht nur schmerzlich beklagt, dass der Tod zwischen Weisem und Unweisem keinen Unterschied macht,
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Th. Krüger, Komposition und Diskussion in Proverbia 10, ZThK 92 (1995) 413–433, hier 423f. 31 So richtig Krüger, Komposition, 423f mit Anm. 50.432. 32 So wäre also nicht von einem Tat- sondern von einem ‚WandelErgehens-Zusammenhang‘ zu sprechen. – Plöger deutet V.7 sogar im Sinne eines dauerhaften Gedächtnisses: „Die Segnungen, die auf sein Haupt kommen, sorgen dafür daß seiner auch noch nach seinem Tode segnend gedacht wird, während der Name der Frevler vermodert“; O. Plöger, Sprüche Salomos (Proverbia) = Proverbia (BK.AT XVII), Neukirchen-Vluyn 1984, 124. In Ps 112,6b ist ein solcher Gedanke freilich deutlicher formuliert.
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sondern dass beiden darüber hinaus durch soziales Vergessen das gleiche Schicksal widerfährt: Denn es gibt keine Erinnerung an den Weisen ebenso wenig wie an den Toren in fernste Zeit, weil in den künftigen Tagen schon alles vergessen sein wird. Wie stirbt der Weise gleich dem Toren! Qoh 2,1633
Die Gleichmacherei des Todes gegenüber denen, die Gutes erwiesen haben, wird erst durch das Vergessen der Mitwelt unwiderruflich in Kraft gesetzt. Man behauptet nicht zu viel, wenn man sagt, dass die Erinnerung an die gerechte Tat als moralisch verpflichtend und das unsolidarische Vergessen der gerechten Tat im alten Israel durchweg als Skandal empfunden wurde. Geradezu als Beispielerzählung hierzu liest sich die Passage der Josefsnovelle, in der Josef den Bäcker als Gefälligkeit für die zutreffende Traumdeutung bittet, sich an ihn zu erinnern (Gen 40,14 )זכרund bei Pharao Fürsprache zu halten, von jenem aber zwei Jahre lang im Gefängnis vergessen wird (Gen 40,23 זכר/ )שכ ִח. Dann erst erinnert sich jener durch äußeren Anstoß an Josef – und damit zugleich an seine Sünde, nämlich der Gedächtnisverpflichtung nicht nachgekommen zu sein (Gen 41,9 זכרhi.).
Des erwiesenen Guten nicht tätig zu gedenken, es nicht im eigenen Handeln leitend sein zu lassen,34 sondern es gar mit Bösem zu beantworten, kann geradezu als Gräueltat 33
Dies ist ein direkter Widerspruch gegen das in Epigrammen verbreitete Motiv des Weiterlebens von Ruhm und Name (vgl. L. Schwienhorst-Schönberger, Kohelet (HThK), Freiburg u.a. 2004 221.225f), aber noch viel mehr gegen die überkommene Position der Weisheit, wonach das Andenken ( ) זֵּכֶרdes Frevlers von der Erde verschwindet (Hi 18,17), vgl. auch Ps 112,6; Prov 10,6f u.a. – Auch Qoh 8,10 nimmt das Missverhältnis zwischen ehrenvollem Begräbnis der Ungerechten und Vergessen der Gerechten wahr; vgl. auch Qoh 1,11; 9,5. 34 Das hat mehrfach Schottroff unterstrichen: „Erinnerung geschieht um der Erkenntnis der Gegenwart willen, meist aber im Blick auf ein bestimmtes Handeln, das sich Maß und Motiv aus der Erinnerung holt“; Schottroff, Gedenken, 117.
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gelten.35 Die gute oder böse Tat aus dem Gedächtnis zu streichen, wäre also aus moralischen Gründen prekär.36 Jemandes guten Taten gegenüber zu gutem Erweisen verpflichtet zu sein, zeigt sich als eine wichtige Triebkraft des sozialen Gedächtnisses. Wir sahen also, dass das soziale Gedächtnis lebensnotwendige Bindungen in mehrfachem Sinne stiftet: Bindungen im Sinne grundlegender sozialer Netze, Bindungen im Sinne der konnektiven Gerechtigkeit, durch die ein Zusammenhang von Tun und Ergehen hergestellt wird, und schließlich Bindungen im Sinne sozialer Verpflichtungen. Welche Bindungen stiftet ein kulturelles Gedächtnis, und was bewegte das alte Israel zu dessen Etablierung? III Das Gedenken an JHWH und seine Taten. Motive des kulturellen Gedächtnisses in den Psalmen Auch da, wo es um die Erinnerung an JHWH und seine Taten, also um Formen des kulturellen, nicht des sozialen bzw. kommunikativen Gedächtnisses geht,37 sind die 35
So etwa, wenn Joasch den Sohn dessen, der ihm eine in der Vergangenheit Solidarität ( ) ֶח סֶ דerwiesen hatte, Jojada, ermordet (2 Chr 24,22). Vor seinem Tod stellt das Opfer die Vergeltung hierfür JHWH anheim; der folgende Aramäerkrieg wird dann auch als Strafe JHWHs an Joasch dargestellt (V.23f). 36 An dieser Stelle setzt auch das Interesse daran ein, ‚wie es eigentlich gewesen ist‘, vgl. etwa 2 Chr 24,22; Jer 20,1; Am 8,7 u.a. 37 Ohnehin sind „‚[k]ulturelles‘ und ‚kommunikatives‘ Gedächtnis nur analytisch zu trennen“; H. Welzer, Gedächtnis und Erinnerung, in: F. Jaeger / J. Straub (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart / Weimar 2004, 155–174, hier 169. Und so ist auch nach der Ausbildung eines kulturellen Gedächtnisses mit einem Wechselspiel von kulturellem und kommunikativem Gedächtnis zu rechnen, "denn zum kommunikativen Gedächtnis gehört auch die eigensinnige Verständigung der Gruppenmitglieder darüber was sie für ihre Vergangenheit im Wechselspiel mit der Großerzählung der WirGruppe halten und welche Bedeutung sie dieser beilegen"; Welzer, Gedächtnis und Erinnerung, 169. Kanonsetzungen ‚von oben‘ müssen also auf der Ebene des kommunikativen Gedächtnisses mit
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Motive des Erinnerns in vieler Hinsicht ähnlich. Paradigmatisch ist hier gewiss Ps 103,2b: ... und vergiss nicht alle seine Wohltaten.
Die Selbstaufforderung, JHWHs Erweisungen nicht aus dem Bewusstsein zu verlieren, gründet sich auch hier offenbar in einem Verpflichtungsgefühl gegenüber dem, der Gutes erwiesen hat. In keinem Literaturbereich des Alten Testaments findet sich die Wurzel זכרso häufig wie in den Psalmen, vor allem in den Klageliedern des Einzelnen.38 Und hier ist es meist eine Situation der Krise, die Anlass zur Erinnerungsarbeit gibt. Wenn einzelne sich in schwieriger Situation an Gott und seine Taten oder an den früher erlebten Gottesdienst erinnern, so bedeutet ihnen dies Trost und Ermutigung in der Not.39 In Ps 63,6f wird der fast verschmachtende Beter durch das Denken an JHWH in nächtlicher Stille40 gesättigt. Und Ps 77 bietet den Rezipient/inn/en die Rolle eines für das ganze Volk sprechenden einzelnen an, der in der Gottverlassenheit im kollektiven Gedächtnis Israels neue Hoffnung zu finden sucht. Am Geländer des psalmgliedernden Schlüsselwortsִ זכרi41 (V.4.7.12) durchschreitet dieser Psalm einenִ Weg vom schmerzlichen Denken an JHWH hin zu einer Hoffnung spendenden Erinnerung an seine früheren Taten:
Widerstand rechnen und bzw. sind dort auf Aneignungsprozesse angewiesen. 38 Auffälliger Weise weit häufiger als etwa im Festzusammenhang, vgl. hierzu bereits Childs, Memory, 60f.89. 39 Vgl. Ps 143,5; 119,55 sowie Neh 4,8 und dazu Schottroff, Gedenken, 130ff. Das Denken an JHWH ( )זכרüberwindet dabei nicht nur die Zeit, sondern auch den Raum, vgl. Ps 42,7; Jona 2,8. 40 Vgl. Ps 119,55. 41 S. hierzu die Strukturanalyse von B. Weber, Psalm 77 und sein Umfeld. Eine poetologische Studie (BBB 103), Weinheim 1995, 183, vgl. 39f; vgl. auch ders., Werkbuch Psalmen II. Die Psalmen 73–150, Stuttgart 2003, 40ff.
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Ich will an Gott denken (ִ זכרq.), seufzen, ich will nachsinnen, und so verschmachtet mein Geist. – Selah 7 Ich gedenke (ִ זכרq.), ich überlege des Nachts; mit meinem Herzen sinne ich nach,ִִ und es forschte mein Geist. 12 Ich will die großen Taten Jahs nennen (ִ זכרhi.)42 ja, ich will gedenken (ִזכרq.) an dein Wunderwirken von früherer Zeit an.
Das Gedenken an JHWH verschärft zunächst noch die Not des betenden Ich (V.4),43 das im nächtlichen Grübeln (vgl. V.7) sogar das Ende von JHWHs Gnade erwägt (vgl. V.810), sich aber schließlich in V.11-13 den Inhalten des kollektiven Gedächtnisses Israels (V.14-21) zuwendet.44 Der hier eingeschlagene Weg der Erinnerungsarbeit wird im Psalterkontext in Ps 78 weiter abgeschritten.45 In Israels Sicht gilt aber als eigentlicher Gründer der Gedächtniskultur JHWH selbst:46 JHWHs Gedenken an Israel setzt den Anfang der Erinnerungsarbeit des Volkes.47 Diesem relationalen Verständnis entsprechend sieht Israel sein eigenes Erinnern „offensichtlich als ‚Beziehungsarbeit‘, die das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk lebendig erhält.“48 Der institutionelle Ort dieser Bezie-
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Hier ist doch wohl eher Ketib beizubehalten, so dass sich "das Phänomen der variierten Themata bei gleicher Wurzel" (Weber, Psalm 77, 112) ergibt. 43 Vgl. Weber, Psalm 77, 58ff. 44 Zur inneren Dynamik des Psalms s. auch R. Mosis, Reden und Schweigen. Psalm 77 und das Geschäft der Theologie, TThZ 108 (1999) 85–107, hier 92ff. 45 Vgl. v.a. Ps 78,3-8.35.42; 79,13; zur Geschichtserinnerung in Ps 78 und seinen Bezügen zum unmittelbaren und weiteren Kontext im Psalter M. Millard, Die Mitte des Psalters. Ein möglicher Ansatz einer Theologie der Hebräischen Bibel, in: E. Ballhorn / G. Steins (Hg.), Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Beispielexegesen und Methodenreflexionen, Stuttgart 2007. 46 Vgl. Ps 111,4: Er hat ein Gedächtnis seiner Wunder gestiftet, gnädig und barmherzig ist JHWH. 47 Vgl. Ps 25,6; 98,3; 2 Chr 6,42: JHWH gedenkt ‚seiner Treue‘; vgl. hierzu auch Fabry, Gedenken, 186f. 48 Fischer, Erinnern, 18.
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hungsarbeit ist zunächst einmal der Gottesdienst.49 Dem Gedenken an JHWH und seine Taten dient neben einer ganzen Reihe gottesdienstlicher Handlungen und Elemente50, die wiederum auf JHWHs Gedenken (Gen. subj.)51 hin wirken sollen,52 der gottesdienstliche Lobpreis JHWHs.53 Dass ein solches Zusammenwirken von ritueller (regelmäßige Wiederholung von [kultischen] Begehungen) und textueller Kohärenz (Vergegenwärtigung von Vergangenem durch Rezitation u.ä.) für die Etablierung eines kulturellen Gedächtnisses notwendig ist, hat bereits Assmann54 hervorgehoben.55 Ein entscheidender Schritt in der Intensivierung von Israels Erinnerungsarbeit war gewiss die bislang meist als Historisierung agrarischer Feste bezeichnete Indienstnahme der bäuerlichen Feste für die Vergegenwärtigung der fundierenden Vergangenheit, v.a. des Exodus, die begleitet wird von der genauso grundlegenden Speicherung der Überlieferung im Medium der Schrift. Verschriftlichung und Intensivierung 49
זכרist zwar kein ursprünglich ‚kultischer‘ Begriff (vgl. bereits Childs, Memory, 74–89 u. passim; Schottroff, Gedenken, 136 u.a.; anders H. Gross, Zur Wurzel zkr, BZ.NF 4 (1960) 227–237, hier 233), ist gleichwohl in gottesdienstlichen Zusammenhängen verbreitet, s. im Folgenden. 50 Das Trompetenblasen (Lev 23,24; vgl. Num 10,10), die Gedenksteine auf dem hohepriesterlichen Brustschild (Ex 28,12.29; 39,7), Goldschmuck (Num 31,54). 51 So kann ִזֵּכָרֹוןein Zeichen sein, das „sowohl Menschen als auch Gott“ erinnern kann, Eising, זכר, 587. 52 S. hierzu Fabry, Gedenken, 187. 53 Vgl. Ps 30,5; 97,12; vgl. zum Zusammenhang von ‚Name‘ und ‚Gedenken‘ Ps 135,13; Ex 3,15. 54 Assmann, Der zweidimensionale Mensch, 13–30, 22ff; ders., Das kulturelle Gedächtnis, 87ff. 55 S. zur Sache nun auch E. Herms, Die Heilige Schrift als ‚kanon tes paradoseos‘ und dessen hermeneutische Funktion, in: B. Janowski (Hg.), Kanonhermeneutik (Theologie interdisziplinär 1), Neukirchen-Vluyn 2007 (im Druck). Herms erbringt neben den systematischen Studien zum Maßstab des Überlieferns im Blick auf den christlichen Kanon eine sehr differenzierte Beschreibung des Wechselverhältnisses von fixierter Sprachform des Überlieferten und (kultischer) Vollzugsform von dessen Weitergabe.
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der Erinnerungsanstrengung, an denen die dtn.-dtr. Bewegung maßgeblich beteiligt war,56 sind dabei gewiss Antworten auf die Herausforderung der Krisenerfahrungen von 722 v.Chr. und 586 v.Chr.57 Dass der Kanonisierungsprozess als ganzer ein Krisenphänomen gewesen sei, erweist sich allerdings als wenig erklärungskräftig. Für die Schließung der einzelnen Kanonteile und des gesamten TaNaKh in den verschiedenen Epochen sind sehr unterschiedliche Umstände in Anschlag zu bringen. So geschieht die Kanonstabilisierung und die Kanonschließung des Pentateuchs unter der Achämenidenherrschaft eher in einer Konsolidierungssituation. Und für die Schließung des Kanonteils der Propheten mögen Faktoren wie Abgrenzungsbedürfnisse gegenüber einer anwachsenden Offenbarungsliteratur in spätpersischer und hellenistischer Zeit eine Rolle gespielt haben.
Die Gefährdetheit der Überlieferung zwischen der Generation, die entscheidende heilsgeschichtliche Ereignisse selbst noch miterlebt hat, und der nachfolgenden, und damit die Notwendigkeit der Etablierung eines generationenübergreifenden kulturellen Gedächtnisses,58 wird an 56
Ihre Intensivierung der Erinnerungsarbeit durch Indienstnahme der Feste und weitere Mittel der Internalisierung der Überlieferung wie Lernen in der Familie (‚Katechese‘), Gebrauch von Gedächtnismedien (Tefillin etc., vgl. Dtn 6,9f) ist ganz entscheidend, sie ist allerdings auch vergleichsweise gut erforscht, vgl. hierzu G. Braulik, Deuteronomium, 119ff. 57 Dass Israel JHWH und seinen Bund praktisch vergessen habe, wird von da an immer wieder als schuldhaftes Verleugnen angesehen (vgl. hierzu Preuß, שָ כַח, 1320), so in der Anklage prophetischer wie dtn.-dtr. und ihnen nahestehender Texte: Jes 17,10 Jer 2,32; 3,21; 13,25; 18,15; Ez 16,22.43; Dtn 4,9.23; 6,12; 8,11.14.19; 26,1; Ri 3,7; 1 Sam 12,9; 2 Kön 17,38 Ps 50,22. 78,11; 106,7.13.21; Neh 9,17. Dem entspricht die Affirmation des Gedenkens / NichtVergessens JHWHs und seiner Gebote, die man dann vielfach v.a. in Ps 119 findet (V.16.52.55. 61.83.93. 109.141.153). 58 Das kulturelle Gedächtnis beginnt sich zu etablieren, „wenn kein Erzähler mehr existiert, der das in Rede stehende historische Geschehen noch miterlebt hat. An diesem Punkt wird die Vergangenheit in kommemorative Formen gegossen, die deutlich mehr mit Geschichts-, Vergangenheits- und Erinnerungspolitik zu tun haben, mit politisch und moralisch definierten Formen der Ange-
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einigen Stellen explizit thematisiert.59 In Ps 71,17f überblickt ein Beter seine bisherigen Erfahrungen mit JHWH und formuliert seine Bereitschaft zu ihrer Weitergabe an die nächste Generation.60 Und in Ps 102 kommen Impulse für die Verschriftlichung von Überlieferung für die nächste Generation ganz explizit zur Sprache. Ps 102 soll hier daher genauer betrachtet werden. Ps 102 erweckt den Eindruck, ein durch Überarbeitung in eine kollektive Perspektive gerücktes Klagelied des Einzelnen zu sein.61 Die Frage, die sich mit den Übergängen von V.2-12 zu V.13-23 und wieder zu V.24 stellt, ist dabei nicht nur, wie individuelle und kollektive Perspektive vereinbar wären – hierfür gibt es fraglos zahlreiche Parallelen –,62 sondern konkret, was die Wiederherstellung Zions mit der Not des Beters, seiner Ich-, (V.4-8.10.12), Feind(V.9) und Gottklage (V.11.24-25a)63 zu tun haben kann. messenheit, als das kommunikative Gedächtnis.“; Welzer, Gedächtnis und Erinnerung, 171. 59 Vgl. hierzu Ri 2,6-13. 60 Vor allem Ps 145,4-7 blickt hinaus auf die Weitergabe des Gedächtnisses von JHWHs Wundertaten durch das betende Ich und die kommende Generation. 61 Meist werden in V.212.24.25a und V.13-23.25b-29 verschiedenen Schichten zugeordnet (‚klassisch‘ B. Duhm, Die Psalmen (KHC XIV), Tübingen 11899, 239; vgl. in jüngerer Zeit etwa G. Brunert, Psalm 102 im Kontext des vierten Psalmenbuches (SBS 30), Stuttgart 1996, 297f; eine Überarbeitung nach Art derjenigen von Ps 22 und 69 u.a. nimmt jüngst M. Marttila, Collective Reinterpretation in the Psalms. A Study of the Redaction History of the Psalter (FAT 2/ 13), Tübingen 2006, 126ff an. Für Einheitlichkeit des Psalms plädiert nach O.H. Steck, Zu Eigenart und Herkunft von Ps 102, ZAW 102 (1990) 357–372; 364f und Chr. Brüning, Mitten im Leben vom Tod umfangen. Ps 102 als Vergänglichkeitsklage und Vertrauenslied (BBB 84), Frankfurt am Main 1992, 293–296 nun auch C. Körting, Zion in den Psalmen (FAT 48), Tübingen 2006, K. Koenen, Jahwe wird kommen, zu herrschen über die Erde. Ps 90 – 110 als Komposition. (BBB 101), Weinheim 1995, 82 lässt es offen. Zu weiteren, auch früheren Positionen s. Brüning, Mitten im Leben, 293 mit Anm. 1 und 2. 62 Vgl. die von H. Gunkel, Die Psalmen (HK II/2), Göttingen 6 1986, 437 aufgeführten Parallelstellen. 63 So auch C. Westermann, Das Loben Gottes in den Psalmen,
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Nach V.18 ist die Wiederherstellung Zions auch für die individuelle Not die ersehnte Wende und eine Erhörung des Flehens des Verlassenen.64 Gleichwohl wirkt sich die Gewissheit dieser überindividuellen Wende in V.24-25a ganz und gar nicht auf die Lage des betenden Ichs aus.65 Dies lässt sich dann doch am leichtesten durch eine geschickte, Stichworte des vorliegenden Textes aufnehmende66 umfassende Bearbeitung67 einer Vorlage (allerdings nicht als schlichte Zusammensetzung von Mosaiksteinen68) erklären, die deshalb im Einzelnen kaum mehr rekonstruiert werden kann. Der für die Gedächtnisthematik interessante Abschnitt V.13-23 allerdings stammt offenbar von einer Hand.69 Er folgt unmittelbar auf die individuelle Klage V.2-12: 13 Du aber, JHWH, bis in fernste Zeit thronst du, und dein Gedächtnis70 währt von Generation zu Generation.
5
1977, 49.139. Durch Aufnahme von ְת פ לָהin V.(1.)2 und V.18. 65 Dass der zeitliche Rahmen der in V.13–23 beschriebenen Hoffnung für den Einzelnen in seiner Not zu weit gesteckt sei (Körting, Zion, 43), liefert keine Erklärung dafür, dass V.24 in der Gottklage verharrt, wo doch die Wende der Not bereits eingesetzt, und JHWH sich damit als erhörender Gott (V.17f.20ff) bereits gezeigt hat. 66 Etwa תְ פלָהin V.(1.)2 und V.18; andere Stichworte sind jedoch auf die mutmaßlich verschiedenen Schichten verteilt: יֹוםPs 102,3.4.9.12.24.25a; עֵּׂשֶ בִּי ַבשV.5.12; ִאכלִ ֶל ֶח םV.5.10. 67 So auch F. Sedlmeier, Psalm 102,13-23: Aufbau und Funktion, BZ 40 (1996) 219–235, hier 221f. 68 Dass auch V.24 nicht an V.11f anschließt, spricht u.a. gegen eine schlichte Zusammensetzung von Fragmenten, wie etwa Duhm, KHC XIV, 239 sie annahm. 69 Vgl. allerdings R. Brandscheidt, Psalm 102. Literarische Gestalt und theologische Aussage, TThZ 96 (1987) 51–75, die V.15 für einen kompositionellen (inkludierenden) Zusatz hält; Gestalt, 56f. Eine rahmende Funktion von V.15 ist allerdings nicht zu erkennen. 70 Einige Handschriften bezeugen, entsprechend Thr 5,19, כ ֱסאֲָך statt כרָך ְ וְ זund vereinfachen das Verständnis, das Stichwort זֵּכֶרist hier allerdings mit Bedacht gewählt und ursprünglich. 64
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14 Du erhebst dich, erbarmst dich Zions, denn71 es ist Zeit, ihr72 gnädig zu sein, denn die bestimmte Zeit ist gekommen.73 15 Denn deine Knechte haben Wohlgefallen an ihren Steinen, und es jammert sie ihres Schutts. 16 Und Nationen sollen74 den Namen JHWHs fürchten75, und alle Könige der Erde deine Herrlichkeit. 17 Denn JHWH baut76 Zion, er erscheint in seiner Herrlichkeit. 18 Er wendet sich zum Gebet des Entblößten, und verachtet nicht ihr Flehen77. 19 Dies sei aufgeschrieben für ein künftiges Geschlecht, und ein [neu] geschaffenes Volk wird Jah loben.
71
כ יauch hier eher begründend als konditional, vgl. Gunkel, Psalmen, 439. 72 Die weiblich-personale Konnotation Zions kann auch in der dt. Übersetzung beibehalten werden, da sie durch Ausdrücke wie ‘Tochter Zion’ auch in unserem Sprachraum hinreichend geläufig ist. 73 Der dritte Stichos verleiht der Aussage besonderen Nachdruck, ist also nicht als Glosse (vgl. BHS; Marttila, Collective Reinterpretation, 120.123) u.a. zu erklären, vgl. auch Körting, Zion, 40 Anm. 146. 74 S. hierzu weiter unten. 75 MT ist hier der in vielen Handschriften bezeugten Variante וְ י ְראּו vorzuziehen, da das Motiv der Gottesfurcht der Nationen in V.23 wiederkehrt, Offenbarungsmotivik hingegen sonst keine besondere Rolle spielt. 76 Die in SK wiedergegebenen Handlungen werden entweder als einmalige, vollzogene Handlungen (‘Perfekt’) angesehen oder als solche, deren Vollzug als sicher bzw. unmittelbar bevorstehend gilt, auch wenn er erst in der Zukunft stattfindet (s. hierzu etwa P. Joüon / T. Muraoka, A Grammar of Biblical Hebrew, Rom 1991, §112fh). Auch bei letzterem Verständnis als eines ‚Perfekt propheticum‘ handelt es sich in V.17f jedenfalls nicht um sich vielleicht irgendwann einmal einstellende Geschehnisse oder um „Fernzukunft“, wie u.a. Steck (Eigenart, 362) mit weitreichenden Folgen für seine eschatologische Interpretation von V.14-23 meint, sondern um ein prophetisch als sicher unmittelbar bevorstehend geschautes geschichtliches Ereignis. 77 Die Variante תו ַל עַתstatt תְ פ לַתin 11QPss a betont das Vergänglichkeitsmotiv und hat eine für die Gebetsliteratur der Qumrangemeinschaft charakteristische Tendenz.
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Des Gerechten denkt man zum Segen 20 Denn JHWH78 schaut nieder von seiner heiligen Wohnung79, vom Himmel blickt er auf die Erde 21 um zu hören das Seufzen des Gefangenen, um zu lösen die Kinder des Todes, 22 auf dass man in Zion den Namen JHWHs erzähle und seinen Ruhm in Jerusalem, 23 wenn die Nationen sich alle versammeln und die Königreiche, um JHWH zu dienen.
Der Abschnitt lässt sich wie folgt strukturieren:80 I. 13-15 JHWHs ewiges Königtum und jetziges Handeln 13-14a beschreibendes Lob 13 JHWHs ewiges Königtum (für alle Generationen )דֹ ִר 14a JHWHs Handeln im Jetzt 14b-15 Begründung ( כי14bα; כי14bβ; כי15a): rechte Zeit zur Gnade II. 16-23 Lobpreis der Völker und der künftigen Generationen 16 Aufforderung zur Ehrfurcht vor dem Namen JHWHs (ִ )שֵּ םִיְה ָוהan die Völker (גֹוים/)מלַכים ְ 17f Begründung (V.17a )כִי: Wende der Not 17 Neubau Jerusalems, Erscheinen JHWHs 18 Hinwendung zum Gebet 19 Aufforderung zur Verschriftlichung, zum Lobpreis des geschaffenen Volks (ִ ) ַעם/ der künftigen Generation ()דֹר 20 Begründung (V.20 )כִי: Wende der Not 21-23 Ziel der Wende: 21 Lösung der Gefangenen 22f Lobpreis des Namens JHWHs ()שֵּ םִיְ הוָה unter Völkerwallfahrt (ִעַמים/)מַ ְמלָכֹות 78
Es wird der sinnvollen und auch kolometrisch ebeneren masoretischen Verseinteilung gefolgt; vgl. hierzu Marttila, Collective Reinterpretation, 123f. 79 4QPss bezeugt die gebräuchliche (vgl. Dtn 26,15, Jer 25,30; Sach 2,17; Ps 68,6; 2 Chr 30.27) Formulierung מְ עֹוןִקָ דְ שֹו, während es sich bei der singulären Formulierung des MT ְמרֹוםִ ָק דשֹוum einen Schreibfehler handeln kann. Eine Diskrepanz zwischen himmlischem und irdischem Aufenthaltsort und eine Betonung der Transzendenz in der Qumran-Lesart, wie Brunert sie annimmt (Psalm 102, 92), besteht nicht. 80 Ein anderer Gliederungsvorschlag findet sich bei Körting, Zion, 41; in vielem ähnlich die Vorschläge von Sedlmeier, Aufbau, 223ff und P. Auffret, Merveilles à nos yeux. Etude structurelle de vingt psaumes dont celui de 1Chr 16,8–36 (BZAW 235), Berlin u.a. 1995, 96f.
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V.13-23 ist in zwei (durch die Stichworte דֹורV.13; V.19 sowie ( כִיV.14b-15a; V.17a; 20 miteinander verbundene) Abschnitte, nämlich V.13-15 und V.16-23 zu gliedern. Der erstere beginnt in V.13 als ein beschreibender Lobpsalm, der JHWHs ewige Herrschaft und jetziges Handeln preist und in drei mit כיeingeleiteten Begründungssätzen dies Jetzt als den richtigen Zeitpunkt für sein Eingreifen anzeigt. Der zweite Abschnitt V.16-23 ist konzentrisch komponiert: Er wird vom Stichwort שֵּ ם ִיְהוָה (V.16; 22) und der Völker-/ Könige-Motivik (V.16: גֹוים/;מלַכים ְ V.23: עַמים/ )מִַ ְמלָכֹותinkludiert, so dass der Lobpreis des Namens JHWHs durch die Völker Anfang und Ziel des Abschnitts bildet. Im Zentrum steht V.19,81, der auch syntaktisch und inhaltlich-argumentativ das Scharnier des Abschnitts ist, nämlich V.20-23 einleitet und zugleich auf V.17-18 zurückbezogen ist.82 Neben den Stichworten sind damit für die Struktur des Abschnitts auch der syntaktische und argumentative Verlauf sowie gattungsgeschichtliche Merkmale zu berücksichtigen.83 So enthält der Abschnitt V.13-2384 mit Königtumsaussage (V.13), 81
So richtig Sedlmeier, Aufbau, 223ff, der auch darauf hinweist, dass das ‚geschaffene Volk‘ von V.19 damit auch in der Mitte zwischen den anderen Völkern (V.16.23) zu stehen kommt; Aufbau, 224. 82 ז ֹאתist hier kataphorisch: Aufgeschrieben werden sollen die zuvor genannten Taten. V.20–23, die sich syntaktisch insgesamt auf den mit כ יeingeleiteten Begründungssatz V.20 zurückbeziehen, begründen, warum diese Erinnerungen aufgezeichnet werden sollen. 83 Diese für den Aufbau des Abschnitts ebenfalls bedeutenden Ebenen bleiben bei Sedlmeier unberücksichtigt, der die von V.20f syntaktisch abhängigen VV.22f allein aufgrund der inkludierenden Elemente in V.16 und V.22f als eigenständigen Abschnitt ansehen will, vgl. ders., Aufbau, 225f. 84 Als „Beweggrund“ ist V.13–23 (Steck, Eigenart, 359) bereits unter gattungsgeschichtlichen Hinsichten nicht hinreichend charakterisiert, auch nicht als „Bekenntnis der Zuversicht“; Westermann, Loben Gottes, 49, ähnlich Weber, Werkbuch Psalmen, 171. Treffender, aber ebenfalls unbefriedigend für V.14–23: „Weissagung“ u.a. Gunkel, Psalmen, 437.
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jussivischer Lobaufforderung85 (V.16, ähnlich V.19) und Begründung mit ( כיV.17a; V.20) klassische Hymnenelemente,86 die sich in der gleichen Abfolge etwa in Ps 96, 98 und 99 finden. Damit wird V.13-23 nicht zu einem vollständigen Hymnus im klassischen Sinn; wohl aber werden hierdurch die Herkunft der Motive, der Gedanken, der Stimmungen, kurz: die Formensprache und zugleich die innere Logik dieses Abschnitts besser erkennbar.
Ps 96
Königtumsaussage 10
Ps 98
6
Ps 99 Ps 102
1(.2) 13
juss. Lobaufforderung
Begründung
11a.b.12a.b (an Himmel, Erde, Meer, Feld) 7a (an das Meer)
13a.b ()כי + Völkermotiv
3 (an die Völker) 16 (an die Völker) 19 (an die kommende Generation)
9 (ִ)כי + Völkermotiv 4 (ohne )כי 17a ()כי 20 ()כי + Völkermotiv (23)
Die formgeschichtliche und auch sprachlich-motivliche Nähe zu diesen JHWH-Königspsalmen87 gibt – wie die Dtjes und der priesterlichen Komposition nahestehende Terminologie88 – Hinweise auf den historischen Ort des Textes. Auch dass Zion offenbar noch in Trümmern liegt (V.15),89 im sog. Perfekt propheticum aber als schon 85
Die Stellung von ( וְ י ְיראּוV.16a) und ( ת ָכ תֶ בV.19a) weist darauf hin, dass es sich jeweils um Jussive handelt, vgl. J–M § 155l. 86 So beschreibt auch Koenen Ps 102,19–23 als Hymnus mit Aufgesang (V.19b) und Durchführung (V.20–23); Jahwe, 82; vgl. Gunkel, Psalmen, 440. 87 Vgl. zum Motiv des Sich-Erhebens. Ps 68,2 u.a., zum Motiv der Versammlung der Völker vgl. Ps 47,10 u.ä. 88 Vgl. Ps 102,17 ראהִכְ בֹודִ ְיה וָהmit Ex 16,7.10; Lev 9,6.23; Num 14.10.22; 16,19; 17,7; 20,6; Jes 35,2; 40,5; Ps. 97,6; s. hierzu auch F. Delitzsch, Die Psalmen I (BC IV/1), Leipzig 3 1873, 629.631f). Vgl. zu ( עַםV.19) den spezifischen Gebrauch von עַםan den für P wichtigen Stellen Ex 6,7; 16,30; Lev 9,23f. 89 Steck unterstreicht dies (Eigenart, 361), datiert den Psalm dann aber ins 3.Jh.; Eigenart, 370f.
