Lebenserinnerungen : Aus dem Nachlass des Dichters


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Lebenserinnerungen : Aus dem Nachlass des Dichters

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HANNS VON GÜMPPENBEBG

LEBENS­ ERINNERUNGEN AUS DEM NACHLASS DES DICHTERS

HANNS VON GUMPPENBERG

EBENSERINNERUNGEN

HANNS VON GUMPPENBERG

ebenserinnerungen

AUS DEM NACHLASS DES DICHTERS

Ei g enb r ödle r-Ve rl a g - BerI in W 8 - Zürich

Seite

Voraussetzungen.............................................

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Kinderzeiten............................................................ 37 Pagenjahre.................................................................. 55 Hochschüler, Dramatiker, Spiritist und Revolutionär

Im schwäbischen und preussischen Exil .

Rundreise Bamberg-Relgrad-Hannover-Ramberg

93

197 . 255

Jahrhundert-Ende in München, Theaterkatzen­ jammer, Ueberdramatiker der Elf Scharfrichter, Lyriker und Schwedenprophet, Kritikermar­ tyrium und Trost der Berge....................................... 265 In der Torggelstube. Licht und Schatten .

365

Chinesische Hoffnungen. Weltkrieg und Todes­ ernte. Ausblick........................................................... 401

Alle Rechte Vorbehalten Copyright 1929 by Eigenbrödler-Verlug A.-G. - Berlin / Zürich Drude der Buch- und Verlugtdruckerei Vogt-Schild - Solothurn

Wenn ich in folgendem meine Lebenseindrücke,

niederschreibe, darf ein Leser dieser Aufzeichnungen weder einen spannend zurechtgemachten Ichroman er­ warten, noch auch eine jener neugierbefriedigenden

Anekdotensammlungen, die sich auf Schilderungen

von Begegnungen mit berühmten Zeitgenossen be­

schränken. Ich habe hier gar keinen Zweck im Auge,

der ausserhalb des schlichten Gegenstandes läge, und ich treffe keine andere Auswahl, als sie mein Ge­

dächtnis schon besorgt hat, indem es nur das deutlich

aufbewahrte, was mich lebhafter beschäftigte. Hiervon wird aber naturgemäss vieles für die grosse Mehrheit

ohne besonderen Reiz sein; nur wer für jede Er­ scheinungsform des Menschlichen Teilnahme übrig

hat, mag dabei auf seine Rechnung kommen, und diese Möglichkeit der Anregung einiger Nachdenk­ lichen könnte mein Unternehmen der Allgemeinheit

gegenüber kaum rechtfertigen.

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Gleichwohl veranlasst mich dazu noch etwas mehr als der Trieb, meinen Lebensgang rückschauend zu

überblicken und ihn mir selbst in voller Bestimmtheit klar zu legen. Ich glaube nämlich, dass Aufzeich­

nungen solcher Art, sobald sie nur wahrhaftig sind,

immer auch zur Aufhebung kulturgeschichtlicher

Wahrheiten beitragen und damit auch einen allge­ meineren Zweck erfüllen. Zudem ist meine persön­

liche Entwicklung wie mein öffentliches Wirken schon so vielen irrtümlichen Auffassungen begegnet, dass

eine ehrliche Klarstellung auch in dieser Richtung

der Wahrheit dienen mag. Die Einsicht, dass viele Eigentümlichkeiten und scheinbare Widersprüche nicht nur meines äusseren

Schicksals, auch meiner inneren Veranlagung sich aus

den familiären Vorbedingungen ergaben und wohl nur aus ihnen ganz zu verstehen sind, lässt mich einen Ueberblick über die Geschichte der Familien meiner Eltern vorausschicken: in einer Ausführlich­

keit, die zunächst befremden mag, von der ich aber hoffe, dass sie später begründet erscheinen wird.

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l^oraussefzungen.

Ich entstamme von väterlicher Seite einem alten bayrischen Adelsgeschlecht. Die Freiherren von Gumppenberg hatten ihre Urväter unter den «Burgsassen», also dem Dienstadel der mächtigen Markgrafen von Vohburg, deren Besitzungen nach dem Erlöschen ihres Stammes zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts an die Wittelsbacher fielen. Zu diesen Vohburgischen Be­ sitzungen zählte nachweisbar auch das Stammhaus der Herren von Seeberg im deutschböhmischen Egerer­ lande, welches noch wohlerhaltene Schloss seit 1703 im Besitze der Stadt Eger ist. Das alte Wappen der Seeberger, drei grüne Seerosenblätter im weissen Schrägbalken führend, stimmt völlig mit dem der Gumppenberger überein: und so ist die Annahme be­ rechtigt, dass der erste feststellbare Träger unseres Namens, Hildebrand, Sohn eines Vohburger Ministe­ rialen Thiemo, ursprünglich ein Seeberg war und sich den Namen Gumppenberg beilegte, als er sich um 1280 in Oberbayern niederliess und hier das Gut Pött­ mes bei Schrobenhausen käuflich erwarb; sind doch die Namen Gumppenberg und Seeberg fast gleich­ bedeutend, da das Wort «Gumpe» im oberbayrischen Dialekt noch heute einen kleinen See oder eine see­ artige tiefere und stillere Ausbuchtung in einem Fluss­ lauf bedeutet. Ein Vetter von einer anderen Linie, der 1876 verstorbene Begierungsrat Ludwig Albert Freiherr von Gumppenberg-Oberprennberg, unterzog sich mit liebevollem Familiensinn und bedeutender geschichtlicher Sachkenntnis der grossen Mühe, aus den Archiven alles zusammenzutragen, was sich über die Vergangenheit des Geschlechts feststellen liess;

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mit der Frucht seiner jahrzehntelangen Studien, der «Geschichte der Familie von Gumppenberg», einem stattlichen, nur als Manuskript gedruckten Bande von mehr als einem halben Tausend Seiten, beschenkte er dann die sämtlichen lebenden Träger des Namens. Ein jüngeres Glied derselben Linie, mein Vetter Hubert, besorgte nach dem Tode Ludwig Alberts die Drucklegung und Verteilung einer zweiten, bis auf die Achtziger-Jahre des vorigen Jahrhunderts ergänzten Auflage. Das Werk darf bei der Gründlichkeit seiner Quellenforschungen, bei den vielerlei Einblicken, die es auch in die allgemeineren Kulturverhältnisse der letzten sieben Jahrhunderte gewährt, und bei der schlichten Klarheit seiner Darstellungsweise in der Literatur der deutschen Adelsgeschichte einen hervor­ ragenden Platz beanspruchen; daneben ist es aber auch sehr bezeichnend für die Gesinnung jener deut­ schen Adeligen, die allen neuzeitlichen Umwälzungen zum Trotz bis auf die Gegenwart an den überlieferten Anschauungen und Grundsätzen festhielten. Man braucht nur das Vorwort Ludwig Alberts zu lesen, worin er unter anderem sagt: «Im grundbesitzenden Adel wie im Bauernstände ruht hauptsächlich die er­ haltende, hemmende, dämmende Kraft für die Gesell­ schaft wie für den Staat; ihre Aufgabe ist, in der rast­ los vorwärts treibenden Zeit der überstürzenden Be­ wegung auf dem Grunde des Bestehenden die rechte Bahn zu weisen. Dies ist der soziale Beruf der Ari­ stokratie oder des eigentlichen Adels. Der Adel ist da im Grunde nichts weiter als ein potenziertes Bauern­ tum und unterscheidet sich von diesem wesentlich nur dadurch, dass er sich seines historischen Berufes bewusst ist, der Bauer aber nicht, und dass er auch mehr als der Bauer in der Lage ist, diesen Beruf selbsttätig zu erfüllen.» Aus Ludwig Alberts familien­ geschichtlichen Studien entsprang übrigens auch eine kleinere Schrift «Die Gumppenberger auf Tournieren», die mir wie seine Hauptarbeit von früher Jugend an vertraut war. 10

Mehrere von meinen Ahnherrn spielten eine für die Allgemeinheit bemerkenswerte Rolle. So mein sogar balladenbesungener Urahn im 15. Gliede Stephan von Gumppenberg, der 1316 als treuer Anhänger Ludwig des Bayern in einem Treffen vor der Stadt Ess­ lingen den feindlichen schwäbischen Ritter Heinrich Schweinkreist, genannt «das Ungeheuer», eigenhändig gefangen nahm und trotz schwerer von ihm erlittener Verwundung, grossmütig vor der Mordlust der er­ bitterten Bayern rettete, unter Ueberlassung des eigenen Pferds und späterer Zurückweisung des Lose­ gelds. Oder Heinrich von Gumppenberg, der in den ersten Jahrzehnten des fünfzehnten Jahrhunderts als Landmarschall und Vertrauter der bayrischen Her­ zöge Ludwig des Bärtigen, Heinrich und Ludwig des Reichen eine überragende Machtstellung in Bayern inne hatte. Oder Georg von Frundsbergs Schwager, der Domherr Ambrosius von Gumppenberg, dessen Leben und Wirken mit den grossen Ereignissen in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhundert eng ver­ knüpft war, und der mit seiner erhalten gebliebenen Selbstbiographie und seinen Schilderungen des dama­ ligen Rom historische Dokumente von Bedeutung lieferte. Auch von den Gumppenberg der letzten hundert Jahre haben einzelne als Generäle oder Staatsmänner sich im öffentlichen Leben hervorgetan und die meisten höhere Stellungen bekleidet. Im siebzehnten Kapitel der vorerwähnten Ge­ schichte unserer Familie ist zu lesen, wie der Stamm­ vater der älteren Pöttmeser Linie, der 1762 aus der Zeitlichkeit geschiedene kurfürstliche Kämmerer, Ge­ heime Rat und Präsident des kurfürstlichen Hofrats Johann Franz Freiherr von Gumppenberg infolge der kriegerischen Verheerungen, die seine Güter damals zu erleiden hatten, noch mehr aber des grossen Aufwands wegen, zu dem ihn die Teilnahme am glänzenden Hof­ leben seines Monarchen, des unseligen Kaisers KarlVII. veranlasst hatte, das Fideikommiss Pöttmes in schwe­ rer Verschuldung hinterliess, und wie dann sein 11

ältester Sohn und Fideikommissnachfolger Ferdinand Maria als leichtsinniger Verschwender und Schulden­ macher das Unheil noch bis zum äussersten steigerte, so dass nach seinem im Duell erfolgten Tode sein jün­ gerer Bruder Franz das Fideikommiss unter traurigsten Umständen übernehmen musste. Obschon es diesem und seinem Sohne und Fideikommissnachfolger Maxi­ milian allmählich gelang, in leidlich geordnete Ver­ hältnisse zu kommen, so blieb das doch ohne Belang für meinen Urgrossvater Kajetan, Johann Franzens jüngsten Sohn, vielmehr wurden seine eigenen, sehr bescheidenen Vermögensansprüche in das Schulden­ wesen seines Bruders Ferdinand verstrickt. Blutjung wurde er unter die Soldaten gesteckt, schon mit 15 Jahren war er «Fähndrich» im kurfürstlichen Leib­ regiment zu München, trat dann 1777 als Leutnant in das französisch besoldete deutsche Regiment Darm­ stadt zu Strassburg über und machte 1783 den Feldzug Spaniens und Frankreichs gegen England im nord­ amerikanischen Kriege mit. Die französische Re­ volution zwang ihn, als Hauptmann nach Deutschland zurückzukehren, und da auch das Vermögen seiner Frau, einer geborenen Freiin von Weitersheim, im Elsass durch die Revolutionsstürme verloren ging, musste er froh sein, beim Herzog Wilhelm von Pfalz­ Birkenfeld, der damals in Landshut Statthalter war, als Hofkavalier unterzukommen. Später wurde er Major in einem Infanterieregiment und Exempt der Trabantengarde, 1802 Oberstlieutenant. Nach dem un­ glücklichen russischen Feldzuge als Kommissär nach Warschau gesandt, um die Rückkehr der in Gefangen­ schaft geratenen Bayern möglichst zu fördern, erwarb er sich dort in einjähriger Tätigkeit den Zivil­ Verdienstorden der bayrischen Krone, wurde dann Körnet und später Generalmajor der Hartschier-Leibgarde und starb als solcher im Jahre 1824. Ich be­ sitze ein kleines Oelbildnis von ihm, das ihn auf einem Hochgebirgsgipfel mitten unter Alpenrosenbüschen stehend zeigt: eine hohe stramme Altherrengestalt, 12

auf den silbergriffigen Degen gestützt, den kräftig ge­ schnittenen, ausdruckvollen Kopf mit dem grauen Kraushaar frei und stolz erhoben, die Augen mit ruhigem Sinnen ins Weite blickend. Mein Grossvater Wilhelm, Kajetans einziger Sohn, war erst Soldat wie sein Vater. Im Münchener Kadettencorps erzogen, wurde er 1812 Leutnant in einem dortigen Infanterie­ regiment, machte die Feldzüge von 1813 und 1814 gegen Frankreich mit und avancierte dabei zum Ober­ leutnant. Nach dem Friedensschlüsse wollte er Diplo­ mat werden, und wurde auch nach verschiedenen Reisen, die ihn Wien, Paris und Dresden kennen lehr­ ten, 1820 der bayrischen Gesandtschaft in Dresden attachiert, musste aber schon nach zwei Jahren infolge veränderter Organisation der Armee in den aktiven Dienst bei seinem Regimenté zurückkehren. Kurz vor der Thronbesteigung König Ludwig I. wurde er dessen persönlicher Adjutant; er begleitete den damaligen Kronprinzen auch auf seinen Reisen nach Italien, und die Münchener Neue Pinakothek besitzt aus damaliger Zeit ein Bild, das ihn mit Thorwaldsen und einigen anderen Künstlern und Kavalieren an Ludwigs Seite zwanglos vergnügt in einer römischen Weintaberne zeigt. Später zum Begleiter und Erzieher der Söhne Ludwigs, des Kronprinzen Maximilian und des Prin­ zen Otto — des nachmaligen Königs von Griechenland — ausersehen, machte er in diesem mit grösster Ge­ wissenhaftigkeit übernommenen Wirken keine guten Erfahrungen; die Art des jungen Kronprinzen vertrug sich nicht mit dem schlichten, aller überschwäng­ lichen Empfindeiei und Launenhaftigkeit abholden Wesen meines Grossvaters, und er trat schliesslich wieder von dem Posten zurück, um dann 1828 Haupt­ mann im General-Quartiermeisterstabe zu werden. In meinem Besitze befindet sich noch der sehr ausführ­ liche Entwurf zu einem Bericht an König Ludwig über die Schwierigkeiten, die ihm die beiden Prinzen und namentlich der Kronprinz bereiteten; dieses Schriftstück ist ein markantes Zeugnis für seine hohe

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Auffassung von den übernommenen Pflichten und sein selbstloses Bemühen, ihnen gerecht zu werden, zugleich überrascht es auch durch ungewöhnlichen Freimut und gewährt interessante Aufschlüsse über den Charakter der beiden jungen Prinzen. Mein Grossvater vermählte sich 1829 mit der Freiin Sophie von Gumppenberg, der Tochter seines Vetters Maximilian, unter dessen Fideikommissver­ waltung sich das Pöttmeser Stammgut wieder von der Verschuldung erholt hatte. Trotz der mustergiltigen Inzucht und einer für die damalige Zeit nicht unbe­ trächtlichen Mitgift scheint es sich dabei um eine Neigungsheirat gehandelt zu haben. Schon ein Jahr nach der Hochzeit erwarb Wilhelm das Schlossgut Wallenburg nahe dem Marktflecken Miesbach im bayrischen Oberland, das zuletzt in bürgerlichem Be­ sitz gewesen war, nachdem es als Hauptschloss der weitum begüterten Reichsgrafen von Maxlrain und Hohenwaldeck Jahrhunderte lang glänzende Zeiten gesehen hatte. Mein Grossvater berücksichtigte bei dieser Erwerbung vor allem die ausgesprochene Nei­ gung seiner Frau zum Landleben, er nahm auch dann 1831 seine Entlassung aus dem Militärdienst, um sich selbst auf dem neuen Besitztum mit aller Kraft der Landwirtschaft zu widmen. Das Gut war unter dem letzten Besitzer noch weit ärger heruntergekommen, als sich beim Kaufe überblicken liess, fast alle Oekonomiegebäude mussten neu hergestellt werden, was viel Geld verschlang: und da meinem Grossvater jede landwirtschaftliche Vorbildung fehlte, kann man sich vorstellen, mit wie grossen Schwierigkeiten er zu kämpfen hatte, und wie viele Missgriffe seine Un­ erfahrenheit begehen musste. Er warf sich aber mit ganzer Energie auf die neue Tätigkeit, und seine land­ wirtschaftlichen Bestrebungen fanden auch bald öffentliche Anerkennung durch wiederholte Wahl in den Landrat von Oberbayern und in die Kammer der Abgeordneten. Mittlerweile zum Major ä la suite be­ fördert, wurde er im Winter 1840 auf 41 dazu be­

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stimmt, den Kronprinzen Maximilian auf seiner Reise nach Griechenland zu begleiten, woraus zu ersehen ist, dass die früheren Misshelligkeiten zwischen bei­ den unterdessen behoben waren. Von dieser höfischen Reise erzählt noch ein uns vererbter krummer Grie­ chensäbel in roter Sammetscheide, den mein Gross­ vater als Andenken heimbrachte, auch spielte ich als Kind noch mit einer Schachtel voll Muscheln und ver­ trockneten Seepferdchen, die er für meinen damals im Knabenalter stehenden Vater gesammelt hatte. In seinen Mussestunden beschäftigte er sich übrigens auch mit landesgeschichtlichen Forschungen, die zum Teil ins oberbayrische Archiv aufgenommen wurden; so veröffentlichte er unter anderm eine Monographie über den sagenhaften Schmied von Kochel. Auch Ludwig Alberts Gumppenberg’sche Familiengeschichte verdankte ihm verschiedene Feststellungen. Daneben scheint er auch eifriger Mineraloge gewesen zu sein; ich sah selbst noch als Kind in einer entlegenen Kam­ mer des Schlosses eine von ihm hinterlassene, ziem­ lich umfangreiche Mineraliensammlung. Ein schweres Herzleiden machte seine letzten Lebensjahre zu einem qualvollen Martyrium; stundenlang musste er da oft nach Atem ringen, stehend an eine Wand gelehnt. Im März 1847 starb er in Wallenburg und wurde in der Pöttmeser Familiengruft beigesetzt. Er hatte so gut wie kein Barvermögen hinter­ lassen; fast alle vorhandenen Mittel hatten seine Be­ mühungen um die Hochbringung des Schlossguts ver­ schlungen, und auch wo diese eine gedeihliche Ent­ wicklung der Oekonomie vorbereitet hatten, trugen sie um die Zeit seines Todes noch keine zureichenden Früchte. Wilhelms einziger Sohn Karl, mein Vater, war damals erst 14 Jahre alt. Nach einem Versprechen, das König Ludwig meinem sterbenden Grossvater ge­ macht, wurde er noch im Herbste 1847 unter Gewäh­ rung eines Freiplatzes in die königliche Pagerie zu München aufgenommen. Schon 1849 ging dann meine

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Grossmutter mit dem bürgerlichen Georg Bermühler eine neue Ehe ein. Bermühler war der Sohn eines einfachen fränkischen Bauern, und die fränkische Bauernschlauheit hat er auch zeitlebens nicht ver­ leugnet. Nach einigen Hochschulstudien war er In­ struktor bei jungen Vettern meines Vaters, zweien Grafen Tauffkirchen, geworden, hatte in dieser Eigen­ schaft, bei dem engen Verkehr der Familien, Einblick in die Wallenburger Verhältnisse gewonnen und noch bei Lebzeiten meines Grossvaters die Grossmutter kennen gelernt. Als berechnender Praktikus, der die ansehnlichen Entwicklungsmöglichkeiten des Schloss­ guts erkannte, scheint er von allem Anbeginn die Mög­ lichkeit einer spätem Heirat mit meiner Grossmutter ins Auge gefasst zu haben. Er wusste es durch­ zusetzen, dass man ihm die Expedition auf der Post­ halterei in Miesbach übertrug, die mein Grossvater bald nach dem Ankauf von Wallenburg erworben hatte; auf diese Weise angenähert, bot er meiner Grossmutter schon in der letzten Krankheitszeit ihres Gatten als geschickter und tatkräftiger Ratgeber in allen ökonomischen Angelegenheiten willkommene Hilfe und machte sich ihr dabei wohl ebenso an­ genehm als unentbehrlich. Die Kindheitseindrücke, die ich von meiner Grossmutter Gumppenberg erhielt, deuten auf eine Natur von bescheidener Intelligenz, sodass Bermühlers Werbung kaum auf grosse Schwie­ rigkeiten stiess. Das seelische Verhältnis meines Vaters zu seiner Mutter war, um das sogleich zu er­ wähnen, ein überaus pietätvolles und blieb es auch dann noch, als sich in späterer Zeit herausstellte, wie durchaus gefügig sie dem Bestreben seines Stiefvaters war, das freilich erst unter dessen Bewirtschaftung hochgekommene Schlossgut und andere durch die Hei­ rat erlangten materiellen Vorteile sich und dem Sohne zu sichern, mit dem sie ihn beschenkte. So frei und gegenständlich mein Vater sonst dachte, in seinem unbedingten kindlichen Respekt der Mutter wie auch dem Stiefvater gegenüber zeigte er eine praktisch

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verhängnisvolle Gebundenheit, in scharfem Gegen­ sätze zu seinen gleichfalls benachteiligten, aber •weniger geduldigen rechten Schwestern Karoline und Therese, von welchen die erstere den späteren Ober­ landesgerichtsrat Ludwig von Stubenrauch, die letz­ tere den Arzt Dr. Hermann Albrecht heiratete. Dass etwa das kirchliche Gebot der Elternverehrung in meinem Vater so schematisch erstarrt gewesen wäre, kann ich nicht recht glauben, sein Verhalten ergab sich wohl aus der Dankbarkeit dafür, dass Bermühler seiner Mutter eine sorgenfreie Existenz geschaffen hatte, wie auch aus angeborener grosser Herzensgute und einem ausgeprägten Schönheitssinn, dem jede herbe und derbe Auseinandersetzung mit Nahe­ stehenden ein Greuel war. — Als Spross eines streng­ katholischen Geschlechts, das dem Orden vom heiligen Georg schon manchen Ritter zur Verteidigung der römischen Kirche gegeben, war er doch selbst niemals dogmatisch befangen gewesen, er bewies diese innere Unabhängigkeit auch dadurch, dass er eine Evan­ gelische heiratete, und dass er sogar seine Kinder protestantisch erziehen liess, in der reinmenschlichen Erwägung, ein Konfessionsgegensatz zwischen Mutter und Kind müsse die Erziehung beeinträchtigen; dabei hielt er aber sein ganzes Leben lang an einzelnen dogmatisch belangloseren Bräuchen der katholischen Religion fest, die ihm sinnig und poesievoll erschienen, beispielsweise musste alljährlich am OstersonntagMorgen der übliche Teller mit Schinken, Eiern, Meerrettig, Brot und Salz zum «Weihen» in die nächste katholische Kirche getragen, das also geheiligt Zurück­ gebrachte bissenweise verteilt und mit einer gewissen familiären Kommunionsfeierlichkeit verzehrt werden, ehe wir uns den üppigeren weltlichen Schinken- und Eierfreuden des Festtags hingeben durften. Seine Pagenzeit und seine gleichzeitigen Münchener Gymnasialstudien absolvierte mein Vater zur grössten Zufriedenheit seiner Lehrer und Erzieher, wie auch ein ihm zuerkannter Preis aus der deutschen Sprache

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— eine noch von mir verwahrte lyrische Anthologie — bezeugt. Er trieb dann an der Münchener Universitäl kameralistische und andere Studien und praktizierte im Anschluss daran auf dem Miesbacher Rentamt. Nach traditioneller Adelsunsitte war er schon in seinen Knabenjahren mit der älteren Tochter seines Onkels Adolph von Gumppenberg versprochen wor­ den. Adolph, der damals häufig nach Wallenburg kam, war der leibliche Bruder meiner Grossmutter und war Alleinbesitzer von Pöttmes geworden, nach­ dem mehrere seiner Brüder gestorben waren und er sich mit den übrigen Geschwistern verglichen hatte. Durch die Heirat mit seiner Tochter Therese sollte mein Vater, so wollte es mein Grossonkel, Gutsherr auf Pöttmes werden, zugleich sollte er auch Wallenburg übernehmen, denn an eine zweite Ehe meiner Gross­ mutter und einen Sohn aus solcher Ehe dachte da­ mals niemand: und auch die Praxis am Miesbacher Rentamt war noch als Vorbildung für die umfang­ reiche künftige Lebensaufgabe gedacht. Aber Therese war ein armes kränkliches, von Geburt an verwach­ senes Geschöpf, und es gehörte schon die ganze Blind­ heit der väterlichen Liebe wie auch der Adelsvor­ urteile dazu, um von dieser erneuten und noch weit schlimmern Inzucht Gutes zu erwarten. Der Himmel war gnädig und liess es anders kommen, als der Onkel sich eingebildet hatte. Mein Vater erhielt keinen Krüp­ pel als Sohn, sondern nur einen verträumten Poeten, was immerhin nicht ganz ebenso schlimm war. Auch in seiner Münchener Studentenzeit führte mein Vater kein abgesondertes Städterleben, vielmehr war er auch damals oft genug in Wallenburg; ein rüstiger Fussgänger trotz eines vererbten Herzfehlers — nicht nur sein Vater, auch seine Mutter starb an einem Herzleiden — und trotz einer asthmatischen Veranlagung, die ihm in den Entwicklungsjahren viel zu schaffen machte, wanderte er damals oft frischweg die ganze weite Strecke von München nach Wallen­ burg, um seine Mutter durch plötzliches Auftauchen

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auf dem Schlosse zu überraschen, beteiligte sich dort an den landwirtschaftlichen Arbeiten, versuchte sich als Jäger und Scheibenschütze und lebte seiner von Anbeginn starken und vielseitigen Liebe zur freien Natur. Seine literarischen Neigungen scheinen dagegen erst später erwacht zu sein. Um die Zeit der rentamtlichen Praxis meines Vaters war ein Onkel meiner Mutter, der beim Prin­ zen Karl von Bayern eine Vertrauensstellung inne ge­ habt hatte, in Miesbach ansässig geworden, um dort in ländlicher Ruhe seine Pension zu verzehren: und er hatte seinen ihm besonders lieben Bruder, den damals in München lebenden Ingenieur-Geographen a. D. Johann Nepomuk Sommer zu dem Entschlüsse vermocht, mit seiner Frau und seiner noch unver­ heirateten jüngsten Tochter Engelbertha, meiner nach­ maligen Mutter, gleichfalls nach Miesbach zu ziehen. Ehe ich den Verlauf der Dinge weiter verfolge, sei das Bezeichnendste aus der Geschichte dieser bürgerlichen und protestantischen Familie mitgeteilt. Die Urväter meiner Mutter waren gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts und im achtzehnten Jahr­ hundert ehrsame Meister der Schneiderzunft. Der Ururgrossvater meiner Mutter, der 1681 geborene und 1747 verstorbene Jakob Sommer, war Schneider­ meister und Krämer in Reichenbach bei Roding; der 1734 geborene Urgrossvater, Jakobs ältester Sohn, Johann Adam, Schneidermeister in Regensburg. Die in meinem Besitz befindliche kleine Photographie eines verloren gegangenen Oelbildnisses von ihm zeigt einen bedeutenden Kopf mit mächtiger Stirn, der eher auf einen Gelehrten als auf einen Handwerksmeister raten liesse. Johann Adam war dreimal verheiratet, hatte aber nur aus erster Ehre drei Söhne, Joseph, den Grossvater meiner Mutter (geb. 1764), Jakob (geb. 1768) und Mathias (geb. 1771). Die Neigung zum Ro­ mantischen und Ungewöhnlichen, die in der Familie immer wieder hervortrat, liess einen der Brüder Josephs — ob es sich um Jakob oder Matthias han­

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delte, steht nicht ganz fest — alle Fesseln der zunft­ mässigen Ueberlieferung zerreisen. Das erbliche Handwerk, dem auch er frönen sollte, war ihm un­ leidlich, er brannte als junger Mensch in die Schweiz durch und liess sich dort zu den Söldnern anwerben, die damals — also um das Jahr 1790 — nach Indien gingen. Dort zeichnete er sich im Heere des Rad­ schah von Sirhint dermassen aus, dass er schnell zum Oberbefehlshaber vorrückte, die vertraute Freund­ schaft seines Fürsten gewann und schliesslich von diesem, der kinderlos war, adoptiert und zum Thron­ folger bestimmt wurde. Vor dem «Radschah Somroo», wie er dann in indischer Anpassung seines Namens hiess, tanzten eines Tages Bajaderen, darunter eine, die sich ebenso durch auffallende Schönheit wie durch Verschlagenheit und Machtgier auszeichnete. Es gelang ihr, den tumben Deutschen so heillos zu bezaubern, dass er sie bei sich behielt, ja zu seiner Gemahlin erhob. Beim Vermählungsfeste wusste sie ihn zu bestimmen, mit ihr Ringe, die in einer Kapsel tödliches Gift bargen, und den feierlichen Schwur zu tauschen, dass jedes den Inhalt seines Ringes aus­ trinken wolle, sobald es vom Tod des andern erführe. Bald darauf brach in einer entfernten Provinz ein Aufstand aus, während der Radschah gerade an einem Fieber darniederlag; statt seiner setzte sich die heim­ tückische Schöne an die Spitze der Truppen, die gegen die Empörer auszogen, und erinnerte den arglosen Gemahl beim Abschied noch an den wechselseitigen Eid. Durch einen Günstling, den sie sich heimlich beigesellt hatte, liess sie dann alsbald die falsche Nachricht überbringen, ein feindliches Geschoss habe sie getötet: worauf Radschah Somroo ohne Besinnen seinen Ring austrank und starb. So am Ziel ihrer Pläne angelangt, bestieg die ehemalige Bajadere den Thron von Sirhint, regierte als «Begum Somroo» mit unleugbarer Herrscherbegabung und machte den Eng­ ländern arg zu schaffen. Als auch sie um 1830 ge­ storben war, ohne erbberechtigte Nachkommenschaft

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zu hinterlassen, suchte die britische Regierung län­ gere Zeit hindurch nachweisbare europäische Ver­ wandte des Radschah Somroo als die Erben eines Vermögens von 500 Millionen. Der Regensburger Ausreisser hatte den ersten Teil seiner indischen Er­ lebnisse, seinen Aufstieg bis zum Oberbefehl über das Heer und zur persönlichen Freundschaft mit dem Fürsten, in mehreren Briefen seinem Vater mitgeteilt und jedesmal betont, dass ihm zum vollen Glück nur die Verzeihung des Vaters fehle; dieser aber, ein typischer Starrkopf, wollte von dem «verlorenen Sohn» nichts mehr wissen und verbrannte alle jene Briefe, ohne sie zu beantworten. So pflanzte sich deren In­ halt und die schroffe Stellungnahme des Vaters nur durch die versöhnlichere Mutter als mündliche Ueberlieferung in der Familie Sommer fort, was gegenüber der späteren englischen Ausschreibung natürlich keinen Beweiswert hatte; doch erzählte der Weltreisende Orlich in seinem Buche über Indien, das noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts er­ schien, die ganze Geschichte des Radschah Somroo und der mörderischen Bajadere auf Grund von Be­ richten, die er von den Eingeborenen an Ort und Stelle erhalten hatte, und die auch die süddeutsche Herkunft, den Namen Sommer und das ursprüngliche Schweizer Söldnertum des nachmaligen Radschah be­ stätigten. Mehrere süddeutsche Familien ganz anderen Namens suchten daraufhin zu erhärten, dass ein An­ gehöriger ihres Geschlechts jener Radschah Somroo gewesen sei. Schliesslich konnte eine Familie Rein­ hard dokumentarisch nachweisen, dass einer von den Ihren ungefähr um die entsprechende Zeit zu den Schweizer Söldnern ging; durch einen erfindungs­ reichen Advokaten liess sie geltend machen, der Be­ treffende sei nach der Familientradition von finsterer Gemütsart gewesen, man habe ihm daher bei den Söldnern jedenfalls «Le sombre» (der Düstere) ge­ nannt, und aus diesem Beinamen sei dann ohne Zwei­ fel der indische Name «Somroo» entstanden. Die 21

Engländer erklärten zwar den Beweis für sehr un­ zulänglich, billigten aber nichtsdestoweniger der Familie Reinhardt eine Abfindungssumme von zwei Millionen zu, offenbar, um die Sache damit aus der Welt zu schaffen und die übrigen 498 Millionen be­ quem und endgiltig selbst einstecken zu können. In der Familie meiner Mutter glaubte man aber von jeher fest an die Identität des Radschah Somroo mit jenem Urgrossonkel meiner Mutter, und das hatte auch alle psychologische Berechtigung; man braucht, ganz abgesehen von der Namensübereinstimmung, nur zu erwägen, dass jene genaue mündliche Ueberlieferung im engsten Kreise einer schlichten Provinz­ familie vorhanden war, lange ehe Orlich sein Buch schrieb und in Europa die späteren Schicksale des Radschah bekannt und seine Verwandten gesucht wurden. Es lässt sich vorstellen, wie sehr dieser an­ dauernde Glaube an das zwar nicht erweisliche und nicht verwertbare, trotzdem aber bestehende Anrecht auf ein märchenhaft ungeheures Vermögen den ohne­ hin in der Familie vorhandenen Hang zum Unge­ wöhnlichen und Romantischen bestärken musste. Noch kurz vor dem Weltkrieg forderte mich eine mir per­ sönlich ganz unbekannte entfernte Verwandte meiner Mutter in leidenschaftlich erregter Zuschrift auf, doch endlich meinen Anspruch auf den indischen Fürsten­ thron und die mittlerweile auf ca. 13 Milliarden an­ gewachsenen 500 Millionen geltend zu machen; zu­ gleich erbot sie sich, mir auf ihre Kosten mehrere Anwälte zur Verfügung zu stellen, in der Hoffnung, dass auch für sie dann ein paar Milliönchen abfallen möchten. Als ich selbst in jungen Jahren zuerst von der Sache erfahren hatte, beschäftigte sie auch meine Phantasie eine Weile, freilich aber nicht im Sinne irgendwelcher materieller Hoffnungen; hatte doch schon mein Vater in früherer. Zeit durch nüchterne Nachforschungen die Unmöglichkeit festgestellt, mit Hilfe von Kirchenbüchern oder anderen Dokumenten den nötigen Nachweis zu erbringen. Dass übrigens

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diese merkwürdige indische Angelegenheit früher weiteste Kreise beschäftigte, zeigt der Roman Jules Vernes «Die Millionen der Begum», wie auch eine Dramatisierung des Gegenstandes, die Friedrich Halm, den Dichter des «Fechters von Ravenna» und des «Sohnes der Wildnis», zum Verfasser hatte. Abgesehen von diesem unerweisbaren abenteuer­ lichen Seitensprung auf einen indischen Fürstenthron gewann die Familie Sommer ihren sozialen Auf­ schwung erst durch den ältesten Bruder des «Rad­ schah Somroo», meinen Urgrossvater Joseph Sommer. Auch er sollte nach dem Willen seines hartnäckigen Vaters als Regensburger Schneidermeister leben und sterben, aber auch ihn fasste der Drang in die weite Welt, und wenn er auch nicht bis nach Indien kam, so gelang es ihm doch, bei einem Bischof und anderen hohen Herrschaften Stellung zu finden, sie auf ihren Reisen zu begleiten und so schon in sehr jungen Jah­ ren alle deutschen Staaten, Ungarn und Frankreich kennen zu lernen; dabei arbeitete er in seinen Musse­ stunden, namentlich nachts, mit unermüdlichem Selbst­ studium an seiner Bildung, sodass er bereits 1793, also mit 29 Jahren, Lehrer der Geographie, der Rechen­ kunst und der Schreibkunst in München werden konnte und ein Jahr später eine Beamtenanstellung im kurfürstlichen Militär-Arbeitshause erhielt. Im glei­ chen Jahre heiratete er ein Fräulein Eleonora von Lindtnern, das er auf dem Gräflich von Brühl’schen Gute Pforten in Sachsen kennen gelernt hatte. Es war dieses Fräulein von Lindtnern die Tochter eines Oberstleutnants und eines Fräulein von Furth, einer Tochter des bayrischen Kurfürsten Ferdinand Maria aus morganatischer Ehe. Wie nahe die Beziehungen des Fräulein von Furth zum kurfürstlichen Hause ge­ blieben waren, geht unter anderem daraus hervor, dass ihre Trauung mit dem Oberstleutnant von Lindt­ nern in der Münchener Hofkapelle unter Teilnahme des ganzen Hofes stattfand, auch waren alte Oelbild-

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nisse Ferdinand Marias und des Fräulein von Furth von Urgrossvaters Zeiten her im Besitz der Familie. Als Mann von rastloser Unternehmungslust und Tatkraft begnügte sich der Grossvater meiner Mutter keineswegs mit seiner Beamtenstellung. Im Jahre 1800 gelang ihm die Errichtung einer Wollstrickerei, die bald Hunderte von Arbeitern beschäftigte und deren schneller und grosser materieller Erfolg ihm nach kurzem ermöglichte, die von Kommerzienrat Brügelmann in den Räumlichkeiten des vorerwähnten kur­ fürstlichen Militär-Arbeitshauses betriebene Leinen­ damastfabrik käuflich zu erwerben. In angestrengter Arbeit brachte er diese Fabrik zu solcher Blüte, dass sich der Ruf ihrer Erzeugnisse über ganz Deutschland verbreitete; er konnte bedeutende Aufträge für das bayrische Heer übernehmen und wurde bald einer der angesehendsten und wohlhabendsten Bürger Mün­ chens, wo er zwischen 1807 und 1811 mehrere Häuser kaufte oder selbst bauen liess; ausserdem erwarb er 1814 noch ausgedehnte Räumlichkeiten für seine Fabrik und 1818 die Georgenschwaige bei München, wo er eine Leinenbleiche in grossem Stil mit beson­ derem Maschinenhaus errichtete. Seit 1805 Hof­ lieferant, wurde er 1819 Distriktsvorsteher, dann auch Mitglied des Polytechnischen Vereins und des GeneralComitees des Landwirtschaftlichen Vereins, Gemeinde­ bevollmächtigter und Mitglied des Armenpfleg­ schaftsrates. Er war von hohem und stattlichem Wuchs, und die von ihm erhaltenen Bildnisse zeigen männlich schöne, dabei gutmütige Züge. Mässig in seinen Lebensgewohnheiten, erfreute er sich einer stämmigen Gesundheit und erreichte ein Alter von 81 Jahren. An sein Münchener Wohnhaus schloss sich ein grösserer Garten, in dem er, als erfahrener Pomologe in ganz München bekannt, die edelsten Obst­ sorten zog; äusser dieser Liebhaberei war ihm eine leidenschaftliche Liebe zur Musik wie auch zu ge­ schichtlicher und geographischer Lektüre eigen. Er muss in jedem Betracht ein ausserordentlicher Mann

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gewesen sein, denn König Max Joseph würdigte ihn seiner persönlichen Freundschaft, er zog ihn des öfteren an seine Tafel, deren kostbare Damasttücher aus der Fabrik und deren Obst aus dem Garten meines Urgrossvaters stammten, und auch zu den Kindern der Familie stand der König in vertraulichstem Ver­ kehrsverhältnis. In solcher Atmosphäre wuchs neben zwei älteren Brüdern Joseph und Friedrich, von welchen aber Joseph schon mit acht Jahren infolge eines Apothekversehens starb, der Vater meiner Mutter, Johann Nepomuk Sommer auf. In ihm gewannen die phanta­ sievoll-romantischen Neigungen des Familiencharak­ ters mit aller Entschiedenheit die Oberhand, während ihnen bei seinem Vater praktische Lebensklugheit das Gleichgewicht gehalten hatte. Einem Jugendbildnis von ihm, das von der Hand des ihm befreundeten Münchener Malers Peter Hess stammte, sah ich in meiner Studentenzeit ähnlich, und als ich seine Per­ sönlichkeit aus Erzählungen und hinterlassenen Pa­ pieren näher kennen lernte, entdeckte ich auch allerlei Züge seines seelischen Wesens in mir, vielfach um­ gebildet zwar und nach anderen Zielen gerichtet, aber doch unverkennbar. Es steckte auch ein Poet in ihm, der freilich nicht zur Entwicklung kam, sich aber im engeren Kreise deutlich genug kundgab. 1798 geboren, erhielt er Gymnasialbildung und erwarb sich am Münchener Lyzeum gründliche Kenntnisse in der französischen und englischen Sprache, in den «Artil­ lerie- und Fortificationswissenschaften», wie man da­ mals sagte, und im Architektur- und Terrainzeichnen; auch musikalischen Unterricht genoss er damals, wo­ für wohl die Musikleidenschaft seines Vaters mit­ bestimmend war. Blutjung als Elève in das statistisch­ topographische Büro aufgenommen, bestand er 1815 das für eine dortige Anstellung vorgeschriebene Examen mit Auszeichnung, wurde noch im gleichen Jahre zum «Dessinateur-Praktikanten» und 1823 zum «Dessinateur» ernannt. Als «Ingénieur - géographe»

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blieb er dann bis 1839 in diesem Wirkungskreise tätig. In seiner Jungmännerzeit nahm er an der romanti­ schen Empfindsamkeit der damaligen teutschen Jüng­ linge lebhaften Anteil; er gehörte einem «Bund» von Münchener Altersgenossen an, dessen dichtende und schwärmende Mitglieder sich ossianische Namen bei­ legten, und in dem er als «Barde Sined» eine hervor­ ragende Rolle spielte. Vor allem aber begeisterte er sich für die Romantik des Rittertums und für die deutschen Burgruinen. Auf einer Fusswanderung hatte er die damals dem Fürsten Oettingen-Wallerstein ge­ hörenden Ueberreste der 1809 im Tiroler Krieg zer­ störten Burg Hohenschwangau kennen und lieben ge­ lernt; als er 1824 erfuhr, dass die Ruine um 353 Gul­ den zum Abbruch verkauft werden solle, fasste ihn das heisse Verlangen, sie zu erwerben. Sein praktisch denkender Vater, an den er sich zuerst wandte, wollte die Kaufsumme für einen «nutzlosen Steinhaufen» nicht zur Verfügung stellen, ihm erschien der Herzens­ wunsch des Sohnes nur als törichte Schrulle eines Phantasten. Da fiel meinem Grossvater der König ein, der ja auch zu ihm vertraulich stand und sich ihm schon bei anderer Gelegenheit gütig erwiesen hatte. Mit raschem Entschluss liess er sich denn auch heim­ lich beim König melden, der ihm sogleich die erbetene Audienz gewährte. «Na, Muckl — wo fehlt’s denn?» frug Max Joseph in seiner leutselig-gemütlichen Art den fieberhaft Erregten: und Johann Nepomuk berich­ tete seine Herzensnot. Der König aber entnahm einer Schatulle eine Rolle Goldes, brach sie mitten entzwei und übergab dem Glücklichen die Hälfte mit den Worten: «Da, nimm, ich will mit dir teilen! Komm’ aber das nächste Mal zu einer Zeit, wo mein Geld noch nicht so sehr zu Ende geht.» So konnte sich mein Grossvater in der Tat die Ruine kaufen; er versah sie mit einem Dache, restaurierte sie soweit, dass sie be­ wohnbar wurde, und verbrachte dann seine Urlaubs­ zeiten auf diesem seinem erträumten Ritterschloss mit seiner jungen Frau Louise, einer geborenen Stade-

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mann, die ihm vier Kinder gebar: eine Tochter Cä­ cilie und die Söhne Ludwig, Emanuel und Theodor. Die Ehe war indessen nicht glücklich; nachdem die Gatten schon seit 1827 getrennt gelebt, wurde sie aus Verschulden der Frau 1831 gerichtlich geschieden. Die Hohenschwangauer Ruine schmückte mein Grossvater mit allerlei altdeutschen Sprüchen in gothischer Schrift, wie er überhaupt den gothischen Stil zeitlebens besonders liebte; auch mit entsprechenden Malereien verzierte er die Wände der Innenräume und verwandte alle seine Ersparnisse auf die stilge­ rechte Verschönerung seines Besitzes. Sehr charakte­ ristisch für seine damaligen Auffassungen und Träume ist ein aus jener Zeit erhaltenes Gedicht von seiner Hand, das mit den Versen beginnt: «Das Geschlecht von Schwanenstein Soll in mir den Vater ehren, Ewig mir gehorsam sein!»

Allein wie mit seiner ersten Ehe sollte er auch mit seiner ersten Burg kein Glück haben. Der Kronprinz Maximilian von Bayern zeigte gelegentlich eines Aus­ fluges in jene Gegend solches Gefallen an dem Kleinod meines Grossvaters, dass die liebedienerischen Kava­ liere seines Gefolges alles aufboten, die Burg in seinen Besitz zu bringen. Wie zu begreifen ist, widerstrebte mein Grossvater erst hartnäckig dem Verkaufe, schliesslich wurde er aber doch genötigt, gegen eine verhältnismässig geringe Summe sein Schatzkästlein dem Kronprinzen abzutreten. In dem Buche «Das bay­ rische Hochland» schrieb Gustav Wanderer über diesen Vorgang: «Den im Tiroler Kriege zur Ruine ge­ wordenen Schwanstein kaufte Fürst Wallerstein auf Abbruch und von diesem 1824 J. N. Sommer, ein be­ geisterter Archäologe, welcher mit sachkundiger Hand die vorhandenen Trümmer wieder zu einem Ganzen verband und die Burg im echten mittelalterlichen Stile zu restaurieren begann. Unter den Bewunderern des neuerstehenden Ritterbesitzes stand Kronprinz Max von Bayern obenan, und den Ueberredungs27

künsten seiner Umgebung gelang es endlich, den un­ gern weichenden Retter der Burg 1832 zu deren Ab­ tretung zu bewegen.» Freilich: in späteren Darstel­ lungen der Geschichte Hohenschwangaus wurden die Verdienste meines Grossvaters um die Erhaltung des Schlosses geflissentlich totgeschwiegen, aus Gründen, die nicht erst betont zu werden brauchen. Natürlich liess es ihm nun keine Ruhe, bis er eine andere Burgruine erwerben, stilgemäss restaurieren und sich wohnlich darin einrichten konnte. Nach fast zehnjährigem Suchen fand er sie in dem unweit Landsberg gelegenen alten Schlosse Kaltenberg. Es war diese Burg 1293 an Stelle eines Römerkastells von Herzog Rudolf von Stammler, einem Bruder Lud­ wig des Bayern, erbaut worden; ihre spärlichen Ruinen krönten einen vereinzelten Hügel, sodass man von ihnen aus das flache Heideland weitum erblicken konnte. Auch diese Reste der versunkenen Ritterherr­ lichkeit wurden 1841 auf Abbruch ausgeboten: und mein Grossvater, der 1839 wegen eines Augenleidens in den Ruhestand getreten war, zögerte nicht, sie nebst zugehörigen 86 Dezimalen Grundstück um 8000 Gulden zu erwerben. Während der folgenden 13 Jahre restau­ rierte er dann die Ruine gründlichst und ergänzte sie unter bedeutendem Aufwand durch Neubauten, sodass er schliesslich eine sehr stattliche und umfangreiche stilecht gothische Burg sein eigen nannte. Auch weiter­ hin mit seinen archäologischen und künstlerischen Liebhabereien beschäftigt, fand er ausserdem in der Bewirtschaftung des Schlossgutes, die er mit allem Eifer aufgriff, auch eine Fülle rein praktischer Auf­ gaben. Bald nach der Erwerbung von Kaltenberg führte er seine zweite Frau heim, Katharina Friedl, die aus einer ursprünglich adeligen, dann durch Ver­ armung kleinbürgerlich gewordenen Familie stammte und durch Anmut, grosse Herzensgüte, sonnige Heiter­ keit des Gemüts und alle Hausfrauentugenden ausge­ zeichnet ihm ein volles Eheglück bescherte. Von den vier Töchtern, die sie ihm gab, starb die jüngste, Mal­ 28

wine, schon als zweijähriges Kind; die älteste, Schwanhilde, heiratete den spätem k. Kreiskassier Wilhelm Esslair, der als Sohn des berühmten Münchener Hof­ schauspielers Ferdinand Esslair sich erst selbst als jugendlicher Held auf den Brettern versuchte, dann aber Verwaltungsbeamter wurde; die zweite Theodo­ linde, wurde die Frau des k. Rechnungskommissärs und nachmaligen Rechnungsrats Max Rupprecht und starb bei der Geburt ihres ersten Kindes; die dritte Tochter, Engelbertha, wurde meine Mutter. Die unge­ wöhnlichen Namen, die mein Grossvater seinen Töch­ tern gab, sind bezeichnend genug für seine roman­ tisch-idealistische Sinnesrichtung. Frau Katharina nahm sich auch der drei Söhne aus erster Ehe mit mütterlicher Gewissenhaftigkeit und Liebe an, sodass auch diese mit grosser Zunei­ gung an ihr hingen und das Verhältnis zwischen El­ tern und Kindern, Brüdern und Schwestern sich durch­ aus harmonisch gestaltete. Das Kaltenberger Burg- und Familienidyll als die reife Lebensfrucht meines Gross­ vaters muss für alle Beteiligten, namentlich aber für die sechs jüngeren Kinder — die älteste Tochter aus erster Ehe, Cäcilia, war schon 1842 die Frau des Münchener Bildhauers Sebastian Mark geworden — von grösstem Reiz gewesen sein; meine Mutter hat mir oft genug davon erzählt, und es ging ihr immer das Herz dabei auf. Nicht nur alle archäologischen Kennt­ nisse und künstlerischen Fertigkeiten, die meinem Grossvater zu Gebote standen, verwertete er hier in ganzer Fülle und Meisterschaft, er pflegte auch einen reichen Blumenflor im Schlossgarten, zog Edelobst wie sein Vater, versenkte sich mit liebevollem Ver­ ständnis in alle Einzelheiten des Naturlebens und führte mit den Kindern auf Grund seines reichen und vielseitigen Wissens universalbelehrende Tischge­ spräche über Gott und die Welt. Mein Grossvater war trotz der erstaunlichen bienen­ fleissigen Hingabe und peinlichen Genauigkeit, die alle von ihm erhaltenen kunstschriftlichen, kunstgewerb29

liehen und zeichnerischen Arbeiten zeigen, keine Stubenhockernatur. Er hatte von seinem Vater die körperliche Strammheit und Energie geerbt, und seinen grossen persönlichen Mut bewährte er bei verschie­ denen Gelegenheiten. Als er einmal in München spätnachts und allein von einer Abendgesellschaft heim­ ging und dabei über eine der entlegenen Isarbrücken kam, wurde er, der nicht einmal einen Stock bei sich hatte, von zwei mit Messern bewaffneten Strolchen räuberisch angefallen. Kurz entschlossen warf er jedem eine Prise Schnupftabak in die Augen, entwand den schmerzhaft Geblendeten die Messer und schleppte dann beide Kerle eigenhändig zur nächsten Wache. Auch seine Söhne erfreuten sich dieser körperlichen Frische und Kraft; der älteste und sehnigste, der rot­ haarige Ludwig, scheint in jüngeren Jahren sogar eine Art Athlet gewesen zu sein, denn als einmal ein land­ fahrender Ringkämpfer nach Kaltenberg kam und nach einer siegreichen Probe seiner Leistungsfähigkeit vergeblich alle Zuschauer herausforderte, trat Ludwig gegen ihn in die Schranken und warf ihn auf den Rücken....... Die Lebenswege von Johann Sommers Söhnen (Ludwig Kgl. Rat, die Brüder Offiziere) verraten, dass auch die Kaltenberger Herrlichkeit entgegen den Sesshaftigkeitsträumen ihres Schöpfers nicht von Dauer war. So tatkräftig und hingebend er daran gearbeitet hatte, die Oekonomie ertragsfähig zu machen, war er doch seiner Vorbildung nach fast ebensowenig ein landwirtschaftlicher Praktiker wie mein Grossvater Gumppenberg, und schliesslich musste er einsehen, dass der Besitz des Schlossgutes, dessen Restaurierung und Verschönerung ohnehin den grössten Teil seiner Mittel in Anspruch ge­ nommen hatte, auch den Rest seiner Habe ver­ schlingen würde. Schweren Herzens vertauschte er daher im Oktober 1854 Kaltenberg gegen drei An­ wesen an der Erzgiessereistrasse in München. Dieser Schritt war aber unheilvoll genug, denn die Neu­

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erwerbungen erwiesen sich auch nicht annähernd so erträgnisreich, als man sie meinem Grossvater dar­ gestellt hatte, sodass er sie schon nach wenigen Jahren zur Deckung seiner Verpflichtungen abgeben und froh sein musste, als bescheidener Mietwohner ohne alle Burgenromantik, aber wenigstens auch ohne drückende Sorgen seine Tage beschliessen zu können. Von seinen Kindern teilte nur mehr meine nachmalige Mutter das stillzurückgezogene Leben meiner Grosseltern und be­ gleitete sie dann auch nach Miesbach, als der Gross­ vater jener Uebersiedelungsanregung seines Bruders Friedrich folgte. Die menschliche Eigenart meines Grossvaters Som­ mer, so wie sie in seiner späteren Lebenszeit ausge­ prägt war und unvergesslich in der Erinnerung seiner Kinder fortlebte, kennzeichnet wohl nichts besser als ein grosses dickleibiges Notenbuch in liegendem For­ mat aus starkem Kartonpapier und mit massivem Halbledereinband, eine «Allerlei für das Pianoforte» betitelte Sammlung damals besonders beliebter Salon­ stücke und Potpourris, die er für seine Töchter und zwei Nichten Malwina und Thusnelda eigenhändig zur lithographischen Vervielfältigung schrieb, mit unend­ lichem Fleiss und so mathematischer Genauigkeit, dass diese handschriftlichen Noten in keiner Weise von ge­ setzten zu unterscheiden waren; dabei gab er jedem einzelnen Stücke der Sammlung eine charakteristisch angepasste zeichnerische Umrahmung oder sonstige Verzierungen ornamentaler oder figürlicher Art, die bald alte Motive der Gothik oder Renaissance in freien Kombinationen verwerteten, bald auch seine eigenste künstlerische Phantasie in reiz- und geschmackvollen Gebilden spielen liessen. In dem Exemplar meiner Mutter, die als jüngste und charakterverwandteste Tochter wohl sein Liebling war, kolorierte er dann auch diese zeichnerischen Ausschmückungen, und zwar mit so meisterlich feinem Farbensinn, dass Maler von Beruf, die das Buch sahen, bis in die neueste Zeit ihre helle Freude daran hatten. Aber auch menschlich und

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dichterisch wurde dieses Buch zu einer Spiegelung seiner Persönlichkeit. Eines der Titelblätter zeigt einen Kranz erblühender lichtroter Rosen, aus deren halb­ verschlossenem Kelch die Köpfe der beschenkten Mäd­ chen hervorgucken, und inmitten dieses Rosen- und Mädchenkranzes, dem Beschauer verträumt entgegen­ blickend, das Brustbild des fleissigen Notenschreibers, auftauchend aus einem stilisierten Sonnenblumenkelch, während sich links und rechts von dem Kranze, durch zierliche ornamentale Schnörkel damit verbunden, Vergissmeinnichtsträusse erheben; darunter aber trägt, wieder in geschmackvoller Verknüpfung mit dem Gan­ zen, eine Gedenktafel die Verswidmung. Bei der poesievollen Veranlagung und Lebensauf­ fassung meines Grossvaters Sommer konnte es nicht fehlen, dass er wie zu vielen Münchener bildenden Künstlern auch zu einzelnen Dichtern der damaligen Zeit Beziehungen gewann. So war er namentlich mit Jean Paul Richter näher befreundet, von dem auf diese Art mancher intimere Zug in der Familie bekannt wurde: unter anderm die Gewohnheit, sich vor dem dichterischen Produzieren ein Sekträuschchen anzu­ trinken. Uebrigens war auch mein Grossvater selbst ein Freund und Kenner edler Weine, ohne dass die Mässigkeit seiner Lebensweise dadurch beeinträchtigt worden wäre; in seiner besten Kaltenberger Zeit lag eine stattliche Sammlung erlesener Flaschen für Gäste und festliche Gelegenheiten im Schlosskeller bereit. Äusser jenem Notenbuche, mit dem ich schon in meiner Knabenzeit vertraut war, blieben von unserem Grossvater in meinem Elternhause namentlich auch eine Reihe kunstvoller, mit demselben Stilverständnis, Schönheitssinn und eisernen Fleiss ausgeführter Holz­ schnitzarbeiten erhalten und im Sinne seiner Geistes­ richtung wirksam: so eine Anzahl von Schränkchen und Truhen und ein grösserer Schreibtisch, der später in meinen Besitz überging, und den ich dann selbst in Gebrauch nahm.