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gebaut (V.17) geschaut wird, wird man als vergleichsweise klare Indizien auf eine frühnachexilische Datierung ansehen müssen. V.19 ist durch das Schlüsselwort דּורGeneration mit V.1390 (sowie mit V.25b) verbunden und zeigt auf, wie ein dem ewigen Königtum JHWHs (V.13) korrespondierendes, von Geschlecht zu Geschlecht91 währendes Gedächtnis an JHWH (V.13b)92 zustande kommen kann: Dadurch, dass die in V.17f. geschilderten Taten schriftlich fixiert werden,93 so dass ein neu geschaffenes Volk94 JHWH 90
V.13b entspricht wörtlich Ps 135,13. Die Bedeutung des Denkens von Generation zu Generation in Israel kann kaum unterschätzt werden, die häufige Wendung ‚von Geschlecht zu Geschlecht‘ (Ps 10,6; 33,11; 45,18; 49,12; 61,7; 77,9; 79,13; 85,6; 89,2; 90,1; 100,5; 106,31; 119,90; 146,10; etc.) ist mehr als eine (zu ‚für immer‘ o.ä synonyme) Phrase. Ein solches Denken in Generationsabfolgen ist im Zusammenhang der Erinnerungsdebatte vermehrt zum Thema der kulturgeschichtlichen Forschung geworden, s. hierzu auch U. Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorie, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt/ M. 2001, 330ff. 92 Die Erinnerungsmotivik wird im Nahkontext des Psalms weitergeführt: vgl. das Stichwort זכרin Ps 103,14.18; zu Ps 103,2 vgl. bereits o. Für weitere psalterkompositionell bedeutsame Verbindungen (etwa zu Ps 90) s. Koenen, JHWH, 81ff.110f u. passim. 93 Dass die im ‚Perfekt propheticum‘ dargestellten Handlungen JHWHs in V.17f.20 als sicher eintreffend bzw. bald bevor stehend angesehen werden (s.o. zur Bedeutung der SK), ist für das Verständnis des gesamten Abschnitts von großer Bedeutung, da auf diese Weise Königtumsaussage / gegenwärtiges Handeln (V.13–15) in unmittelbarer Verbindung mit V.16–23 stehen. Die bisher meist vertretene Deutung von V.17f auf erst irgendwann stattfindende eschatologische Ereignisse (vgl. auch F. Sedlmeier, Zusammengesetzte Nominalsätze und Ihre Leistung für Psalm CII, VT 45 (1995) 239–250, hier 244f) ist auch insofern wenig sinnvoll, als nur zeitnahe, konkrete geschichtliche Ereignisse aufgeschrieben und erinnert (V.19) werden können, vgl. dagegen wenig überzeugend Steck, Eigenart, 362. 94 Zum seit (spät–)exilischer Zeit sehr gebräuchlichen Motiv der Erschaffung ( )בראdes Volkes (Israel) s. Jes 43,1.15, 65,18; Ez 28,15 Mal 2,10, vgl. Jes 43,7 sowie Jes 43,21 ()עַם –זּוִיָצַ ְרתיִלי. ברא wird ohnehin recht häufig für JHWHs Handeln in der Geschichte 91
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loben kann: „Le peuple de 19b est dit nbr᾿, crée donc pour assurer la permanence de la louange“.95 Die fortwährende Herrschaft JHWHs ist vom Gedenken der vergänglichen96 Menschen unabhängig; doch ein unaufhörlicher Lobpreis in seinem neu geschaffenen Volk kann durch die Stiftung eines Gedächtnisses begründet werden, das durch das Medium der Schrift Beständigkeit gewinnt. In Ps 102 kommt also als Anstoß für einen Verschriftlichungs- bzw. Schriftwerdungsprozess nicht eine Krisenerfahrung in den Blick. Vielmehr ist es die konkrete Gewissheit eines unmittelbar bevorstehenden Neuanfangs, die nach V.19 Beweggrund für die schriftliche Fixierung dieser Ereignisse ist. Die neue Zukunftsperspektive auf die Existenz eines von JHWH geschaffenen Volks (V.19b) öffnet den Blick auf die künftigen Generationen, für die die Erinnerung an diese Taten JHWHs aufbewahrt werden soll. Welche Auswirkung hat nun aber die zunehmende Verschriftlichung und Schrift-Werdung der Überlieferung? J. Assmann hat diagnostiziert, dass durch den Prozess der Schriftwerdung die in schriftlosen Gesellschaften so bedeutende rituelle Kohärenz von der textuellen Kohärenz verdrängt werde.97 Davon kann allerdings in Israel nicht die Rede sein.98 Hier zeigt sich vielmehr, dass beides bleibend aufeinander bezogen ist und sich in einer gebraucht, vgl. Ex 34,10; Num 16,30; Jes 48,7. 95 Auffret, Merveilles à nos yeux, 102. 96 Der Kontrast zwischen der Vergänglichkeit des einzelnen und der Ewigkeit JHWHs wird in V.12f und V.25 konzentriert; er bestimmt insgesamt die gegenwärtige Gestalt des Psalms. 97 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 87ff. 98 Genauso wenig lässt sich die Diagnose eines „Wiederholungszwangs“ verifizieren, von dem die ‚textuelle Kohärenz‘ befreie (Das kulturelle Gedächtnis, 88), und auch nicht, dass mit häufiger Wiederholung ritueller Begehungen sich zwangsläufig eine zyklische Zeitvorstellung einstelle (ebd.). Wenn wöchentlich am Sabbat protologische Schöpfung erinnert wird, so zeigt dies, dass Zeitgestaltung (in Form periodischer Begehungen) und Zeitvorstellungen (von absoluter Vergangenheit oder auch Zukunft) einer religiösen Gemeinschaft auf völlig verschiedenen Ebenen liegen.
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Wechselbeziehung stabilisiert.99 So kommt es parallel zur Entstehung des Pentateuch in seiner protokanonischen Gestalt mit dem Sabbat zu einer immensen Höherfrequentierung der rituellen Kohärenz, die explizit dem Schöpfungs- und dem Exodusgedächtnis dient (Ex 20,8-11; Dtn 5,12-15). Die häufige Wiederholung wird so in den Dienst der Internalisierung zentraler Inhalte des Pentateuchs gestellt. Gerade angesichts des immer umfangreicher werdenden protokanonischen Textcorpus, der Externalisierung des Gedächtnisses ins Medium der Schrift,100 ist es von größter Wichtigkeit, dass zentrale Inhalte dieses Zusammenhangs in leicht memorierbaren Texten wie dem Dekalog zusammengefasst werden, die vor dem Absinken in ein unbewohntes Speichergedächtnis geschützt sind und im lebendigen Funktionsgedächtnis101 verbleiben.102 Dabei wird die Bedeutung des Dekalogs beider Fassungen ausdrücklich dadurch kenntlich gemacht, dass er an zentralen Stellen des protokanonischen Textzusammenhangs (Sinai-/Horeboffenbarung) eingefügt wird.103 Und in 99
S. hierzu im Einzelnen die entsprechenden Abschnitte der Habilitationsschrift A. Grund, Die Entstehung des Sabbats. Seine Bedeutung für Israels Zeitkonzept und Erinnerungskultur (FAT75), Tübingen 2011. 100 Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 22f. 101 Die Begriffe Funktions- und Speichergedächtnis wurden von A. Assmann geprägt (dies., Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, 130–145): Nur das „bewohnte" Funktionsgedächtnis ist für die erinnernden Gruppen wirklich bedeutungsgeladen, während das in den Hintergrund getretene Speichergedächtnis als ‚Reservoir‘ ungenutzter Möglichkeiten dient. Durch die Externalisierung immer größerer Textmengen ins Medium der Schrift bedarf es um des lebendigen Funktionsgedächtnisses willen wirksamer Internalisierungsstrategien. 102 Zugleich kommt der Dekalog, wie an den Festpsalmen Ps 50 und 81 deutlich wird, selbst im kultischen Zusammenhang vor. 103 Diese Feststellung ist unabhängig von der Frage nach der Priorität der Dtn- oder der Ex–Fassung; für ersteres plädieren bekanntlich F.-L. Hossfeld, Der Dekalog. Seine späten Fassungen, die originale Komposition und seine Vorstufen (OBO 45), Göttingen 1982; Chr. Dohmen, „Es gilt das gesprochene Wort“. Zur
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Des Gerechten denkt man zum Segen
dieser zentral in der Sinai-/ Horeboffenbarung verorteten Gebotszusammenfassung wird in den Sabbatgeboten die wöchentliche, also sehr hochfrequentige Begehung des Sabbats zum Zweck des Schöpfungs- und Exodusgedächtnis angeordnet.104 Insgesamt wird als Herausforderungslage für Israels Erinnerungsarbeit zwar häufig eine Situation der Krise erkennbar. Doch zeigen sich als Anlass und Motivation für Erinnerungsanstrengungen vielfach auch neue Heilserfahrungen und dazu eine Haltung der Loyalität gegenüber dem Gott, der dieses Gute erwiesen hat. Der Versuch, diesem Gruppengedächtnis auch in kommenden Generationen Beständigkeit zu verleihen, ist offenbar dann besonders aussichtsreich, wenn die Stabilisierung eines Textbestandes und regelmäßige gottesdienstliche Feiern ineinandergreifen. Auf diese Weise entsteht ein von einem Kanon von (heiligen) Schriften geprägter, für die jeweilige Kanongemeinschaft identitätskonkreter Bezug auf fundierende Vergangenheit, der periodisch erinnert wird. Mit einem Ausdruck M. Welkers könnte man dies als kanonisches Gedächtnis bezeichnen.105 Und so ist es auch der Aufruf zur Inganghaltung der kanonischen Erinnerungsarbeit, der ‚das Gesetz und die narrativen Logik der Verschriftung des Dekalogs, in: Chr. Frevel / M. Konkel / J. Schnocks (Hg.), Die Zehn Worte. Der Dekalog als Testfall der Pentateuchkritik (QD 212), Freiburg 2005, 43–56, hier 54f. u.a., für letzteres Chr. Levin, Der Dekalog am Sinai VT 35 (1985) 161–191; A. Graupner, Vom Sinai zum Horeb oder vom Horeb zum Sinai? Zur Intention der Doppelüberlieferung des Dekalogs, in: Verbindungslinien (FS W.H. Schmidt), hg. v. A. Graupner u.a., Neukirchen-Vluyn 2000, 85–101; R.-G. Kratz, „Höre Israel“ und Dekalog, in: Chr. Frevel, Zehn Worte, 77–86 u.a. Die Ansetzung des Dekalogs und auch seiner Einfügung in die Sinai- bzw. Horebzusammenhang etwa um die Zeit des Exils wird mittlerweile von nahezu allen Beteiligten der Diskussion vertreten. 104 Schließlich wird der Sabbat zum Gottesdiensttag, an dem die abschnittsweise Verlesung des Pentateuchs stattfindet. 105 Vgl. etwa M. Welker, Kanonisches Gedächtnis. Wie die Auferstehung Jesu im Abendmahl erfahren wird, EvKomm 4, 1999, 37– 39.
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Propheten‘ verbindet: Mal 3,22.106 Mit dieser hermeneutischen Leseanweisung107 schließt der Kanonteil der ‚Propheten‘;108 sie ist eine ausdrückliche Mahnung zur Aufrechterhaltung eines solchen kanonischen Gedächtnisses: Gedenkt der Weisung des Mose, meines Knechtes, dem ich am Horeb für ganz Israel Ordnungen und Rechtsbestimmungen geboten habe.
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Die Sprache (ז כְ רּו, תֹורתִ ֹמ שֶ הִ ַעִבְ די, ַ חרב, ֵּ כָל –י ְׂש ָר אֵּ ל, )ּומ שְֹ ָפט ים חֻק ים weist auf dtr. Redaktionstätigkeit hin, vgl. dazu etwa A. Deissler, Zwölf Propheten (Bd. 3 Zefania, Haggai, Sacharja, Maleachi) (NEB), Würzburg 1988, 337; O.H. Steck, Der Abschluß der Prophetie im Alten Testament. Ein Versuch zur Frage der Vorgeschichte des Kanons (BThS 17), Neukirchen-Vluyn 1991, 146–150. Dabei ist eine solche kanonbewusste Formel ein Indiz für Gestaltwerdung eines Prophetenkanons, jedoch noch kein Indiz für dessen redaktionelle Abgeschlossenheit oder gar Textstabilisierung. 107 S. hierzu u.a. S. Chapman, The Law and the Prophets. A Study in Old Testament Canon Formation (FAT 27), Tübingen 2000, 131– 149. 108 Mal 3,22 wird seit Budde, Rudolph und Steck (s. hierzu u.a. H.P. Mathys, Anmerkungen zu Mal 3,22-24, in: ders., Vom Anfang und vom Ende. Fünf alttestamentliche Studien (BEATAJ 47), Frankfurt a. M. 2000, 30–40, hier 30) meist als Epilog zum Mal– Buch, ja als Abschlussnotiz zum Dodekapropheton oder zum ganzen Prophetenkanon (vgl. hierzu nun auch A. Meinhold, Maleachi (BK.AT XIV/8) Neukirchen-Vluyn 2006, 410f) betrachtet. Allerdings ist fraglich, ob Mal 3,22–24 tatsächlich zur letzten Schicht des Mal-Buches gehört (vgl. hierzu jüngst S. Lauber, „Euch aber wird aufgehen die Sonne der Gerechtigkeit“ (vgl. Mal 3,20). Eine Exegese von Mal 3,13–21. (ATS.AT 78), St. Ottilien 2006, 455f. Gegen einen bewussten Abschluss des Kanonteils der ‚Nebiim‘ durch diesen Mal-Redaktor spricht, dass die Reihenfolge der prophetischen Bücher bis in mittelalterliche Kanonlisten hinein noch nicht feststand (vgl. Chapman, Law, 136ff). In der Anordnung des Codex Leningradensis bzw. der BHS freilich erhält der Abschnitt diesen Sinn.
„ ... so sollst du geben Auge für Auge, Zahn für Zahn.“ Vergeltung als Strafprinzip des Alten Testaments?1
Man hat sich daran gewöhnt, dass die Talionsformel ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ das Stichwort bietet, unter dem nach einer populären, gerade auch in den Medien verbreiteten Auffassung der Glaube Israels bzw. des Judentums als Religion der Vergeltung gekennzeichnet, der Gott des Alten Testaments als Rachegott charakterisiert und christlicherseits beides gerne gegen die neutestamentliche Religion der Liebe ausgespielt wird.2 Sogar bessere der heutigen Medienvertreter geben sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit die Blöße zu meinen, etwa den IsraelPalästina-Konflikt mit solch traditionsreichen Stereotypen interpretatorisch bewältigen zu können. Nun ist es für informiertere Zeitgenossen durchaus geläufig, dass das in der alten Welt vielfach belegte3 ius talionis nicht spontane Gegenaggressionen oder instituierte Rache im privaten oder außenpolitischen Rahmen legitimiert oder gar vorschreibt, sondern als Rechtsvorschrift auf anerkannte Schadensregulierung, und als solche auf eine 1
Für wichtige Anregungen und Gespräche im Zusammenhang dieses Beitrags danke ich an dieser Stelle meinen Siegener Kolleginnen aus der Soziologie Sabine Korstian und Uta Liebeskind. 2 Zu älteren und jüngeren Markionismen, die nach diesem Muster konstruiert werden vgl. W. Dietrich, Gott der Rache versus Gott der Liebe? Wider die Verzerrung biblischer Gottesbilder [1999], in: ders., Theopolitik. Studien zur Theologie und Ethik des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2002, 29–42. 3 Vgl. die Hinweise bei I. Broer, Das Ius Talionis im Neuen Testament, NTS 40 (1994) 1–21, 1 mit den jew. Anmerkungen.
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Einschränkung willkürlicher Rachehandlungen ausgerichtet ist. Andererseits existiert tatsächlich eine nicht geringe Zahl alttestamentlicher, freilich auch neutestamentlicher Texte4 unterschiedlicher Gattung und Provenienz, in denen zuweilen drastisch von Rache bzw. Vergeltung unter Menschen oder von Seiten Gottes die Rede ist. Hier liegen in der Tat nicht selten problematische Vorstellungen vor, die als solche genauso wenig apologetisch kleinzureden, sondern genau anzuschauen sind. Wird also nicht doch in mancher Hinsicht zu Recht vom „Vergeltungsdenken“ des Alten Testaments gesprochen? Und ist nicht doch ‚Vergeltung‘ das alttestamentliche Prinzip des Strafens? Die Weite des Begriffs der Vergeltung erschwert die Beantwortung solcher Fragen noch zusätzlich: Vergeltung kann ja als Erwiderung von Gutem durch Gutes durchaus positiv in den Blick kommen („Vergelt‘s Gott!“). Letztlich wird sie jedoch meist als Erwiderung von Bösem durch Böses, als Retribution einer schädigenden Tat durch eine Schädigung des Täters verstanden, wobei letztere von verschiedensten Instanzen ausgeführt werden kann: Vom Geschädigten selbst, von der Gemeinschaft bzw. näheren soziale Gruppe, von der Rechtsprechung als einer Repräsentation der Gesellschaft o.ä.. Bestimmt nun der Vergeltungsgedanke den Zweck einer Strafe, so wird man diese eher im Sinne der absoluten Straftheorie verstehen, die, im Unterschied zu der seit Seneca mit punitur ne peccetur beschriebenen relativen Straftheorie, mit dem Leitsatz punitur quia peccatum est beschrieben wird. Mit Kant, Hegel und gewichtigen Vertretern gerade auch aus der protestantischen Theologie gab und gibt es bis in jüngste Zeit5 eine 4
Zur Rache / Strafe Gottes im NT vgl. Mt 25,46; Lk 21,22, Röm 12,19; 1 Thess 4,6; 2 Thess 1,9; Heb 10,29f; vgl. auch Apk 6,10; zur Obrigkeit als ‚Rächerin‘ Röm 13,4. Vgl. hierzu auch weiter unten. 5 O. Höffes Vereinigungstheorie etwa lässt Prävention lediglich als Nebenfolge zu; Kategorische Rechtsprinzipien, Frankfurt 1990, 215–248. Zuweilen wird auch eine Kombination von Vergeltungs-, Generalpräventions-, und Resozialisierungsgedanken vorgeschlagen; S. Volkmann, Art. Vergeltung. V. Ethisch RGG4 8 (2005),
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Vergeltung als Strafprinzip des Alten Testaments?
beachtliche Linie von Befürwortern der absoluten Straftheorie, für die der Präventionsgedanke keine oder eine nur geringe Rolle spielt.6 Selbst wenn sich also eine überwiegende Ausrichtung am punitur quia peccatum est für das alte Israel zeigen ließe, so mutet die verbreitete Ablehnung des vermeintlich typisch alttestamentlichen Vergeltungsdenkens angesichts dieser christlich-theologisch recht breiten Tradition seltsam an. In einer Schieflage bewegt sich die Einschätzung der alttestamentlichen Überlieferung aber auch, sofern hier meist nur unzureichend berücksichtigt wird, dass von Strafe auch im Alten Testament durchaus im Horizont der Möglichkeit ihrer Aufhebung die Rede ist.7 Und wo die biblische Rede von Strafe und Gericht eilfertiger Kritik verfällt, wird andererseits oft nicht hinreichend bedacht, dass die Forderung nach (General-)Amnestien den Gedanken der Gerechtigkeit aufzulösen droht und im Extremfall zur „Komplizenschaft mit dem Bösen“8 gerät. Doch wie nun spricht das Alte Testament tatsächlich von Vergeltung, und aus welchen Gründen? Es liegt nahe, dies an drei in der Vergangenheit besonders heftig diskutierten Fragestellungen in den Blick zu nehmen: 1. Inwieweit spricht das Alte Testament von Rache im Sinne von willkürlicher Vergeltung durch den Geschädigten? 2. Ist die Talionsformel als Anordnung zur Vergeltung durch das 1004f plädiert für eine solche Kombination. 6 Vgl. zu den Positionen von Althaus, Elert, Künneth, Thielicke, Trillhaas etwa E. Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, Göttingen 1963, 21f; H. Koch, Jenseits der Strafe. Überlegungen zur Kriminalitätsbewältigung, Tübingen 1988,15ff und M. Schuck, Art. Strafe III. Dogmatisch und theologiegeschichtlich, RGG 4 7 (2004) 1755–1757; 1756f. 7 So müsste das Problem der Vergeltung aus theologischer Perspektive im Grunde nicht bis zur Grenze der schenkenden Gerechtigkeit Gottes (vgl. S. Volkmann, Art. Vergeltung. IV. Theologiegeschichtlich und dogmatisch; V. Ethisch RGG 4 8 (2005), 1002–1004; 1004f; hier. 1004.1005), sondern besser von ihr herkommend in den Blick genommen werden. 8 A. Schenker, Der strafende Gott. Zum Gottesbild im AT, KatBl 110 (1985) 843–850; 848.
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Recht anzusehen? Und 3.: Kann die Vorstellung vom TunErgehens-Zusammenhang als Vergeltung durch Gott oder die Seinsordnung angesehen werden? Ich gehe der Reihe nach vor. 1 „Gott der Rache – erscheine!“. Von willkürlicher Vergeltung und von ihrer Überwindung Nach neuzeitlichem Verständnis, das sich repräsentativ in Kants Unterscheidung zwischen illegitimer Rachbegierde und legitimer Rechtsbegierde9 findet, wird Rache als eine Reaktion auf Unrecht, die von emotionaler Verletztheit motiviert ist und auf die Schädigung des Verursachers zielt, von rechtsförmigen Arten der Vergeltung des Unrechts abgegrenzt.10 Geht man mit diesem Verständnis an eine deutsche Übersetzung des Alten Testaments heran, stellt sich fast zwangsläufig ein unzutreffendes Bild ein, denn wenn hier von Rache die Rede ist, ist nur in den seltensten Fällen private Retribution gemeint.11 Das gilt bereits für die in fast bei allen Völkern ohne allgemein anerkannte und durchsetzungsfähige politische Autorität verbreiteten Blutrache.12 Denn da Mord – im Gegensatz zu ungeregelten, willkürlichen Rache- und Kriegstaten – durch diese Institution nach festen Regeln und erwartbar bestraft wird, diente sie durchaus auch der Konfliktvermeidung und -begrenzung. Wenn Blutrache nach Maßstäben moderner Gesellschaften freilich unzureichend und 9
S. I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1798; Kants gesammelte Schriften, Akademie–Ausgabe Bd. 7, 1917, 270. 10 S. hierzu S. Volkmann, Art. Rache II. Dogmatisch und ethisch, RGG4 7 (2004) 12–13; 12f. 11 Diesem weiteren Bedeutungsumfang von hebr. nqm entspricht eher der von Thomas geprägte weite Begriff von Rache, wonach Rache, die dem Verursacher Böses zu tun strebt, illegitim, Rache aber, die das Gut der Gerechtigkeit bewahrt, lobenswert sein kann; vgl. Volkmann, Rache, 13. 12 Vgl. K.H. Singer, Art. Blutrache, RGG4 1 (1998) 1654–1655; 1654.
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archaisch erscheint, so war sie doch in der „segmentären Gesellschaft der vorstaatlichen Zeit ... die alleinige Instanz, die den Schutz des menschlichen Lebens wirksam gewähren konnte“.13 Und die hebräischen Ausdrücke nqm / neqāmāh, die in den gängigen Übersetzungen mit ‚rächen‘14 bzw. ‚Rache‘ wiedergegeben werden,15 werden 13
Blutrache, 1654; vgl. hierzu auch H.G.L. Peels, The vengeance of God. The meaning of the root NQM and the function of the NQM–texts in the context of divine revelation in the Old Testament (Oudtestamentische studiën 31), Leiden u.a. 1995, 79–86. Auf die Todessanktion im Rechtskontext wird weiter unten noch einzugehen sein. 14 Ich halte es für abträglich, auch Lexeme wie šwb hi., pqd, und šlm unter dem Stichwort ‚Rache’ zu behandeln, wie etwa W. Dietrich es versucht (Dietrich, Rache. Erwägungen zu einem alttestamentlichen Thema [1976], in: ders., Theopolitik. Studien zur Theologie und Ethik des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2002, 2002, 117–136; 121ff), da ‚Rache’ und der ohnehin sehr vielfältige Handlungen zusammenfassende Begriff der ‚Vergeltung‘ so erst recht zu verschwimmen drohen; Rache sollte als eine spezifische Form der ‚Vergeltung‘ konturiert werden. Zu den o.g. hebr. Begriffen s. also weiter unten. 15 nqm ist allerdings kein Terminus für die Institution der Blutrache, wie meist unhinterfragt vorausgesetzt (E. Lipiński, Art. nqm, ThWAT V (1986) 602–612; 605–607 (Lit.) etwa behandelt die Blutrache unter dem Lemma nqm, ohne dass ein Beleg der Wurzel damit in Verbindung gebracht werden kann, vgl. im Einzelnen Peels, Vengeance, 79–86. Mit niqmat dam Ps 79,10 wird gerade kein technischer Begriff gebraucht; der technische Begriff für den Blut‚rächer‘ dagegen ist go᾿el haddam (Num 35,19.21.24.25.27; Dtn 19,6.12; Jos 20,3.5.9; 2 Sam 14,11), was eher auf den Gedanken der rechtsförmigen Auslösung eines verlorengegangenen Gutes für eine Sippe hinweist, vgl. Peels, Vengeance, 83f; A. Lemaire, Vengeance et justice dans l'ancien Israel. 3. Vengeance, pouvoirs et ideologies dans quelques civilisations, in: R. Verdier (Hg.), La vengeance. Etudes d'ethnologie, d'histoire et de philosophie, Bd. 3, Paris 1984, 13–33; 14–17. Andere Termini für Blutrache scheinen bqš (pi.) haddam (2 Sam 4,11, vgl. Ez 3,18.20; 33,20; vgl. 1 Sam 20,16) und drš haddam (Gen 9,5; 42,22, Ps 9,13; Ez 33,6; nur für Gott) zu sein, vgl. jedoch Peels, Vengeance, 84– 86. – Insofern halte ich es auch für unzutreffend, die von nqm dominierte Rede von JHWHs ‚Rächen‘, vom Vorstellungsfeld der Blutrache her, und dann beides zudem im Gegensatz zu öffentlichen Rechtsinstanzen zu verstehen (vgl. aber Dietrich, Rache, 125–128).
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eher selten für persönliche und auch willkürliche Vergeltung von Unrecht16 oder für ein feindseliges, aggressives Verhalten gebraucht.17 In Lev 19,18 freilich ist nqm zwar im Sinne persönlicher Vergeltung verstanden – doch wird diese hier gerade ausdrücklich untersagt: Du sollst dich nicht rächen (nqm) oder Zorn bewahren gegenüber den Angehörigen deines Volkes, du sollst vielmehr deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin JHWH.18
Auch wenn nqm oft auch affekt- und aggressionsgeladene Konnotationen hat, wird die Wurzel doch in den meisten Fällen im Zusammenhang des Rechts gebraucht19 und auf die Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der
Zwar wird mit nqm (ähnliches gilt für šwb hi. etc.) kein juridischer, aber durchaus ein rechtsordnungsbezogener, schon gar nicht für Willkürakte gebräuchlicher Terminus verwendet, daher wird bei JHWH als Subjekt von nqm keineswegs das Bild eines Gottes sichtbar, der „ungebunden wie ein Rächer“ (Dietrich, Rache, 128) agiert. 16 Meist im Zusammenhang von Krieg, Ri 15,7; 16,28; 1 Sam 14,24; 18,25; 2 Sam 4,8; Jos 10,13; s. hierzu Peels, Vengeance, 43– 60. 17 Oft ist bei nqm von Feindbedrohung durch ‚Rächende‘ die Rede: Ps 8,3; 44,17; Ez 12,12.15; Klgl 3,60, vgl. Lev 19,18; vgl. Peels, Vengeance, 86–102. 18 Zu Lev 19,17f s. vor allem G. Barbiero, L' asino del nemico. Rinuncia alla vendetta e amore del nemico nella legislazione dell'Antico Testamento (Es 23,4–5; Dt 22,1–4; Lv 19,17–18) (AnBib 128), Rom 1991 (Lit.). 19 Sauer vermutet gar: „Die ursprüngliche Bedeutung des Stammes nqm dürfte der Rechtssprache zugehören“; G. Sauer, Art. nqm rächen, THAT II (1977) 106–109; 107; vgl. hierzu v.a. Gen 4,15; Ex 21,20f, ferner Prov 6,23; Ex 21,20, das das ‚Rächen‘ des getöteten Sklaven verhängt, ist im Sinne der Todessanktion als negativer Generalprävention deutbar, bleibt aber unsicher. Auf dem Hintergrund des geringer kaum vorstellbaren sozialen Status von Sklaven als ‚Sache‘ bedeutet es jedenfalls eine Aufwertung, dass sogar die Tötung von Sklaven und sogar (!) Sklavinnen unter die Androhung von rechtlicher Vergeltung (nqm) gestellt wird.
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Rechtsordnung bezogen.20 Und so ist allermeist,21 wo von JHWHs ‚Rächen‘ (nqm) die Rede ist,22 Unrecht oder Mord an Unschuldigen23 vorausgegangen.24 Als ‚Rächer‘ ist JHWH also Rechtsgarant.25 Daher wird seine ‚Rache‘ oft als Rettung aus Gewalt26 oder als Hilfe für Israel in durchaus existenzgefährdenden Bedrohungen von außen27 angesehen.28 Gerade wo JHWH in den Psalmen zur ‚Rache‘ aufgerufen wird,29 wird vergeltendes Handeln einer 20
Vgl. v.a. die Studie von Peels, Vengeance, 61–85.265–297. In der Übersetzung von Buber und Rosenzweig wird neqāmāh fast durchgängig und durchaus treffend mit „Ahndung“ übersetzt. 21 Manche Stellen bleiben in dieser Hinsicht freilich undeutlich. 22 Im Übrigen sehr viel häufiger als von menschlicher Seite. 23 Vgl. hierzu auch Dietrich, Rache, 122f. 24 Dass es Babylon bei seinem Fall voraussichtlich geschehen wird, wie es selbst an Jerusalem getan hat, wird in Jer 50f (50,15.28; 51,6.11.35f) als Rache JHWHs gedeutet (vgl. in ähnlichem Sinn Ez 25,14–17; Jes 34,9; 47,3). 25 Besonders deutlich in 1 Sam 24,13; häufig ist nqm im Zusammenhang mit dem Unrecht und der Treulosigkeit Israels (Lev 26,25; vgl. Ps 99,8) und daher oft in prophetischer Unheilsankündigung gebraucht: Jes 1,24; 59,15; Jer 5,9.29; 9,8; Mi 5,14. Oft tritt JHWH als ‚Rächer‘ unschuldig vergossenen Blutes und Mord auf: 2 Kön 9,8 Ez 24,6–8; Dtn 32,35.41.43; Ps 79,10; Ps 94,1–6. 26 Vgl. etwa Jes 35,4; 59,17; 61,2; 63,1.4. 27 Zu Recht macht Dietrich (Rache, 126) darauf aufmerksam, dass die internationale Politik (nicht nur) in der Antike ein nahezu rechtsfreier Raum war. Wenn die Ahndung von Völkermord auch noch heute internationale Gerichtshöfe vor große Schwierigkeiten stellt, so gab es zu Zeiten des alten Israel keine menschliche Instanz, die sich um die von unausdenklichen Blutbädern begleitete Auslöschung kleinerer Ethnien durch die altorientalischen Großreiche in irgendeiner Form gekümmert hätte. 28 Etwa im Krieg (Jos 11,36); vgl. auch das Vorhaben der vollständigen Auslöschung der Juden durch Haman, das mit ‚Rache‘ (Est 8,13 nqm ni.) beantwortet wird. Midians Versuch, Israel zu verfluchen (Num 22–24) und die von ihm ausgehende Versuchung zum Abfall von JHWH (Num 25) werden offenbar als so große Gefahr für die Erfüllung der Landverheißung und für Israels Gottesbeziehung angesehen, dass die aus der Perspektive des Textes von Israel ausgetragene Rache JHWHs (Num 31) nötig erscheint; vgl. Peels, Vengeance, 247–249. 29 Ps 58,11; 79,10; 94,1; vgl. hierzu vor allem E. Zenger, Ein Gott der Rache? Feindpsalmen verstehen (Biblische Bücher 1), Freiburg
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höheren – auch menschliche Gerichtsbarkeit übersteigenden30 – Instanz anheimgestellt.31 Dass hier an Gott und nicht mehr an zwischenmenschliche Instanzen appelliert wird, macht darauf aufmerksam, dass durch die unmittelbar beteiligte Gemeinschaft oder durch öffentliche Gerichte eine Bewältigung des Unrechts nicht (mehr) möglich ist – weil sie offenbar als zu schwach, korrumpiert, nicht vertrauenswürdig, nicht kompetent o.ä. eingeschätzt werden. Hier werden also einerseits die Notwendigkeit der Stärkung sozialer bzw. rechtlicher Mechanismen der Unrechtsbewältigung, andererseits aber auch deren Grenzen erkennbar. 32 Denn die Beter/ innen dieser Psalmen gehen davon aus, dass es sich bei dem ihnen und (anderen) Schwachen angetanen Unrecht gerade um JHWHs ureigenste Sache geht, weil Recht und Gerechtigkeit selbst bedroht sind.33 Sie bekennen sich zu einem Gott, der sich mit dem Leiden und dem Bösen in der Welt nicht zufrieden gibt und zugunsten derer eingreift, die Unrecht erleiden.34 Als exemplarisch hierfür kann Ps 94,1-7 gelten:35 im Breisgau / Wien u.a. 1994, 137ff. 30 Hierfür den – zudem undeutlichen Begriff der ‚Privatstrafe‘ (vgl. Dietrich, Rache, 127.133 vgl. 117f) – wieder einzuführen, um menschliche Gerichtsbarkeit um des subjektiven Rechtsempfindens willen kritisierbar zu halten, ist unnötig, weil gerade auch das Reden von einem rechtsförmigen Vergelten JHWHs Formen von Rechtspositivismus kritisch gegenübersteht. 31 So gilt JHWH dem von Mordanschlägen der Leute von Anatoth bedrohten Jeremia in seinen „Konfessionen“ als derjenige, der seine Rechtssache zu führen vermag (Jer 11,20; vgl. 20,20). 32 Vgl. auch Dietrich, Rache, 124ff. 33 Daher ist auch das ‚Richten‘ und ‚Gericht‘ Gottes im AT meist positiv konnotiert, als Hoffnungsgrund Entrechteter und Unterdrückter, während ‚Gericht‘ ansonsten eher mit Unheil und Vernichtung assoziiert; vgl. hierzu A. Grund, Die Propheten als Künder des Gerichts. Zum juridischen Hintergrund von Grundformen prophetischen Redens, in: Alles in allem. Eschatologische Anstöße (FS J.C. Janowski, hg.v. R. Hess / M. Leiner), Neukirchen-Vluyn 2005, 167–182, 168ff. 34 Vgl. Zenger, Gott der Rache, 40ff. 35 Eine eingehende Analyse von Ps 94 ist hier nicht beabsichtigt, verwiesen sei auf F.-L. Hossfeld, E. Zenger, Psalmen 51–100
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Vergeltung als Strafprinzip des Alten Testaments?
1 Gott der Vergeltung (neqamôt), erscheine! 2 Erhebe dich, Richter der Erde, wende das Tun zurück auf die Hochmütigen! 3 Bis wann werden die Frevler, JHWH, bis wann werden die Frevler fröhlich springen? 4 Werden übersprudeln, Frechheit reden, sich rühmen alle Übeltuenden? 5 Dein Volk, JHWH, zertreten sie, und dein Erbteil bedrücken sie! 6 Witwe und Fremdling bringen sie um, und Waisen ermorden sie. 7 Und sie sagten: Jah sieht es nicht, und der Gott Jakobs merkt es nicht!
Der Anlass, an JHWH als Gott der Vergeltung zu appellieren, ist hier die Ermordung36 der Schwächsten der Gesellschaft und dazu die selbstherrliche Deklaration der Übeltäter, dass es auch gar keinen Gott gebe, der einschreiten und sie von ihrem Tun abhalten kann. JHWH wird um seines Erbteils, der personae miserae, und um seines Gottseins willen aufgerufen, die böse Tat der Frevler auf sie zurückwenden. Wenn nun Beterinnen und Beter die Vergeltung des erlittenen Unrechts auf diese Weise JHWH anheimstellen – geht dann aber dieser Vergeltungsverzicht nicht zwangsläufig mit einer Aufladung des Gottesbildes durch hochproblematische Rache- bzw. Strafvorstellungen einher? So mag man einwenden; allerdings wird Rache, insbesondere Gottes Rache, sehr viel häufiger gewünscht und erhofft, als von ihrem Vollzug gesprochen wird.37 Gerade in den Psalmen38 werden ‚lediglich‘ Rachewünsche geäu(HThK), Freiburg i. Br. / Basel / Wien 2000, 600–658 [Hossfeld] (Lit.). 36 Damit muss nicht nur der direkte Mord, damit kann auch indirekte Tötung – etwa durch Maßnahmen existenzbedrohender struktureller Gewalt – gemeint sein. 37 Vgl. bereits Dietrich Rache, 123.129; vgl. dort auch zu den jeweiligen Belegen. 38 Die ‚klassischen‘ sogenannten Rache– oder Fluchpsalmen (außer Ps 58 v.a. 83 und 109, in denen dann nqm nicht vorkommt)
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ßert. Anstoß erregt dabei aber, wie affektgeladen und wie blutig Vorstellungen von Retribution zuweilen sind.39 Wenn die Kritik hieran aus einer Situation sozialer Sicherheit geäußert und dabei ausgeblendet wird, dass diese Texte aus der Perspektive ernsthaft angefeindeter und existentiell bedrohter Menschen geschrieben sind,40 oder wenn sie sichtbar mit einer Doppelmoral verbunden ist, ist sie unglaubwürdig und braucht insofern nicht ernstgenommen zu werden. Davon abgesehen ist aber tatsächlich ein in mehrfacher Hinsicht behutsamer Umgang mit diesen Texten erforderlich. Dass sie für unsere Auffassung Rachewünsche ungewöhnlich plastisch und ungehemmt zum Ausdruck bringen, kann in psychologischer wie in ethischer Hinsicht eine gefährliche Schwäche, aber genauso eine sehr produktive Stärke bedeuten: Eine gefährliche Schwäche, sofern die Darstellung von Aggressionen auch zu weiterem Aggressionsaufbau führen kann;41 das gilt es, werfen z.T. noch einmal anders gelagerte Fragen auf, für die v.a. auf Zenger, Gott der Rache, 75–120 verwiesen sei. 39 Allen voran Ps 58,11b. Dass es bei der Bitte V.7–10 tatsächlich um die Rettung der Opfer vor „verbrecherischer Brutalität“ ( Zenger, Gott der Rache, 93) und insgesamt – gerade auch in V.11a – um die Wiederherstellung der Rechtsordnung (aaO. 94) geht – das alles beseitigt nicht das Problem, dass man die mit Freude verbundenen Wunschvorstellungen des Beters von V.11b nach wie vor als unfassbar brutal, in hohem Maße problematisch und gefährlich einschätzen muss. 40 Treffend I. Baldermann: „Die kategorische Forderung der Friedlichkeit wird immer gern von denen vorgetragen, denen es gut geht; und unversehens wird die Norm der Friedlichkeit zu einer Waffe gegen diejenigen, die ihre Stimmen erheben müssen, wenn sie zu Recht kommen wollen. Begünstigt aber werden alle die, die nicht nur vom Leiden verschont, sondern auch zum Mit–Leiden nicht fähig oder nicht willens sind“; Einführung in die Bibel, Göttingen 3 1988, 90f. Hierzu und zum (schiefen) Verhältnis zwischen der Verurteilung des Alten Testaments im Namen christlicher Liebesforderung auf der einen und dem christlichen Umgang mit dem Judentum in der Kirchengeschichte auf der anderen Seite s. Zenger, Gott der Rache, 56ff, v.a. 61f. 41 Dass durch Beobachtung aggressives Verhalten erlernt werden kann, wird v.a. von der Theorie des Social Learning hervorgehoben (vgl. H.J. Fraas, Art. Aggression, RGG4 1 (1998) 183–184; 184);
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auch in der Linie des Vergeltungsverzichts, zu vermeiden. Vielmehr ist auf ihre produktive Stärke zu setzen, insofern die Unterdrückung von Aggressionen bekanntlich zu großen u.a. seelischen Problemen führen kann. Diese Texte im biblischen Kanon können dann bei der Einsicht helfen, dass der Ausdruck42 von Aggression in Unterdrückungserfahrungen auch vor Gott richtig sein kann. Das dem Beten solcher Psalmen ermöglicht also auch, sich seine Rachewünsche einzugestehen und zum Ausdruck zu bringen. Wenn dabei zugunsten Gottes auf Vergeltung verzichtet wird, so ist dessen Vergeltung auch nicht unbedingt nach den eigenen Vorstellungen und Wünschen zu erwarten. Alttestamentliche Texte sprechen vielfach die Erfahrung aus, dass Gottes Gericht anders, nämlich barmherziger aussieht als erwartet.43 Festzuhalten ist, dass bei nqm kaum von ‚Rache‘ im gängigen Sinne, sondern in verschiedener Hinsicht44 von Vergeltung oder Strafe zu sprechen ist. Prävention oder Konfliktvermeidung kommt bei nqm allerdings kaum in den Blick, zumal meist von geschehenem Unrecht ausgegangen wird. Wenn daher bei nqm der Blick mehr auf eine „iustitia retributiva“45 gerichtet zu sein scheint, so zielen die gewünschten oder geschilderten Maßnahmen JHWHs jedenfalls auch auf (Wieder-)Herstellung einer gerechten Ordnung – und eben nicht auf private Retribution.
auch für den Umgang mit der Darstellung von Gewalt in der Bibel ist das Problem im Blick zu behalten. 42 Die wirkliche Schädigungsabsicht ist für Aggressionen nicht konstitutiv, vielmehr man kann expressiv-affektiv bedingte und feindseligdestruktive Aggressionen unterscheiden, vgl. Fraas, Aggression, 183. Ein Verständnis und vor allem ein Gebrauch der Rachewünsche im expressiv–affektiven Sinne liegt bei den Feindpsalmen nahe. 43 Man denke an die ‚Bewältigung‘ der Erfahrung von JHWHs übergroßer Barmherzigkeit in Jona 3-4 u.a. 44 Man kann mit Peels verschiedene Funktionen im Gebrauch von nqm unterscheiden, er spricht von ‚juridischer, retributiver, befreiender, emotionale, feindseliger Rache‘, vgl. Vengeance, 266. 45 Peels, Vengeance, 267.
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2 „... so sollst du geben Leben für Leben“. Das ius talionis als Vergeltungsstrafe? Was für das Wortfeld ‚Rache‘ als Übersetzung von nqm im Alten Testament gilt, ist ähnlich für das Wortfeld ‚Strafe‘ und ‚strafen‘ zu konstatieren: Die gängigen Übersetzungen geben hier einmal mehr, mal weniger verzerrendes Bild wieder. Reiterer zeigt in seiner sorgfältigen Studie, dass ‚Strafe‘ und ‚strafen‘ im Alten Testament in der Einheitsübersetzung46 207 mal, in der Elberfelder Übersetzung 58 mal und in der revidierten Lutherübersetzung nur 39 mal vorkommen.47 Konsultiert man das neueste und philologisch zuverlässigste bibelhebräische Wörterbuch, das HAL, so wird ‚strafen‘ lediglich für ykḥ hi. angegeben, ‚Strafe‘ findet man lediglich unter ‘awôn.48 Dass die gängigen deutschen Bibelübersetzungen weit mehr hebräische Lexeme mit ‚strafen‘ / ‚Strafe‘ übersetzen, macht diesen verblüffenden, im Effekt aber fatalen Befund erklärlich. Man kann mit Reiterer zu dem Schluss kommen: „Der faktisch exzessive Gebrauch von strafen/Strafe verrät mehr vom geistesgeschichtlichen Kontext und den Lebensüberzeugungen der Übersetzer als von der Philologie ... Sowohl vom philologischen wie vom pastoralen Standpunkt aus wird man künftigen Übersetzern und Verfassern von Lexika raten, strafen/Strafe nur dort zu verwenden, wo man es begründen kann: und das ist sehr selten der Fall.“ 49
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Ohne die über den Kanon des MT hinausgehenden Bücher. F.V. Reiterer, Strafe in der Bibel – Erfindung der Übersetzer? Beobachtungen zum interpretatorischen Charakter von Übersetzungen, in: Gottes Wege suchend. Beiträge zum Verständnis der Bibel und ihrer Botschaft, FS R. Mosis, hg. v. F. Sedlmeier, Würzburg 2003, 467– 496; 478f. 48 Man könnte ‚Strafgericht‘ bei den Einträgen tôkeḥāh, mišpaṭ und šæpæṭ Strafgericht hinzufügen, ferner die mit ‚züchtigen‘ bzw. ‚Züchtigung‘ zu verstehenden Lexeme ysr bzw. mûsar und tôkeḥah hinzuzählen, vgl. Reiterer, Strafe, 489f. 49 Reiterer, Strafe, 496. 47
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Es ist also bereits philologisch schwer abzugrenzen, wo im Alten Testament genau von Strafe die Rede ist. Inwiefern Strafe dort jeweils im Sinne der absoluten, der relativen oder anderer Straftheorien in den Blick kommt, kann an dieser Stelle nicht abgehandelt werden,50 zumal eher selten explizit über den Sinn von Sanktionen reflektiert wird, aber implizit in sehr vielen Texten Begründungsmuster erkennbar werden. 51 Im Folgenden soll die Frage auf das anscheinend der absoluten Straftheorie nahe stehende und meist mit der Begründung der Todesstrafe in Verbindung gebrachte ius talionis zugespitzt werden. Die Talionsformel, die lediglich an drei Stellen des Alten Testaments vorkommt, ist keine Besonderheit des alten Israel, sondern in den meisten Kulturen des Alten Orients und der Antike verbreitet, namentlich in Ägypten, Mesopotamien, Persien, Griechenland und nicht zuletzt im Römischen Reich, wo auch die Bezeichnung talio für die „Wiedervergeltung eines empfangenen Schadens am Körper“ im Zwölftafelgesetz zum ersten Mal belegt ist.52 Wenn die genuin juridische Talionsformel, die als Recht Schaden durch anerkannte Verfahren regulieren und insofern Selbstjustiz verhindern soll, nun allerdings oft – wie bereits in Mt 5,38f – als ethische Verhaltensregel missverstanden wird, so ist es kein Wunder, dass sie sich in diesem Sinne als unrechtmäßige Privatjustiz ausnimmt, und 50
So wäre es gewiss von Interesse und von Bedeutung, dem Sinn von Strafe in der Erziehung bzw. im familiären Bereich im alten Israel einzugehen, doch muss dies hier außen vor bleiben. 51 Zur Strafe im AT insgesamt vgl. v.a. R.–P. Knierim, Zum alttestamentlichen Verständnis von Strafe, in: Vielseitigkeit des Alten Testaments (FS G. Sauer, hg.v. A. Loader / H.V. Kieweler) (Wiener alttestamentliche Studien 1); Frankfurt a.M/ Wien 1999, 103–120. Allerdings befasst sich Knierim weniger mit der Sinngebung von Strafe als den juristischen Formen von Strafe im AT. 52 Vgl. H.-W. Jüngling, „Auge für Auge, Zahn für Zahn“. Bemerkungen zu Sinn und Geltung der alttestamentlichen Talionsformeln, ThPh 59 (1984) 1–38, 2–4; Broer, Ius Talionis, 1. Vgl. zur Talion im Mittelalter und der frühen Neuzeit in Europa W. Ogris, Art. Talion. Rechtsgeschichtlich, RGG4 8 (2005) 22–23f.
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dann in scheinbarem Gegensatz zu Weisungen des Vergeltungsverzichts53 zu stehen kommt, wie Prov 24,29 sie bietet: Sprich nicht: „Wie einer mir tut, so will ich ihm auch tun, ich will jedem zurückgeben entsprechend seinem Tun.“
Dieses Ethos des Vergeltungsverzichts steht mit dem Talionsrecht also durchaus im Einklang. Und so wurde das ius talionis in der früheren Forschung auch als Einschränkung von unbegrenzter Rache54 durch das Recht gedeutet, meist allerdings zugleich55 für eine primitivere, im Laufe der Rechtsentwicklung zunehmend überwundene Vorschrift gehalten. Mit der sukzessiven Publikation der frühen mesopotamischen Rechtsammlungen, wie vor allem des Kodex des Königs Ur-Nammu von Ur (2111-2094 v.Chr.), des Kodex Ešnunna (20.-19.Jh. v.Chr.) und des Kodex Hammurapi (1792-1750 v.Chr.) wurde jedoch deutlich, dass eine solche Entwicklungslogik nicht aufrechtzuerhalten ist. Denn während in den älteren Dokumenten Körperverletzungen mit der Zahlung von Geldbeträgen geahndet wird, sind für sie erst im Kodex Hammurapi talio-Bestimmungen vorgesehen – allerdings nur bei Schädigungen der sozial höchsten Gruppe der freien Bürger (altbabylonisch: awīlū). Die entscheidenden Formulierungen des Ersatzleistungsrechts bei Körperverletzungen lauten im Kodex Hammurapi: § 196 Wenn ein Bürger ein Auge eines (anderen) Bürgers zerstört, so soll man ihm ein Auge zerstören. 53
Zu Lev 19,18 vgl. bereits o. Vgl. H.-J. Boecker, Recht und Gesetz im Alten Testament und im Alten Orient, Neukirchen-Vluyn 1976 (NStB 10), 149–153. 55 Die Forschungslage bis in die neuere Diskussion ist ausführlich dargestellt bei R. Martin-Achard, Récents travaux sur la loi du talion selon l‘Ancien Testament, RHPhR 69 (1989) 173–188; 173ff; L. Schwienhorst-Schönberger, Das Bundesbuch. (Ex 20,22–23,33) (BZAW 188), Berlin u.a. 1990, 79ff; E. Otto, Zur Geschichte der Talion im Alten Orient und in Israel, in: Ernten was man sät. FS für Klaus Koch, Neukirchen 1991, 101–130, 102ff. 54
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Vergeltung als Strafprinzip des Alten Testaments? § 197 Wenn er einen Knochen eines Bürgers bricht, so soll man ihm einen Knochen brechen. § 198 Wenn er ein Auge eines Palasthörigen zerstört oder den Knochen eines Palasthörigen bricht, zahlt er eine Mine Silber. § 199 Wenn er ein Auge eines Sklaven eines Bürgers zerstört oder einen Knochen eines Sklaven eines Bürgers bricht, so soll er die Hälfte seines Kaufpreises zahlen. § 200 Wenn ein Bürger einem ihm ebenbürtigen Bürger den Zahn ausschlägt, so soll man ihm seinen Zahn ausschlagen. § 201 Wenn er einem Palasthörigen einen Zahn eines ausschlägt, so soll er ein Drittel Mine Silber zahlen.56
Es liegt nahe, dass die talionischen Sanktionen hier als Generalprävention zum Schutz der führenden Gesellschaftsschicht der ‚Bürger‘ (awīlū) eingeführt sind.57 Auch in Israel tauchen Talionsformeln zum ersten Mal im Zusammenhang des Haftungsrechts des Bundesbuchs58 (Ex 21,18-22,16) unter den Haftungen für Körperverletzungen (Ex 21,18-32) auf, nämlich in Ex 21,22-25. Die Passage lautet: 22 Wenn Männer sich prügeln und eine schwangere Frau stoßen, so dass ihre Kinder59 abgehen, aber kein Unglücksfall passiert, so soll ihm auf jeden Fall eine Zahlung auferlegt werden, entsprechend dem, was ihm der Eheherr der Frau auferlegt, und er soll es um der Fehlgeburt willen60 geben. 23 Falls aber ein Unglücksfall entsteht, so sollst du geben Leben für61 Leben, 56
TUAT I/1, 68 (Übersetzung R. Borger); vgl. auch Otto, Talion, 112–115; Jüngling, Auge für Auge, 8; vgl. bei Otto und Jüngling auch die vergleichbaren Passagen in Kodex Ešnunna und dort auch zur weiteren Diskussion der jeweiligen Texte. 57 So Otto, Geschichte der Talion, 115–117; vgl. Jüngling, Auge um Auge, 9f. 58 Ob der K¸ trotz seines hohen Alters – etwa aufgrund von dessen weiter Verbreitung und hohem Ansehen – direkten Einfluss auf das Bundesbuch hatte, wird nicht man mehr recht feststellen können. 59 yeladæha ist als Abstraktplural zu deuten, vgl. SchwienhorstSchönberger, Bundesbuch, 97 mit HAL u.a. 60 Vgl. zu dieser Deutung Houtman, Bundesbuch, 157–159. 61 taḥat bedeutet (‚unter‘ ‚oder) ‚anstelle von‘ bzw. ‚für‘ und nicht ‚um‘, vgl. HAL s.v. und hierzu die Konkordanz, vgl also etwa Gen 2,21 (Fleisch an Stelle einer Rippe); Gen 4,25 (Seth anstelle von
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24 Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, 25 Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme.
Beim wörtlichen Verständnis62 ergeben sich hier deutliche Spannungen von V.23/V.24-25 zum Kontext, da vor allem in Ex 21,18f22.26f Körperverletzung lediglich mit Sanktionen belegt werden, die einem genuinen Vergeltungsdenken geradezu entgegenstehen, indem sie nämlich ausschließlich den Geschädigten in Form von Geldzahlung (21,18f.22) oder bei Sklaven als deren Freilassung (21,26f) zugutekommen.63 Literargeschichtliche Lösungen dieser Spannung bieten u.a.64 E. Otto, der die Talion als von diesem Kontext immer schon überwundenes Relikt ansieht,65 und F. Crüsemann, der in V.24f eine spätere Ergänzung sieht,66 die insofern einen sozialen Fortschritt gegenüber Ersatzleistungen darstelle, als jene für die Reichen zu leicht, für die Verschuldeten hingegen kaum ableistbar gewesen seien.67 Da eine Orientierung der Ersatzleistungen an den Besitzverhältnissen aber das gleiche Abel); Gen 22,13 (ein Widder anstelle des Erstgeborenen) etc. 62 Vgl. auch D. Daube, Studies in Biblical Law, 1947, 107ff. 63 Osumi etwa bezieht V.24f auf V.26f (Freilassung des geschädigten Sklaven) und gelangt daher zur Deutung als Prinzip der Ersatzleistung (Y. Osumi, Die Kompositionsgeschichte des Bundesbuches Exodus 22,22b – 23,33 (OBO 105), Fribourg u.a. 1991, 118). Allerdings spricht die Gleichartigkeit von V.23b und V.24f deutlich gegen diese Zuordnung von V.24f zu V.26f. 64 Vgl. zu vielen anderen Varianten Martin-Achard, Récent Travaux, 175ff. 65 Geschichte der Talion, 117ff. Man fragt sich dann aber, wozu sie dann überhaupt noch überliefert und nicht von der Redaktion gestrichen wurde, vgl. Graupner, Vergeltung, 468. 66 F. Crüsemann, „Auge um Auge ...“ (Ex 21,24f). Zum sozialgeschichtlichen Sinn des Taliongesetzes im Bundesbuch, Ev. Th. 47 (1987) 411–426; 414f. Dafür muss er u.a. das umstrittene ᾿asôn auf den Unglücksfall mit Todesfolge einschränken. 67 AaO. 423–426; im Anschluss an A.S. Diamond, Primitive Law, Past and Present, London 1971, 97ff; J.J. Finkelstein, Ammiṣaduqa‘s Edikt and the Babylonian Law Codes, JCS 15 (1961) 91–104 u.a.; vgl. hierzu allerdings Jüngling, Auge um Auge, 10–14.
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Ziel besser erreicht hätte, ist nicht recht einzusehen, dass durch eine solche Radikalisierung der Maßnahmen gegen Reiche und Arme hier wirklich das erreicht wird, was Crüsemann zudem als „bessere Gerechtigkeit“68 (!) bezeichnet. Die erbarmensrechtlichen Intentionen des größten Teils des Bundesbuchs zum Schutz der Schwachen würden durch die Grausamkeit der Strafe jedenfalls unglaubwürdig. Vermutlich sind die kleinen Unebenheiten wie der Übergang in die 2.ps.Sg.69 durch redaktionelle Verarbeitung verschiedener Stoffe entstanden, doch kann der Abschnitt Ex 21,22-25 durchaus der gleichen literarischen Ebene im Sinne derselben Komposition zugeordnet werden. Nun ist allerdings auch unter formgeschichtlichem Gesichtspunkt auffällig, dass Ex 21,23b und vor allem V.24f sich nicht nur von den kasuistischen Bestimmungen des unmittelbaren Kontextes, sondern auch von den kasuistischen Parallelen aus KH u.a.70 deutlich abhebt. Denn während V.18f.20.26f sehr konkretes kasuistisches Recht enthält und vor allem V.22 noch transparent für den Präzedenzfall (Fehl- oder Frühgeburt einer schwangeren Frau) erscheint, aus dem der kasuistische Satz hervorgegangen sein mag,71 so ist die Rechtsfolge V.23b für den in V.23a undeutlich formulierten Fall, dass infolge eines solchen Handgemen-
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AaO. 426. Zu den Deutungsmöglichkeiten vgl. C. Houtman, Das Bundesbuch. Ein Kommentar (Documenta et monumenta orientis antiqui 24), Leiden 1997, 156. Graupner bemerkt, dass sich die 2.ps.Sg direkt an denjenigen richtet, der Ersatz für den Schaden zu leisten hat, was beim sog. wörtlichen Verständnis auf erzwungene Selbstschädigungshandlungen hinausliefe (Vergeltung, 469), vgl. bereits Schwienhorst-Schönberger, Bundesbuch, 79ff. 70 Auch von dem bei Crüsemann, Auge um Auge, 419f angeführten Gesetz des Zaleukos. 71 Die Diskussion, ob es sich um Fehl- oder Frühgeburt, bleibende Schäden wie Unfruchtbarkeit u.a. handelt, ist nahezu uferlos, vgl. die ausführliche Darstellung der Forschungslage bei Houtman, Bundesbuch, 154ff (Lit.); sie, trägt aber vergleichsweise wenig für die Talionsformeln V.23b–25 aus. 69
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ges ein ᾿asôn (‚Unglücksfall‘)72 geschieht, überhaupt nicht klar. Dass es sich in V.23b wie bei manchen der beigebrachten mesopotamischen und hethitischen Parallelen73 um eine Todessanktion handelt,74 wird oft ohne Begründung vorausgesetzt. Dies ist aber kaum vorstellbar, da unvorsätzliche oder gar unabsichtliche75 Körperverletzung mit Todesfolge – was hier im höchsten Fall76 gemeint sein kann – weder in den altorientalischen Vergleichstexten noch im Alten Testament mit dieser Rechtsfolge belegt wird.77 72
Vgl. zur Diskussion des umstrittenen Begriffs Martin-Achard, Récent Travaux, 175ff; Jüngling, Auge für Auge, 25f; Schwienhorst-Schönberger, Bundesbuch, 89–94 u.a. 73 Es handelt sich bei den allesamt kasuistischen Parallelen v.a. um Kodex Lipit Eštar Kol. III,2-4; K¸ § 209f; Mittelassyrische Gesetze (= MAG) A §50, vgl. Jüngling, Auge für Auge, 27–29. Bei all diesen Parallelen ist eine Todessanktion nur vorgesehen, wenn der Körperverletzung Vorsatz oder zumindest Absicht unter stellt werden kann. 74 Vgl. Otto, Talion, 119ff; A. Schenker, Versöhnung und Widerstand. Bibeltheologische Untersuchung zum Strafen Gottes und der Menschen, besonders im Lichte von Exodus 21-22 (SBS 139), Stuttgart 1990; Osumi, Kompositionsgeschichte, 116f. 75 Die Bemühungen, in den V.22f geschilderten Fall eine absichtliche Verletzung der Frau (vgl. u.a. Schenker, Versöhnung, 42ff) oder auch Totschlag hineinzuinterpretieren (Houtman, Bundesbuch, 160f) können einfach nicht am Text festgemacht werden; vgl. hierzu auch u.a. B.S. Jackson, The Problem of Exodus 21:22-25 (Ius Talionis), in: ders., Essays in Jewish and Comparative Legal History (SJLA 10), Leiden 1975, 75–107; hier: 86–92. 76 Dass ᾿asôn einen tödlichen Unglücksfall bedeuten kann, aber nicht muss, macht es noch unwahrscheinlicher, dass næpæš taḥat næpæš im Sinne der Todessanktion gedeutet werden kann. Denn V.24f können auch nicht als Bestimmungen für die nicht tödlich ausgehenden Fälle von ᾿asôn angesehen werden, da V.24f (Erwähnung von Brandmalen etc.) sichtbar wenig mit dem V.22.23a geschilderten Fall zu tun haben; vgl. u.a. Jackson, Problem, 76–78: 86–92. 77 Weder fahrlässige Tötung noch Totschlag, sondern lediglich Mord wird im AT mit der Todessanktion belegt; in Ex 21,20 geht es um eine absichtliche oder gar vorsätzliche Körperverletzung mit Todesfolge; Ex 21,29f ermöglicht die Auslösung durch Geld-
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Nur selten wird der Tatsache Rechnung getragen, dass es sich bei V.23b gar nicht um kasuistisches Talionsrecht mit einer klaren Apodosis handelt; zudem ist den näheren Formulierungsparallelen bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden: So bezeichnet ntn in den Rechtsfolgebestimmungen des Bundesbuchs stets Ersatzleistungen,78 und mit der Wendung wenatatta(h) werden in den Gesetzeskorpora79 fast nur Bestimmungen über das Zahlen von Geld bzw. Abgaben eingeleitet.80 Vor allem bezieht sich die Formulierung ‚geben anstelle von / für‘ (ntn + taḥat) in den überwiegenden Fällen81 auf den Vorgang der Auslösung (Leviten anstelle der Erstgeborenen: Num 8,16; andere Völker als Lösegeld für Israel: Jes 43,3f), oder der Gabe von Geld für einen hohen Wert (Gold für Weisheit: Hi 28,15).82 Um nun die tatsächliche Bedeutung und die Herkunft dieser nominalen Formel zu bestimmen, ist vielmehr nach wirklich engen Formulierungsparallelen zu suchen. Ähnliche Formeln begegnen zwei weitere Male im Zusammenhang der Haftung eines Menschen für einen zahlung im Sinne des Ersatzrechts; vgl. hierzu J. Weingreen, The Concepts of Retaliation and Compensation in Biblical Law, Proceedings of the Royal Irish Academy Vol. 76, 1–11. 78 L. Schwienhorst-Schönberger, Das Bundesbuch (Ex 20,2223,33) (BZAW 188), Berlin u.a. 1990, 101. Das entspricht dem technischen Gebrauch von akk. nadānu(m) für Geldleistungen in juristischen Texten, vgl. Jüngling, Auge für Auge, 18f mit Anm. 56. 79 Sofern es nicht um die zahllosen Installationen verschiedenster Art etwa beim Heiligtumsbau geht. 80 Vgl. Ex 30,16; Num 3,48; 31,28.30, Dtn 14,24f (Geld als Ersatz für das Opfertier aus den eigenen Beständen); 26,12. 81 In den anderen Fällen geht es um die Einsetzung eines Nachfolgers (Jer 29,26; 1 Kön 2,35), oder es wird unspezifisch gebraucht (Jes 61,3; Ez 4,15). 82 Bereits die Belege von taḥat ‚anstelle von‘ (vgl. HAL s.v.) weisen auf die Dimension der Entschädigung (Gen 4,25; 30,15; 1 Sam 2,10; ferner Gen 2,21), der Sukzession (vgl. Lev 16,32; 2 Sam 17,25; Ps 45,17; 2 Chr 21,1), der Auslösung: Gen 22,13; Jes 43,3f und des Tauschs (Gen 44,4; Ps 38,21 ‚Bezahlung‘ von Gutem mit Bösem) hin;
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anderen. In 1 Kön 20,35-43 legt ein namenloser verkleideter Prophet König Ahab den Fall vor, er sei selbst zum Wächter über einen Gefangenen bestellt worden; im Falle seines Entweichens müsse er selbst an die Stelle des Gefangenen treten oder sich mit dem hohen Preis eines Talents Silber freikaufen: „Sollte er vermisst werden, dann soll gelten: dein Leben / deine Person für sein Leben / seine Person (napšekā taḥat napšô), oder du sollst ein Talent Silber darwiegen.“ Genau dieser Fall sei eingetreten, und entsprechend fällt auch König Ahabs Urteil aus. Erst indem der Prophet seine Verkleidung ablegt, enthüllt er, dass hier Ahab selbst gemeint war: Weil er kurz zuvor den unter dem Bann stehenden Ben Hadad entlassen hat, soll er selbst für ihn einstehen. Anders als Crüsemann meint,83 bedeutet die Formel also nicht, dass derjenige mit seinem Leben zu bezahlen habe, sondern, dass er mit seiner Person an die Stelle des anderen treten müsse: Ihn trifft das gleiche Schicksal wie den, für den er einsteht, sei es Gefangenschaft, sei es Bann. Und nur wenn der andere unter Todesstrafe steht, müsste er dessen Los übernehmen. Ähnlich verpflichtet Jehu in 2 Kön 10,24 seine Wächter, für die Gefangenen zu haften: „Wer einen von den Männern, die ich euch ausliefere, entkommen läßt, der haftet mit seinem Leben / seiner Person für ihn!“ (napšô taḥat napšô). Diese im narrativen Zusammenhang formulierten Regelungen sind allerdings für unsere Stelle weniger aufschlussreich als die geprägten Formeln in Rechtstexten. Im rechtlichen Kontext begegnen der Talionsformal ähnelnde nominale Formulierungen zunächst im altorientalischen Vergleich den von Jüngling84 beigebrachten – allerdings nirgends elliptisch und vergleichbar undeutlich verwendeten – (riābum85/ nadānum86) x kīma x-Formeln
83 84 85 86
Crüsemann, Auge um Auge, 414ff. Auge für Auge, 17–19. D.h. ‚ersetzen‘. D.h. geben'.