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Von den erwähnten beiden Kusinen meiner Mutter war Malwina die Tochter des Landschafters Lorenz Quaglio aus der bekannten Münchener Künstlerfamilie der Quaglios. Ich kehre nun zum Zeitpunkt zurück, wo meine Grosseltern Sommer mit ihrer jüngsten Tochter nach Miesbach gekommen waren und mein Vater am dor­ tigen Rentamt praktizierte. Da zu der Wallenburger Oekonomie auch ein renommiertes Brauhaus und eine öffentliche Schlosswirtschaft gehörte, war Wallenburg für die Miesbacher ein allbeliebtes Ausflugsziel gewor­ den, sodass auch der «Ingénieur géographe a. D.» mit Frau und Tochter des öftern dorthin wanderten: und es konnte nicht ausbleiben, dass mein Vater dort die neuen Ankömmlinge zu Gesicht bekam. Gefesselt durch die eigenartige Mädchenerscheinung meiner Mutter — sie hatte verträumte leuchtende Blauaugen unter tief­ dunklen Brauen und ebenso dunklem Haar — nahm er Gelegenheit, sich der Familie vorzustellen, und da sich schon in den ersten Gesprächen mit Vater und Tochter eine überraschende Harmonie der Sinnesart ergab, kam es bald zu näherem Anschluss. Die schnell erwachende Herzensneigung zwischen meinen Eltern gelangte aber noch nicht zur eigentlichen Aussprache, da mein Vater noch in schweren Gewissensskrupeln bezüglich seiner Kusine Therese befangen war, andernteils sich aber schon so stark zu meiner Mutter hingezogen fühlte, dass er es nicht über sich brachte, durch das Einge­ ständnis der Gebundenheit sein Lebensglück für immer von sich zu stossen. Indessen erfuhr meine Mutter durch dritte Personen, dass der junge Baron «schon eine adelige Braut habe», und im nächsten Augenblick stand in der schmerzlichst Betroffenen der Entschluss fest, Miesbach zu verlassen. Ihr Vater konnte diese Entscheidung nur billigen, und so ging sie, eine zu­ fällige Gelegenheit nützend, als Erzieherin dreier junger Mädchen nach Wernstadt in Böhmen und fand in dieser Tätigkeit zunächst die seelische Ablenkung, deren sie bedurfte. Meinem Vater aber brachte dieser

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Schritt die volle innere Klärung; die ganze Erzwungenheit und Heillosigkeit des adeligen Heiratsprojekts kam ihm jetzt zum Bewusstsein, da er den Umgang mit dem blühend gesunden, wohlgebildeten und seelenver­ wandten Mädchen seiner eigensten Liebeswahl ent­ behren musste. Er schrieb meiner Mutter nach Wern­ stadt, ihr nunmehr sein Herz ausschüttend, errreichte auch, dass sie ihm antwortete, sah sich ihrer Gegen­ liebe versichert, und zerriss endlich mit Entschieden­ heit die Fesseln der Familiensklaverei, indem er seinem Onkel Gumppenberg die Verlobung mit meiner Mutter und den Verzicht auf die Hand Theresens mitteilte. Dieser Schritt hatte weittragende Folgen. Der Onkel war aufs tiefste erbittert, dreifach empört, weil die Wahl des «treulosen» Neffen auf eine Bür­ gerliche und Protestantin gefallen war: und als er dann das neue Fideikommiss Pöttmes stiftete, setzte er auf die Liste der Anwärter meinen Vater und dessen männliche Nachkommenschaft statt an die erste an die allerletzte Stelle. Therese wurde später die zweite Frau des Freiherrn Ludwig von Gumppen­ berg von der Peuerbacher Linie und überliess nach dem bald darauf erfolgten Tod ihres Vaters das Pött­ meser Fideikommiss 1878 durch Vertrag dem nächst­ berechtigten Anwärter Hanns Georg von der Oberprennberger Linie....... Der entscheidenden Verfeindung meines Vaters mit dem Senior seiner Linie scheint nun eine für ihn nicht minder unerfreuliche Aufklärung über seine Wallenburger Aussichten auf dem Fusse gefolgt zu sein. Sein Stiefvater legte zwar dem neuen Heirats­ plan nichts in den Weg, scheint aber den Augenblick zu dem Hinweis benützt zu haben, dass Wallenburg allein keine zureichende gemeinsame Lebensbasis für meinen Vater und dessen Halbbruder Eduard be­ deuten könne und dass mein Vater daran gehen müsse, sich eine selbständige andere Existenz zu gründen. In wieweit die Darstellung der Schwierigkeiten zu Gun­ sten des leiblichen Sohnes übertrieb, entzieht sich mei34

ner Beurteilung; jedenfalls folgte mein Vater der Mah­ nung und trat in den staatlichen Postdienst, in dem er am raschesten die Vorbedingungen zur Gründung des eigenen Heims zu gewinnen hoffte. Es blieb ihm nicht erspart, die Strapazen dieses Dienstes von der Pike auf mitzumachen und in der ersten Zeit in unstetem Nomadenleben auf den verschiedensten kleinen ober­ bayerischen Stationen tätig zu sein. Endlich, im Jahre 1863, ermöglichte die Beförderung zum Assistenten die Eheschliessung. Es war nur die Existenz eines kleinen Subalternbeamten, die mein Vater sich und seiner jungen Frau hatte erringen können. Doch genossen die beiden ihr junges Glück in ungetrübtem Frohsinn. Auch die Geistesverwandtschaft und Interessengemeinschaft, die meinen Vater mit dem Grossvater Sommer ver­ band, trug viel Verschönerndes in ihre erste Ehezeit; mein Vater, der selbst schon antiquarische Neigungen gehabt hatte, übernahm im näheren Verkehr mit seinem Schwiegervater noch manche neue Liebhaberei solcher Art. Zugleich aber setzte er in seinen wenigen Mussestunden seine naturwissenschaftlichen Studien fort, botanisierte, sammelte Insekten, wurde ein begei­ sterter Bergsteiger und hatte bei alldem meine Mutter zur eifrig mitbemühten Gefährtin. Auch literarisch betätigte er sich, neben lyrischen Gedichten entstanden auch Novellen. Mit dem oberbayerischen Volk und dessen Mundart von kleinauf vertraut und mit Kobell wie auch Karl Stieler in Korrespondenz stehend, be­ gann er sich ausserdem frühzeitig in altbayerischen Dialekt-Dichtungen zu versuchen. Und diese volks­ tümliche Produktion hielt er dann zeitlebens fest, als er seine sonstigen literarischen Versuche aufgegeben hatte. Er hielt dabei auf strengste mundartliche Treue und hatte hierüber einmal mit Stieler, der es damit weniger genau nahm, eine längere Auseinandersetzung; Stieler verteidigte seinen Standpunkt mit der Ver­ ständlichkeit für weitere Kreise, vermochte aber meinen Vater nicht zu überzeugen. Die gründliche Kenntnis des echten Volksidioms seiner engeren Heimat ver­ 35

anlasste ihn auch, ein ausführliches Wörterbuch des oberbayerischen Dialekts in Angriff zu nehmen; ein grösserer Teil dieses Manuskripts fand sich fertig in seinem Nachlass und wurde neuerdings dem umfassen­ den akademischen Unternehmen gleicher Art zur Ver­ fügung gestellt. In späteren Jahren führte ihn die lange Beschäftigung mit den Schmetterlingen zu einer wissenschaftlichen Betätigung auch auf diesem Ge­ biete; er stellte ein neueres System der Familie der «Spanner» auf und erlebte die Freude, dass dieses Werk von der Universität Jena veröffentlicht wurde. Alle diese Tätigkeiten hielten aber meinen Vater keineswegs von der gewissenhaftesten Erfüllung seiner postalischen Berufspflichten ab. Sie füllten nur seine Erholungsstunden. Seine Natur drängte nach einem universalen, harmonischen, schönheitlich verklärten Vollmenschentum, ganz ähnlich wie die seines Schwie­ gervaters: und soweit seine Begabung und seine äusse­ ren Lebensverhältnisse es zuliessen, hat er dieses Ziel auch erreicht. Uebrigens war er auch für seine Amts­ sphäre selbständig tätig, indem er mehrere postalische Fachschriften verfasste. Die Beamtentätigkeit führte meinen Vater noch nach Landshut und Regensburg, worauf er zu Neujahr 1869 in die Generaldirektion nach München gezogen wurde und bis 1890 daselbst verbleiben konnte. 1864 war ihm der erste Sohn bald nach der Geburt ge­ storben; 1865 folgte die Geburt meiner Schwester, am 4. Dezember 1866, während des Landshuter Aufent­ halts, wurde ich selber als das jüngste Kind geboren. Es waren damals schwere und tieftraurige Zeiten für meine Familie, meine Mutter verfiel unmittelbar nach meiner Geburt in ein typhöses Fieber, das sie an den Rand des Grabes brachte. Ihr Vater liess sich nicht hindern, die Hauptpflege seiner Lieblingstochter zu übernehmen, zog sich dabei eine schwere Erkäl­ tung zu und starb schon am 25. Januar 1867, während meine Mutter, der man seinen Tod zunächst verheim­ lichen musste, noch immer schwer krank darniederlag. 36

inderzeiten.

Wie es bei allen frühesten Kindheitserinnerungen der Fall zu sein pflegt, bestehen auch die meinen aus Einzelbildern ohne Zusammenhang, aus sprunghaften Momentaufnahmen des erwachenden Bewusstseins. Das erste dieser Bilder, das ich in meinem Gedächtnis finde, ist ein grün und rot angestrichenes hölzernes Schaukelpferd, auf dem ich glückselig mich wiegen darf, von meiner hinter mir im Sattel sitzenden Schwester festgehalten, mitten in den Strahlen der Morgensonne, die durch das Fenster einer freund­ lichen, aber kleinen Stube hereinlacht. Dieses Spiel­ zeug hatten wir Kinder zu Weihnachten 1868 erhalten, und da mein Vater, wie erwähnt, schon am Neujahr 1869 nach München übersiedelte, dürfte der Schau­ platz meiner ersten Beitübung die Münchener Miet­ wohnung gewesen sein, die meine Eltern an der Blu­ menstrasse nächst dem Viktualienmarkte bezogen. Trotz der nichts weniger als hochherrschaftlichen Le­ bensverhältnisse meiner Eltern war also mein Eintritt ins Bewusstsein durchaus kavaliersmässig und zugleich ominös für den späteren Poeten, mag man nun in jenem Holzpferd mehr einen Hinweis auf den klas­ sisch ernsthaften Pegasus oder auf das parodistische «Teutsche Dichterross» erblicken. Meine nächstfolgenden Erinnerungsbilder beziehen sich auf eine Wohnung in der Neuhauserstrasse, wohin die Eltern schon im September 1870 umzogen, — düster wie dieses ganze Altmünchener Haus, selbst an sonnigsten Tagen in tiefe Dämmerung begraben. Die vom Grossvater stammenden dunkeln altdeutschen Möbel verstärkten noch den Eindruck finsterer Schwer­ 37

mut, dem sich mein Kinderseelchen am allerwenigsten entziehen konnte. Unheimlich wirkten auch mehrere in der Familie vererbte, stark nachgedunkelte und streng blickende Wittelsbacher-Bildnisse aus der Kur­ fürstenzeit und zwei schwingenbreitende ausgestopfte Bussarde mit grimmigen Glasaugen. Äusser dem be­ ängstigenden Charakter der Wohnräume sind aus jenen Spätsommertagen in meinem Gedächtnis noch Einzelheiten erhalten, die sich auf den deutsch-fran­ zösischen Krieg beziehen: allgemeine Unruhe, Er­ regung und Spannung in der Familie, Lärmen auf der Strasse und der Abschied eines Vetters, der die Eltern noch einmal in Uniform aufsuchte, bevor er ins Feld zog. — München war damals in hygienischem Betracht noch eine Pesthöhle. Da ich an allen Segnungen der vorpettenkofer’schen Zeit teil hatte, war ich in meinen frühesten Kinderjahren alle paar Wochen krank. Leid­ volles Krankenlager nimmt denn auch einen breiten Raum in meinen ältesten Kindheitserinnerungen ein: und auch das nächste Einzelbild bezieht sich auf eine solche Krankheit. Ich liege todmüde, doch schon als Rekonvaleszent zu Bette, und die zärtlich um mich be­ mühte Mutter gibt mir ein altmodisches Bilderbuch mit verschiebbaren Figuren zum Spielen. Aber die Ge­ stalten, die sich unter meinen Fingern bewegen, wer­ den mir unheimlich, und die Mutter muss es mir wieder wegnehmen. — Ein weiteres Bild ist freudiger. Ich sitze mit meinen Eltern und der Schwester am sonnigen Vormittag hoch an einem der halbkreisförmigen Fenster des Hauptpostgebäudes, verzehre eine Bratwurst und eine halbe Semmel und sehe dabei dem Einzug der sieg­ reichen bayerischen Truppen zu. Quer über den MaxJosephsplatz kommen sie in breiter Kolonne von der Ludwigstrasse her, die Häuser sind reich geschmückt und alle Fenster mit festlich geputzten Mädchen be­ setzt, die unter unablässigem Hochrufen eine Menge 38

von Blumensträussen auf die heimkehrenden Helden hinabwerfen. — Im Herbst 1871 zogen meine Eltern in ein ein­ stöckiges Haus der Rumfordstrasse, nahe dem Isar­ tor. An einem der offenen Stadtkanäle, mit grösserem Garten, der von den Nachbaranwesen durch Zäune getrennt lag: wie überhaupt jene Stadtgegend damals noch fast ländlichen Charakter trug. Der Garten ent­ hielt reich tragende Obstbäume und Sträucher, Hol­ lunderbüsche und Blumenbeete, sodass schon darum der Umzug eine erfreuliche Verbesserung bedeutete, namentlich für uns Kinder, die sich nach den fin­ steren Kerkermauern der letzten Wohnung nun wie im Paradiese fühlten. In warmen Mai- und Sommer­ nächten sassen nun die Eltern mit uns im Freien, über uns schwebte der Mond oder breitete sich die funkelnde Pracht des Sternenzelts. Ein grosser Komet mit glänzendem Schweif zog unsere Aufmerk­ samkeit ganz besonders auf sich. Der erste Winter in der neuen Wohnung war so streng und schneereich, wie es der vorhergegangene Kriegswinter gewesen; er gab meinem jetzt schon zu­ sammenhängenden Bewusstsein die ersten winter­ lichen Eindrücke. Wir erhielten den ersten Unter­ richt durch einen Lehrer, der während jenes Win­ ters zur Stundenerteilung ins Haus kam; so lernte ich die Anfangsgründe rasch und mühelos und er­ hielt auch bald Gelegenheit, die erworbene Fertig­ keit im Lesen aufs Genussreichste zu verwerten. Als ich nämlich einmal morgens durchs Fenster auf jenen Teil des Gartens hinausschaute, der gegen das Nachbarhaus durch einen niederen Staketenzaun abgegrenzt war, sah ich auf der weissen Schneedecke ein aus dem Einband gerissenes Buch liegen, das wohl sein ursprünglicher Besitzer geringschätzig über den Zaun geworfen hatte. Neugierig lief ich hinaus, bemächtigte mich der rätselhaften Beute und vertiefte mich eifrigst in die Entzifferung. Es waren Andersens Märchen in einer deutschen Auswahl für Kinder und

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sogar mit guten humorvollen Illustrationen, sodass der Himmel mir Fünfjährigem gar kein besseres Geschenk hätte vor, Fenster legen können. Natürlich verstand ich nicht die symbolischen Beziehungen dieser Märchen, sondern nur ihre Fabel selbst, die ich nach Kinderart ganz gegenständlich nahm; dabei er­ wachte aber mein Gefühlsleben mit grosser Heftigkeit, und ich weiss noch, dass ich beim Lesen des weh­ mütigen Schlusses der Geschichte vom «Däumelinchen» heisse Tränen vergoss. Bis in den Winter auf 1872 reichen meine Er­ innerungen an das Weihnachtsfest zurück, das in meinem Elternhause von jeher mit liebevollstem und stimmungskräftigstem Aufwand begangen wurde. Der Weihnachtsbaum musste immer gross und stattlich sein, er wurde vom Vater mit kundiger Sorgfalt aus­ gewählt und schon eine Woche vor dem Feste heim­ lich ins Haus gebracht. Was wir Kinder an Weih­ nachten geschenkt erhielten, war nur zum kleineren Teil gekauft, vieles verfertigte mein Vater selbst, unter Verwertung seiner verschiedenen Geschicklich­ keiten. So überraschte er uns noch in jener frühesten Zeit mit einem aus Holz und Pappe hergestellten Puppentheater nebst Dekorationen und Kartonfiguren zum «Freischütz» und zu Andersens Märchen vom «Soldaten», wobei er auf die Ausstattung der Wolfs­ schlucht und die Gestaltung der drei Hunde des Märchens, von welchen der Grimmigste «Augen wie Kirchtürme» besitzen soll, viel Phantasie und Humor verwandt hatte. Das Spielen mit diesem Puppen­ theater gab mir die ersten dramatisch-szenischen Vor­ stellungen, die noch verstärkt wurden durch das öffentliche Marionettentheater Papa Schmid’s, in das uns die Eltern um jene Zeit mehrmals an den Sonn­ tagen führten. Bei dieser Gelegenheit sei nachholend erwähnt, dass mein Grossvater Gumppenberg als per­ sönlicher Freund des fruchtbaren Marionettenspiel­ dichters Franz Grafen von Pocci auch selbst ver­ schiedene Spiele dieser Gattung geschrieben hatte und 40

das eben jenes heute noch bestehende Münchener Marionetten-Theater in neuester Zeit einen seiner im Stile Pocci’s gehaltenen Schwänke wieder hervor holte. Zur Zeit meines Grossvaters Gumppenberg war das Marionettenspiel, was nicht allgemein bekannt sein dürfte, auch am Bayrischen Hofe äusserst beliebt, es wurde nicht nur zur Belustigung der jüngsten Prin­ zen und Prinzessinnen, auch zum Ergötzen der Fürstlichkeiten selbst eifrig gepflegt... Von den Besuchen bei einzelnen der in München lebenden Verwandten meiner Mutter, die wir Kinder in jenen frühesten Jahren von der Rumfordstrasse aus machen durften, sind mir besonders lebhaft in Erinnerung solche bei dem Landschaftsmaler Adolf Stademann; «Onkel Adolf» war in seiner Erscheinung, seiner Art sich zu geben und seinen Lebensgewohn­ heiten ein richtiges Künstleroriginal. Eine starke und eigenwüchsige Begabung, die sich namentlich an den Niederländern und Franzosen gebildet hatte, trug er schon frühzeitig alle die möglichen Formen und Far­ ben der Natur bis zu den verwickeltsten Kombina­ tionen und feinsten Mischungen beherrschend, im Kopfe, sodass er, was für den jeweiligen Zweck nötig war, beliebig hervorholen konnte, ohne noch irgend­ welcher unmittelbarer Studien zu bedürfen. In den letzten Jahrzehnten seines rastlos schaffenden Lebens kam er fast nur zu kleinen Spaziergängen auf die seiner Wohnung benachbarte Theresienwiese aus dem Hause; dabei nahm er, nur mit den Augen, die wech­ selnden Licht- und Wolkenstimmungen des Firma­ ments auf, in deren Wiedergabe er ganz besonders Meister war. Und wie spielend leicht er seine Bilder schuf, die alle ausschliesslich Geschöpfe seiner Phan­ tasie, seines inneren Schauens waren! In späteren Jahren habe ich ihm oft bei der Arbeit zugesehen und mit Staunen beobachtet, wie unter seiner kühn und flink bewegten Hand in kaum einer Stunde aus der leeren Leinwand eine Landschaft hervorwuchs, die bis ins Kleinste die Züge und den Farbenreichtum 41

der Wirklichkeit trug, und doch zugleich durch die Harmonie aller ihrer Teile als dichterisch beseelte Einheit wirkte. Er war ohne Frage genial veranlagt, und das scheint in seiner ersten Schaffenszeit auch allgemeine Würdigung gefunden zu haben, denn er verkaufte viel auch ins Ausland und hatte eine Weile begründete Aussicht, zu den höchsten Höhen inter­ nationaler Anerkennung emporzusteigen. Um rasch zu verdienen, musste er sich aber trotz der Viel­ seitigkeit seines Könnens auf eine leicht verkäufliche Spezialität beschränken, auf die variierende Wieder­ holung eines Motivs, mit dem er ganz besonders er­ folgreich gewesen, und das daher mit seinem Namen verknüpft worden war. Bekanntlich war das eine abendliche Winterlandschaft, meist holländischen Gepräges, mit einer Eisfläche, auf der sich Schlitt­ schuhläufer und schlittenfahrende Kinder tummeln. Hunderte solcher Eisbilder hatte er dann in endloser Folge gemalt, die bei aller Gleichheit des allgemeinen Vorwurfs doch immer neue Gruppierungen, Himmels­ stimmungen und Farbeneffekte zeigten. Natürlich beuteten gewisse Kunsthändler mehr und mehr seine materielle Lage und die Leichtigkeit seiner Pro­ duktion aus, und schliesslich kam es dahin, dass sie im Atelier auf die Fertigstellung «eines Stademann» förmlich warteten und ihm dann natürlich schamlos niedrige Preise für solche Bilder zahlten. Von allen diesen Dingen merkte und erfuhr ich in jener frühen Kinderzeit natürlich noch nichts; was mir von den damaligen Besuchen in Erinnerung ist, war nur die Fremdartigkeit der äusseren Eindrücke... Da wirkte abenteuerlich der penetrante Terpentingeruch und die malerische Unordnung des Ateliers mit all den farbenbeklecksten Paletten, umherliegenden Tuben und Pinseln, Fragmenten von Pariser Kunstzeit­ schriften, einem Wirrwarr halbvollendeter Bilder und der hohen Gestalt des immer beschäftigten Onkels dazwischen mit dem ausdrucksvollen Gesicht, dessen Adlernase ein schwarzer Kneifer zierte. 42

In der schönen Jahreszeit nahm mich mein Vater manchmal auf Spaziergängen in die Isar-Auen mit; er suchte dann mit Vorliebe eine mit Gestrüpp und hohem Gras bestandene Heidestrecke auf und fahn­ dete dort nach seltenen Raupen und Schmetterlingen. Daheim fesselte mich äusser den Büchern, deren In­ halt ich mit rapid wachsender Lesegier verschlang, vor allem das Klavierspiel meiner Mutter; sie hatte es darin zu grosser Fertigkeit gebracht, und auch die kühnsten Passagen, die das erwähnte vom Grossvater stammende Notenbuch enthielt, perlten mit Vir­ tuosengeläufigkeit unter ihren eben so schönen als kräftigen Händen. Ich hatte von ihr und ihren Vor­ eltern die starke Veranlagung und Liebe für die Musik geerbt; schon damals bat ich sie in den Abend­ stunden oft genug, mir aus dem «Grossvaterbuch» vorzuspielen, und lauschte dann den Melodien und Harmonien in andächtigster Gebanntheit... Für die Grossmutter Sommer war ich von Anbe­ ginn der erklärte Liebling. Eine kindliche fromme, dabei aber lebenstüchtig praktische und heitere Frau von gütigstem Herzen, kannte sie keine höhere Pflicht, als mich zu behüten, und keine grössere Freude, als mir Freude zu machen; freilich verzärtelte sie mich dabei mehr als mir gut war. — Die im besten Sinne volkstümliche Frömmigkeit dieser prächtigen alten Frau pflanzte mir die ersten religiösen Vorstellungen und Gefühle ein, denen meine lebhafte Phantasie und eine angeborene Hinneigung zum «Metaphysischen» entgegenkam; sie überwachte täglich mein Nachtgebet und versäumte auch keine andere Gelegenheit, mich auf den «lieben Gott» hinzuweisen. Dabei trug aber ihre starke und grundehrliche Religiosität durchaus kein kirchlich-theologisches Gepräge; von den drei Personen der Gottheit sprach sie mir niemals, über­ haupt von nichts Dogmatischem, und eine regelmäs­ sige Kirchengängerin war sie ebensowenig wie meine Eltern. Es lag ihr auch nichts ferner als ein lebens­ fremder Pietismus, ganz im Gegenteil hatte sie einen 43

ungewöhnlichen Scharfblick für alles Wirkliche und namentlich auch für menschliche Charaktere. Bei dieser Gelegenheit sei auch erwähnt, dass ihr eine merkwürdige Gabe für Vorahnungen eigen war; so fühlte sie Schicksalsschläge, die der Familie bevor­ standen, wochenlang voraus, wenngleich nur dunkel und unbestimmt und ohne zu wissen, welchem ihrer Lieben das Unheil drohe; «Kinder, jetzt kommt wie­ der etwas Schweres,» pflegte sie dann zu sagen: und sie behielt jedes mal recht. Nach einem Keuchhusten fand unser Hausarzt die Verbringung in reine Luft und eine Kur mit kuh­ warmer Milch nötig, und so wurde bei den Wallenburger Grosseltern angefragt, ob wir mit der Mutter kommen dürften. So fand ich mich eines Morgens mit Mutter und Schwester in Wallenburg, auf dem einstigen Besitz­ tum meines Grossvaters Gumppenberg, und sah mit staunenden, wenn auch von der Krankheit noch müden Augen in eine fremde Welt voll neuer Wunder. Das Schloss liegt etwa eine halbe Wegstunde von dem Marktflecken Miesbach auf einer Anhöhe, die gegen das enge und stilleinsame Waldtal der Schlierach steil abfällt. Von den ursprünglichen vier Teilen des Baues, die den Burghof im Quadrat umschlossen, war nach einem Brande im 17. Jahrhundert nur einer, die dem Schierachtal abgewandte Hauptfront erhalten geblieben; die Stelle der drei anderen hatten eine niedrige Mauer, sowie kleine Wirtschaftsgebäude jüngeren Datums eingenommen. Ein langgestreckter Hühnerstall beherbergte, als wir Kinder nach Wallenbrug kamen, eine reiche Fülle verschiedenartigsten, auch kostbaren Geflügels, war doch die Grossmama Gumppenberg, oder vielmehr Bermühler, eine leiden­ schaftliche Züchterin. Der erhalten gebliebene drei­ stöckige und von steilem, rotem Ziegeldach gekrönte Vordertrakt des Schlosses verriet die Stile verschie­ denster Zeiten, im äusseren Gesamtaufputz hatte er

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aber das Gepräge eines Herrenhauses des 18. Jahr­ hunderts. — Eine unordentliche Rumpelkammer im Erd­ geschoss gewann für uns Kinder einen mysteriösen Reiz; wir entdeckten nämlich darin eine täuschend verkleidete Tapetentüre, und damit den Eingang zu einem geheimen, aus alter Zeit herrührenden Wendel treppchen, das ins erste Stockwerk führte. Sonst ge­ langte man in die oberen Stockwerke des Schlosses auf einer breiten, hölzernen Wendeltreppe, die von der Halle neben der Einfahrt aufstieg; auch dieser normale Weg hatte sein Gruseliges, denn an einer Stelle der weiss getünchten Seitenwand, auf die nur mattes Dämmerlicht fiel, hing das kleine, jahrhun­ dertealte und stark nachgedunkelte Bildnis einer schönen Rittersfrau, die eben dort, wie man uns er­ zählte, wegen einer Missetat eingemauert worden war. Ehrfürchtiges Staunen weckte auch die Waffen­ sammlung meines Grossvaters Gumppenberg, die eines der hohen Gemächer enthielt, namentlich eine Anzahl grimmiger, in eisernen Ständern aufbewahrter Richt­ schwerter aus der Zeit, als der Schlossherr im Gau noch die Halsgerichtsbarkeit ausübte. Selbst diese starken Wirkungen auf mein Knabengemüt überbot aber noch der feierliche Eindruck, den der grosse Rittersaal am Ende der Vorhalle auf mich machte. Durch eine gewaltige Flügeltüre trat man in den wei­ ten, hohen Raum, worin jeder Schritt geisterhaft widerhallte. Ueberlebensgrosse Bildnisse ehemaliger Schlossherren und ihrer Gemahlinnen, in den prunk­ vollen, steifen und düsteren Trachten des sechszehnten und siebenzehnten Jahrhunderts reihten sich hier an den Wänden, jedes an einem einzigen mächtigen Na­ gel hängend. In der Fülle von Licht, das durch hohe Fenster hereinflutete, traten diese Gesichter der Ver­ gangenheitsgestalten aufs lebhafteste hervor, und ihre ernsten, sinnenden, nach der Malmanier jener Zeiten, halb von der Seite entgegen blickenden Augen schie­ nen den späten Nachkömmling, der in ihre Geistes45

runde trat, überall hin zu verfolgen. Zu diesem un­ heimlichen Scheinleben der Bilder kam ein nicht min­ derunheimliches, das der Wirklichkeit angehörte; da weder der nüchterne Bermühler, noch die hühner­ hofbeflissene Grossmama für eine sorgfältige Pflege der Ahnengalerie Zeit und Teilnahme erübrigten, hat­ ten sich hinter den Bildnissen, die oben etwas abstan­ den, Fledermäuse eingenistet, in der Abenddämmerung und Nachts strichen sie huschend und leise raschelnd an den Wänden hin. Dass am Saalende zu Füssen eines Schlossherrnpaares zwei grosse offene Eichentruhen mit gedörrten Birnen- und Apfelschnitten standen, war gewiss nicht stilgemäss, steigerte aber noch die An­ ziehungskraft des Baumes für mich. ... Den stärksten schönheitlichen Eindruck aber erhielt ich von dem Blumen- und Gemüsegarten, der sich der Schlossfassade gegenüber hinzog, von einer undurchdringlich verwachsenen Hecke junger Fichten flankiert und vorne durch das Treibhaus, am Ende durch üppig tragende Beerensträucher abgeschlossen war. Wenn man in der besten Blütezeit diesen reichen Garten betrat, musste sein feurigbunter Farbenjubel auch das Auge eines verwöhnten Erwachsenen be­ rauschen, wieviel mehr noch einen Sechs- und Sieben­ jährigen im ersten Schauensdurst. Das reizvollste Bild boten die Blumenbeete an klaren Sommermorgen, wenn noch der Tau in funkelnden Tropfen an den schweren Köpfen der Rosen oder des veredelten Gar­ tenmohns hing, und gerade so habe ich sie damals oft genug gesehen. Die Eindrücke, die ich da erhielt, sind mir unauslöschlich geblieben: und in späteren Jahren, als der Wallenburger Blumengarten längst von der Erdfläche verschwunden war, habe ich noch in Erinnerungsversen für sie gedankt. Auch das Vergnügen der Fischerei durfte ich damals kennen lernen. Der derbvolksmässige Wallen­ burger Braumeister war auch Meistei- in dieser an­ deren Kunst und pflegte im entfernten Kaltenbach, der damals mit zum Wallenburger Besitz gehörte, die

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Forellen für den Schlossbedarf zu angeln. Er hatte eine besondere Zuneigung zu mir, schenkte mir erlesene Aepfel, die er auf dem Schrank seiner ärmlichen Stube eigens für mich aufzubewahren pflegte, bat dann auch meine Eltern, mir die Anfangsgründe der edlen Angelkunst beibringen zu dürfen, und nahm mich zu diesem Zweck wiederholt an den Kaltenbach mit. Ich war nicht ungelehrig, aber die Forellen schienen meine Angel geflissentlich zu meiden. Als ich einmal gar­ nichts und auch der Braumeister nur eine einzige Forelle gefangen hatte, streckte er mir unter dem Ein­ druck meines schweren Verdrusses seine eigene Beute in das wassergefüllte Fischlegel, das auch ich um­ gehängt trug, und redete mir zu, ich solle sie daheim für Eigenfang ausgeben. Das tat ich dann auch; als ich aber allgemein gelobt und bewundert wurde, ge­ genüber der Erfolglosigkeit des Braumeisters, bereitete mir das schlechte Gewissen Höllenqual, von einem Eingeständnis der suggerierten Lüge hielt mich in­ dessen die Scham zurück; und so war mir der ganze Tag dermassen verdorben, dass ich fortan nie mehr mit dem Braumeister fischen gehen wollte und auch sonst seine Gesellschaft mied... Von der geringen Summe, mit der sich mein Vater bei der Wallenburger Vermögensteilung nach dem Tode seiner Mutter zufrieden gegeben, erbaute er im Jahre 1875 auf einer der Wiesenhöhen, östlich von Miesbach, nach eigenem Plan ein kleines Landhaus und erfüllte damit seinen und der Mutter Herzens­ wunsch, trotz allem und allem ein Teilchen Grund und Boden und ein nach persönlichstem Geschmack gestaltetes Heim zu besitzen. Ich erinnere mich noch bei den ersten Vorarbeiten des Baus um die Maien­ zeit zugesehen zu haben; ich sah, wie der Bauplatz nach den Angaben des eifrig beschäftigten Vaters ab­ gesteckt und der Rasen für die Kieswege des Gartens ausgestochen wurde. — In meiner nächstfolgenden Erinnerung steht die Villa schon vollendet da: als ein schmuckes einstöckiges Haus, mit der Stirnseite gegen 47

die Berge schauend und anmutig belebt durch einen überragenden und vorspringenden Mittelbau. — Den Sommer 1875 konnten wir bereits auf der Villa ver­ bringen. In jenem Sommer nahm mich auch mein Vater zum ersten Male auf richtige Bergpartien mit. — Die üblichen «Maispaziergänge» der Volksschüler hatten damals in München stark patriotischen Cha­ rakter, unter der Nachwirkung des siegreich been­ deten Krieges und der nationalen Einigung, sie waren zugleich vaterländische Jugendfeste, bei welchen die «Wacht am Rhein» und «Deutschland über alles» gesungen wurden und die bayrischen und deutschen Fahnen eine grosse Rolle spielten. Die gleichhohen Klassen der in unserem Schulgebäude sonst streng getrennten Knaben- und Mädchenschule marschierten bei dieser Gelegenheit gemeinsam mit Fahnen und in militärischer Ordnung und Strammheit, wenn auch seitwärts des Zuges von manchen Eltern begleitet, vom Schulhause aus nach einem Ausflugsort der nächsten Umgebung Münchens, wo dann allerlei gleichfalls patriotisch gefärbte Spiele stattfanden. Der zwei­ geschlechtliche Zug wurde da am frühen Vormittag vor dem Schulhause durch den Klassenlehrer in Reih und Glied gestellt, und dabei hatten der beste Schüler der betreffenden Klasse und die beste Schülerin der entsprechenden Mädchenklasse das Vorrecht, neben­ einander schärpengeschmückt die grossen Hauptfahnen voranzutragen, das Mädchen gewöhnlich als Bavaria die bayrische, der Bube die deutsche. In einem Jahre des Erfolges war ich der Fahnenträger und übernahm das Reichsbanner mit den stolzesten Hochgefühlen. Als ich so mit den Attributen meiner Würde unter der roten Blütenpracht der Kastanienbäume vor dem Schulhaus an die Spitze des Zuges trat, war meine mir bislang noch völlig unbekannte Amtsschwester noch nicht zur Stelle. Ich war garnicht neugierig auf sie, und ärgerte mich bloss über das Warten, wie ja ein Junge von meinem damaligen Alter den Mädchen

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eher geringschätzig als interessiert gegenüber zu stehen pflegt. Wie dann aber die Verspätete eiligst mit ihrer Mutter ankam, verging mir jäh aller Knaben­ trotz beim Betrachten ihrer blühenden Lieblichkeit, die durch das schneeweisse Festkleid und die zwei­ farbige Schärpe noch gesteigert erschien. Sie war, wie ich selbst, gross für ihr Alter, und dabei sehr ebenmässig gebaut; lange dunkle Locken fielen von der klaren Stirne über den stolzen weissen Nacken, aus ihren leuchtenden Braunaugen sprach natürliche Klugheit ebenso beredt wie unberührte Kindlichkeit und eine leichte Böte, die das festliche Vergnügen und die Befangenheit wegen der Verspätung über ihr schönes Antlitz gebreitet hatte, machte sie noch rei­ zender, als sie nun an meine Seite trat und mir begrüssend die Hand reichte. Ich war wie gebannt, konnte den Gruss kaum erwidern, musste sie nur immer wieder ansehen, und eine Flut ganz neuer Gefühle durchschauerte mich, zugleich beklemmend und beglückend. Kein Wunder, denn ich war zum ersten Male verliebt. Wie in Rausch und Fieber schritt ich mit der flatternden Fahne neben meiner Maienbraut dahin; bei den Spielen am erreichten Kinderfestplatz wich ich nicht von ihrer Seite, was auch ihr selbst ganz in Ordnung schien, obwohl ich mehr einsilbig als unterhaltlich war: und als ich mich dann endlich, nach der Rückkehr in die Stadt, von ihr trennen gemusst, fiel ich in tiefe Traurigkeit und war den Tränen nahe. Allein im Leben eines Acht­ jährigen ist für Liebesstürme noch kein Raum; der nichts weniger als ästhetisch schöne Alltag der Schule sorgte sofort für entsprechende Ernüchterung und Zerstreuung, schnell kam mir die Angebetete wieder aus dem Sinn, zumal ich sie auch nicht mehr zu Gesicht bekam, und auch später habe ich sie nie mehr wieder gesehen. Da ich nicht einmal ihren Familien­ namen kannte, weiss ich auch nichts von den weiteren Lebensschicksalen meiner «Maienbraut»....... 4

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Mein Vater war bei aller Wertschätzung des Bür­ gerlichen, ja des urwüchsig Bäuerischen mit einem Teil seines Wesens Aristokrat geblieben. Wohl auch aus diesem Grunde, noch mehr aber infolge verschie­ dener Zukunftserwägungen wollte er, der immer Ge­ rechte und Pflichtbewusste, mir eine Erziehung geben, die eine vollkommen freie Wahl des Lebens­ weges ermöglichen, und mir auch die Vorteile meiner adeligen Geburt sichern sollte. Nach den Einflüssen, die daheim auf mich wirkten, wäre mir ein An­ schluss an meine feudalen Standesgenossen fast un­ erreichbar gewesen, auch wenn ich ihn später ge­ wünscht und angestrebt hätte. So entschloss sich mein Vater, mich nach Absolvierung der 4. Lateinklasse die Aufnahmeprüfung in das Münchener Pagencorps machen zu lassen, dem er selbst einst angehört hatte. Vielleicht mochte ihn auch die Ueberlegung mitbe­ stimmen, dass er selbst bei seiner mehr gütigen als strengen Veranlagung den robusten Notwendigkeiten einer Erziehung zum Manne nicht ganz gewachsen wäre, und dass mir seitens der liebevollen Besorgt­ heit meiner Mutter und Grossmutter die Gefahr der Verzärtelung drohe. Nachdem der Plan einmal ge­ fasst war, galt es die nächstliegenden Schwierigkeiten zu besiegen. Da ich der vorgeschriebenen doppelten Ahnenprobe mütterlicherseits nicht genügen konnte, bedurfte ich vor allem eines bezüglichen Dispenses, den ich ohne Schwierigkeiten erhielt. Freilich blieb noch als Schwierigkeit die bedeutende Summe, die alljährlich für einen Pagen zu entrichten war, und die mein Vater nur in der bestimmten Hoffnung ris­ kieren konnte, dass ich mir durch guten Fortgang baldigst einen Freiplatz verdienen würde. Und zu alledem fragte es sich noch, ob ich die Prüfung über­ haupt bestehen könnte, und wenn, ob mir ein Be­ stehen nur mit Ach und Krach nicht von vorherein die Aussicht auf den Freiplatz rauben würde. Meine protestantische Konfession war kein Hindernis, da auch protestantische Adelige aufgenommen wurden, 50

allerdings unter der Bedingung, dass auch sie den gelegentlichen Hofdienst in einer katholischen Kirche mitmachten. Meiner freisinnig-heiteren Mutter machten die Reverenzen vor katholischen Altären, zu denen ich verpflichtet werden sollte, keine Gewissens­ skrupeln, sie betrachtete sie, wie mein Vater, als blosse Formalitäten. Vielleicht wären beide etwas bedenk­ licher gewesen, hätten sie gewusst, mit welchem ur­ sprünglichen, heiligen und gewissensstrengen Ernst ich gerade zu jener Zeit den Vorbereitungsunterricht zu meiner Konfirmation besuchte. Meine phantasie­ volle, dem Mystisch-Uebersinnlichen zuneigende Ver­ anlagung hatte mein religiöses Empfinden im Gegen­ sätze zur gleichgültigen Lauheit der Zeit ungewöhn­ lich lebendig gestaltet, und mit dieser ganzen inneren Lebendigkeit und gegenständlich machenden Phan­ tasie ergriff ich auch das Dogma, zu dem ich mich bekennen sollte. Als ich dann endlich an Ostern 1880 des mit vollem Glauben und fiebernder Andacht er­ fassten Heilswunders teilhaftig wurde und in der Matthäuskirche an der Sonnenstrasse Leib und Blut des Erlösers in mich aufnahm, gab es in dem dicht­ gefüllten Gotteshause gewiss niemanden, der ein leidenschaftlicherer und überzeugter evangelischer Christ gewesen wäre als ich. Meine Eltern, von denen ich übrigens diesen ergriffenen Gemütszustand scham­ haft und schweigsam verschloss, stimmten mich in keiner Weise herab, vielmehr begingen sie meine Kon­ firmation als ernstes Familienfest... Die Pagerie, oder wie die offizielle Bezeichnung lautete, das «Institut der königlichen Edelknaben» hauste im oberen Stockwerk des Maximilianeums, dieses seltsamen, hochaufragenden, mit einer kranz­ werfenden Engelsgestalt gekrönten Baues, der die Maximilianstrasse wie der einsam stehen gebliebene Teil einer Theaterdekoration abschliesst und äusser den Pagen noch die bekannte Gemäldegalerie und, im Erdgeschoss, die Stipendiaten der Maximilianeum-Stiftung — Hochschüler mit besonders glänzen-

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der Qualifikation — beherbergte. Ursprünglich nur den höfisch-zeremoniellen Zwecken dienend, war die Pagerie im Laufe der Zeiten ein Erziehungsinstitut vorwiegend militärischen Charakters geworden, des­ sen hofdienstliche Leistungen sich auf wenige Gelegen­ heiten im Jahre beschränkten, umsomehr, als bei dem Einsiedlerleben König Ludwigs II. die Hoffestlich­ keiten, bei denen er sich fast immer durch den Prin­ zen Luitpold vertreten liess, äusserste Einschränkung erfuhren. Die Pagen erhielten als solche Unterricht in den alten Sprachen, im Französischen, Englischen und Italienischen, in der Religionslehre ihrer Kon­ fession, in Mathematik, Stenographie, Musik, archi­ tektonischem und künstlerischem Zeichnen und Aquarellieren, im Turnen, Fechten, Schwimmen, Rei­ ten und Tanzen, wie auch im Exerzieren und in den Anfangsgründen der Militärwissenschaft; zugleich mussten sie aber auch das benachbarte Wilhelmsgymnasium besuchen und es zuletzt mitabsolvieren. Nach dem Statut durfte es niemals mehr als 25 Pagen geben und es wurden daher immer nur so viele Zög­ linge neu aufgenommen, als im Vorjahre die Anstalt verlassen hatten. In meinem Falle waren nur vier Plätze vakant geworden, und da sich äusser mir noch fünf Kandidaten angemeldet hatten, mussten notwendig zwei von uns — die schlechtesten Zen­ surierten — ohne Gnade abgewiesen werden. So sehr mir unter solch erschwerenden Umständen vor der Prüfung bangte, so wünschte ich doch nichts sehnlicher, als sie zu bestehen, denn meine Phantasie gaukelte mir den eventuellen neuen Lebensabschnitt in zauberhaftestem Lichte vor. Von den Pagen frü­ herer Jahrhunderte hatte ich ja schon so viel ver­ lockend Romantisches gelesen, und trotz aller nüch­ ternen Aufklärungen, die ich erhielt, konnte ich mir den Abstand der modernen "Wirklichkeit von jenem poesieumwobenen und abenteuerreichen Pagentum doch nicht ganz so gross vorstellen, als er tatsächlich war. 52

An einem schönen Herbsttag, kurz vor dem Wiederbeginn der Schulzeit, wurde ich in meinen Sonntagsstaat gesteckt und wanderte mit dem Vater klopfenden Herzens durch die Maximilianstrasse der drohenden Laubsägen-Burg zu, in der sich mein nächstes Schicksal entscheiden sollte. Ich hatte die­ sen vornehmen, uns entlegenen Stadtteil seit jener kindlichen Anteilnahme am Siegesjubel von 1871 nicht mehr betreten, alles erschien mir hier fremd und grossartig und steigerte die Feierlichkeit wie auch die Bangigkeit meiner Gemütsstimmung. Als wir unser Ziel erreicht hatten, wurde ich dem Pagen­ hofmeister, einem Freiherrn von L., vorgestellt, und da die unmittelbar folgende ärztliche Untersuchung mich als vollkommen gesund erwies, zur mehrtägigen Prüfung zugelassen. Trotz meiner grossen, durch die ungewohnte Umgebung noch verstärkten Be­ fangenheit gewann ich es über mich, die gestellten Aufgaben mit besonnener Ruhe zu behandeln; als ich am letzten Tage damit fertig war, glaubte ich aber nichtsdestoweniger, einer der beiden zum Durch­ fallen verurteilten Unglückswürmer zu sein, umso­ mehr, als alle meine Mitbewerber stolze Sieges­ zuversicht zur Schau trugen. In solcher pessi­ mistischen Resignation wanderte ich an dem Tag, der die Eröffnung des Prüfungsergebnisses bringen sollte, mit dem Vater wieder nach dem Maximilianeum und wartete auf einer benachbarten Bank in den Anlagen, während er den Pagenhofmeister aufsuchte. Die Viertelstunde, die der Vater ausblieb, dehnte sich mir zu einer Ewigkeit, und das Herz pochte mir zum Zerspringen. Endlich tauchte er wieder droben am Portale auf, aber nicht in trau­ riger Haltung, wie ich gedacht; beschwingten Schrit­ tes eilte er die Terrasse zu mir herab und teilte mir glückstrahlend mit, ich hätte die Prüfung am aller­ besten gemacht und sei daher der «Senior» der neuen Pagenklasse geworden, der sie dem Pagenhof­ meister gegenüber in allen Anliegen zu vertreten 53

habe. Ich fand mich kaum zurecht in der unver­ hofften Lage der Dinge, mein Erstaunen war so gross, wie meine Freude und mein Stolz und als dann zu Hause mein Sieg gefeiert wurde, und die Grossmutter mir zu Ehren eine Gans briet, lag die Zukunft in rosigstem Lichte vor mir.