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im mesopotamischen Ersatzrecht.87 Nach § 231 des Kodex Hammurapi soll der Verantwortliche beim Tod eines Sklaven für Sklaven geben: Sklaven für Sklaven soll er geben wardam [ÌR] ki-ma wardim [ÌR] ... [È]i-na-ad-di-in
Ebenfalls im ersatzrechtlichen Zusammenhang steht K¸ § 245: Rind um Rind soll er ersetzen alpam [GU4] ki-ma alpim [GU4] i-ri-ab
In der punischen Inschrift CIL VIII 4468 steht die Formel ‚Leben für Leben‘ für den Vorgang der Auslösung eines Erstlingsopfers: Seele für Seele, Blut für Blut, Leben für Leben ... anima p[ro] anima, san(guine) pro san(guine), vita pro vita ...
Auch hier steht die Formel im weiteren Zusammenhang eines Tauschs. Sucht man im Alten Testament selbst nach wirklich engen Formulierungsanalogien, so findet man eine ähnliche Formel in Hi 2,4: Haut für Haut! (‛ôr be‛ad ‛ôr) Alles, was der Mensch hat, gibt er für sein Leben.
Auch hier ist an einen Tausch, an die Möglichkeit der Auslösung gedacht. Im ersatzrechtlichen Zusammenhang steht sie in Ex 21,36 (vgl. V.37): 87
Für den Fall, in dem Jüngling die Formel im Zusammenhang von ‚Talion‘ / Vergeltung sieht, handelt es sich um eine andere Gattung (Vasallenvertrag Assarhaddons: ANET 537), und bei dem als ‚talionsähnliche Strafe‘ klassifizierten Fall (MAG a § 52) wird nicht derselbe Schaden zugefügt (Schläge und Schadenersatz im Fall einer Fehlgeburt); vgl. Jüngling, Auge für Auge, 18; insofern kann das Ergebnis eindeutiger formuliert werden, als Jüngling es tut.
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Rind für Rind soll er [erstatten] (ješallem šôr taḥat šôr)
Die einzige Stelle schließlich, wo dieselbe Formel næpæš taḥat næpæš wie in Ex 21,23 im Rechtskontext verwendet wird,88 bezieht sich auf die Erstattung (šlm pi.) eines totgeschlagenen Stückes Vieh, nämlich Lev 24,1989. Die Formel begegnet also ausschließlich im Kontext der Auslösung, eines Tauschs oder des Ersatzrechts. Auch die im weiteren Verlauf folgende Reihe von sog. ‚Talionsformeln‘ V.24f hat formgeschichtlich mit kasuistischen Einzelbestimmungen ebenfalls nicht mehr viel zu tun und geht inhaltlich deutlich über den V.22.23a geschilderten Fall hinaus. Spätestens mit V.24f wird in ein anderes genus übergegangen.90 Indem hier keine einzelnen judikablen Bestimmungen, sondern nominale Formeln als Prinzipien des Ersatzrechts für Körperverletzungen aneinandergereiht werden, sollen alle denkbaren vergleichbaren Haftungsfälle unter den Grundsatz gleichwertiger Erstattung gebracht werden. Und das ist auch sinnvoll, da hier über den sehr spezifischen Fall Ex 21,22f hinaus noch eine lange Reihe weiterer kasuistischer Rechtssätze für ähnliche Fälle aufgeführt werden müssten, um – wie es im Keilschriftrecht gewöhnlich durch eine weit größere Vollständigkeit geschieht – eine plausible Rechtspraxis zu gewährleisten. Das heißt aber: V.23-25 selbst – und nicht erst die rabbinische Interpretation des Textes – hat Ersatzleistungen im Blick und formuliert ein Strafzumessungs88
Die vergleichbare Wendung napšāte umalla (‚man soll das Leben ersetzen‘) ist in MAG A §50 auf den Fall der Fehlgeburt bezogen und ist dort ebenfalls von der Todessanktion unterschieden, vgl. bereits den instruktiven Beitrag von R. Westbrook, Lex talionis and Exodus 21,22–25, RB 93 (1986) 52–69, 64ff; Jackson, Problem, 96–98. 89 Lev 24,19, vgl. hierzu u. 90 Dazu braucht man keine andere literargeschichtliche Ebene anzunehmen, sondern kann von einer Komposition ausgehen, die die vorliegende Einzelbestimmung sinnvoll mit der allgemeinen Regel verband.
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prinzip, das auf eine gleichwertige Ersatzleistung, nicht auf einen gleichartigen Schaden zielt.91 Die nächste Erwähnung einer Talionsformel findet man im dtn. Prozessrecht in den Regelungen zur falschen Zeugenaussage Dtn 19,16-21: 16 Wenn sich ein falscher Zeuge gegen jemanden erhebt, um eine Falschaussage zu machen, 17 dann sollen die beiden Männer, die den Rechtsstreit haben, vor JHWH treten, vor die Priester und die Richter, die in jenen Tagen da sein werden, 18 und die Richter sollen genau nachforschen, und es stellt sich heraus: Der Zeuge ist ein Lügenzeuge – lügnerisch hat er gegen seinen Bruder ausgesagt – , 19 dann sollt ihr ihm tun, wie er seinem Bruder zu tun plante. Und du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen. 20 Und die übrigen werden es hören und sich fürchten und werden nicht noch einmal etwas wie diese böse Sache in deiner Mitte tun. 21 Und dein Auge soll kein Mitleid haben: Leben für92 Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß!
Bestimmungen wie Dtn 19,19a, nach der einen falscher Ankläger diejenige Sanktion trifft, die der Beschuldigten nach Plan des Anklägers erlitten hätte, sind auch im Keilschriftrecht93 verbreitet, wo jedoch im unmittelbaren Prozessrecht ein regelrechtes ius talionis94 nicht vorkommt.95 Da der Ankläger als Zeuge auftreten konnte, und die kriminologische Möglichkeiten gering waren, war der Schutz des Rechtswesens vor böswilligen Instrumentalisierungen umso nötiger; die Aufnahme des Falschzeugnisverbots in den Dekalog unterstreicht dies. Bemerkenswert
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Zur Unterscheidung Ogris, Talion, 22. Hier im Unterschied zu Ex 21,23b.24 und Lev 24,17–22 mit Bet pretii. 93 Kodex Lipit Eštar §17 und Kodex Hammurapi § 1–4, ferner Kodex Urnammu §13. 94 Als solches sollte man besser nur die kasuistischen Formulierungen verstehen und von den Talionsformeln unterscheiden 95 Vgl. Jüngling, Auge für Auge, 21f. 92
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ist, dass nach der bi‘arta-Formel96 V.19b in V.20 noch explizit eine präventionstheoretische Begründung dieser Rechtsfolgebestimmung gegeben wird und zur Deutung der Rechtsfolgebestimmung Dtn 19,19a die Talionsformeln eingefügt97 sind. Sie wirken hier aber noch mehr wie ein Zitat und stehen noch weiter außerhalb der Kasuistik. Man wird sie zwar als Einschärfung lesen, für falsche Anklage entsprechend auch bis zur Todessanktion zu gehen. Doch können – da Körperstrafen im israelitischen Recht sonst nicht vorgesehen sind – die Formeln wie ‚Auge für Auge‘ etc. nur im übertragenen Sinne verstanden werden, was auch die ‚Leben für Leben‘-Formel in einen ähnlichen Bezug stellt. An dieser Stelle ist es offensichtlich, dass rechtliche Sanktionen im Sinne einer relativen Straftheorie verhängt (V.20), und dies mit der ‚Talionsformel‘ (V.21) als Prinzip gerechter Strafbemessung98 verbunden werden.99 Damit tritt hier in schöner Deutlichkeit hervor, dass besagte Formel eben nicht dem punitur quia peccatum est, sondern einem punitur qualis peccatum est entspricht.100
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Dtn 13,6; 17,7.12; 19,13; 21,21; 22,21.22.24; 24,7. Vgl. Jüngling, Auge für Auge, 21f; Otto, Geschichte der Talion, 123f u.a. 98 Als Interpretation von Dtn 19,19a nun freilich im Sinne nicht nur der Gleichwertigkeit, sondern der Gleichartigkeit. 99 Vgl. auch Ogris, Talion, 22. 100 Vgl. zum häufigen Denkfehler, dass die Verhängung einer Sanktion allein bereits ‚Vergeltung‘ im Sinne einer absoluten Straftheorie beabsichtigt, etwa F. Horst, Vergeltung II. Im AT, RGG3 6 (1962) 1343–1346, hier: 1345. Entgegen Graupners Argumentation kann aber z.B. die Multiplarstrafe bei Diebstahl (vgl. etwa Ex 21,37–22,3) durchaus über die reine Schadensregulierung hinausgehen, und also durchaus ‚poenale‘ Intentionen haben, und dabei immer noch als negative Generalprävention im Interesse der Gesellschaft verstanden werden, müssen also durchaus nicht als „strafende Vergeltung“ eingeschätzt werden, vgl. anders A. Graupner, Vergeltung oder Schadensersatz? Erwägungen zur regulativen Idee alttestamentlichen Rechts am Beispiel des ius talionis und der mehrfachen Ersatzleistung im Bundesbuch, EvTh 65 (2005) 459–477; 470ff. 97
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Ein drittes Mal werden Talionsformeln im Abschnitt Lev 24,17-21 erwähnt, der in der narrativen Entfaltung eines Präzedenzfalls zur Gotteslästerung (24,10-16.22f), und dort gerahmt von Bestimmungen zur Lästerung des Gottesnamens V.15b.22101 zu stehen kommt.102 A
Und wenn jemand irgendeinen Menschen erschlägt, der wird sicher getötet werden. (17) B Und wer das Leben eines Tieres erschlägt, soll es erstatten: C Leben für Leben. (18) D Und wenn jemand seinem Volksgesellen einen Fehler zufügt: wie er getan hat, so soll ihm getan werden: (19) C' (E) Bruch für Bruch, Auge für Auge, Zahn für Zahn; D' wie er an dem Menschen einen Fehler verursacht hat, so wird ihm gegeben werden. (20) B' Und wer ein Vieh erschlägt, soll es erstatten; A' wer aber einen Menschen totschlägt, wird getötet werden. (21)
Lev 24,17-22 ist – was den Abschnitt einheitlich erscheinen lässt – sehr kunstvoll komponiert: Konzentrische103 und parallele Strukturen104 sind miteinander kombiniert. 101
Dass auch die Formel kagger ka᾿æzraḥî sowohl in V.15b als auch in V.22 erscheint, ist ein Hinweis auf die Zusammengehörigkeit dieses inkludierenden Rahmens mit V.17–21 (vgl. A. Ruwe, „Heiligkeitsgesetz und „Priesterschrift“. Literaturgeschichtliche und rechtssystematische Untersuchungen zu Leviticus 17,1–26,2 (FAT 26), Tübingen 1999, 331), allerdings findet man in diesem Rahmen nicht die gleiche ausgefeilte Struktur wie im Zentrum. 102 Das ist wahrscheinlich in einem komplexeren literargeschichtlichen Prozess geschehen, der hier jedoch nicht rekonstruiert werden soll. 103 Äußerer Rahmen V.17.21: Todessanktion bei Menschentötung; innerer Rahmen: V.18a.21a Erstattungsregelung bei Tötung von Vieh. 104 Auf die Talionsformel (V.18b.20a; C / C') folgt beidesmal eine 'Entsprechungsformel' (V.19b.20b; D/D'), syntaktisch und semantisch allerdings so, dass C' wiederum im Zentrum von C und C' zu stehen kommt und vorrangiges Gewicht erhält (daher = E).
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Zumindest V.15b-22 wird meist dem ursprünglichen Heiligkeitsgesetz zugeordnet.105 Die Stellung im Rahmen der Bestimmungen zur Gotteslästerung stellt auch die Schädigung des Lebens (næpæš) von Mensch und Tier inhaltlich in den Zusammenhang der Verletzung äußerst heiliger Güter.106 Es ist gut ersichtlich, dass Bestimmungen des Bundesbuchs u.a. aus Ex 21,23b-25 hier Aufnahme finden, doch wird die Reihe der Talionsformeln so auseinandergerissen, dass die Formel ‚Leben für Leben‘ nicht mehr auf Körperverletzung, sondern auf den Fall der Erstattung (šlm pi.) von Haustieren (V.18) bezogen ist.107 Damit ist dann allerdings auch hier kein fester Bezug von Talionsformel und Todessanktion feststellbar, zumal die übrigen Formeln dann auf Schäden bezogen sind, die die Kultfähigkeit und damit den Gotteskontakt verunmöglichen oder zumindest beeinträchtigen.108 Dass die von den Talionsformeln verhängte Strafe daher lediglich als Ausschluss vom Kult zu deuten sei,109 ist aber wenig wahrscheinlich, so dass ein wörtliches Verständnis hier näher liegt. Andererseits deutet die kompositionelle und konzeptionelle Verdichtung des gesamten Abschnitts darauf hin, dass diese theologiedurchdrungenen Rechtssätze weniger auf 105
Vgl. Ruwe, Heiligkeitsgesetz, 328ff; K. Grünwaldt, Das Heiligkeitsgesetz Leviticus 17–26. Ursprüngliche Gestalt, Tradition und Theologie (BZAW 271), Berlin / New York 1999, 300; anders etwa Otto, der weite Teile des Abschnitts einer „priesterschriftlichen Redaktion“ zuteilt; Geschichte, 125f. 106 Vgl. auch Otto, Geschichte, 126. 107 Grünwaldt übersetzt daher næpæš taḥat næpæš sogar mit „ein Stück für ein Stück Vieh“ (Heiligkeitsgesetz, 305), was allerdings der umfassenden Bedeutung von ‚Leben‘ in priesterlichen Texten nicht gemäß ist. 108 Unter ‚Fehler‘ (mûm) werden in priesterlichen Texten (vgl. Lev 21,17.18.21.23) Gebrechen verstanden, die bei Priestern die Ausübung des Kults (und bei Tieren ihre Darbringung als Opfer, Lev 22,20.21.25; Num 19,2) verunmöglichen. Ob ein solcher ‚Fehler‘ die Kultfähigkeit von ‚Laien‘ beeinträchtigt (so Otto, Geschichte, 127; anders Ruwe, Heiligkeitsgesetz, 332) muss offenbleiben, doch ist Lev 21,18a so interpretierbar, vgl. Grünwaldt, Heiligkeitsgesetz, 307. 109 Grünwaldt, Heiligkeitsgesetz, 307.
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juristische Praxis als auf theoretisch-prinzipielle Aussagen zielen.110 Mit der Frage, inwiefern solche Rechtsbestimmungen auf eine reelle Strafrechtspraxis zielen, sind allerdings grundsätzliche Schwierigkeiten der Rekonstruktion des ‚Sitzes im Leben‘ (v.a. der späteren) der alttestamentlichen Rechtstexte benannt. Th. Hieke etwa hat dies jüngst im Hinblick auf das so genannte Todesrecht (vgl. V.17.21b) bestritten.111 Dessen Sätze, deren Apodosis lautet: môt yûmat – „der wird gewiss getötet werden“ lautet, können tatsächlich als passivum divinum verstanden werden und deklarieren, dass derjenige unentrinnbar dem Tode verfallen sei. Da aber Durchführungsbestimmungen fehlen, da Rechtsinstanzen und ausführende Organe nicht genannt werden, da meist auch keine justiziablen Sachverhalte sondern ethische und vor allem kultische Ordnungen unter diese Sanktion gestellt werden, gehören sie vermutlich nicht zum Strafrecht.112 Daher haben die Todessanktionen nach Hieke vor allem eine ‚paradigmatisch-paränetische‘ Funktion.113 Ob die Tatsache, dass die von einer modernen Strafprozessordnung aus an die biblischen Überlieferungen angelegten Kriterien von ihnen nicht erfüllt werden, allerdings so eindeutig gegen ihren Strafrechtscharakter sprechen, wie Hieke es meint, muss hier offen bleiben. Auch erscheinen lediglich angedrohte Sanktionen ohne ihre Realisierung langfristig unglaubwürdig. Und so verliert diese Art von ‚Paränese‘ der Androhung von Todessanktionen nicht an hermeneutischer Brisanz – und zwar 110
Vgl. zur kompositionellen Verdichtung von Ex 21,12 in Lev 24,17.21b Grünwaldt, Heiligkeitsgesetz, 307; auch Otto sieht in diesem Abschnitt eher „priesterliche Theorie“; Geschichte, 124 111 Th. Hieke, Das Alte Testament und die Todesstrafe, Biblica 85 (2004) 349–374. 112 Nun wird ja durchaus von Steinigungen erzählt, vgl. etwa Lev 24,23; Num 15,36, doch kann man hier Präzedenzfälle mit paränetischer Absicht sehen; vgl. ferner Jos 7,25 (hier wiederum fehlt ein Todesrechtsprozess); 1 Kön 21,13 (für die Auswertung als historische Quelle müsste man jedoch bedenken, dass dieser Justizmord nicht neutral erzählt wird). 113 Hieke, Todesstrafe, 373ff.
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gerade, wenn die Sanktionen „Gottes direkter Supervision und Intervention unterstehen“114. Deutlich ist, dass im Hintergrund der heiligkeitsgesetzlichen Sanktionen für die Schädigung von Leben (næpæš) samt der spezifischen Differenzierung zwischen menschlichem und tierischem Leben in Lev 24,17f.21 das Konzept steht, das in der priesterlichen Urgeschichte im Zusammenhang von Gen 1,26-30 und v.a. Gen 9,6 entfaltet wird: 6 Wer Blut des Menschen vergießt, um des Menschen willen soll sein Blut vergossen werden, denn als Bild Gottes hat er den Menschen gemacht.
Vor allem Gen 9,6a wird meist als eine talionische Strafbestimmung gesehen,115 doch wird man hier etwas präziser formulieren müssen, dass die Formulierung am Strafbemessungsprinzip der Talionsformeln orientiert ist, ohne selbst Talionsrecht zu sein. Das vom Talionsprinzip inspirierte Gestaltungsprinzip des alten Israel, Vergehen und Strafe durch sprachlich-formale Ähnlichkeit zusätzlich zu plausibilisieren, wird in Gen 9,6 durch eine fast unvergleichlich strenge spiegelbildliche Gestaltung auf die Spitze getrieben.116 Gen 9,6, die einzige über das dominium terrae hinausgehende explizite Erwähnung der Imago Dei in der priesterlichen Komposition überhaupt, der allerdings völlig im Schatten von Gen 1,26-28 steht, ist im Blick auf ethische Dimensionen alttestamentlicher Anthropologie durchaus von einiger Brisanz, zumal seine Deutung strittig ist. O.H. Steck hat in einer ausführlichen Untersuchung zu 114
Ebd. Vgl. etwa Ruwe, Heiligkeitsgesetz, 336. 116 Vgl. 1 Kön 21,19; P.D. Miller, Sin and Judgment in the Prophets A Stylistic and Theological Analysis (SBL.MS 27), Chico 1982, v.a. 111ff. Man sollte diese Denkform jedoch nicht mit dem Talionsprinzip oder gar -recht gleichsetzen, und dieses dann in alttestamentliche Erzählungen allenthalben finden wollen, wie das bei Ph. J. Nel, The Talion Principle in Old Testament Narratives, JNWSL 20 (1994) 21–29 geschieht. 115
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begründen versucht, dass be in Gen 9,6a nicht als Bet pretii, sondern als Bet instrumentalis anzusehen, ba᾿adam also ‚durch den Menschen‘ zu übersetzen sei.117 Zu Recht betont er, dass diese Entscheidung nicht allein nach vordergründig grammatikalischen Gesichtspunkten getroffen werden kann. Doch gerade auch in exegetischer Hinsicht bereitet die Stecksche Position erhebliche Schwierigkeiten. Steck setzt die Praxis der Todesstrafe in Israel – die, wie wir sahen, auch angezweifelt werden kann118 – als gegeben voraus; sie bedürfe angesichts der in der priesterlichen Urgeschichte verurteilten Gewalt lediglich einer hinreichenden Legitimation.119 Jedoch kann man Gen 9,6a, auch wenn der Satz juridischer Sprache nachempfunden ist, aus formgeschichtlichen und kontextuellen Gründen noch sehr viel weniger als die motjumat-Sätze der Rechtskorpora als einen auf den Strafvollzug zielenden Rechtssatz verstehen. Vielmehr sind diese Sätze der priesterlichen Urgeschichte fundamentalanthropologische Aussagen. Grammatikalisch weist neben den bereits angeführten Argumenten120 auch 117
O.H. Steck, Der Mensch und die Todesstrafe. Exegetisches zur Übersetzung der Präposition Beth in Gen 9,6a, ThZ 53 (1997) 118– 130. 118 Vgl. hierzu o. 119 Stecks Einwand gegen die Deutung als Bet pretii, dass dabei ungenannt bliebe, durch wen die Strafe vollzogen wird, wirkt durchaus künstlich (so auch der m.E. verfehlte Ausgangspunkt von B.–J. Diebner / H. Schult, Das Problem der Todesstrafe an Tier und Mensch in Genesis 9,5–6, DBAT 6 (1974) 2–5), denn auch das so genannte Todesrecht schweigt ja hierüber fast durchgehend. Dass die Strafe durch Menschen vollzogen wird, versteht sich im Grunde von selbst; vielmehr wäre Stecks Lesart von Gen 9,6aβ inhaltsleer, wenn er nicht die vermeintliche Legitimationsproblematik der Todesstrafe zu Hilfe nähme. 120 Vgl. die hilfreichen Hinweise von Jenni, Lust und Ernst u.a. auf Dtn 19,21 und 2 Sam 3,27; E. Jenni, Die hebräischen Präpositionen. Bd. 1: Die Präposition Beth, Stuttgart, Berlin, Köln, 1992 154 m. Anm. 260; J. Lust, „For Man Shall his Blood be Shed“: Gen 9,6 in Hebrew and in Greek, in: Tradition of the Text, FS D. Barthélémy. hg.v. G.J. Norton / S. Pisano (OBO 109), Fribourg/ Göttingen 1991, 91–102; A. Ernst, „Wer Menschenblut vergießt ...“ Zur
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die Determination von ba᾿adam darauf hin, dass es sich in V.6aβ um den besagten Menschen handelt, und nicht um irgendeinen oder gar irgendwelche Dritte/n. Wie Steck in der Tat richtig herausgearbeitet hat, ist die nachsintflutliche Eingrenzung von Gewalt (ḥamas vgl. Gen 6,11.13) das zentrale Thema von Gen 9,1-5; Gen 9,6 bewegt sich allerdings gerade bei der Deutung im Sinne des Bet pretii in genau dieser Linie, wenn es nämlich durch negative Generalprävention das Leben des Menschen zu tabuisieren sucht. Es liegt also weit mehr in der Sinnrichtung der priesterlichen Urgeschichte, dass die Gottesbildlichkeit nicht der Ermächtigung zur Menschentötung durch Todesstrafe dient, wie Steck meint, sondern dass Menschentötung gerade aufgrund der Ebenbildlichkeit tabuisiert,121 tödliche Gewalt gegen den Menschen durch Gottes Schutz also verhindert werden soll. Das heißt nun im Blick auf den Sinn der angedrohten Todessanktion, dass es auch in Gen 9,6 trotz der formalen Ähnlichkeit von Vergehen und Sanktion nicht um das Prinzip der Vergeltung des Schadens durch die Zufügung des gleichen Schadens, sondern um eine präventionstheoretische Begründung geht. Da andere in der Antike denkbare Strafen wie eben Ersatzleistungen das Problem mit sich brachten, dass menschliches Leben dann nicht mehr als unbezahlbar, sondern als Tauschware zu gelten drohte,122 war ohne die Androhung einer Todessanktion für Mord in antiken Kulturen rechtlicher Schutz des menschlichen Lebens kaum denkbar. Damit ihr aber die Tabuisierung menschlichen Lebens angestrebt wurde, steht die biblizistische Verwendung Übersetzung von b᾿dm in Gen 9,6, ZAW 102 (1990) 252–253. 121 Bereits weil hier keine spezifische juristische Sprache und damit auch kein eigentumsrechtlicher Interpretationsrahmen vorliegt, geht Kugelmass‘ Deutung fehl, mit dem Ebenbild werde Gottes Eigentum angetastet (Lex Talionis, 65f.99f.205ff); der Eigentumsgedanke ist auch sonst in der Imago Dei nicht enthalten. 122 Vgl. zu diesem Problem bei der Einführung eines Blutgeldes in segmentären Gesellschaften Singer, Blutrache, 1654
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alttestamentlicher Texte zur Befürwortung der Todesstrafe123 deren Textsinn nunmehr gerade entgegen.124 Denn in der Gegenwart stehen dem intendierten Schutz des menschlichen Lebens nicht zugleich widerstreitende Sanktionsformen zur Verfügung. Befürworter der Todesstrafe also reden einer unnötig archaischen und unter neuzeitlichen Bedingungen unglaubwürdigen Strafart das Wort, und zwar im Widerspruch u.a. auch zu Gen 9,6. Häufig wurde das Prinzip der Talion aus der Todessanktion für Mord wie in Gen 9,4-6 oder Ex 21,12 hergeleitet, der Bezug auf Körperverletzungen wie in Ex 21,22-25 und Lev 24,17-21 als sekundär angesehen.125 Da Keilschriftrecht und Ex 21,22-25 wie Lev 24,17-21 im ausschließlichen Bezug des ius talionis bzw. der Talionsformeln auf das Haftungsrecht übereinstimmen, liegt ihr ursprünglicher Sitz vielmehr im Ersatzrecht (v.a. bei Körperverletzung). Angesichts dieser rechtssystematischen Übereinstimmungen kann man die alttestamentlichen Talionsformeln nicht als Fortentwicklung aus der Institution der Blutrache,126 aus dem Kult127 oder eben aus dem 123
Vgl. etwa zu W. Künneths Argumentation Schuck, Strafe, 1756f. 124 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von K. Grünwaldt im allgemeinverständlich gehaltenen und zugleich instruktiven Beitrag Auge um Auge, Zahn um Zahn? Das Recht im Alten Testament, Mainz 2002, 59ff. 125 So etwa Ruwe, Heiligkeitsgesetz, 336f; Kugelmass, Lex Talionis, passim; vgl. hierzu jedoch o. Anm. 119 und u. Anm. 127. 126 Lange Zeit prägte Boeckers Deutung die Forschung: „Es geht darum, den durch die Schädigung ausgelösten Blutrachemechanismus auf ein Maß zu begrenzen, das das Überleben der betroffenen Gruppen ermöglicht“; Recht, 152. Diese Erklärung ist auch deshalb problematisch, da nach den festen Regeln der Instit ution der Blutrache bereits nur der Mörder vom ‚Löser des Bluts‘ go᾿el haddam verfolgt und hingerichtet werden darf; zum anderen kann das in diesem Kontext oft angeführte Lamechlied einfach nicht als paradigmatisch für die vom Talionsrecht beendete historische Situation gedeutet werden. 127 So A. Alt, Zur Talionsformel [1934], in: K. Koch (Hg.), Um das Prinzip der Vergeltung in Recht und Religion des Alten Testaments (WdF 125), Darmstadt 1972, 407–411, der sich dabei auch auf die
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Todesrecht verstehen – talionische Formulierungen in diesem Zusammenhang wie etwa Gen 9,6 sind auf die sekundäre Übertragung des talionischen Gleichartigkeitsprinzips zurückzuführen. Die Talionsformeln sind eher im Sinne eines Zumessungsprinzips für Sanktionen128 zu verstehen,129 enthalten damit „aber in sich noch keine Straftheorie“.130 Auch wenn Talionsformeln also zuweilen mit der absoluten Straftheorie kombiniert und fälschlich auch mit ihr identifiziert werden, stehen sie in Dtn 19,1621 sogar explizit in einen präventionstheoretischen Rahmen.131 Zielen die Talionsformeln also nicht im engen Sinne auf Gleichartigkeit, sondern auf Gleichwertigkeit, so sind sie vom Grundsatz des angemessenen Schadenersatzes (vgl. § 249 BGB) sachlich nicht weit entfernt. Die Talionsformel wird dann auch im antiken Judentum (mit Ausnahme Philos) nahezu einhellig im Sinne finanzieller Ersatzleistung ausgelegt.132 Man könnte nun allerdings vermuten, dass die Talionsformel im Neuen Testament bzw. im Urchristentum als für das Alte Testament bzw. das Judentum jener Zeit charakteristisch angesehen oben zitierte punische Inschrift CIL VIII 4468 stützt. Die Inschrift ist aber ein schöner Beleg für die Verbreitung dieser Formel eben nicht als Talionsrecht, sondern für den Vorgang der Auslösung durch einen Ersatz, nämlich der Darbringung eines Lammes an Stelle des Erstgeborenen. 128 Vgl. zur Talion als Strafbemessungsprinzip vgl. bei Kant: „Nur das Wiedervergeltungsrecht (ius talionis) aber, wohl zu verstehen, vor den Schranken des Gerichts, kann die Qualität und Quantität der Strafe bestimmt angeben“; I. Kant, Metaphysik der Sitten, hg. v. K. Vorländer 1922, 159 (Rechtslehre, Allg. Anmerkung E), vgl. dort auch 159ff. 129 Vgl. hierzu auch Grünwaldt, Auge um Auge, 123–130; als „religious principle“ versteht auch H.J. Kugelmass die Talionsformel: Lex Talionis in the Old Testament, Montreal 1985, 206. Seine pauschale Zuschreibung sämtlicher Talionsbelege an späte priesterliche Redaktion (passim) kann freilich nicht überzeugen. 130 W. Wolbert, Die Goldene Regel und das ius talionis, TThZ95 (1986) 169–181; 172. 131 Wolbert, Goldene Regel, 173. 132 Vgl. G. Reeg, Art. Talion, RGG 4 (2005) 20f (dort auch die einschlägigen Stellen).
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und abgelehnt wurde, wie Mt 5,38f es nahe legt. Aber auch das ist nicht der Fall. Paulus (Röm 12,17-20; 1 Thess 5,15) und der Verfasser von 1 Petr (3,9) haben sich bei der Mahnung zum Vergeltungsverzicht im Verständnis der Talionsformel „vom Judentum nicht unterschieden gewußt und die Forderung nach Talioverzicht auch für ihre Umgebung vorausgesetzt“.133 Ebenfalls nicht zu übersehen ist, dass in der 5. Antithese Mt 5,38f das im Gegenüber zur Talionsformel eingeführte Gebot der Feindesliebe gemäß Mt 5,17-20 sehr offensichtlich nicht als Auflösung der alttestamentlichen Tora, sondern im Sinne der besseren Gerechtigkeit (Mt 5,20) verstanden wurde. Die – allerdings kaum wegzudeutende134 – Ablehnung der Talio in der 5. Antithese, die Vergeltung als für das umgebende Judentum charakteristisch darstellt, „sagt ... mehr über das Verhältnis des Mt und seiner Gemeinde zum Judentum aus als über die Praxis der jüdischen Gemeinde, von der sich die Gemeinde des Mt ... getrennt hat.“135 Damit wird dann aber kein Bruch zwischen Altem und Neuem Testament markiert.136 „Die Antithesen des Mt haben danach eher für dessen Gemeinde Identität stiftende und Identität stabilisierende Funktion gegenüber dem Judentum“.137 Für diese Abgrenzungsfunktion wurde diese Antithese dann fast in der gesamten Kirchengeschichte bis heute gerne genutzt – aus zumeist durchaus fragwürdigen Motiven und vor allem mit gravierenden Folgen für das Verhältnis des Christentums zum Judentum, das noch immer sehr von solchen Konkurrenzmotiven belastet ist. Tatsächlich sind die 133
Broer, Ius Talionis, 11. Hier wäre freilich vom Vergeltungsverzicht zu sprechen, da Talio auf Rechtskontexte einzuschränken ist; vgl. o. 134 Der Versuch von M. Rathey (Talion im NT? Zu Mt 5,38–42 ZNW 82 [1991] 264–266), auch die 5. Antithese sei als radikalisierende Erweiterung (der Einschränkung der Rache) des Toragebots zu verstehen, muss doch auf mehrere etwas gewaltsame Deutungen zurückgreifen (vgl. zur Kritik Broer, Ius Talionis, 13 Anm. 49) und kann nicht überzeugen. 135 Broer, Ius Talionis, 20. 136 Vgl. anders Dietrich, Rache, 131. 137 Broer, Ius Talionis, 20.
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Übereinstimmungen bereits zwischen Altem und Neuem Testament, und auch zwischen Urchristentum und seiner frühjüdischen Umwelt in der Ethik des Verzichts auf eigenmächtige Vergeltung138 zugunsten derjenigen Gottes139 sehr viel größer als die Auslegungstradition es vermuten lässt.140 Bei der Rache-Problematik befanden wir uns mit nqm ‚rächen‘ bereits unerwartet weit im Themenbereich eher legitimierter Strafe; im alttestamentlichen Recht kam bei der Talionsformel in Dtn 19,16-21 der Präventionsgedanke von Strafe in den Blick,141 und beides war flankiert von Traditionen des Verzichts auf private Vergeltung. Die Frage aber, ob nicht doch ein Vergeltungsdogma das alttestamentliche Denken durchzieht, ist so lange nicht befriedigend verhandelt, bis wir uns nicht dem sogenannten Tun-Ergehens-Zusammenhang gewidmet haben. 3 „Wer eine Grube gräbt, der fällt hinein.“ – Alttestamentliches ‚Vergeltungsdogma‘ als Ontisierung der Strafe?
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Vgl. im AT v.a. Lev 19,18 (s. bereits o.) Prov 20,22; 24,29; 25,21f. 139 Dass die Ethik des Vergeltungsverzichts in Röm 12,19 mit Dtn 32,35, in Röm 12,20 mit Prov 25,21 auf, und in 1 Petr 3,10 mit Ps 34,13–17 motiviert wird, zeigt vielmehr, dass die Schrift, d.h. das AT, von den ntl. Autoren weiterhin als Weisung gebend für christliches Leben verstanden und gebraucht wurde. 140 Vgl. auch Dietrich, Rache, 132; Peels, Vengeance, 308–312. 141 Angesichts dieses Ergebnisses erhärtet sich, was bereits 1913 J. Weisman in seiner umsichtigen und im Ganzen beeindruckenden Studie vermutete, dass die biblischen Gesetze erst seit Kant vom Vergeltungsprinzip her, zuvor dagegen meist präventionstheoretisch gedeutet wurden (vgl. etwa 1777 J. D. Michaelis), s. J. Weisman, Talion und öffentliche Strafe im Mosaischen Rechte [1913] in: K. Koch (Hg.), Um das Prinzip der Vergeltung in Recht und Religion des Alten Testaments (WdF 125), Darmstadt 1972, 325–406, 326ff.
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Die vor allem die alttestamentliche Weisheit, aber auch viele weitere Überlieferungen durchziehende Überzeugung, dass gutes Handeln gutes Ergehen, böses Tun hingegen Unheil nach sich zieht, galt lange Zeit geradezu als Kristallisationskern des alttestamentlichen Vergeltungsdenkens.142 Nun ist auch dies wiederum kein allein im alten Israel begegnendes Phänomen, sondern ein im alten Orient sowie in traditionalen Gesellschaften verbreitetes Denken: „Häufig werden Krankheiten und Misserfolg als V[ergeltung] für Vergehen gegen Normen im familiären, sozialen und rituellen Umfeld betrachtet“.143 Ist ein solches Denken, wo man es in den einschlägigen alttestamentlichen Texten findet, als Vergeltungsdenken zu verstehen? Dem hat K. Koch seit 1955 in mehreren Studien vehement widersprochen144 und mit der These, hier liege vielmehr die Vorstellung einer „schicksalwirkenden Tatsphäre“ zugrunde, eine viel beachtete Diskussion ausgelöst. Demnach umhülle den Täter vielmehr eine Sphäre „von dinglicher Stofflichkeit“, durch die das entsprechende Geschick „zwangsläufig“ bewirkt bzw. – ohne jedes Lohn- oder Strafhandeln „von außen“ – von JHWH lediglich „zur Entfaltung gebracht“ werde. Durch Kochs Studien und die seitdem andauernden Diskussion145 sind verschiedene Schieflagen, eine Vielzahl von Aufgaben für
142
Vgl. hierzu etwa Koch, Vorwort, in: ders., Um das Prinzip der Vergeltung, VIIff. 143 R. Neu, Art. Vergeltung I. Religionsgeschichtlich, RGG 4 8 (2005) 997–999, 997. 144 Vgl. v.a. Kochs Beiträge in dem von ihm selbst herausgegebenen Band: Um das Prinzip der Vergeltung in Recht und Religion des Alten Testaments (WdF 125), Darmstadt 1972, vor allem ders., Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament? (1955), aaO., 130–180. 145 S. hierzu die Darstellung bei B. Janowski, Die Tat kehrt zum Täter zurück. Offene Fragen im Umkreis des „Tun-Ergehens–Zusammenhangs“ (1994), in: ders., Die rettende Gerechtigkeit, Neukirchen-Vluyn 1999, 167–191; 168–174; vgl. auch A. Grund, Art. Tun–Ergehens–Zusammenhang I. Biblisch, in: RGG4 8 (2005) 654–656 (Lit.).
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die Forschung, aber auch bereits eine ganze Reihe neuer Einsichten zutage getreten. So wurde der weite Begriff der Vergeltung noch von Koch unhinterfragt ausschließlich negativ und fast nur juridisch verstanden,146 ohne den positiven Gehalt rechtlicher Redeformen147 zum Tragen zu bringen. Der große Bestand an juridischen Wortfeldern auch in der Rede von Gott wurde, wie vielfach kritisiert,148 bei ihm weitestgehend ausgeblendet. Gerade angesichts der zunehmenden Einsicht in die Bedeutung von JHWHs rettender Gerechtigkeit vor allem in den Psalmen wird man dies heute anders sehen.149 Auch tritt an vielen Stellen die Komplementarität, das Ineinander von Rechtspraxis und Tatsphäredenken sichtbar hervor.150 Ferner bestritt Koch, dass der Tun146
Vgl. bereits in der Einleitung zu anderen Instanzen der Vergeltung. 147 Vgl. bereits o. zu nqm u.a. 148 Vgl. in dem von Koch hg. Band die Beiträge von F. Horst, W. Preiser, J. Scharbert, H. Graf Reventlow; ferner Knierim, Strafe, passim, Peels, Vengeance, 302–305 u.a. 149 Vgl. u.a. B. Janowski, JHWH der Richter – ein rettender Gott. Psalm 7 und das Motiv des Gottesgerichts, in: ders., Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2. Neukirchen-Vluyn, 1998/1999, 92–124; Grund, Gericht, 68ff mit der dort angegebenen Literatur. Koch selbst hat dabei bekanntlich entscheidende Impulse für das Verständnis von ṣ edaqah gegeben (vgl. u.a Vergeltungsdogma, 167), wenn er auch die juridischen Bezüge des Lexems wiederum abblendet. 150 Knierim zeigt zu Recht auf, dass man vielfach von einer Komplementarität und einem Ineinander von Rechtspraxis und Tatsphäredenken sprechen kann; Strafe, 104–107. Solches wird auch an der großen sprachlichen Nähe z.B. von Strafbestimmungsformeln: nśa ‘awôno, die die Behaftung des Schuldigen mit seiner Schuld deklariert (Lev 5,1, 7,18, 19,8; 20,17.19; Num 5,31; 14,34; 18:23, Ez 14,10; 44,10.12) Auch dass das in der Rechtssprache beheimatete nqh in der formelhaften Wendung lo᾿ y enaqqeh (naqqeh) sowohl im rechtlichen Zusammenhang (vgl. C. van Leeuwen, Art. nqh, THAT II (1976) 101–106; hier: 105) als auch in Prov 6,29; 11,21;16,5; 17,5; 19,5.9; 28,20 im Tun–Ergehens– Zusammenhang die Behaftung mit Schuld und entsprechende Folgen feststellt, ist ebenfalls symptomatisch für die Verwandtschaft des zugrundeliegenden Denkens.
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Ergehen-Zusammenhang sich nach einer vorgegebenen Norm einstellt. Doch dass – nach dem Tatsphäredenken nunmehr sozusagen von der Seinsordnung – Gutes mit Heil, Sünde mit Unheil erwidert wird, impliziert – wenn vielleicht nicht Vergeltung im strengen Sinn – jedoch durchaus eine Vorstellung von einer immanenten Gerechtigkeit. Weil Koch nun aber auch bestreitet, dass JHWH an der Rückkehr der Tat zum Täter beteiligt ist bzw. sie lediglich in Kraft setzt, legt er erst recht die Vorstellung von einem quasi naturgesetzlichen oder gar schicksalwirkenden Automatismus nahe, von einer ‚Ontologie der unabwendbaren Tatfolge‘, die man nicht weniger als die Vorstellung von einem (vergeltenden) Eingreifen Gottes „von außen“, als problematisches ‚Dogma‘ auffassen kann. Wenn aber die Vorstellung von einer schicksalhaften immanenten Kausalität nicht sachgemäß ist und auch ansonsten nicht recht weiterhilft151 – wie hat sich dann die alttestamentliche Weisheit das Zustandekommen des Zusammenhangs von Tun und Ergehens tatsächlich vorgestellt? Jan Assmann hat in jüngerer Zeit für die Weisheit des ägyptischen Mittleren Reichs die Vorstellung von einer konnektiven Gerechtigkeit herausgearbeitet,152 wonach die Taten durch das soziale Gedächtnis der Gemeinschaft vermittelt zum Täter zurückkehren: Der Lohn eines, der handelt, besteht darin, daß für ihn gehandelt wird: das hält Gott für Ma᾿at.153 Ein guter Charakter kehrt zurück an die Stelle von gestern, denn es ist befohlen: Handle für den, der gehandelt hat, um zu
151
Koch, Vergeltungsdogma, 167. J. Assmann, Vergeltung und Erinnerung, in: Studien zu Sprache und Religion Ägyptens, FS W. Westendorf. Bd. 2, Göttingen 1984, 687–701; ders., Ma᾿at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990. 153 Stele des Neferhotep, zit. nach Assmann, Vergeltung, 696; vgl. ders., Maat, 65. 152
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veranlassen, daß er tätig bleibt. Das heißt, ihm danken für das, was er getan hat.154
Diesen Gedanken des Für-einander-Handelns hat Janowski auch für das Alte Testament, insbesondere die Prov fruchtbar gemacht,155 was auch vielfach Zustimmung gefunden hat.156 Der Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen ist demnach – da ja gerade die Spruchweisheit die Ethik des Vergeltungsverzichts entfaltet157 – nicht durch unmittelbare Reaktion, sondern durch das soziale Gedächtnis der Gemeinschaft vermittelt. 1976 bereits hatte C.A. Keller unter Hinweis auf zahlreiche ethnologische und soziologische gabe- und tauschtheoretische Studien vertreten, dass der Tun-Ergehen-Zusammenhang nach Vorstellung des Proverbienbuchs durch „zwischenmenschliches Verhalten transaktioneller Art“158 zustandekomme, doch traf sein interessanter Beitrag in der alttestamentlichen Wissenschaft nirgends auf ein Echo. Wie Assmann und Janowski wies bereits Keller darauf hin, dass die durch das Prinzip des wechselseitigen Tauschs zustande kommende Rückkehr der Tat zum Täter mit der von M. Mauss herausgearbeiteten Theorie der Gabe 159 in Verbindung zu bringen ist. Bereits vor Mauss, dessen Arbeit mittlerweile zu einem ethno-soziologischen Klassiker avanciert ist, und auch nach ihm, wurde das Prinzip der 154
62. 155
Klage des Oasenmannes B I, 109–110, zit. nach Assmann, Maat,
Janowski, Tat, 176ff. Vgl. u.a. F.J. Backhaus, Qohelet und der sogenannte TunErgehens-Zusammenhang, BN 89 (1997) 30–61; K. Baltzer / Th. Krüger, Die Erfahrung Hiobs. „Konnektive“ und „distributive“ Gerechtigkeit nach dem Hiob-Buch, in: H.T.C. Sun (Hg.), Problems in biblical theology (FS R. Knierim), Grand Rapids/MI, 1997, 27– 37. 157 Vgl. bereits o. zu Prov 20,22; 24,29; 25,21f; 28,17. 158 C.A. Keller, Zum sogenannten Vergeltungsglauben im Proverbienbuch, in: Beiträge zur alttestamentlichen Theologie ( FS W. Zimmerli, hg.v. H. Donner u.a.), Göttingen 1977, 223–238; 230. 159 M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften 1990 (Orig. 1950). 156
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gleichwertigen Gegenleistung von der Ethnosoziologie herausgearbeitet,160 wie bereits 1934 von R. Thurnwald: „Die Beziehungen zwischen bestimmten Verwandten ... sind ... auf strenge Gegenseitigkeit in der Leistung eingestellt. … Diese Symmetrie von Handlungen nennen wir das Prinzip der Vergeltung. Es liegt zweifellos tief verwurzelt im menschlichen Lebensablauf, und ihm kam von jeher die größte Bedeutung im sozialen Leben zu.“161
Bereits Thurnwald sieht in diesem Prinzip der Gegenseitigkeit162 also ein grundlegendes Prinzip sozialer Interaktion, auf dem auch die frühen Formen des Rechts aufbauen.163 Nun bemisst sich die Wahrscheinlichkeit, dass gutes Handeln irgendwann in entsprechender Weise zum Täter zurückkehrt164 und somit ‚Konnektivität‘ zustande kommt, am Maß der Bereitschaft einer Gemeinschaft zur Erwiderung von Wohltaten – sie ist gänzlich auf ihre Beantwortung angewiesen, wie es in den untersuchten traditionalen Kulturen aber auch der Fall ist, wo nämlich der Austausch „in Form von Geschenken ... [stattfindet], die theoretisch freiwillig sind, in Wirklichkeit jedoch immer gegeben werden müssen.“165 Und so ist es auch kein Zufall, dass von solcher Konnektivität, wie im obigen ägyptischen Beispiel sowohl deskriptiv als auch präskriptiv gesprochen wird. 160
Vgl. die von Keller für die gabetheoretische Deutung des TunErgehens-Zusammenhangs fruchtbar gemachten Studien von B. Malinowski (1922), P.M. Blau (1964), F. Barth (1966), G.C. Homans (1961) und Kellers Forschungsreferat in ders., Vergeltungsglauben, 225ff. 161 R. Thurnwald, Die menschliche Gesellschaft in ihren ethnosoziologischen Grundlagen. Bd. 5: Werden, Wandel und Gestaltung des Rechtes im Lichte der Völkerforschung, Berlin 1934, 43. 162 Ebd. 163 AaO. 44. 164 Auch Mauss allerdings erklärt sich die Dynamik des Gabentauschs durch die Vorstellung von einer Art der Gabe innewohnenden Kraft, bei den Maori hau genannt, die zum Geber zurückzukommen drängt; Gabe, 31ff. 165 Mauss, Gabe, 17.
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Im Blick auf den Tun-Ergehen-Zusammenhang müsste demnach eine gute Tat aufgefasst worden sein als eine Gabe, die der Empfänger zu erwidern verpflichtet, und die nicht zu erwidern für ihn entehrend ist. Allerdings müssten auch die Differenzen zwischen förderlicher Tat und materieller Gabe berücksichtigt werden. Das ist insbesondere für die agonalen Züge des Schenkens in den betreffenden Kulturen geltend zu machen: Jemanden durch überwältigende Geschenke mit Entehrung zu ‚bedrohen‘, wird man kaum als wirkliche Wohltat in einem ethisch qualifizierten Sinne ansehen wollen. Auch die Unterschiede zwischen dem potlatch166 traditionaler Kulturen und vergleichbaren Phänomenen in frühen Schriftkulturen des Vorderen Orients wäre herauszuarbeiten; hier ist doch mit sehr unterschiedlichen kulturellen Prägungen zu rechnen. Der Gedanke jedoch, dass Tatfolgen über das Netz sozialer Beziehungen vermittelt auf die Handelnden zurückkommen, ist ein ungemein attraktives Erklärungsmodell. Es ist jedenfalls – anders als die Vorstellung von den Taten innewohnenden, sich unheimlich und unheilvoll auswirkenden Mächten – für moderne Rationalitäten weit besser vermittelbar. Er weist bei aller kulturellen Bedingtheit auf allgemeingültige Dynamiken hin, durch die soziale Netze förderlicher Beziehungen aufgebaut oder zerstört werden, und ist also weit über das Ethos der alten Kulturen hinaus auch für unsere Gegenwart von Bedeutung. Wer sich schädigend verhält, wird von anderen marginalisiert, bevor er größeren Schaden anrichtet, wer sich gemeinschaftsförderlich verhält, erhält von anderen Hilfe und kommt zu Ehren – die Vorstellung von der Konnektivität beinhaltet eine kommunitaristischen Entwürfen nahestehende Sozialutopie einer solidarischen Gesellschaft, in der gute Folgen so zeitnah erfahrbar zurückkommen, dass eine Anfechtung des Gerechtigkeitsglaubens erst gar 166
Der ursprüngliche Chinook-Ausdruck ist mittlerweile geprägter Begriff für das Phänomen des Gabentauschs in traditionalen Kulturen.
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nicht aufzukommen braucht. Die Beschreibung des Zustandekommens von Konnektivität durch das Prinzip der Gegenseitigkeit ist damit nicht nur anschlussfähig für neuere Sozialtheorien; Vergleichbares wurde bereits von der Soziologie auch im Blick auf moderne Gesellschaften gesehen und ausgearbeitet.167 So beschreibt der Begriff des ‚sozialen Kapitals‘ nach dem Verständnis des amerikanischen Soziologen James S. Coleman einen ähnlichen Zusammenhang: Soziales Kapital wohnt nach Coleman der Struktur sozialer Beziehungen inne, die je nach ihrer Qualität, etwa nach dem Maß von Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit in einer Gruppe, für die Individuen für ihre Interessen mehr oder weniger förderlich sein können.168 Das Zustandekommen von sozialem Kapital beschreibt Coleman ausgehend von reziproken Interaktionen: „Wenn ... A etwas für B tut und in B das Vertrauen setzt, daß er in der Zukunft eine Gegenleistung erbringt, wird damit in A eine Erwartung hervorgerufen und für B eine Verpflichtung geschaffen, das Vertrauen zu rechtfertigen. Diese Verpflichtung kann man als eine ‚Gutschrift‘ betrachten, die A besitzt und die mit irgendeiner Leistung eingelöst werden muss.“169
Geht diese Dynamik über unmittelbar gegenseitige Beziehungen hinaus, so kann man auch gemeinschaftsförderliches Handeln wiederum als Leistung verstehen, die nicht nur von dem unmittelbaren Empfänger, sondern von der betroffenen Gemeinschaft ‚entlohnt‘ wird, und ebenso gemeinschaftsschädigendes Handeln als Verpflichtungen, die als ‚Schulden‘ im Sinne des sozialen Kapitals zu Buche stehen. Colemans Theorie allerdings ist entsprechend der Konzentration auf reziproke Verpflichtungen und der Dominanz ökonomisch-monetärer Metaphorik auf 167
Vgl. bereits G. Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a.M. 652ff und dessen Aufnahme bei B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, Neukirchen-Vluyn 2001, 296ff. 168 Grundlagen der Sozialtheorie. Bd. 1: Handlungen und Handlungssysteme, München 1991, v.a. 389–417. 169 Coleman, Grundlagen, 396f.
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problematische Weise vom Menschenbild des homo oeconomicus geprägt.170 Hier kommt soziales Kapital lediglich als Ressource zur Zielerreichung in den Blick, während der Gedanke der Konnektivität auf Ressourcen hinweist, die sich jemand gerade nicht unmittelbar nutzbar machen kann, sondern die ihm von der Gemeinschaft als Dank zufallen. Wie nun aber aus der erwartbaren Verpflichtung im Colemanschen wie auch im Mausschen Modell ein berechnendes: ‚do ut des‘ werden kann, so kann auch die „Goldene Regel“ – zumindest in der Fassung von Lk 6,31171, aber auch in ihrer positiven Formulierung von Mt 7,12 – anscheinend als eine Klugheitsregel verstanden werden.172 Setzt man hier die Erwartung einer Erwiderung der guten Tat voraus, dann zielt die Empfehlung darauf, die eigenen Wünsche über einen Umweg von den anderen erfüllt zu bekommen. Eine solche Deutung ist allerdings in der matthäischen Version nicht nur vom Kontext her kaum möglich, denn die Goldene Regel der Bergpredigt ruft zum Tun des für andere Guten ja unabhängig von Gegenleistungen und gerade ohne Rücksicht auf die moralische Qualität der jeweiligen Gemeinschaft auf, rechnet also durchaus damit, dass möglicherweise keinerlei positive Gegenreaktionen hervorgerufen werden. Sich mit dem eigenen Tun an bloß imaginierten guten Taten anderer zu orientieren, die aber nicht erwartet werden können, wie Mt 7,12 es will, unterscheidet sich in doppelter Hinsicht von der Vergeltung einer geschehenen Tat mit einer äquivalenten Tat: Solches Handeln geschieht im Positiven und es beruht gerade nicht auf erbrachtem Handeln, sondern orientiert die Vorstellung von der guten Tat an dem für sich 170
Dies wird von der unglücklichen ökonomischen Metapher des sozialen Kapitals flankiert und verstärkt. 171 Lk 6,31 lässt sich gut indikativisch, als Beschreibung eines allgemeingültigen „Wie du mir, so ich dir“ verstehen, während V.32–34 dann aber deutlich darüber hinauszielt; vgl. hierzu etwa Wolbert, Goldene Regel, 174f; A. Dihle, Die goldene Regel, Göttingen 1962, 114ff. 172 Assmann, Ma᾿at, 287.
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selbst wünschenswert Erscheinenden. Daher ist in Mt 7,12 kein Prinzip der Reziprozität sehen173 – es sei denn im Sinne erhoffter Erwiderung, wenn das erwiesene Gute von seinen Empfängern als eine Herausforderung verstanden wird, hierauf doch entsprechend zu reagieren. Dann wird sie für beide Seiten förderlich und ist insofern darauf ausgerichtet, in einer Gemeinschaft Strukturen heilsamer Beziehungen aufzubauen. Dass schädigendes oder förderliches Handeln erfahrungsgemäß bei solidarischen Eistellungen in der Gemeinschaft durch soziale Interaktionen vermittelt zum Täter zurückkommt, hat die israelitische Weisheit in verschiedenen Sprichwörtern174 festgehalten: Sünder verfolgt Unheil, Gerechte aber vergilt man (šlm pi.) mit Gutem. (Prov 13,21) Eine Person, die segnet, wird reichlich gesättigt, und wer labt, wird gelabt werden. (Prov 11,25) 175
Es verbleiben allerdings – bei aller Erschließungskraft176 – bei der Theorie von der konnektiven Gerechtigkeit als 173
Vgl. jedoch W. Huber / H.W. Reuter, Friedensethik, Stuttgart 1990, 214f im Anschluss an Dihle, der die Goldene Regel stufenförmig aus dem Vergeltungsdenken herleiten will und die qualitative Differenz übersieht (Goldene Regel, passim). 174 Dass die an den einschlägigen Stellen in Prov meist verwendeten PK L–Formen iterative bzw. gnomische Sachverhalte im Blick habe, die als Imperfekte aber auch noch Ausstehendes bezeichnen können, deutet an, dass die Vorstellung vom Tun– Ergehens–Zusammenhang nicht als erfahrungsfernes Dogma verstanden werden kann. Dass etwa Qohelet allein aufgrund von Beobachtung freilich zu ganz anderen Folgerungen als die Früheren kommt, zeigt wiederum, dass nicht die pure Empirie, sondern zugleich eine bestimmte Welt–Anschauung und eine bestimmte Erwartung die im Sprichwort festgehaltene Erfahrung der älteren Weisheit prägt. 175 Prov 11,25.26.27.31; 13,13.21; 21,13;22,9; 24,24f; s. hierzu Janowski, Tat, 184ff. 176 Auch eine Vielzahl der von Koch angeführten Belege lassen sich leicht so deuten: Prov 11,5.6.18.27.30; 26,28; 28,17.1829,23 vgl. Koch, Vergeltungsdogma, 132.135.
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der treibenden Kraft des Tun-Ergehen-Zusammenhangs noch einige Schwierigkeiten. Bereits in der ägyptischen Weisheit ist der Gedanke der durch das soziale Gedächtnis vermittelten Ma᾿at nur bis zum Mittleren Reich greifbar, in der späteren Zeit tritt die Gottheit als Subjekt der Vergeltung in den Vordergrund.177 Im Unterschied zur Weisheit des ägyptischen Mittleren Reichs, wo eine Reihe von Sprichworten das Zustandekommen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs durch reziproke soziale Interaktion ausdrücklich aufzeigt, gibt es, auch wenn der Gedanke von den ägyptischen Parallelen her nahe liegt, in Prov keine expliziten Anweisungen zu einem Konnektivität herstellenden Füreinander-Handeln. Und während man aber das Füreinander-Handeln als Kreislauf der konnektiven Gerechtigkeit verstehen kann, so verbleiben doch vor allem bei sozialen Dynamiken, die zum schlechten Ergehen eines Übeltäters führen, Schwierigkeiten. Es ist möglich, wenn auch mit deutlichem Vorbehalt, solche Prozesse dort am Werke zu sehen, wo etwa Beter in den Psalmen ihre Feindesnot auf ihre Sünde zurückführen.178 Doch gerade außerhalb von Prov tun sich bei einer nur sozialen Deutung des Sünde-Unheilzusammenhangs größere Schwierigkeiten auf, zumal Beter häufig andere Formen von Unheil wie etwa Krankheit und Unglück als Auswirkung von Sünde verstehen.179 Soll man sich hier jeweils JHWH als Urheber vorstellen?180 Oder nicht doch eine Verfehlungen innewohnende Kraft am Werke sehen, über die JHWH allerdings verfügt?181 Denn es sind ja gerade solche Nöte, 177
Assmann, Vergeltung, 697ff; ders., Maat, 66ff.252ff u.ö. Vgl. Ps 25,18f; 31,10ff; 40.11; 69,2–5. 179 Auch andere Formen von nicht durch soziale Interaktion zustande kommendem Unheil wären zu bedenken, vgl. Jona 1,4ff. u.a. 180 Ps 88,16. 181 Vgl. Ps 32,3–5; 38,4ff; 107,16. Die Alternative, Gott sei entweder „mitten in dem Wandel menschlicher Verhältnis tätig“, er trete „den Menschen in einer Weise gegenüber, die dem geheimen Gefälle der Geschichte entspricht“ oder er greife als Richter ein (Koch, Auffassung, 456), ist auch im Blick auf Prov unzutreffend – die Kombination von Sprüchen, in denen von einem Urheber des 178
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die die Psalmisten zur Anrufung JHWHs bewegen, den Zusammenhang von Sünde und Unheil zu unterbrechen.182 Das Moment der bereits von Fahlgren herausgearbeiteten synthetischen Lebensauffassung,183 dass Schuld und nachfolgendes Unheil unter den gleichen Begriff (v.a. ‘awôn, ḥaṭa‘t) als zwei Seiten der gleichen Sache galten, wird man also nicht ganz aufgeben, wenn zugleich Israels Überzeugung ebenso klar hervortritt, dass bei JHWH Wille und Vermögen zur heilvollen Umwandlung und Unterbrechung solcher Dynamik zu finden ist. Neben den Störungen der konnektiven Gerechtigkeit, die in Hi und besonders deutlich in Qoh den Tun-ErgehenZusammenhang in Frage stellen, sind es gerade auch u.a. Nöte wie Krankheit und vorzeitiger Tod, die die Weisheit in tieferes Nachdenken über ihre Voraussetzungen führt. So wird hier der (allerdings in Prov nirgends gezogene)184 Umkehrschluss von Unheil auf Sünde der Hiobfreunde ins Unrecht gestellt185 – nicht dagegen die Sehnsucht des Schuldlosen nach gutem Ergehen. Die Antwort des Hiobbuchs in den Gottesreden geht dann auch dahin, dass fremde und chaotische Mächte in der Schöpfung die gerechte Weltordnung zwar massiv beeinträchtigen und gefährden, aber dennoch von einer noch stärkeren Hand gebändigt und in Schranken gehalten werden. Von einem Tun–Ergehens–Zusammenhangs keine Rede ist, und in denen dies JHWH ist, weist auf einen unausgesprochen, aber gedachten Zusammenhang zwischen beiden Sphären hin. 182 Ps 103,3. 183 Vgl. K.–H. Fahlgren, Die Gegensätze von ṣ edakā im Alten Testament [1932], in: K. Koch (Hg.), Um das Prinzip der Vergeltung in Recht und Religion des Alten Testaments (WdF 125), Darmstadt 1972, 87–129; 126ff. 184 J. Hausmann, Studien zum Menschenbild der älteren Weisheit (Spr 10ff.) (FAT 7), Tübingen 1995, 245, H. Delkurt, Ethische Einsichten in der alttestamentlichen Spruchweisheit, BThSt 21, 1992, 131ff. 185 Vgl. Baltzer / Krüger, Erfahrung Hiobs, 27–37. Noch ganz andere Perspektiven auf die Gründe von Krankheit und schlechtem Ergehen werden dann v.a. Jes 53,2ff in sichtbar, was gewiss eine gesteigerte Sensibilität für das sub contrario bedeuten muss.