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Die gesellschaftlichen und praktischen Vorteile für meinen Lebensweg, die mein Vater mir als Mög­ lichkeit sichern wollte, hat mir die Pagerie eben­ sowenig gebracht als die Erfüllung meiner roman­ tischen Knabenträume von alter Pagenherrlichkeit. Trotzdem muss ich heute, da ich alle Zusammen­ hänge klar überblicken kann, meiner Internatszeit dankbar sein: denn unter der Gesamtheit ihrer Ein­ flüsse wurde mein Innenleben in die Richtung gelenkt, die mir höhere Ziele gab, es erhielt die Kraft zur vollen Selbstbesinnung und zur Erhebung über den Alltag, wie auch über eine von Verweich­ lichung nicht freie Familien-Idyllik, die mich sonst völlig verschlungen hätte, ohne meine Anlagen zur Entwicklung zu bringen. Aber die Stösse und Püffe, die ich Sensitiver und natürlich Empfindender, der aus einer so ganz anderen Lebenssphäre kam, in diesen fünf langen, ach wie langen Jahren aus­ zuhalten hatte, wurden mir hart genug. Die erste schwere Ernüchterung erfuhren meine poetischen Pagenträume schon am Abend meines Eintritts in das Institut. Die peinlich sauberen, aber völlig prosaischen und melancholisch schmucklosen Räume durchschauerten mein Gemüt mit Eiseskälte sodass ich mir alsbald wie ein Verurteilter vorkam, der sein Gefängnis zu beziehen hat: welcher be­ klemmende Eindruck sich noch verstärkte, als der Pagenhofmeister, ein grobschlächtiger Choleriker mit derben Zügen und martialischem graumelierten Schnurrbart, in barschem, jeder entgegenkommenden

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Freundlichkeit ermangelndem Ton uns die Hausord­ nung bekannt gab, das Auspacken und Einräumen unserer paar Habseligkeiten mit grimmiger Tadel­ sucht und mancher rauhen Handgreiflichkeit über­ wachte und uns dann auf seinem Zimmer die Kriegs­ artikel, will sagen: die Statuten, vorlas. Auf diese schlimmen allgemeinen Eindrücke folgte ein noch schlimmerer, der mich ganz persönlich betraf. Das war, als der «Herr Direktor», wie der Pagenhof­ meister sich im Hause titulieren liess — unter den Zöglingen hiess er «der Alte» — an uns Neulinge die weissleinenen Turnhosen verteilte, von welchen ein getürmter Haufen vor ihm auf dem Tische lag. Wie die Alltagsuniformen der Pagen wurden nämlich auch diese Turnhosen seit einer Reihe von Genera­ tionen vererbt, und ihre Innenränder trugen in Tintenschrift die Namen aller früheren Besitzer. Für jeden von uns Neuen griff der Direktor nach dem Augenmass eine Hose aus dem Haufen heraus, und so händigte er auch mir — bescheidener Weise hatte ich mich nicht als Erster vorgedrängt — eine Unaus­ sprechliche ein mit den Worten: «Diese wird Ihnen passen». Während aber an meinen drei Kameraden das überwiesene Beingehäuse bei der stracks be­ fohlenen Anprobe nichts Wesentliches zu wünschen übrig liess, stellte sich sofort heraus, dass das mir zugeteilte Erbstück viel zu weit war, und so eng ich die Schnalle ziehen mochte, an meinen schmalen Hüften nicht den geringsten Halt fand, was ent­ scheidend erscheinen musste, da man dafür weder Träger noch Gürtel benutzen sollte. Ich trat daher wieder an den Tisch und reichte die Hose zurück, indem ich mit einer Verbeugung schlicht und devot sagte: «Entschuldigen Herr Direktor, die Hose ist mir zu weit». Im selben Augenblick sah ich die Zornesadern an den Schläfen des «Alten» schwellen, sein mächtiger Rundkopf wurde dunkelrot, und donnernd schrie er mich an: «Was unterstehen Sie sich?? Ich habe Ihnen gesagt, die Hose passt Ihnen, und also

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passt sie Ihnen! Widerspruch dulde ich nicht — merken Sie sich das!!» Betäubt, niedergeschmettert und, was noch ärger war, im Bewusstsein erlittenen Unrechts, trug ich das Hosendiktat nach meinem Schrank. Die drei Kameraden aber schienen in ihrem «Senior» einen künftigen Prügeljungen zu wittern, von dem man in gesundem Egoismus bei­ zeiten abrücken müsse, denn sie vermieden zunächst jede Unterhaltung mit mir: und ebenso frostig und schweigsam, zudem noch hochmütig von oben herab verhielten sich die älteren Pagen, deren beängstigend steife Runde ich beim gemeinsamen Abendessen im Speisesaal zu Gesicht bekam. Der ungeheure, voll­ kommen kahle und kalte Schlafsaal, der uns dann nach einem schwachen Stündchen «Rekreationszeit» aufnahm, mit seinen zwei langen Bettreihen, die von der hochumzäunten Schlummerstätte des finster­ blickenden Aufsichtsprofessors unheimlich bewacht war, wirkte gleichfalls auf mich so herabstimmend als möglich. Zu dem gemeinsamen katholischen Nachtgebet, das auch wir vereinzelt geduldeten pro­ testantischen «Ketzer» wenigstens in stummer An­ dacht mitzumachen hatten, musste man bereits im Negligee antreten, nämlich in der Unterhose, mit dem dunklen Hausrock darüber, was mich wieder schmerzlichst an meine mit tragischem Zündstoff geladene weisse Turnhose erinnerte. Als dann die erste der Turnstunden kam, die in einem mit allen nötigen Geräten ausgestatteten Saale des Erdgeschosses abgehalten wurden, konnte ich mir zunächst nur dadurch helfen, dass ich mein Hosen­ ungeheuer krampfhaft mit beiden Händen hochhielt, bang der Dinge harrend, die nun kommen würden. Die erste Uebung, zu der wir Neulinge kommandiert wurden, war das gleicharmige Sichhochstellen am Kletterstangenpaar mit freiherabhängenden Beinen. Als ich an die Reihe kam, musste ich wohl oder übel die Hose hemmungslos der Anziehungskraft der Erde überlassen, der sie auch gleich bei den ersten

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Schnellsprüngen so schleunig folgte, dass mir das edle Erbstück alsbald wie ein Wasserspiegelbild meiner gänzlich entblössten Unterhosen von den Schuhen herabhing. Mit schallendem Gelächter schar­ ten sich die Pagen aller Klassen um dieses Schau­ spiel, selbst der kleine, stämmige und stiernackige Turn- und Fechtlehrer Gruber, ein schon weiss­ haariger Sechziger mit schlägerzerspällter Kar­ toffelnase, musste mitlachen, und so konnte auch der Direktor, der meine Not bisher geflissentlich igno­ riert hatte, nicht umhin, sich um das Aergernis zu bekümmern. Er trat mit seinen breitspurigen Matrosenschritten heran und herrschte mich an: «Machen Sie, dass Sie herunterkommen, und lassen Sie sich eine andere Hose geben!» ganz als ob ich und nicht er an allem schuld gewesen wäre. Diese Verdoppelung eines groben pädagogischen Fehlers verbitterte mich natürlich aufs äusserste, bei meinem klaren Rechtsgefühl, und da ich gleich in den Folge­ tagen noch andere Entgleisungen solcher Art an dem «Alten» beobachtete, hatte er bald jede moralische Autorität bei mir eingebüsst, wenn ich auch fortan äussere Konflikte mit ihm möglichst zu vermeiden suchte. Äusser dem Direktor waren unsere Vorgesetzten die ihm unterstellten beiden Inspektoren, von wel­ chem nach dem Statut der eine immer ein katho­ lischer Priester, der andere ein Franzose sein musste. Beide hatten uns abwechselnd zu beaufsichtigen, im Schlafsaal und bei der Morgentoilette, im Studier­ saal, wo der jeweilig Diensttuende über uns an er­ höhtem Katheder thronte, dann auf dem täglichen Verdauungsspaziergang zwischen Mittagessen und nachmittäglichem Gymnasiumbesuch und während der kurzen im «Rekreationszimmer» verbrachten Zeit zwischen Abendbrot und Nachtruhe. Geistlicher In­ spektor war damals ein korrektes Bratenrock­ männchen, ohne jede sonstige charakteristische Eigentümlichkeit, und der «Franzos» — wie unter

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den Pagen der andere hiess — ein schwerkranker, gelbsüchtiger, zum Skelett abgemagerter älterer Mann, dessen Hände immer einen mehlähnlichen, weissen Belag zeigten. Wohl infolge seines Leidens stets übellaunig, quälte uns der letztere mit ewigen Nör­ geleien und giftigen Ueberfällen, und hatte es dabei — warum, weiss ich nicht — vor allem auf mich abgesehen, obwohl ich ihm wenig oder kaum Anlass dazu gab; vielleicht hatte ihn auch der Direktor an­ gewiesen, mich als «renitente Natur» ganz besonders unter die Fuchtel zu nehmen. So schwer mir anfangs das ungewohnt frühe allmorgendliche Aufstehen wurde — unser Werktag begann auch im Winter schon um fünf Uhr, damit noch vor dem Besuch des Gymnasiums Zeit für Unterricht und Studium bliebe — raffte ich mich doch beim weckenden Glocken­ zeichen ebenso schnell auf als die anderen; mochte ich aber auch noch so hurtig in mein Taghemd fahren: wenn der «Papua», wie die Pagen ihn wegen seiner Kopfform nannten, Jour hatte, stand immer schon beim ersten Ton der Schelle seine gespen­ stische Missgestalt am Fussende meines Bettes, griff mit der knöchernen Mehlhand meine Strümpfe und meine Unterhose auf, hielt sie mit drohendem Schütteln in die Höhe und krähte mit heiserer Stimme: «Voilà vos chausettes! Voilà vos caleçons!» Er starb übrigens noch während meiner ersten Pagenzeit, und an sein Ableben knüpfte sich ein psychologisch nicht uninteressanter Vorfall: als wir kurz nach demVerschwinden des «Papua» einmal unser Abendstündchen im Rekreationszimmer verplauderten, warf einer die Behauptung auf, keiner von uns würde imstande sein, in dem anstossenden leeren, dunklen Saal bis an die gegenüberliegende Wand zu gehen und dort innehaltend dreimal das Wort «Papua» zu rufen. Es erhob sich allgemeiner höhnischer Wider­ spruch, und ein besonders Kaltschnäuziger von einer der unteren Klassen erbot sich zur sofortigen Lösung der Aufgabe, während die anderen ihn von der Türe 59

aus kontrollierten. Er brachte aber, an der vor­ geschriebenen Stelle angelangt, nur einmal und mit wenig sicherer Stimme den zitierenden Ruf heraus, dann rannte er schleunigst ins Licht zurück und suchte das Versagen seiner Nerven hinter heftigem Geschimpfe auf die Dummheit der ganzen Idee zu verbergen. Von uns anderen aber wurde kein zwei­ ter Versuch gemacht. Nachfolger des «Papua» wurde ein junger, hell­ blonder, immer vergnügter Lyonnaiser, Monsieur Arthur Savaete, mit dem sich recht gut auskommen liess. Er erzählte auch uns jüngeren Pagen gerne, dass er schriftstellere, und zeigte uns einmal sogar mit Stolz ein briefliches Dokument dafür, dass er einen Roman für dreissigtausend Francs an einen Pariser Verlag verkauft habe. Was unser geist­ liches Ueberwachungsorgan anlangt, so wurde das physiognomielose Männchen im dritten Jahre meiner Pagenzeit von dem Priester Sebastian Gerold abgelöst, einem grossen stattlichen Mann und gelehrten Orien­ talisten; er beschäftigte sich damals namentlich mit der Herstellung eines Sanscrit-Wörterbuches, woran man ihn während seiner Dienstzeit im Studiersaal eifrig arbeiten sah. Abgesehen von seiner Gelehr­ samkeit, legte er eine Art drollig scherzender Harm­ losigkeit an den Tag, die mit der pädagogischen Strenge, zu der er sich dann plötzlich wieder auf­ raffte, aufs wunderlichste kontrastierte. In der eng­ lischen Sprache unterrichtete uns erst ein phleg­ matischer Mister O’Brien, später ein gebürtiger Russe, Typ «schöner Mann», der sich persönlich für Chemie interessierte und uns daher als Uebungsbuch einen englischen Leitfaden dieser Wissenschaft lesen und übersetzen liess, wobei wohl er selber in der Chemie Fortschritte machte, wir aber vom englischen Wort­ schatz kaum mehr als «Oxygen», «Hydrogen» und «Nitrogen» lernten. Nicht besser war es um den Un­ terricht im Italienischen bestellt; der hiermit betraute Professor Meloier, recte Melori, ein struppig-bärtiger 60

Mann vom Aussehen eines Abruzzenräubers, füllte einen grossen Teil der Stunden sehr gemütlich mit dem Erzählen derber Witze und Anekdoten aus, an denen er sein breitmäuliges Behagen hatte und die er zum leichteren Verständnis vorwiegend in deut­ scher Sprache wiedergab. Unsere italienischen und englischen Errungenschaften blieben daher äusserst bescheiden, nur im Französischen lernten wir mehr, schon wegen des Zwanges der Hausordnung, die bei Tische und bei der Morgentoilette nur französische Unterhaltung gestattete. Latein und Griechisch gab uns im Institute der alte brummige Professor Fesenmair von Wilhelmsgymnasium. Während die Katholiken ihren Religionsunterricht im Institut selbst durch den geistlichen Inspektor er­ hielten, mussten die wenigen protestantischen Pagen jeden Sonntag frühmorgens unter der Führung des «Protestantenseniors» nach der weitentlegenen Pri­ vatwohnung des alten Professors H....... wandern. Ein Greis, so recht aus der Spitzweg-Zeit, mit grünem Lichtschirm auf dem von spärlichem Weisshaar um­ rahmten Kopfe, war er peinlich streng im Verhören der theologischen Memoirier-Aufgaben, ich hatte da­ her immer Angst vor diesen Stunden, die mir zudem gar keine innere Bereicherung gaben. Von dem Turnlehrer Gruber war bereits die Rede. Die Turnstunden fanden immer spät abends statt, so­ dass sie nach dem überlangen und erschöpfenden, mit all dem Unterricht auf dem Gymnasium und im In­ stitute vollgepfropften Arbeitstag doppelt anstrengend waren. In der warmen Jahreszeit wurde bei trocke­ nem Wetter im Garten geturnt, wo sich gleichfalls verschiedene Geräte — Reck, Tiefsprungstufen, Schwebebaum und anderes — befanden. Hier stand auch ein hohes Balkengerüst in Form eines griechi­ schen Galgens, an dem wir neueingetretenen Pagen, «Spiesse» genannt, alsbald die übliche «Mutprobe» ab­ zulegen hatten. Wir mussten das von einem vor­ springenden Ende des Querbalkens herabhängende

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Kletterseil erklimmen, uns dann in der luftigen Höhe auf jenen schmalen Querbalken schwingen, dessen ganze Länge, im Reitsitz rutschend, zurücklegen und dann wieder am Kletterseil des anderen Endes her­ abturnen. Da für einen Sturz durch Ungeschicklich­ keit oder Schwindelanwandlung in keiner Weise vor­ gesorgt war, vielmehr das Gerüst sich einfach aus dem harten Kiesboden erhob, machte diese Gepflo­ genheit dem Vorbedacht und Verantwortungsgefühl der Pagerieleitung gewiss keine Ehre, sie wurde aber erst abgeschafft, als mehrere Jahre nach meinem Eintritt ein Zufall die beiden Tragebalken dicht unter dem Boden schon fast ganz durchgefault zeigte, so­ dass ohne diese gerade noch rechtzeitige Entdeckung bei der nächsten Kletterei der Einsturz erfolgt wäre: was den Direktor dann doch zur Umlegung und dauernden Beseitigung des Gerüstes veranlasste. Hier sei auch gleich noch ein anderer Vorfall im Turn­ garten erwähnt, der die Vernunft, die uns damals ge­ fährdete, ebenso drastisch belegt und zugleich der Komik nicht entbehrt. Der Hausmeister des Instituts hatte bemerkt, dass sich im Garten nahe dem Tief­ sprung nachts ein Marder herumtrieb; um den um­ heimlichen Gast zu beseitigen, vergrub der Schlaue unmittelbar vor einer Turnstunde in die Lohe unter der Tiefsprungtreppe eine mächtige Falle, deren auf­ gespreizte Fangeisen darauf warteten, bei der ge­ ringsten Erschütterung des Zwischenraums zusam­ menzuschnellen. Die Folge war, dass der erste von uns Ahnungslosen, der seine Kunst im Tiefsprung zu zeigen hatte, schrill aufkreischend mit einem Bein in der Falle sass und jämmerliche Schmerzen erdul­ den musste, bis man den arg zerschundenen Fuss aus der Umklammerung befreien konnte. Das Fechten wurde uns ausschliesslich im Turn­ saale gelehrt, und zwar vor allem das für Deutsch­ land veraltete Degenstossfechten mit Rapieren, ob­ wohl wir diese elegante Kunst in der Zukunft gewiss niemals verwerten konnten. Ich zeigte gerade für sie 62

grosses Geschick, und im Laufe der Jahre erreichte ich darin eine solche Fertigkeit, dass ich zum all­ gemeinen Gaudium den Fechtmeister selbst regel­ mässig «abstach», wenn er mich vor die Klinge for­ derte. Weniger gut gelang mir das Hiebfechten mit krummem Säbel und Schläger, das in den höheren Klassen nebenher geübt wurde, da brummte mir oft der Kopf von den wuchtigen Quarten und Terzen, die mir der grimmige Meister zur Rache für meine Florett-Triumphe übers Visier schmetterte. Im Turnsaal wurde übrigens des öfteren auch ein Massenkampfspiel geübt. Die gesamte Pagenschaft teilte sich da in zwei Parteien, die sich in eng ange­ schlossener Gänsemarschaufstellung gegenübertraten, wobei jeder die Brust des Vordermanns unter dessen Armen hindurchgreifend zu umklammern hatte, hüben und drüben zwei der ältesten und stärksten Pagen den «Kopf» und den «Schweif» bildeten und der «Kopf» überdies noch einen Vorkämpfer auf den Schultern trug. Der Vorkämpfer musste dann seinen feindlichen Kollegen in kühnem Angriff und Ring­ kampf zu stürzen suchen, von welchem Ziel ihn der gegnerische «Schweif» durch wütendes Vorschnellen abzudrängen suchte. Dieser Kampf wurde immer mit äusserster Erbitterung geführt, unter den Augen und dem ernsthaft anfeuernden Urteil des Direktors, und die Gesichter der Teilnehmer wurden dabei oft der­ massen frottiert, dass aus Mündern und Nasen Blut floss. Ein mehr militärisch geartetes Massenspiel, wobei sich gleichfalls zwei Parteien gegenüberstanden, fand alljährlich im ersten Frühjahr statt, in ältesten Uni­ formexemplaren, an denen nichts mehr zu verderben war. Unter dem Kommando eines Oberklässlers zog da das eine Dutzend von allen Klassen ins Isar­ gelände bei Harlaching voran und verkroch sich dort möglichst schwer auffindbar ins Gesträuch und Röhricht; das andere Dutzend folgte später unter entsprechender Führung und erkundete kunstgerecht

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die Stellung des Gegners, worauf beide Parteien eine kleine Brücke, die über einen Bach führte, zu stür­ men suchten und auf dieser Brücke ein wilder Bing­ kampf entbrannte, bei dem man sich gegenseitig ins Wasser warf. Erst wenn alle glücklich im Bache lagen, wurde der «Verständigungsfriede ohne Ent­ schädigungen» geschlossen, und tropfnass wanderte man dann in der noch recht kühlen Luft nach Har­ laching und trank dort im Freien sitzend, ein eis­ kaltes Glas Bier, ehe man im Bewusstsein erfüllter Heldenpflicht den gemeinsamen Heimmarsch antrat. Ein allgemeiner Schnupfen war die Folge, wurde aber im Sinne der Abhärtung mit stolzer Befriedigung hingenommen. Die Schwimmkunst übten wir in der Oberwiesen­ felder Militärschwimmschule draussen vor der Stadt, wohin wir in den letzten Monaten des Sommerseme­ sters unter der Führung des Direktors zweimal wöchentlich auf besonderen, vom königlichen Marstall gestellten offenen Wagen fuhren. Mir war das Schwimmen noch völlig neu, doch machte mir das Erlernen nicht viel Schwierigkeiten, und obschon der Anblick von Leichen ertrunkener Soldaten, die wir zuweilen vor der Schwimmschule am Ufer liegen sahen, den Wagemut von Anfängern nicht gerade steigern konnte, wurde ich bald «frei» gesprochen. Nach einem Kopfsprung vom höchsten Sprungbrett wäre ich übrigens beinahe ertrunken; ich bekam einen Krampf im Bein, der mich beim Wiederauf­ tauchen bewegungsunfähig machte. Auf einen Buf um Beistand schwamm eben noch rechtzeitig ein älterer Page — ein Baron Soden — zu mir heran und brachte mich mit Mühe und Not ans Land. — Hatten wir uns nach der Schwimmstunde wieder angekleidet, so wurde uns in der Abendkühle Fröstelnden von der Kantinenkellnerin jedesmal noch ein Glas kaltes Bier und ein Stück Kommissbrot gebracht, worauf man die Wagen bestieg und ins Maximilianeum zurück­ sauste.

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Das Tanzen, wie auch die Verbeugungen und die «Pas» für unseren kirchlichen Fackeldienst lehrte der zierliche, französisch parlierende Hoftänzer Carey in dem an unseren Rekreationsraum anstossenden Tanz­ saal. Bei den Rundtänzen musste da immer einer der Pagen die Dame machen, und während das oft recht grotesk sich ausnehmende Pärchen den dicken Mittel­ pfeiler des Saales umwirbelte, schlich der Hoftänzer in katzenhafter Geschmeidigkeit dicht nebenher, mit drohenden Ellbogen das seitliche Abirren verhindernd und auf seiner Geige leise eine entsprechende Wal­ zer-, Polka- oder Mäzurka-Melodie spielend. Zu jeder Tanzart spielte er jahraus, jahrein dieselbe Weise, sei es, weil er keine andere auswendig wusste, oder dass er mit dieser Monotonie eine nachhaltigere Ein­ prägung der verschiedenen Tanzformen zu erzielen hoffte. Mit meinen Tanzleistungen, denen mein mu­ sikalisches und rhythmisches Gefühl zugute kam, war Carey zufrieden, dagegen rügte er das «Brüske» mei­ ner Verbeugungen. Musiklehrer gab es in der Pagerie eine ganze Menge. Die Wahl des Instruments war jedem Pagen frei gestellt, und ich blieb natürlich dem Klavierspiel treu, indem ich mich unter der Leitung des Profes­ sors Schönchen, eines Bruders der bekannten Schau­ spielerin Amalie Schönchen, noch weiter vervoll­ kommnete. Im Zeichnen und Malen wurden wir am Sonntag Vormittag durch den Maler Zimmermann unterrichtet, der namentlich ein gar feiner Aquarell­ Techniker war. Im Studiersaal hatte jeder Page eines der 25 schwarz lakierten Schreibpulte inne. Der Zufall wollte, dass ich in einem der späteren Jahre an das Pult zu sitzen kam, das einst der Dichter Platen in seiner Pagenzeit inne gehabt hatte. Für diesen schwärmte ich übrigens damals ebenso wenig als heute, obwohl sein Stahlstichbildnis als das eines Renommier-Zög­ lings der Anstalt an der Wand eines unserer Säle prangte. 5

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Zur künstlichen Erhellung des Arbeitspultes diente jedem von uns ein einfacher Kerzenleuchter, und da die Studierzeiten grösstenteils auf die frühesten Mor­ gen- und späten Abendstunden festgesetzt waren, so hatte man bei der Arbeit fast immer ein heilloses Doppellicht, dessen Schädlichkeit für die Augen noch durch das Flackern der Kerzenflamme gesteigert wurde. Von Natur aus von gesundester Sehkraft be­ gabt, wurde ich, wie gar mancher Page von damals, infolge dieser unvernünftigen Einrichtung so kurzsich­ tig, dass ich mich ans Gläsertragen gewöhnen musste. Unsere regulären Uniformen, sowie unsere hüb­ schen, silbergriffigen Degen, die bei Ausgängen zu tragen waren, unsere grauen Militärmäntel, dann die weissledernen Reithosen und die Reitstiefel der beiden höchsten Klassen wurden in den schneeweiss lackier­ ten Kleiderkästen der nach Klassen getrennten Gar­ deroben verwahrt. Dagegen befanden sich die kost­ baren «historischen» Galauniformen für den Hofdienst mit ihren himmelblauen, in reichster Silber- und Goldstickerei prangenden Röcken und kurzen weissen Feinleder-Beinkleidern, zu welchen man weisse Sei­ denstrümpfe und schwarze Schnallenschuhe trug, beim Direktor in Sonderverwahrung und wurden nur bei den betreffenden Gelegenheiten an uns verteilt. Zu dieser Galauniform, die den Charakter des ausgehen­ den 18. Jahrhunderts trug, gehörte ein schwarzseide­ ner Schiffhut mit silberner Kokarde, der für jeden neu­ eintretenden Edelknaben frisch gefertigt werden musste; beim Abnehmen der genauen Kopfform mit­ tels des hierzu dienenden Apparats, stellten sich bei uns vieren erstaunlich verschiedene Schädelbildungen heraus, welchen übrigens auch eine durchgängige Verschiedenheit des Wesens und Temperaments ent­ sprach. Die Instandhaltung und Reinigung unserer Kleidungsstücke hatte eine Reihe uniformierter Die­ ner zu besorgen, die auch abwechselnd bei Tische servierten und die einzelnen Klassen auf dem kurzen Wege zum und vom Wilhelmsgymnasium begleiten 66

mussten; meist schon ältere Leute, schlugen sie im Verkehr mit uns oft einen beväternd humoristischen Ton an. Bei den bereits erwähnten Verdauungsspaziergän­ gen zwischen Mittagsmahl und nachmittäglichem Gymnasiumsbesuch oblag die überwachende Beglei­ tung dem jourhabenden Inspektor, die Wahl des We­ ges war aber dabei drolliger Weise dem jeweils füh­ renden ältesten Pagen anheimgestellt. Oft wurde da auch die ständige Ausstellung des «Kunstvereins» un­ ter den Hofgarten-Arkaden besucht und altklug kri­ tisiert. Nicht selten begegnete uns bei diesen Spazier­ gängen auch die hohe und stramme lichtblonde Germanengestalt des Dr. Michael Georg Conrad in un­ gewöhnlicher, ebenso urwüchsig als herausfordernd wirkender «Reformkleidung», und es entstand dann unter den feudalsten Pagen immer ein aus verächt­ lichem Spott und verdammendem Abscheu gemischtes Getuschel über den als Revolutionär und Höllenbraten verschrieenen Zola-Apostel. Ich ahnte damals nicht, in welch nahe Beziehung ich später zu dem Ver­ höhnten und Verhassten kommen sollte. Jeden Sonntag durften wir von Mittag bis zu einer frühen Abendstunde zu unseren Eltern ausgehen, wozu uns der Vater oder die Mutter oder auch ein beglaubigter älterer Verwandter persönlich abholen musste, denn das unüberwachte Alleingehen in der Stadt war uns allerstrengstens verboten. (Vorher mussten wir uns da im Studiersaale versammeln und, an unseren Pulten stramm stehend, eine Art General­ kritik über die abgelaufene Woche entgegennehmen. Jeder Page hatte hierfür am Sonnabend die Noten, die er in den schriftlichen Arbeiten der Woche er­ halten hatte, auf einen Zettel zu schreiben, den uns der «Alte» dann mit seinen lobenden oder tadelnden Bemerkungen versehen zur Uebergabe an die Eltern wieder einhändigte. An Weihnachten und Ostern durften wir auch mehrere Tage und Nächte daheim verbringen.) 67

Wie die schroffe und willkürliche Behandlung, die ich gleich in den ersten Stunden meines Pagendaseins von dem Direktor L. erfuhr, und sein andauerndes, nur in falschem Vorurteil begründetes Herumnörgeln an meinem Betragen mein natürliches Rechtsgefühl empörte und mich zu einer melancholischen Gemüts­ verbitterung führte, zu der ich vorher nicht im min­ desten geneigt halte, so konnte die Art und das Be­ nehmen meiner Mitpagen meine innere Vereinsamung und mein Heimweh nur noch verschärfen. Sie alle kamen aus «korrekten» Adelsfamilien, deren vor­ urteilsvolle Anschauungen und Eitelkeiten sie in kna­ benhafter Nachahmung noch übertrieben; für meine natürlicheren, freieren und phantasievolleren Neigun­ gen, wie sie mir von unserem Familienleben her eigen waren, hatten sie nicht das geringste Verständnis, all das erschien ihnen als plebejische oder verdrehte Minderwertigkeit. Vielleicht klatschte man auch bei ihnen daheim über unsere bescheidenen Lebensver­ hältnisse; jedenfalls behandelten mich die Kameraden von allem Anbeginn mit einer Art spöttischer Gering­ schätzung. Dazu kam, dass sie die schweigsame Zu­ rückhaltung, zu der ich mich gezwungen sah, und die lediglich aus verschüchterter Unsicherheit folgte, als unberechtigten Hochmut deuteten, von dem ich mit derbsten Mitteln kuriert werden müsse. Kurz, ich war in unserem Käfig der angefeindete, fremde Vogel, den man bei jeder Gelegenheit zupfte und rupfte. Vor allem besorgten das die Pagen der höheren Klassen, denen vom Direktor eine sehr weitgehende Gewalt über die jüngeren eingeräumt war. Ursprünglich sollte durch diese letztere Mass­ nahme ein Teil des Erziehungswerks auf das Pa­ genkorps selbst abgeschoben werden. Begreiflicher­ weise artete aber die Befugnis in rohe und zwecklose Lust am Quälen und Misshandeln aus, ja es konnte dabei rein persönliche Abneigung unter pädagogischem Deckmantel ihr Mütchen kühlen, ohne dass eine Be­ schwerde möglich war; wer eine solche gewagt hätte, 68

wäre vom «Alten» nur als erbärmlicher Denunziant angeschnauzt und dann von sämtlichen älteren Pagen windelweich geschlagen worden. Von den körper­ lichen Züchtigungen, denen die jüngeren Pagen sei­ tens der älteren unterworfen wurden und die ich als der Unbeliebteste besonders oft zu erdulden hatte, war die gewöhnlichste, eine «Muskelhiebe» titulierte, äusserst schmerzhafte Tortur, wobei mehrere Pagen einen Arm des Opfers straff ausgestreckt festhielten und die Exekutoren aus Leibeskräften Faustschläge auf die gespannten und dadurch besonders empfindlichen Muskeln niederschmetterten, ausserdem wurde man aber noch auf die verschiedenste Art gehauen, auch als Spiessrutenläufer durch die Reitpeitschenhiebe der beiden höchsten Klassen, und in Quälereien noch an­ derer Sorte entwickelten die «vorgesetzten» Kamera­ den einen grossen Erfindungsreichtum. So bekamen wir zum Beispiel als Neueingetretene von den älteren Pagen die harten langen Stacheln eines exotischen Zierbaums aus dem Turngarten unter das Leintuch unserer Betten gesteckt, sodass wir uns beim Schlafen­ gehen blutig stachen. Seitens des Direktors selbst wurden nur zwei Stra­ fen verhängt, ein oder mehrere Tage «Karenz», näm­ lich Entziehung einzelner Speisen bei den Mahlzeiten, und, in schwereren Fällen, Einsperrung bei plebejisch servierter Gefangenenkost am Sonntag, während die anderen heim durften. Die erstere Strafe war nicht so schlimm, denn wenn auch der Abendtisch sparta­ nisch-frugal gehalten war, so bestand doch die Mit­ tagsmahlzeit, die für die «Karenz» in Frage kam, aus einer ganzen Reihe von Gängen und erfreute sich einer Zubereitung, die selbst den verwöhntesten Gau­ men befriedigen musste. Die Küchenräume, welchen diese Genüsse entstammten, lagen unterirdisch in strenger Entrücktheit, wir bekamen keine der dort waltenden weiblichen Kräfte, zu denen auch allerlei niedliche Kochschülerinnen zählen sollten, jemals zu Gesicht. Es ging aber die Sage, dass etliche Jahre vor 69

meinem Eintritt ein Page der obersten Klassen, in heisser Leidenschaft für ein solches «Kocheri» ent­ brannt, nächtlicherweile von einem Fenster des Schlafsaals mittels zusammengeknüpfter Bettlaken zu der Angebeteten gartenwärts hinabgeturnt, dabei aber entdeckt und dann schimpflich aus der Pagerie gejagt worden sei. Eine Lichtseite hatte das Pagenleben auch für die jüngeren Zöglinge in dem ziemlich häufigen Besuch der beiden Hoftheater. Die Primaner durften sich da selbständig auf ein Schauspiel oder eine Oper einigen, ihren Wunsch durch den Senior dem Direktor vor­ legen, und wenn dieser nichts dagegen hatte und der Generalintendant — damals Freiherr Karl von Per­ fall — nicht aus ökonomischen Gründen ein Veto ein­ legte, hielten wir stolz an dem betreffenden Abend unseren Einzug in einer der vordersten Reihen des Parketts. Für mich bedeuteten diese Theaterabende ein völlig neues Erlebnis, denn äusser kindlichen Marionettentheaterchen hatte ich von der Bühnen­ kunst noch garnichts kennen gelernt; ihre Wirkung auf meine Phantasie und mein vereinsamtes Gemüts­ leben war eine gewaltige, zumal die Münchener Hof­ bühne damals ihre Glanzzeit hatte. Im Schauspiel stand Possart auf der Höhe seiner Leistungsfähigkeit als Charakterspieler grossen Stils; dem Zeitgeschmack noch voll genügend, imponierte er durch die Energie der Kennzeichnung durch kluge Wahrnehmung der äusseren Bühnenwirkungen, wie auch durch die tadel­ lose Sprechtechnik, in der er von allem Anbeginn Meister war. Neben ihm riss der prächtige Karl Häusser zur Bewunderung hin durch seine un­ begrenzte Verwandlungsfähigkeit, die ihn allerver­ schiedenste tragische und komische, grösste und kleinste Aufgaben mit gleicher Treffsicherheit, Natur­ wahrheit und Wirksamkeit lösen liess. Da stellte ferner der verständige und markige Schneider als Charakterheld und Chargenspieler immer einen gan­ zen Mann auf die Beine, da erfreute Richter als 70

Heldenvater durch Würde und Feinsinn, der alte Herz durch menschliche Wärme, Rhode in Kavaliers­ rollen, wie als lustiger Journalist Bolz durch sonnige Liebenswürdigkeit; da erntete Josef Kainz seine ersten Lorbeeren als feuriger Liebhaber und jugendlicher Held, da machte der eben aufgetauchte Emil Drach durch seine glänzenden äusseren Mittel jede seiner Heldenrollen zum Ideal junger Theaterbesucher. Und nicht minder stattlich war die Weiblichkeit vertreten. Im Heroinenfach, das später so empfindlichen Mangel leiden sollte, wetteiferten gleich drei Künstlerinnen von Rang: Clara Ziegler, die mit ihrer mächtigen Erscheinung und sonoren Altstimme die klassizistische Tradition hochhielt, Frau Keller, die mit dem grossen Stil auch lebensvolle tragische Kraft verband, und die leidenschaftlich-scharfe Frau Herzfeld-Link, während in Mütterrollen die Dahn-Hausmann mit ihrer ge­ mütstiefen Natürlichkeit unvergessliche Eindrücke hinterliess, Hermine Bland die jugendlichen Lieb­ haberinnen und Heldinnen ebenso idealistisch als an­ dächtig verkörperte und Marie Conrad-Ramlo noch als zierliche Naive von Gottes Gnaden entzückte. Da­ neben boten in allen Hauptrollen der modernen Ge­ sellschaftsstücke, die das Residenztheater vorführte, Clara Heese und Heinrich Keppler als unzertrennliche Partner Mustergültiges. Und dann die Oper, unter der energischen und feinfühligen Leitung Hermann Levis, dekorativ ausgestattet durch die erfindungsreiche Künstlerschaft Meister Lautenschlägers! Da liess Frau Weckerlin als Primadonna ihren wunderbaren Sopran erschallen, da gab Lili Dressier die jugend­ lichen Partien mit seelenvollster Lyrik, da bezauberte Emilie Herzog durch ihre quellfrisch liebliche Stimme und Frau Schöller durch die sinnliche Glut ihres Organs und Spiels; da wirkte das wagnerberühmte Ehepaar Vogl mit all seiner Stilkraft, Heinrich Vogl auch als ausgezeichneter Mozartsänger, da verbreitete der muntere und gewandte Anton Fuchs heiterste Laune, da freute man sich an der Grundgewalt des 71

Siehr’schen Basses, an Eugen Gura’s durchgeistigter und gemütvoller Kunst oder dem zündenden Tempe­ rament des einzigartigen Kindermann, obschon er grundsätzlich nur im Sektrausch zu singen pflegte: und ebenso wenig konnte die musikalische Unsicher­ heit Nachbaur’s den Genuss seines herrlichen Tenors verleiden. So gab mir der regelmässige Theater­ besuch, den mir die Eltern bei der Bescheidenheit ihrer Lebensverhältnisse niemals hätten ermöglichen können, eine Fülle von Anregungen; ich sah da gleich das Bedeutendste des allgemeinen Kunstschatzes in vornehmster und eindringlichster Verwirklichung, und in mir erwachte allmählich ein dunkles Ver­ langen, auch selbst auf meine Weise solche herz­ bewegenden und geistbefreienden Lebensbilder zu gestalten. Die innere Erhöhung übers Alltägliche, die mir an diesen Abenden durch die schönen Illusionen der Kunst zuteil wurde, erhielt noch eine in gleichem Sinne wirksame real-unmittelbare Ergänzung durch den Heimweg über die Brücke nach dem Maximilianeum, wobei in klaren Nächten die ganze Pracht und Erhabenheit des Sternenhimmels sich über mir wölbte und mich im Schauen von räumlicher und zeitlicher Begrenztheit löste. Im Fasching, wenn das erwachsene München sei­ nem geliebten Bedoutenleichtsinn die Zügel schiessen liess, war auch den Pagen ein rührend kleines Gau­ dium vergönnt; der Nachmittag und Abend des Fast­ nachtsmontags brachte uns alljährlich vier Sonder­ genüsse. Zunächst gab es da eine Art anarchisch tobenden Umzug der ganzen Pagenschaft in den In­ stitutsräumen, «Polnischer Reichstag» genannt, der mit lärmender Zerschmetterung altersschwacher Reisschienen schloss. Dann trank man im Speisesaal gemeinsam Schokolade, die sonst niemals verabreicht wurde, und ass festlichen Napfkuchen dazu, worauf im Tanzsaal die nietenfreie Verlosung von allerlei Galanteriewaren stattfand, zu welcher jeder Page vor­ her einen Gegenstand von bestimmtem Mindestwert 72

liefern musste. Endlich durften wir abends noch eine Operette oder Posse im Gärtnerplatztheater besuchen, das sonst für tief unter unserer Würde liegend er­ achtet wurde. Dass sich unser Hofdienst auf wenige Gelegen­ heiten im Jahre beschränkte, habe ich bereits er­ wähnt; gewöhnlich war auch dazu nur ein Teil des Pagencorps kommandiert, nach wechselnder Auswahl durch den Direktor, wobei die Mitwirkung als Ver­ günstigung galt. Als ich, sonst immer einer der besten Schüler, einmal unmittelbar vor einer solchen Hofdienstgelegenheit eine Skription am Gymnasium ungewöhnlich schlecht gemacht hatte, war ich davon dermassen niedergeschlagen, dass ich zugunsten eines anderen auf die Mitwirkung beim Hofdienst ver­ zichtete, obschon der König Ludwig, den ich vorher noch niemals gesehen hatte, seit langer Zeit wieder einmal an der betreffenden Festlichkeit teilnehmen sollte. Ich habe dann später meinen zerknirschten und selbstpeinigenden Verzicht sehr bereut, denn die Gelegenheit, den legendenumwobenen König in der Nähe und im vollen höfischen Prunk zu Gesicht zu bekommen, kehrte während meiner ganzen Pagenzeit nicht wieder. Im übrigen aber traf mich der Hof­ dienst ziemlich oft, wobei ich entweder den Prinzen Luitpold oder den Prinzen Ludwig — den nach­ maligen König Ludwig III. — zu bedienen hatte. An dem grossen Georgiritterfest trug ich regelmässig einem von den beiden Prinzen bei den feierlichen Um­ zügen der Ritterschaft in den Gängen und Sälen der Residenz die lange Schleppe des Ordensmantels nach. Prinz Luitpold, der spätere Prinz-Regent, redete mich während des Dahinschreitens wiederholt in fragendem Tone an, mit halber Kopfwendung über seine linke Achsel zurücksprechend; da er aber ausserordentlich leise und undeutlich sprach, konnte ich trotz mög­ lichster Annäherung nie ein Wort verstehen, und er­ widerte — was mir in solcher Verlegenheit das Un­ schädlichste schien — immer nur mit einem «Ja, 73

königliche Hoheit!» oder «Gewiss, königliche Hoheit!» worauf er schliesslich verstummte, sicher recht ärgerlich über meine Schwerhörigkeit und das Un­ sinnige meiner Antwort. Bei dem Ordensbankett, das nach dem Festakt in der Hofkapelle und der Auf­ nahme der neuen Ritter stattfand, mussten die meisten von uns drei gute Stunden lang unbeweglich hinter den Stühlen der Prinzen stehen und mit streng pla­ tonischem Vergnügen zusehen, an welcher erstaun­ lichen Fülle der verschiedenen erlesensten Gerichte die glanzvolle Tafelrunde sich gütlich tat, und wie sie in allen kostbarsten, schäumenden und nicht schäumen­ den Edelweinen der Welt schwelgte, den festlichen Trinkspruch «Flor und Aufnahme» ausbringend. Wenn wir auch für etwaige besondere Wünsche des betref­ fenden Prinzen bereit sein mussten, wurden wir doch nie in Anspruch genommen; das Vorrecht, den Prin­ zen bei der Tafel zu servieren, übten vor unseren Augen die Kammerjunker aus, sodass auch keine ab­ lenkende Betätigung unsere Statistenbeschaulichkeit unterbrach und unsere Tantalusqualen linderte. Grau­ samerweise war für uns gerade dieser Tag, an dem die Georgiritter mit unerhörten Tafelfreuden beglückt wurden, eine Hungerübung ersten Ranges, denn wir erhielten da nach unserem schlicht dünnen Morgen­ Kaffee keinerlei Magenstärkung bis nach unserer Rückkehr ins Maximilianeum nach 5 Uhr abends. Nach dem Bankett der Ordensritter fand im an­ stossenden Saale Cercle statt, wobei einige Pagen den Prinzen auf blitzblanker Silbertablette drei ge­ füllte Likörgläschen anzubieten hatten, unter tiefen Verbeugungen «Chartreuse», «Anisette» und «Cognac» zur Wahl stellend. Auch mich traf einmal diese Auf­ gabe. Noch habe ich den grotesken Anblick lebhaft in Erinnerung, wie nach dem anstrengenden Bankett ein Ordensritter nach dem andern mit weingerötetem Kopfe und nicht mehr ganz sicherem Gang zu uns heraus kam, die hindernde Schleppe des Ordens­ kleides über den Arm geschlagen. Als «mein» Prinz — 74

es war damals der nachmalige König Ludwig — in sichtlicher Erschöpfung aufgetaucht war und ich mich ihm knicksend mit der Likörtablette näherte, winkte er dankend ab, sodass ich die vorschrifts­ mässige tiefe Abschiedsverbeugung und das Rechtsumkehrt machte, um mich zu entfernen: was alles bei der Spiegelglätte meiner Schuhsohlen, des Par­ ketts und des Tabletts, auf dem die Gläschen hin und her schlitterten, schon an sich recht schwer ohne Unfall auszuführen war. Im nächsten Augenblick aber hatte der Prinz sich dennoch anders besonnen, und seine Hand griff mir schon Forteilendem an die rechte Schulter, um mich zurückzuhalten. Es bedurfte aller Geistesgegenwart, um bei dieser hinterrücks herein­ brechenden Gleichgewichtsstörung nicht skandalös zu Fall zu kommen, samt «Chartreuse», «Anisette» und «Cognac»! Es gelang mir aber glänzend: und wenn mir dann im Pagerie-Abgangszeugnis auch für meine bei Hofe geleisteten Dienste die vollste Anerkennung ausgesprochen wurde, so glaube ich sie mit der sieg­ reichen Ueberwindung jenes gefährlichen Moments verdient zu haben. Äusser den meisten Georgiritterfesten habe ich auch den Fackeldienst in der Theatinerkirche bei der win­ terlichen Gedächtnisfeier für König Max II. regel­ mässig mitgemacht. Die Pagen hatten da während des Gottesdienstes erst hinter dem kleinen Raume hinter dem Altar zu warten und konnten dabei län­ gere Zeit aus nächster Nähe die Gesangsleistungen eines aus den erlesensten Hofopernkräften zusammen­ gestellten gemischten Quartetts bewundern, das dort seinen Platz hatte. Im entscheidenden Augenblick wurden dann unsere langen weissen Kerzenfackeln entzündet, und wir schritten mit altspanischer Gran­ dezza in die Kirche vor, um dort eine Reihe zierlicher Pas und Verbeugungen gegen den Altar und die an­ wesenden Mitglieder des königlichen Hauses auszu­ führen. Unterbrochen wurden diese Bewegungen durch eine sehr lange währende Pause regungslosen Knieens, 75

das bei der eisigen Kälte der Steinplatten kein Ver­ gnügen war; man war steif gefroren, wenn man sich endlich wieder erheben durfte. Mein erst recht leb­ haftes Befremden über die Notwendigkeit, als Pro­ testant katholische Kirchenceremonien mitmachen zu müssen, verlor sich in den spätem Jahren schon des­ halb, weil da die spezifisch protestantische Färbung meines Kirchenglaubens bereits stark verblasst war, ja meine immer noch standhaltende Religiosität so allgemeine Formen angenommen hatte, dass ihr die Eigentümlichkeiten des katholischen Ritus nicht ferner lagen als die des protestantischen Gottesdienstes. Abgesehen von den seltenen und, wie man sieht, nicht durchaus angenehmen Unterbrechungen dehnte sich der überreiche und übermüdende Stundenplan der Alltagswochen in einförmiger Trostlosigkeit, und mir durch Nichtverstandensein Verbittertem und Ver­ einsamtem galt daher der halbe Sonntag, den ich bei den Eltern verbringen durfte, so recht als das Luftschöpfen eines Eingekerkerten. Ich verbrachte diese Stunden daheim immer in dem ruhelos-fieber­ haften Drang, mich für die Widerwärtigkeiten einer ganzen langen Woche schadlos zu halten und in die kurze Zeitspanne möglichst viel an seelischen Genüs­ sen zusammenzupressen, die meinem eigensten Wesen entsprachen. Scham, Ehrgefühl und Liebe zu den Meinen hielt mich aber die ganzen ersten Jahre hin­ durch davon ab, ernstlich zu beichten, wie unglück­ lich ich mich da draussen unter den «Standesgenossen» fühlte. Meine Verse schmiedete ich gewöhnlich im Studier­ saal, so oft mir nach Erledigung der Tagesaufgaben ein paar freie Minuten blieben. Bei diesen dichteri­ schen Versuchen geriet ich aber bald in Konflikt mit den feindseligen und nichts weniger als poesievollen Pagen der höheren Klassen, deren «Kontrolle» meine Verse nicht lange entgehen konnten. Als ich einmal ein «Vision» betiteltes Gedicht zu Papier gebracht hatte, schlich ein in Gewalttätigkeit und plumper 76

Spottlust sich hervortuender älterer Page, Baron B., hinterrücks an mich heran, entriss mir das Manu­ skript, las es seiner Klasse unter grossem Hallo vor (wobei ich noch den Künstlerschmerz hatte, dass er den Rhythmus nicht richtig wiederzugeben verstand), zerriss dann den «erbärmlichen Schund» und warf mir unter Beschimpfungen die Fetzen vor die Füsse. Aus den früher erwähnten Gründen war ich solchen Ueberfällen wehrlos preisgegeben, nichtsdestoweniger aber setzte ich meine poetischen Versuche fort. Als der famose B. mich wieder einmal In einer Frei­ stunde über ein Blatt Papier gebeugt antraf — zu­ fällig schrieb ich da garnichts poetisches — versetzte er mir von hinten einen heftigen Stoss, dass ich vorn überfiel, und schrie in seinem gewohnten derb alt­ bayerischen Dialekt: «Host d’ wieder a Vision, Simpi, Dumma?» Welche lapidaren, einer allgemeineren Be­ deutsamkeit nicht entbehrenden Worte mir dauernd im Gedächtnis geblieben sind. Neben diesem Baron B. hatte ich noch einen anderen Quälgeist im Nacken, einen Baron G. von der nächsthöheren Klasse; ich hatte aber die Genugtuung, mit dabei zu sein, als ihn später die rächende Nemesis beim Schopfe nahm. Nach der ungeschriebenen Satzung des Pagenkorps waren die beiden höchsten Klassen, die sogenannte «Reitschule», gleichberechtigt, sodass meine Klasse dem Genannten nicht mehr unterworfen war, sobald wir das Abgangszeugnis der zweiten Gymnasialklasse in der Tasche hatten: und auf der folgenden Ferien­ reise im abendlichen Quartier kam es nach vorher gegangener Verschwörung zur wohlverdienten Exe­ kution. Unter meiner Führung — als der Meist­ gequälte hatte ich die Rolle des ersten Angreifers ge­ fordert und erhalten — drangen wir in seine Schlaf­ stube, ich umschlang den wütend sich Wehrenden mit beiden Armen, warf ihn aufs Bett und hielt ihn dort fest, während die anderen ihn sattsam verdroschen. Seltsamerweise sann er dann nicht weiter auf Vergel­ 77

tung, sondern beobachtete fortan gegen uns eine höf­ liche Zurückhaltung. So sehr die älteren Pagen meine Dichtversuche pathetischen Charakters als Alfanzereien oder hoch­ mütige Selbstüberhebung verdammten und bekämpf­ ten, gewann ihnen daneben doch ein Frühprodukt meiner satirisch-parodistischen Neigungen eine ge­ wisse Anerkennung ab. Es war eine Travestie von Schillers «Glocke», die in genauer Anpassung an das Vorbild alle markanten Momente des Pagenlebens schilderte. Selbst einzelne Oberklässer lachten weid­ lich über diesen Ulk, der das einzige war, was die Kameraden an mir geniessbar fanden. Als es mir dann später, im grossen Korps der Zeitgenossen, nicht viel anders erging, als auch da die «Kompakte Majorität» meine ernsteren Gaben ablehnte, aber meine Parodien gelten liess, habe ich oft jener ersten Erfahrungen mit der «Vision» und der Schiller-Travestie gedenken müssen. An Schiller selbst fand ich übrigens schon in mei­ ner Gymnasiastenzeit und dann noch weit in meine Mannesjahre hinein wenig Gefallen; es bedurfte langer Jahrzehnte, um mich die Grosszügigkeit des Men­ schen, des Dramatikers und auch des Dichters er­ kennen und würdigen zu lassen. Meine ersten Lieb­ linge und Vorbilder waren vielmehr Goethe und Heine und zwar Heine zunächst noch mehr als Goethe, entsprach doch das narkotisch Schwüle und sentimental Weltschmerzliche der Heine’schen Lyrik und die ihr eigene Durchsetzung neuzeitlicher Wirk­ lichkeit mit Märchengestalten völlig dem mit Roman­ tik und erwachender Sinnlichkeit gepaarten Welt­ schmerz, der junge Menschen in den Entwicklungs­ jahren regelmässig zu befallen pflegt, und der mich umsomehr erfüllte, als ich selbst schon so frühzeitig unter dem Widerstreit zwischen Ideal und Leben, eigener Innenwelt und Umwelt gelitten hatte; zudem imponierte mir Fünfzehn- und Sechzehnjährigem das Keck-Genialische der Heine’schen Form ganz gewaltig, 78

und sein kampflustiger Spott auf die Alltagsmenschen liess in mir verwandte Saiten erklingen. Dass die allermeisten dichterischen Reize des «Buchs der Lieder» nur vom deutschen Volkslied und von Goethe geborgt waren, erkannte ich damals noch nicht und ebensowenig die rein äusserliche Effekthascherei dieser Produktion. Die Mehrzahl meiner ersten lyri­ schen Versuche trug denn auch das Gepräge der Heine - Nachahmung, andere freilich standen mehr unter dem Einfluss Lenaus, in dessen Naturlyrik ich die meiner Kindheit vertraute süddeutsche Landschaft, vor allem der Zauber und Schauer des süddeutschen Waldes so treu und dichterisch eindringlich wieder­ gegeben fand. Die Menge meiner damals entstandenen Verse entbehrte bei der Unselbständigkeit des Aus­ drucks noch jedes Eigenwerts, doch bedeutete sie eine formale Vorschulung, die mir später zustatten kam. Auch hatte ich auf diese Art schon mit meinem 16. Jahre die Heine-Gefolgschaft «überwunden», desto grösser und leuchtender wuchs dann Goethe vor mir auf, und Lenaus dichterische Naturbelebung ist mir zeitlebens lieb und teuer geblieben, wenn ich auch seine einseitige Schwermut später nicht mehr teilte. In meinem zweiten Pagenjahr lernte ich auch Homer kennen und empfing von ihm einen grossen und tiefen, den Sinn für schlichte Schönheit, Natürlichkeit und Erhabenheit mächtig in mir entwickelnden Ein­ druck. Als mir am Schlüsse dieses Jahres der «Wis­ senschaftspreis» zuerkannt wurde, und ich mir als solchen die Prachtausgabe eines klassischen Werks selbst wählen durfte, bat ich um die Verdeutschung von Homers Odyssee mit den Preller’schen Zeich­ nungen ....... Als mein Vater mich eines Sonntags aus der Pagerie abholte, teilte er mir traurig die hoffnungslose Erkrankung meiner 76-jährigen Grossmutter an einer Lungenentzündung mit. Wie sehr mich diese Nach­ richt erschütterte bei meinem innigen Gemütsver­ hältnis zu der alten Frau, kann man sich vorstellen. 79

Ich fand sie in schwerer Fieberhitze und das ver­ traute, gütige Antlitz fremdartig entstellt... und an­ derntags erwartete mich der Vater am Gymnasium mit der Todesnachricht. An dem Begräbnis auf dem südlichen Friedhof, wo die Grossmutter an der Seite ihres Gatten die letzte Ruhestätte fand, nahm ich in tiefster Ergriffenheit teil. Bei der Rückkehr in die elterliche Wohnung aber griff mir zum ersten Mal im Leben der beklemmende Eindruck ans Herz, den Platz eines lieben Familienmitglieds leer zu sehen. Auf der Rückfahrt nach der Pagerie überraschte mich mein Vater durch die Erzählungen rätselhafter Erscheinungen, die den Tod meiner Grossmutter ge­ wissermassen vorher verkündet hatten. Das Schlaf­ zimmer der Eltern stiess an die Stube, in der die Grossmutter schlief, und das Kopfende des Bettes meines Vaters an den Rahmen der Verbindungstüre. An dem dieser Türe gerade gegenüberliegenden Fen­ ster des elterlichen Schlafzimmers stand ein Vogel­ käfig mit mehreren Singvögelchen, die nachts in regungslosem Schlafe zu sitzen pflegten; ein kleiner Oeldochtschwimmer, wie sie damals noch im Ge­ brauche waren, verbreitete ein schwaches Dämmer­ licht im Raume. In der Nacht vor der Erkrankung meiner Grossmutter — tagsüber schien sie noch ge­ sund und frisch wie immer — erwachte der Vater ganz ungewöhnlicher Weise und ohne jeden feststell­ baren Grund gegen vier Uhr morgens, und zwar zu so völligem Bewusstsein, dass er nicht mehr ein­ schlummern konnte. Bald darauf hörte er ein wie aus weiter Ferne rasch sich näherndes Sausen, und im nächsten Augenblick war’s, als durchschlüge ein Geschoss hinter seinem Kopfe krachend die Ver­ bindungstür der beiden Stuben. Betroffen aufgefahren und sich wendend, sah er ein dunkles Etwas, das einem mit angelegten Flügeln dahinschiessenden schwarzen Raubvogel glich, dicht vor seinem Gesicht vorüberjagen und gegen das gegenüberliegende Fenster über dem Vogelkäfig herausbrechen, gleich 80

zeitig ertönte der schrille Lärm zerschmetterter und zu Boden stürzender Glasscheiben, worauf die aus ihrem Schlummer aufgeschreckten Vögel wild im Käfig durcheinanderflatterten, der Teckel meines Vaters, der am Fussende des Bettes in ruhigem Schlaf gelegen, mit jähem Gebell durchs Zimmer raste, und meine Mutter wie auch meine in einem andern anstossenden Gemach schlafende Schwester, gleichfalls schon durch das Geklirr des vermeintlich zerschmetternden Fensters geweckt, voll Angst zu meinem Vater eilten. Die sofort angestellte Unter­ suchung erwies zum allgemeinen Erstaunen, dass das Fenster wie auch die anscheinend durchlöcherte Türe unversehrt waren, und da auch sonst garnichts Un­ gewöhnliches im Zimmer zu finden war, gab man sich endlich kopfschüttelnd zufrieden, beruhigte die verängstigten Tiere, was längere Zeit in Anspruch nahm, und legte sich wieder schlafen. Morgens beim Frühstück aber erklärte die Grossmutter, die selt­ samerweise allein garnichts von dem ganzen Spuk und Lärm gehört oder gesehen hatte und der man auch nichts davon sagte, sie habe sich während der Nacht «zum Sterben schlecht» gefühlt: und bald darauf begann sie zu fiebern und musste sich zu Bette legen. Dieser merkwürdige Bericht erregte mich um so mehr, als mein Vater, wie ich genau wusste, jedem Aberglauben abhold war; fühlte er sich den­ noch innerlich genötigt, mir sein Erlebnis in so ernsthafter Weise mitzuteilen, so musste er selbst von dessen Realität und ungewöhnlicher Bedeutung über­ zeugt sein. Später erfuhr ich dann noch, dass meine Tante K...., die meiner Grossmutter als Nichte von jeher besonders zugetan war, gleichfalls durch eine seltsame Erscheinung auf das Bevorstehende auf­ merksam gemacht, ja geradezu dadurch nach Mün­ chen gerufen worden war. Sie sass morgens in Rosenheim nichts ahnend bei ihren Kindern, als in dem geschlossenen Klavier neben ihr ein gewaltiger Schlag ertönte, von einem Klang gefolgt, als wären 6