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Zerbrechen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs ist hier also nicht zu sprechen,186 wohl aber von seinem Umbau unter veränderten theologischen Voraussetzungen.187 Hinsichtlich der unterschiedlichen Vorstellungen vom Tun-Ergehens-Zusammenhang in den verschiedenen Überlieferungsbereichen, hinsichtlich der Semantik der einschlägigen Lexeme wie vor allem šwb hi., šlm pi. und pqd sowie der hierfür gebrauchten Metaphern bleibt noch einige Forschungsarbeit zu leisten; an dieser Stelle müssen Andeutungen genügen. So ist mittlerweile deutlich geworden, dass das häufig im Umfeld des Tun-Ergehens-Zusammenhangs gebrauchte Verb šlm pi. sich tatsächlich nicht als ‚vergelten‘ im Sinne einer rächenden Retribution oder eines richterlichen Aktes, aber auch nicht, wie Koch meinte, als ‚vollständig machen‘188 verstehen lässt. Wie die vielen Belege aus dem Ersatzrecht zeigen,189 stammt šlm pi. aus dem Zusammenhang der Erstattung und Entschädigung bzw. der Erfüllung von Ansprüchen bzw. Verpflichtungen (etwa von Gelübden190).191 Dass die soziale Erwiderung von Gutem mit Gutem und Üblem mit Üblem vielfach mit Ausdrücken aus dem Bildfeld des gerechten Tauschs bzw. der Bezahlung ausgedrückt wird, ist wohl kein bloßer Zufall – auch das deutsche Wort ‚Vergeltung‘ hat ja seine sprachgeschichtlichen Wurzeln in der 186
Dass man Hiob hierin zustimmen möchte, zeigt gerade, dass auch für Heutige die Erwartung eines positiven Tun-ErgehensZusammenhangs gerade trotz gegenläufiger Erfahrung (mit anderen Worten: das Stellen der Theodizeefrage) – in ihrem Anliegen, nämlich der Erfahrbarkeit von Gerechtigkeit, durchaus plausibel ist. 187 Auch die jüngste Monographie zum Thema kommt zu diesem Ergebnis: G. Freuling, Wer eine Grube gräbt. Der Tun-ErgehenZusammenhang und sein Wandel in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur (WMANT 102), Neukirchen-Vluyn 2004. 188 Vergeltungsdogma, 134ff. 189 Ex 21,34.36.37; 22,2.4.5.6.8.10.11.12.13.14; Lev 5,16.24; 24,18.21. 190 Vgl. Ps 22,26; 50,14; 56,13; 61,9; 66,13; 76,12 etc. 191 S. hierzu im Einzelnen G. Gerleman, Art. šlm, THAT I (1977) 923–935, 923f; K.J. Illman, Art. šlm, ThWAT VIII (1995) 93–101.
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Rückzahlung eines geliehenen Geldbetrages, und nicht der Rache.192 Wenn nun im Alten Testament für den zwischenmenschlichen Bereich 193 oder auch mit JHWH als Subjekt von šlm pi.194 verwendet wird, ist dies nicht im finanziellen Sinne der Begleichung ‚offener Rechnungen‘ zu sehen; vielmehr wird durch den Ausgleich entstandener Verpflichtungen (bzw. ‚Schuld‘) die ursprüngliche Situation im Sinne der ṣedāqāh wiederhergestellt. Auch bei den Metaphern vom ‚Ertrag‘ (‘eqæb)195 bewegt man sich in einem ökonomischen Bildfeld, hier nun weniger im Sinne von Folgen, die einer sich ‚ein-handelt‘ als vielmehr im Sinne des erwartbaren (wenn auch nicht unabänderlichen) Einkommens. Koch hat für die Vorstellung der unabwendbaren schicksalwirkenden Tatsphäre vor allem Belege angeführt, in denen Saat und Ernte oder andere Wachstumsvorgänge Bildspender sind,196 doch bringen auch diese Metaphern nicht so sehr schicksalhaftmechanische als vielmehr auf erwartbare organische, systemische Zusammenhänge zur Sprache. Für Kochs Annahme, dass der Tun-Ergehen-Zusammenhang als eine Sphäre um den Täter aufgefasst wurde, die sich unsichtbar um ihn lagert und seine Zukunft bestimmt, hat er ferner eine Reihe aufschlussreicher Belege angeführt, nach denen die Qualität von jemandes Tun ihn geradezu ‚umgeben‘ kann, darunter Hos 7,1f; Ps 40,13.197 Diese Vorstellung von einer die Person umgebenden 192
Vgl. S. Volkmann, Art. Vergeltung. IV. Theologiegeschichtlich und dogmatisch, RGG 4 (2004) 1002–1004, 1003f. 193 Vgl. die in Gen 44,4; Ps 35,12 formulierten negativen Erfahrungen, ferner Ps 38,21. 194 Vgl. Joel 4,4; Dtn 32,35.41; Ri 1,7; 2 Kön 9,26; Ps 31,24; 62,13; Hi 34,11.33; Jes 59,18; 66,6Jer 16,18; 32,18; 25,14; 50,29; 51,6.24.56. 195 Prov 22,4; Ps 19,12; 119,33.112; ferner Prov 11,18. 196 Prov 11,18.30; 13,12; 22,8; Hi 4,8; Ps 1,3f; Hos 8,4–7; 10,12 u.a.; vgl. auch die Metaphern von Empfängnis und Geburt: Ps 7,15; Hi 15,35 u.a. 197 Ebenso wird gerade auch die von JHWH gewährte Gerechtigkeit, Gnade u.a. mehrfach als Schutzsphäre verstanden (Ps 32,7.10; vgl. Ps 69,28).
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Sphäre steht aber keineswegs im Widerspruch zum Gedanken des Tun-Ergehens-Zusammenhangs als einer zugleich sozialen Größe, was insbesondere beim Gebrauch von Bekleidungsmetaphern (vgl. Ps 109,18f. 29; 73,6) deutlich wird, nach denen die Taten einer Person zu ihrer ‚sozialen Außenseite‘ werden. Dass die Bekleidung mit ‚Gerechtigkeit‘ in Hi 29,14 sich auf die positiven sozialen Rückwirkungen gemeinschaftsförderlichen Handelns auf den Täter beziehen, wird hier durch den Kontext deutlich: 11 Hörte ein Ohr [von mir], so pries man mich glücklich, und sah [mich] ein Auge, so war es Zeugnis für mich. 12 Denn ich rettete den Elenden, der um Hilfe ruft, und die Waise, die keinen Helfer hat. 13 Der Segen des Notleidenden kam auf mich, und das Herz der Witwe brachte ich zum Jubeln. 14 In Gerechtigkeit kleidete ich mich, und mich bekleidete wie ein Mantel und Kopfbund mein Recht. 15 Augen war ich für die Blinden, und Füße für die Lahmen war ich. 16 Ein Vater war ich für die Armen, und den Rechtsstreit dessen, den ich nicht kannte, untersuchte ich. (Hi 29,11-16)
Gemeinschaftsförderliches Handeln, gerade auch im Sinne der Fürsorge für die personae miserae, galt in Israel, wie Hi 29 insgesamt veranschaulicht, also in der Tat geradezu als „prestigeträchtig“, mit den entsprechenden Rückwirkungen auf den Täter, die sich auch darüber hinaus als ihn umgebende Sphäre heilvollen Lebens auswirken. Tatsächlich beschreibt der Tun-Ergehens-Zusammenhang insofern eine der Welt immanente Ordnung, durch die mittels sozialer Interaktionen – aber nicht nur durch sie – eine Tat zum Täter zurückkehrt. Die alttestamentliche Vorstellung vom Tun-Ergehens-Zusammenhang zeigt aber auch, dass förderliches oder schädliches Handeln samt seiner zuweilen unabsehbaren Folgen als eine „Realität in der Umwelt ihres Urhebers“198 angesehen wurde, von der wie von einer stofflichen und zugleich relationalen 198
Koch, Der Spruch ‚Sein Blut bleibe auf seinem Haupt‘, in: ders., Um das Prinzip der Vergeltung, 432–456; 433.
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Vergeltung als Strafprinzip des Alten Testaments?
Wirklichkeit gesprochen werden kann, die vom Urheber ‚getragen‘ werden muss, die aber zugleich das Netz sozialer Beziehungen betrifft und dort längerfristige Rückwirkung haben kann. Die Vorstellung trägt damit der Faktizität der Störungen der sozialen Wirklichkeit durch böses Tun und seine Folgen Rechnung.199 Von Gott ist bei der Etablierung des Sünde-Unheilszusammenhangs im Alten Testament allerdings weit weniger als vielmehr bei dessen Durchbrechung die Rede. Dabei muss JHWH also einen reellen Schaden bewältigen,200 was etwa dadurch geschieht, dass er Schuld vergibt (u.a. nś’).201 Nun hatten wir bereits anfangs vom Problem gehandelt, dass der Ruf nach Generalamnestien der Realität von Schuld und ihrer Folgen oft nicht gerecht wird, zudem den Gedanken der Gerechtigkeit überstrapazieren und im Extremfall aufheben kann: Eine leichtfertige Rede von Vergebung kann zu einer Komplizenschaft mit dem Bösen geraten.202 Dies ernstzunehmende Problem ist theologisch 199
Der Gedanke der ‚realen‘ Behaftung des Einzelnen wie auch der Gemeinschaft mit (Blut–)Schuld (vgl. Num 35,33) kann nicht so leicht als archaisch oder primitiv abgetan werden – zumal der Gedanke der kollektiven Behaftung mit Blutschuld immerhin auch beim Aufklärer Kant in seiner Begründung der absoluten Straftheorie zum Argument wird: „Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft ... auflösete ..., müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volk hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat.“ I. Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, Allg. Anmerkung E zu §43–49. Dass Kant entgegen dem biblischen Denken zugleich die Unvertretbarkeit des Einzelnen im Blick auf dessen Schuld verfochten hat, deutet wiederum auf wesentliche Unterschiede im Blick auf straftheoretischen Folgerungen. 200 Bereits die Ethik des Verzichts auf unmittelbare Vergeltung (vgl. o. zu Lev 19,18; Prov 20,22; 24,29; 25,21f) wirkt in der zwischenmenschlichen Dimension ja in diese Richtung. 201 Selbst im Buch Jona drängt der Erzählverlauf ja in diese Richtung: Auch wenn das Fehlverhalten des israelitischen Propheten sich zunächst auf die ganze Schiffsmannschaft auszuwirken droht, wird der eine Verantwortliche gefunden und es wird ihm, wenn auch auf besonderen Umwegen, vergeben. 202 A. Schenker, Der strafende Gott. Zum Gottesbild im AT, KatBl
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mit dem Konzept der stellvertretenden Schuldübernahme zu bewältigen versucht worden, wie es besonders eindrücklich in Jes 52,13-53,12 formuliert ist. Hier trägt (nś’ 4a.12b) bzw. schleppt (sbl 11b) der mit JHWH in Willenseinheit stehende Knecht203 Schuld und Tatfolgen der vielen. JHWH lässt auf diese Weise „einen fremden Tun-Ergehen-Zusammenhang so am Gottesknecht zur Auswirkung kommen, daß der eigentlich Schuldige, nämlich Israel, in die Position des Erretteten gelangt“.204 Hier zeigt sich Gottes Widerstand gegen das Böse auf bemerkenswerte Weise: Das Gut der Gerechtigkeit wird nicht aufgelöst, sondern aufgerichtet, indem vorhandene Schuld vom Knecht und letztlich von JHWH getragen, und den mit Schuld Beladenen ein Ausweg eröffnet wird.205 Kann man einen solchen Zusammenhang in der Geschichte Jesu Christi erkennen, dann braucht an der Identität des uneingeschränkt Gerechtigkeit herstellenden und zugleich uneingeschränkt Barmherzigkeit walten lassenden Gottes kein Zweifel aufzukommen.206 Die besprochenen alttestamentliche Formen einer angemessenen Prävention und Bewältigung der Schädigung von Leben kommen im Horizont dieser Möglichkeit zu stehen.207 Was das im Einzelnen für das heutige Verständnis und die Praxis von Strafe bedeutet, die dann ja nicht 110 (1985) 843–850; 848. 203 Dies wird bereits im Verlauf der ersten drei Gottesknechtslieder entfaltet. 204 B. Janowski, Er trug unsere Sünden. Jes 53 und die Dramatik der Stellvertretung, in: ders., Gottes Gegenwart in Israel. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 1993, 303– 326, 321f. 205 Vgl. hierzu v.a. K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik II/2, Zürich 1940 (§30 Die Vollkommenheiten des göttlichen Liebens 2. Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit), v.a. 423–457. 206 Vgl. anders etwa Dietrich, Rache, 133. 207 Es braucht nicht gesagt zu werden, dass die hier angedeutete Linie in die Richtung der straftheoretischen Überlegungen von F.D.E. Schleiermacher, Die christliche Sitte (SW 1/12/7), Berlin 2 1884, 97ff (vgl. 241ff) sowie K. Barth u.a. in: Die Kirchliche Dogmatik III/4, Zürich 1951, 503–511 geht.
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als ein Handeln von Gerechten an Ungerechten, sondern als Handeln von solchen, deren Schuld allzumal in diesem Sinne getragen wird, an einander zu verstehen ist, dieses weiter zu bedenken, bleibt Aufgabe der weiteren straftheoretischen Diskussion.
Homo donans. Kulturanthropologische und exegetische Erkundungen zur Gabe im alten Israel
Einleitung „Aller Verkehr der Menschen beruht auf dem Schema von Hingabe und Äquivalent“1, konstatierte Georg Simmel in seinem „Exkurs über Treue und Dankbarkeit“, der von der Unverzichtbarkeit des Gabentauschs für den Zusammenhalt menschlicher Gesellschaft handelt. Im Tausch manifestieren sich soziale Beziehungen auf zugleich materielle und symbolische Weise: Er ist, so Simmel weiter, „die Sachwerdung der Wechselwirkung zwischen Menschen. Indem der eine Sache gibt und der andre eine Sache zurückgibt, welche denselben Wert hat, hat sich die Seelenhaftigkeit der Beziehungen zwischen den Menschen in Gegenstände hinausverlegt“2. Spätestens seit Marcel Mauss’ klassischem „Essai sur le don“3 gehören Gabentausch und Reziprozität in traditionalen Gesellschaften zu 1
G. Simmel, Exkurs über Treue und Dankbarkeit, in: ders., Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a.M. 1992, 438–447 [Leipzig 1908, 581–598], hier 443. – Der vorliegende Beitrag ist eine leicht veränderte Fassung meines Beitrags gleichen Titels, der abgedruckt ist in: A. Berlejung, J. Dietrich, J.F. Quack (Hg.), Menschenbilder und Körperkonzepte im Alten Israel, in Ägypten und im Alten Orient (ORA) Tübingen 2012 [im Druck]. 2 G. Simmel, Exkurs, 443, vgl. ders., Dankbarkeit. Ein soziologischer Versuch [1907], in: ders., Schriften zur Soziologie, hg.v. H.–J. Dahme u. O. Rammstedt, 1983, 210–220. 3 M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1968 [frz.: Essai sur le don, 1 1924].
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den Grundthemen kulturanthropologischer Forschung. Mauss hatte in einer faszinierenden Zusammenschau ethnologischer und kulturgeschichtlicher Beiträge festgestellt, dass in polynesischen wie in indianischen Gesellschaften, im alten römischen und im germanischen Recht „Austausch und Verträge in Form von Geschenken statt[finden], die theoretisch freiwillig sind, in Wirklichkeit jedoch immer gegeben und erwidert werden müssen“4. Die Regel, dass ein Geschenk unter keinen Umständen unerwidert bleiben kann, hat in fast allen traditionalen Kulturen einen enormen verpflichtenden Charakter, er ist, mit Worten von Claude Lévi-Strauss, ein „fait social total“: „eine Tatsache, die eine sowohl gesellschaftliche wie religiöse, magische wie ökonomische, utilitäre wie sentimentale, juristische wie primitive Bedeutung hat“.5 Auch in alten vorderorientalischen Kulturen, in denen schon die ökonomischen Prozesse unvergleichlich tiefer als heute in die Sozialbeziehungen eingebettet waren6, hatte der soziale Tausch von Gaben und Wohltaten eine unzweifelhaft hohe Bedeutung. Und so sind auch für das alte Israel von der kulturanthropologischen Diskussion wichtige Einsichten in Motive und Funktionen des Gabentauschs zu erwarten. Deren wesentliche Erträge sind zunächst in einem Überblick zu skizzieren, bevor Formen des Gabentauschs im alten Israel nachgegangen werden.
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Mauss, Gabe, 17. Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt a. M. 1981 [1949]. 6 Industriegesellschaften attestierte Polanyi demgegenüber, dass die Sozialbeziehungen dort in die ökonomischen Prozesse eingebettet seien, vgl. dazu K. Polanyi, The Great Transformation, The political and economic origins of our time, Boston 1957 [1944], zur Diskussion F. Adloff /S. Mau, Zur Theorie der Gabe und Reziprozität, in: dies. (Hg.), Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität (Theorie und Gesellschaft 55), Frankfurt /New York 2005, 9–60, hier 17. 5
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1 Die Gabe in der kulturanthropologischen und soziologischen Forschung Auch wenn schon Richard Thurnwald7, Bronislaw Malinowski8 und andere Ethnologen ihrer Zeit das Phänomen des Gabentauschs in der Feldforschung beobachtet und erörtert hatten, so bleibt der Ankerpunkt der kulturanthropologischen Diskussion doch Marcel Mauss’ bahnbrechende Studie ‚Die Gabe‘, die frühere Arbeiten zusammenfasste und in größere Zusammenhänge stellte9. Dabei war Mauss nicht allein an der Beschreibung archaischer Gesellschaften interessiert, sondern es ging ihm durchaus um die allgemeine bindende Kraft der wechselseitigen Anerkennung durch den Gabentausch, gleichsam als ein Modell für eine zeitgenössische Erneuerung des Sozialvertrags10, was seinem Entwurf vermutlich auch seine Faszination und das Potential für eine allgemeine Sozialtheorie verlieh. Der in archaischen Gesellschaften so augenfällige Gabentausch, so Mauss’ grundlegende Einsicht, reguliert über den Zyklus von Geben, Annehmen und Erwidern soziale Verhältnisse, sorgt für ihren Fortbestand und steuert die soziale Ordnung. Unter der Voraussetzung, dass die Erwiderung einer Gabe zwar subjektiv freiwillig erscheint, in 7
Thurnwald hat dabei aus dem Gabentausch bereits wichtige Schlussfolgerungen für die soziale Bedeutung der Reziprozität gezogen; R. Thurnwald, Die menschliche Gesellschaft in ihren ethno–soziologischen Grundlagen. Bd. 5: Werden, Wandel und Gestaltung des Rechtes im Lichte der Völkerforschung, Berlin 1934. 8 B. Malinowski, Argonauten des westlichen Pazifik. Ein Bericht über Unternehmungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von Melanesisch–Neuguinea, Frankfurt a. M. 1984 [1922]. 9 Zur Forschungsgeschichte s. nun auch I. Därmann, Theorien der Gabe zur Einführung, Hamburg 2010. 10 F. Adloff / S. Mau, Zur Theorie der Gabe und Reziprozität, in: dies. (Hg.), Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität (Theorie und Gesellschaft 55), Frankfurt /New York 2005, 9–60
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Wirklichkeit aber aufgrund einer verpflichtenden Kraft erfolgt, bringt der Gabentausch die Konstituierung und Neuordnung der sozialen Beziehungen in Gang. Und das gilt sowohl für seine kooperativen, die Austauschpartner in ‚horizontalen Beziehungen‘ verbindenden Formen als auch für seine ‚agonistischen Formen‘, die auf eine vertikale Ordnung der Beziehungen abzielen. Diese agonistischen Gaben, darunter der Potlatch der Indianer im Nordwesten Amerikas, der stellvertretend für verwandte Phänomene11 besonderen Bekanntheitsgrad gewonnen hat, faszinierten Mauss und viele Ethnologen nach ihm besonders. Beim Potlatch beschenken sich konkurrierende Clans verschwenderisch, bis ein Clan eine Gabe nicht mehr erwidern kann: Man gibt mehr, als die andere Partei zurückgeben kann – man gibt, um die anderen mit seiner Gabe ‚auszustechen‘: „Wie bei den nicht-agonistischen Gaben und Gegengaben verschuldet und verpflichtet die Gabe beim Potlatch den, der sie empfängt, aber das anvisierte Ziel ist ausdrücklich, die Rückkehr einer gleichwertigen Gabe schwierig, wenn nicht unmöglich zu machen: Es besteht darin, den anderen fast permanent zu verschulden, ihn in der Öffentlichkeit sein Gesicht verlieren zu lassen und auf diese Weise so lange wie möglich die eigene Überlegenheit zu behaupten.“12
Da beim Potlatch wertvolle Güter sogar vor den Augen der anderen zerstört, etwa kostbare Kupferplatten ins Meer geworfen werden, ist ihm schwerlich ein ökonomischer Sinn abzugewinnen. Der agonistische Gabentausch zielt vielmehr auf den Statuszugewinn und die Superiorität des sich verschwenderischer gebenden Clans. Doch woher stammt die unbedingte Verpflichtung zur Gegengabe, die den agonistischen Tausch erst ermöglicht? So lautete die zentrale Frage, die Mauss sich stellte: 11
Zur Begriffsprägung s. Mauss, Gabe, 23, zum Phänomen S. Kan, Art. Potlatch, in: RGG 4.6 (2003) 1522–1523. 12 M. Godelier, Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, München 1999.
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„Welches ist der Grundsatz des Rechts und Interesses, der bewirkt, daß in den rückständigen oder archaischen Gesellschaften das empfangene Geschenk obligatorisch erwidert wird? Was liegt in der gegebenen Sache für eine Kraft, die bewirkt, daß der Empfänger sie erwidert?“13 Im Anschluss an Aussagen eines Maori-Weisen ging Mauss davon aus, dass nach dem Glauben der Maori der ‚Geist‘ oder die ‚Seele‘ (das hau) der gegebenen Sache zu seinem anfänglichen Eigentümer zurückkehren will. C. Lévi-Strauss führte Mauss’ Einsichten fort, kritisierte aber zugleich den Ansatz von Mauss. Dieser übernehme Aussagen der Maori einfach, anstatt sie wissenschaftlich durchzuarbeiten14. Die Begriffe hau und mana seien vielmehr in sich selber sinnleer und deswegen geeignet, jeden beliebigen Sinn anzunehmen15. Für Lévi-Strauss ist, im Anschluss an Mauss, das soziale Leben vor allem ‚Austausch‘ und setzt sich aus Symbolsystemen (Heiratsregeln, ökonomischen Beziehungen u.a.) zusammen, die durch unbewußte mentale Strukturen geprägt sind. Lévi-Strauss’ Kritik an Mauss ist seitdem mehrfach erneuert worden, zuletzt von M. Sahlings, der eine neue Übersetzung des Maori-Textes zugrunde legen konnte. Demnach ist „die Bestrafung durch Zauberei, die als eine Drohung ausgesprochen wird, … nicht die Handlung des 13
Mauss, Gabe, 18. Das hau ist demnach „eine subjektive Illusion der Ethnographen und häufig auch der Eingeborenen, die sich dann, wenn sie – wie es oft genug vorkommt – über sich nachdenken, als Ethnographen oder genauer als Soziologen verhalten, das heißt als Kollegen, mit denen man diskutieren kann“; Lévi-Strauss, Einleitung in das Werk von M. Mauss, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 25 (1973) 675–703, hier 695. 15 „Wir glauben, daß die Begriffe vom Typus mana, so verschieden sie sein können, in ihrer allgemeinsten Form betrachtet … eben diesen flottierenden Signifikanten repräsentieren, der die Last alles endlichen Denkens (aber auch die Bedingung aller Kunst, aller Poesie, aller mythischen und ästhetischen Erfindung) ist und den die wissenschaftliche Erkenntnis zwar nicht stillzustellen, wohl aber partiell zu disziplinieren vermag;“ Lévi-Straus, Einleitung, 700. 14
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hau der Sache selbst, sondern die der wirklichen Personen, die dadurch frustriert sind, daß sie keine Gegengabe empfangen haben, und die also den Schuldigen verzaubern.“16 Die Triebkräfte der Gabenerwiderung in den archaischen Gesellschaften sind mithin weniger in einem animistischmagischen Denken zu suchen als in Verpflichtungen und Interessen der beteiligten Akteure, so dass zugleich die Dynamiken des sogenannten primitiven Tauschs weniger fremd vorkommen. In der neueren ethnologischen Diskussion haben A. Weiner und im Anschluss M. Godelier zudem den Blick auf die dem Tausch entzogenen Güter gerichtet, die in LéviStrauss’ Entwurf kein Raum hatten17. Bereits Mauss hatte gesehen, dass einige Objekte, obwohl sie beim Potlatch erscheinen, keinesfalls veräußert werden dürfen. Nach Godelier handelt es sich hierbei „immer um ‚Realien‘, welche die Individuen und die Gruppen zu einer anderen Zeit führen, welche sie wieder mit ihren Ursprüngen, mit dem Ursprung konfrontieren.“18 Sie sind dem Tausch entzogen, weil sie für die individuellen und kollektiven Identitäten von konstitutiver Bedeutung, somit von unveräußerbarem Wert sind. In neueren Beiträgen zur „Soziologie des primitiven Tauschs“ hat M. Sahlings die Reziprozität, die zwischen zwei Parteien und damit in einer Außenbeziehung stattfindet, vom Pooling, dem innerhalb einer Gruppe, in einer Innenbeziehung stattfindenden Prozess des Zusammenlegens unterschieden. Zudem unternimmt er eine hilfreiche Skalierung verschiedener Grade von Reziprozität: „Am einen Ende des Spektrums steht die freiwillig gegebene Hilfe, die die alltäglichen Verwandtschafts- Freundschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen kennzeichnet, das ‚reine Geschenk’, wie Malinowski es nannte, wobei die offene Forderung auf eine Rückgabe undenkbar und unsozial sein würde. Am anderen Ende 16
Godelier, Rätsel, 77. A. Weiner, Inalienable Possessions: The Paradox of Keepingwhile-Giving, Berkeley [u.a.] 1992. 18 Godelier, Rätsel, 281. 17
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steht eine eigennützige Besitzergreifung, Aneignung durch Schikane oder Gewalt, die lediglich durch eine gleiche, und entgegengerichtete Anstrengung … abgegolten wird, die ‚negative Reziprozität‘, wie Gouldner sie nennt. Die Extreme sind positiv und negativ im moralischen Sinn. Die Abstände zwischen ihnen sind nicht einfach Abstufungen des materiellen Gleichgewichts im Tausch, es handelt sich vielmehr um Intervalle der Soziabilität. Die Entfernung zwischen den Polen der Reziprozität impliziert zugleich soziale Distanz.“19
Was aber macht eine Gabe aus, wie lässt sich eine allgemeine Struktur der Gabe beschreiben? Ihre zentralen Elemente haben F. R. Volz und Th. Kreuzer in Form eines Fragenkatalogs der Form: „Wer gibt was, warum und wozu, wem“ erfasst20: 1. Wer ist der Geber? 2. Was wird gegeben? 3. Was sind die Umstände oder der Anlass der Gabe (Geburt, Initiation, Heirat, Trauerfälle, Friedensverträge, Delikte) 4. Warum und wozu wird es gegeben21? 5. Wer ist der direkte Empfänger? Wer ist gegebenenfalls der indirekte Empfänger (Gott; das Publikum; die werberelevante Zielgruppe …) 6. Wer ist gegebenenfalls der Mittler? Da es sich bei der Gabe nicht bloß um einen sich mit einer Gegengabe schließenden Kreis, sondern um einen 19
M. Sahlins, Zur Soziologie des primitiven Tauschs, Berliner Journal für Soziologie 9 (1999) 149–178 [Orig.: The Sociology of Primitive Exchange, in: M. Banton (Hg.), The Relevance of Models for Social Anthropology, London 139–236; Übertragung ins Deutsche: O.F. Raum]. 20 Vgl. F. Volz/Th. Kreuzer, Die verkannte Gabe. Anthropologische, sozialwissenschaftliche und ethische Dimensionen des Fundraisings, in: C. Andrews u.a. (Hg.), Geben, Schenken, Stiften – theologische und philosophische Perspektiven (Fundraising– Studien 1), Münster 2005, hier 20ff (geringfügig modifiziert). 21 Dabei können die Deutungen der Gabe durch Geber und Empfänger, durch Umfeld und ‚Publikum‘ erheblich abweichen.
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Kreislauf handelt, der sich mit weiteren solcher Kreisläufe überschneidet22, ist darüber hinaus zu fragen: Wird die Gabe angenommen, gibt der Empfänger zurück, und wenn ja, in welchem Maß? Auch ist zu fragen: Was verändert die Gabe an der Ausgangssituation, wie werden die Beziehungen der Beteiligten durch sie verändert23? Denn hierdurch erschließt sich ein wesentlicher Aspekt des Gebens. Mauss hatte die Frage nach den Triebkräften der Erwiderung der Gabe ins Zentrum seiner Überlegungen gestellt; die den Kreislauf anstoßende Gabe und ihre Motive traten bei ihm und noch mehr in der folgenden Diskussion zurück24. Doch entspringt bereits der anfänglichen Gabe eine ‚doppelte Beziehung’, die für den weiteren Verlauf von entscheidender Bedeutung ist. Godelier hat sie treffend wie folgt beschrieben: „Das Geben stellt anscheinend zu gleicher Zeit eine doppelte Beziehung zwischen dem, der gibt, und dem, der annimmt, her. Eine Beziehung der Solidarität, da derjenige, welcher gibt, das, was er hat, ja sogar das, was er ist, mit demjenigen teilt, welchem er gibt, und eine Beziehung der Superiorität, da derjenige, welcher die Gabe empfängt und sie annimmt, sich gegenüber demjenigen, der ihm etwas gegeben hat, in eine Schuld begibt. … Das Geben scheint somit eine Verschiedenheit und eine Ungleichheit zwischen Geber und Empfänger herzustellen, eine Ungleichheit, die sich unter gewissen Umständen in eine Hierarchie verwandeln kann: Wenn diese zwischen ihnen schon vor der Gabe existierte, dann wird sie von letzterer zugleich zum Ausdruck gebracht und legitimiert. In ein und demselben Akt sind also zwei entgegengesetzte Bewegungen enthalten. Die Gabe nähert die Protagonisten an, weil sie Teilen ist, und sie entfernt sie sozial voneinander, weil sie den einen zum Schuldner des anderen macht.“25
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Vgl. dazu auch H. Mürmel, Art. Gabe I. Religionswissenschaftlich, RGG4 3 (2000) 445. 23 Vgl. dazu Godelier, Rätsel, 58: In „allen menschlichen Aktivitäten gibt es, damit sie sich konstituieren, immer etwas, was dem Austausch vorausgeht und worin er sich verankert, etwas, was der Austausch zugleich verändert und bewahrt, zu gleicher Zeit weiterführt und erneuert.“. 24 Vgl. Godelier, Rätsel, 16. 25 Godelier, Rätsel, 22.
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Es ist diese ursprüngliche Ambiguität der Gabe, die auch das bereits beschriebene Auseinandertreten in kooperative Formen, bei denen die solidarische Beziehung dominiert, und agonistische Formen, bei denen die Hierarchisierung dominiert, ermöglicht. Eine latente Ambiguität besteht auch bei den großmütigsten Absichten, zumal jede Gabe als symbolisch-kommunikatives Geschehen selbst deutungsbedürftig ist. Überspitzt hat P. Blau den Vorteil der ersten, freiwilligen Gabe so beschrieben: „Geben ist in der Tat seliger als Nehmen, weil es angenehmer ist, bei anderen über sozialen Kredit zu verfügen, als selbst sozial verschuldet zu sein.“26
Doch spätestens an dieser Stelle zeigt sich eine Grundproblematik der gabetheoretischen Diskussion: Kann man Gebenden von vorneherein unterstellen, dass ihr Geben vom Bewusstsein einer verpflichtenden Wirkung begleitet wird und der Gabe eine Berechnung auf Erwiderung innewohnt?27 Aufgrund des von Mauss herausgearbeiteten verpflichtenden Charakters wurden die Motive des Gabentauschs meist in einem „do ut des“ gesehen – und daher vielfach zurückgewiesen. Demgegenüber hat Ricœur die Problematik der Gabe erst in ihrer Erwiderung sehen wollen:
26
P. M. Blau, Sozialer Austausch, 127; vgl. wiederum Gouldner: „es gibt kein Geschenk, das einen größeren Vorteil erbringt, als das freiwillige Geschenk – das Geschenk, an dem keine Fallstricke festgemacht sind. Denn das, was die Menschen wirklich freiwillig hergeben, vermag die Empfänger tief zu bewegen und belässt sie tief in der Schuld ihrer Wohltäter. Wenn Reziprozität letzten Endes die Alltagswelt zusammenhält, so ist es andererseits Wohltätigkeit, welche diese Welt zu transzendieren hilft und die Menschen Tränen der Versöhnung weinen lässt“; A. Gouldner, Etwas gegen nichts. Reziprozität und Asymmetrie, in: ders., Reziprozität und Autonomie. Ausgewählte Aufsätze, übers. v. E. Weingarten u. H. Ebbinghaus, Frankfurt a. M., 118–164, hier 138. 27 Vgl. Gouldners Kritik an Mauss an diesem Punkt; Gouldner, Reziprozität, 134.164 Anm. 3.
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Homo donans „Ein Geschenk durch seine Erwiderung anzuerkennen, heißt das nicht, es als Geschenk zu zerstören? Ist die erste Geste des Gebens großzügig, so zerstört die zweite, die unter dem Zwang zur Gegengabe erfolgte, die Uneigennützigkeit der ersten.“28
Es fällt jedoch schwer zu verstehen, wie die Güte einer ‚reinen Gabe‘ durch ihre (wodurch?) ‚erzwungene‘ Erwiderung im Nachhinein noch zerstört werden kann. Auch kann ein Zwang zur Gegengabe auf sehr verschiedenen Ebenen bestehen: Es sind durchaus Gegengaben denkbar, die aus dem ‚reinen‘ Motiv der Dankbarkeit gegeben werden; doch auch dies kann als innerer oder internalisierter ‚Zwang‘ gedeutet werden. Letztlich erklären die strukturelle Ambiguität und die Deutungsabhängigkeit jeder noch so generösen Gabe besser, warum auch eine der Intention nach ‚reine Gabe’ einen ambivalenten Charakter haben kann. Tatsächlich aber kann man Gebenden nicht unbesehen unterstellen, dass sie sich der verpflichtenden Wirkungen ihrer Gabe bewusst oder gar auf Erwiderung aus sind. Denn selbst in einer traditionalen Gesellschaft, in der die sozialen Normen einen nahezu unausweichlichen Zwang der Gabenerwiderung ausüben, gehen die Gebenden zumindest subjektiv das Risiko ein, keine Gegengabe zu erhalten. Daher hat P. Bourdieu gewarnt: „Wenn sich die Soziologie an die objektivistische Beschreibung hält, reduziert sie den Gabentausch auf das do ut des und beraubt sich der Grundlage für eine Unterscheidung zwischen Gabentausch und Kreditgewährung“29. Sie laufe Gefahr, eine als interessefrei erlebte Handlung „als zynischen Akt“30 zu beschreiben, der von ökonomischen Spielregeln bestimmt wird. Er erinnert daran, dass der „Gebende wie der Nehmende durch die ganze Arbeit ihrer Sozialisation darauf eingestellt und dazu geneigt sind, sich ohne jede auf Profit 28
P. Ricœur, Wege der Anerkennung, Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt a.M. 2006, hier 286. 29 P. Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a. M. 1998, 164. 30 Bourdieu, Praktische Vernunft, 164.
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gerichtete Absicht und Berechnung auf den großmütigen Tausch einzulassen, dessen Logik sich ihnen objektiv aufzwingt“31. Auf diese Weise verinnerlicht, fehlt dem Gabentausch der häufig unterstellte bewusste und zugleich mechanische Charakter. Zum Verständnis des Gabentauschs in traditionalen Gesellschaften ist dabei von großer Bedeutung, dass die Erwiderung einer Gabe die ‚Schuld‘ nicht tilgt, die einer gegenüber dem anderen einging, als er dessen Gabe annahm: „Wenn die Gegengabe die Schuld nicht aufhebt, dann deshalb, weil die gegebene ‚Sache‘ von dem, der sie gibt, nicht wirklich vollständig getrennt oder losgelöst worden ist. Die Sache ist gegeben worden, ohne von dem, der sie gegeben hat, wirklich veräußert worden zu sein. … Geben, das heißt hier übertragen, ohne zu veräußern.“32 Hieran zeigt sich, dass die Logik des Gabentauschs der des Warentauschs oder des Kaufs33 entgegengesetzt ist: Bei letzterem sind die Partner der Transaktion alleinige Eigentümer dessen, was sie gekauft oder getauscht haben. Noch deutlicher wird dieser Gegensatz, wenn auf die Gabe die Gegengabe ebenderselben Sache folgt, die anfangs gegeben hatte34. Aus der Perspektive einer Warentausch- bzw. Geldökonomie wäre eine solche Interaktion nicht nur ein sinnloses Nullsummenspiel, sondern bloße Zeitverschwendung. Beim Gabentausch geht es jedoch darum, soziale Netze zu knüpfen und freundschaftliche Gefühle zwischen den beteiligten Parteien zu wecken35, oder gar darum, Fremdheit oder Feindschaft zu überwinden36. 31
Bourdieu, Praktische Vernunft, 165. Godelier, Rätsel, 64. 33 Gabentausch und pragmatischer Austausch nützlicher Dinge können auch in traditionalen Gesellschaften unterschieden werden, vgl. Mauss, Gabe, 55f. 34 Auch dieser Fall wird in der Ethnologie beschrieben, vgl. Godelier, Rätsel, 65ff. 35 Vgl. Lévi-Straus, Strukturen, 110. 36 In traditionalen Gesellschaften führt der Übergang von Krieg und Feindschaft zum Frieden oft über die Versöhnungsinspektion zum Geben und Empfangen von Geschenken; Lévi-Straus, Strukturen, 126f. 32
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Diese und andere Formen 37 und Funktionen von Gaben sollen im Folgenden für das alte Israel im Kontext seiner Umwelt in den Blick genommen werden. 2
Formen des Gabentauschs im alten Israel
Die Gesellschaft des alten Israel kann zwar kaum zu den sog. primitiven Kulturen gerechnet werden, wie sie in den einschlägigen ethnologischen Studien beschrieben werden, noch weniger diejenigen Nachbarkulturen, die bereits auf zwei Jahrtausende einer beachtlichen kulturellen Entwicklung und Differenzierung zurückblicken konnten. Neben dem Handel in Form von Warentausch und Kompensationsgeschäften war auch im eisenzeitlichen Palästina die Geldwirtschaft bereits verbreitet, zunächst als Rohmetallwährung (in שקליםabgewogene Silberstückchen), dann ab persischer Zeit auch unter Verwendung von Münzen. Dennoch waren die wirtschaftlichen noch sehr viel stärker in die sozialen Beziehungen eingebettet, und neben dem pragmatischen Warentausch oder -kauf hatte der primär soziale und symbolische Gabentausch noch eine hohe Bedeutung. Dabei sind die Grenzen zwischen Gabentausch und Handel oft nicht leicht zu bestimmen, wie auch das sprachliche Inventar des Hebräischen anzeigt: Ob es sich bei von ntn abgeleiteten Nomina wie mattān, mattānāh, mattāt, ’ætnāh und ’ætnān um ein Geschenk, eine Gabe, einen Lohn oder eine Bezahlung handelt, wird oft erst anhand des Kontextes ersichtlich. Und auch bei der Formulierung נתןx לy ( בכסףx dem y um den Preis von Silber geben) wird der Handel noch vorrangig als wechselseitiges Geben begriffen38. Unter den nicht primär ökonomisch orientierten Gaben sind man im alten 37
Zum Versuch einer Klassifikation von Gabeformen s. H. Zinser, Art. Gabe (HRWG 2) 1990, 454–456. 38 Dagegen werden קנהerwerben und מכרim Wesentlichen geschäftlich gebraucht, s. E. Lipinski, Art. מהר, ThWAT VII (1997) 63–71.
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Israel vor allem folgende Formen und Funktionen von Gaben zu beobachten: Gaben zur Besänftigung in konfliktträchtigen Situationen, Gaben im Kontext der Heirat und als Huldigungs- und Loyalitätsgeschenke an Könige und unter Königen. Diese sind im Folgenden näher zu beschreiben. 2.1 Besänftigung in konfliktträchtigen Situationen Die Zuwendung von Gaben und Gütern, die vorrangig der Herstellung und Stabilisierung freundlicher Beziehungen diente, hatte auch sonst im Alten Orient große Bedeutung. In den Mythen der Umwelt spielte diese Art von Gaben sogar im Verkehr der Gottheiten untereinander eine wichtige Rolle. So wird im Baal-Epos der Palastbau für Baal nicht zuletzt durch ein prachtvolles Geschenk Baals an Aschirat39 ermöglicht. Nach der Erschlagung Yammus hat Baal seine Unterkunft noch im Wohnsitz Els, und damit sich das ändert, rät ihm in KTU 1.4 I,19 (vermutlich) Anat: 19 Ferner habe ich dir noch folgende Worte 20 zu sagen: Besorge 21 ein Geschenk für die Dame Aschirat des Meeres, 22 eine Gabe für die Schöpferin der Götter!40
Da der aufstrebende, siegreiche Baal von Aschirat zunächst als potentielle Bedrohung ausgemacht wird, erweist sich Anats Rat, durch ein Geschenk die Situation zu entschärfen und den Palastbau zu erwirken, als kluger Schachzug, um die Gunst der mächtigen Aschirat und dann des El zu erlangen. Aschirat fürchtet den nachweislich gefährlichen Sieger über Yammu beim ersten Anblick noch, wird alsbald aber durch seine prächtigen Geschenke umgestimmt. 39
Es handelt sich offenbar um mit Gold– und Silberintarsien verzierte königliche Möbel wie Baldachin, Thron samt Thronsockel u.a. 40 Übersetzung nach Dietrich/Loretz, TUAT III, 1152.
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Danach kam heran der allmächtige Baal, kam heran die Jungfrau Anat. Sie beschenkten die Dame Aschirat des Meeres, stimmten gütig die Schöpferin der Götter. Und es antwortete die Dame Aschirat des Meeres: „Warum beschenkt ihr die Dame Aschirat des Meeres, stimmt ihr gütig die Schöpferin der Götter? Habt ihr (schon) beschenkt den Stier El, den Gütigen, habt ihr (schon) gütig bestimmt den Schöpfer der Geschöpfe?“ Da antwortete die Jungfrau Anat: „Wir (wollen) hiermit beschenken die Dame Aschirat des Meeres, gütig stimmen die Schöpferin der Götter. Danach wollen wir ihn beschenken.“41
Nach Erhalt der kostbaren Gabe ist Aschirat dem Baal und der Anat gewogen, und zu dritt erwirken sie schließlich bei El den Palastbau für Baal. Auch im Verkehr der Götter untereinander wurde es Gaben folglich zugetraut, freundliche Beziehungen herzustellen und die Beschenkten günstig zu stimmen, so dass sie die Wünsche der Schenkenden erfüllen. Das Götterepos spiegelt hier einerseits Bräuche der damaligen Gesellschaft und besitzt andererseits Vorbildcharakter für die Menschen jener Zeit. Auch im alten Israel galten das Geben und Annehmen von Geschenken – entsprechend dem deutschen Sprichwort: „Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft“ – als ‚soziales Schmiermittel‘. So kannte man durchaus die Praxis von Bestechungsgeschenken, die allerdings von der Weisheitsliteratur einhellig abgelehnt wurden (Prov 15,27; Qoh 7,7). Ihr galt als Ideal vielmehr die generöse ‚milde Gabe‘ an die Armen (vgl. Prov 21,26b). Doch wer freiwillig und ohne Aussicht auf eine Rückzahlung den Armen gibt, dem stellte die Weisheit immerhin noch Segen in Aussicht (vgl. Prov 22,9; 28,27a). Ein geradezu klassisches Beispiel für die beziehungsstiftende Funktion von Gaben in konfliktträchtigen Situationen ist die reiche Gabe, die Jakob seinem Bruder Esau in 41
Übersetzung nach Dietrich/Loretz, TUAT III, 1156f.
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Gen 32,14-22 anbietet, bevor es nach Jakobs Flucht vor dem übervorteilten Bruder in Gen 33,1-11 zur ersten Wiederbegegnung kommt: Er schickt eine unüberschaubare Herde an Kleinvieh und Rindvieh, Kamelen, Eseln und Eselinnen – insgesamt 550 Tiere – voran, die die begleitenden Knechte als מנחהfür Esau erklären sollen (Gen 32,19, vgl. V.14.21.22). Es handelt sich hierbei beileibe nicht um ein argloses Geschenk, doch wird die מנח ִהdamit auch nicht gleich zu einem Tribut,42 das vom Empfänger im Vorhinein eingefordert worden wäre. Bei der Begegnung mit Esau in Gen 33 scheint diese Gabe dann zunächst keine Rolle zu spielen: Nachdem Esau das siebenfache Niederfallen seines Bruders vor ihm – wie bei einer königlichen Audienz43 – mit einer brüderlich-freundschaftlichen Begrüßung beantwortet hat und sie sich weinend in den Armen liegen (Gen 33,4), hat es den Anschein, als sei die Versöhnung schon vollzogen, als seien Klimax und Katharsis der Erzählung bereits erreicht. Doch allein die Rührung des Wiedersehens hat die Gefahr eines weiterschwelenden Konflikts noch nicht aus der Welt geschafft. V.5-11 erzählen weiter: Gen 33,5-11 5
6 7 8
42
Und er erhob seine Augen und sah die Frauen und die Kinder und sagte: Wer sind diese für dich? Er sagte: Die Kinder, mit denen Gott deinen Knecht begnadet hat. Da traten die Mägde hinzu, sie und ihre Kinder, und verneigten sich. Und Lea trat heran und ihre Kinder, und sie warfen sich nieder. Und danach traten Joseph und Rahel heran und warfen sich nieder. Und er sagte: Was soll dir denn dieses ganze Lager, auf das ich gestoßen
So Seebass zu מנחהin Gen 32,14; ders., 386ff. Vgl. auch die Audienzterminologie ( )אראה פניוin Gen 32,21; vgl. dazu v.a. F. Hartenstein, Das Angesicht JHWHs. Studien zu seinem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32–34 (FAT 55), Tübingen 2008, hier 83– 85. 43
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Homo donans bin? Er sagte: Um Gunst zu finden in den Augen meines Herrn. 9 Da sagte Esau: Ich habe reichlich, mein Bruder; es sei deines, was du hast. 10 Jakob aber sagte: Nicht doch! Wenn ich in deinen Augen Gunst gefunden habe, dann nimm meine Gabe (ִ )מנחתיaus meiner Hand! Denn ich habe dein Angesicht gesehen, wie man das Angesicht Gottes sieht, und du hast mich freundlich angenommen. 11 Nimm doch meine Segnung, die dir überbracht worden ist!ִ Denn Gott hat mir Gunst erwiesen, und für mich ist alles da.ִִ So drang er in ihn, da nahm er es.
Handelt es sich hierbei nun um ein Besänftigungsgeschenk oder um die Rückgabe der Erträge des von Esau ergaunerten Erstgeburtssegens? Für letztere Deutung44 kann die auffällige Bezeichnung der Gabe als ‚mein Segen’ ( )ברכתיinִִGenִִ33,11 in Anspruch genommen werden – das Verständnis als eine zumindest teilweise Rückerstattung der Segnung liegt hier jedenfalls näher denn als bloßer Segensgruß. Und auch wenn Jakob nicht gleich alles herschenkt, so handelt es sich immerhin um einen beträchtlichen Teil seiner Habe, der schon ein ganzes Vermögen darstellt. Andererseits gewährt die Erzählung an mehreren Stellen genauen Einblick in Jakobs Motive, und die lassen eine andere Bestimmung der Gabe erkennen. Nach Gen 32,21 will Jakob mit ihr Esaus Angesicht besänftigen ( – )אכפרה פניו במנחהes handelt sich also durchaus um ein Besänftigungs- und Versöhnungsgeschenk45. Ausdrücklich formuliert er die Absicht, Gunst bei Esau zu finden (Gen 33,8b). Jakob selbst bedarf, so drückt er es in Gen 33,10a aus, der Annahme des Geschenks als eines sichtbaren Zeichens, dass Esau ihm tatsächlich Gunst erweist – wie ihm Gott bereits Gunst erwiesen hat (Gen 33,5) – und ihn freundlich annimmt (רצן, Gen 33,10b) – 44
So C. Westermann, Genesis, 2. Teilband. Genesis 12–36, BK I/ 2, Neukirchen-Vluyn 1981. 45 B. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen. Traditions- und religionsgeschichtliche Studien zur priesterschriftlichen Sühnetheologie (WMANT 55), Neukirchen-Vluyn 11982 22000.
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wie er es nach Gen 33,10 bereits am Jabbok erlebt hat. Durch Jakobs Demutsgesten, den Hofstil seiner Sprache46 und seine Auffassung der Begegnung mit Esau geradezu als einer Audienzsituation (Gen 32,21b) erhält die Gabe zudem den Charakter eines Referenzerweises, eines Huldigungsgeschenks47, von dessen Annahme abhängt, ob Jakob schließlich sein Angesicht erheben darf (vgl. Gen 32,21b). Als Esau die große Gabe zunächst abwehrt, kann man fragen, ob er sie tatsächlich nicht braucht, ob eine gewisse Zurückhaltung gewissermaßen zum Ritual, gleichsam „zur Etikette“ gehört, um nicht als bestechlich zu gelten48, oder ob er die große Versöhnungsgeste bewusst in die Schranken weist, um in der Machtposition des ‚Gläubigers’ zu verharren49. Als retardierendes Moment baut sein Zögern jedenfalls für den Moment die Spannung wieder auf, ob es zu dem sichtbaren Ausgleich zwischen den Brüdern tatsächlich kommt. Als Esau die Gabe schließlich annimmt, ist dies zum einen die realsymbolische Anerkennung, dass Jakob tatsächlich in dessen Schuld stand – einer erneuten Gegengabe bedarf es ja keineswegs mehr –, zugleich aber auch, dass dessen demutsvolles Gesuch um Gunst und Verzeihung angenommen ist. 2.2
Heirat und Gabentausch
Zu den Tauschhandlungen, die zwischen verschiedenen Sippen freundliche Beziehungen stiften sollen, gehört 46
‚Mein Herr’ אדני, 32,8.13.14.15; ‚dein Knecht’עבדך, 32,5.21; 33,5. 47 Janowski, Sühne, 110f. 48 Seebass, Genesis, 407. 49 Eine Gabe nicht anzunehmen war dabei meist weniger ein Zeichen von Großmut, sondern behauptet eine Überlegenheit gegenüber dem Geber, zumal wenn jener in einer Bringeschuld steht. Als etwa der namenlose Prophet in der Prophetenlegende 1 Kön 13,1–10 die Hand Jerobeams heilt und der König sich mit einer Gegengabe ( )מתתerkenntlich zeigen will, lehnt der Prophet unter Berufung dies auf ein Verbot JHWHs ab und untermauert damit er, dass er im Gehorsam gegenüber JHWH auch das Geschenk eines Königs von sich weisen und ihn damit beschämen kann.
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sowohl in traditionalen Kulturen als auch in der von den Erzelternerzählungen geschilderten Welt der Gabentausch im Zusammenhang von Hochzeiten. Nach Lévi-Strauss ist hier „die „Beziehung zwischen Heirat und Gaben … nicht willkürlich: die Heirat ist selbst ein Bestandteil der sie begleitenden Leistungen; sie bildet lediglich ihr zentrales Motiv.“50 Verwandtschaft besteht nach Lévi-Strauss geradezu im Austausch, und das zwar vorrangig im Tausch der Frauen zwischen den Männern,51 zumal die Frauen das kostbarste Gut eines Clans bilden52. Geschenke wurden auch in den Erzelternerzählungen nicht erst bei den Hochzeitsfeierlichkeiten überreicht,53 sondern schon im Vorfeld der Eheschließung54. Bei der stellvertretenden Brautwerbung in Aram Naharajim (Gen 24) überreicht55 Eliezer von Damaskus der Rebekka, als diese ihm und seinen Kamelen reichlich zu trinken gegeben hat, einen goldenen Ring von einem halben Scheqel und zwei Armreife von 10 Scheqel Gold – ein ausgesprochen generöses ‚Trinkgeld’, bei dem man allenfalls spekulieren kann, ob Rebekka es zudem als Vorausbezahlung 50
Lévi-Strauss, Strukturen, 122. Anders als Lévi-Strauss noch annahm, existieren in traditionalen Kulturen durchaus auch die anderen Möglichkeiten des Tauschs von Personen zwischen den Clans im Zusammenhang der Heirat: der Tausch von Männern zwischen den Frauen (die Tetum in Indonesien) und von Frauen und Männern. Der Tausch von Frauen unter Männern ist aber durchaus die häufigste Form, s. dazu Godelier, Rätsel, 53f. 52 Strukturen, 90ff.121. Auch Godelier, Rätsel, 52–54, betont (im Anschluss an Weiner, Possessions), dass es sich bei den Frauen um die kostbarsten Güter handelt, und die als Symbole der Würde eines Clans unveräußerlichen Güter sind großenteils weiblich, von Frauen hergestellte Güter 53 Vgl. Ps 45,13. 54 Zur ersten Aufnahme von Beziehungen zwischen jungen Männern und Frauen in traditionalen Ethnien durch das Angebot kleinerer Geschenke s. Lévi-Strauss, Strukturen, 126. 55 Da V.22 nur vom (Heraus-)Nehmen des Goldschmucks spricht, meint Jacob, dass Eliezer ihn der Rebekka noch nicht übergeben habe (Genesis, 521); dem widerspricht, dass sie ihn nach V.30 schon an sich trägt. 51
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des Quartiers auffassen konnte56. Das großzügige Geschenk verfehlt seine Wirkung bei Rebekkas Bruder Laban nicht (Gen 24,30), auch wenn es nach Eliezers mitreißender Erzählung über seine Mission doch vor allem der Eindruck unwiderstehlicher göttlicher Fügung sein mag, der Rebekkas Vater und Bruder ohne zu zögern in die Heirat mit Isaak einwilligen lassen. Daraufhin überreicht Eliezer der künftigen Braut kostbare Geschenke, nämlich silbernen und goldenen Schmuck57 sowie Kleider, und dem Bruder und der Mutter kostbare Geschenke ( ;מגדנתV.35). Die wertvollen Gaben an Rebekka sollen, so sind sich die Ausleger einig, bei ihr Vertrauen und freundliche Gefühle gegenüber dem Bräutigam und seinem Haus wecken. Die Gaben an die Verwandten wurden hingegen häufig als ‚Brautpreis’ ( )מהרoder als Überbleibsel eines solchen58 gedeutet. Eingewendet wurde, dass diese Gaben nicht dem Vater Betuel überreicht werden 59; doch spielt Betuel in der gesamten Erzählung keine Rolle – anders als Laban, der offenbar die Geschicke des Hauses lenkt.60 Aber da der Begriff מהרfehlt, besteht kein Grund61, hier eine Brautpreisübergabe und eine rechtsverbindliche Verlobung festzustellen. Die Gaben sind aber nicht nur der „spontane Ausdruck der Freude über die zustanden gekommene Verbindung“62, sondern sollen bei der ganzen Familie der Braut günstige Gefühle gegenüber der neuen und 56
B. Jacob, Das erste Buch der Tora. Genesis, Berlin 1934, 521. Vgl. HAL s.v. כליzur Stelle. 58 Z.B. G.J. Wenham, Genesis 16-50 (WBC 2), Dallas 1994, 149f. 59 Jacob, Genesis, 528. 60 Lediglich in V.50 wird der Vater genannt, aber merkwürdigerweise nur an zweiter Stelle, so dass Seebass hier sogar ביתו אליו konjiziert, weil Betuel hier „sonst nie lebend gedacht wird“; H. Seebass, Genesis II/1. Vätergeschichte I (11,27-22,24), Neukirchen-Vluyn 1997, 241. 61 E. Lipinski, Art. נתן, ThWAT V (1986), 693–711, hier 703f vermutet, dass es sich hier um ein Äquivalent zu dem dumāqū der mittelassyrischen Gesetze handele, die der Gemahlin nur zu Nutznießung während der Ehe übergeben waren. Doch auch für diese Annahme gibt es keinen Hinweis. 62 So Jacob, Genesis, 55. 57
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erneuerten verwandtschaftlichen Bindung hervorrufen und diese Bande für die Zukunft stärken. Während nun aus traditionalen Kulturen bekannt ist, dass ein Mann seine Schwester gibt und die Schwester des anderen erhält63, war dies im alten Israel anscheinend nicht die Regel, jedoch war es üblich, dass der Bräutigam oder sein Vater dem Vater des Mädchens den bereits erwähnten מהרgab, im Austausch für die Tochter. Dieser Brauch ist auch in den Nachbarkulturen belegt, in Ugarit unter dem etymologisch verwandten Terminus mhr.64 Wenn auch das Verständnis der Gabe eines מהרals eines schlichten Kaufs inzwischen meist vermieden wird65, so ging die Funktion des מהרüber die einer rein finanziellen Entschädigung66 für die Arbeitskraft der jungen Frau67 gewiss hinaus. Dass ihm eine junge Frau vom pater familias einer anderen Sippe gegeben wurde, war vom Bräutigam vielmehr mit einer Gegengabe zu beantworten, die von wichtiger symbolischer und sozialer Bedeutung war und ihn dem Vater gewogen machte68, Von Interesse ist in diesem Zusammenhang Gen 34, auch wenn diese in vieler Hinsicht skandalisierende Geschichte nicht einfach altisraelitischen Alltag widerspiegelt. Skandalisierend ist sie nicht nur, weil es Dinas Brüdern nur um die Rache für die verletzte Ehre der Schwester zu tun ist, 63
Vgl. die ethnologischen Beispiele bei Lévi-Strauss, Strukturen, 121ff; Godelier, Rätsel, 53ff. 64 E. Lipinski, Art. מהר, ThWAT 4 (1984) 717–724, hier 722–724. 65 Vgl. Lipinski, נתן, 703. 66 Jedenfalls handelt es sich nicht, wie vereinzelt aus מהר הבתולת in Ex 22,16 zu schließen versucht wurde, um eine Entschädigung für den Verlust der Jungfräulichkeit, zumal בתולהvielfach auch für verheiratete Frauen gebraucht wird. 67 Vgl. Lipinski, מהר719; ders., נתן, 703f. 68 Möglicherweise behielt der Vater des Mädchens den מהרaber nicht gänzlich für sich, sondern er kam der Tochter als eine Art Versicherung oder Wittum zu. So beschweren sich die Töchter Labans vermutlich darüber, dass sie von ihrem Brautpreis – in dem Fall dem Dienst Jakobs – nichts erhalten haben, so dass die Verwertung des מהרallein durch den Vater wohl nicht die Regel war, s. dazu Lipinski,מהר, 721.
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ohne dass sich jemand um die vergewaltigte69 Dina selbst kümmert (auch nicht der Erzähler). Skandalisierend ist sie auch, weil die ehrwürdige Beschneidung instrumentalisiert wird für eine unmäßige Vergeltung70, weil Jakob am Ende nur seinen beschädigten Ruf bei den Kanaanäern beklagt und der Text keine theologische Perspektive erkennen lässt, aus der die Handlung Israels kritisch beurteilt wird. Sie ist in unserem Zusammenhang aber von großem Interesse, weil Sichems Vater Hamor, offenbar in Anlehnung an landläufigen Brauch, einen Tausch der Töchter zwischen den fremden Sippen vorschlägt, um mit den Israeliten verwandtschaftliche Beziehungen einzugehen. 8
Da redete Hamor mit ihnen und sagte: Mein Sohn Sichem – sein Verlangen hängt an eurer Tochter. Gebt sie ihm doch zur Frau. 9 und verschwägert euch mit uns: Eure Töchter mögt ihr uns geben, unsere Töchter nehmt ihr euch. 10 Und mit uns mögt ihr wohnen, und das Land soll euch offenstehen! Lasst euch nieder, treibt Handel und werdet in ihm ansässig! 11 Und Sichem sagte zu ihrem Vater und zu ihren Brüdern: Ich möge in euren Augen Gunst finden! Und was ihr mir auch sagt, ich will es euch geben. 12 Macht mir Brautpreis und Gabe nur sehr groß, und so will ich geben, wie ihr mir sagt. Nur gebt mir das Mädchen zur Frau!
69
Auch wenn man aus שכב אתin V.2 allein noch nicht einen gewaltsamen Übergriff herauslesen kann, so doch aus ענהpi., das die gesamte Tat charakterisiert (anders Ex 22,15). Zwar verhält sich Sichem im Folgenden völlig anders als Amnon in 2 Sam 13, doch ist davon auszugehen, dass die ‚Erniedrigung’ von V.2 ohne Dinas Einwilligung stattfand, zumal es sich um eine nicht legitime Verbindung handelt. Dann aber ist von Vergewaltigung zu sprechen, vgl. anders Seebass, Genesis, 418.420.422f. Ex 22,15f und Dtn 22,28f sollen solche Konflikte regeln; durch nachträgliche Herstellung des Rechts wird das Vergehen der Erniedrigung der jungen Frau und der Schädigung des Vaters in ethischer Hinsicht jedoch nicht verringert. 70 So muss sie angesichts von Ex 22,15f und Dtn 22,28f erscheinen.
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Wenn der Sohn des Stadtfürsten in eine zuvor völlig fremde Sippe einheiratet, so liegt es nahe, dass seine Heirat darüber hinaus in weitere verwandtschaftliche Beziehungen eingebettet wird bzw. weitere Eheschließungen zwischen den Sippen erfolgen. Chamor, der möglicherweise von der Vergewaltigung Dinas durch seinen Sohn Sichem nicht einmal etwas weiß und seinem Namen gemäß völlig arglos handelt, mag seinen Vorschlag eines Konnubiums und Kommerziums mit Jakobs Sippe für ein gutes und gastfreundliches Angebot mit Vorteilen für alle Beteiligten halten71. Und Sichem ist offenbar bereit, jeden Preis zu zahlen, um Dina zur Frau zu erhalten: Neben dem üblichen Brautpreis ()מהר, zu dem ihn Recht und Tradition verpflichten, ist er bereit, noch eine große Gabe nach Belieben der Jakobssippe aufzubringen. Bei diesem מתִןkann es sich um eine Art Morgengabe oder Wittum handeln, die die Braut im Fall einer Witwenschaft vor der allergrößten wirtschaftlichen Not bewahren sollte, vergleichbar dem akk. nudunnû.72 Doch ist gewiss, wie schon in Gen 24,53, auch an Gaben für die Verwandtschaft gedacht, zumal Sichem sich dessen bewusst sein dürfte, dass er zur Konfliktschlichtung und zur Knüpfung verwandtschaftlicher Bande eine beträchtliche Kompensation zu erbringen hat. Dass die Söhne Jakobs auf diesen Tausch nicht eingehen, wird offenbar vom dtn. Verbot von Bundesschluss und Konnubium mit Kanaanäern legitimiert. Die Nähe von Gen 34,9 zu Dtn 7,3 sollte man allerdings auch nicht überschätzen, da Dtn 7 nur zur Zerstörung der religiösen Stätten der Kanaanäer, nicht zum Bannvollzug auffordert, an den jedoch wiederum die Begrifflichkeit von Gen 34,.2529* erinnert. Das dtn. Verbot unterbindet somit die in ethnologischen Studien sonst vielfach belegte Knüpfung verwandtschaftlicher Beziehungen (jedenfalls mit den 71
Zur Inzestproblematik vgl. Lévi-Strauss, Strukturen, 57ff u. passim; die Bevollmächtigung zum Handel in der Region um Sichem musste Halb- bzw. Kleinviehnomaden als erheblicher ökonomischer Vorteil erscheinen. 72 Vgl. Lipinski, נתן, 703f.