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sämtliche Saiten gesprungen. Zugleich fühlte die Tante die innere Gewissheit, es müsse meiner Gross­ mutter irgendein Unglück zugestossen sein, obwohl garnichts vorlag, das ihre Gedanken vernünftiger Weise in dieser Richtung hätte lenken können: und ihr Gefühl war so mächtig und drängend, dass sie sich nicht abhalten liess, gleich mit dem nächsten Zug nach München zu fahren, wo sie dann die «An­ meldung» aufs traurigste bestätigt fand. Zum ersten Male waren mir da die Rätselhaftigkeiten des Mensch­ daseins, die ich vorher nur aus Dichtungen und Mythen kannte und für blosse Phantasiegebilde zu halten geneigt war, in voller Lebenswirklichkeit nahe getreten. Aber so stark der augenblickliche Eindruck war und gerade auf mich Nachdenklichen sein musste: die Jugendlichkeit meiner siebzehn Jahre, der auch die Welt des hellen Tageslichts noch so viel Neues bot, liess mich der Sache nicht länger nachgrübeln, und in dem bunten Vielerlei des ange­ strengten Pagenlebens kam sie mir schnell wieder aus dem Sinn. Doch hatte sie dann für meine innere Entwicklung die Bedeutung, dass die Erinnerung an sie meinen Skeptizismus besiegen half, als ich fünf Jahre später den Irrtümern des Spiritismus in so extremem Masse verfallen sollte. Die Pagenreise des Sommers 1883 an den Rhein, von der schon die Rede war, machte mich äusser mit dem Strom der deutschen Nationallieder, der meine überschwänglichen Erwartungen enttäuschte, noch mit dem Bodensee, dem Hohentwiel, dem Schwarzwald, mit Strassburg, Koblenz und Bonn, mit Köln, auch mit Frankfurt und seinem Goethehaus bekannt, in welch letzterem ich die Sensation genoss, auf dem alten Goethe-Spinett das «Heidenröslein» zu spielen. Vom Strassburger Münster hatte ich den grossartigsten Eindruck, wogegen mich der Kölner Dom in seiner Ueberladenheit kühl liess. Bei unserem Aufenthalt in Strassburg lernten wir übrigens auch die dortige Deutschfeindlichkeit in drastischster Form 82

kennen. Der Direktor hatte in einem der ersten Hotels der Stadt gute Zimmer für uns bestellt, wie die Pagerie überhaupt bei diesen Reisen in grösseren Städten Vornehmheit zu markieren pflegte; als wir anlangten, wurden uns aber die schlechtesten, kleinsten und dunkelsten Kammern angewiesen, die im Hause zu finden waren, obschon allerlei bessere Zimmer leer standen. Auf den Protest des Direktors wurden ihm diese letzteren als «früher bestellt» be­ zeichnet, und der vereinbarte hohe Preis musste trotzdem bezahlt werden. Dabei hatte man uns statt anständigem Geschirr lauter beleidigende Scherben in die elenden Stuben gestellt, Bettzeug und Hand­ tücher waren schmutzig, das vorgesetzte Essen war kaum geniessbar, die Bedienung herausfordernd un­ freundlich, ja feindselig, kurz, alles deutete auf eine Demonstration im Sinne jener Bübereien, die dem französischen Chauvinismus eigentümlich sind. Die letzten Pagenjahre brachten mir als beson­ deres neues Erlebnis den Unterricht im Reiten, den die Oberklassen gemeinsam in der Hofreitschule er­ hielten. Ich hatte mir diesen Unterricht als reines Vergnügen vorgestellt, wurde aber schon in der ersten Stunde eines Schlimmeren belehrt und brauchte meine ganze Willenskraft, um den ver­ hältnismässig grossen Anforderungen gerecht zu werden, die man hier an uns stellte, hatte man doch zuletzt auch unberittene Pferde ohne Sattel, ja ohne Zäumung zu bändigen und allerlei Kunststücke auf ihnen zu vollführen. Dabei musste man sich von den ungebildeten Bereitern Roheiten gefallen lassen, bis zu Peitschenhieben, die scheinbar zufällig vom Ross auf den Reiter Übergriffen. Doch kam schliesslich alles zu gutem Ende, ich verdiente mir meine Spo­ ren, und als wir dann längere Ausritte, oft auch in herrlicher Morgenfrühe, unternehmen durften, war mir das Reiten wirklich zum Vergnügen geworden. Auf dem Oberwiesenfelder Uebungsplatz pflegten wir den dortigen Kavallerieübungen beizuwohnen, vor 83

den übenden Eskadronen unsere selbständigen eigenen Exerzizien ausführend; nahm dann eine At­ tacke der Kavallerie breiteren Raum in Anspruch, so mussten wir immer in schleuniger Galoppflucht Platz machen, wobei wir oft in voller Carriere nach verschiedener Richtung uns in den Horizont des wei­ ten Wiesenplanes verloren, und die nachjagenden beiden Bereiter Gelegenheit fanden, ihren ganzen Vorrat an Schimpfworten auszuschütten, bis sie uns glücklich wieder eingesammelt hatten. Zog dann die Kavallerie mit klingendem Spiel in die Stadt zurück, so pflegten wir uns an die Spitze zu setzen und auf fröhlich nach der Musik tanzenden Rossen einen selbstbewussten Einzug zu halten. Hier sei auch gleich Einiges über den Militär­ Vorbereitungsunterricht im engeren Sinn erwähnt, den wir in den höchsten Klassen erhielten. Ein Artillerie­ Oberleutnant weihte uns da in die Gliederungs- und Rangverhältnisse der Armee, in den Bau der modernen Festung, in die wesentlichsten Grundzüge der Taktik, auch in die Konstruktion und Hand­ habung des damaligen deutschen Infanteriegewehrs ein, während ein durch seine bedeutende mathe­ matische Gelehrsamkeit bekannter Major Hofmann in der Ballistik und anderen mathematisch fun­ dierten Militärdingen unterrichtete. Als ich, der zu selbständigen mathematischen Versuchen neigte, eine ganz neue Kurve nach sonderbaren Voraus­ setzungen konstruiert hatte und mich gelegentlich an den Major mit der Frage wandte, ob sie etwa schon bekannt wäre, interessierte er sich dermassen für die Sache, dass er «meine» Kurve nicht nur mit nach Hause nahm, sondern mir auch schon anderen­ tags die mühsame Berechnung der Elemente auf vier engbeschriebenen Folioseiten überreichte, ohne zu be­ denken, dass ich noch garnichts davon verstehen konnte. Äusser dem theoretischen Militärunterricht wurde auch praktisches Gewehrexerzieren im Turn­ garten betrieben, unter Leitung eines richtigen 84

strammen Feldwebels. All dieser «Militarismus» hatte seine Begründung darin, dass jene Edelknaben, die den Offiziersberuf anstrebten, aus besonderer Vergünstigung, schon als Portepee-Fähnriche aus­ traten, um sehr bald darauf zu Leutnanten befördert zu werden, die übrigen aber sich nach der Tradition noch vor dem Absolutorium zum Einjährig-Freiwilligen-Dienst zu melden und sich der ärztlichen Untersuchung hiefür zu unterziehen hatten. Während meines vorletzten Pagenjahres steigerte sich mein verbitterter Gemütszustand auch im Zu­ sammenhänge mit der übermässigen körperlichen und geistigen Anstrengung bis zum äussersten Un­ mut, den schliesslich die Beobachtung zum Ueberschäumen brachte, dass der Direktor meinen Klassen­ kameraden M. auffallend bevorzugte, während er mich, den Senior, nach wie vor mit unfreundlicher Kälte behandelte. Ich machte meinem Ingrimm über die Ungerechtigkeit in Versen Luft und zwar in der Form einer scharfen «Glosse» auf einen Goethe’schen Spruch, die ich im Studiersaal niederschrieb. Das Gedicht war ursprünglich nicht für andere, nur zu meiner seelischen Entlastung geschrieben, in meinem Trotz hatte ich aber nichts dagegen, dass auch meine aufmerksam werdenden Pultnachbarn es lasen. Zu­ fällig bemerkte der Inspektor Gerold, wie sie kichernd die Köpfe zusammensteckten, und irgend etwas Schlimmes ganz anderer Art ahnend, schoss er auf die Gruppe zu und riss das Manuskript an sich. Beim Ueberlesen meiner revolutionären Absage an den Direktor verfinsterten sich seine Züge, und in mechanischem Pflichtbewusstsein bestellte er das Corpus delicti nach Feststellung des Verfassers straks an seine ideale Adresse. Der Direktor, ebensowenig Humorist und Psychologe als Pädagoge, war in tief­ ster Seele entrüstet über meine poetische Quittung seines Verhaltens, und der Zorn machte ihn so kopf­ los, dass er zu meiner Massregelung das denkbar Un­ glücklichste unternahm. Er berief das gesamte 85

Pagencorps auf sein Empfangszimmer und las vor unserer Front mit Stentorstimme die ganze kritische Entweihung seiner geheiligten Person vor, wobei die meisten Kameraden alle Mühe hatten, sich das Lachen zu verbeissen. Hierauf verdonnerte er mich ebenso pathetisch zum Arrest an zwei Sonntag-Nach­ mittagen, womit der feierliche Akt zu Ende war. Ich trug meine Strafe zunächst mit Gelassenheit, immer­ hin aber verschärfte dann bei meinem ausgeprägten Ehrgefühl die erste und sogleich schwerste Strafe, die ich als Page erhalten hatte, mein inneres Elend, namentlich auch im Hinblick auf die nun kurz vor der Erfüllung unrettbar eingebüssten Würde des Ge­ samtseniors. Mein Verhältnis zum Direktor schien mir jetzt völlig unerträglich und so gelangte ich zu dem wilden Entschluss, um jeden Preis meine Fes­ seln zu sprengen. Ich schrieb an meinen Vater einen Brief, in dem ich ihm nun meine Lage und Verzweif­ lung rückhaltslos darlegte und ihm erklärte, ich würde vom Augenblick der Absendung meines Briefes keinerlei Nahrung mehr zu mir nehmen und auf diese Weise ein Ende mit mir machen, wenn er nicht vorziehe, mich aus der Pagerie zu nehmen. Ich warf den Brief in den Postkasten nächst dem Gymnasium, und verfuhr dann genau, wie ich geschrieben; einen Halbtag und zwei weitere Tage lang genoss ich nichts als ein paar Schluck Wasser, selbst den Morgen­ kaffee liess ich stehen, zur tuschelnden, aber im Uebrigen gleichmütigen Verwunderung meiner Kame­ raden und unbemerkt von dem Direktor, der mich seit meinem Verbrechen mit ostentativer Verachtung ignorierte. Ich machte alle körperlichen und geistigen Anstrengungen dieser langen Werktage wie jeder an­ dere mit, ritt und turnte und hungerte dabei mit eiserner Willensanstrengung, auf eine Antwort von daheim wartend, die aber auch am zweiten Tage nicht eintraf. Während der ersten 24 Stunden hatte mein rebellierender Magen mir noch zu schaffen ge­ macht, mit Uebelkeiten und Schwindelanwand­ 86

hingen, dann aber liessen die Beschwerden nach, und ich fühlte mich eher in einem Zustand gesteigerter geistiger Lebhaftigkeit, Am Abend des zweiten Tages bemerkte endlich der Direktor mein totales Fasten und stellte mich mit barscher Kürze zur Rede, ob ich krank sei. Ich verneinte ebenso lakonisch, wo­ rauf er mir schroff und gleichgültig den Rücken kehrte, ohne sich weiter um die Sache zu kümmern. Der dritte Tag war ein Sonntag, und ich ging wie immer mit den protestantischen Pagen in die Reli­ gionsstunde und von dort in die Matthäuskirche zum Gottesdienst. Als wir dann die Kirche verliessen, traf ich vor dem Portale unverhofft meine Eltern an, die mich mit schwer bekümmerter Miene erwarteten. Sie folgten mit mir den heimwandernden Pagen in einiger Entfernung, und mein Vater begann mir ins Gewissen zu reden. Er machte mir zwar keine Vorwürfe wegen mei­ nes erpresserischen Verfahrens, setzte mir aber aus­ einander, dass, wenn er mich jetzt wirklich aus der Pagerie nähme, meiner Schwester der Abschluss ihrer künstlerischen Studien unmöglich würde, weil er nur infolge meines Freiplatzes die Mittel für ihren Unterricht habe aufbringen können. Er appellierte damit an meine Ritterlichkeit: und als dann meine gute Mutter das Wort nahm und mich in reiner Be­ sorgnis um mich selbst beschwor, mein Vorhaben aufzugeben, wurde ich weich, liess mich bewegen, und fand dann bei dem sich anschliessenden Ausgang in der sorgsamen Pflege der Meinen das körperliche und auch das seelische Gleichgewicht wieder. Nicht lange darauf zeigte sich, dass die Eigen­ tümlichkeiten des Direktors, unter denen ich von An­ beginn zu leiden gehabt, wohl auch in seiner körper­ lichen Veranlagung ihren Grund hatten. Eines Tages erfuhren wir nämlich, dass er einen Schlaganfall er­ litten habe und als er sich endlich erholt hatte, sah er sich trotzdem gezwungen, sein Amt niederzulegen. Er kam dann noch einmal ins Institut, um sich zu 87

verabschieden, wobei er nach einer allgemeinen An­ sprache über das Thema «Noblesse oblige» unsere Front abschritt und jedem von uns noch einiges Per­ sönliches sagte. Bei mir angelangt, rang er sich mit sichtlicher Anstrengung die kurzen Bemerkungen ab, dass «noch etwas Tüchtiges aus mir werden könne», und, «dass ich nur trachten solle, mich meiner Um­ gebung angenehm zu machen». Da er die «Tüchtig­ keit» auf seine Weise verstand, lag für ihn gar kein Widerspruch in den beiden Zielen, die er mir setzte; wie sehr aber die Tüchtigkeit in einem anderen und höheren Sinn der Beliebtheit bei der «Umgebung» im Wege stand, sollte ich später schaudernd erfahren. Nicht lange darauf machte ein erneuter Schlaganfall dem Leben des Baron L. ein Ende. Unser neuer Direktor wurde ein Freiherr von Müller, ein noch in jüngeren Jahren stehender Ar­ tillerieoffizier, der wegen eines Herzleidens dem aktiven Dienst hatte entsagen müssen. Seinen lei­ denden Zustand mit strammer Energie bemeisternd, behandelte er uns mit einer eigentümlichen Mischung von schneidiger Strenge und ironischer Heiterkeit. Von meinem verbrecherischen Vers-Attentat auf sei­ nen Vorgänger offenbar in Kenntnis gesetzt und wohl auch beeinflusst durch die allgemeinen Vorurteile, die jener gegen mich gehegt hatte, war er zunächst nicht gut auf mich zu sprechen, da er aber beträchtlich in­ telligenter und pädagogisch einsichtsvoller war, er­ kannte er bald, dass ich garnicht der heillose Plebejer und Teufelsbraten war, den man ihm wohl geschildert hatte und am Ende meiner Pagenzeit wurde unser Verhältnis ein recht herzliches. Obwohl das Gymnasialabsolutorium schon seine Schatten vorauswarf, doppelte Arbeitslast auf unsere Schultern wälzend, gelang es mir noch, in den ersten Wintermonaten 1884 nebenher eine umfangreiche Vers-Tragödie ge­ schichtlichen Gegenstandes «Kaiser Otto III.» zu voll­ enden, deren derbere Volkszenen nach Shakespeareschem Vorbilde in Prosa geschrieben waren. Ich sah 88

damals in dem romantischen jungen Fürsten, der dem Sirenensang Italiens zum Opfer fiel, den typischen Vertreter des deutschen Idealismus, der sich aus der nüchtern-kalten Enge und Rohheit seiner heimischen Umgebung nach dem Wunderland seiner Träume, nach Freiheit, Schönheit und Sonnenwärme sehnt, in Befriedigung dieser Sehnsucht seine Pflicht vernach­ lässigt, schuldig wird und tragisch enden muss. Das Urteil einer Bühnenleitung wagte ich indessen noch nicht herauszufordern: und die von Monat zu Monat wachsenden, um jene Zeit ganz besonders hohen An­ sprüche der Oberprima drängten dann alle dich­ terischen Ideen in den Hintergrund. Von dem Lehr­ stoff, den wir da noch zu bewältigen hatten, fesselte mich am meisten die Lektüre der Annalen des Tacitus, die der Rektor selbst in geistvoller Weise und mit einer Kunst treffsicherer Verdeutschung leitete, die ich bewundern musste. Von uns vier Pagen-Primanern wollte keiner den Militärberuf ergreifen. Und als wir gegen Ende des Schuljahres auf unsere Tauglichkeit zum Einjährigen­ dienst untersucht wurden, stellte der Stabsarzt uns insgesamt wegen anormaler Magerkeit zurück, die bei dem Uebermass körperlicher und geistiger An­ strengungen kein Wunder war. — Näher und näher rückten die gefürchteten Tage des Absolutoriums. Den letzten schönen Sommerabend vor der grossen Hinrichtung verbrachte ich, mit zum Bersten voll­ gepfropftem Kopfe, noch einmal tief Atem schöpfend, in Gesellschaft meiner Eltern und meiner Schwester. Anderentags ging es dann ins Feuer der Prüfung. Die sehr anspruchsvollen Arbeiten im Lateinischen, Grie­ chischen und Französischen gelangen mir recht gut. Für den deutschen Aufsatz war uns die philologisch trockene Aufgabe gestellt, «aus einem der drei Dra­ men Egmont, Tasso oder Iphigenie die Haupt­ charaktere und die Stufen der Handlung anzugeben». Ich wählte die Iphigenie und suchte in meine Arbeit, die sich ja kaum über eine analysierende Inhalts89

angabe erheben konnte, möglichst viel dichterischen Schwung zu bringen; trotzdem hatte ich das drückende Gefühl, herzlich langweilig geblieben zu sein. Die schriftliche Prüfung in der Mathematik war durch eine lustige Episode gewürzt. Als der Pro­ fessor das versiegelte Schreiben, das die Aufgabe enthielt, vor unseren Augen geöffnet und den Text überflogen hatte, schüttelte er verärgert den Kopf und sagte: «Ohber dos is ja viehl zu schweer für die Härn — dos göhnen Sie jo nicht mochen! iech versteh die Härn da droben nicht! Ohlso, in Gohdes Nahmen — brobier’n Sie’s holt! Zur Daitlichkeit wiel ich die Aufgoben an die Dohfel schreiben.» Damit malte er dann auf die Schultafel, fügte aber der schlimmsten von den drei Aufgaben gleich den Ansatz zur Lösung hinzu! Wir verstanden sofort die stillschweigende Hilfe, die uns der gute alte Herr in kühner Ein­ renkung übertriebener schultyrannischer Forderungen zuteil werden liess; allgemeines Gekicher und freudig lachende Blicke dankten ihm. Und es mag die Prü­ fungskommission dann nicht wenig überrascht haben, dass wir alle miteinander gerade die schwierigste Nummer am besten anzupacken gewusst hatten. In das folgende mündliche Examen mussten wir Pagen nach altem Brauch und Ehrenvorrecht als erste steigen, und da unter uns die alphabetische Reihenfolge entschied, ich als der erste. Mir bangte am meisten vor der Weltgeschichte, die in vollem Umfang von Moses bis zum Siebziger-Krieg bis in kleinste und kleinlichste Einzelheiten verlangt wurde. Ich hatte während der beiden letzten Schuljahre teils wegen unserer allgemeinen Ueberlastung, teils wegen der Langweiligkeit des Geschichtsunterrichtes und wegen meiner dichterischen Seitensprünge dieses Fach arg vernachlässigt, und als ich in den letzten Wochen das Versäumte mittels aller möglichen Kompendien und Tabellen nachholen wollte, war als einziges Ergebnis ein wüstes Chaos in meinem Kopfe 90

zurückgeblieben. Unter solchen Umständen erwartete ich Schreckliches, als ich in meiner Feiertagsuniform todmüde vor dem drohenden Halbkreis der gestrengen Richter trat. Aber der Himmel hatte Erbarmen mit mir. Man frug mich über die Solonische Verfassung, über das Langobardenreich in Italien und über den zweiten Koalitionskrieg gegen Napoleon, wovon ich die erste und letzte Angelegenheit zufällig noch am Vor­ tage überlesen hatte, so dass ich sie zu meinem eigenen Erstaunen aufs Schlagfertigste wiedergeben konnte; vom Langobardenreich freilich hatte ich nur den Anfang und die grelle Schädelgeschichte von Alboin und der Rosamunda im Gedächtnis, im bangen Rewusstsein des darauffolgenden Vaccuums hielt ich mich aber solange bei einer sehr romantisch schwung­ haften Schilderung der Rosamunda-Tragödie auf, dass der examinierende Professor mir den Rest gutgläubig erliess. So geschah das Erstaunliche, dass ich die Geschichtsprüfung mit der ersten Note machte, wäh­ rend ich nach dem wahren Stand meiner damaligen Kenntnisse höchstens einen Dreier verdient hätte. Auch die übrigen mündlichen Torturen überstand ich ganz leidlich. Ich erfuhr auch, dass man meinen Iphigenie-Aufsatz, der mir trotz meiner abfälligen Selbstkritik die erste Note im Deutschen eintrug, als ungewöhnliche Leistung unter den Professoren zir­ kulieren liess. Bei so glücklicher Sachlage gestaltete sich mein Abschied von der Pagerie durchaus ehrenvoll und erfreulich. Auf die allgemeine Schlussfeier im Maximilianeum, bei welcher ich die Hungerturm­ Erzählung Ugolinos aus der «Divina commedia» einem Publikum zu deklamieren hatte, dem der Hunger gewiss zeitlebens ein angenehmes Grusel­ märchen blieb, folgte unsere offizielle Verabschiedung auf dem Direktionszimmer. Baron Müller trat uns dabei mit freundschaft­ lichster Herzlichkeit entgegen und behandelte uns eindrucksamer Weise zum erstenmal als Erwachsene 91

und gesellschaftlich Gleichberechtigte. Dann schüt­ telten wir den jüngeren Kameraden die Hände und liessen den Blick noch einmal über die Räume glei­ ten, an deren Geist und Regel wir fünf lange Jahre hindurch gekettet gewesen waren. So schwer ich selbst an diesen Ketten getragen hatte, kam mir doch in der versöhnlichen Scheidestunde auch alles Gute, geistig Fördernde und körperlich Stählende zum Be­ wusstsein, dass ich neben dem vielen Widerwärtigen hier für meine persönliche Entwicklung empfangen hatte. Aber als ich dann im flotten neuen Zivil­ anzug die Treppe hinabgesprungen war, als der sonst so kerkermeisterliche, griesgrämige, jetzt aber devot grüssende Portier mir das Tor öffnete und ich allein und als mein eigener Herr in den schönen August­ abend hinaustrat, wo das fröhliche München weit seine Arme nach mir ausbreitete, da fühlte ich doch wieder nur den aufatmenden Jubel eines befreiten Gefangenen, und ohne mehr umzublicken, rannte ich in toller Hast die Maximilianstrasse hinunter und heim, heim, heim ins Leben, in die Freiheit!

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llochschiiler, Dramatiker, Spiritist und Revolutionär.

Die Eindrücke an der Münchener Universität, bei der ich mich im Herbste 1885 immatrikulieren liess, ernüchterten wieder einmal meine allzu idealen Vor­ stellungen. Ich hatte mir von dem ersten, dem «phi­ losophischen» Jahr die Erschliessung jener tiefsten allgemein gültigen Wahrheit und Weisheit erwartet, nach der meine spekulative Nachdenklichkeit schon so lange lechzte; aber was mir nun da als Weisheit geboten wurde, war nur eine auf Kritik des «Rich­ tigen und Unrichtigen» fast völlig verzichtende Re­ gistrierung philosophischer Systeme, oder die an­ spruchsvoll vorgetragene Sonderspekulation eines Ein­ zelnen, auf Prämissen gebaut, deren Irrtümlichkeit so­ fort in die Augen sprang. Ebenso hatte ich ange­ nommen, dass die Lehrweise, der Verkehr zwischen Dozent und Student, die Methode der wissenschaft­ lichen Ausbildung durchaus verschieden von den Ge­ pflogenheiten des Mittelschulbetriebes wäre und mich in ein gar herrliches Reich freiesten geistigen Wett­ eifers versetzen würde: und ich kam mir nun wie ein Geprellter vor, dem man Neues versprochen hatte, und dem man, mit ein paar unwesentlichen Beschönigun­ gen, nur wieder den alten Jammer bot, den er glück­ lich überstanden geglaubt. Auch hier traf ich wieder das Katheder und die Schulbänke, die mechanischen Diktate und das Schwören in verba magistri, die Wertschätzung des hohlen Auswendiglernens und die hochnotpeinlichen Prüfungen, die nicht so sehr nach dem tatsächlichen Wissen als nach der augenblick93

liehen Schlagfertigkeit urteilten. Und sobald ich einige tiefere Einblicke gewonnen hatte, sah ich bei den Hochschülern, wie auch bei den Dozenten noch mehr schlaues Strebertum und weniger Hingabe an die Wissenschaft um ihrer selbst willen, als auf dem Gymnasium zu beobachten war. Unter den damaligen «Philosophen» der Münche­ ner Universität führte Karl Prantl das grösste Wort. Aus seiner mit vieler Wichtigkeit vorgetragenen Theorie von der «Wesenseinheit der Gegensätze» konnte ich leider nicht klug werden. Was dem Philo­ sophen Prantl an Klarheit und Ueberzeugungskraft abging, das suchte er durch persönliches Sichinteressantmachen zu ersetzen; vor allem buhlte er um die Gunst seiner Hörer mit drastischen antiklerikalen und atheistischen Ausfällen, wie sie die damalige Hochschuljugend mit besonderem Behagen entgegen­ nahm, den kühnen Erwürger des Köhlerglaubens als Helden bewundernd. Da ich zwar nicht mehr dog­ matisch befangen, aber auch nichts weniger als athe­ istisch gesinnt war, widerte mich sein koketter Pseudo­ satanismus nur an. Kaum besser war der Eindruck des ästhetischen Kollegs, das ich bei Moritz Carriere belegt hatte. Weit sympathischer wirkten auf mich die Vorlesungen des alten Kulturhistorikers Riehl, da hatte ich wenigstens einen gesunden, in seiner Art harmonisch ausgebildeten Vollmenschen vor mir, der zudem eine halb künstlerische Natur war und in sei­ nen von behaglichem Humor gewürzten Schilderun­ gen nicht nur feste Tatsachen, auch lebendig Geschau­ tes bot. Allein für die Merkwürdigkeiten aus dem Hof­ leben des 17ten und 18ten Jahrhunderts, die ich da vorgetragen erhielt, hatte ich damals, mit meiner Dichterfantasie in anderen Zeiten beschäftigt, keine unmittelbare Verwertung, und so zog mich noch mehr das Kolleg über deutsche Literatur von Michael Bernays an. Dabei spielte wesentlich mit, dass ich für meine Zukunft eine akademische Gelehrten-Lebensstellung in 94

Aussicht genommen hatte und eine Professur für deutsche Literaturgeschichte bei meinen Anlagen vor allem in Betracht zu kommen schien. Das Bernays’sche Kolleg zählte damals zu den glänzendst besuch­ ten; neben denjenigen, die als Fachstudenten oder sonst aus sachlichem Interesse sich einfanden, gab es auch sehr viele, die den merkwürdigen hochgewach­ senen Gelehrten mit dem einzigartigen Charakter­ kopfe in seiner halb genialischen, halb theatralischen Art als unterhaltende Kuriosität kennen lernen woll­ ten. Im ganzen wurde er von den Münchener Studen­ ten damals ebenso sehr als «Komödiant» bespöttelt, wie sein ungewöhnliches Wissen respektvolle Aner­ kennung fand. Ich für meinen Teil, von jeher geneigt, mich der Vorzüge eines bedeutenden Mannes zu freuen, ohne mich durch seine Schwächen stören zu lassen, kam bei ihm durchaus auf meine Rechnung, erkannte ich doch bald, dass ich in ihm nicht bloss einen Gelehrten, der sein Fachgebiet mit regem Geiste, straffer Energie und fabelhaftem Gedächtnis bis ins Einzelnste beherrschte, sondern auch eine Künstler­ natur hochzuschätzen hatte. Das Ineinandergreifen der englischen, der französischen und der deutschen Li­ teratur des 18ten Jahrhunderts, die Anregung deut­ scher Dichter durch fremdländische Werke wusste er nicht nur historisch-philologisch schlagend, auch geistreich und künstlerisch reizvoll darzulegen: und so kam ich zu dem Entschluss, unter seiner Führung einen Universitätslehrstuhl gleicher Disziplin anzu­ streben und die übrigen Kollegien mehr und mehr fallen zu lassen. Welch grosse materielle Schwierig­ keiten diesem Plan entgegenstanden, zog ich damals gar nicht in Ueberlegung, sowenig wie mein Vater, der sich auf die praktischen Vorbedingungen dieser Sphäre nicht verstand und meine idealistische Ver­ trauensseligkeit damals völlig teilte. Und doch hätte mich schon ein gleichzeitig von mir besuchtes Kolleg des Bernays-Schülers Franz Muncker, in dem ich mit zwei anderen Studenten allein sass, zur Genüge über 95

die Unmöglichkeit belehren können, als Privatdozent dieses Faches ohne persönliches Vermögen ein Aus­ kommen zu finden....... Wenn mein Vater mir durch die Erziehung in der Pagerie einen praktisch fördernden Anschluss an die Adelskreise ermöglichen wollte, erwies sich jetzt endgültig die Unfruchtbarkeit des Gedankens. Dass ich keinen weiteren Umgang mit den früheren Pageriekameraden suchte, verstand sich von selbst. Nur den Pagenhofmeister Baron Müller sah ich in regelmässigen Intervallen, da mir im Gefolge meines Pageriefreiplatzes und guten Absolutoriums auch ein Stipendium auf die Dauer von vier Universitätsjahren zugesprochen war, und ich die jeweiligen Formalitäten bei der Pageriedirektion zu erfüllen hatte. Baron Müller zeigte sich bei diesen Besuchen stets herzlich und teilnehmend, doch kam ich ihm menschlich nicht näher als in meiner letzten Pagenzeit, dafür war der Unterschied des Alters und der Weltauffassung zu gross und wohl auch meine persönliche Art zu spröde und verschlossen. Wie ich auf diese Weise abseits von den «Standesgenossen» meine Wege ging, so liess ich auch meine Kommilitonen von der Hochschule links liegen. Für das Verbindungswesen hätte mir jede Neigung gefehlt, selbst wenn ich meinem Vater die bedeutenden Kosten hätte zumuten können. Dagegen schloss ich mich an einen Kreis junger Schauspieler, Sänger und Musiker des Konservatoriums an, zu welchen ich durch einen Mitabsolventen, Alois Weirauther, der in die BichterSchule eingetreten war, Beziehung gewann. Nament­ lich mit Weirauther verband mich schnell ein ver­ trautes, freundschaftliches Verhältnis. Er war unter­ setzt und hässlich, sein dunkler Krauskopf, mit den harten Zügen und buschigen Brauen, stak tief in den Schultern, aber aus seinen Augen blitzte scharfer Verstand und Energie, leuchtete Gutmütigkeit und Freundestreue. Natürlich strebte er den Charakter­ spieler an, studierte den Franz Moor, den Dritten 96

Richard und die Proletarier-Orginale Anzengrubers. Er hatte eine freudlose Kinderzeit und schon viel bittere Lebenserfahrungen hinter sich, so dass der arme Junge frühzeitig auf eigenes Verdienen ange­ wiesen war; kein Wunder, dass er mit seinen Erfah­ rungen damals die Welt weit naturalistischer sah und beurteilte als ich. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, fand er an mir versonnenem Ideologen und Romantiker nicht nur persönlich Gefallen, er war auch der erste von meinen Altersgenossen, der sich für meine dramatischen Gestaltungen interessierte und ihr Besonderes erkannte und anerkannte. Eben weil diese Anerkennung durchaus ehrlich war, ermangelte sie auch keineswegs einer sehr freimütigen Kritik, die namentlich die Forderungen der Wirklichkeit gegenüber meiner Fantasiewelt vertrat und mich auch damit nur günstig beeinflusste. Nicht viel später als der herbe Weirauther schloss sich der Musikschüler Richard Weinhöppel freundschaftlich an mich an. Aus kaum weniger kleinen Lebensverhältnissen her­ vorgegangen als jener, war er eine wesentlich andere, weich-lyrische und anschmiegsame Natur. Seine allgemeine Vorbildung war nur fragmentarisch, aber was ihm da fehlte, ersetzte er durch autodidaktische Gewandtheit und schöpferische Fantasie. Ich verlebte mit ihm genussreiche Stunden; persönlich liebens­ würdig, hatte er zudem etwas Genialisches, vor allem als Tondichter, obschon auch da seine Ausbildung be­ grenzt blieb; quellfrische Begabung und Gefühls­ Intuition ersetzten bei ihm das Schulmässige. Äusser mit Weirauther und Weinhöppel verkehrte ich aber noch mit einer ganzen Reihe anderer Konservatori­ sten; da war der junge Charakterspieler Max Bayrhammer, der später eines der beliebtesten Mitglieder des Frankfurter Stadttheaters geworden ist, der Lieb­ haber-Kandidat Hermann Kreling, ein Enkel Wilhelm Kaulbachs und Sohn des Faust-Illustrators August Kreling, der einzige von uns, der sich damals üppi­ gerer Lebensverhältnisse erfreute; dann der trocken7

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humorvolle Bassist Benno Späth; ausserdem noch allerlei andere angehende Künstler, unter letzteren auch der nachmals als Pianist zu Ansehen gelangte, still-fleissige, ganz auf seine Studien konzentrierte August Schmid-Lindner. Die grosse Mehrzahl dieser Konservatoristen pflegte sich schon vormittags zum Bock-Frühschoppen im «Franziskaner», gegenüber der Hauptpost, zusammenzufinden, und abends eben dort oder in der schönen Jahreszeit auf einem der zahl­ reichen, durch das Grün der Bäume und Hollunder­ büsche ländlich anmutenden Bierkeller des rechten Isarufers. Der Ton unter den Zechgenossen war so ausgelassen wie möglich und Berichte über erotische Abenteuer lockerster Art nahmen in der Unterhaltung einen breiten Baum ein. Bei aller Derbheit und allem Leichtsinn bewahrten diese jungen Männer doch auch ihre begeisterte und begeisternde Freude an der Kunst, und man fand sich oft in geschlossenen Lokalen zusammen, um in deklamatorischen, gesanglichen und pianistischen Vorträgen zu wetteifern. In der ersten Zeit unseres Verkehrs nahm ich eine förmliche Or­ ganisation dieser Veranstaltungen in die Hand, die neugegründete junge Künstlergesellschaft erhielt einen hochpoetischen Namen: «Musenhort», unter Anspielung auf eines meiner allerersten Gedichte, in dem der deutsche Wald als «Hort der Musen» gepriesen war. An Ostern, wenn die Tätigkeit der jungen Schau­ spieler und Sänger an den kleinen Provinzbühnen zu Ende war, pflegten auch eine Anzahl von ihnen regelmässig in München einzutreffen und unseren Kreis aufzusuchen, in dem sie diesen oder jenen Freund hatten. Man feierte dann das Wiedersehen durch festliche Lenznacht-Gelage, die in einem Säl­ chen der um diese Zeit von profanen Gästen nicht gestörten Bestauration Dianabad im Englischen Gar­ ten stattfanden. Auf gemeinsame Kosten wurde da immer ein Fass Bier erstanden, an dem jeder sich selbst sein Glas füllen konnte. Mit den Gästen von auswärts fand sich damals auch der später als 98

Bühnenschriftsteller zu Ansehen gelangte Wiener Karl Rössler ein; er hatte zu jener Zeit nur den Schauspieler im Sinn, ohne doch als solcher sonder­ lichen Ehrgeiz zu zeigen, vielmehr gab er sich mit einer weichen Lässigkeit ganz seinen Augenblicks­ stimmungen hin und sein eigenartig müder, halb ver­ schleierter Humor machte ihn zu einem der mar­ kantesten und beliebtesten Glieder der Runde. Aufs Lebhafteste hat sich mir noch das Erinnerungsbild erhalten, wie er sich einmal zu Beginn eines solchen Frühlings-Symposions, als laubbekränzter Bacchus in Hemdärmeln auf das hereingerollte Fass setzte und jeden feierlich schwören liess, nicht eher von der Stelle zu weichen, bis der letzte Tropfen vertilgt wäre. Dies geschah übrigens auch ohne Schwur regelmässig und es fehlte nicht an schweren Räuschen, die bei der Entlegenheit des Ortes für viele recht unan­ genehm wurden. Als ich einmal mit den sieben sesshaftesten Teilnehmern in der Morgendämmerung aufgebrochen war, purzelten fünf von ihnen der Reihe nach links und rechts in das Maiengras des Englischen Gartens. Die letzten — einer von ihnen war der Bassist Späth — kamen dann noch mit mir an die Residenz, wo Späth zu den Füssen des Wacht­ postens niederfiel und diesen dann, wie ich nach­ träglich erfuhr, immerfort lallend frug: «Is der Ba­ ron scho furt?» «Baron» nannte mich kurzweg der ganze Kreis, so wenig ich mich dort in irgend wel­ chem Betracht baronmässig gab. Bei einem anderen solchen Heimweg von dem Gelage waren Rössler und ich die einzigen «Ueberlebenden»; und Rössler ver­ fiel dabei auf die Idee, von der Anschlagtafel des Hoftheaters den Theaterzettel durch die Maschen des darübergespannten Drahtnetzes Stückchen um Stück­ chen mit ebensoviel Kunstfertigkeit als Ernst heraus­ zuzupfen. Sobald mein Vater erkannt hatte, dass ich meiner ganzen Art nach nicht für die Adelskreise taugte, nahm er mich in die «Bürgersängerzunft» mit, und 99

ich fand dort an dem schlichten, gesund-tüchtigen und sangesfröhlichen Bürgertum solches Gefallen, dass ich mich selbst als aktives Mitglied anmeldete und an einem der alljährlichen zeremonienreichen Stiftungsfeste im fichtenbekränzten Saal des Löwen­ bräukellers mit anderen «Lehrlingen» eingezünftet wurde. Die Treffprobe, die ich als Sänger der ersten Bass-Stimme abzulegen hatte, machte mir keine Schwierigkeiten, und meine dichterische Prüfungs­ arbeit, ein Preislied auf die Musik, hatte es gegen­ über den weniger versgewandten Leistungen meiner Konkurrenten natürlich nicht schwer, als leuchtendes Muster seiner Gattung anerkannt zu werden. Ich besuchte dann regelmässig mit dem Vater die wöchent­ lichen Gesangsproben und sang wacker in den ver­ schiedenen Konzerten der Zunft mit; meine Vorliebe für den Männerchor, die mir dauernd geblieben ist, entstand in dieser Zeit meiner aktiven Sängerschaft. Sie verstärkte auch meine Neigung zu eigenen Kom­ positionsversuchen, und mein Vater, stets mehr auf allseitige Förderung bedacht als skeptisch über­ legend, schlug mir vor, ich solle beim Zunftdirigenten Schwaiger theoretischen Unterricht nehmen. Aber sei es, dass er für mich nicht der geeignete Lehrer war, sei es, dass meine Art der rein technischen Seite der Musik widerstrebte: ich erwies mich in der kläglichsten Weise begriffstutzig. Das war für mich nicht ohne ernstliche Bedeutung, denn bisher war ich bei meinen lebhaften und ursprünglich musikalischen Neigungen immer in halber Unsicherheit geblieben, ob ich nicht mehr zum Musiker als zum Poeten ge­ schaffen wäre; die schlimmen Erfahrungen des Unterrichtsversuches nahmen mir den letzten Zwei­ fel, und ich warf mich nun in meinen Mussestunden mit ungeteilter Kraft auf dichterische Entwürfe. Noch im Jahre 1885 war das siebenaktige, doch im Ausmass nicht abnorme Trauerspiel «Die Könige» entstanden. Der alttestamentarische Bericht über die göttliche Verwerfung des König Saul durch den 100

Mund Samuels und der vergebliche Kampf des stolz Trotzenden gegen den gottbestimmten jungen Nach­ folger David hatte meine Phantasie schon auf der Volksschule stark beschäftigt, und die bezüglichen Bilder der Dore’schen Bibel hatten diese lebhaften Vorstellungen um manche charakteristische Züge be­ reichert. Dazu war nun allerlei persönliches Erleben gekommen, das mir den alten Stoff auch seelisch zu eigen gab. So ernst ich das protestantische Kirchen­ dogma bis zu meiner Konfirmationszeit und noch eine Weile darüber hinaus genommen hatte, in meinen letzten Pagenjahren konnte ich es nicht mehr gegen meine Vernunft und wachsende Lebenseinsicht ver­ teidigen: und wie so viele junge Menschen der Uebergangszeit empfand ich diesen Abfall vom alten Glauben wie auch den Bruch mit anderen Elementen strenger Ueberlieferung und Sitte, der sich beim Eintritt ins reale, von materialistisch - naturwissen­ schaftlicher «Aufklärung» beherrschte Leben von selbst ergab, mehr als Schuld denn als Befreiung; dazu kam noch, als gleichzeitiges und einigermassen ana­ loges Erlebnis, der mit der vollen Geschlechtsreife verbundene Verlust der kindlichen Naivität, der sich einem empfindlichen Gemüt wie dem meinen, zu­ nächst auch mehr als ethische Einbusse, als «Ver­ treibung aus dem Paradies» dargestellt hatte, denn als naturgemässes Entwicklungsmoment. Alle diese selbstgeschauten Kontraste und selbstdurchkämpften Zwiespalte lieferten mir seelisches Stimmungsmaterial für den König Saul, der sich trotz der «Verworfen­ heit» auf seiner Höhe behaupten will; sie gaben mir die Möglichkeit, diese überlieferte Gestalt innerlich zu erleben, wiewohl dann natürlich der in mir angesam­ melte Gefühlsstoff eine entsprechende Umbildung er­ fahren musste, und ich den objektiven Blick für die besonderen Erfordernisse des Gegenstandes niemals verlor. Wie ich den tragisch endenden Saul mit meiner Melancholie und meinem Trotze erfüllen konnte, so gab mir der Gegenstand auch Gelegenheit, 101

in die Gestalt des David meinen kindlich-romantischen Idealismus und Optimismus von ehedem zu legen und hier die Entwicklung bis zu dem Punkte zu verfolgen, wo David nach Kämpfen, Leiden und Enttäuschungen als bejubelter Sieger und neuer König selbst von der Schwermut menschlicher Reife beschattet wird. Aus beiden Charakterentwicklungen zusammen ergab sich mir dann ganz von selbst als wehmütig überschauende Gesamtidee die Tragik der Zeit, die den Jün­ geren zum Kampfe gegen den vordem verehrten Alten zwingt, der sich nicht verdrängen lassen will, und die dann doch auch dem jungen Sieger nur eine Dornenkrone aufs Haupt drückt, auch ihm das Todes­ urteil der allgemeinen Entwicklung schon mit auf den Weg gebend. Ich vertraute das fertige Stück Freund Weirauther an, und dieser fand es so aussichtsvoll, dass er mir vorschlug, er wolle das Manuskript ohne Nennung meines Namens dem ihm freundlich ge­ wogenen Hofschauspieler und Regisseur Wilhelm Schneider mit der Bitte um Beurteilung übergeben. Ich willigte ein, und der Plan wurde unter voller Wahrung meines Incognitos ausgeführt. Schon nach wenigen Tagen konnte Weirauther mir die gute Nachricht bringen, dass der allgemein geschätzte Wallenstein-Darsteller und damals an der Hofbühne sehr einflussreiche Spielleiter das Stück als die Ar­ beit einer bedeutenden Begabung bezeichnet habe, dass er, daraufhin über mich und meinen 19 Jahre aufgeklärt, höchlich erstaunt gewesen sei, da er auf einen Autor in reifen Mannesjahren geraten hatte, und dass er mich nun baldigst persönlich kennen zu lernen wünsche, um mir den Weg zur lebendigen Bühne zu ebnen. Natürlich ging ich schon am näch­ sten Tage zu ihm, in seine elegante-behagliche Woh­ nung an der Maximiliansbrücke. Ich hatte ihn vor­ her nur als Darsteller gekannt und nach Verdienst gewürdigt, er machte mir aber auch als Mensch so­ fort einen durchaus gewinnenden Eindruck. In sei­ nem Wesen mischten sich künstlerische Begeisterungs­ 102

fähigkeit und Intelligenz mit der realistischen Lebens­ tüchtigkeit des Norddeutschen und einem gesunden Humor. Er begrüsste mich herzlich und bestätigte mir in lebhafter Aussprache alles, was Weirauther mir berichtet hatte; freilich aber meinte er dann, mein Drama sei bei all seinen Vorzügen zur Ein­ führung eines jungen Dichters an der Münchener Hofbühne nicht geeignet, wegen der Abneigung des Publikums gegen biblische Stoffe, und er müsse mir daher raten, meine Kraft an einem andersartigen Gegenstand zu erproben; fiele das neue Werk dann dichterisch und dramatisch ebenso gut aus, so werde es ihm nur ein grosses Vergnügen sein, persönlich für die Verwirklichung einzutreten. Ich nahm also mein Manuskript zurück und empfahl mich mit aufrichtigem Danke für die Teil­ nahme, den guten Rat und die verheissene Förderung. Als ich wieder auf der Strasse stand, kam aber trotz allem eine bittere Enttäuschung über mich. Halb un­ bewusst hatte ich gehofft, ein Stück, das in solcher Weise sich die Anerkennung eines hilfsbereiten Theatermannes eroberte, müsste doch auch Aussicht auf Verwirklichung haben; die erhaltene Aufklärung, dass selbst ein Institut ersten Ranges Rücksicht auf die jeweiligen Liebhabereien des Publikums zu nehmen hätte, war meiner schlicht-idealistischen Auffassung völlig neu und erfüllte meinen noch eben so vertrauensseligen Sinn mit schwärzestem Miss­ trauen gegen die gesamte öffentliche Kunstpflege, ja mit Ekel und mit der heftigsten Unlust, mich in dieser Richtung weiter zu bemühen. Der praktische Wei­ rauther, dem gegenüber meine desperate Gemüts­ stimmung dann leidenschaftlichsten Ausdruck fand, wusch mir zwar gehörig den Kopf, erklärte, ich könnte mit solchem Anfang überaus zufrieden sein, und ich wäre ein Narr, wenn ich darauf nicht angelegentlichst weiter bauen wollte; aber weder seine guten Gründe noch mein eigenes Gerechtigkeits­ gefühl halfen mir über den niederschmetternden 103

Eindruck hinweg, dass auch das vornehmste Kunst­ institut nicht so frei über den Tagesströmungen thronte und wirkte, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich pflegte daher die zu Schneider gewonnene Be­ ziehung nicht sogleich weiter, und dachte nicht daran, meinen Kopf nach irgend einem Stoffe zu zergrübeln, der dem gegenwärtigen Publikumsge­ schmack genehm sein könnte; im Gegenteil war das nächste Motiv, das ich aus eigenster, innerer Nei­ gung anfasste, abermals ein biblisches. Wie die Ge­ stalten Sauls und Davids, so war auch die proble­ matisch düstere und seelisch zerrissene des «Richters» wider Willen Simson meiner Phantasie schon seltsam frühzeitig lebendig geworden. Und die effektvolle Vergegenwärtigung auch dieser Gestalt durch die Zeichnungen Dorés hatten mein Interesse an seinem legendären Schicksal noch gesteigert. Die nötige per­ sönlich-innere Beziehung zu dem althebräischen Herkules und die tiefere ideelle Deutung des Vor­ gangs gewann ich aber erst damals, denn nun er­ schien mir Simson als eine Verkörperung meines eigenen Trotzes gegenüber jeder Bestimmung von aussen her, die mich in den Dienst einer für mein Urteil minderwertige Menge zwingen wollte: eines Trotzes, von dem ich aber zugleich fühlte, dass er bei aller individuellen Berechtigung, an den grossen Zielen der Allgemeinheit und eben damit auch an meinen letzten eigenen Zielen sich versündigte. So tauchte mir zum ersten Male die Idee des nicht nur äusseren, auch persönlichst inneren Konflikts zwischen Einzelwesen und Gesellschaft auf, und Simson, der zuletzt trotz alledem der Allgemeinheit dienen muss, wurde mir zum Symbol dieses Kampfes und seiner Entscheidung. Als mir das Drama, das ich teils in Blankversen, teils in Prosa schrieb, bei der Aus­ führung über den Bau eines Einzelstücks hinaus­ strebte, überliess ich es ruhig seinem Wachstum, bis es eine «Dilogie» geworden war; dass die augenblick­ lichen Aussichten für die Bühne damit noch gründ­ 104

licher verdorben wurden, als sie durch den Bibel­ stoff schon in Frage gestellt waren, kümmerte meine Schaffenslust nicht, so sorgfältig ich in jedem anderen Betracht die Möglichkeiten und Erforder­ nisse des Theaters im Auge behielt. Als das neue Opus vollendet war, fühlte ich mich erleichtert und befriedigt und legte das Manuskript in eine Schub­ lade. Ich war durchaus nicht gesonnen, es mir durch den vergeblichen Kampf um eine Aufführung ver­ ekeln zu lassen. Die «Könige» aber wurden damals bei einer Veranstaltung des «Musenhort»-Kreises mit verteilten Rollen rezitiert; die Harfenbegleitung zu den Gesängen Davids hatte Julius Schweitzer recht stimmungsvoll komponiert und spielte sie als melo­ dramatische Begleitung auf dem Klavier. Mir be­ deutete jene bescheidenste Art von Wiedergabe immerhin eine objektivierende Verwirklichung, die mich über die drückende Empfindung unfruchtbaren Schaffens einigermassen hinweghob. Ich bedurfte dieses Surrogats um so dringender, als mein dra­ matischer Gestaltungstrieb mich damals, im Winter 1885/86 mit fieberhafter Rastlosigkeit ein Gebilde nach dem andern aus mir hervorwerfen liess. Unmittelbar nach dem «Simson» entstand das phantastische Mysterienspiel in Prosa «Das Ende». Ohne damals noch etwas von Nietzsche zu wissen, verkörperte ich darin in dem Weltkaiser aus eigenem Denken heraus bereits den über Gut und Böse er­ habenen herrischen «Uebermenschen», aber nicht als Ideal im Sinne Nietzsches, sondern als pathologische Schreckgestalt. Es folgte ein Verstrauerspiel «Jutta», das meine psychologische Nachdenklichkeit aus dem Musäusmärchen «Liebestreue» herausspann. So tief das Stück seiner ursprünglichen Konzeption nach in die Mysterien des Menschlichen eindrang, blieben bei seiner knappen Form die ideelen Absichten doch mehr nur zwischen den Zeilen als hinreichend aus­ geprägt, und so fand sich auch bei wohlwollenden Freunden kein rechtes Verständnis dafür. Aehnlicb 105

ging es einem Zweiakter in Versen «Tannhäuser»... Schon diese Dichtung, mit ihren gedankenlyrischen Monologen stand formal unter dem Einflüsse Byrons, den ich um jene Zeit kennen und lieben gelernt hatte. Ebenso liess ich, durch das Vorbild Byrons ermutigt, den dramatischen Vorgang durch lyrische Elemente überwuchern in der «Triologie des Todes», einem Cyklus dreier Einakter, die das Todesproblem im Lichte verschiedener Weltanschauungen — des reli­ giösen Jenseitsglaubens, des sehnsuchtsvollen künst­ lerischen Idealismus und der heidnisch-resignierten Weltfreude — gestalten wollte. Alle drei Anschau­ ungen trug ich damals in mir, von einer zur anderen schwankend, und es trieb mich, jeder ihren beson­ deren Ausdruck zu geben. Für die religiösen Jen­ seitsschauer des «Tithon» bot sich mir der deutsche Friedhof ganz von selbst als szenische Basis, und war es im Grunde der alte südliche Friedhof Mün­ chens, den ich dabei innerlich sah. In dem zweiten, «Ein Abendlied» genannten Einakter, sprach sich mein jugendliches Verlangen nach der verstehenden weiblichen Seele aus. Als der «Tithon» in meinem künstlerischen Freundeskreise bekannt wurde, fand er lebhaftes Interesse. Schweitzer schrieb sogleich eine melodramatische Musik von eindringlichem Stimmungsreiz dazu. Eine Rezitation fand dann statt, die Mehrzahl der Hörer zeigte sich ergriffen, freilich aber hielt es ein zufällig in den abendlichen Kreis geratener, mit meinen Eltern gut bekannter Psychia­ ter für seine Pflicht, meinen Vater auf den, wie er meinte, pathologischen Charakter meiner «Friedhof­ schwärmerei» aufmerksam zu machen: womit er in­ dessen keinen Glauben fand. Es blieb übrigens nicht bei dieser einen Rezitation; später schrieb auch Theo­ dor Sachsenhauser eine Musik zu dem Stückchen und es wurde dann im vornehmen Künstlerheim Her­ mann Kaulbachs rezitiert, der durch seinen Neffen Kreling dafür interessiert worden war. In späterer Zeit, als ich schon nicht mehr in München weilte. 106

folgte dann noch eine öffentliche konzertmässige Wiedergabe des «Frühlingsmärchens» (des letzten Stückchens des Cyklus) mit stattlicher Aufführung der Sachsenhauser’schen Chöre. Nach dieser letzteren Veranstaltung sprach sich auch die Tageskritik sehr anerkennend aus. Meine üppige Produktivität und die lustigen Ge­ lage mit den Kameraden vom Konservatorium, hiel­ ten mich indessen nicht ab, auch den literarhistori­ schen Studien bei Bernays mit vollem Eifer obzu­ liegen. Bald trat ich auch in den engeren Kreis seines Seminar-Privatissimus, wo seine geistreichen und künstlerisch-einsichtsvollen Analysen der HelenaSzenen des zweiten Faust und der Goethe’schen Lyrik, namentlich die von ihm angestellten kritischen Ver­ gleiche der verschiedenen Fassungen, die der Alt­ meister ein und demselben Gedicht in früherer und späterer Lebenszeit gegeben, mich aufs Lebhafteste fesselte. In dem Studentenkreise, der sich da in der geräumigen Wohnung des Gelehrten an der Für­ stenstrasse vormittags zusammenfand, nahmen der Lyriker und nachmalige «Jugends-Redakteur Albert Matthäi und Julius Elias, der spätere Mitschöpfer der deutschen Ibsen-Ausgabe, eine bevorzugte Stellung ein. Wenn es galt, Goethe’sche Verse vorzulesen, ersuchte Bernays regelmässig «seinen lieben Matthäi» um die Vollführung dieser heiligen Handlung, und Matthäi brachte dann auch die betreffenden Gedichte oder Szenen mit subtilster Sprechtechnik und in feier­ lichem, in jeder Silbe schwelgendem Aesthetenton zu Gehör: welche verkünstelnde Art freilich meinem bei aller eigenen Goetheverehrung Schlichtern Geschmack nicht recht zusagte. Meine Verehrung für Bernays fand ihren Aus­ druck in der persönlichen Widmung eines Versdramas «Velleda», das ich nach der Trilogie des Todes ent­ worfen und in schneller Niederschrift vollendet hatte. Die im Dämmerlicht der Sagenhaftigkeit verschwim­ mende Gestalt der gefeierten altgermanischen Sehe107

rin sollte da die Tragik einer überragenden Intelli­ genz symbolisieren, die den Anschauungen ihrer Zeit vorauseilt. Um jene Zeit waren, im schärfsten Kontrast zu der materialistischen «Aufklärung», die der ebenso gewaltige als einseitige Aufschwung der Naturwissen­ schaften mit sich gebracht hatte, und als Gegen­ extrem zu ihr der Somnambulismus, Spiritismus und Mesmerismus nach längerer Zurückgedrängt ­ heit zu neuem und überraschend starkem Leben er­ wacht. Die Entdeckung und notgedrungene Anerken­ nung der hypnotischen Suggestion, deren Wunder damals die breiteste Oeffentlichkeit in Staunen setz ten, und die in manchen Fällen ebenso unleugbaren Heilerfolge des animalischen Magnetismus, gaben bei dem wahrscheinlichen Zusammenhang aller dieser dunklen Gebiete auch den kühnen Jenseitsbehauptun­ gen der Spiritisten so viel Glaubwürdigkeit, dass sich das metaphysische Bedürfnis der Gebildeten mit Feuereifer aufs Tischrücken und alle sonstigen Aus­ beutungen des «Mediumismus» warf, um auf diesem Weg Beweise für das persönliche Fortleben nach dem Tode zu gewinnen. Zudem hatten sich damals verschiedene angesehene Männer von naturwissen­ schaftlicher und philosophischer Bildung einer wis­ senschaftlichen Untersuchung dieser Phänomene zu­ gewandt. In München war es vor allem Karl du Prel, der in zahlreichen Schriften den Okkultismus propa­ gierte und in seiner «Gesellschaft für wissenschaftliche Psychologie» Gleichstrebende um sich versammelte; neben ihm hatte der Nervenarzt Alfred von SchrenckNotzing eine «Psychologische Gesellschaft» gebildet, die sich zwar der Oeffentlichkeit gegenüber nur zum Studium des Hypnotismus bekannte, im stillen aber auch mediumistische Forschung trieb. Bei den unent­ wegt materialistischen Spöttern ging damals über die Mitglieder der beiden Gesellschaften das Witzwort um, die einen seien die «Geprellten», die anderen die «Beschränkten»! — Ich selbst hatte um das Jahr 108

1886 mit diesen Zirkeln der Okkultisten noch gar keine Fühlung, wohl aber war mir damals bereits das Tischrücken der Glaubensspiritisten nahegetreten, und zwar durch meine Tante M. Diese hatte nicht nur merkwürdige Fähigkeiten als Heilmagnetiseurin an sich entdeckt, auch eine starke mediumistische Veranlagung. Später traten freilich auch Erscheinun­ gen weniger erbaulicher und angenehmer Art bei der Tante auf; Stühle und andere Einrichtungsgegen­ stände gerieten in ihrer Nähe in spukhaft automa­ tische Bewegung. Um sich Ruhe zu schaffen, gab sie dann mit kräftigem Entschluss ihre mediumistischen Tischgespräche auf, und damit verschwand auch aller sonstiger Geisterspuk... Der entschiedenste Gegner und spottlustigste Zweifler von uns allen war damals ich selber, trotz der Erinnerung an jene rätselhaften Erscheinungen vor dem Tode der Gross­ mutter und trotz der metaphysisch-idealistischen Grundstimmung meines Wesens, jawohl gerade we­ gen dieser Veranlagung; erschien mir doch das Trei­ ben der Spiritisten, wie eine abgeschmackte Profa­ nierung höherer Sphären. Gewohnt, allem, was mich stärker bewegte, dichterische Gestalt zu geben, schrieb ich das Schauspiel «Die Spiritisten», dessen anti­ spiritistischer Held meine eigenen damaligen Anschau­ ungen vertrat. Freilich war das Stück unbeholfener als meine Versdramen. Trotz dieser Mängel veran­ stalteten meine Freunde vom Konservatorium eine richtige Aufführung des Stückes vor geladenen Gästen. Da das Publikum vorwiegend aus befreundeten Per­ sonen bestand, fehlte es nicht an reichlichem Beifall, doch wusste ich selbst am besten, dass mir kein Meisterwerk gelungen war. Schon etwas leidlicher als in den «Spiritisten» glückte mir der moderne Dialog in dem umfangreicheren Drama «Das Hei­ lige», das mit aller Schärfe und Entschiedenheit meine neugewonnenen Anschauungen über das Reli­ gionsproblem dramatisch zu gestalten suchte. Als das Drama niedergeschrieben war, hatte ich meine Ver­ 109

Stimmung dem Hofschauspieler Schneider gegenüber bereits überwunden und brachte ihm das Manuskript, um mir dann eine Woche später sein Urteil zu holen. Er versicherte mir, das Stück habe ihn gewaltig erregt, er habe es in einem Zuge bis tief in die Nacht hinein gelesen und in seinem Bann noch schlaflose Stunden verbracht. Allein — es sei so «wild-revolu­ tionär», dass an eine Aufführung an der Münchener Hofbühne gar nicht zu denken wäre! Auf diese Art abermals von der Schwelle des praktischen Theaters gewiesen, zog ich mich eine zeitlang wieder ganz auf mich selbst zurück. Neben einem modernen, realistischen Zweiakter «Ein Mann», der die Gesinnungsstrenge eines straffen Charakters gegenüber kompromisselnder FamilienWeichlichkeit zu den äussersten Konsequenzen führte, und einer skiz­ zenhaften altnordischen Operndichtung in freien Rhythmen «Ogir», schrieb ich dann das fünfaktige, romantische Volksdrama «Die Pestjungfer». Die stoff­ liche Anregung zu diesem teils naturalistischen, teils legendär-phantastischen Stück, gab mir die dunkle Erinnerung an eine Erzählung im Chronikstil aus dem letzten Jahrzehnt des dreissigjährigen Krieges, die ich als Knabe gelesen hatte. Ich arbeitete an dem Stück mit besonderer Hingabe und der Rausch meiner Einbildungskraft entrückte mich während der Niederschrift dermassen der Wirklichkeit, dass ich oft, wenn ich auf meiner Stube in später Stunde die Feder weglegte, mich kaum im Gegenwärtigen zu­ rechtfand, in seltsamstem Zustand die Treppe hinab auf die Strasse taumelte und erst nach längerem Gang durch die Nachtluft wieder «normal» wurde. Für mein neues Opus interessierte sich namentlich der junge Kreling, der mich damals wiederholt in die Wohnung seiner freundlichen Mutter einlud. Wir sassen da bei einer Flasche edlen Rheinweins und besprachen die schauspielerischen Möglichkeiten des Stückes, wobei er mit Vorliebe als unheimlicher Oswald die Ballade von der Pestjungfer deklamierte: 110

«Flatterndes Schwarzgewand, flammrotes Tuch, Augen voll Grimm und Hände voll Fluch — Kennt Ihr die Maid, vom Himmel gesandt? Pestjungfer zieht durch das Landl»

Trotzdem musste ich aber den Zweifeln Weirauthers recht geben, der mich auf die grosse Schwie­ rigkeit hinwies, bei einer Aufführung die Mischung aus derbstem Naturalismus und Märchenhaftigkeit widerspruchsfrei zur Geltung zu bringen. Ich liess daher auch dieses Stück liegen, ohne einen prak­ tischen Versuch damit zu machen; von einem solchen wurde ich auch übrigens dadurch abgelenkt, dass ich gleich nach der Vollendung der «Pestjungfer» schon wieder mit Feuereifer bei der Niederschrift einer neuen, völlig andersartigen Bühnendichtung war. Es handelte sich um das Versschauspiel «Odysseus auf Ithaka», das eine Huldigung für den mir so lieben Vater Homer, zugleich aber auch ein allgemein menschliches Drama in meinem eigensten Sinne wer­ den sollte. Ich deutete nämlich die Irrfahrten des geistig hervorragendsten unter den Helden von Troja als egoistisch absichtliche Abenteuererzüge, liess den durch Enttäuschungen und Leiden vorzeitig gealter­ ten, verbittert und abgestumpft in die verschmähte Heimat zurückkehren, dort aber zur Erkenntnis sei­ ner Torheit und Schuld gelangen und im Kampfe für die verlassenen Seinen Verjüngung und neue Le­ benstüchtigkeit gewinnen. Nach der Vollendung dieses Schauspiels hatte ich mehr als je zuvor das Gefühl, etwas Rechtes gemacht zu haben und den Antrieb, mich um die Bühnenverwirklichung zu kümmern. Mein Vater, der meine günstige Selbstkritik bestätigte, sprach für eine Vervielfältigung des Manuskripts zum Einreichungszwecke. Bald hatte ich ein Dutzend Ko­ pien in Händen, von welchen ich eine sogleich Schneider übermittelte. Schon wenige Tage darauf traf ein Brief von diesem ein, worin er mich zu dem Werk aufs Herzlichste beglückwünschte, und sich er­ bot, es mit dringender Empfehlung der Intendanz 111

zu übergeben, auch wolle er im Falle der Annahme, die er zuversichtlich erwarte, die Hauptrolle kreieren. Natürlich ermächtigte ich ihn sofort mit Freuden zu der Einreichung, und nach kurzer Frist teilte mir ein offizielles Schreiben der Intendanz mit, dass mein Schauspiel von der Hofbühne für die kommende Spielzeit zur Aufführung angenommen sei. Um den Eindruck dieser Nachricht auf mich, meine Familie und alle, die davon erfuhren, recht beurteilen zu können, muss man wissen, was sie zu jener Zeit bedeutete. Die Revolution in der deutschen Literatur, die dann ein Lustrum später die jungen Begabungen zu Ehren brachten, war damals noch ferne; wer da an einem Hoftheater vom Range des Münchener Musentempels zu Wort kommen sollte, musste nicht bloss allen Regeln eines konservativen Epigonentums genügen, man pflegte auch zu ver­ langen, dass er in vertrauenswürdigem Schwabenalter stünde, vor allem aber, dass er durch anerkannte Grössen der Epigonen-Dramatik beglaubigt wäre. Urid nun hatte ich unbekannter und literarisch unbeglau­ bigter Zwanzigjähriger nur durch die Empfehlung eines Schauspielers unterstützt, ganz dasselbe für ein Stück erreicht, das zwar dem Stoffe nach für klassi­ zistisch gelten, aber gerade durch das Anspruchsvolle dieser Stoffwahl und noch mehr durch die Umdeu­ tung des homerischen Helden verletzen konnte! Die Familienfreude über diesen meinen ersten praktischen Sieg war denn auch so gross, dass mein Vater den Impuls hatte, den Tag festlich ausklingen zu lassen. Er besorgte uns Karten für das Gärtnerplatztheater; für die trivial-ulkige Handlung des aufgeführten Stücks hatte ich, in Zukunftsträume versunken, wenig Auf­ merksamkeit, aber ich war glücklich, diesen Abend in einem Theater verbringen zu können, und die alle­ gorischen Gestalten des Vorhangs schienen ihren Rei­ gen im himmlischen Blau für mich ganz im besonderen zu tanzen. Bald nachher las der junge Komponist und Rheinberger-Schüler Walter Petzet, ein Sohn des 112

Hauptschriftleiters der Münchener «Allgemeinen Zei­ tung», mein Odysseus-Schauspiel und erwärmte sich dermassen dafür, dass er nicht nur meiner Anregung folgte, das Lied des Phemios mit Harfenbegleitung zu vertonen, sondern auch noch eine Ouvertüre für grosses Orchester zu dem Stücke schrieb, deren Wid­ mung Meister Rheinberger annahm und die von der Hofbühne zur Mitaufführung bestimmt wurde. Bei solcher Verknüpfung mit dem Namen des allgeschätz­ ten Kontrapunktikers und der angesehenen Familie Petzet und bei der Begeisterung, die äusser Schnei­ der, auch die übrigen Mitglieder des Regiekollegiums und der Intendant für mein Schauspiel zeigten, schien dessen glückliche Zukunft sicher ... Ich begleitete meinen Vater öfters in den Kreis der «Meister des deutschen Hochstifts», deren Ehren­ präsidium Hermann Lingg angenommen hatte, die freilich in der Mehrzahl nur Dilettanten waren; bald trug ich dort auch eigene Gedichte vor, und da der Gedanke, mich trotz meiner Jugend zum gleich­ berechtigten Genossen vorzuschlagen, bei den würdi­ gen Graubärten lebhafte Akklamation fand, war ich bald im Besitze der feierlichen Aufnahmsurkunde und sass als Meister mit an ihrer Tafelrunde. Lingg, der mir neben Wilhelm Hertz von den älteren Mün­ chener Lyrikern am bedeutendsten und weit eigen­ wüchsiger als Heyse, Geibel, Bodenstedt und Leuthold erschien, pflegte dem Kreise leider fernzubleiben; nur bei einer einzigen grösseren Veranstaltung fand er sich ein, brachte ein paar Gedichte in seiner ver­ sonnenen stillen Art zum Vortrag und war dann schnell wieder aus der Gesellschaft verschwunden. Mich drängte es, persönliche Fühlung mit ihm zu gewinnen, und so suchte ich ihn in seinem Häuschen, weit draussen an der Nymphenburgerstrasse, auf. Ich traf seine treue, junge Verehrerin Frieda Port bei ihm; in bescheiden weitem Abstand von seinem Lehn­ stuhl sass sie schweigsam, die leuchtenden, dunklen Augen unablässig auf das von silbernem Haarbusch 8

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gekrönte Haupt ihres Dichters geheftet, und ich hatte den Eindruck, dass die beiden schon längere Zeit in dem selben beschaulichen Schweigen verbracht haben müssten. Freundlich begrüsst, fand ich für meine Wünsche nicht ganz die rechten Worte, doch immer­ hin Gelegenheit, Lingg meine lyrischen Erstlinge, die ich damals zu einem recht umfangreichen Manu­ skriptband gesammelt hatte, zu übergeben und ihn um rückhaltlose Beurteilung zu bitten. Er versprach mir das auch und stellte mir anheim, mich eine Woche später wieder bei ihm einzufinden. Bei diesem zweiten Besuch traf ich ihn allein. Schon aus seinen ersten Bemerkungen ging überzeugend hervor, dass er sich tatsächlich die Mühe genommen hatte, das ganze Buch durchzusehen, sein Gesamturteil lautete aber nicht gerade ermutigend. Er erklärte mir, die grosse Mehrzahl dieser Gedichte zeige wohl formale Fertigkeit, aber noch kein eigenes Gesicht; die ur­ sprüngliche Begabung, auf die es ankomme, habe er nur in einem Zyklus gefunden, in dem ich das Hohe­ lied Salomonis in eine Folge von Reimgedichten um­ gegossen hatte. Später erschien mir dieses Urteil zu­ treffend und obendrein noch sehr milde, denn als ich zwei Jahrzehnte später meinen ersten Gedichtband für die Veröffentlichung zusammenstellte, fand ich auch jenen Zyklus nicht der Aufnahme wert, von den anderen Sachen ganz zu schweigen. Dass ich mich damals über die Bedeutung des Vorgelegten dermas­ sen täuschen konnte, war insofern erklärlich, als ich seit 1885 meine ganze Kraft aufs Dramatische gewor­ fen und hierin, auch in der dichterischen Formung der zahlreichen lyrischen Stellen meiner Jugend­ dramen, schon künstlerische Fortschritte gemacht hatte, während meine kleine Lyrika noch im An­ fängerstadium verharrt waren. Aehnlich verlief ein Annäherungsversuch an Paul Heyse, in dem ich einen Förderer meiner dramati­ schen Bestrebungen zu gewinnen hoffte. Ich brachte ihm schon vor der Annahme des «Odysseus» meinen 114

«Simson» und mein «Frühlingsmärchen» zur Beurtei­ lung, auch er fand sich bereit und sagte mir dann über das «Frühlingsmärchen», es zeigte in seiner mehr lyrischen Art, dass ich alles Formale bereits be­ herrschte, und dass meiner Jugend nur noch das Er­ leben fehle, das dieser fertigen Form erst den rechten Inhalt liefern müsse; in dem «Simson» «aber stecke ein Dramatiker» ... Nach der Annahme meines Stückes bei der Hof­ bühne sandte ich einen Teil der Kopien an auswär­ tige Bühnen. Von diesen interessierte sich das Wei­ marer Hoftheater und das Zürcher Stadttheater da­ für, wenngleich beide vor einer endgültigen Ent­ scheidung die Uraufführung abwarten zu wollen schienen. Nun aber trat in München eine Wendung ein, die alle meine grossen Erwartungen jäh zunichte machte. Gerade um die Zeit, als man die Einstudie­ rung beginnen wollte, wurde der Serbe Jocza Savits als Schauspiel-Oberregisseur an die Hofbühne berufen, wo er durch rücksichtsloses Auftreten schnell allen Einfluss an sich riss. So musste sich auch mein Gön­ ner Schneider, der bisher im Regiekollegium das grosse Wort geführt, dem Willen des neuen Diktators fügen. Der Eindringling erklärte nun kategorisch mein Drama sei schon stofflich, aber auch in jedem anderen Betracht eine ganz unmögliche Sache, mit der sich die Hofbühne nie und nimmer abgeben dürfe. Trotz Schneiders heftigem Widerspruch und trotz der offi­ ziellen schriftlichen Annahme setzte er durch, dass mir bedeutet wurde, das Stück habe sich als unauf­ führbar erwiesen und man gedenke mich durch die Aufführung irgend eines anderen Stückes zu ent­ schädigen. Wie schwer mich diese in jeder Beziehung unge­ rechte Vergewaltigung traf und welche Wirkung sie auf mein ganzes Innenleben hatte, kann man sich vor­ stellen. Zunächst dachte ich, einfach auf meinen Schein zu bestehen; wohlerfahrene Leute belehrten mich indessen, dass solche Zwangsmassregeln beim 115

Theater aussichtslos wären und nur zu noch schlim­ merer Schädigung des Autors führten. Verachtung für diese Art «vornehmen» Kunstbetriebs erfüllte mich, und sie wurde noch dadurch gesteigert, dass der All­ mächtige bald genug den Münchnern zeigte, wie we­ nig er die Bühnenmöglichkeit eines Werks beurteilen konnte. Die erste Eigentat seiner Diktatur war näm­ lich, dass er sich für die kuriosen Knittelversstücke des Oesterreichers Hans Pöhnl als für Meisterwerke eines Genies einsetzte und dessen «Gismunda» zur Aufführung brachte, die in ihrer überwältigenden, unfreiwilligen Komik der Hofbühne den schmachvoll­ sten Theaterskandal brachte, den sie je erlebt hat. Ich wohnte selbst dieser ersten und letzten Aufführung der fünfaktigen Tragödie bei, in der das ursprünglich dicht gefüllte Haus infolge der unerhörten Lächer­ lichkeit des Eindrucks sich schon nach den ersten Akten bis aufs ulksüchtige Parterre leerte, welch letzteres sich dann mit wüstem Zurufen am Dialog beteiligte. Trotzdem bestand Savits darauf, dass noch alle drei übrigen Akte zu Ende gespielt würden, was von den armen Darstellern äusserste Selbstverleug­ nung forderte. Hermine Bland, die zu der Titelrolle verdammt war, weinte dabei auf der Szene vor Scham, während die Worte gesprochen wurden: . . . «Sie nahmen Heraus das junge Herze ihm, Sie legtens in Pfeffer und Kressen, Und gabens der Liebsten zu essen!»

Dass ich diese Niederlage des Odysseus-Mörders nicht bedauerte, war menschlich, und begreiflich war es auch, dass ich unter dem Eindruck jener denk­ würdigen Aufführung eine Parodie der famosen «Gismunda» schrieb, die sich vielfach auf wörtliche Zitate beschränken konnte, und dass ich sie auf einem Faschingsfest im Kolosseum zur Aufführung brachte. Ich musste nun wenigstens noch den Versuch machen, das Interesse des Weimarer Hoftheaters für meinen «Odysseus» zur festen Annahme zu steigern. 116

So machte ich mich auf den Weg nach Weimar, ging dort sogleich ins Hoftheater, traf aber den Intendan­ ten nicht an; er lag mit einer Verletzung am Bein in seiner ziemlich entlegenen Wohnung. Doch sagte man mir auf dem Sekretariat, das Stück sei so gut wie angenommen und die Excellenz, die bereits Besuche empfange, würde sich freuen, wenn ich die Angelegenheit persönlich mit ihr ins reine bringen wollte. Neuer Hoffnung voll, fuhr ich zu dem Inten­ danten hinaus, fand den stattlichen, graubärtigen Herrn auf einem Feldbett ruhend und sah auf dem Tischchen neben ihm das eingereichte Exemplar des «Odysseus» liegen, was meine Zuversicht fast zu froher Gewissheit steigerte. Nach der Art der Begrüs­ sung schien der Intendant auch wirklich erfreut über mein Kommen. «Sie sehen,» sagte er, indem er das Buch aufgriff und hoch hielt, «wie sehr mich Ihr schönes Werk beschäftigt!» Und dann erging er sich in schmeichelhafteste Lobeserhebungen über den Wert meiner Dichtung. «Nur eines,» schloss er endlich, «eines müssen Sie noch ändern, das aber gar keine Schwie­ rigkeiten macht.» Gespannt frug ich, was er meine. «Tja, sehen Sie — die Idee! Das ist es! Sie haben den antiken Heros ins Menschliche herabgezogen — das darf nicht sein! Der Heros muss Heros bleiben in ganzer altgriechischer Schönheit und Erhabenheit, wie bei Homer! Machen Sie also noch diese kleine Aenderung, und ich werde das Werk mit grösster Freude zur Aufführung bringen.» Ich starrte ihn verständnis­ los an. Die Idee des Stücks sollte ich ändern? Mein ganzes geistiges Eigentum daran sollte ich vernich­ ten — und das erschien dem Manne da vor mir als eine unwesentliche Kleinigkeit? Endlich zwang ich mich zu der diskreten Erwiderung, ich könnte mir das nicht so leicht und einfach vorstellen. «Aber das lässt sich doch alles mit ein paar kleinen Strichen in der Hauptszene machen!», meinte er lächelnd, als hätte er es mit einem schwerfälligen Pedanten zu tun. «Ueberlegen Sie sich’s, und senden Sie mir dann 117

baldigst die neue Fassung, nicht wahr?», damit gab er mir das Buch zurück, und verabschiedete mich aufs Freundlichste. In einer Art von verwirrter Niedergeschlagenheit dampfte ich mit dem nächsten Schnellzug nach Mün­ chen zurück, und erst während der Fahrt kam mir das Groteske des erhaltenen Bescheids zum vollen Bewusstsein. Damit war auch schon mein Entschluss gefasst. Gleich nach meiner Ankunft schrieb ich an den Hüter althellenischer Erhabenheit einen ebenso höflichen wie ironischen Brief, dass ich mir nicht die Fähigkeit zutraue, mein Stück in der gewünschten Weise verbessern zu können, und dass ich daher leider auf die Weimarer Aufführung verzichten müsste. Ein paar Jahrzehnte später sah ich Gerhart Hauptmanns «Bogen des Odysseus» an der Münche­ ner Hof bühne aufführen, dessen erster Akt in der Homer-Dramatisierung sehr ähnlich verfuhr wie mein Schauspiel, nur dass der Held noch viel tiefer «ins Menschliche herabgezogen» wurde. O, dauerhafte Weisheit der deutschen Hoftheater! Blieb also noch Zürich, wo die Rollen des Stücks bereits herausgeschrieben und sogar der Bogen des Odysseus schon angefertigt war; hatte doch der massgebende Regisseur mittlerweile ener­ gisch die Aufführung betrieben, die der Münchener Verwirklichung unmittelbar folgen sollte. Allein die Nachricht vom Unterbleiben der letzteren machte den dortigen Direktor stutzig ... Trotzdem mit dem feigen Rückzug des Zürcher Stadttheaters alle meine stolzen Odysseus-Hoffnungen begraben waren, raffte ich mich zu weiterer dich­ terischer Tätigkeit auf. Zunächst entstand ein vier­ aktiges Trauerspiel in Prosa «Jacopo», zu dem mir eine damalige Zeitungsnotiz die Anregung gab... Der problematische Charakter des französischen Königs Ludwig XI. hatte mich von jeher beschäf­ tigt ... Das «Urphänomen» eines von Gewissensangst, Weltekel und Menschenverachtung gefolterten Un­ 118

glücklichen tauchte vor mir auf, der die eigene innere Pein dadurch zu betäuben sucht, dass er auch seine Mitmenschen leiden lässt... Auf diese Weise gestaltete sich das dreiaktige Schauspiel «Auf Plessisles-Tours». Obschon es dankbare Rollen und wirk­ same Auftritte enthielt, war ich nicht recht damit zufrieden und konnte mich nicht entschliessen, es Schneider zu zeigen, obschon Weirauther es für aussichtsvoller erklärte als den «Jacopo». Das nach meinem Urteil allzu passive und ver­ trauensselige Verhalten meines Vaters in einer Familienepisode ging mir viel durch den Kopf. In meiner Weise entwickelte ich diesen Ideenkreis symbolisierend bis zu den letztmöglichen Folgen: es entstand das vieraktige Prosatrauerspiel «Thorwald» aus der frühmittelalterlichen Geschichte Schwedens, in dem der gütige, edle und hochsinnige Held des Vorgangs wie auch der von ihm beschützte entthronte König an der allzu milden und vertrauens­ vollen Stellungnahme zugrunde gingen. Ich stellte dabei die verhängnisvolle Milde als eine Folge der Kulturverfeinerung durch die Einführung des Christentums dar im Gegensatz zu der robusten Lebensweisheit des Heidentums, das sich in dem grimmigen alten Priester Asbiörn verkörperte. Mein Vater ermöglichte mir die unverzügliche Druck­ legung bei einem Münchener Kommissionsverlag. Nicht gewillt, der Hofbühne die versprochene Schadlos­ haltung für den Wortbruch zu schenken, wandte ich mich dann mit dem gedruckten Buch an Schneider. Dieser erklärte das Stück für entschieden bühnen­ wirksam, interessierte sich auch sogleich für die Hauptrolle und war bereit, sein Möglichstes für die Annahme zu tun. Die Durchsetzung gelang ihm auch, vielleicht weil Savits infolge seiner Niederlage da­ mals kleinlaut war. Man verlangte aber von mir, dass ich dem überaus knappen Dialog erst noch eine etwas breitere Fassung gab: Gewiss eine seltene Forderung für einen jungen Dramatiker, den man 119

sonst nur mit grausamen Strichen zu erschrecken pflegt! Ich kam dem Wunsche nach und benützte die Gelegenheit, das Ideelle noch klarer auszu­ prägen und den Reden da und dort noch mehr dichterischer Schmuck zu geben. Die neue Fassung wurde dann anerkannt und die Aufführung im Residenztheater auf den Dezember des Jahres 1888 festgesetzt. Da das Stück trotz des verbreiterten Dialogs nur zwei Stunden spielte, sollten Molieres «Gelehrte Frauen» den Theaterabend vervollständigen. Schon ehe die Textberichtigung des «Thorwald» von mir verlangt wurde, hatte ich Ibsen ein Druck­ exemplar mit der Bitte um Beurteilung persönlich übergeben. Ich hegte herzlichste Verehrung für den genialen Norweger, der in München dank dem wage­ mutigen Eintreten der Hofbühne für seine ersten gesellschaftkritischen Werke heimisch geworden war; und hier Ende der 80er Jahre das Interesse der literarischen Kreise fast ausschliesslich auf sich konzentrierte. Seine Dramen mit ihrer Tiefgründig­ keit, ihrer künstlerischen Meisterschaft der Kenn­ zeichnung und des Aufbaues rissen mich zur Be­ wunderung hin, ich fand darin eben jene gross­ zügige und ernste Erfassung des Lebens, die meinem eigenen Wünschen und dichterischen Streben als Ideal vorschwebte, und so hoffte ich bei ihm volles Ver­ ständnis, ja vielleicht auch praktische Förderung zu finden; der «Thorwald» aber schien mir seines alt­ skandinavischen Schauplatzes halber für die erste Anknüpfung besonders geeignet. Ich suchte Ibsen schlankweg, ohne vermittelnde Empfehlung vor­ mittags in der Wohnung auf, wurde aber trotz­ dem sogleich vorgelassen. Der untersetzte Mann mit dem graumähnigen Löwenkopfe, der in der pein­ lichen Korrektheit und Wohlabgemessenheit seiner Haltung und Sprachweise mehr wie ein Oberkonsistorialrat als wie ein Dichter erschien, empfing mich mit mechanischer Höflichkeit und erklärte, mein Drama lesen zu wollen, obschon er gerade 120

selbst an einem «S — tück» schreibe. Ich war über­ rascht von der dünnen zierlichen Stimme, die mir das zu Gehör brachte, und die weit eher für einen kleinlich-zaghaften Pedanten gepasst hätte als für den robusten und unerbittlichen Bekämpfer der Ge­ sellschaftslügen und den Dichter des «Brand». Da er mir keinen Stuhl anbot und auch keine Neigung zeigte, sich mit mir in ein näheres Gespräch einzu­ lassen, wollte ich nicht so unbescheiden sein, durch längeres Verweilen ein solches zu erzwingen, dankte für die Gewährung meiner Bitte und ging. Als ich nach der Frist, die Ibsen mir bezeichnet hatte, wiederkam, wurde meine Hoffnung, ihn jetzt weniger zu­ geknöpft zu finden, arg enttäuscht. Er sagte zwar einiges Anerkennendes allgemeinerer Art über mein «S — tück», und, «dass es interessant sein müsse, es auf der Bühne zu sehen»; und es klang mir jungen Brausekopf so kühl und teilnahmslos, dass ich mich zurückgestossen fühlte, nur wieder einen kurzen und förmlichen Dank über die Lippen brachte und mich empfahl. Heute freilich weiss ich aus eigenster Erfahrung, dass man von einem Poeten, der gerade selbst am Werk ist, keine angelegentliche Beschäfti­ gung mit den Arbeiten, Kämpfen und Nöten fremder, junger Kollegen erwarten darf. Um jene Zeit hatte ich den jungen Max Slevogt kennen gelernt, der damals noch die Akademie der Bildenden Künste besuchte und in einer stillen Seitengasse der Maximilianstrasse wohnte. Wir fanden Gefallen an einander, und ich kam oft zu ihm auf seine einsame Stube, um mit ihm künst­ lerische Ideen auszutauschen. Ein trefflicher Klavier­ spieler von ungewöhnlichem musikalischen Verständ­ nis, pflegte er mir dann aus seinem und meinem Liebling Chopin vorzuspielen, auch zeigte er mir seine ersten zeichnerischen Kompositionen, die allerlei Gedanken- und Gefühlswelten, namentlich auch seine Auffassung von dem Stimmungs- und Ideengehalt klassischer Musikwerke mit vornehmem 121

Pathos in reich bewegten visionären Gruppen zum Ausdruck brachten. Später, als Slevogt sich wie so viele andere der Malerei im engeren Sinn virtuosen technischen Experimentierens zuwandte und damit zur Berühmtheit gelangte, konnte ich mich eines Bedauern nicht erwehren, dass er die starke schöpfe­ rische Kraft zur bedeutsamen Versinnlichung des Seelischen und Geistigen, die sich in jenen früheren Entwürfen kund gab, nicht angelegentlich weiter entwickelte. Damals las er auch meinen «Jacopo», und schenkte mir dann eine Bleistiftzeichnung, die den Helden mit der Leiche der Tochter auf den Schultern darstellte; leider ist mir das kleine Blatt im wirren Hin und Her der darauffolgenden Jahre abhanden gekommen. Der junge Slevogt unterschied sich übrigens in jedem Betracht von seinen Studienund Altersgenossen. Auffallend ernsthaft und wort­ karg, hatte er in seinem Wesen garnichts jugendlich Leichtlebiges oder Schwärmerisches oder äusserlich Genialisches, in seiner frühen Bedächtigkeit konnte er der oberflächlichen Beurteilung eher trocken und hausbacken erscheinen; dabei lebte er in punkto Alkohol völlig abstinent, was damals für einen jungen Mann noch etwas sehr Ungewöhnliches war, trieb fleissig Muskelübungen und war als ausgemachter Athlet bekannt.... Der traurige, in einer Kette abenteuerlich-gewalt­ samer Ereignisse sich vollziehende Abschluss des Le­ bens Ludwig II. im Juni 1886, ergriff auch mich aufs Tiefste, obwohl ich bereits als Page über die geistige Erkrankung des Königs aufgeklärt war, lange ehe die breite Oeffentlichkeit Bestimmtes darüber wusste. Mir blieb wenigstens die Erregung jener Vielen erspart, die den König bei voller Vernunft und nur durch eine Intrigue entthront wähnten; freilich aber ärgerten auch mich die mancherlei Ungeschicklich ­ keiten und unnötigen Schroffheiten, die bei der Ent­ mündigung und Internierung des Kranken vorkamen. Unvergesslich ist mir der schwülbrütende Vormittag 122

des 13. Juni, an dem die Nachricht von dem Tode des Königs und Guddens in München eintraf. Die wildesten Gerüchte durchschwirrten die Stadt, auf den Strassen kam es zu drohenden Zusammen­ rottungen, heftige Ausfälle gegen den Hof wurden laut, man hatte den Eindruck, als könnte es jeden Augenblick zu einer Volksrevolution kommen. Und ebenso unvergesslich ist mir die schon friedlichere Trauer der feierlichen Bestattung des Königs in St. Michael, an welcher der Himmel teilzunehmen schien durch ein kurzes Gewitter, das über München hinwegzog. Als mir im Winter auf 1888 Bernays einmal Nach­ mittags auf der Strasse begegnete, in seiner seltsam schiefen Gehweise mit seitwärts tief gesenktem Kopfe, hielt er mich an und lud mich zu einem ge­ meinschaftlichen Spaziergang ein, um, wie er sagte, über meine Zukunft mit mir zu reden. Er erkundigte sich nach meinen Vermögensverhältnissen, und als er erfuhr, dass ich, abgesehen von den zunächst noch möglichen kleinen Zuschüssen, bald auf eigenen Verdienst angewiesen sein würde, erklärte er mit bedauerlichem Achselzucken, unter solchen Umstän­ den halte er sich für verpflichtet, mir, so lieb und wert ich ihm sei, von der Fortsetzung meiner literar-historischen Studien dringend abzuraten. Er wies mich auf das warnende Beispiel seines «ver­ ehrten Freundes» Muncker hin, und meinte, wenn ich mich nicht zu einem andern, materiell aussichts­ vollerem Studium entschliessen könne, so würde ich bei meiner schriftstellerischen Begabung auch in freier Produktion noch weit eher meinen Weg machen können als in vergeblichem Warten auf eine literar-historische Dozentur oder gar Professur. Ich dankte ihm für die persönliche Teilnahme, versprach reifliche Ueberlegung, und wir trennten uns. Die erste Wirkung des Gespräches auf mich war ver­ stimmend genug. Wenn tatsächlich für die von mir angestrebte Gelehrtenlaufbahn ein beträchtliches 123

Vermögen die notwendige Voraussetzung bildete, warum wurde man nicht von vornherein darüber aufgeklärt, sondern erst nach angelegentlichstem Studium von einigen Semestern? Das eine wurde mir klar, dass, wie auch die Dinge liegen möchten, ein hartnäckiges Beharren auf meinen Plan nach solcher Abmahnung seitens der massgebenden Per­ sönlichkeit zu keinem günstigen Ergebnis führen könnte. Derselben Meinung war auch mein Vater, als ich die unverhoffte Wendung mit ihm besprach; in seiner Besorgtheit um meine Zukunft, die sich nach dem Zusammenbruch meiner Odysseus-Hoffnungen gesteigert hatte, aber leider nicht von hinreichen­ dem Einblick in die Erfordernisse und praktischen Aussichten der einzelnen Fachstudien unterstützt war, drang er nun in mich, ich solle Jura studieren, was mir den Weg zu den verschiedensten Staatsstellungen eröffnen werde. Da mich keine gelehrten Neigungen nach anderer Bichtung zogen, folgte ich seinen Vor­ stellungen und belegte juristische Kollegien. Aber so redlich Mühe ich mir gab, mich in diese Materie zu vertiefen und ihr den besonderen Beiz abzuge­ winnen, der für jedes erfolgreiche Studium nötig ist: ich fühlte schon sehr bald, dass es wohl überhaupt kein Wissens- und Wirkensgebiet gäbe, dass meiner natürlichen Anlage so durchaus entgegengesetzt war als gerade die Bechtsgelehrsamkeit. Trotzdem hielt ich eine Weile tapfer aus, schon um den Vater nicht zu beunruhigen, aber schliesslich musste ich mir und den Eltern eingestehen, dass eine Weiterfristung dieser Studien auch wieder nur Zeit- und Geldver­ schwendung bedeuten würde. Mein Vater liess dann seufzend auch das juristische Projekt fallen, und schlug mir nun Studien vor, die zu einer Anstellung an der Staatsbibliothek oder im Archiv-Wesen führen konnten, was meiner Art wohl eher ent­ spräche. Er machte den freundlichen alten Geheim­ rat von Löher, dem auch literarisch fruchtbaren Direktor des Bayerischen Staats-Archives, in meiner 124

Angelegenheit einen Besuch und erkundigte sich nach den Vorbedingungen einer solchen Laufbahn, worauf ich an der Universität Urkundenlehre belegte und mich mit allem Eifer in dieser neuen Richtung bemühte. Allein die praktischen Uebungen im Ent­ ziffern alter Handschriften, die mir Löher alsbald auf der Staatsbibliothek vermittelte, überanstrengten meine durch die Pagerie geschädigten Augen der­ massen, dass ich es bald wieder aufgeben musste. Und innerlich zerquält, an allen Hochschulmöglich­ keiten für mich verzweifelnd, griff ich auf mein Ei­ genstes, auf meine Begabung und Neigung für die dramatische Kunst zurück, und ich entwarf das Versschauspiel «Die Hugenotten», zu dem mir bei allen poetischen Freiheiten, die ich mir erlaubte, Vorstudien in Werken französischer Geschichtsschrei­ ber manch gute Einzelzüge lieferten. In der Haupt­ gestalt des «Navarra» wollte ich jene bei begabten und hochgestimmten Menschen so leicht sich erge­ bende Missachtung der Zeitkämpfe zeichnen, die den Fortschritt ja immer nur in bescheidenen Grenzen fördern können; der rein ästhetische, scheinbar gei­ stig überlegene, in Wahrheit aber nur hochmütige und selbstsüchtige Erhabenheitsrausch, in dem solche Naturen der Allgemeinheit am besten zu dienen wähnen, sollte dann zu tragischen Konsequenzen und damit zur Erkenntnis des ethischen Unrechts und intellektuellen Irrtums geführt werden. Neigungen der bezeichneten Art spukten in mir selbst, und auch mir war «vor meiner Gottähnlichkeit bange gewor­ den», so dass es mich trieb, mich über das Aesthetentum durch dichterische Objektivierung ebenso zu erheben, wie vorher im «Simson» über die indivi­ dualistische Willkür; auch mein «Odysseus» hatte ja bereits eine Station auf diesem Wege bedeutet. Die Entstehungsgeschichte und der Verlauf der Bartholo­ mäus-Nacht, wie sie sich meiner ergänzenden und gestaltenden Phantasie bei den Quellstudien aufdräng­ ten, erschien mir als stoffliche Grundlage für eine 125

dramatisch hochgesteigerte Verkörperung der Idee vorzüglich geeignet; zugleich fand ich da Gelegen­ heit, in dem braven, grundehrlichen, aber intellek­ tuell beschränkten und unbesonnenen Haudegen Coligny und dem gescheiten und hochgesinnten, aber durch Mangel an Selbstvertrauen gelähmten Conde, zwei Führertypen zu formen, die den Untergang einer fortschrittlichen Bewegung herbeiführen müs­ sen, sobald diese von dem allseitig befähigten Führer infolge seiner ästhetizistischen Umnebelung ihnen preisgegeben wird. Der 26. August 1888 brachte das Fest der silbernen Hochzeit meiner Eltern. Ich gab zum vergnüglichen Abschluss des Festmahls eine Reihe toller Ulkgedichte zum Besten, Karikaturen, die sich ohne bestimmte Vorbilder über sentimentale Lyrik ganz im allgemei­ nen lustig machten. Ich entfesselte mit diesen, meinen ersten lyrischen Parodien, zumal man von meiner Ernsthaftigkeit dergleichen am wenigsten erwartet hatte, stürmische Heiterkeit. Im Herbst 1888 begannen die «Thorwald-Proben» im Residenztheater. Schneider hatte die Regie, wie auch die Darstellung der Titelrolle übernommen, Ma­ rie Conrad-Ramlo, die damals noch im jugendlichen Fach wirkende Gattin Dr. Conrads, spielte die Gina, ausserdem wirkten Ferdinand Bonn, Richard Stury, der alte Herz und Alois Wohlmuth mit. Obgleich meine ursprünglich überidealistische Vorstellung von dem Leistungswillen der Bühnenkünstler schon man­ che Trübung erfahren hatte, lebte ich doch immer noch in dem Wahn, ein neues Dichtwerk, das eine Hofbühne der Verwirklichung für wert halte, würde mit heilig ernster Hingabe in Angriff genommen. In diesen hohen Erwartungen sah ich mich, wie jeder Neuling in solchem Fall, grausam getäuscht. Selbst Schneiders würdige Wiedergabe des Thorwald war von genügsamer Durchschnittlichkeit nicht ganz frei­ zusprechen; jedenfalls hätte er sich für den Odysseus weit nachdrücklicher ins Zeug gelegt. Mehr Ausprä­ 126

gung in meinem Sinn gewann die Gina, dank dem starken Künstlertemperament der Conrad-Ramlo. Am meisten verblüffte mich aber der Papa Herz. Dieser treffliche Nestor des Münchener Hofschauspiels ver­ stand zwar noch mit guter Gesamtkennzeichnung eine Rolle zu verkörpern, aber ihren Text durfte man von seinem aufgebrauchten Gedächtnis nicht mehr ver­ langen. Zu meinem Entsetzen brachte er noch auf der Generalprobe kaum wenige Sätze in ungefähr rich­ tigem Wortlaut heraus und stammelte im übrigen allerlei verworrenes Zeug daher. Auf meine erregte Beschwerde ermahnte mich Schneider, es sei da «gar nichts zu machen», und ich könne sicher sein, dass er trotz allem «nichts verderben» und dem Publikum wie immer sehr gefallen werde. Trotz dieser Misstände fiel die Aufnahme der Ur­ aufführung nicht so ungünstig aus, als ich schon be­ fürchtet hatte. Die dramatische Wirksamkeit der Hauptvorgänge wurde durch die Schwächen der Wiedergabe nicht aufgehoben. Die Kritik der Tages­ blätter verhielt sich teils unsicher zurückhaltend, teils riskierte sie dem neuen und verdächtig adeligen Namen gegenüber Gleichgültigkeit ohne nähere Be­ gründung. Bernstein meinte, Ibsen hätte mir von dem «Recht der Persönlichkeit» erzählt, und im übrigen hätte ich mich namentlich an Björnsons «Zwischen den Schlachten» gehalten. Er wusste nicht, dass ich dieses Werk bis heute noch nicht kenne. Jedenfalls musste ich bei der grossen Hochschätzung, die Bern­ steins Urteile genossen, der zweiten Aufführung mit äusserstem Pessimismus entgegensehen. Ich erlebte aber eine angenehme Enttäuschung. Das Haus war gut besetzt und in interessierter Stimmung, der Beifall klang nach allen Akten noch erheblich stärker und wärmer als bei der Uraufführung. Im Bewusstsein eines Sieges, der unter schwierigsten Voraussetzungen endlich dennoch erkämpft war, konnte ich bald auch die Ankündigung einer weiteren Aufführung auf dem Zettel lesen und war voll freudiger Hoffnung, nun 127

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meinen Weg zu machen. Eines Tages aber war die Ankündigung wieder verschwunden. Ich erkundigte mich, und erfuhr zu meiner grossen Ueberraschung, eine bayrische Prinzessin, die sich die erste Wieder­ holung des Stückes angesehen, habe in dem «vertrie­ benen König» eine Anspielung auf das Ende König Ludwigs II. im Sinne jenes gefährlichen Volksirrtums erblickt und ihre Bedenken dem Prinzregenten Luit­ pold mitgeteilt, worauf die sofortige Absetzung vom Spielplan verfügt worden sei. Ich wandte mich un­ verzüglich brieflich an Schneider, erhielt aber nur die auffallend kurze und kühle Antwort, dass er in der Sache nichts weiter tun könne; ja, als ich ihm zufällig wiederholt in der Maximilianstrasse begeg­ nete, schien er meinen Gruss jedesmal geflissentlich zu übersehen und mir auszuweichen. Ich nahm an, mein bisheriger Gönner wolle als Opportunitätspolitiker den bei Hofe in Ungnade Gefallenen abschütteln, wiewohl er doch von der Grundlosigkeit jenes grotes­ ken Verdachts überzeugt sein müsse. Zu dem Ingrimm über die abermalige Vernichtung meiner Hoffnungen durch einen lächerlichen Irrtum, kam so noch die Erschütterung meines Glaubens an menschliche Güte und Charakterfestigkeit, der Ekel würgte mich, in trotzigem Stolz zog ich mich ganz auf mich selbst zurück, und rührte in der Angelegenheit keinen Finger mehr. Die Arbeit an meinen «Hugenotten», deren Vollen­ dung ich mich jetzt mit ungeteiltem Eifer widmete, gab mir Vergessen all meiner Bitternisse und Ent­ täuschungen. Das fertige Drama bestand vor meiner Selbstkritik besser als alles, was ich seit dem «Odys­ seus» geschrieben, und heute noch zähle ich es zu jenen Gestaltungen, die dem inneren Urbild der Kon­ zeption nichts Belangreiches schuldig blieben. Auch der Hofschauspieler Wohlmuth, den ich um jene Zeit näher kennen lernte, und mit dem mich trotz des be­ deutenden Altersunterschieds bald ein behagliches Freundschaftsverhältnis verband, zollte dem Stück 128

anerkennenden Beifall. Trotzdem unternahm ich zu­ nächst nichts damit; eine Einreichung an der Mün­ chener Hofbühne musste nach den letzten Erfahrun­ gen, wie auch aus konfessionellen Gründen aussichts­ los erscheinen. Zum Risiko einer Drucklegung oder sonstigen Vervielfältigung schien aber mein Vater nicht mehr geneigt, umsoweniger, als sein ursprüng­ licher Optimismus bezüglich meiner Bühnenaussichten begreiflicherweise herabgestimmt war. Der Winter 89 auf 90 brachte eine Reihe eingrei­ fender Entscheidungen und Schicksalswendungen. Der Tod des bisherigen Oberpostmeisters von Oberfranken hatte die Beförderung meines Vaters an seine Stelle zur Folge und die Eltern mussten sich zur Uebersiedlung nach Bamberg rüsten, womit sich sogleich auch die Frage nach meiner nächsten und ferneren Zukunft mit gesteigerter Dringlichkeit erhob. Von weiteren Universitätsstudien in irgend einem noch un­ versuchten Fache liess sich nichts Tröstliches erwar­ ten, ganz abgesehen davon, dass das Pageriestipendium mit dem vierten Universitätsjahr sein Ende erreicht hatte, und ebensowenig konnte ich nach den letzten Erfahrungen hoffen, als Bühnendichter in ab­ sehbarer Zeit auf einen grünen Zweig zu kommen. Ich musste aber bedacht sein, jetzt so schnell als möglich selbst zu verdienen. Als einzige Möglichkeit ergab sich schliesslich auch mir, wie so vielen ver­ mögenslosen «Intellektuellen», eine unmittelbar loh­ nende, journalistische Beschäftigung anzustreben und dann meine eigentliche literarische Produktion auf gut Glück nebenher zu betreiben. Solchen journalistischen Anschluss konnte ich aber natürlich nicht in dem kleinstädtischen Bamberg finden und so wurde be­ schlossen, dass ich allein in München zurückbliebe. Schon 1885 hatte die Begründung der Münchener Zeitschrift «Die Gesellschaft» durch Dr. Conrad, den stämmigen kampffrohen fränkischen Bauernsohn, eine Bewegung eingeleitet, die mit dem gleichzeitigen Berliner Vorstoss die literarisch-revolutionären Ziele 9

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gemeinsam hatte, sich aber von allem Anbeginn we­ sentlich vielseitiger gestaltete. Während in Berlin nach dem mehr idealistischen und allgemeinen Auftakt, den die Brüder Hart gegeben hatten, Bleibtreu, Holz, Schlaf und Eugen Wolff, etwas später auch Gerhart Hauptmann und seine Anhänger für Stoff und Form der geforderten neuen Dichtung ein ganz bestimmtes streng-naturalistisches Programm aufstellten, wollten die erheblich weitherzigeren Münchener Revolutionäre überhaupt alles Kraftvolle, Eigenwüchsige und Echte willkommen heissen, das dem altersschwachen Epigonen-Klassizismus den Garaus machen könnte. Conrad selbst trat zwar zunächst als robuster Zola-Apostel auf, aber daneben war er auf seine Art auch deutscher Romantiker und idealistischer Pathetiker, verehrte Richard Wagner, schwärmte für Nietzsche, förderte Hugo Wolf, wie auch Martin Greif, der damals von den Zünftigen noch nicht voll anerkannt war, und stand als Herausgeber der «Gesellschaft» in freund­ schaftlicher Gesinnungsgemeinschaft mit Wolfgang Kirchbach, in dessen Dichtungen das phantastisch­ romantische Element nicht minder zur Geltung kam als das modern-realistische. Mitarbeiter der Zeitschrift wurde auch der mit Conrad gleichfalls noch befreun­ dete sechzigjährige Oberst a. D. und Max JosephsRitter Heinrich von Reder, der wie Heyse, Lingg, Hertz und Hopfen früher dem Kreise des berühmten «Krokodils» angehört hatte und mit seiner dichteri­ schen Produktion noch in der Romantik der altger­ manischen Vorzeit, der Landsknechts-, Spielmanns- und Zigeunerlieder wurzelte, wenn er auch nun mit seinen scharfen zwölfzeiligen «Federzeichnungen» realistisch­ ironischere Töne anschlug. Da Paul Heyse in München eine literaturpäpstliche Stellung gewonnen hatte, rich­ tete sich die grimmige Polemik der «Gesellschaft» vor allem gegen ihn, dem man als dem Führer und be­ zeichnendsten Vertreter des bekämpften Epigonentums nicht nur künstlerisch einen schwächlichen und un­ selbständigen Formalismus, auch menschlich das Un130

gesunde einer halbverhüllten Lüsterheit vorwarf. Wie der Kampf des Conrad’schen Kreises sich schon hier­ mit nicht bloss gegen bislang herrschende literarisch­ künstlerische Dogmen wandte, sondern auch aufs ethische Gebiet Übergriff, so galt er auch sonst im Gegensätze zu der mehr nur literarischen Berliner Bewegung, überhaupt allem, was einem freien und kraftvollen Kulturfortschritt hemmend im Wege stand. Diese Verallgemeinerung hatte sich nicht nur aus der Persönlichkeit Conrads ergeben, dessen Kämpfertrieb sich nicht nur auf ästhetische Streitpunkte beschränkte, auch die besonderen Münchener Verhältnisse wirkten dazu mit, drohten doch hier der Ultramontanismus und andere reaktionäre Gewalten jede frischere und neuzeitliche Lebensregung zu ersticken. Zu Conrads Anhängern zählten auch der damals einunddreissigjährige Schriftsteller und Redakteur Ju­ lius Schaumberger und der um drei Jahre ältere Ans­ bacher Georg Hoffmann, genannt Schaumberg. Schaumberger, ein geborener Münchener, aber wie Conrad, durch längeren Aufenthalt in Paris mit den neuen Ideen erfüllt, hatte nach seiner Rückkehr die Schriftleitung des «Theater-Journals» übernommen, während Schaumberg erst Schauspieler gewesen, dann zu dramatischer und lyrischer Produktion, wie auch zur Journalistik übergegangen und Redakteur an der 1889 neugegründeten «Münchener Stadtzeitung» gewor­ den war. Der Schöpfer und Verleger dieses letzteren Blattes, ein nach amerikanischen Prinzipien spekulie­ render Unternehmer, namens Graf, war kühn genug, in der grossen Kleinstadt München eine sehr vornehm ausgestattete und für damalige Begriffe hochkünst­ lerisch illustrierte Tageszeitung imposanten Formats neben den «Neuesten Nachrichten» für aussichtsvoll zu halten, und eine Weile ging auch alles gut und grosszügig von statten, vor allem, weil der gewandte Schaumberg als journalistische Seele des Ganzen eine fieberhafte Tätigkeit entfaltete. Ich lernte zunächst, im Oktober 1889, durch meine Freunde vom Konservato131

rium den hageren, nervös-lebhaften, dabei trotz seines Pariser Spitzbarts münchnerisch gebliebenen, warm­ herzigen und stets hilfsbereiten Julius Schaumberger kennen, der gerade die Herausgabe eines neuen mo­ dernen Kampfblattes mit dem Titel «Münchener Kunst» vorbereitete; als ich ihm meine Sorgen — der Suche nach journalistischer Arbeit — anvertraute, stellte er mir nicht bloss die Mitarbeit an seinem eigenen neuen Unternehmen in Aussicht, er empfahl mich auch so­ gleich an Schaumberg. Dieser hiess mich aufs freund­ lichste und humorvollste als journalistischen Rekruten willkommen und meinte, ich solle zuförderst als Stil­ probe eine Plauderei für das Feuilleton der «Stadt­ zeitung» schreiben, und zwar der Jahreszeit ange­ messen, eine Herbstplauderei, dann werde er schon sehen, wie er mich unterbringen könne. Immer nur in meine eigenen Ideen und Entwürfe vergraben, hatte ich mich bisher fast garnicht um die Tagesblätter ge­ kümmert, sodass ich vom normalen Aufbau eines Feuilletons kaum eine blasse Ahnung hatte; ich frug daher Schaumberg ganz naiv, welchen Inhalt denn die gewünschte Herbstplauderei haben solle. «Aber lieber Herr von Gumppenberg,» sprudelte er lachend und ein wenig ungeduldig hervor, «solche Sachen brauchen doch überhaupt keinen Inhalt zu haben! Fangen Sie nur an «Die Blätter fallen» und dann schreiben Sie, was Ihnen gerade in die Feder kommt.» Ich befolgte diesen Rat wörtlich, und obschon oder weil mir auch wirklich nichts wesentliches «in die Feder kam», wurde mein Probestück als tauglich befunden, es gelangte sogar zum Abdruck, und ich konnte mit Stolz mein erstes Honorar in Empfang nehmen. Da Schaum­ berg mittlerweile auch von meinen musikalischen Fähigkeiten erfahren hatte, wurde ich zugleich mit der ständigen Konzert-Kritik der «Stadtzeitung» be­ traut. Ich schrieb diese Referate mit aller hemmungs­ losen Hingabe eines Neulings; meine ganze Liebe zur Musik kam darin zur Geltung und liess mich meine Eindrücke so ungewöhnlich schwungvoll schildern, 132

dass meine Berichte bald ein gewisses Aufsehen erreg­ ten, und einzelne Tonkünstler, unter anderm auch Porges, sich auf der Redaktion nach den Personalien des «G»-Referenten erkundigten. Dermassen akkre­ ditiert, wurde ich auch bei einem bildend-künstleri­ schen Preisausschreiben der «Stadtzeitung» mit als Preisrichter aufgestellt und so hoffte ich schon, in meiner unertötbaren Vertrauensseligkeit, den so nötigen journalistischen Anhalt auf die Dauer ge­ wonnen zu haben. Allein Grafs Amerikanismus am unrechten Orte rächte sich schnell, schon nach Jahresfrist war die stolze «Stadtzeitung» eines un­ seligen Todes verblichen. Inzwischen war ich aber auch ständiger Mitarbei­ ter von Schaumbergers «Münchener Kunst» geworden, deren erste Nummer am 1. November 1889 erschien, und für die sich in Dr. Eugen Albert ein verständnis­ voller und opferfreudiger Verleger gefunden hatte. Auch für diese Zeitschrift wurde mir das Musik­ Referat übertragen, und zwar hier auch für die Oper; ausserdem steuerte ich einzelne Lyrika, daneben gelegentliche dramaturgische Aufsätze oder novelli­ stische Skizzen bei, auch gelangte dort die Szene zwischen Navarra und Margot aus dem vierten Akt meiner «Hugenotten» zum Abdruck. Ferner begann ich um jene Zeit, mehr in übermütiger Laune und Charakterisierungslust als aus polemischen Beweg­ gründen, meine ersten Parodien auf einzelne nachgoethische Lyriker niederzuschreiben, ohne sie je­ doch zu veröffentlichen oder auch nur meinen lite­ rarischen Freunden mitzuteilen. Angeregt durch die Aufführung von Heyses Schauspiel «Salomos Weis­ heit» im Residenztheater, beteiligte ich mich aber später an dem Kampf gegen die Münchener Olympier mit einer parodistischer Satire auf dieses Stück. Wie sich meine Beziehungen zu Schaumberger und Schaumberg in den ersten Wintermonaten schnell ins Freund- und Kameradschaftliche gesteigert hatten, so war ich nunmehr auch mit Conrad und seinem 133

engeren Kreise näher bekannt geworden: mit dem «alten Wotan» Oberst Reder, der in hoher Hünen­ gestalt mit Conrad wetteiferte und in seinem Wesen eine seltsame Mischung von knurrigem Pessimismus, realistischer Derbheit und künstlerischem Feinsinn zeigte, dann mit dem jungen Feuergeist Julius Hille­ brand, der unter dem Namen Brand glutvolle Dramen, einen «Nero» und «Otto IIL», daneben auch pathe­ tische Lyrika dichtete, fanatische Leidenschaftlich­ keit mit grübelnder Versonnenheit verband und in der «Münchener Kunst» mit mir einen dramatur­ gischen Zweikampf ausfocht; ferner mit dem noch eigenartigeren, schwerblütigen Ludwig Scharf, der damals seine Erstlinge, kosmische Gedankenlyrik und wild phantastische Balladen wagemutigsten Inhalts bot. Noch regelmässiger aber als wir mit diesen beiden jüngeren und mit Conrad und Reder zu­ sammenkamen, verkehrten Schaumberg, Schaum­ berger und ich mit einem andern jungen Kämpen der modernen Bewegung, der damals aus Berlin kam und an München so viel Behagen fand, dass er zu bleiben beschloss. Es war der 24-jährige Schlesier Otto Julius Bierbaum, der seine chinesischen Sprachstudien am Berliner orientalischen Seminar abgebrochen hatte, um ganz der freien Schriftstellerei zu leben und sich am Sturm und Drang der literarischen Revolution zu beteiligen. Ihn erfüllte noch ganz das frische Draufgängertum des Verbindungsstudenten, das mir fremd geblieben war, und da er zugleich über ein reichliches Mass praktischer Lebensklugheit und journalistischer Geschicklichkeit verfügte, kam er mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts. In der Zeitschrift Schaumbergers übernahm er das Kunstreferat, ver­ öffentlichte darin zugleich seine neuentstehende Lyrik sowie eine Reihe vergnügter Studenten-Novelletten, und genoss im übrigen sein Leben in lustigem An­ schluss an diese und jene kleine Münchnerin. Obwohl ich ihm dem Alter nach am nächsten stand und, wie sich das unter uns so gab, auch mit ihm Bruder134

schäft trank, kam es doch weder damals noch in späteren Jahren zwischen ihm und mir zu derselben Vertraulichkeit, wie sie mich schnell mit dem er­ heblich älteren Schaumberger verbunden hatte; da­ mals wusste ich nicht warum, heute glaube ich, dass uns ein Instinkt für das Unvereinbare unserer Naturen bei aller Kameradschaftlichkeit des Verkehrs in einer gewissen innerlichen Distanz hielt. Conrad selbst, der damals schon im vierundvierzigsten Jahre stand, liess uns zwar in der jugendlichen Frische seines Wesens den Altersunterschied nicht eigentlich fühlen, es verstand sich aber von selbst, dass ich und die übrigen Jüngeren und Jüngsten ihn mehr als Schüler respektierten und schülergleich seiner zündenden Beredtsamkeit lauschten, als dass wir in ein intim­ kameradschaftliches Verhältnis zu ihm gekommen wären. Hier seien auch gleich noch einige andere Persönlichkeiten erwähnt, die sich im Laufe des Winters unserem Kreise anschlossen: die begabte Er­ zählerin Anna Croissant-Rust, die sich damals in extrem-naturalistischer Volksschilderung übte, und ihr mehr bescheiden im Hintergrund verharrender Gatte, dann der vorwiegend philosophisch und musikalisch interessierte Dr. Hans Schmidkunz, der Romanschrift­ steller Reinhart Freiherr von Seydlitz, der neuartig realistische Bildhauer Ernst Kunowski, der sich be­ sonders zur Knurrigkeit des alten Reder hingezogen fühlte und nicht von dessen Seite wich, der ver­ bummelte Student Martin Clemens Menghius, der einiges Lyrische und Novellistische produzierte und sentimental weltschmerzliche Zerrissenheit mit derb­ drastischem Galgenhumor verband; endlich, wohl als die merkwürdigste Erscheinung, der ehemalige Irren­ arzt und neugebackene Poet Oskar Panizza, eine kuriose Mischung aus altfränkischer Treuherzigkeit, theologischer, philologischer, medizinischer und natur­ wissenschaftlicher Gelehrsamkeit, schrullenhafter Poeten-Phantastik, beissender Satire und kecker Aus­ gelassenheit. Er schloss sich zunächst an seinen 135