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‚Kanaanäern’) durch den Tausch von Frauen und Geschenken, und Gen 34 exemplifiziert dies auf drastische Art und Weise. 2.3 Huldigungs- und Loyalitätsgeschenke an Könige und unter Königen Eine wichtige Form der Gabe im Alten Orient war die Huldigungsgabe, die Höhergestellte wie Könige oder Angehörige des Hofs zu erwarten hatten, insbesondere, wenn Untergebene ihre Loyalität bezeugen sollten oder als Bittsteller auftraten und sich besonders um Gunst bemühen mussten. Diese Art von Gaben, die im Althebräischen häufig mit dem ansonsten als Opferterminus geläufigen Begriff מנחהbezeichnet werden, sind keine freiwilligen Geschenke73, sondern bestätigen durch die symbolische Handlung der Gabe die Machtposition des Empfängers. Es überrascht daher nicht, dass מנח ִהauch ‚Tribut’ bedeuten kann, und es ist oftmals schwer zu bestimmen, ob מנחה noch eine Huldigungsgabe oder bereits eine Tributzahlung
73
Fabry zeigt sich überrascht, dass מנחהsowohl Geschenk als auch Tribut bedeuten kann: „minḥāh ist als Bezeichnung für ‚Tribut entweder ein Euphemismus oder aber in den semantischen Perspektiven ‚Geschenk’, ‚Tribut’ und ‚Speiseopfer’ liegt eine gemeinsame Grundanschauung vor“; H. J. Fabry, Art. מנחהI.– IV.VI, ThWAT (1984) 987–997.1000–1001, 996. Tatsächlich trifft die moderne Vorstellung eines spontan und absichtslos erbrachten Geschenkes auf den Ausdruck מנחה, besonders deutlich bei seinem profanen Gebrauch, nicht zu, denn fast immer ist eine מנחהeine Gabe an einen Höhergestellten, den man nicht einfach übergehen kann oder dem man Ehre erweisen will. Auch als Opferterminus hat מנחהden Beiklang des Reverenzerweises an JHWH (vgl. etwa Ps 96,8 par.) behalten; so im Anschluss an Fabry auch I. Willi-Plein, Opfer und Kult im alttestamentlichen Israel. Textbefragungen und Zwischenergebnisse (SBS 153), Stuttgart 1993; Chr. Eberhart, Studien zur Bedeutung der Opfer im Alten Testament (WMANT 94), Neukirchen-Vluyn 2002; Marx, Offrandes végétales, 24–28. Ein Rekurs auf einen etymologischen Zusammenhang mit נוחund die beruhigende Wirkung der מנחה, wie Fabry (מנחה, 996) vorschlägt, ist für diese Deutung nicht erforderlich.
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ist74. Ähnliches gilt bereits für den ugaritischen Ausdruck mnḥ, der etwa im Baal-Epos in KTU 1.2 I 38 gebraucht wird, als Yammu von Baal eine Abgabe als symbolische Anerkennung seiner Überlegenheit fordert: 36 [Da ant]wortete der Stier, sein Vater El: „Dein Sklave ist Baal, oh Yamm, dein Sklave ist Baal, 37 oh [Flu]ß, der Dagan-Sohn dein Gefangener! Er muß dir Tribut (argmn) bringen wie die Götter, 38 [er] muß dir Abgabe (mnḥ) bringen wie die Söhne des Heiligen!“ Da wurde schwach der Fürst Baal.75
Eine Huldigungsgabe zu erbringen bzw. erbringen zu müssen, symbolisiert die Unterordnung des Gebers unter den Empfänger. „Eine … minḥāh an das Landesoberhaupt ist üblich, um sich seine Gunst zu sichern.“76 Brisant wird es, wenn der erwartete Reverenzerweis nicht erbracht wird: Nach 1 Sam 10,27 verweigern einige vom Volk eine Huldigungsgabe an den soeben akklamierten König Saul ()מנחה, der daraufhin auch nichts weiter unternimmt, um diese noch einzufordern. Dem König die ehrende Gabe zu verweigern, wird aus Erzählerperspektive verurteilt, schließlich ist sie ein entwürdigender Affront gegenüber Saul, dem gleich zu Beginn der Herrschaft die Grenzen seiner Macht aufgezeigt werden. Dabei ist eine Huldigungsgabe kein reines Geschenk. „Eine minḥāh als Geschenk wird nie ganz ohne Absicht überreicht. In allen Fällen wird mehr oder weniger offenkundig mit der Geschenkübergabe ein bestimmtes Ziel zu erreichen gesucht. So soll zuerst die minḥāh den Beschenkten dem Geber gewogen machen“.77 Das gilt so
74 75 76 77
In Ps 72,10 steht parallel zu אשכרTribut H. J. Fabry, מנחה, 995. Übersetzung von Dietrich/Loretz, TUAT III, 1123. Fabry, מנחה, 995. Ebd.
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Abb. 1: Apadāna, Nordfassade und -treppe, Persepolis (Rekonstruktion)78
Abb. 2: Gabenbringer an der Osttreppe des Apadāna, Persepolis (Zeichnung) Syrer mit Metallgefäßen und zwei Widdern79
wohl für die מנחהJakobs und seiner Söhne in der Josefserzählung (Gen 43,11.15. 25.26), die möglichen Ansprüchen Josefs auf Benjamin vorbeugen soll, als auch für die königliche Gabe an Elischa 2 Kön 8,8f. Auch für Gen 32,14-22; 33,1-11 wurde bei Jakobs מנח ִהfür Esau bereits ihr Charakter als um Gunst werbender Reverenzerweis festgestellt. Wenn ausländische Völker einem König Gaben bringen, so ist dies ein Zeichen der Pracht- und Machtentfaltung dieses Königtums (2 Kön 20,12 = Jes 39,1; 2 Chr 32,23), das zu den königsideologischen Idealvorstellungen gehört 78
Aus: F. Hartenstein, Das Angesicht JHWHs. Studien zu seinem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32–34 (FAT 55), Tübingen 2008, 332 Tafel 38, 1a. 79 Aus: H. Koch, Es kündet Dareios der König (...). Vom Leben im persischen Großreich (Kulturgeschichte der antiken Welt 55), Mainz 1992, 107 Abb. 61.
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und ikonographisch am einschlägigsten auf den Reliefs der achämenidischen Großkönige dokumentiert ist (Abb. 1-2). Auch Ps 72,10 enthält diese Vorstellung: Die Könige von Tarsis und den Inseln entrichten Geschenke, die Könige von Scheba und Saba bringen Tribute heran.
Die Erwähnung von Saba ist hier gewiss kein Zufall, immerhin ist der Austausch von Gaben zentrales Motiv der Erzählung vom Besuch der Königin von Saba 1 Kön 10,113. Diese Geschichte „die so sehr, fast maßlos, zum Ruhme Salomos erzählt ist“80, ist als Veranschaulichung von Salomos Pracht im Sinne von 1 Kön 5,9-14 besonders geeignet, weil die von so weit her anreisende Königin den Gerüchten über seine Weisheit und seinen Reichtum zunächst skeptisch gegenüber steht und ihn mit harten Rätselfragen auf die Probe stellt (V.1), um schließlich – nach Salomos Beantwortung all ihrer Fragen, nach Besichtigung seiner Bauten und nach einem königlichen Festmahl – uneingeschränkt sagen zu können, dass Salomos vielgerühmte Weisheit und Pracht von der Wirklichkeit noch weit übertroffen wird. Da der Tross der Königin zunächst ihre Pracht demonstriert und Salomo sich dem weisheitlichen Wettstreit stellen muss, wird seine Ehre anfangs durchaus herausfordert – ihr Besuch hat zunächst durchaus agonistische Züge. Und gerade weil der Austausch von Geschenken zum Hofzeremoniell gehört81, aber bei all den mitgebrachten Reichtümern der Königin (Balsam, Gold, kostbare Steine; V.2) zunächst noch nicht einmal von einem Gastgeschenk die Rede ist, ist die Übergabe der üppigen Gabe von 120 Talenten Gold82 in V.10 ganz 80
M. Noth, Könige (BKAT IX/I), Neukirchen 1968, 226. V. Fritz, Das erste Buch der Könige (ZBK 10,1), Zürich 1996, 112. 82 Das sind nach Fritz, Könige, 112, 4112 oder 4935 kg Tonnen. Gold; M. Rehm, Das erste Buch der Könige, Würzburg 1979, ist der Ansicht, dass eine solche Menge nicht mehr als Geschenk, sondern als Gegenwert für im Lauf der Zeit gelieferte Güter zu verstehen ist. Allerdings ist fraglich, mit wie viel Realismus man in dieser 81
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zugespitzt auf die Bestätigung von Salomos Weisheit und Reichtum. Weil ihm die nachgesagte Ehre tatsächlich gebührt, gebührt ihm auch diese opulente Huldigungsgabe. Und so wie er in seiner Weisheit auf jede Rätselfrage die rechte Antwort weiß (V.3), so kann er auch die üppige Gabe der Königin von Saba erwidern und alles geben, was sie sich wünscht (V.13). Weil sich beide in ihrem geradezu verschwenderischen Gabentausch83 als ebenbürtig erweisen, bekommen die Gaben am Ende doch einen freundschaftlichen, beziehungsstabilisierenden Charakter. Auch in 1 Kön 10,23-25 wird schließlich die Pracht der Herrschaft Salomos durch die Gaben herausgestellt, die ihm von aller Welt gebracht, wobei in V.25 nicht eindeutig ist, ob es sich bei der „Jahr für Jahr“ von gebrachten מנחהum eine Huldigungsgabe oder um einen Tribut handeln soll84.
3.
Gottes Gaben und Gaben an Gott
Bislang ist ein in Israel wie in seiner Umwelt ganz wesentlicher Bereich des Gebens ausgespart geblieben, der hier auch nur kurz angesprochen werden soll, und das ist die Zirkulation von Gaben im Verkehr mit Gott bzw. den Göttern. In der Rezeption des Mauss‘schen ‚Klassikers’ wurden die Gaben an die Götter, Geister und die Menschen, die diese repräsentieren, weitgehend außer Acht gelassen. Mauss hatte das Opfer primär als Gabe verstanden – an die Toten, an die Geister oder an die Götter: „Mit ihnen war der Austausch am notwendigsten und der Erzählung rechnen kann. 83 Zwar war die Bedeutung solcher Zusammentreffen auch für Handelsbeziehungen wichtig, doch geht es hier gewiss nicht primär um einen wirtschaftlichen Handel (vgl. aber J. Gray, 1 and II Kings. A Commentary (Old Testament Library), London 31980, 257.259: „trade mission“; vgl. Lipinski, נתן, 702: „Tauschhandel“; dagegen Noth, Könige, 226f. 84 Vgl. E. Würthwein, Die Bücher der Könige (ATD 11/1,2), Göttingen 1984, 127.
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Nichtaustausch am gefährlichsten.“85 Entsprechend den Gaben an andere Menschen hat auch das Opfer nach Mauss die Fähigkeit, auf die Götter und Ahnen einen Zwang auszuüben, ihrerseits dem Opfernden etwas zurückzugeben. Mauss war sich durchaus darüber im Klaren, dass nach Auffassung der traditionalen Kulturen die Geister der Toten und die Götter – als die wahren Eigentümer der Dinge und Güter der Welt – den Menschen von vornherein überlegen sind. Doch berücksichtigte er nicht genug, dass es den Göttern und Geistern freisteht, zu geben oder zurückzuhalten, da die Menschen bereits in deren Schuld stehen86. Tatsächlich wäre eine gabetheoretische Reduktion der Motive des Opfers auf ein do ut des eher ein opfertheoretischer Rückschritt. Die kulturanthropologischen Einsichten der gabetheoretischen Diskussion erweisen sich aber insofern als weiterführend, wenn man die Verpflichtung zu den Gaben an die Götter als notwendig begreift, weil durch sie der Verkehr mit den Göttern aufgenommen und günstige Beziehungen zu ihnen aufrechterhalten werden. Durch Opfergaben werden die wirkmächtige Präsenz und die Vorrechte der Gottheiten und divinen Wesen anerkannt und die von ihnen gewährten Gaben beantwortet. Aber es steht den Menschen nicht einfach frei, Gaben an göttliche Wesen zu bringen oder auch nicht. Das hat Godelier treffend beschrieben: „Die Praxis der Gabe erstreckt sich … über die Welt der Menschen hinaus und wird zu einem wesentlichen Element einer religiösen Praxis, d.h. von Beziehungen zwischen den Menschen und den Geistern und Göttern, die gleichfalls das Universum bevölkern. … Der Glaube an die Seele der Sachen verstärkt die Personen und die sozialen Beziehungen, aber er vergrößert sie auch, weil er sie sakralisiert. … Indem nun der Glaube an die Seele der Dinge zugleich die Objekte, die Personen und die Beziehungen sakralisiert, verstärkt und vergrößert er nicht nur eine Welt, die aus persönlichen Beziehungen besteht, er verändert ihren Charakter, ihr Aussehen und ihren Sinn. Er verwandelt sie. Anstatt lediglich durch das Mittel der Objekte, die sie dem anderen geben, auf 85 86
Mauss, Gabe, 43. So die Kritik Godeliers, ders., Rätsel, 48.
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ihn einzuwirken, erscheinen sie als von den Objekten, die sie geben, oder die sie empfangen, Betroffene, die deren Willen und deren Verlagerungen unterworfen sind.“87
Dabei liegt es auf der Hand, dass Opfer und Gabe grundlegende strukturelle Ähnlichkeiten haben.88 So unterscheidet Janowski sechs Strukturelemente des Opfers: 1) agierende Personen, 2) die Opfergabe, 3) Ort und Zeit des Opfers, 4) Empfänger, 5) Motive / Intentionen des Opfers.89 Die Überschneidungen mit den oben ausgeführten Strukturelementen der Gabe („Wer gibt was, warum und wozu, wem?“) sind nicht zufälliger Art. Tatsächlich rückt in jüngeren opfertheoretischen Beiträgen 90 der Gabecharakter gegenüber früheren, eher an der Gewaltproblematik orientierten Entwürfen91 stärker in den Mittelpunkt. Es wäre gewiss verkürzend, den umstrittenen und kaum zu definierenden Begriff des Opfers nun hauptsächlich von der Gabe her deuten zu wollen.92 Dennoch ist es für bestimmte Bereiche der Opferpraxis des alten Israel erhellend, sie als Zirkulation von beziehungsstiftenden Gaben 87
Godelier, Rätsel, 151f. Vgl. Eberhart: „Das Wesen der alttestamentlichen Opfer ist demzufolge nachhaltig als ‚Gabe‘ charakterisiert, die den Aspekt der Darbringung ‚für JHWH‘ ( )ליהוהjeweils implizit oder explizit zum Ausdruck bringt ….“; Chr. Eberhart, Studien zur Bedeutung der Opfer im Alten Testament (WMANT 94), Neukirchen-Vluyn 2002, 400. 89 B. Janowski, Opfer, 36. 90 Vgl. neben Eberhart, Studien, 400 (s.o. Anm. 118) v.a. A. Marx, Art. Opfer. Religionsgeschichtlich, 1. Alter Orient und Altes Testament, in: RGG4 6 (2003) 572–575; G.U. Dahm, Art. Opfer, in: M. Bauks/K. Koenen (Hg.), Wissenschaftliches Bibel–Lexikon im Internet (www.wibilex.de) (letzte Änderung: Nov. 2007) 91 W. Burkert, Homo necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin 1972; R. Girard, Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a. M. 1994; s. Janowski, Opfer (I) AT, LThk 7 (1998), 36–40; Ph. Borgeaud, Art. Opfer. Religionswissenschaftlich, in: RGG 4 6 (2003) 570–572. 92 Zu anderen Hauptmotiven des Opfers, die in der Diskussion ebenfalls zu Recht genannt werden, s. Janowski, Opfer, 36f. Beim Brand-, Sünd- oder Schlachtopfer sind offenbar andere Bedeutungen vorrangig. 88
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zu verstehen. So galt als eine der wichtigsten Gaben JHWHs, neben der theologisch zentralen Gabe des Landes, sein Segen, d.h. Reichtümer (Gen 24,35), Weisheit und Ehre (1 Kön 3,12f), Essen und Trinken (Qoh 3,18; 5,18) und vor allem Kinder. Wem man die Nachkommen verdankte, wurde oft sehr konkret in ihren Namen festgehalten: מתִן, מתני ִה, נתני ִה, נתניהִו, ִיהונתן,אלנתן. Charakteristisch für das Verständnis von Kindern als Gabe JHWHs ist Hannahs Gebet um einen Sohn, den sie im Falle ihrer Erhörung an JHWH zurückzugeben gelobt: 1 Sam 1,11 Und sie legte ein Gelübde ab und sprach: JHWH Zebaoth, wenn du das Elend deiner Magd ansehen und meiner gedenken und deine Magd nicht vergessen wirst und deiner Magd einen männlichen Nachkommen geben ( )נתןwirst, so will ich ihn JHWH alle Tage seines Lebens geben (ִ)נתן. Und kein Schermesser soll über sein Haupt kommen.
Hannah stellt JHWH eine Erwiderung seiner Gabe in Aussicht für den Fall, dass er ihre Bitte erhört. Als Samuel geboren wird, hat sie durch ihre Mutterschaft einen anderen Status in Familie und Gesellschaft erlangt und gibt ihren Sohn JHWH tatsächlich zurück, indem das Kind Nasiräer wird. An diesem Beispiel wird auch deutlich, wie unzureichend es ist, Gaben an Gott vorwiegend vom Begriff des Opfers, und diesen vom Aspekt der Zerstörung des Gegebenen zu verstehen. Auch die Leviten gelten nach Num 8,6-22 18,1-6 als JHWH gegeben (נתונים, Num 8,16.19; 18,6) und anstelle der erstgeborenen Söhne Israels zum Tempeldienst ausgesondert; demnach hätten die JHWH gehörenden Erstgeborenen am Tempel dienen müssen und konnten nur in der Familie bleiben, weil der Stamm Levi an ihre Stelle getreten war93. Auch wird eine 93
Auch in Ex 13,11–16 ist es insofern auch nicht zwingend, die Gabe der erstgeborenen Söhne mit einem abgegoltenen Menschenopfer bzw. mit Gen 22 in Verbindung zu bringen, zumal nicht einmal explizit davon die Rede ist, dass die Auslösung durch das Opfer eines Kleintiers erfolgt vgl. aber anders etwa M. Noth, Das Buch Exodus (ATD 5), Göttingen 21962,79f.
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Klasse niedrigerer Tempeldiener mit dem terminus technicus נתיניםbezeichnet94. Insgesamt lassen sich vor allem Gelübde und Votivgaben lassen sich weitgehend in einem gabetheoretischen Rahmen verstehen, ebenso das Dankopfer und die Erntedankgaben. So wäre es bei einem Erntefest allemal ein Affront, nicht einen Teil des erhaltenen Segens an JHWH zurückzugeben95. Ausblick: Auf dem Weg zu einer Theologie der Gabe In modernen Gesellschaften, so heißt es häufig, habe sich die Bedeutung der Gabe auf den Bereich des privaten Schenkens und der Einladung reduziert96. Dass es sich schon in traditionalen Kulturen bei den Gaben nicht ausschließlich um Güter und wirtschaftlich nützliche Dinge handelt, sondern auch um „Höflichkeiten, Festessen, Rituale, Militärdienste, Frauen, Kinder, Tänze, Feste, Märkte“97, lässt den sozialen Tausch darüber hinaus als ein umfassendes Thema der Sozialtheorie erscheinen. Seit Simmel räumen immer wieder große soziologische Entwürfe dem wechselseitigen Tausch von Gütern und Wohltaten eine konstitutive Rolle für die Vergesellschaftung ein, darunter diejenigen von Alvin Gouldner, Peter M. Blau und Pierre Bourdieu98. Frank Adloff und Stefan Mau 94
Vgl. 1Chr 9,2; Esr 2,43.58.70; 7,7; 8,17.20; Neh 3,26.31; 7,46.60.72; 10,29; 11,3.21 und dazu vgl. Lipinski, נתן, 709–712 95 Vgl. etwa Ex 23,15b. 96 Vgl. H. Berking, Schenken. Zur Anthropologie des Gebens, Frankfurt a.M. /New York 1996, 16ff. 97 Mauss, Gabe, 22. 98 Gouldner, Etwas gegen Nichts; P. M. Blau, Exchange and Power in Social Life, New York 1964; ders., Sozialer Austausch, in: F. Adloff /S. Mau (Hg.), Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität (Theorie und Gesellschaft 55), Frankfurt/New York 2005, 125–137 [zuerst erschienen als Social Exchange, in: D.L. Sills (Hg.), International Encyclopedia of Social Sciences, Vol. 7, New York / London 1968, 452–457; dt. Übersetzung von D. de Olano u. S. Mau]; Bourdieu, Praktische
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sprechen gar vom Homo Reciprocans und Jacques Godbout vom Homo Donator99. Offenbar handelt es sich beim Austausch von Gaben doch um ein übergreifendes Phänomen menschlicher Sozialität. Auch deshalb ist er ein zentrales theologisches Thema. O. Bayer stellt sogar fest: Gabe „ist ein Urwort der Theol[ogie] – was von dieser aber erst noch zu entdecken und bis in die Ontologie hinein zu ermessen ist“100. Tatsächlich sind theologische Beiträge, die die kulturanthropologische Gabetheorie aufnehmen, derzeit noch selten101. Dabei gehen theologische Überlegungen zur Gabe meist von den Vorgaben Gottes aus. Das hat durchaus Tradition. Schon Thomas von Aquin schreibt in seiner Summa Theologiae: „Der Mensch kann Gott nur zurückgeben, was er ihm schuldet. Doch er kann seine Schuld nie ausgleichen.“102
Der theologische Blick fällt mit Recht zunächst auf die Vor-Gaben Gottes: Gott gilt als ‚Ursprung und Quell aller guten Gaben’. Theologische Gabetheorien laufen in ethischer und anthropologischer Hinsicht allerdings häufig Vernunft, 163ff. 99 Adloff /Mau, Theorie, 35; J.T. Godbout, Homo Donator versus Homo Oeconomicus, in: A. Vandervelde (Hg.): Gifts and Interests, Leuven 2000, 23–46. Beide grenzen sich dabei vom gängigeren Homo Oeconomicus–Konzept in Soziologie und Ökonomie ab 100 O. Bayer, Art. Gabe II. Systematisch–theologisch, RGG 4 3 (2000) 445–446. 101 Zu den wenigen theologischen Beiträgen gehören M. Frettlöh, Der Charme der gerechten Gabe. Motive einer Theologie und Ethik der Gabe am Beispiel der paulinischen Kollekte in Jerusalem, in: J. Ebach/H.M. Gutmann/M.L. Frettlöh (Hgg.), Leget Anmut in das Geben, München 2001, 105–161, Hoffmann, Rück-Gabe, 145ff; J. Werbick, Gottes-Gabe. Fundamentaltheologische Reflexionen zum Gabe–Diskurs, in: V. Hoffmann (Hg.), Die Gabe. Ein „Urwort“ der Theologie, Frankfurt a.M. 2009, 15–32; O. Bayer, Ethik der Gabe, in: V. Hoffmann (Hg.), Die Gabe. Ein „Urwort“ der Theologie, Frankfurt a.M. 2009, 99–124. 102 Thomas von Aquin, Secunda secundae Summae theologiae quaestione LVII ad quaestione CXXII (quaestio 80), zitiert nach Godelier, Rätsel, 287.
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Gefahr, allein das Ideal der reinen Gabe für das christliche Ethos zu reklamieren und demgegenüber jeden nicht gänzlich absichtslosen Gabentausch vom kalkulierenden do ut des her zu interpretieren und zu diskreditieren. Auf diese Weise jedoch wird die Bedeutung der Gabenzirkulation für die Gestaltung gelingender menschlicher Beziehungen nicht angemessen eingeschätzt. Die soziale Beziehungen konstituierende Bedeutung des Gabentauschs ist anzuerkennen; sie ist für das menschliche Leben in Gemeinschaft und Gesellschaft unverzichtbar. Zugleich ist angesichts der gabetheoretischen Einsichten zu bedenken, dass auch die ungeschuldete und ihren Motiven nach ‚reine’ Gabe auf Empfangende durchaus ambivalente Wirkungen haben kann103: „Ein Wohltäter ist kein Gleichberechtigter, sondern ein Übergeordneter, von dem andere abhängen. Wenn diese ihre Verpflichtungen durch adäquate Gegenleistungen erfüllen, verneinen sie seinen Anspruch auf Überordnung; und wenn ihre Gegenleistungen die Verpflichtungen übererfüllen, erzeugen sie im Gegenzug einen Anspruch auf eine eigene Superiorität. Fortgesetzter gegenseitiger Austausch stärkt die Beziehung unter Gleichen. Aber sobald es dem einen nicht gelingt, eine Gegenleistung zu erbringen … bestätigt er den Anspruch des anderen auf einen übergeordneten Status.“104
Wenn eine Gabe als ‚Almosen’ verstanden und als beschämend empfunden wird, weil Empfangende sie nicht erwidern, sich nicht erkenntlich zeigen können, gelangen sie außer der materiell inferioren Position zudem merklich in den auch sozial niedrigeren Status des Gabenempfängers. Nun hilft etwa in der gegenwärtigen Spendenpraxis die Anonymität von Gebenden und Empfangenden darüber 103
Die Beobachtung einer möglichen Ambivalenz auch der ‚reinen Gabe’ ist ebenso hinsichtlich der ‚guten Gaben Gottes’ zumindest bedenkenswert – weniger hinsichtlich der Akzeptanz der Geschöpflichkeit als etwa der in manchen seelsorglichen Situationen aufkommenden Schwierigkeit, Vergebung oder die Lebenshingabe Christi ‚für uns’ anzunehmen o.ä. 104 Blau, Sozialer Austausch, 133.
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zwar meist hinweg105. Doch muss die ‚milde Gabe’ zugleich um ‚horizontale’ statt um ‚vertikale’ Beziehungen bemüht bleiben und die Möglichkeit offenhalten, dass sich Empfangende erkenntlich zeigen. Denn wie die kulturanthropologische Gabetheorie lehrt, ist es Menschen offenbar nahezu überall ein Bedürfnis, eine Gabe in irgendeiner Form zu erwidern – ob aus gesellschaftlichen Konventionen heraus oder aus dem Gefühl der Dankbarkeit.
105
Vgl. Godelier, Rätsel, 14.
Bibelstellenregister zusammengestellt von Patrick Fock Altes Testament Genesis 1,1-5: 79 1,14-19: 84, 97 1,26-28: 6, 201 2,23-25: 142 2,25: 138-140 3: 141 3,7: 143 3,11: 144 3,22: 143 4,13: 38 6,3: 78 6,5-9.17: 22 6,11.13: 203 8,11: 37 8,21f: 35, 38, 48, 97 9,1-5: 203f 9,6: 201–204 12,1-4: 22 13,8-15: 51 15,1-5: 22 17,1-27: 22 17,12: 82 17,17: 39 18,1-16: 22, 84 21,1-7: 22 21,8: 80 24,11: 83 24,30.54: 243 24,35: 243, 251 24,45: 38
24,53: 246 27,41: 38 29,7: 83 31,10: 84 32,14-22: 239, 250 33,1-11: 239–241, 249 34,8-12: 245 34,25-29: 246 38,1-30: 22 40,14: 157 41,9: 157 43,11.15.25.26: 249 49,26: 37 Exodus 3,2: 17,14: 20,8-11: 21,18-32: 21,12: 21,22-25: 21,26: 24,7: 28,38: 34,7: 39,30:
37 121 171 188f 204 204 189 121 38 38 122
Levitikus 5,11.17: 9,17: 10,17:
39 85 38
260
17,16: 19,18: 24,17-21: Numeri 5,23: 8,16: 8,6-22: 18,1-6: 24,7: 28,4:
Bibelstellenregister
38 183 198f, 201, 204 121 192 254 254 65 83
Deuteronomium 5,12-15: 171 6,9: 123 11,20: 123 17,18-19: 121 19,16-21: 196, 205, 207 24,1.3: 123 27,2f.8: 123 31,11: 122 33,15: 37, 53f Josua 8,32.34: 18,4:
121 122
Richter 8,14:
122
Rut 2,14:
83
1 Samuel 1,11: 10,25: 10,27: 11,11: 15,12: 27,1:
254 121 248 84 88 38
2 Samuel 4,5: 6,14-23: 11,14: 19,1-19:
84 22 121 22
1 Könige 3,12f: 5,9-14: 8: 10,1-13: 10,23-25: 20,35-43: 21,8:
254 250f 88f 250 251 193 121
2 Könige 5,7: 8,8f: 10,1: 10,24: 19,14: 20,12: 22-23: 23,2: 25,27-30:
121 249 121 193 121 249 41 121 131
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1 Chronik 20,1: 24,6:
84 121
2 Chronik 32,23: 35,4:
249 121
Esra 9,6: 10,13:
138 84
Nehemia 8,3.8: 9,3:
122 123
Esther 8,8:
122
Hiob 2,4: 5,14: 6,20: 19,14: 23,8f: 24,20: 28,15: 29,11-16: 38,16-18:
194 84 38 154 51 155 192 221 64
Psalmen 4,2: 8,4-9: 8,5-9: 18,4-7: 18,20: 25,17:
69 6 2 65f 69 69
261
30,2-4: 65f 31,2: 144 31,7-9: 69 31,13: 154 31,16: 76 32,5: 39 40,13: 220 46,2-8: 55 48: 55 63,6: 159 68,33f: 54 71,17f: 163 72,10: 250 74,16f: 84 76,5: 37 77: 159f 78: 160 84,11a: 88 85,3: 39 88,4b: 66 90: 78–80, 89, 97 93: 55 94,1-7: 181 96,10-13: 168 98,6f.9: 168 99,1f.4: 168 102: 163–170 103,2: 156 104,19-23: 70, 83, 96 104,23: 35 109,18f.29: 221 116,3-9.13-19: 66–68 118,5: 69 119,46: 144 125,1: 37 139,1b-6: 51f
262
Bibelstellenregister
Sprüche 8,22f: 10,6f: 11,25: 13,21: 15,27: 21,26b: 22,9: 28,27a: 24,29:
53 156 216 216 238 238 238 238 187
Qohelet 2,16: 3: 3,18: 5,18: 7,7:
157 37 254 254 238
Hoheslied 1,7: 2,12: Jesaja 6,1-7: 33,24: 38,9: 39,1: 42,9f: 43,3f: 43,18: 43,19: 46,9: 48,6: 51,9: 52,13-53,12: 54,4: 65,17:
66,22f:
36
Jeremia 5,24: 8,7: 8,8: 29,29: 30,2: 31,31-34: 36,2.4.6: 36,21: 50,16: 51,33: 51,61:
85 84 121 122 121 36 121–123 122 85 85 122
Ezechiel 24,2: 46,13-15:
121 83
84 85
Daniel 5,17: 7,1:
122 122
41, 55 39 121 249 36 192 150 36, 150 150 36 53 223 151 36, 150
Hosea 7,1f:
220
Jona 2,7b:
66
Habakuk 2,2:
121
Sacharja 7,5: 8,19:
88 88
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Maleachi 3,22:
173
Neues Testament Matthäus 5,17-20: 206 5,38f: 186, 206 7,12: 215f Lukas 6,31:
215
263
Römer 1,16: 12,17-20:
145 206
1 Thessalonicher 5,15:
206
1 Petrus 3,9:
206
Nachweis der Erstveröffentlichungen
Kulturanthropologie und Altes Testament, Stand und Perspektiven der Forschung, in: ThLZ 141 (2016) 873–886. Rhythmus, Dauer, Epiphanie. Das alte Israel – eine Präsenzkultur?, in: S. Fielitz (Hg.), Präsenz Interdisziplinär. Kritik und Entfaltung einer Intuition. Mit einem Vorwort von Hans Ulrich Gumbrecht, Heidelberg 2012, 45–61. (Zusammen mit B. Janowski) „Solange die Erde steht ...“ Zur Erfahrung von Raum und Zeit im Alten Israel, in: B. Janowski / K. Liess (Hg.), Der Mensch im alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie (HBS 59), Freiburg u.a. 2009, 487–535. Literalität und Institution. Auf der Suche nach lebensweltlichen Kontexten der Literaturwerdung im alten Israel, ZAW 129 (2017) 327–345. „Und sie schämten sich nicht ...“ (Gen 2,25). Zur alttestamentlichen Anthropologie der Scham im Spiegel von Gen 2-3, in: Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Ps 8,5). FS B. Janowski, hg.v. M. Bauks, K. Liess, P. Riede, Neukirchen-Vluyn 2008, 114–122. „Des Gerechten gedenkt man zum Segen“ (Prov 10,7). Motive der Erinnerungsarbeit in Israel vom sozialen bis zum kulturellen Gedächtnis, in: Die Macht der Erinnerung (JBTh 22, hg. v. B. Janowski / O. Fuchs), NeukirchenVluyn 2008, 41–62.
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Homo donans. Kulturanthropologische und exegetische Erkundungen zur Gabe im alten Israel, in: B. Janowski u.a. (Hg.), Geben und Nehmen, JBTh 2012, NeukirchenVluyn 2013, 45–84. „... so sollst du geben Auge für Auge, Zahn für Zahn“. Vergeltung als Prinzip der Strafe im Alten Testament? in: K. Berner / H. Sünker (Hg.), Vergeltung ohne Ende? Über Strafe und ihre Alternativen im 21. Jahrhundert, Lahnstein 2012, 39–81.