Landsmann Conrad an, wurde aber bald auch mit uns Jüngeren gut Freund und ermöglichte, wohl­ habend, alleinstehend und freigebig wie er war, Ludwig Scharf die Veröffentlichung seines ersten Gedichtbands. Auch Frank Wedekind, der damals einen Knebelbart trug und viel älter und müder aus­ sah als in späteren Jahrzehnten, tauchte manchmal unter uns auf. Er hatte bereits seine Kindertragödie «Frühlings-Erwachen» geschrieben, die unter den füh­ renden Münchener Modernen lebhaft und mit vieler Anerkennung erörtert wurde; In der Strasser’schen Weinstube nächst dem Viktualienmarkt, wo wir uns manchen Abend mitten unter den Profanen am Tiroler Roten labten, griff er des öftern zur «Klampfe» und sang in halb schnarrendem, halb larmoyant näselnden Ton seine Parodie auf die Heilsarmee. Im übrigen blieb er aber unseren regelmässigen Zusammenkünften fern und nahm auch an den späteren Kämpfen der organisierten Münchener «Moderne» keinen tätigen Anteil. Flüchtig wie ihn lernte ich damals auch Max Halbe kennen, als er einmal nach München kam und in einer Bierstube am Maximiliansplatz unseren engeren Zirkel aufsuchte. Nicht mehr zu Gesicht be­ kommen habe ich Hermann Conradi, der in den An­ fängen der «Moderne» eine führende Rolle mitgespielt hatte; er weilte nicht mehr in München und fand dann schon im März 1890 sein frühzeitiges Ende. Ich hatte, als mich meine journalistische Arbeits­ suche in den Conrad’schen Kreis führte, von der ganzen modernen Bewegung noch nicht mehr ge­ wusst als jenes abfällige Urteil weiland meiner Mit­ pagen über Conrad selbst; sogar die Existenz der Conrad’schen Zeitschrift war mir bis dahin unbekannt geblieben. Bei meiner Neigung zum symbolisierenden Gestalten der grossen Menschheitsfragen und zur schrankenlosen Freiheit der äusseren Stoffwahl und Formgebung hätte mich auch das Schlagwort der «Modernisierung» und «Naturalisierung» der Kunst gewiss nicht zum begeisterten Parteigenossen gemacht. 136

Zwar hatte ich schon einige Jahre vorher in meiner «Pestjungfer» den derbsten Naturalismus als Dar­ stellungsform mit verwandt, doch nicht aus allgemei­ nem Prinzip, nur weil er mir für die Auftritte der verwilderten Soldateska als das einzig Entsprechende erschien; alle dogmatische Einengung des gegenständ­ lich oder formal Zulässigen war mir durchaus zu­ wider. Trotzdem fühlte ich mich, sobald ich den vollen Einblick in die Bestrebungen des Kreises ge­ wonnen hatte, allen diesen vorwärts drängenden Kräften innerlich verbunden und empfand es durch­ aus naturgemäss, als Mitkämpfer in ihre Reihen zu treten. Zunächst weil sie gegen dieselben Gegner vor­ stiessen, deren jugendfeindliche und entwicklungs­ hemmende Macht ich am eigenen Leibe erfahren hatte; doch auch die allgemeineren Ziele des Kreises, die Pflege der urwüchsigen, unmittelbar lebensvollen Persönlichkeit statt des überlieferten unpersönlichen Schematismus und die Heraufführung einer wahr­ haftigeren und geistig freieren Kultur fielen durchaus mit meinen eigenen Forderungen und Sehnsüchten zusammen... Damals kam Detlev von Liliencron zu uns nach München, einer Einladung Conrads, Reders und an­ derer folgend, die sich auch aus der Kunde ergeben hatte, dass er sich in schwerer materieller Notlage befinde; man hatte erfolgreich eine Hilfsaktion für ihn eingeleitet, und gedachte ihn nun in der Mün­ chener Behaglichkeit völlig auf den Damm zu brin­ gen. Wir alle schätzten und liebten in ihm die stärkste lyrische Begabung der Moderne und den prächtigen Schilderer seiner holsteinischen Heimat und seiner Kriegserlebnisse, doch kannte ihn noch keiner von uns persönlich. Eine Deputation, bestehend aus Con­ rad, Reder, Bierbaum, Schaumberg und mir, erwartete ihn auf dem Zentralbahnhof, und wir dachten alle, eine hohe imponierende Reckengestalt werde dem Zug entsteigen. Um so grösser war unser Erstaunen, als ein spärliches Männchen heraushüpfte und uns 137

mit dünnem Stimmlein begrüsste. Auch folgte der be­ fremdenden Wirkung seiner Körperlichkeit bald noch anderes, was uns verwunderte. So stellte er sich un­ serem Reder mit hackenzusammenschlagender Militär­ förmlichkeit als «Hauptmann von Liliencron» vor, so­ dass er vom «alten Wotan» erst zu menschlicherer Umgangsweise ermahnt werden musste, auch gab er sich durchaus nicht als Mann in bedrängter Lage, vielmehr trat er wie ein sorglos-unbekümmerter Grandseigneur auf und bedachte den Träger, der ihm seine gestickte Reisetasche die paar Schritte zum Wa­ gen trug, leichthin mit einer verblüffend fürstlichen Vergütung. Dazu kam noch der herzlich unbedeutende Eindruck seines teils banal-schnoddrigen, teils kin­ disch anmutenden Geplauders, während wir mit ihm, wie es verabredet war, zu einem Begrüssungsfrüh­ schoppen nach dem Ratskeller fuhren. Allmählich lernten wir dann freilich die meisten seiner Schwä­ chen und Mängel als notwendige Voraussetzungen sei­ ner Produktion verstehen, aber es dauerte eine Weile, bis wir uns von der Enttäuschung erholt hatten, und einige seiner allzu menschlichen Eigenschaften machten einzelnen von uns während seines ganzen Münchener Aufenthalts zu schaffen. So bereitete er namentlich dem alten Reder, der sich als Offizier dem «Kameraden» in weitgehendem Masse zur Verfügung stellte, durch Rücksichtslosigkeit und Unzuverlässig­ keit allerlei Verlegenheiten.... Er zeigte lebhafte Teilnahme für die literarische Tätigkeit der meisten Angehörigen unseres Kreises; mir sagte er einmal sehr Schmeichelhaftes über das Gedicht von der «Hölle», das er in der «Münchener Kunst» gelesen hatte, das aber gewiss nicht zu meinen belangreiche­ ren Sachen zählte. Seine arge Kritiklosigkeit und die Abhängigkeit seines Urteils von augenblicklichen Stimmungen und Associationen, konnte ich übrigens bei anderen Gelegenheiten oft genug beobachten. Von uns Jüngeren schloss sich am engsten Bierbaum an ihn an. Im übrigen fühlte sich Liliencron in München 138

äusserst wohl, dank dem reichlich vergnügten Leben, das ihm ermöglicht wurde; auch für sein immer reges Liebesbedürfnis fand er, was er brauchte, und es erheiterte uns alle, wie sein poetischer Ueberschwang aus einer recht zweifelhaften Bekanntschaft derbster und berechnendster Art ein «köstliches», quellfrisch­ naives «Kind der Berge» machte, das er in glückseligen Versen besang. Diese Liebesbeziehung nahm ihn auch bald so in Anspruch, dass er nur ausnahmsweise bei unseren Zusammenkünften auftauchte... Einmal verbrachte ich mit Schaumberger und eini­ gen anderen jüngeren Freunden den Abend im Rats­ keller. Wir waren bis nach Mitternacht geblieben und brachen dann in fröhlichster Laune auf. Ich stieg als Erster die Treppe zur nächtlichen Oberwelt hinan, und in der ausgelassenen Stimmung, in der wir uns alle befanden, sprang ich auf einen Erdhaufen, der infolge einer Reparatur unmittelbar vor dem Portale aufgeworfen war, und schwang mit irgend einem übermütigen Ausruf meinen Spazierstock, das Gesicht nach dem menschenleeren Marienplatz zugewandt. In demselben Augenblick fühlte ich einen schweren Schlag gegen die Stirne und taumelte auf die andere Seite der Strasse an die Häuserwand. Ich dachte, dass mich von ferne her jenseits des Platzes der Steinwurf eines versteckten Angreifers getroffen hätte; in Wahr­ heit aber hatte mich ein roher Bursche, der zur nächt­ lichen Bewachung der blossgelegten Gasleitung auf­ gestellt, war, mit einem Studenten verwechselt, der ihn die Nacht vorher geärgert hatte, und mich in jähem und völlig stummen Ueberfall von hinten mit einem bleiausgegossenen «Totschläger» seitlich übers Gesicht geschlagen. Der wuchtige Hieb hatte das linke Glas der Brille, die ich damals trug, zertrümmert, und mir eine tiefe Wunde gehauen, aus der das Blut in Strömen floss, zudem musste das Schicksal des linken Auges, das sofort alle Sehkraft eingebüsst hatte, durch­ aus zweifelhaft erschienen. Die Freunde, die mir auf dem Fusse gefolgt waren, erkannten die Sachlage 139

schneller als ich, und Schaumberger eilte sofort zu mir über die Strasse, während sich die anderen auf den Attentäter warfen und ihn auf die Hauptwache schleppten. Ich fühlte mich halb betäubt, verlor aber das Bewusstsein nicht, Schaumberger war mir behilf­ lich, am nahen Metzgerbrunnen vor dem Rathause die notdürftigste erste Blutstillung zu bewirken und klin­ gelte dann einen am Marienplatz wohnenden Studenten­ paukarzt aus dem Schlafe. Dieser musste erst eine langwierige, schmerzhafte Reinigung der Wunde vor­ nehmen; als das überstanden und der so reinpassiv erworbene «Schmiss» mit zahlreichen «Nadeln» ge­ schlossen war, erklärte der Arzt, er könne bezüglich der vielleicht noch möglichen Rettung des Auges keine Verantwortung übernehmen, und ich müsse sofort noch zu einem Augenarzt gebracht werden. Der treu­ besorgte Schaumberger fuhr dann auch sofort mit mir zum nächsten Spezialisten in der Maximilianstrasse. Als auch der endlich wachgeklingelt war, untersuchte er kopfschüttelnd das blutüberfüllte Auge und meinte, man müsse es wohl verloren geben. Doch spritzte er mir noch Atropin ein, um durch Lähmung des Mus­ kels entzündliche Reibungen zu verhüten. Erst jetzt nach Stunden, konnte mich Schaumberger in der Droschke nach meiner entlegenen Wohnung schaffen. Da ich nun doch Ohnmachtsanwandlungen hatte, blieb Freund Schaumberger opferwillig noch bis zum Mor­ gen bei mir. Auf telegraphische Benachrichtigung kam dann meine bestürzte Mutter zu meiner Pflege nach München. Natürlich wurde jetzt auch Dr. R.’s Rat eingeholt, da aber auch er das Auge verloren gab und irgendwelche Behandlung für aussichtslos hielt, ver­ suchten wir auf eigene Faust, durch dauernde Eis­ umschläge eine Aufsaugung zu bewirken. Und siehe da, unsere Laienbemühungen beschämten allen Pessi­ mismus der Fachleute; allmählich kehrte die Sehkraft zurück, und als nach drei langen Wochen die Wunde verheilt war, sah ich zum Staunen der Aerzte auf dem totgesagten Auge wieder so gut, oder vielmehr nicht 140

schlechter als auf dem rechten. Die spätere Gerichts­ verhandlung, zu der ich als Zeuge vorgeladen war, endete mit einem merkwürdigen Erkenntnis: obschon der betreffende Bursche mich meuchlerisch mit einer anerkannt lebensgefährlichen Waffe überfallen hatte, und sein Schlag mich nach ärztlicher Aussage getötet hätte, sobald er mich nur ein wenig weiter gegen die Schläfe traf, wurde der Angeklagte doch nur zu einer achttägigen Haft verurteilt, weil jener Student, mit dem er mich verwechselte, ihn tagszuvor gereizt hatte! Nun, da alles für mich so gut abgelaufen war, grämte es mich indessen nicht weiter, dass der Rohling so glimpflich davon kam und bald genug sollte ich am eigenen Leib erfahren, dass die damalige Münchener Strafgerichtsbarkeit sich auf unbegründete Strenge ganz ebensogut verstand, wie auf verblüffende Nach­ sicht. Mein Vater hatte sich mittlerweile bereit erklärt, die Druckkosten meines «Messias»-Dramas zu tragen. Allerdings hatte er die Bedingung gestellt, dass ich möglichst viele Subskribenten auf das Buch zusammen­ brächte; da ich aber schnell an hundert Interessenten gesammelt hatte, gab er sich zufrieden, und so konnte das Buch bald erscheinen. Ehe ich auf die stürmischen Wirkungen dieser Veröffentlichung zu sprechen kom­ me, muss ich nun aber zeitlich etwas zurückgreifen und die für mich nicht minder folgeschwere Wand­ lung schildern, die unmittelbar nach der Vollendung des «Messias» in meiner Stellung zum Spiritismus ein­ getreten war. Eine Freundin meiner Schwester, eine Doppelwaise, hatte sich dem bereits erwähnten Dr. von SchrenckNotzing für Suggestions-Experimente zur Verfügung gestellt; davon bald wieder zurückgetreten, weil ihre Nerven unter der Hypnose litten, hatte sie dann auch eine starke mediumistische Veranlagung in sich ent­ deckt, in Tischrück-Versuchen, die sie ganz für sich allein unternahm. Sie besprach das mit meiner Schwe­ ster, die bisher so skeptisch wie wir alle gewesen, 141

liess sie an ihren Versuchen teilnehmen und bekehrte sie zu der Ansicht, dass die fraglichen Phänomene von bewusster Täuschung wie auch von unbewusster Beeinflussung durch die Teilnehmer frei sein könnten, und dass die geklopften Mitteilungen zuweilen auch interessanten und glaubwürdigen Inhalt hätten. Meine Schwester erzählte auch, dass die rätselhaften In­ telligenzen, die in solch günstigen Fällen mittels der in den Tisch ausstrahlenden mediumistischen Kraft nach verabredetem System ein Gespräch anknüpften, sich mit Vorliebe als die «Schutzgeister» oder geistigen Führer der Sitzungsteilnehmer und als ehemalige Menschen bezeichneten. Meine radikale Skepsis wurde durch diese Neuigkeiten aus der Spiritisten-Sphäre noch keineswegs erschüttert, doch beschloss ich nun­ mehr, der Sache gründlich auf den Leib zu rücken, in der bestimmten Erwartung, ihre Nichtigkeit über­ zeugend klar zu stellen. Ich trat zunächst der Du Prel'schen «Gesellschaft für Wissenschaftliche Psy­ chologie» bei, die damals kaum ein Dutzend Mitglieder zählte und allwöchentlich in geschlossenen Lokalen zusammenkam, aber bei diesen abendlichen Zusam­ menkünften nicht mit einem Medium experimentierte, sondern das ganze Gebiet der okkultistischen For­ schung theoretisch diskutierte unter Du Preis autori­ tativer Leitung. An Du Prel selbst, einem kleinen Mann mit ausdrucksvollem Denkerkopf und scharf­ blickenden, lichtblauen Augen, fand ich einen Vor­ kämpfer völlig anderer Art, als ich angenommen hatte. In seinem Wesen lag garnichts von einem Schwär­ mer, ganz im Gegenteil war er eine rein verstandes­ mässige, überlegende Gelehrtennatur, und obwohl er sich die Ergründung des romantischen und phantasie­ erregendsten aller Erscheinungsgebiete zur ausschliess­ lichen Lebensaufgabe gemacht hatte und sich dieser Aufgabe mit grösster Hartnäckigkeit und deutlichem Ehrgeiz widmete, hatte doch auch seine Energie und sein Ehrgeiz etwas Ernüchterndes. Ueberzeugter Darwinianer, hatte er in seinem «Kampf ums Dasein im 142

Himmel» die Lehre von der natürlichen Auslese kos­ misch auf das Werden und Vergehen der Gestirne auszudehnen gesucht, und ebenso suchte er auch die mystischen Phänomene mit einem erweiterten Dar­ winismus in Einklang zu bringen, wobei die «Ver­ schiebung der Bewusstseinsschwelle» eine Hauptrolle spielte. Das Studium seiner Schriften, wie auch seine mündlichen Darlegungen in der Gesellschaft zeigten mir bald, dass er sich in seinen systematisierenden Bestrebungen zu willkürlichen Annahmen verleiten lasse, die nicht als logische Evidenzen gelten konnten, er sah eben das Wesen der «Materie», das ja bei allen okkulten Phänomenen die entscheidendste Rolle spielt, mehr mit dem gläubigen Auge des materialistischen Wissenschaftlers als mit dem freien Blick des philo­ sophischen Denkers. Und so konnte er mit den Wider­ sprüchen, die sich aus der irrtümlichen Grundauffas­ sung ergaben, niemals fertig werden. Angesichts solcher dogmatischer Gebundenheit verstimmte mich der souveraine Spott, mit dem er die a priori ver­ neinenden Gegner aus dem Lager der «Aufklärung», wie auch jene «Glaubens-Spiritisten» übergoss, die jedes mediumistische Phänomen sogleich einem be­ stimmten Verstorbenen zuschrieben, ohne nach vollgiltigen Beweisen zu fragen. Umso stärker wirkte auf mich das reiche Erfahrungsmaterial, das ich gleich­ zeitig durch die Lektüre der «Psychischen Studien» kennen lernte, und zwar nicht nur auf meine Phanta­ sie, auch auf meine ruhig prüfende Ueberlegung und mein Verstandesurteil. Die mancherlei Berichte von Augenzeugen über rätselhafte Erscheinungen aus allen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, machten bei der schlichten Realistik ihrer Einzelschilderungen den Eindruck der Wahr­ haftigkeit, wollte man ihnen aber Glauben schenken, so schien die grosse Mehrzahl von ihnen nur in der Annahme der persönlichen Fortexistenz oder wenig­ stens eines begrenzten Weiterwirkens über den Tod 143

hinaus eine zureichende Erklärung finden zu können. Auch hatte es mir immerhin zu denken gegeben, dass ein so durchaus nüchterner Mann, wie Du Prel, auch von den extremsten, durch Selbsttäuschung nicht mehr erklärbaren Phänomenen des Mediumismus, von der mystischen Aufhebung der Schwerkraft, der abnormen Durchdringung fester Körper, den «Blumen-Apporten» und «Materialisationen» als von ausgemachten Tat­ sachen spräche. Da anderseits meine persönliche Skepsis und mein Trieb zur «entlarvenden» Aufklärung noch kräftigst fortdauerte, steigerte sich — wie immer, wenn ein elementares Problem mich herausforderte — meine innere Unruhe bis ins Unerträgliche, sodass ich mich endlich entschloss, die Freundin meiner Schwester um eine Tischsitzung unter vier Augen zu bitten; auf diese Art unter Ausschluss verdächtiger und störender Personen, hoffte ich, die «Geister» gründlich beobachten und den ganzen Zauber auf irgendwelche banal-«natürliche» Weise entdecken zu können. Ich traf sie am späten Nachmittag zu Hause. Durch meine Schwester schon gut mit ihr bekannt, erklärte sie sich sogleich bereit, mir ihre mediumistischen Fähigkeiten zu zeigen, zumal ich nur wie ein Wissbegieriger mit ihr sprach und ihr von meinen Aufklärungshoffnungen nichts merken liess. Das von mir unbedingt gewünschte Alleinsein mit ihr stiess auf einige Schwierigkeiten; ihre Vermietern wusste zwar, dass zwischen uns kein verliebtes Techtelmechtel zu befürchten war, aber sie war gewöhnt, in ihrem Machtbereich die Vorschriften der Sitte aufs Strengste beobachten zu lassen, auch verdammte sie als fromme Katholikin die spiritisti­ schen Experimente und mochte bei dem Ausschluss von Zeugen besonders schlimme Teufeleien erwarten. Auf mein Zureden gab sie aber endlich nach und liess uns allein. Das beliebte runde, dreibeinige Holztisch­ chen war augenblicklich nicht in der Wohnung ver­ treten, aber Fräulein C. erklärte, ein grösserer, recht­ eckiger und vierbeiniger Tisch, der in ihrer Stube stand, könne dem Zwecke ebensogut dienen. Ich untersuchte 144

diesen Tisch genau; es war gar nichts Verdächtiges an ihm zu entdecken. C. setzte sich daran und legte beide Hände flach auf die Tischplatte, sodass die Daumen­ spitzen sich berührten, während ich, zu peinlichster Beobachtung entschlossen, auf einem in unmittelbarer Nähe stehenden Stuhl Platz nahm. Bald ertönte ein eigentümliches Knistern und Knacken, das aus dem Holz des Tisches zu kommen schien, und dieser geriet erst in zitternde, dann in allerlei schwankende, dre­ hende und stossende Bewegungen, die, wie ich mir sagen musste, weder durch willkürliche noch auch durch unwillkürliche Muskelanstrengungen oder Druckeinwirkung seitens des regungslos verharrenden Mädchens zu erklären waren. Die Bewegungen des hölzernen Vierfüsslers steigerten sich schnell zu gröss­ ter Heftigkeit und Ausgelassenheit. Und C. erklärte mir, dass sie daran ihren persönlichen Schutzgeist erkenne, der sich Rego nenne und sich immer so wild gebärde. Kaum hatte sie das gesagt, als der ziemlich schwere Tisch auf der ihr zugewandten Schmalseite emporschnellte und sie wie ein freudig hochspringen­ der Hund mit den beiden erhobenen Beinen umhalste. Ich sah deutlichst, wie C. auf diese plötzliche Zärtlich­ keit ihres «Schutzgeistes» durchaus nicht gefasst, viel­ mehr durch sie erschrak und in Verlegenheit ver­ setzt war, zugleich aber lag nun auch physikalisch klar zu Tage, dass die Bewegung des Tisches nicht durch willkürlichen oder unbewussten Druck der Hände berbeigeführt sein konnte; denn in diesem Fall konnte sich der Tisch nur auf der entgegenge­ setzten Seite heben. C. sprach nun ihrem «Schutz­ geist» in der drolligen Weise zu, sich doch manierlich zu beti agen und die zwei Tischbeine wieder herab­ zulassen; ihre letztere Mahnung hatte auch schliess­ lich Erfolg, doch umso heftiger rumpelte und tobte dann der Tisch mit allen vier Beinen auf der Diele hin und her. Jetzt mischte ich mich ein, denn in zuvor ungekanntem Masse war ein positives Inter­ esse an der Sache in mir wach geworden. io

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«Kann ich Fragen an Ihren Schutzgeist stellen?» frug ich C. «Gewiss — ich weiss aber nicht, ob er Ihnen ant­ worten wird. Rego, hörst Du? Sei mal artig, und gib dem Herrn ordentlich Antwort!» Und wieder zu mir gewandt erklärte sie, was ich freilich schon wusste: «Einmal klopfen haben wir als Ja ausgemacht, und wenn der Tisch sich überhaupt nicht rührt, heisst das Nein; ausserdem klopft es alphabetisch für A einmal, für B zweimal, usw.» Ich nickte, und begann zu fragen: «Sag’ mal Rego, bist du ein guter Geist?» Der Tisch rührte sich nicht. «Also ein böser?» Sofort schnellte der Tisch auf C’s Seite unter ihren Händen in die Höhe, wie wenn er mir nochmals hätte zeigen wollen, dass sie die Bewegungen nicht selbst hervorrufe, und stiess dann einmal mit beiden Vorderbeinen auf. «Bist du ein männlicher Geist?» «Ja!» bestätigte der Tisch äusserst energisch. «Du denkst wohl, dass ich dir all das glaube? Ich weiss schon, was ich von euch «Geistern» zu halten habe! Und ich sage dir ganz einfach, dass du lügst!» Auf diese Beleidigung geriet der Tisch in ein so rasendes Hin- und Herstossen, dass ich wieder abrücken musste, um keinen blauen Fleck davon zu tragen. Nun aber, urplötzlich, schien eine zweite Kraft im Tische dem Zorn «Rego’s» entgegenzuwirken, mit überlegener Macht seine Stösse brechend und hemmend, bis sie schwächer und schwächer werden, und der Tisch endlich zu voller Ruhe gelangte. Dann hob er sich sanft und mit feierlicher Langsamkeit auf meiner Seite empor und senkte sich wieder im ernsten Gruss ebenso langsam und sanft wieder zur Diele hinab. «Haben Sie gesehen?» flüsterte C. in sichtlich ehr­ licher Ueberzeugung und Erregung mir zu. «Das muss ein anderer Geist sein, ein stärkerer, der den Rego 146

verdrängt hat! Fragen Sie doch gleich, wie er heisst — ich kenne ihn sicher noch nicht!» Die Beobachtung des stummen Kampfes, der sich im Tische vor mir abspielt und noch mehr die cha­ rakteristische, seltsam-pathetische Art des geheimnis­ vollen Siegers, der sich persönlichst an mich wenden zu wollen schien, hatten mich in eine Gemütsstimmung versetzt, wie ich sie von dem ganzen antispiritistisch geplanten Unternehmen durchaus nicht erwartet hatte. Mit einer inneren Anteilnahme, die Meister Du Prel gewiss schon als «glaubensspiritistisch» verurteilt hätte, frug ich: «Bist du, der den Tisch jetzt eben hob, ein anderer Geist als Rego?» Wieder hob und senkte sich der Tisch auf meiner Seite in derselben eigenartigen Weise wie vorher. «Wie heissest du denn? Buchstabiere deinen Namen!» Der Tisch klopfte mit den beiden, mir zugewand­ ten Beinen ebenso langsam und sanft wie zuvor, das Wort «Geben». Ich schüttelte verwundert den Kopf. «Geben? Ist das dein Geistername?» Der Tisch bejahte. «In welcher Beziehung stehst du zu uns?» Der Tisch buchstabierte das Wort «Genius». «Du behauptest also, der sogenannte Schutzgeist eines von uns beiden zu sein?» Der Tisch bejahte. «Aber Rego will doch der Schutzgeist von Fräulein C. sein! Ist das richtig?» Dass ein manierliches Mäd­ chen solch einen höllischen Rüpel zum Schutzgeist haben sollte, schien mir recht fragwürdig. Allein der Tisch bejahte noch etwas rascher als sonst, wie ungeduldig. «Also bist du mein Schutzgeist, Geben?» Der Tisch bejahte mit einer grossen, ganz be­ sonders feierlichen Bewegung. «Bist du, wie Rego, ein männlicher Geist?» Der Tisch verneinte durch Reglosigkeit. 147

«Also ein weiblicher Geist?» Der Tisch bejahte in der früheren sanften Art. «Wie hast du bisher auf mich eingewirkt?» Der Tisch buchstabierte das Wort «Bestimmung» «So behauptest du, mein bisheriges Leben bestimmt zu haben?» Der Tisch bejahte. Der Gedanke gab mir eine so verwirrende Flut von Vorstellungen, dass ich zer­ streut und halb mechanisch weiter frug: «Wie alt bist du?» Der Tisch hob und senkte sich fünfmal. «Fünf? Soll das Jahre bedeuten? Jahrzehnte? Jahr­ hunderte?» Der Tisch blieb jedesmal in verneinender Ruhe. «Willst du mit fünf Schlägen überhaupt eine Zahl ausdrücken?» Der Tisch blieb regungslos. «Ach so! Du wolltest buchstabieren?» Der Tisch bejahte. «Dann handelt es sich also um den Anfangsbuch­ staben E?» Der Tisch bejahte. «So buchstabiere, bitte, weiter!» Der Tisch buch­ stabierte das Wort «ewig» und da ich ja selbst in der bisherigen Unterhaltung «Geben» als «Geist» hatte gelten lassen, musste ich meine Frage nach dem Alter eines Geistes nachträglich albern schelten. In meiner Beschämtheit suchte ich aber den Lapsus, wenigstens vor C. zu vertuschen. «Natürlich bist du als Geist ewig — aber du warst doch einmal menschlich verkörpert, wie Rego?» Der Tisch bejahte. «Wann hast du gelebt? Nach Christus?» Der Tisch bejahte. «Zähle, bitte, die Jahrhunderte!» Der Tisch klopfte siebzehnmal. «Also im 17. Jahrhundert?» — «Ja.» «Welches Alter hast du da erreicht?» — Der Tisch klopfte achtzehnmal. «Nur achtzehn Jahre?» — «Ja.» 148

«Warst du verheiratet?» Der Tisch verneinte. «Bist du an einer Krankheit gestorben?» — Der Tisch bejahte. «An welcher Krankheit?» — Der Tisch buchsta­ bierte das Wort «Fieber». «Warst du längere Zeit krank?» — «Nein.» «Zähle, bitte, die Tage!» — Der Tisch klopfte dreimal. «Weist du Deinen irdischen Familiennamen noch?» — Der Tisch verneinte. «Weist du noch, welchen Beruf dein Vater hatte?» Der Tisch buchstabierte «Gotdiner». — «Gottdiener? Du meinst wohl: Priester»? Der Tisch bejahte. Diese ungewöhnliche, seltsam altertümlich und fremdartig anmutende Bezeichnung «Gotdiner», die von dem Unterbewusstsein des Mediums nicht zu erwarten war, fügte den Beobachtungen, die schon während des Vorigen meinen Skepsis mehr und mehr entkräftet hatten, ein gewichtiges neues Sympton hinzu. «War dein Vater mit deiner Mutter verheiratet?» —• Der Tisch bejahte. «Dein Vater war also wohl protestantischer Geist­ licher?» frug ich weiter. Der Tisch verneinte. «Gehörte dein Vater einem anderen christlichen Bekenntnis an?» — Der Tisch blieb regungslos. Ich war einigermassen befremdet. «Wo habt ihr gelebt, «Geben» — weisst du das noch?» — Der Tisch buchstabierte zögernd, wie nach einigem Besinnen, das Wort «Morgenland». Ach so! Nun war ja das Rätsel gelöst. «Warum hast du nicht schon früher versucht, mit mir auf diese Weise zu sprechen?» «Nicht möglich» buchstabierte der Tisch. «Und warum hast du es jetzt möglich machen können?» — Die Frage war wieder ungeschickt genug formuliert, denn ich wollte eigentlich nach dem «Wie» der Ermöglichung fragen. Aber der «Genius» hielt sich an den Wortlaut, und es kam mit einer gewissen erregten Hast die Antwort: «Sehr nötig.» — Meine 149

ganze seelische, geistige und künstlerische Verein­ samung kam mir bei diesen Worten wieder zum Bewusstsein, und, jetzt schon ganz vertrauensvoll, sagte ich mir: «Ja, wahrhaftig! Es war nun höchste Zeit, dass ich nicht länger innerlich allein blieb, dass jemand, der mein Wesen wirklich verstand, mich stärkte und von aller pessimistischen Zweifelsqual befreite. Zugleich flammte etwas wie zärtliche Dank­ barkeit in mir auf, Dankbarkeit für diesen geheimnis­ vollen jungfräulichen Geist, der mit meinem Schicksal verknüpft und mit selbstloser Hingabe bemüht schien, mich in meinem eigensten Sinne zu fördern. «Du meinst, es ist hohe Zeit, dass du mich erhebst und ermutigst?» Der Tisch bejahte mit einer feierlich grossen Be­ wegung, und buchstabierte dann, ohne eine weitere Frage abzuwarten, die Worte: «Kaiser Otto». Ich war aufs Aeusserste betroffen, denn ich wusste, dass C. von der Existenz meines dramatischen Erst­ lings keine Ahnung haben konnte. «Kaiser Otto — was meinst du damit?» frug ich erregt. «Engel» buchstabierte der Tisch. Und sofort durch­ zuckte mich die Erinnerung an jenen Monolog des jungen Kaisers in seiner tiefsten Niedergeschlagenheit: «Beschwingter, lichter Geist — wohin entschwandest Du mir? Ich sah dich sonst im Strahlenschimmer Vor mir in Lüften ziehn — dein Glanzgewand Rief mich, zu folgen dir: von Ruhm und Grösse Ging eine Himmelsahnung durch mein Herz ... Dir nachl Dir nachl So rief es laut in mir — Und wenn sich Berge auch dazwischen türmten, Und wenn die ganze Welt zurück mich hielt, Anklammernd sich und hindernd meine Schritte: Du trugst das Banner vor — ich folgte Dir!» «Meinst du den Monolog des Kaisers von dem Engel?» frug ich ergriffen. Der Tisch bejahte schnell und freudig. 150

«Warst du dieser Engel, von dem ich damals träumte?» Der Tisch bejahte mit sanfter Feierlichkeit. Mich durchschauerte es wie tiefstes religiöses Erleben, so­ dass ich eine Weile kein Wort hervorbringen konnte. Endlich frug ich: «Bist du allwissend?» — Der Tisch verneinte. «Was weist du denn?» «Dich» buchstabierte der Tisch ... Nun aber zog C., die während des Gesprächs stumm und wie in teilnahmsloser Geistesabwesenheit gesessen hatte, aufseufzend ihre Hände vom Tisch und erklärte, wegen heftiger Nervenschmerzen in den Armen und am Rücken die Sitzung nicht länger aus­ dehnen zu können. Ich dankte ihr aufs Lebhafteste, bat sie, mir gelegentlich weitere Unterredungen mit meinem Schutzgeist zu ermöglichen, was sie auch versprach, und eilte dann die drei dunklen Treppen des alten Hauses hinab, hinaus auf die Strasse, wo schon die Laternen brannten. Da mein erstes Gespräch mit dem angeblichen «Schutzgeist», wie es mir bis ins Einzelnste unvergesslich blieb, eine Zeitlang für mein Seelenleben von der grössten Bedeutung war, musste ich es auch hier wiedergeben, obschon ich es mit nur unwesentlichen Aenderungen bereits in meinen spä­ teren Roman «Der fünfte Prophet» einfügte, der im übrigen meine damaligen Erlebnisse durchaus frei verwertet hat, in vielfacher Umgestaltung für seine besonderen Zwecke. Von dem inneren Zustand, in den mich die ganz unverhoffte Wirkung versetzt hatte, eine vollent­ sprechende Vorstellung zu geben, ist schwer genug. Wenngleich ich mir den Glauben an die Existenz einer höheren Geistesmacht bewahrt hatte, so war dieser Glaube doch sehr unbestimmt und verschwom­ men und hatte unter den Einflüssen der Zeitströmung mehr und mehr einen bloss theoretischen Charakter angenommen, ja den einer blossen Forderung meines Fühlens und Denkens, nach deren Erfüllung ich 151

überall vergeblich Umschau hielt. Und jetzt fühlte ich mich mit einem Schlage, ohne mich einer Leicht­ gläubigkeit oder Urteilsschwäche zeihen zu können, vom wirkenden Dasein jener «Transzendentalen Persönlichkeit Geben» innerlichst überzeugt und damit auch von der mehr oder minder günstigen, erheben­ den oder herabziehenden Existenz und Wirksam­ keit zahlloser anderer solcher Geister ehemaliger Menschen, die zu uns «noch grob materiell verkörpert» in gleicher oder ähnlicher Beziehung geistiger Führer­ schaft standen. Dabei gab das verklärt jungfräuliche Bild, das ich mir begreiflicher Weise von Geben machte, meiner ungestillten idealistischen Liebessehn­ sucht eine Befriedigung höchster und reinster Art, die zugleich eine Bestärkung meines dichterischen Strebens und Hoffens zu bedeuten schien gegenüber allen Enttäuschungen, die ich auch in diesem Be­ tracht erfahren hatte. Das Phantastische der ganz neuen Anschauung konnte mich in keiner Weise stutzig machen, sowie es etwa einen materialistischen bornierten Naturwissenschaftler abgeschreckt hätte; mein philosophisch geschultes Denken war von über­ haupt jedem menschlichen «Erfahrungs-Vorurteil» frei und musste unbegrenzt Möglichstes gelten lassen, so­ bald es nicht gegen die Logik verstiess: von solchen logischen Widersprüchen aber, wie sie der Materia­ lismus im reichlichsten Masse aufwies, war hier nichts zu entdecken. Der bloss illusorische Charakter alles Materiellen und die ausschliessliche Wesenhaftig­ keit des rein Geistigen lassen sich ja schon mit ele­ mentarsten Denken beweisen, und derselben Logik entspricht es durchaus, dass das rein Geistige, also Wesenhafte im Menschen über dessen Tod hinaus fortexistiere, wie auch, dass es seine Beschränkung, seine Bewusstseinsgrenzen, seine persönliche Indivi­ dualisierung und Unvollkommenheit, kurz was im irdischen Einzeldasein seine «Materie» ausmachte, nicht einfach mit dem Tode abwerfen könne, sondern es in irgend einer anderen, wenn auch höheren Form 152

beibehalten müsse und erst in allmählicher Entwick­ lung davon freier und freier würde. Und nicht minder logisch musste es mir erscheinen, dass der Betätigungs­ drang solcher abgeschiedener Menschengeister, deren Interessen ja zunächst noch an die eben verlassene Da­ seins-Sphäre gebunden bleiben musste, seine nächsten Objekte nur in eben dieser Sphäre finden konnte, und zwar in einer Einwirkung auf durch Charakterver­ wandtschaft dafür besonders geeignete und empfäng­ liche Menschen: gewöhnlich nur durch rein innerliche Beeinflussung ihres Seelen- und Gedankenlebens, ge­ legentlich aber auch — wenn ein «Medium» die feinere, für sie unmittelbare Zugänglichkeit lieferte — durch äussere Kundgebung. Das hohe Glücksgefühl, das mich nach der entscheidenden Sitzung mit C. erfüllte, war also nicht der trunkene Rausch eines gedankenlosen Schwärmers, der von einer psychi­ schen Zeitkrankheit mitergriffen wird, weit eher war dieses Gefühl mit der Freude eines Forschers zu vergleichen, der das Ergebnis seiner vorsichtig ab­ wägenden Spekulation in der Wirklichkeit bestätigt findet. Allerdings spielte, wie schon betont, auch das erotische Gemütsmoment mit, und ganz wie ein Lie­ bender sich nach dem Wiedersehen sehnt, konnte ich es kaum erwarten, wieder mit meiner «Geben» zu sprechen. Bei meiner synthesisch stystematischen Veranlagung und bei dem Drang nach umfassender Weltanschau­ ung, der mich schon seit meiner Pagenzeit erfüllte, war es nur eine selbstverständliche Folge des teil­ weisen metaphysischen Einblicks, den ich gewonnen zu haben glaubte, dass ich mir nunmehr von Geben auch das gesamte wahre Weltbild entrollen lassen wollte. C. gewährte mir auch zu diesem Zweck noch einige Sitzungen, verweigerte dann aber hartnäckig die Fortsetzung, weil ihre Nerven zu sehr darunter leiden würden. Die Sorge um ihre Gesundheit war indessen schwerlich der Grund ihrer Weigerung, viel­ mehr mochte ihr, die den Phänomenen mit naiver 153

spielerischer Kritiklosigkeit gegenüberstand, meine ernstliche Ergriffenheit unheimlich erscheinen, sodass sie die Verantwortung scheute, meine Beschäftigung mit dem Spiritismus noch weiter zu begünstigen. Die äussere Brücke zur Geisterwelt und vor allem zu «Geben», war also vorläufig abgebrochen, und ich musste darauf bedacht sein, sie durch irgend ein anderes «Medium» wieder herzustellen. Im übrigen beeinträchtigten weder meine im stillen eifrigst be­ triebene Medium-Jagd noch mein neues Gedanken­ leben überhaupt die volle Anteilnahme an der mo­ dernen Bewegung des Conrad-Kreises: widersprachen doch dessen allgemein fortschrittlichen und freiheit­ lichen Ziele, wenigstens wie ich sie verstand, keines­ wegs meinen neuen Ueberzeugungen. Ich verschwieg aber zunächst meine äusseren und inneren Erlebnisse auch dem engeren Zirkel. Nur den älteren Freunden, namentlich Weinhöppel, machte ich offenherzige An­ deutungen, die sie mit kopfschüttelnder Verwunde­ rung aufnahmen, ohne sich selbst weiter dafür zu interessieren. Von der Du Prel-Gesellschaft aber zog ich mich um diese Zeit zurück, da ich die Anschau­ ung des Münchener Okkultistenführers für vielfach unrichtig hielt; ich meinte keiner fremden Belehrung mehr zu bedürfen und für mich allein zu einer weit zuverlässigeren und bedeutenderen Erkenntnis ge­ langen zu können. Der engere Kreis der «Modernen» traf namentlich in dem Restaurant zur «Stadt London» am Frauen­ platze, dann auch im «Parsival» an der Herrenstrasse, nahe der Maximilianstrasse zusammen; nachmittags aber trafen wir Jüngeren und auch Panizza uns regelmässig an einem Fenstertisch des «Arabischen Cafés» an der Müllerstrasse. Bei den letzteren Zu­ sammenkünften pflegte ich lyrisch zu improvisieren, und zwar in modern impressionistischer Art, der ich da freilich mehr nur im Sinne scherzhafter Spielerei fröhnte. Ich entwickelte hierin eine gewaltige Frucht­ barkeit, schrieb zahllose Zettel voll, alles versifizie154

rend, was mir vors Auge kam, und überliess dann dem sammelfreudigen Schaumberger diese Moment­ aufnahmen, ohne sie selbst der Aufbewahrung wert zu halten. Einmal verfiel ich auch darauf, die Freunde und Genossen in grotesken Vierzeilern zu karrikieren, mit einer ungeheuerlichen Grobheit, die sie mir aber nicht übel nahmen. Einige von diesen Zerrbildern sind mir noch im Gedächtnis; so wurden z. B. Bierbaum, dessen lichtgrauem und weissumbändertem Lyriker­ hütchen wir den Namen «Frühlingswolke» beigelegt hatten, und der nervöse, mit dem Gegenteil von Kor­ pulenz gesegnete Schaumberger, der immer auf der Beobachterjagd nach kleinen Besonderheiten des realen Lebens war, mit den Worten begrüsst: «Bierbaum kommt herangelämmert Frühlingswolkenüberdämmert, Zwischen Träumeln und Geniessen Butterig umherzufliessenl Und Schaumbergern kraflentsäftigt Seh ich fieberhaft beschäftigt, Stimmungsmückchen mit den langen Zitterfingern einzufangen.»

Von den jungen Berliner Poeten suchte uns einmal auch Ludwig Jakobowski im Arabischen Café auf, wo er gerade nur mich allein antraf, er machte mir zwar menschlich bei seinem Uebermass von Selbst­ bewusstsein und in seiner spöttisch-schnoddrigen Art keinen sympathischen Eindruck, interessierte mich aber durch sein anregendes Geplauder, sodass ich ver­ sprach, ihn aufzusuchen, falls ich einmal nach Berlin käme. Auch bei unsern Abendzusammenkünften im Bestaurant «Parsival» fanden sich manchmal Berliner Gäste ein, so Conrad Alberti alias Sittenfeld, der schon früher in der «Gesellschaft» gegen Heyse los­ gewettert hatte, Heinz Tovote, der damals auf der Höhe seiner Erfolge als novellistischer Ausschlachter der Süsse Mädel-Liebschaften stand, und der heiss­ blütige und eigenartig begabte Franz Held — recte Herzfeld —. 155

An Sonntagnachmittagen wanderten wir in jenem Winter mit Vorliebe, um Meister Conrad geschart und seinen frisch sprudelnden Bemerkungen und Aus­ führungen lauschend, auf der Höhe des rechten Isar­ ufers, wo man so schön die Stadt überschaut, zum renommierten «Giesinger Weinbauern», um uns dort einen guten Schoppen zu gönnen. Conrad erzählte uns dabei auch vieles von seinem früheren Aufent­ halt in Paris und Rom, und wenn er in der behag­ lichen Wirtsstube bei der anschaulichen und drama­ tisch lebhaften Wiedergabe seiner Abenteuer dem Temperament die Zügel schiessen liess, wurden auch alle spiessbürgerlichen Sonntagsgäste des Lokals zu andächtig schweigsamen Zuhörern. Im Dezember 1890 reiften die Bestrebungen der Münchener «Moderne» einem tatkräftigen Auftreten entgegen. Eine Kampf-Organisation sollte geschaffen werden, die in ihren Vorstössen gegen das Veraltete und in ihrer Verkündigung des lebensvoll Neuen von der breiteren Oeffentlichkeit Isarathens nicht mehr vornehm ignoriert werden könnte. Conrad wollte aus verschiedenen taktischen Gründen nicht selbst diese Organisation ins Leben rufen, sondern erst auf nach­ trägliche Einladung den Vorsitz, der ihm naturgemäss gebührte, übernehmen: und so gründeten wir Jün­ geren des engsten Kreises, Bierbaum, Schaumberg, Schaumberger und ich, noch im Dezember die «Ge­ sellschaft für modernes Leben», welche «die Pflege und Verbreitung modernen schöpferischen Geistes auf allen Gebieten: Soziales Leben, Literatur, Kunst und Wissenschaft» als ihre Aufgabe bezeichnete und ihre Ziele durch Veranstaltung von Vortragsabenden theo­ retischer und rezitatorischer Art, durch Errichtung einer «Freien Bühne», durch Sonderausstellungen von Werken der bildenden Kunst, die für die moderne Entwicklung bezeichnend wären, und durch Heraus­ gabe einer besonderen Zeitschrift «Moderne Blätter» erreichen wollte. Die Zeitschrift sollte unter Schaum­ bergers Leitung in einfacherer Ausstattung und ohne 156

Bilderschmuck an die Stelle der «Münchener Kunst» treten, die anfangs Januar wegen unzureichender Rentabilität ihr Erscheinen einstellen musste. Conrad nahm dann das Präsidium an, da wir es ihm in der gewünschten Weise anboten, und äusser ihm und uns vieren wurden noch Rudolf Maison und Liliencron in den Vorstand gewählt. Die von diesem Gesamtvor­ stand unterzeichnete Ankündigung und Beitrittsein­ ladung der neuen Gesellschaft ging durch alle Blätter, ganz München geriet in Aufregung, die Anhänger des Alten in Kunst und Leben rüsteten sich zum grimmigen Widerstand, und alles erwartete mit Spannung den ersten Vortragsabend, der am 29. Januar 1891 in den Räumen der «Isarlust» auf der Insel an der Maximiliansbrücke unsere Wirksamkeit eröffnen sollte. Als der grosse Tag gekommen war, konnten Hun­ derte von Neugierigen keine Eintrittskarten mehr er­ halten, so überwältigend war der Zudrang. Als erster sprach natürlich Conrad in seiner feurigen und bild­ kräftigen Beredtsamkeit über die Ziele der Gesell­ schaft. Er wies darauf hin, dass man jetzt, am Ende des Jahrhunderts, ganz allgemein zu der Erkenntnis gekommen sei, es könne so nicht weiter gehen, es müssten Brücken gebaut werden vom Alten ins Neue, von der Antike mit ihrem «Epigonenschweif» in die Moderne. Paris und Berlin seien mit der Gründung von freien Vereinigungen zu diesem Zweck voran­ gegangen, und die Kunststadt München dürfe hinter ihnen nicht Zurückbleiben. Auch wir Münchener Mo­ dernen wollten nunmehr «den Weizen des neuen Geistes zu frischem Mehl und Brot verarbeiten und dem Volke, das nach Neuem und Kräftigem hungere und des alten Breies genug habe, darbieten.» Es gälte da freilich manches Vorurteil zu besiegen, manche törichte Furcht zu zerstreuen; die starken Leiden­ schaften und rücksichtslosen Entschleierungen in der neuen Kunst erfüllten den Gewohnheitsmenschen mit Grauen, und er schrie da, wenns zum Treffen komme, nach der Polizei. Darum sollten sich «erst die Starken 157

und Gleichmütigen vereinsmässig zusammenfinden, damit die Angst- und Heulmeier die Versuche mit der neuen Kunst und Literatur nicht störten»; jene «Leute vom Geist» sollten sich vergesellschaften, die mit dem Kritiker Taine des Bekenntnisses lebten: «Auf freiem Felde begegne ich lieber einem Schaf als einem Lö­ wen; aber hinter einem Gitter sehe ich lieber einen Löwen als ein Schaf. Die Kunst ist eine solche Art von Gitter, sie beseitigt den Schrecken und lässt nur das Interesse übrig.» Man solle also in Kunst, Litera­ tur und Theater einmal die guten alten Schafe laufen lassen und sich die jungen Läuten ansehen! — Auf diese Ansprache Conrads folgte ein Vortrag Bier­ baums über «die deutsche Lyrik von heute», der für die Vorzüge der neuen, von akademischer Steifheit erlösten lyrischen Produktion treffende Worte fand, aber freilich nach der Conrad’schen Rede abfallen musste, da Bierbaum weder über ein klangvolles Or­ gan verfügte noch auch frei und wirksam zu sprechen verstand. Hieran schloss sich die Rezitation verschie­ dener jüngstdeutscher Gedichte durch die Hofschau­ spielerin Anna Dandler. Obschon unsere Gegnerschaft im Publikum zahlreich vertreten war, hatte sich bis­ her gegenüber dem kräftigen, ja oft demonstrativen Beifall der fortschrittlich Gesinnten kein erheblicher Widerspruch hervorgewagt. Nun aber kam ich, der ich mich bei der Programmberatung erboten hatte, meine Parodien auf ältere Lyriker im scherzhaften Rahmen eines Vortrags über die «Lyrik von gestern» zu Gehör zu bringen. Seit meinem ersten Vortrags­ versuch bei dem Stiftungsfeste der Bürgersängerzunft, da ich meinen Hymnus auf die Musik gesprochen, war ich vor kein grösseres Publikum getreten, aber der damalige Erfolg hatte mir Mut gemacht, und Be­ fangenheit den Massen gegenüber war mir von Natur aus fremd. So trug ich meine Sachen mit all der ulkenden Keckheit vor, die ihre Gattung verlangte, und entfesselte damit den verhaltenen Ingrimm der Reaktionären zu heftigem Protest. Höhnische, zornige 158

und drohende Rufe flogen mir aus der erregten Menge zu, namentlich bei der Verulkung von Heyse, Lingg und Geihel, andere nahmen mich durch Gegenrufe in Schutz, und wenn ich mich auch durch die allgemeine Kampfstimmung nicht irre machen liess, so schloss doch der Abend infolge meines Vortrages recht misstönig unter allgemeiner Erhitzung der Gemüter. An­ deren Tags war in einem Zeitungsbericht zu lesen: «An der gewaltigen Mähne kenntlich, trat sodann ein «junger Löwe», Herr Hanns von Gumppenberg, auf, ohne dass es glücklicherweise zu einer Panik kam. Herr von Gumppenberg gefiel sich darin, «deutsche Lyrik von gestern» zu parodieren und die Werke anerkannter Dichter ins Lächerliche zu ziehen. Das Auditorium kam schliesslich zu der Ansicht, dass der Redner besser täte, mit seinem Witz seine in den weitesten Kreisen unbekannten Trauerspiele zu be­ leben, die zu parodieren sich allerdings niemand die Mühe geben wird. Als der junge Löwe den Sang der Alten schliesslich einfältig und abgeschmackt nannte, da protestierten verschiedene geduldige «Schafe», und Rufe, wie «Pfui», «Besser machen!» machten dem «Parodisten» entschiedenes Missfallen kund.» — Dass ich die Lyrik der parodierten Poeten «einfältig und abgeschmackt» genannt hätte, war natürlich eine glatte Lüge, von solchen plumpen Beschimpfungen hätten mich schon Anstandsgründe zurückgehalten, selbst wenn sie meinem Urteil entsprochen hätten; vielmehr hatten sich meine Ausführungen durchaus in den Grenzen harmlosen Uebermuts und spasshafter Kennzeichnung der Sonderart gehalten. Aber unsere Feinde arbeiteten eben mit ihrem gewohnten Mittel, der Verleumdung, auch anderes, was der Abend ge­ bracht hatte, wurde in ihrer Presse böswillig ent­ stellt und verdreht und Conrad entschloss sich daher, unsere Vorträge, die ja sämtliche in schriftlicher Aus­ arbeitung vorlagen, sofort in ihrem Original-Wortlaut als Flugschriften zu veröffentlichen, um den Gegnern die unehrlichen Waffen aus der Hand zu schlagen. 159

Natürlich erbitterte sie das unmittelbar folgende Er­ scheinen und der reissende Absatz der «Münchener Flugschriften» noch mehr, wie er andererseits unserer Sache neue Freunde zuführte, und ganz München teilte sich in zwei feindliche Lager. Ein auf Seiten der Alten stehender Jüngling — seinen Namen habe ich vergessen — fühlte sich bemüssigt, in einer Bro­ schüre einen ganzen Schwarm von Versepigrammen auf uns loszulassen, von denen mir noch die beiden folgenden in Erinnerung sind: «Ach unsre Zeit ist übel dran Und wird noch immer ärger — Schaumberg heisst der Positiv, Der Komparativ Schaumbeiger!» und:

• Sieht man, wie gumppenbergerlich Wird unsre Lit’ratui Wird hitzig auch und ärgerlich Die friedlichste Natur: Drum fort damit was schädlich, Schaumbergerisch-conrädlich!»

Wir blieben die Gegenhiebe nicht schuldig wenn wir auch die ohnmächtigen Witzeleien des Epigram­ matikers nur herzlich belachten und sie keiner Ant­ wort würdigten. In Erwiderung auf die Ausbeutung, die das Wort von den «Löwen» und «Schafen» durch die Gegner erfuhr, schrieb Schaumberger ein «Löwen und Schafe» betiteltes satirisches Poem, das auf rote, grüne und gelbe Zettel gedruckt wurde und unter die Volksmenge, die sich im bunten Maskentrubel des Faschingsdienstags in der Maximilianstrasse drängte, gratis verteilt werden sollte. Ich übernahm die Rolle des Verteilers und wählte dafür die Maske eines alten, gebückt einhergehenden Bettelweibs mit entsprechen­ der Gesichtslarve, um von den überall lauernden Geg­ nern nicht erkannt und vorzeitig in meiner Tätigkeit gehindert zu werden. Es gelang mir auch, auf diese Weise den grössten Teil des Blätterpacks ungestört in der Menge zu verbreiten; dann aber hing sich, wohl 160

mehr ob meines herausfordernden abscheulichen Aus­ sehens als aus Parteigründen, ein Janhagelschwarm skandallustig schreiend an meine Fersen, faustgrosse Steine sausten mir um den Kopf, ich musste die Flucht ergreifen und eilte seitwärts in das Restaurant «Parsival», die Tür hinter mir zuwerfend, während der verfolgende Pöbel draussen halt machte, um mein 'Wiederauftauchen abzuwarten. In einem Hinter­ zimmer demaskierte ich mich schleunigst, übergab alle Bestandteile des Bettelweibs wie auch den Rest der Flugblätter den wohlbekannten Wirtsleuten, trat dann als unbefangener Stadtherr wieder auf die Strasse hinaus, wo der gierige Schwarm immer noch auf sein Opfer wartete, und sagte lachend zu den Rädelsführern: «Suchen Sie das alte "Weib? Das ist noch drinnen — aber es wird gleich herauskommen!» Arglos blieben die Geprellten vor der Türe stehen, ich aber verschwand spurlos im Menschenstrom. Auf die ersten Pamphlete und Verleumdungen der Gegner folgten Angriffe, die uns ernstlicher zu schaf­ fen machten. Vor allem stürzten sie sich jetzt auf meinen «Messias», der unmittelbar vor dem Er­ öffnungsabend der Modernen im Buchhandel er­ schienen war. Mehrere Artikel in Münchener Blättern brandmarkten mein Drama in teils verständnisloser, teils absichtlicher Verdrehung als Ausgeburt des empörendsten «Atheismus» und verdächtigten mich zugleich, ohne den geringsten Anhalt, ganz allge­ meiner umstürzlerischer Pläne mit dem lapidaren Satz: «Der Kirche gilt sein erster Ansturm — dem Staate wird sein zweiter gelten!» Damit sollte der Staatsanwalt auf mich und uns alle gehetzt und uns so der Garaus gemacht werden. Gleich nach dem Erscheinen dieser Schmähartikel liess auch der Verleger Finsterlin angsterfüllt das Buch von seinem Ladenfenster am Maximiliansplatz verschwinden, mein Vater aber, der nun für meine Zukunft wie auch als Beamter für seine eigene Stellung besorgt wurde, entschloss sich zu dem erneuten Opfer, den 11

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bedeutenden Rest der Auflage von Finsterlin teuer zurück zu kaufen — was garnicht nötig gewesen wäre, da sie den Verleger ja keinen Pfennig gekostet hatte — und all diese Hunderte von Exemplaren straks einstampfen zu lassen. Da es sich nicht um mich allein handelte, musste ich ihn gewähren lassen. Aber auch in der «Gesellschaft für modernes Leben» zogen diese Presseangriffe unmittelbare Folgen nach sich. Die nächste war eine vorbeugende Erklärung Conrads in der «Augsburger Abendzeitung», dass er für seine Person nicht auf dem Boden des Atheismus, sondern auf dem des Evangeliums stehe. Das ver­ dross aber wieder Schaumberger und Bierbaum, zumal es von den ultramontanen Blättern sofort als furchtsamer Rückzug der Moderne ausgebeutet wurde, und veranlasste die beiden zu der Sondererklärung, dass sie persönlich Conrads Standpunkt nicht teilten, «sich vielmehr zu allen Konsequenzen des modernen Gedankens auch auf diesem Gebiete bekennten, und dass die Gesellschaft für modernes Leben überhaupt kein Dogma aufstelle, welches es auch sei.» Eine Weile hatte es den Anschein, als sollte die so unvermutet entbrannte religiöse Disputation die ganze Moderne sprengen; aber Conrad beseitigte die Schwierig­ keiten, indem er in einer Mitgliederversammlung seinen Standpunkt dahin erläuterte, dass auch er nicht Anhänger irgend eines Dogmas wäre, sondern dass ihm die Lehren des Nazareners in einem viel weiteren Sinne als Richtschnur für die Betätigung allumfassender Menschenliebe und des furchtlosen Strebens nach Wahrheit gälten: ganz wie auch ähn­ liche Lehren des Talmud oder der grossen indischen Religionsstifter. Ich selbst als der unmittelbar in den Blättern Angegriffene war nicht gesonnen, ihnen die Antwort schuldig zu bleiben, aber auch nicht, den völlig unbegründeten Vorwurf des Atheismus auf meinem Werke und meiner Person sitzen zu lassen. Ich entschloss mich, diese Antwort mündlich auf dem zweiten öffentlichen Abend der Gesellschaft zu er162

teilen, der im grossen Saale der «Zentralsäle» an der Hochbrückenstrasse stattfand. Ich hielt da einen Vortrag «über die künstlerische Behandlung reli­ giöser Stoffe», der nach allgemeineren Ausführungen zur Erörterung meines «Messias» überging, wobei ich den nichtatheistischen Charakter des Stückes nach­ wies, dann mit den einfachsten Mitteln der Logik das Wesen der Gegner als atheistisch dar tat und endlich meine Beweisführung mit den Worten schloss: «Ergo sind meine Gegner die Atheisten!» Ich hatte Verteidigung und Gegenangriff wie harte Hammerschläge in den menschenüberfüllten Saal ge­ schmettert, und nach meinen Schlussworten erhob sich so laut schallender Applaus, dass die anwesen­ den Späher aus dem feindlichen Lager keinen Pro­ test wagten; ja die Menge jubelte mich, als ich die Rostra verlassen hatte, noch mehrmals hervor. Natürlich liess die Rache für diese solenne Abfuhr nicht auf sich warten. Man denunzierte mich dem Staatsanwalt wegen einer angeblichen Gottesläste­ rung, deren ich mich in jener Rede schuldig ge­ macht hätte. Immerhin erreichten die Verleumder, dass ich in Anklagezustand versetzt wurde. Zum Glück konnte ich aber wieder das wortgetreue Manu­ skript vorlegen, das die Grundlosigkeit der Anschul­ digung erwies, und so wurde das Verfahren gegen mich schon in der Voruntersuchung sofort einge­ stellt. Darob gesteigerte Wut der Ultramontanen und fieberhafte Gier mir und der «Gesellschaft für modernes Leben» auf irgend welche Art beizukom­ men. Bei den damaligen Münchener Rechtsverhält­ nissen, über die unsere heutigen Juristen den Kopf schütteln würden, konnte es auch nicht fehlen, dass sie schliesslich an ihr Ziel gelangten. Noch ehe es aber so weit kam, hatte meine überzeugte Hingabe an den Spiritismus zu einer Krisis ganz anderer Art geführt. Meine Suche nach einem neuen Medium war nämlich zuletzt doch noch mit Erfolg gekrönt wor­ 163

den. Zum weiteren Kreise meiner Bekannten hatte auch der junge Schauspieler M. gezählt, ohne in unserer Runde eine bemerkenswerte Rolle zu spielen bei seiner geringen Begabung und Strebsamkeit. In­ zwischen hatte er den weltbedeutenden Brettern gleichmütig den Rücken gekehrt und ein kleines Zigarrengeschäft aufgemacht; er stellte da seine hübsche, temperamentvolle Frau mit niedlichem Puppengesicht und lachenden Blauaugen als lockende Verkäuferin in den Laden, während er selbst mit dem Verdienst, der sich fürs Erste ganz günstig anliess, das bequeme Kaffeehausleben führte, um das allein es ihm zu tun war. Als ich ihn nach seiner Metamorphose zufällig einmal traf und ebenso zu­ fällig die Sprache auf den Spiritismus kam, der ja damals überall diskutiert wurde, erwähnte er als spottender Skeptiker, dass auch seine Frau an den «Schwindel» glaube, und dass sie auf Grund angeb­ licher' eigener Erlebnisse sich einbilde, ein Medium zu sein. Natürlich reizte mich dies zu einem Ver­ such. Und M. erklärte sich sofort bereit, mir zu einer Prüfung seiner Frau auf mediale Veranlagung Gelegenheit zu geben. Wir gingen also zusammen nach seiner Wohnung; die blonde L., die ich bereits flüchtig kannte, begrüsste mich aufs Freundlichste und bestätigte mir die Aussagen ihres Gatten aul eine Weise, die mir deutlich zeigte, dass sie nicht etwa erst durch andere Spiritisten auf das Gebiel gelenkt worden war, sondern als vollkommene Laiin durch persönliche Beobachtung. Aus kleinen bürger­ lichen Verhältnissen stammend und nur durch das Theaterleben, dem auch sie angehört hatte, mit eir bisschen Oberflächenbildung ausgestattet, betrug sie sich meinen Prüfungswünschen gegenüber mit so unmittelbar überzeugender Naivität, dass ich der Verdacht raffinierter Täuschungsabsichten von vorn herein hätte ausschlagen können. Denselben für meir Vorhaben günstigen Eindruck hatte ich auch vor ihrer Erzählung eines Erlebnisses, das ihr vor allen 164

den Glauben an die Geisterwelt und an ihre eigene Veranlagung gegeben hatte. Eine ältere Schwester von ihr war von ihrer harten Mutter aus dem Hause und ins Elend gejagt worden; sie war dann ver­ schollen geblieben. An einem regnerischen späten Herbstabend hatte die Mutter eine Besorgung vor der Stadt zu erledigen und nahm dazu die jüngere Tochter, damals ein 15-jähriges Mädchen mit. Als die beiden durch eine vom Sturm gepeitschte menschen­ leere Allee ihrem Ziele zustrebten, tauchte plötzlich vor ihnen aus dem Dämmerdunkel die Gestalt der Verschollenen mit wirr fliegenden Haaren, und mit drohend erhobener Hand auf, worauf die Mutter mit einem Schreckensschrei den Arm ihrer Begleiterin ergriff und Kehrt machend mit ihr in die Stadt zurückrannte. Die bis ins Einzelnste natürliche Art der Schilderung musste jeden Gedanken an blosse Flunkerei verbannen. Trotzdem nahm ich mir vor, die Erzählerin noch aufs Peinlichste zu beobachten. M. schloss also die Ladentüre ab, und wir gingen in die anstossende Wohnung, wo sich sogar ein richtiges Geistertischen mit kreisrunder Holzplatte fand. Kaum hatte ich die bewegliche und plauder­ süchtige Blondine dazu vermocht, sich allein und stumm an dieses Tischchen zu setzen, die Hand Daumen auf Daumen aufzulegen, und sich rein passiv zu verhalten, als auch schon «Geben» wie wenn sie vor Ungeduld den Augenblick herbeigesehnt hätte, mit der ihr eigenen ganz unverkennbar feierlich­ grossen Bewegung das Tischen hob. «Bist du das, Geben?» frug ich, obwohl ich schon gar keinen Zweifel mehr hegte. Das Tischchen wiederholte seine charakteristische Bewegung aufs Nachdrücklichste. «Freust du dich, dass wir endlich wieder mit­ einander sprechen?» Der Tisch bejahte und klopfte dann sogleich buch­ stabierend in raschem Tempo, wie in zärtlicher Er­ regung, die Worte: »Ich liebe dich!» 165

Die sonst so lebhafte Frau M. sass während­ dessen schweigsam und regungslos, und als jetzt mein Blick wieder auf sie fiel, sah ich an ihr alle Anzeichen jener schlafähnlichen Entrücktheit, in die stark veranlagte Medien beim Auftreten der Phä­ nomen zu versinken pflegen. Um einer Schädigung ihrer Nerven vorzubeugen, die mir alles wieder hätte verderben können, brach ich die Sitzung ab und erklärte dem höchlichst verwunderten Gatten das durchaus positive Ergebnis meiner Prüfung, worauf er jetzt selbst gläubig angesteckt, zu täglichen wei­ teren Nachmittagssitzungen seine Zustimmung gab, und sich erbot, während diesen künftigen Versuchen seine Frau im Laden zu vertreten. So schloss ich dann eine längere Reihe von «Sitzungen» an, während welchen ich mir von «Geben» das begonnene metaphysische Weltbild ver­ vollständigen liess. Es hatte für meine eigenen bis­ herigen Vorstellungen, die sich auf pantheistisches Philosophieren gegründet hatten, viel Fremdartiges und Kurioses, somit auch stimmte die im ganzen düstere asketische Beleuchtung, die das «grob mate­ rielle» irdische Menschendasein als eine Zeit leidens­ voller «Prüfung» erfuhr, schlecht genug zu der we­ sentlich optimistischeren Auffassung, der ich persön­ lich gehuldigt hatte. Gegen die Zweifel, die sich in mir erheben wollten, sprach aber nicht nur das Ver­ trauen, das ich in «Gebens» Sachkenntnis und Wahr­ haftigkeit setzen zu können meinte, auch die Ueberlegung, dass nicht einmal der menschliche Verstand triftige Gründe dagegen geltend machen könnte. Als ich das Weltbild genau nach «Gebens» Angabe zu Papier gebracht hatte, klopfte das Tischchen, ich müsse es nun auch veröffentlichen. Ich batte keinerlei Gründe anzuzweifeln, dass auch diese ebenso bestimmte als überraschende Aufforde­ rung von «Geben» käme und dass alle Einzelheiten des diktierten Weltbildes von ihr stammten, denn wiewohl meine Gespräche mit ihr manchmal durch 166

«Eindrängungen» von «Elementargeistern», die «Ge­ ben» als Kobolde zu bezeichnen pflegte, vorübergehend gestört worden waren, so hatten diese Eindrängungen doch vermöge der ulkenden Art, die sie im sprach­ lichen Ausdruck, wie auch in der charakteristischen Tischbewegung zeigten, stets leicht unterscheidbar ge­ schienen und auf meine Beobachtung auch nur wenige Augenblicke gewährt, worauf dann wieder «Geben» in ihrer wohlbekannten Weise ihre Mitteilung fort­ zusetzen schien, unter Hinweis auf die erfolgte Stö­ rung, nichts destoweniger war ich Verblüffter jetzt betroffen durch das Verlangen nach Publikation, denn trotz meiner täglichen Beschäftigung mit der Sache hatte ich die Fühlung mit der nüchternen Wirklich­ keitswelt durchaus nicht verloren, sodass ich mir über den mehr als sonderbaren Eindruck klar war, den eine Veröffentlichung des Weltbildes auf die Mehr­ zahl meiner Zeitgenossen machen musste. Ich sprach daher sogleich meine schweren Bedenken aus. Aber «Geben» wiederholte nur die Aufforderung in einer schärferen Form, die an meinen Mut und mein Pflichtgefühl appellierte. Ich opponierte weiter mit all meinen guten Gründen. Da wurde mir schliesslich erklärt, die materiell versumpfte und verblödete Zeit bedürfe einer neuen Offenbarung des Geistes, Gott habe «Geben» und mich zur Vermittlung dieses seines «Dritten Testaments» bestimmt, und sie habe die mediumistische Verständigung mit mir vor allem zur Erfüllung des göttlichen Auftrags gesucht und herge­ stellt; auch mein scheinbar nur rein persönlicher Er­ kenntnisdrang, der mich von ihr das Weltbild verlan­ gen liess, sei auf innere Gedankenweckung von ihrer Seite zurückzuführen: und ich müsse nun unbedingt, ohne weiteres Zagen und Zaudern und mit voller Einsetzung meiner Person die Veröffentlichungspflicht erfüllen. Diese neuen Enthüllungen, die mir eine mystische Ausnahmestellung nach Art der Religionsstifter zu­ wiesen, wirkten auf mich bei all meinen schweren 167

praktischen Bedenken an sich nicht so schlechthin ungeheuerlich und grotesk, wie sie wohl auf jeden Zeitgenossen gewirkt hätten, dessen Verstand so intakt war wie der meine. Denn in meinem geistigen und seelischen Wesen war allerlei, das zu solchen «Wun­ dern» eine natürliche Brücke schlug. Da war vor allem meine Ueberzeugtheit vom allbeherrschenden Dasein eines ewigen, über menschliches Begreifen er­ habenen Geistes, die von meinen philosophischen Studien nicht erschüttert, vielmehr durch die rein logische Einsicht bestätigt worden war, dass alles Ma­ terielle und jede Einzelexistenz blosse illusorische Er­ scheinungsform einer rein geistigen «Substanz» im Sinne Spinozas sein müsse. Da waren ferner die Nach­ wirkungen meiner kirchlich gläubigen Knabenzeit auf meine Vorstellung von dieser rein geistigen Macht und von der Möglichkeit eines unmittelbaren Verhältnisses zu ihr als zu einer gegenüberstehenden Respekts­ person. Wie schon früher erwähnt, hatte ich den christlichen Gottesglauben schon viel ernstlicher und gegenständlicher genommen als meine Altersgenossen; um einen goetheschen Ausdruck zu gebrauchen, mit «lebendigerem Gefühl der Zustände». Und so wirkte meine intensive Erfassung des Christentums insofern in mir nach, als ich mir auch den einzigen schaffenden Geist meiner neuen Ueberzeugung noch als bewusst lenkende Persönlichkeit vorstellte, freilich nicht wie die Kirche, Gott Vater als alten Mann mit wallendem Barte, sondern in der ewigen Jugend- und Kraftfülle eines heidnischen Lichtgottes. Da war ferner die Vor­ urteilsfreiheit, zu der ich als Denkender durchgedrun­ gen war, und für die es auch nichts Verwunderliches gab, wo der Philister vor der himmelstürmenden Kühnheit oder Fremdartigkeit der Voraussetzungen entsetzt Reissaus nimmt. Da war meine jugendliche Dichterphantasie, die sich seit Anbeginn im grossen «Elementarischen und Kosmischen» am liebsten er­ ging und obendrein der von der Familie Sommer er­ erbte Hang zu massloser Romantik, wie auch zu einem 168

unmittelbaren religiösen Erleben seitab vom herkömm­ lichen kirchlichen Kult; die letztere Anlage war noch verstärkt worden durch jene frühen Einwirkungen seitens der im gleichen Sinn unkirchlichen oder über­ kirchlich gottesfürchtigen und ahnungsvollen Gross­ mutter Sommer und wenn auch beide vererbten Nei­ gungen in mir gebändigt waren durch meine moderne Bildung, meine realen Lebenseindrücke und meine besonnene Verstandeskritik, so traten sie doch wieder in Kraft, sobald mein Verstand kein hinreichendes Ge­ genargument vorzubringen wusste. Endlich war da auch noch das stark entwickelte Gefühl meiner We­ sensverschiedenheit zu den Durchschnittsmenschen, das mich von jeher innerlich vereinsamt hatte, und das mich die Bestimmung zu einer besonderen Aufgabe jetzt fast als etwas Naturgemässes empfinden liess. Hatte so die Aufforderung zum Prophetentum für mich nichts schlechthin Monströses, so traf sie zu­ gleich auch auf mein stark entwickeltes, idealistisches Verantwortlichkeitsgefühl der Allgemeinheit gegen­ über, die ich vom Materialismus befreien und einer edleren Kultur zuführen sollte. Aber trotz alledem und trotz meines Vertrauens zu «Geben» widerstrebte ich der aufgetragenen Veröffentlichung zunächst aufs Hef­ tigste, teils wegen meiner Zeitgenossen, die ja schon für die gelindesten «mediumistischen Mitteilungen» nur Spott und Hohn übrig hatten, teils auch, weil ein der­ artig feierliches Auftreten meiner persönlichen schlich­ ten Art unerträglich erschien. «Geben» brach endlich das Gespräch — wie es schien, in heftigem Unmut — ab, indem sie erklärte, ich werde und müsse mich eines Besseren besinnen. Die letzten Worte klangen wie eine Drohung, was mich bei meinem seltsamen Liebesgefühl für sie auch noch in anderem Betracht erregte. Das Nachgrübeln über die Berechtigung meines Widerstandes, während ich das gefährliche Tischchen der Frau M. mehrere Tage mied, versetzte mich in arge Nervenüberreiztheit, ich verbrachte schlaflose Nächte, und konnte mich aus diesem qual­ 169

vollem Zustand schliesslich nur durch den Entschluss retten, das Weltbild «Gebens» tatsächlich zu ver­ öffentlichen. Sobald der Entschluss gefasst war, fühlte ich meine innere Ruhe wiederkehren. Aber der inneren Frei heit hatte ich mich nun auf die Dauer der ganzen Angelegenheit begeben: was allen denen zur Warnung dienen möchte, die da meinen, im Vertrauen auf das Freibleiben ihres persönlichen Willens sich mit jener unkontrollierbaren Sphäre einlassen zu können. Gleich darauf schrieb ich meinem Vater ausführ­ lich und in aller Gelassenheit über meine prophetische Verpflichtung und deren Vorgeschichte, lag mir doch daran, die irrtümliche Vorstellung zu verhüten, dass ich verrückt geworden sei. Man kann sich denken, welchen Eindruck mein Schreiben trotzdem machte. Aus Bamberg erhielt ich gleich zwei Briefe, einen vom Vater, einen von der Mutter. Mein Vater schrieb in sichtlich erzwungener Sachlichkeit und Trocken­ heit, dass ich «mir für meine Bestrebungen gar kein unglücklicheres Gebiet hätte wählen können als das religiöse», aber er äusserte doch seine «Besorgnis»; er könne jetzt beruflich nicht abkommen, sonst würde er sogleich nach München fahren, um mit mir eingehend über die Sache zu sprechen, jedenfalls erwarte er von mir, dass ich keine Unbesonnenheit beginge und nichts in die Oeffentlichkeit brächte. Meine Mutter aber schrieb mir in treuherzigem Ton, ich könne es ihrem sicheren Gefühl glauben, dass ich nicht zum «Pro­ pheten» bestimmt sei. Ich las die Briefe nur mit dem Lächeln, das der Eingeweihte für die irrige Auffas­ sung von Laien hat, und zugleich mit dem altruistisch schmerzlichem Bedauern, dass meine Familie von der bevorstehenden Kulturerneuerung zunächst nur Angst und Qual statt Freude haben sollte. Dass ich mich von keinem der Briefe in der Erfüllung meiner vermeint­ lichen Pflicht beirren lassen dürfte, verstand sich ja von selbst. 170

Wie aber sollte ich nun die Drucklegung des dik­ tierten Weltbildes in der geforderten Eile bewirken? Selbst verfügte ich nicht über die dazu nötigen Geld­ mittel, denn, was ich schriftstellerisch verdiente, und was ich von daheim als Zuschuss erhielt, reichte zu­ sammen nur knapp für meinen Lebensunterhalt aus. Endlich eröffnete ich Schaumberger als meinem ver­ trautesten Freund unter den Modernen meine Not. Als absolut Ungläubiger schüttelte er natürlich den Kopf zu der ganzen Sache, aber als Psychologe sah er, dass ich unter einem inneren Zwange stand, dass ich nur durch Nachgiebigkeit beruhigt und durch die Wir­ kungslosigkeit meiner Veröffentlichung wohl auch am schnellsten heilsam «ernüchtert» werden könnte. Er wies mich daher auf die Möglichkeit hin, die Druck­ kosten mit einem von mir ausgestellten Wechsel zu begleichen, für dessen Deckung ich ja später sorgen könne, erbot sich als Vermittler und ging mit mir auf die Pössl’sche Druckerei, die auch die Herstellung der «Modernen Blätter» übernommen hatte. Pössl wil­ ligte ein und verpflichtete sich auch zur sofortigen Inangriffnahme der Drucklegung, und bald darauf konnten die Münchener in einigen Buchhandlungs­ auslagen, freilich aber nur in wenigen, eine hellgraue Broschüre erblicken, mit dem verwunderlichen Titel: «Das dritte Testament, eine Offenbarung Gottes, seiner Zeit mitgeteilt von Hanns von Gumppenberg.» Unter meinen höchlichst überraschten Kampf­ genossen — auch Schaumberger hatte das Manuskript nicht zu Gesicht bekommen, und sich die Sache «nicht so arg» vorgestellt — war die Meinung über das Wesen der Broschüre geteilt. Die einen hielten sie natürlich, bei ihrer Unkenntnis mediumistischer Tat­ sachen, für das Produkt eines bewussten plumpen Be­ trugs, dem ich zum Opfer gefallen wäre, die anderen aber, Conrad an der Spitze, behaupteten, es sei nur eine besonders listige Parodie, mit der ich dem dun­ keln Treiben der Spiritisten zu Leibe rücken wollte. Wedekind teilte wohl die erstere Meinung, denn er 171

parodierte selbst das äussere Gewand meiner Ver­ öffentlichung, indem er sich den Spass machte, in ganz demselben Format, Umschlag und Druck pseudonym eine Broschüre satanistisch-frivolsten Inhalts heraus­ zugeben, die den Titel trug: «Das Vaterunser, eine Offenbarung Gottes, seiner Zeit mitgeteilt von Franz Freiherrn von Trenck.» Ich nahm diesen Hohn ebenso gleichmütig hin wie die irrigen Auffassungen der anderen. Dagegen beunruhigte mich die Beobachtung, dass das «Dritte Testament» in der breiteren Oeffentlichkeit so gut wie keine Beachtung fand. Zwar brachten die «M. N. N.» ein Feuilleton Du Prel’s, der meine Schrift als typische Verirrung jenes «Glaubens­ spiritismus» verurteilte, der den erwiesenermassen meist lügnerischen Aussagen der «Intelligenzen» un­ verdient Vertrauen schenke; irgendwelche öffentlichen Erörterungen knüpften sich aber nicht daran, und von der allgemeinen Erregung, die ich, wenn auch viel­ leicht im gegnerischen Sinne, erwartet hatte, liess sich keine Spur beobachten. Die Welt ging ihren ge­ wohnten Gang und bald verschwand die «Offenbarung» auch da wieder aus den Schaufenstern, wo Gedanken­ losigkeit oder rein geschäftliche Spekulation ihre Aus­ stellung gewagt hatte. Ich frug nun «Geben», was jetzt wieder geschehen solle. Das Tischchen klopfte wie in heftiger Unge­ duld, ich müsse nun persönlichst für die Sache ein­ treten und den Inhalt meiner Schrift in öffentlichem Vortrag zu Gehör bringen. Wie die Dinge nun für mich lagen, konnte ich auch dieser äussersten For­ derung keinen Widerstand mehr entgegensetzen. So mietete ich dann ganz auf eigene Faust denselben grossen Saal, in dem ich über meinen «Messias» ge­ sprochen hatte, bereitete die nötigen Plakate vor und erwartete mit in noch immer unerschütterlichem Vertrauen einen so zahlreichen Besuch, dass ich die bedeutenden Kosten ohne weiteres decken könne. Man möchte glauben, dass diese extremste Zeit meiner spiritistischen Befangenheit mich so ausschliesslich in 172

Anspruch nahm, dass ich zur Teilnahme an real welt­ lichen Dingen weder gelaunt noch fähig gewesen wäre. Das war aber durchaus nicht der Fall. So energisch ich den vermeintlichen Prophetenpflichten nachkam, so unverändert war mein Wesen und meine Betätigung in jedem anderen Betracht geblieben. Ich machte auch mit ganz unvermindertem Eifer die Unter­ nehmungen der Münchener Modernen mit und kam nach wie vor zu den Besprechungen ins Arabische Café, wo jetzt auch Panizza regelmässig sich ein­ fand. Letzterer interessierte sich in seiner historisch­ theologisch-kritischen Art lebhaft für mein Problem, klassifizierte mich als «Schwarmgeist» im Sinne der Lutherzeit und meinte mit sarkastischem Humor, ich müsse nun aber als rechter Prophet, wie es in der Ordnung sei, auch tüchtig durchhalten und als Mär­ tyrer meiner Sache bis ans Ende gehen. Ich nahm diese und andere Aeusserungen meiner Bekannten und Freunde mit ruhiger Heiterkeit, ja selbst mit Gegen­ scherzen hin, ohne meine ernsthafte Beharrlichkeit in der Sache selbst zu verleugnen; ich erklärte ein für allemal, man dürfe von mir nicht die pathetische oder gar fanatische Geste der Propheten oder Sektierer früherer Jahrhunderte erwarten; die Zeiten hätten sich geändert, ich hätte nichts weiter zu tun, als meine Sache der Oeffentlichkeit gegenüber, in aller Gelassenheit wie eine neue wissenschaftliche Theorie zu vertreten, und es fiele mir gar nicht ein, durch exzentrische Allüren der Sache mehr zu schaden als zu nützen. Meine klaren und nüchternen Darlegungen setzten die anderen zunächst in helles Erstaunen gegenüber dem Inhalt meiner Schrift, die ihnen so überaus phantastisch erscheinen musste; dann aber wurde ihnen die Angelegenheit bald uninteressant, und man sprach wieder nur von der «Moderne». Es wur­ den die Bollen für einen neuen öffentlichen Abend verteilt, und ich erbot mich, einen Vortrag über den jüngstdeutschen Dichter Karl Henckell zu übernehmen, dessen frische Liebes- und Naturlyrik mir besonders 173

sympathisch war, wenngleich ich mich mit der sozialen Kampfpoesie, die damals einen weiten Raum in seinem Schaffen einnahm, inhaltlich und formell weniger befreunden konnte, weil sie mir einseitig be­ fangen und mehr rhetorisch-demagogisch als dich­ terisch erschien. Ich erhielt den Vortrag zu­ gesprochen, bereitete ihn mit der gewohnten Sorgfalt vor und wählte dafür, zur Illustration meiner Kenn­ zeichnung, aus den vorliegenden lyrischen Samm­ lungen Henckells eine grosse Anzahl von charakte­ ristischen Proben aus, die geeignet waren, seine Art von allen Seiten zu beleuchten; darunter auch einige bezeichnende von seinen sozialistischen Zeitgedichten. Der Abend kam und war wieder glänzend besucht, auch die Galerie des ganzen Saales war dicht gefüllt, und zwar vorwiegend durch Arbeitervereine, deren regem Bildungstrieb die Münchener «Modernen» ebenso entgegenkamen wie die gleichzeitige Berliner­ Bewegung. Als ich, nach mehreren Vorträgen an­ derer mit meiner Henckell-Darstellung beginnen konnte, war die Zeit schon weiter vorgeschritten als geplant war, und ich sah mich daher genötigt, auf die Rezitation einer Reihe der vorgesehenen lyrischen Proben zu verzichten. Unglücklicher Weise traf diese unverhoffte Kürzung mehr die reine, nicht politische, Lyrik Henckell’s, die ich in einem späteren Teil des Vortrages behandelte, wodurch seine soziale Lyrik rezitatorisch stärker betont schien, als es in meiner Absicht lag; meine geringere Einschätzung dieser Zeit­ gedichte betonte ich indessen deutlich genug und liess auch keine Zweifel darüber, dass mein Vortrag über­ haupt nur dem Zwecke einer literarischen Kennzeich­ nung diene, und nichts weniger als eine politische Parteinahme oder gar Propaganda bedeuten wollte. Allein während der Rezitation eines der sozialen Ge­ dichte — es war das Gedicht über die «Monarchen, die keine Zeit haben» — verliessen ein paar übervor­ sichtige Offiziere den Saal, die Arbeiter auf der Galerie applaudierten, und so fanden es die rach­ 174

gierigen, lauernden Gegner aussichtsvoll, mich zur Abwechslung wegen «Majestätsbeleidigung» zu denun­ zieren, weil mit der allgemeinen Monarchenkritik des Gedichtes gar kein anderer Monarch gemeint sein könne als Kaiser Wilhelm II. Sie erreichten auch wieder, dass die öffentliche Anklage gegen mich er­ hoben wurde, und ich legte nun freiwillig mein Vor­ standsamt nieder, um durch meinen Konflikt die Ge­ sellschaft nicht weiter zu gefährden; an die Möglich­ keit meiner Verurteilung glaubte aber keiner von uns, da ja der objektiv-literarische Charakter meines Vor­ trags wie auch die Kritik, die ich darin selbst an jenen Gedichten Henckells geübt hatte, nachweisbar bestanden, und zudem das von mir zitierte Gedicht einem Buche entnommen war, das in München nach wie vor unbeanstandet verkauft wurde. Das erste Gericht, das sich mit der Klage zu befassen hatte, wies sie dann auch als unbegründet ab. Nun aber legte der Staatsanwalt Berufung ein und erzielte, dass das Verfahren neu aufgenommen und ich vor ein Landgericht gestellt wurde, das, wie sich dann zeigte, den gegnerischen Standpunkt vertrat. Die Verhand­ lung sollte noch vor dem Sommer stattfinden. So lagen die Dinge, als der Tag kam, an dem ich für das «Dritte Testament» öffentlich eintreten sollte: in dem Saal, der meinen Henckell-Vortrag gehört hatte. Mich nach dem durch die Plakate bewirkten Kartenvorverkauf zu erkundigen, erschien mir un­ würdig, auch hatte ich das Vertrauen, schon infolge der allgemeinen Sensationslust das gleiche zahlreiche Publikum vorzufinden, wie es die Veranstaltungen der «Modernen» anzulocken pflegten. Als ich aber im Bratenrock mit meiner Druckschrift die Rednerbühne bestieg, sah ich vor mir einen gähnend leeren Raum, dessen Beleuchtung auch entsprechend trübselig ein­ geschränkt worden war. Nur in den vordersten Stuhl­ reihen sassen zerstreut einige wenige Neugierige, da­ runter von Bekannten äusser M., der mir jetzt als überzeugter «Jünger» nachfolgte, lediglich Bierbaum, 175

Bernstein und, in seiner theatralischen Natur­ menschentracht, der Maler Dieffenbach, für den sich die Münchener Modernen damals interessierten, wäh­ rend er mir in seiner salbungsvollen Betriebsamkeit nichts weniger als sympathisch war; ausserdem noch eine Anzahl junger Menschen von blasiertem Aus­ sehen, die mir mit spöttischer verschmitzter Miene entgegenblickten. Dieser Eindruck von der teil­ nehmenden Mitwelt war niederschmetternd genug: aber ich war nicht der Mann dazu, mich abschrecken zu lassen. Mit allem Ernst und Nachdruck brachte ich nach einleitenden Worten den ganzen Inhalt meiner Schrift zu Gehör: erst die Vorgeschichte mei­ ner Berufung auf mediumistischem Wege, dann das metaphysische Weltbild mit all seinen Sonderbar­ keiten. Bei verschiedenen Einzelheiten regte sich ironische Heiterkeit in dem kleinen Auditorium, aber ich sprach standhaft und unbeirrt weiter. Als ich geendet hatte, schien bei den Hörern der Eindruck . des Peinlichen vorzuherrschen, sie gingen still davon, ohne erheblich zu demonstrieren, wenn mich auch zwei von den fremden jungen Leuten noch ent­ sprechend angrinsten. Bernstein soll damals in sei­ nem Bekanntenkreis geäussert haben, «er gebe mich noch nicht verloren». Beim Verlassen des Saales er­ hielt ich vom geringschätzig lächelnden Pächter die Abrechnung mit dem gewaltigen Defizit überreicht, von dem ich noch nicht wusste, wie ich es aufbringen sollte: und damit machte die hochgestimmte Anspan­ nung, in der ich mich befunden hatte, einer umso stärkeren Mut- und Trostlosigkeit Platz. Was sollte nun weiter geschehen? Jedenfalls musste ich sofort «Geben» sprechen. Ich eilte nach der Reichenbachstrasse, und traf Frau M. zu Hause, auch M. selbst, der nun nicht recht wusste, welches Gesicht er mir gegenüber aufsetzen sollte. Erregt bat ich um eine Tischsitzung, die mir auch zugestanden wurde. «Geben» meldete sich mit ihrer charakteristischen Bewegung. Und nun erhielt 176

ich zu meiner Entsetzung die Eröffnung geklopft, dass sie während der ganzen letzten Zeit «zu schwach sei», um die «Eindrängungen» böswilliger «Intelli­ genzen» verhindern zu können, die sich beständig für sie ausgegeben hätten; der grösste Teil des Weltbildes rühre von diesen Eindrängungen her und entspreche nicht der Wahrheit, ebenso sei sie auch völlig un­ schuldig an der Aufforderung zur Veröffentlichung der Schrift und zu deren persönlichen Vertretung. Während «Geben» mir diese Aufklärungen klopfte, ging mein erster Schrecken in eine wütende Em­ pörung über, die sich gegen den «untauglichen Schutz­ geist» wandte, ich stiess zuletzt das trügerische Tischchen im Zorne von mir, und stürzte fort, ohne zu wissen, wie ich nun mit mir selbst und der Welt fertig werden sollte. Eine chaotische Verzweiflung war die nächste Folge dieser spiritistischen Katastrophe: und als ich wieder ruhig denken konnte, sah ich meine Lage darum in keinem günstigeren Lichte. Alles Lächer­ liche, das dieser Lage anhaftete, erschien meinem Ehrgefühl unerträglich, mehr noch meinem eigenen Bewusstsein gegenüber als vor dem Urteil der Welt, und ich musste es umso unleidlicher empfinden, als ich ja während der ganzen Zeit bei klarem Verstand gewesen war und mein Verhalten nur einer Reihe von wohldurchdachten Schlüssen zuschreiben konnte, die ich bei aller vermeintlichen Vorsicht zuletzt doch nicht unter Berücksichtigung aller Möglichkeiten ge­ zogen hatte. Ich wusste eine Weile nicht, wie ich unter solch beschämender Last weiterleben sollte.... Meine Vertretung vor dem Landgericht in der Henckell-Sache hatte der als intelligent geschätzte, mit den Münchener Modernen sympathisierende Justizrat Rosenthal übernommen. Als ich den Gerichtssaal be­ trat und auf meinen Delinquentensitz zuschritt, huschte einer meiner früheren Mitpagen, der jetzt strebsamer Rechtspraktikant geworden war, hastig an mir vor­ über, wobei er das Gesicht abwandte und es für an12

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gemessen hielt, einen unbeschreiblichen Seufzerlaut sittlichen Abscheus von sich zu geben. Mehrere von den «Modernen» waren als Entlastungszeugen er­ schienen, als einziger belastender Zeuge nur der Polizeikommissär, der jenem Vortragsabend der Ge­ sellschaft beigewohnt hatte; dieser aber sagte ver­ blüffender Weise zu meinen Gunsten aus, sodass Rosenthal uns erklärte, er halte eine Verurteilung für ausgeschlossen. Es half mir aber nichts, denn das ultramontan inspirierte Gericht wollte unter allen Um­ ständen ein Exempel statuieren. Nachdem der Staats­ anwalt unter Verlesung des betreffenden Henckell’schen Gedichts die Anklage krampfhaft zu begründen suchte und ich selbst in kurzer Rede auf den rein literarischen Charakter meines Vortrags wie auch auf meine an der politischen Lyrik Henckells geübte Kritik hingewiesen hatte, plädierte mein Verteidiger auf Freisprechung. Er tat das allerdings auf sehr un­ geschickte Weise, indem er als Hauptargument meiner Unschuld geltend machte, dass mein Gedankenleben sich nicht in der Sphäre der Wirklichkeit bewege, und zum Beweise dessen, das «Dritte Testament» auf dem Gerichtstisch deponierte. Meine ganz normal­ realistische Beteiligung an den Vortragsabenden der Modernen musste dieses Argument ebenso entkräften, wie meine eigene Verteidigungsrede durchaus keinen Schwärmer dokumentiert hatte, ja die Vorlage meiner Schrift konnte bei deren religiös reformatorischem Gepräge eher die Antipathie der Richter steigern. In der augenblicklichen Lage und bei der Unmöglichkeit, ahnungslosen Laien die Entstehung des «Dritten Testaments» und mein bereits völlig verändertes Ver­ hältnis zu diesen mir nur diktierten Mitteilungen hin­ reichend klarstellen zu können, erschien es nicht ein­ mal aussichtsvoll, gegen die verblümte Unzurechnungs­ fähigkeitserklärung des eigenen Verteidigers zu pro­ testieren; auch minder voreingenommene Richter mussten sich aber sagen, dass ein junger Mann, der damals in dem Vortragsabend wie auch jetzt vor 178

ihnen so durchaus logisch zusammenhängend ge­ sprochen hatte, nicht als unverantwortlich angesehen werden könne. Die Richter blätterten dann auch kaum ein bisschen in der Broschüre, gingen auf die Frage der «Weltfremdheit» überhaupt nicht ein und waren bald mit ihrem Urteil fertig, das auf zwei Monate Festungshaft lautete. Die Begründung dieses Verdikts war reichlich erkünstelt und gewunden: das Gedicht Henckells wandte sich ohne Zweifel gegen den Deutschen Kaiser; das Buch, in dem es veröffentlicht sei, wäre zwar nicht verboten, aber es sei ein Unter­ schied, ob man ein Gedicht kaufen und lesen könne, oder ob man es öffentlich vorgelesen höre. Ferner könne mir zwar nicht die Absicht zur Last gelegt werden, mit solcher Vorlesung den Kaiser zu be­ leidigen, wohl aber die Fahrlässigkeit, das Gedicht unter meine Zitate mit aufgenommen zu haben, weil ich als Gebildeter mir hätte sagen müssen, dass eine wörtliche Wiedergabe von einzelnen Anwesenden in solchem Sinne missdeutet werden könne. Aus allen diesen Gründen halte der Gerichtshof es für an­ gemessen, mich zwar nicht zu einer normalen Ge­ fängnisstrafe, aber zu zwei Monaten Festungshaft zu verurteilen. Ich telegraphierte meinem Vater, wel­ cher der Verhandlung sehr optimistisch entgegen­ gesehen hatte, das Urteil nach Bamberg und legte dann auf seine Weisung Berufung ans Reichsgericht ein, selbst nicht ohne Hoffnung, dass die Leipziger Revisoren über den Begriff der «Fahrlässigen Maje­ stätsbeleidigung» den Kopf schütteln würden. Mein Verhältnis zu der «Gesellschaft für modernes Leben», die in ihrer Wochenschrift einen ausführlichen Be­ richt über meinen Prozess brachte, wurde durch dessen vorläufigen Ausgang nicht weiter beeinträch­ tigt, ich blieb einfach Mitglied, wenn ich auch nicht mehr als Vortragender auftrat, was mir schon infolge meiner Gemütsdepression nach der «Geben-Kata­ strophe» unmöglich gewesen wäre. Das öffentliche Ansehen der Gesellschaft hatte durch meine gericht179

liehe Verfolgung nicht die von den Gegnern erhoffte Einbusse erlitten, sodass sie nach einem anderen Opfer und Exempel Umschau zu halten begangen. Sie fan­ den es aber erst später in Panizza.... sein gro­ teskes Drama «Das Liebeskonzil» brachte ihm dann eine Anklage wegen Gotteslästerung und grausamer Weise ein halbes Jahr Gefängnis, das wohl seine nach­ malige Geisteskrankheit mitverursachte, oder doch ihren Ausbruch beschleunigte. So unschuldig ich, wie nach allem Geschilderten hervorgeht, in den Geruch eines Antimonarchisten und öffentlich demonstrierenden Sozialdemokraten ge­ kommen war, so wenig hatte mir doch das bisherige Gebaren des zweiten Wilhelm behagt; von den Schul­ tern des romantischen Bayernkönigs war mir der schimmernde Legendenmantel geglitten, sobald ich um seine Krankheit wusste. Eine sympathische Gestalt bildet ja der Prinzregent Luitpold, in allem massvoll, verstand er es, die friedliche Ordnung der Dinge zu erhalten, mit vornehmer Zurückhaltung zu repräsen­ tieren, und doch wieder zur rechten Zeit das Schlicht­ menschliche hervorzukehren. Aber eine ungewöhnliche Bedeutung darüber hinaus liess sich auch an ihm gewiss nicht bemerken. Für den Sommer, der nun kam, hatten meine Eltern nach der Pause des Vorjahres, wieder eine ge­ meinsame Alpenwanderung verabredet, an der ich teilnehmen sollte. Die nach Möglichkeit beschleunigte Ankunft der Eltern und meiner Schwester in München befreite mich aus der gefährlichen Einsamkeit, in die ich mich wie ein tödlich verwundetes Tier verkrochen hatte. Ein besonderer Umstand erleichterte mir die Rückkehr in ein schlichteres Verhältnis zur Welt, in­ dem er mir dahin ein Brücke spiritistischer Art baute. Meine Schwester hatte nämlich mittlerweile in Bam­ berg in ihrer mehr spielerischen, spekulativ gar nicht interessierten Weise, ihre eigenen mediumistischen Versuche mit den neuen Freundinnen und den jungen Offizieren des dortigen Kreises fortgesetzt, und es 180

hatte sich dabei herausgestellt, dass sie selbst ein «Schreibmedium» war. Bei dieser Art von «Medium­ schaft» schreibt bekanntlich ein vom Medium gehalte­ ner Bleistift automatisch auf ein untergelegtes Blatt Pa­ pier die Mitteilungen der «Intelligenzen», was gegen­ über dem Buchstabieren durch den Tisch viel Zeit und Mühe spart und für einen kritischen Beobachter die Annahme bewussten Betruges — also die Urheber­ schaft des normalen bewussten Ichs des Mediums — eher noch überzeugender ausschliesst. Meine Schwe­ ster hatte sich in dieser Manier mit ihrem angeblichen Schutzgeist «Uvo» und mit dem ihrer Freundin, der sich «Urth» nannte, unterhalten. «Uvo» behauptete als französischer Offizier, «Urth» aber als jüdischer Arzt gelebt zu haben. Nachdem der Vater meine beiden materiellen Ver­ pflichtungen, den Wechsel und die Saalmiete, be­ glichen und mich auch im übrigen einigermassen beruhigt hatte, stellte sich mir die Schwester auf meine Bitte als Schreibmedium zur Verfügung, und ich besprach sogleich mit «Uvo» und «Urth» meine Er­ lebnisse mit «Geben», wobei uns die Eltern gewähren liessen, in der wohl richtigen Meinung, dass mein seelischer Rekonvaleszentenzustand jetzt kein schroffes Eingreifen vertrüge. Man könnte sich vielleicht wun­ dern, dass ich mich nach meinen Erfahrungen noch­ mals mit den «Geistern» einliess: und doch lag daran nichts Widersinniges. Ich musste ja annehmen, dass ich der Bosheit minderwertiger «transzendentaler Intelligenzen», die sich «eingedrängt hatten», zum Opfer gefallen war, nicht aber etwa einem im mensch­ lichen oder transzendentalen Sinne betrügerischen Charakter des gesamten Mediumismus; die Echtheit der Phänomene gegenüber dem Verdacht eines plum­ pen menschlichen Betrugs konnte ich nach wie vor nicht anzweifeln und ich durfte hoffen, dass bei mei­ ner Schwester als Mittlerin böswillige «Eindrängun­ gen» weniger zu befürchten wären, und dass ich auf diese Art eine volle Aufklärung über alles Geschehene 181

erhalten könnte. In der Tat wirkten dann auch die Aussagen «Uvos» und «Urths» in solch unschädlich erklärenden und ernüchternden Sinne. Beide behaup­ teten, die Sache mit dem «Dritten Testament» als gött­ licher Auftrag sei ausschliesslich das Werk boshafter Eindrängungen gewesen; die Gottheit offenbare sich jetzt nicht mehr so unmittelbar durch einzelne Men­ schen, auch stehe sie so hoch, dass die noch an die Erd-Sphäre gebundenen Geister nicht mehr von ihr wüssten als wir Menschen selbst. Mit Unrecht hätte ich im entscheidenden Augenblick die Bedenken meines eigenen menschlichen Verstandesurteils unter­ drückt, denn gerade dieser abwägende Verstand sei den Menschen von der Gottheit gegeben, um Irrtümer und gefährliche Einflüsterungen abweisen zu können; der Gedanke liegt nahe, dass meine Schwester, etwa sogar nach vorangegangenem Familienrat, diese Mit­ teilungen mit bewusstem Eigenwillen niedergeschrie­ ben hätte, um mir jeden Versuch einer neuen Anknü­ pfung mit «Geben» zu verleiden; ich bin aber auch heute noch von der Grundlosigkeit dieses Verdachtes überzeugt. Bei dem schlichten Wesen meiner Eltern und meiner Schwester war ein so raffiniertes Ver­ fahren völlig ausgeschlossen, auch konnte sich meine jetzt doppelt scharfe Beobachtung davon überzeugen, dass kein normales willkürliches Schreiben vorlag. Eine andere Frage war freilich, ob die neu auftreten­ den «Intelligenzen» tatsächlich mehr Vertrauen ver­ dienten als «Geben» und ihre Verdränger und bald darauf lernte ich selber auch dieses bezweifeln, und die experimentelle Unlösbarkeit der Frage einsehen, ob solche Kundgebungen nur aus dem traumhaften Unterbewusstsein des Mediums oder eines Sitzungs­ teilnehmers stammten oder irgend anderswoher. Jedenfalls aber bedeuteten mir damals die «aufklären­ den» Mitteilungen «Uvos» und «Urths» ein heilsames Ende meiner Propheten-Episode. Mit dem entschiedenen Abschluss meiner Spiri­ tistenzeit hatte ich aber begreiflicherweise das er­

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schütterte Selbstvertrauen noch nicht wiedergewon­ nen. Oede und kaum einer persönlichen Anstrengung wert erschien mir das Dasein, zumal mir mit der übersinnlichen Schwärmerei für «Geben» auch ein gut Teil der Zuversicht zu meinem Dichterberuf, die sie oder ihre Nachäffer mit verheissungsvollen Andeutun­ gen genährt hatten, verloren gegangen war. Ich be­ durfte eines starken Anreizes, der mich gewaltsam aus den Grübeleien über das Geschehene riss und mir den eingebüssten jugendlichen Lebenswillen wiedergab. Und dieses Aufrüttelnde sollte auch bald genug folgen in Gestalt einer Liebesleidenschaft, die, so un­ glücklich sie war, doch wie ein erlösender Sturm über mich kam und mir alles lastende Nebelgewölk von der Seele blies ... Nichts könnte besser meine damalige Gemüts­ stimmung wiedergeben, als die Verse, die ich nach einem Abendspaziergang auf die Feste Hohensalzburg niederschrieb: «Auf des Burgpfads steiler Enge Schritten abends wir bergan; Durch die schwarzen Wolkenhänge Brach ein Sonnenstrahl die Bahn: Glitzerte in tausend Lichtern Auf den Blättern regenschwer, Glänzte auf den Angesichtern Dreier Mädchen um mich her. Leuchtend auch auf deinem Haupte Lag der Sonne goldnes Licht, Dich ich einst mir freundlich glaubte, Die mir war wie ein Gedicht, Das ein Höherer besungen, Mir gesungen — ’s ist vorbei: Du auch bist emporgedrungen, Gehst im Lichte stolz und frei. Scherzend über Tod und Leben Wandert ihr im leichten Glück — Ich nur gehe stumm daneben, Und nun bleib’ ich ganz zurück. Blumen glühn im Zitterscheine An des Berges rauher Brust — 183

Ihr und sie ... ich geh’ alleine, Einer Fremde mir bewusst. Jetzt da sich der Burgpfad windet, Deckt euch grün ein Blätterschwall, Und die Sonne ist erblindet; Dämmerdunkel überall. Jäh in schwarzen Finsternissen Gähnt herauf ein Felsenschrund, Herb und hart und tief gerissen ... Ja, das ist mein eigen Grund.»

(Die Verse beziehen sich auf eine Jugendfreundin des Dichters, die nach Missverständnissen und jahrelanger Entfremdung seine zweite Gattin wurde. Anmerkung des Herausgebers.)

Aber meine jungen Jahre liessen sich ihr Recht nicht dauernd rauben. Unter dem erfrischenden An­ hauch der Bergluft schwanden mir mehr und mehr die trüben Gedanken, langsam kehrte mir Lebensmut und Lebenstrieb zurück.... Als ich am stillschönen Abend eines der letzten Septembertage von einsamer Wanderung heim­ kehrend, die kleine Brücke betrat, die unterhalb des alten Bamberger Rathauses über einen Arm der Regnitz führt, verdichtete und verallgemeinerte sich mir die Rückschau über mein bisheriges Leben zu einer symbolischen Bilderreihe, die plötzlich vor meinem inneren Sehen auftauchte, und zwar, auf Grund nahe­ liegender Vorstellungsverbindungen, in romantisch­ indischem Gewände. Es war das Drama «Alles und Nichts», das mir da in wenig Augenblicken aus der abendlichen Dämmerung aufsprang, lebendig und deutlich bis ins Einzelne; als ich die Brücke über­ schritten hatte, stand es mir bereits im ganzen Aufbau fest und hatte auch schon seinen Namen. Die erste ausführende Arbeit an dieser neuen Dich­ tung tat ein übriges, mich wieder zur vollen inneren Ruhe zurückzuführen, und die Objektivierung meines leidenschaftlichen Erlebens befreite mich mehr und mehr vom Drucke der Melancholie. Inzwischen hatte das Reichsgericht meine Revision verworfen, sodass 184

ich im Laufe des Winters — der Zeitpunkt stand mir frei — meine Festungshaft anzutreten hatte, und zwar in Oberhaus bei Passau. Mein guter Vater, der nach seinem Laien-Rechtsgefühl über das Scheitern der eingelegten Berufung empört war, beriet nun mit mir über meine nächste Zukunft, und wir kamen zu dem Schlüsse, dass ich für das Frühjahr eine Redaktions­ stellung bei irgend einer Zeitschrift ausserhalb Mün­ chens anstreben und vorher meine Festungssache er­ ledigen müsse. Im Spätherbst nach München zurückgekehrt, stellte ich noch die ersten Szenen von «Alles und Nichts» fertig. Auch begann ich jetzt mit dem Versuche, mir ein neues, auf eigene logische Schlussfolgerung ge­ gründetes metaphysisches Weltbild zu entwerfen, war doch mit der Wiederkehr meiner inneren Ruhe auch der alte Erkenntnisdrang wieder in mir erwacht und mit ihm das Verlangen, meine früheren Anschauungen zu berichtigen und meine Einsicht womöglich auf neuem Wege zu erweitern und zu vertiefen. Diesen letzteren Entwurf nahm ich mit, als ich zwei Tage vor Weihnachten nach Passau fuhr, um das Urteil des Münchener Landgerichts an mir vollstrecken zu las­ sen. Ich nahm noch in einem kleinen Gasthof der Alt­ stadt ein Mittagsmahl ein, und wanderte dann, meinen Koffer in der Hand, über die Brücke den Berg hinan, von dem mir die altersgraue Feste grämlich entgegen­ sah. Meine Stimmung war aber nicht gedrückt, son­ dern gehoben durch Abenteuerlust und einen grimmi­ gen Humor. Ich fühlte mich als Märtyrer der neuen Zeit, als ein Opfer der schliesslich doch zum Unter­ gang verdammten Rückständigkeit und ihres ganz aus­ sichtslosen Versuches, den Fortschritt des freien Gei­ stes durch eine Form der Vergewaltigung hintanzu­ halten, die mir Unerfahrenen mehr kindisch als em­ pfindlich erschien. Diese fast heitere und jedenfalls überlegene Stimmung hielt auch an, als das fatale Tor der Aussenmauer, das die Wache auf mein Klin­ gen öffnete, hinter mir ins Schloss gefallen war. Der 185

Festungskommandant, bei dem ich mich zu melden hatte, ein älterer, rotbärtiger Herr, empfing mich als einen nur der «custodia honesta» Ueberantworteten nicht unfreundlich, doch mit militärischer Gemessen­ heit. Er erklärte mir kurz die Hausgesetze und teilt mir mit, dass ich z. Zt. sein einziger «Stubengefange­ ner» sei; leider habe er die Nachricht über mein Ein­ treffen verspätet erhalten, sodass die für mich be­ stimmte Stube erst heute habe geheizt werden können, doch hoffe er, dass ich sie schon ganz erträglich warm vorfände. Etwaige 'Wünsche oder Beschwerden möge ich durch den mir zur Bedienung zugewiesenen Sol­ daten an ihn gelangen lassen, auch werde er gelegent­ lich selbst nachsehen. Damit verabschiedete er mich, und ich wurde nach dem besonderen Gebäude geführt, das die «Stubengefangenen» zu beherbergen pflegte, und das ich nur vormittags zu einem halbstündigen Luftschöpfungsgang auf der kleinen, unmittelbar an­ grenzenden «Batterie Linden» sollte verlassen dürfen. Alle anderwärts und früher auch in Passau den «Ehrenhäftlingen» zugestandene Bewegungsfreiheit, vor allem die Erlaubnis, unter ehrenwörtlicher Zu­ sicherung pünktlicher Wiederkehr auf mehrere Stun­ den in die Stadt hinabspazieren zu dürfen, war un­ glücklicherweise kurz vorher aufgehoben worden, weil einige Studenten sie zu Ausgelassenheiten missbraucht hatten. Die Stube, in der ich allein zurückblieb, war ein kleiner, völlig kahler, weiss getünchter Baum mit ver­ gitterten Fenstern, dessen Einrichtung nur aus einem derben Tisch und Stuhl, einem Wäscheschrank und einer sehr niedrigen und primitiven Bettstelle mit dünner Decke bestand; man hatte durchaus nur den Eindruck einer Gefängniszelle. Auch die Hoffnung des Kommandanten, ich würde meine Behausung schon genügend durchwärmt vorfinden, erwies sich als eitel; das alte Gemäuer war durchlässig, durch seine zahl­ reichen Risse drang ungehemmt die Winterkälte ein, und es dauerte unter solchen Umständen noch eine 186

Woche lang, bis der Raum eine erträgliche Tempe­ ratur festzuhalten vermochte. Ich schlief denn auch die erste Zeit in meinen Kleidern; ja, ich musste sogar meinen Wintermantel über mich breiten. Auch weiter­ hin machte mir der hochbetagte, eiserne Ofen, der mich trösten sollte, allerlei Plage. In der begründeten Annahme, doch keine Besserung erzielen zu können, beschwerte ich mich nicht, sondern fand mich still­ schweigend mit den Unannehmlichkeiten ab. Auch die Verköstigung stellte sich, entgegen allen Urteilen, die ich darüber gehört hatte, als schlecht und greulich einförmig heraus; zur Selbstverpflegung auf eigene Kosten berechtigt, konnte ich mir zwar nominell aus der Kantine holen lassen, «was ich wollte,» es gab aber dort immer nur denselben gesottenen Kalbs­ braten. Als heilsam patriotische Lektüre erhielt ich ein paar Bände illustrierter deutscher Zeitschriften von 1870. An der devoten Ehrerbietigkeit des Burschen, der mich bediente, und vor mir wie vor einem Offizier stramm stand, hatte ich einen guten Spass, und stellte im Zusammenhang damit philosophische Betrachtun­ gen über das verzwickte Wesen der «custodia honesta» an. Im übrigen vertiefte ich mich in die Ausarbeitung und Niederschrift meines neuen metaphysischen Welt­ bildes, das ich, in der Erinnerung an Kant und meine philosophischen Universitätsstudien, «Kritik des Wirklich-Seienden» betitelte. In dem optimistischen System, das ich da zu entwickeln suchte, spielten aber der allgemeine theologische Begriff der persönlichen Voll­ kommenheit Gottes und gewisse anthropomorphethischen Grundvorstellungen der religiösen Ueberlieferung noch eine bedeutende Rolle, obschon ich alle übrigen Behauptungen der kirchlichen Dogmatik aus­ schloss, auch jene allgemeinsten Elemente des religiö­ sen Glaubens logisch zu beweisen suchte, und mich mit den weiteren Schlussfolgerungen ins rein Philo­ sophische erhob. So entstand etwas wie eine logisch korrigierte Theologie und Kosmogonie, das äusserlich noch allerlei Farben der Ueberlieferung trug. Im 187

wesentlichen aber doch schon einen Uebergang zu dem von religiösen Voraussetzungen freien Gedankenbau darstellte, mit dem sich meine Nachdenklichkeit später zufrieden gab, und die ich dann in Hannover unter dem Titel «Grundlagen der wissenschaftlichen Philo­ sophie» niedergeschrieben habe. Der Weihnachtsabend und die Neujahrsnacht in solcher völligen Einsamkeit und düster fremden Um­ gebung verfehlte nicht ihre Wirkung auf mein Gemüts­ leben; dass aber mein Humor immer noch der Lage gewachsen war, bezeugt eine Meditation, die ich an jenem Silvesterabend zu Papier brachte: «Die Turmuhr machte in langweilig sanfter, träu­ merisch zögernder Art fünf Schläge. «He-raus!» schreit die ablösungsbedürftige Wache. Eigentlich hört man nur einen krähenden Laut, der sich täuschend anhört wie «Auh!», im Ausdruck etwa an das Schmerzensgekreisch bei einer Zahnoperation erinnernd. In den ersten Tagen hielt ich unmilitaristisches Mannsbild das Pflichtgebrüll der Wache für irgend ein sinnreiches Kuckuckswerk unserer Turmuhr, dessen Bestimmung mir allerdings rätselhaft erschien. Auch fiel mir auf, dass dieses künstliche «Auh» nicht immer ganz gleich tönte, wie es bei einem Mecha­ nismus doch hätte der Fall sein müssen. Jetzt bin ich auch in dieser Hinsicht gescheiter geworden. Alles ist wieder totenstill ringsum, und die ein­ brechende Dunkelheit lässt die Stille noch voll­ kommener erscheinen. Nur in meinem Kopfe schnurrt und summt das Räderwerk der Gedanken, und nicht immer die behaglichsten Melodien. Ich zünde die Lampe an, und beschaue zur Abwechslung wieder ein­ mal die spärlichen Einrichtungsstücke meiner Stube, um eine Ablenkung zu gewinnen. Freilich fällt’s schwer. Die katakombenhaft nischigen, weissgegetünchten, kahlen Wände, die zwei mit Eisenstäben verkreuzten Fenster, den eisernen Ofen, der mir so gerne rebellisch wird, und Feuer und Qualm speit, 188

den wackelichten Kleiderkasten, den Tisch, «poliert, für Offiziere», wie es in dem an der Wand hängenden ausserordentlichen gewissenhaften Inventar heisst — o Politur! — und meinen Koloss von Bettlade kenn’ ich schon gar zu auswendig, um inwendig noch Be­ trachtungen von ihr anknüpfen zu können. Die Bücher dort auf dem Kommodenungeheuer «für Sergeanten?» Aber die hab ich ja auch schon dreimal ausgelesen. Also zurück ins Labyrinth der eigenen und eigensten Gedanken, rettungslos. Das ist ein sonderbarer Silvester heuer! Wenn ich mir vorstelle, wie ich sonst diesen Abend verbracht habe, im angeregtesten Kreise, mit Jung und Alt, mit leiblicher und geistiger Verwandtschaft bei der dam­ pfenden Punschbowle! Und nun! die weissgetünchten Wände — Stille, Stille und Einsamkeit. Vor einer halben Stunde war noch der rotbärtige Hauptmann bei mir, der festungsbeherrschende Wauwau. Gestern bot er mir Werke über den Siebziger krieg an: «das sei alles, was er habe.» Ich glaub’s ihm aufs Wort — ein hagerer trockener Militär, der noch immer ganz in seinen Feldzugserinnerungen aufgeht. Er ist sehr hässlich und offenbar Hagestolz. Wie er vorhin hier war, gab er sich übrigens möglichst liebenswürdig, in seiner Weise. Beim Abschied wünschte er mir so­ gar «Prosit Neujahr!» Das klang anders als sonst um Mitternacht — die — Stimme, in der trübseligen Abenddämmerung, ganz in demselben Ton wie etwa «Ganzes Bataillon — kehrt!» Jetzt sitzt er wohl längst in der Stadt drunten bei seinen Kameraden und er­ zählt von Silvester 1870, wo er «auch dabei gewesen», wo die tapferen Deutschen arme Teufel erschossen «für Gott und Vaterland», aber auch ihrerseits als arme Teufel sich von den französischen «armen Teufeln» erschiessen lassen mussten für ihren Gott und ihr Vaterland ... «He-raus!» — Was — schon wieder zwei Stunden vorbei? Nein, eine akustische Täuschung, nichts weiter. Es klingt mir nur von Zeit zu Zeit immer 189

wieder in den Ohren. In diesem Weltmeer von Stille war es ja seit einer Stunde die letzte Tonwelle, und mein hungriges Trommelfell kaut möglichst lange an seinen schmackhaften Eindrücken. «He-raus!» Ja ja — wie rief doch gleich Scheffel in irgend einem deutschen Fremdenbuch touristisch begeistert allen Kulturmenschen der Mit- und Nach­ welt zu? «Raus aus dem Hausl Raus aus der Stadt! Raus aus dem Staat! Nix als raus!»

Der gute, alte Scheffel! Er freilich ist jetzt ’raus aus dem allen. Wir aber nicht. Und wenn wir auch zuweilen aus dem Haus und aus der Stadt ’raus kommen — aus dem «Staat» geht’s minder leicht. Der bat seine Barriere, das merkt man. Ich merk’s auch, im Jahre des Heils achtzehnhunderteinundneunzig — jetzt bald achtzehnhundertzweiundneunzig. Achtzehnhundertzweiundneunzig ... nur acht Jahre mehr, und ein neues Jahrhundert bricht an. Jetzt über acht Jahre ist die grosse Silvesternacht: da stirbt das neunzehnte Jahrhundert, das soviel glor­ reichen Maschinendampf und soviel glorreichen blauen Dunst des Materialismus über die Erde ge­ pafft... Wird das Neujahr des neuen Jahrhunderts der abgelebten Menschheit auch neues Leben bringen? Freudigkeit und Ideale, «die sich auch mit der Wissenschaft vertragen??» Tapp, tapp, höre ich draussen auf dem Gang. Tapp, tapp, tapp! Es kommt näher. Mein Diener — vom Passauer Regiment abkommandiert: er bringt mir mein Abendbrot. Ein Kind mit ungeschlachten grob­ knochigen Gliedern — aber doch ein Kind, un­ mündig in seiner ganzen Haltung: nicht von Natur, aus militärischer Zucht und Erziehung, das merkt man. Fein säuberlich setzt das grobknochige Riesenkind die Tiegel auf den Tisch. «Be — feilen der Herr Bah — ronn sonst noch was?» 190

Ja, um acht Uhr noch eine Mass. Seine Bärentatzen schnappen hölzern parallel zur Hosennaht ein: «Zu Be — feil Herr Bah — ronn.» Und er tappte wieder den Gang fort. Der ist auch noch nicht ’raus! Seine Knochen sind dreimal so dick als die meinen: aber noch viel dicker steckt das angewöhnte Gefühl der Sklaverei darin. Was bin ich? Doch «eine Art politischer Verbrecher». So komisch mir harmlosen Künstlerblut der Gedanke auch vorkommen mag — ein Revolutionär gegen eben das, was ihn in seinen bunten Rock gesteckt hat. Was ist er? Ein ehrlicher deutscher Bauernsohn, keineswegs verbrecherisch. Er wird nie einen Vor­ trag über Karl Henckell halten. Weil ich aber der Bah — ronn bin, ich als Ehrenhäftling auf der Festung die Zeit totschlage, bedient er mich äusserst demuts­ voll parallel zur Hosennaht. Ehrenhäftling! Ueberhaupt ein sonderbarer Be­ griff, sobald man ein wenig darüber nachdenkt. Zwei Monate Freiheitsberaubung, und Ehre — wo bleibt da die Logik? Aber Nachdenken ist eben auf dieser schönen Welt eine ganz schlimme Tugend. «Die Dinge so betrachten, hiesse sie allzu genau betrachten,» sagte schon weiland Horazio warnend zum Grütze­ besitzer Hamlet. Wird eine Zeit kommen, wo schon auf Erden die Leute aus all dem ’raus sind? Wo kein anderes Ver­ brechen geahndet wird als das gegen die Natur? Wo der längst innerlich morsche Popanz aller vererbten «Majestät» und Autorität endgültig zusammenbricht, weil die Menschen ohne ihn leben gelernt haben, wie sie ohne ihn sterben müssen? Vielleicht im nächsten Jahrhundert des «Heils»: wir werden ja sehen. Wenn ja, will ich gern die Silvesternacht des Jahres achtzehnhunderteinund­ neunzig auf diese traurige Art verbracht haben; wenn du, Deutschland, in acht Jahren oder nicht allzu langer Zeit so gescheit und so wahrhaftig wirst — dann will ich recht gerne heute hier sitzen als dein 191

einsamer Staatsgefangener, will mir dich vorstellen, dort auf der Malfläche der weissgetünchten Wand, hübsch allegorisch, edel mit dem griechisch wallenden Gewand, dem strohgelben Lockenstrom und dem silberpapier-überzogenen Pappendeckelschwert, und dir, als meiner liebsten Silvestergesellschaft, mit diesem festungsstubengefangenen Literkrug für «Ge­ meine» zutrinken: «Prosit Neujahr!» — Auch eine neue Reihe von Sonetten beschaulichen Charakters schrieb ich in den ersten Wochen nieder. Eines davon sei hier angeführt: «Ein Kater schleicht um meine Festungsmauer, Ein kohlpechrabenschwarzes Ungeheuer: Gelb lodert seiner Augen wildes Feuer — Starrt er nach mir, befällt mich kalter Schauer. Fast denk ich an die Schwarzkunst der Passauer... Ergeht der Doktor sich im Pelze heuer? Bist du ein Magier, ein Geistbedräuer! Nein, Schlimm’res noch, betracht ich dich genauer. Bist du der Satanas, in Höllenglut Hinunter mich zu fordern? Oder bist Des Dichters Zukunftshunger du vielleicht? Versteckter leuchtet deiner Augen List! Mir scheint, noch immer schätz ich dich zu gut — Bist du der Zweifel, der nach allem schleicht?»

Dem Briefschreiben von jeher abhold, korrespon­ dierte ich mit den Eltern während meiner ganzen Festungszeit nur in lakonischer Kürze, und mit den Freunden so gut wie gar nicht; im übrigen erhielt ich von den letzteren auch keine Zuschriften, die mich dazu angeregt hätten. Nur Panizza sandte mir einmal ein Kistchen mit einigen Bänden Liliencron-Noveilen und mehrere Flaschen Punschessenz; die Novellen wurden mir ausgefolgt und lieferten meiner Abend­ lektüre erfrischende Abwechslung; die Punschessenz­ flaschen aber konfiszierte der Kommandant als dem strengen, neuen Reglement widersprechend und liess mir sagen, dass ich sie erst bei der Haftentlassung erhalten könne. 192

Wenn mich auch der Entwurf eines neuen meta­ physischen Weltbildes wohltätig der Augenblickslage entrückte, so machten sich doch deren üble Wirkun­ gen auf mein Nervensystem und meinen seelischen Zustand bald in der drückendsten Weise geltend. Vor allem ertrug ich die räumliche Freiheitsberaubung, die fast ununterbrochene Einsamkeit und den Mangel an Lebenseindrücken, an Luft und Bewegung viel schwerer als ich gedacht hatte. — Da bekam ich glücklicher Weise Gesellschaft, in Gestalt eines mun­ teren Rheinpfälzer Arztes. Er war wegen Duells zu drei Monaten coustodia verknurrt, bezog eine Stube auf demselben Gang, und da wir uns nach dem Haus­ gesetz beliebig besuchen durften, war das Schlimmste für mich überstanden. Nicht lange darauf fand sich noch ein dritter, gleichfalls wegen Zweikampfs gemassregelter Ehrenhäftling ein. Es war der schwä­ bische Burschenschafter Kohl, der nachmals als linksradikaler Abgeordneter bekannt geworden ist. Damit war also nicht nur ein «collegium» beisammen, sondern auch eine fast vollzählige Vertretung der bayerischen Volksstämme. Es entspann sich ein reger Verkehr von Stube zu Stube, wir spielten zusammen Schach, plauderten über das Hundertste und Tau­ sendste und diskutierten sogar über mein neugebore­ nes philosophisches Opus. Bald behaglich unter uns angefreundet, bauten wir auch einmal gemeinsam einen stattlichen Schneemann auf der Batterie «Lin­ den» und trieben allerlei Spässe, so gut es unserer üblen Laune glücken wollte. Wenn wir hinunter­ sahen auf die beschneiten Dächer der lockenden Stadt, und die blauen Eisschollen, die tief unten auf dem Strom ins Weite dahintrieben, übermannte uns weh­ mütig genug der Gedanke an unsere glücklicheren Vorgänger oder vielmehr «Vorsitzenden», die es soviel besser gehabt hatten. Ein einziges Mal, schon wäh­ rend der letzten Wochen meiner Haft, erwirkte sich ein Leutnant, der mit irgend einer Meldung herauf­ kam, die Erlaubnis, uns den höchst gelegenen Teil des 13

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Festungskomplexes zu zeigen, sodass wir da wenig­ stens eine Viertelstunde etwas anderes sahen als un­ sere grämlichen Zellen und die Batterie «Linden». Als der Tag meiner Befreiung herannahte, richtete ich an den Kommandanten das schriftliche Gesuch, an meinem Abschiedsabend die Panizza’sche Punsch­ essenz mit meinen beiden Schicksalsgenossen vertilgen zu dürfen. Entgegen meinen Befürchtungen fand die Bitte Gewährung, und, in der Zelle des Pfälzers ver­ eint, tranken wir nach manchen Krügen Kantinen­ Schalbier die tröstlichen Flaschen leer, die unser braver Bursche kunstgerecht in heissen Göttertrank verwandelte. Das fröhliche Gelage währte bis zum Morgen, wo ich schon in frühester Stunde Oberhaus Valet sagen durfte, um den ersten Zug nach München zu erreichen. Als es zum Abschiednehmen kam, schlug den beiden Zurückgebliebenen, die bezechter waren als ich, die fidele Laune in graues Elend um, sie ver­ fluchten ihr Los, das sie selber noch solange in dem traurigen Gemäuer festhalten sollte, unter richtigen Schmerzenstränen umarmten sie mich und wollten mich garnicht fortlassen. Endlich gelang es mir doch loszukommen, und ich eilte mit meinem Koffer die Treppe hinab, hinaus ins erste Sonnenglasten und hinunter zum Aussentor, das der wachhabende Feld­ webel mir öffnete. Was ich empfand, als ich wieder ins Freie trat, suchte ich nunmehr in der Bahnfahrt nach München in Versen festzuhalten, von welchen die ersten lauteten: Feldwebel dreht den Rücken, Am Tor des grauen Baus: Und mit verwirrtem Entzücken, Tret ich hinaus, hinaus! Die frischen Gräser lachen Taublitzend im Sonnenstrahl — Im ersten Frühlingserwachen Dampft morgendlich das Tal. Und wie ich weiterschreite, Da fällt der dumpfe Bann: 194

Da dehnt sich Weltenweite Da bin ich wieder Mann! Dort oben war ich Spinne, Dort kroch ein Wurm im Sand — 0 Schmach dem Wurmessinne, Der Menschenhaft erfand!

So verhältnismässig kurz die Zeit meiner Frei­ heitsberaubung gewesen war, so hatte sie doch auf mich «Reizsamen» überaus stark eingewirkt, was mir erst jetzt völlig zum Bewusstsein kam. Die Fülle der Eindrücke, die mir nun wieder gegeben waren, be­ rauschten mich geradezu in den ersten Stunden, ich konnte mich gar nicht satt sehen, und das Alltäglichste wurde mir zum köstlichsten Genuss. So erinnere ich mich, dass auf dem Weg nach Passau hinab der An­ blick einer nichts weniger als appetitlichen alten Frau mich geradezu entzückte, nur weil sie die erste weibliche Gestalt war, die ich wieder zu Gesicht be­ kam; und ebenso erging es mir mit tausend anderen Dingen. In München kam ich mitten in das bunte Getriebe der letzten Karnevalstage. Von Schaumberger und den übrigen Modernen lebhaft begrüsst, musste ich sogleich eine faschingsmässige übermütige Abend­ unterhaltung im engeren Kreise mitmachen und sang da, aus meiner schauenstrunkenen Verwirrtheit in derben Humor mich rettend, altbayrische G’stanzeln über meine Festungserlebnisse. Meines Vaters Umschau nach einer auswärtigen Redaktionsstellung für mich war erfolglos geblieben. Und so beschloss ich, selbst aufs Geradewohl mein Glück in irgend einer grösseren Stadt zu versuchen und wollte daher sehen, ob ich nicht in Stuttgart unterkommen könnte. Mein Vater, der die Stuttgarter Verhältnisse ebenso wenig kannte als ich, war mit meinem neuen Plan einverstanden und erklärte, mir nach Kräften beistehen zu wollen, bis ich mich selbst erhalten könnte. 195

Der Humor, in dem ich mein inneres Gleich­ gewicht wieder zu gewinnen suchte und, soweit es in meiner unsicheren Lage möglich war, für den Augenblick auch wieder fand, liess mich noch zu dem projektierten Sommerfest der «Modernen» auf der «Isarlust»-Insel eine Parodie auf Ibsens «Frau vom Meere« beisteuern, die als «Frau von der Isar» den Vorgang münchnerisch lokalisierte und aus dem un­ heimlichen Steuermann einen oberbayrischen Flösser machte. Diese ulkende Burleske, die das ethische Pathos, wie auch die stilistischen Eigentümlichkeiten des Urbilds karikierten, wurde als kleines Heftchen gedruckt und sollte auf einer «Reform-Freilichtbühne», die auf heimat-künstlerischen Bierfässern montiert war, zur Darstellung gelangen; Freund Weinhöppel übernahm die Rolle der Frau, Schaumberg die des Flössers und für die Rolle des Bübchens, das dem Flösser so tragisch ähnlich sieht, erbot sich der junge Mediziner Thaler, während Panizza als «Reform­ Inspizient» in Dienstmannsmontur fungieren sollte. Ich beteiligte mich noch an den ersten Proben, als aber dann das Sommerfest die Münchener «Moderne» noch einmal in ungebrochener Tatkraft zeigte und die Aufführung meiner Parodie die Gäste belustigte, war ich selbst schon über alle Berge.

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Im schwäbischen und preussischen Exil.

Dass es mir, als ich an einem hellen Maimorgen den Schnellzug nach Stuttgart bestieg, nicht so sonnig zu Mute war, wie den wanderfrohen Burschen der Deutschen Volkslieder, wird jeder sich sagen, der mir bisher geduldig gefolgt ist. Eher waren die Seelenstimmungen der bitteren Resignation eines Aus­ wanderers zu vergleichen, der irgendwo über dem grossen Wasser ein Unterkommen sucht, weil die Heimat keinen Platz für ihn hatte. Zwar der Abschied von München wurde mir für den Augenblick nicht schwer; ich liess dort kein Vaterhaus mehr zurück, allen Verwandten war ich in den letzten Jahren entfremdet und auch den Kameraden von der «Mo­ derne» und vom Konservatorium war ich durch meine jüngsten Sondererlebnisse und meine wieder­ holt längere Abwesenheit ferner gerückt. Aber ich trug die Last meiner Enttäuschungen. Die Gelehrten­ laufbahn war mir unverhofft verwehrt, die begründete Aussicht auf schnelle Bühnenerfolge durch Unver­ stand vernichtet worden, und mein «Messias» hatte mir statt künstlerischer und menschlicher Würdigung nur Feindschaft eingetragen, die mich nun in die Ferne trieb. Der Anschluss an die «Modernen» war für meine eigenen Ziele unfruchtbar geblieben, er hatte nur meine Gegner vermehrt und meinen Da­ seinskampf damit noch schwieriger gestaltet. Durch Eigenschaften, die ich nicht als Schwächen einsehen konnte, war ich in Irrtümer verstrickt, die der gros­ sen Mehrheit, auch den Gebildetsten und Empfäng­ lichsten das Verständnis für mich und das Vertrauen

zu mir heillos erschweren mussten, und mein Liebes­ werben hatte immer nur Qual und schliessliche Zu­ rückweisung, doch keine Erlösung von der Herzens­ einsamkeit gebracht. Gründe genug dafür, dass ich jetzt nicht mit dem Jauchzen jugendlicher Tatenlust in die Welt hinauszog. Innerlich älter geworden als meine Jahre, trug ich mich zunächst mit gar keinen hochfliegenden Plänen mehr; herb und nüchtern hatte ich nur die Notwendigkeit vor Augen, mir auf irgend­ welche Art, sei es nun mit oder ohne Poesie, eine Stellung zu ergattern, wobei ich zunächst an die grossen Stuttgarter Verlagsbetriebe dachte. Ich hatte wohl meine dramatischen Manuskripte miteingepackt, aber nicht, weil ich ihre Aufführung an erster Stelle betreiben wollte; darauf noch entscheidende Hoff­ nungen zu setzen, hatte ich gründlich verlernt. Auch die Weiterarbeit an dem begonnenen «Alles und Nichts», die Ruhe und Sammlung voraussetzte, war für absehbare Zeit aufgegeben, bei der bevorstehenden Unrast und der Notwendigkeit, mich auf meine prak­ tischen Bemühungen zu konzentrieren. Von diesen Bemühungen selbst hatte ich freilich noch gar keine bestimmten Voraussetzungen, ich wusste nur, dass eben alles Mögliche geschehen müsse, und hatte den festen Willen, auch all dies Mögliche zu versuchen. Undeut­ lich schwebten mir diese und jene Besuche vor, unter Anpreisung meiner verschiedenen Fähigkeiten, um­ fassende Erkundigungen bei Wohlunterrichteten, und dergleichen mehr. Einen festen Feldzugsplan konnte ich aber schon deshalb nicht haben, weil ich noch niemanden ausfindig gemacht hatte, der die Stutt­ garter Verhältnisse genauer kannte. Nur eine ober­ flächliche Empfehlung an den Hofrat Dr. Konrad Beyer, den bekannten Rückert-Biographen und Ver­ fasser der «Deutschen Poetik», trug ich in der Tasche, das war alles. In Stuttgart angelangt, mietete ich ein bescheidenes Zimmer am Rande der Stadt, da wo sie gegen die an­ grenzenden Höhen anzusteigen beginnt, und ver­ 198

brachte die beiden ersten Tage damit, mich auf län­ geren Spaziergängen zu orientieren, war mir doch von meinem einstigen Besuch anlässlich einer Pagen­ reise eigentlich nur der Platz vor dem Königsbau im Gedächtnis geblieben, wo wir die Parademusik mit­ angehört hatten. Den schönen Platz samt der Musik traf ich wieder genau so an, wie sie mir in Er­ innerung vorschwebten, und mir schien, als bliese die Militärkapelle noch dasselbe Stück. Aber ich war jetzt kein beschaulicher Ferienjüngling mehr, sondern jemand, der hier etwas erreichen wollte, der mit der geistigen Gegenwartsarbeit dieser Stadt zu rechnen hatte, und in solchem Betracht fielen schon die Be­ obachtungen der ersten Tage trübselig genug aus. Das schläfrige Leben in den Strassen, die schwer­ fällige Art und Umgangsweise der Bevölkerung, alles machte gegenüber München den Eindruck der Zu­ rückgebliebenheit; kein frischer Hauch der erneuern­ den Zeitstürme schien noch in die brütende Luft dieses allzu friedsamen Talkessels gedrungen. Als ich an einem der ersten Abende müdegegangen in einer Bierwirtschaft, nahe dem Schlossplätze, einkehrte, sprang plötzlich einer der Gäste, anscheinend ein Student, auf den Tisch, fuhr sich aufgeregt mit der Hand durch die lange Mähne, gebot allgemeines Silentium und deklamierte mit feierlichstem Pathos und in schauerlich schwäbischer Aussprache Schillers «Glocke» von A bis Z, was unter den andächtig lau­ schenden Stuttgartern helle Begeisterung hervorrief. Immerhin, was geschehen konnte, musste ge­ schehen. Ich suchte also zunächst den damals 57­ jährigen Hofrat Beyer auf, der weit draussen im Villenviertel ein stattliches Haus bewohnte. Ich traf einen selbstsicheren und selbstzufriedenen, behag­ lichen Mann von weltmännischer Manier und harm­ losen, kleinen Eitelkeiten, dessen höchstes Glück seine persönlichen Beziehungen zu fast allen Deutschen Fürsten und die Orden auszumachen schienen, die er auf alljährlicher Rundreise von ihnen einheimste. Er 199

empfing mich mit lebhafter Freundlichkeit und er­ klärte sich bereit, meine Interessen nach bestem Wis­ sen und Können zu fördern, augenscheinlich mit allen Stuttgarter Angelegenheiten vertraut, schüttelte er aber sogleich den Kopf, als ich mich nach der Mög­ lichkeit einer Anstellung bei einem Stuttgarter Verlag erkundigte; ich müsse schon andere Dinge ins Auge fassen, da und dort Beziehungen anknüpfen, und zu­ warten, ob vielleicht einmal bei einer Zeitung ein t Pöstchen frei würde. Einstweilen wolle er mir einige schöngeistige Bekanntschaften vermitteln, mich in die von Hackländer begründete literarische Gesellschaft «Das Bergwerk» einführen und mich dem Dichter, Bildhauer und ehemaligen Wagnersänger Adolf Grimminger empfehlen. Die sorglose Leichtigkeit, mit der Beyer meinen Fall behandelte, obschon ich ihm den bitteren Ernst meiner Lage betont hatte, zeigte mir deutlich, dass er als ein von jeher aller Existenz­ sorgen überhobener Mann sich in meine Schwierig­ keiten gar nicht hineindenken konnte. Doch ging ich zunächst auf seine Vorschläge ein, um die Flinte nicht schon nach dem ersten Versuch ins Korn zu werfen. An einem der folgenden Abende trafen wir uns und er ging mit mir in den Königsbau, wo das «Berg­ werk» in einem Sonderlokal seine literarischen Sit­ zungen abhielt. Der Raum war nüchtern und schmuck­ los; an einer Tafel, die einem düsteren Gerichtstische verzweifelt ähnlich sah, trafen wir etwa ein Dutzend gravitätische grau- und weissbärtige Herren versam­ melt, deren Namen mir bei der Vorstellung alle un­ bekannt klangen, und unter welchen gewiss keiner war, der auch nur auf dem schwäbischen Parnass eine bemerkenswerte Rolle gespielt hätte. Vor jedem Sitz, auch vor dem mir angewiesenen, lag ein kurzer Hammer auf den Tisch, und mir wurde bedeutet, dass es im «Bergwerk» Sitte sei, den Beifall nach Vorträgen, wie auch andere zustimmende und ge­ hobene Gefühle durch Gehämmer auf der Tisch­ platte zum Ausdruck zu bringen. Der Vorstand er­ 200

öffnete die Sitzung mit wenigen trockenen Worten, worauf dieser und jener von den Alten in feierlicher Haltung eines seiner Poeme oder auch gleich meh­ rere zum Vortrag brachte. Es waren lauter stelz­ beinige Balladen und Romanzen aus der Götter-, Heroen- und Ritterzeit, deren betrüblicher Dilettan­ tismus durch das Schwäbeln und die anspruchsvolle Miene der Vortragenden doppelt abgeschmackt wirkte. Natürlich hämmerte ich nach jeder Num­ mer nach Leibeskräften, aber ich war froh, nicht zu einer eigenen Gabe aufgefordert zu werden, und im übrigen stand mir bald genug fest, dass keiner von dieser würdigen, sich auf Gegenseitigkeit bewun­ dernden Tafelrunde geneigt sein würde, mir die Brücke in eine bessere Zukunft zu bauen. Ich nahm mit höflichem Dank die Einladung entgegen, mich wieder sehen zu lassen, und widersprach auch dem Hofrat nicht, als er beim Abschied meinte, es sei doch recht hübsch gewesen; innerlich aber war ich entschlossen, das Katzengold dieses Bergwerks nie mehr fördern zu helfen. Zu dem Universalkünstler Adolf Grimminger ging ich allein einige Tage später. Dank der Empfehlung wurde ich auch von diesem für seine Jahre noch auf­ fallend lebhaften Altmeister freundlichst empfangen, doch merkte ich schnell, dass er an Egozentrik die anderen noch weit übertraf, und dass mein Besuch ihn nur deshalb freute, weil er ihm ausgiebig Futter für seine hungrige Eitelkeit versprach. Als ich ihn jetzt mit meinen Angelegenheiten vertraut machen wollte, hörte er dem wie etwas Nebensächlichem kaum zu, unterbrach mich alsbald, versetzte mir seine ganze ruhmreiche Vergangenheit als Wagner­ apostel und Plastiker, wies mich auf das Einzig­ artige seiner alle Künste umspannenden Persönlich­ keit hin, zeigte mir alte Kränze, die man ihm geworfen, Bildwerke von seiner Hand, Briefe von Berühmtheiten, Photographien und Widmungen, kurz, ein ganzes Museum der Selbstbespiegelung und als 201

ich, schliesslich zum Aeussersten gereizt, meine sonst gewohnte Zurückhaltung aufgab und ihn bat, ihm etwas vorlesen zu dürfen, um mich auch meinerseits künstlerisch zu legitimieren, rief er entzückt: «Ja, richtig, meine Gedichte! Davon müssen Sie auch ein paar hören!» Und er griff einen Stoss von Druck­ schriften und Manuskripten aus einem Fache und blätterte und las und las unersättlich, schwäbische und hochdeutsche Reime, den erwarteten Beifall nach jedem Stück selbst beredt vorwegnehmend, sodass ich erleichtert aufatmete, als er endlich meinen Hinweis auf die vorgerückte Zeit gelten liess, und ich mich mit vielem Dank für den Genuss wieder ins Freie retten konnte, vollgepfropft mit Grimminger’s künst­ lerischer Dreifaltigkeit und den heiligen Schwur ab­ legend, mich nie wieder in die Höhle dieses Menschen­ fressers zu wagen. Nachdem sich so meine Untauglichkeit erwiesen hatte, die Hoffnungen des Hofrat Beyer zu würdigen und zu nützen, erschien es mir auch nicht geraten, ihn selbst noch weiter mit meinen Anliegen zu be­ helligen. Mittlerweile war ich von anderer Seite an einen Dr. X. empfohlen, einen etwa 35-jährigen Schriftsteller und Mitarbeiter des Hofrats Kürschner; sein Name ist mir ebenso entfallen wie die Art der Vermittlung seiner Bekanntschaft, was umso selt­ samer ist, als er mich sogar einmal abends zu Gaste lud. Rat freilich wusste er mir auch keinerlei, er konnte mir nur die Aussage Beyers bestätigen, dass in den verschiedenen Verlagsbetrieben auf absehbare Zeit nichts für mich zu hoffen wäre. Immerhin tat mir seine Freundlichkeit wohl und jener Einladungs­ abend gab mir nach längerer Zeit wieder friedlich­ ruhevolle Familieneindrücke. Uebrigens ist mir da­ von auch noch eine merkwürdige «Geistergeschichte» in lebhafter Erinnerung. Es nahm nämlich an dem Abend äusser mir noch eine dem Ehepaar befreun­ dete Gräfin Usedom teil, eine würdige grauhaarige Matrone, die sich erst ziemlich schweigsam verhielt; 202

später aber, ohne dass ich das Gespräch in diese Richtung gelenkt oder der Gastgeber von meiner spiritistischen Vergangenheit gewusst hätte, taute die alte Dame ein wenig auf und gab ein rätselhaftes Erlebnis aus ihrer Jugendzeit zum Besten, wobei die Schlichtheit und realistische Anschaulichkeit der Er­ zählung alles glaubwürdig erscheinen liessen. Die Gräfin kam damals als Reisebegleiterin einer anderen hochadeligen Dame spät nachts nach Paris, und als sie in dem Hotel absteigen wollten, das ihnen empfohlen war, erklärte der Besitzer, leider keinen passenden Raum mehr frei zu haben. Bei der vor­ gerückten Stunde drängten die Damen darauf, sie trotzdem irgendwie unterzubringen, und schliesslich meinte der Mann achselzuckend, zwei getrennte Zim­ mer für je eine Person und in verschiedenen Stock­ werken wären ja wohl noch verfügbar. Man ent­ schloss sich zu dem Notbehelf, nahm ungewohnten Abschied, und die Gräfin liess sich nach dem für sie bestimmten Raume geleiten. Es war ein ziemlich grosses Gemach, dessen Bett in einem Alkoven hinter einem in der Mitte klaffenden Vorhänge stand. Müde von der Reise schloss die junge Dame das Zimmer ab, das, wie sie sich überzeugte, keinen zweiten Ein­ gang hatte, entkleidete sich, streckte sich auf das Lager und blies das Kerzenlicht aus. Die Erregung wegen der Unterkunftsschwierigkeiten wirkte in­ dessen noch nach, sodass sie nicht einschlafen konnte und eine Weile wach im Dunkeln lag. Da hörte sie mit einem Male die Türe gehen, die sie doch eben noch sorgfältig verriegelt und versperrt hatte, und sah in demselben Augenblick das Zimmer heller als zuvor erleuchtet. Erschrocken im Bette auffahrend, er­ blickte sie durch den Spalt des Vorhanges einen jun­ gen Offizier in französischer Uniform, der mit bren­ nendem Armleuchter dem Tische in der Mitte des Gemachs zuschritt. Er schien die Entsetzte, die vor Angst und Verblüffung keinen Laut hervorbrachte, gar nicht zu bemerken, setzte den Leuchter auf den 203

Tisch und ging dann ruhelos auf und ab, finster zu Boden starrend und in sichtlicher heftiger Erregung allerlei Unverständliches vor sich hinmurmelnd. End­ lich blieb er stehen, stiess die deutlich vernehm­ baren Worte hervor: «C’est pour moi le coup de mort!» riss einen Revolver aus der Tasche und setzte ihn an die Schläfe. Es krachte ein Schuss — und das Gemach war wieder dunkel und totenstille wie zu­ vor. Jetzt wollte die Gräfin um Hilfe rufen, aber die Stimme versagte ihr noch immer, und als sie aus dem Bette springen wollte, fühlte sie, dass sie kein Glied rühren konnte und wie von einem Starrkrampf befallen war. In diesem qualvollen Zustand ver­ brachte sie den Rest der Nacht wie auch die ersten Morgenstunden. Ihre besorgte Reisegefährtin liess an die Türe pochen, aber die Gelähmte konnte weder antworten, noch sich bewegen. Endlich wurde die Türe, die sich als doppelt verschlossen erwies, ge­ waltsam geöffnet, man bemühte sich um die Hilflose, wusch ihr das Antlitz mit kaltem Wasser, rieb ihr die Schläfen mit belebenden Essenzen, und erreichte so nach einiger Zeit, dass sie wieder die Herrschaft über ihren Körper erlangte und ihr Erlebnis be­ richten konnte. So lebhaft sie beteuern mochte, während der Vision wach gewesen zu sein, war man doch geneigt, das Ganze nur für einen schreckhaften Traum zu nehmen, bis der sichtlich betroffene Hotelbesitzer den Damen erklärte, dass sich im gleichen Zimmer einige Nächte vorher ein junger Offizier erschossen und dass man auch aus diesem Grunde Bedenken getragen habe, es einer von den Damen anzuweisen. Wenn man an der Wahrhaftigkeit der Gräfin nicht zweifeln will — und auf mich wenigstens machte sie einen durchaus vertrauenswürdigen Eindruck — so läge da einer jener Fälle vor, die Du Prel unter der Bezeichnung «Geistertheater» zusammenfasste, und dahin charak­ terisierte, dass ein gewaltsamer Vorgang seinen Schauplatz gewissermasen infiziert, dergestalt, dass 204

sich vor dem inneren Sehvermögen entsprechend ver­ anlagter Personen, die später an diesen Ort gelangen, die betreffende Katastrophe immer wieder abspielt: etwa wie ein auf der Grammophonplatte markiertes Musikstück nur des bewegten Apparates und der Be­ rührung mit dem Stifte bedarf, um immer von neuem zu erklingen. Damals war ich freilich gar nicht in der Stim­ mung, mich durch die Erzählung der Gräfin Usedom zu neuer Beschäftigung mit den okkulten Dingen anregen zu lassen. Die Ueberlegung, wie ich im bescheidenen Dreidimensionalen meinen Weg machen könne, beherrschte mich völlig. Das Scheitern meines Versuches, in Stuttgart Fuss zu fassen, hatte unmittelbar meinen Entschluss zur Folge, meine Bemühungen nach der Reichshaupt­ stadt zu verlegen. Das Berlin von 1892 war ganz da­ zu angetan, mir einen grossartigen und doch nicht unsympatischen Eindruck zu machen. Seit ich es zehn Jahre früher kennen gelernt, hatte es sich in gewaltigem Aufschwung zur imposanten Grosstadt entwickelt. Dabei zeigte der grosstädtische Betrieb noch nicht die geschmacklosen Auswüchse des Ameri­ kanismus, die dann um die Jahrhundertwende her­ vortraten; die internationale Entwicklung, die aus­ schliessliche Geldgier und Reklamesucht, die alles er­ stickt, was nicht unmittelbar ihrem Zwecke dient, hatten damals das heimisch Charakteristische noch nicht überwuchert, in diesem stolzen und riesen­ haften, neuen Berlin war überall noch der Einschlag altberliner Volks- und Lebensart erkennbar und gab dem Ganzen noch etwas Bodenständiges, Echtes, ja in seiner Art Behagliches. Als ich die Möglichkeiten erster Anknüpfung und Erkundigungen überlegte, fiel mir das Versprechen ein, das ich Ludwig Jakobowski in München gegeben hatte: und so suchte ich zunächst ihn auf, der zu­ fällig auch gar nicht weit von mir wohnte. Der kleine Dichterkollege hiess mich in seiner lebhaften, 205

immer sehr selbstbewussten und ironisierenden Art freundlichst willkommen und lud mich auch sogleich für einen der nächsten Tage ein. Er erwies sich mir auch insofern gefällig, als er mich zur Teilnahme an seinen regelmässigen abendlichen Zusammenkünften mit zwei befreundeten jungen Männern einlud. Es waren das der erst zwanzigjährige Lyriker Carl Busse und der nach Berlin verschlagene, mit mir gleich­ altrige Bayer Heinrich Rippler. Busse war damals voll Uebermut und kecker Selbstsicherheit; obwohl unter uns der Benjamin, führte er an jenen Abenden das grosse Wort. Darauf angewiesen, von lyrischer Kleinproduktion zu leben, pflegte er mit geschäfts­ mässiger Nüchternheit zu betonen, dass er alles wisse und souverän beherrsche, was zur Verfertigung eines guten und gangbaren Gedichtes gehöre, und dass man im Besitze dieser Voraussetzungen jederzeit ein be­ liebiges Quantum lyrischer Kleinodien fabrizieren könne. Daraufhin interessierte mich sein Urteil über die «Gangbarkeit» meiner eigenen lyrischen Verse, und ich brachte ihm daher einmal den betreffenden Manuskriptenband mit. Aber da kam ich übel dran! Er liess nur ein einziges Gedicht für leidlich gelten, das mir selbst gerade am wenigsten bedeutete. Der humorvolle Rippler versuchte sich überhaupt nicht selbst als Poet; im Ganzen bescheiden zurückhaltend, betonte er auch bei jeder Gelegenheit, dass er ledig­ lich ein ästhetisch interessierter Journalist sei. Im härtesten Kampf ums Dasein, hatte er einen kleinen Hilfsposten bei der «Täglichen Rundschau» erobert und arbeitete nun mit eisernem und zielbewusstem Eleiss auf eine bessere Stellung hin; im Laufe der Jahre ist er dann auch der angesehene Hauptschrift­ leiter jenes Blattes geworden. Nach dem unglücklichen Ausfall der lyrischen Prüfung musste ich den drei Unzertrennlichen höchst minderwertig gelten, trotzdem schien ihnen der Um­ gang mit mir nicht unangenehm, und sogar Busse betonte einmal leutselig, dass er meine «menschlichen 206

Eigenschaften» zu schätzen wisse, wobei er freilich bei der Oberflächlichkeit unserer Bekanntschaft nicht viel mehr meinen konnte als die Gelassenheit, die ich seinen Spötteleien gegenüber an den Tag legte. Durch Jakobowski lernte ich auch den damals 30­ jährigen Leo Berg kennen. Er hatte 1888 mit Eugen Wolff und dem Arzt und Bildungsreformer Dr. Küster den Verein «Durch» gegründet, der unter den Zirkeln der Berliner literarischen Revolution wohl noch am meisten Aehnlichkeit mit der Münchener «Gesellschaft für modernes Leben» hatte. Arno Holz, Johannes Schlaf, Mackay, Franz Held, Adalbert von Hanstein hatten dieser Vereinigung angehört, auch Gerhart Hauptmann, die Brüder Hart und Karl Bleibtreu hatten sie gelegentlich aufgesucht; als ich nach Berlin kam, war sie aber schon wieder aufgelöst, weil sich bald genug gezeigt hatte, dass die Meinungen und Be­ strebungen der Mitglieder zu weit auseinandergingen. Leo Berg selbst war eine tüftelnde Verstandes- und Kritikernatur, doch bei seiner ausnehmend ruhigen Art ohne Aufdringlichkeit. Ich kam des öfteren zu einer Plauderstunde zu ihm und fand immer freund­ liche Aufnahme. Die stille Zurückgezogenheit, in der Berg damals lebte, schloss aber völlig aus, dass ich durch ihn irgendwelche praktisch verwertbare An­ knüpfungen hätte gewinnen können. Als sich zeigte, dass während des Sommers auf journalistisches Vorwärtskommen nicht zu hoffen war, griff ich wieder auf meine dramatischen Pläne zurück, aber nicht auf «Alles und Nichts», dessen Weiterführung ich mir noch nicht zutraute, sondern auf den Entwurf eines Komödieneinakters, der mir in den Hauptzügen bereits feststand und der nun, in der frischen energischen Arbeitssphäre Berlins, rasch Ge­ stalt gewann. Es war die «Minnekönigin», ein bunt­ farbig romantisches Spiel, das einige kulturgeschicht­ liche Züge mitverwertete, im ganzen aber frei er­ funden war. Ich hielt darin Abrechnung mit den ästhetischen Zeitströmungen, doch auch mit Eigen­ 207

tümlichkeiten des deutschen Nationalcharakters über­ haupt, mit dessen formfeindlichem Innerlichkeits- und Wahrheits-Fanatismus, den ich in mir selbst erlebt halte. Als «Moderner» pilgerte ich auch nach Friedrichshagen am Müggelsee, um die Brüder Hart als die ver­ dienstvollen ersten Herolde Jungberlins kennen zu lernen. Sie verfolgten, in jener ländlichen Zurück­ gezogenheit, auch jetzt noch mit unverminderter frischester und vielseitigster Anteilnahme die hoch­ angeschwollene Bewegung, zu der sie ein Jahrzehnt früher mit ihren «Kritischen Waffengängen» den Auf­ takt gegeben, erwiesen sich trotz ihrer bescheidenen Lebensverhältnisse allen Sturmgenossen gastfrei und suchten jedes neuauftauchende Talent nach Kräften zu fördern. Der ältere, Heinrich Hart, der Dichter des unvollendeten Riesenepos «Das Lied der Menschheit», war der Stillere, Geklärtere, mit sich und der Welt Fertigere von beiden Brüdern, bei Julius war alles noch in unruhiger, unbestimmter Gährung, beide aber waren gleich zugänglich und interessiert für die ver­ schiedensten Individualitäten und Zeitströmungen. So war es kein Wunder, dass ich sie damals in reicher und kunterbunter männlicher und weiblicher Gesell­ schaft antraf. Zwar fehlten Holz, Schlaf und auch Gerhart Hauptmann, der sich nach dem Erfolg seines Erstlings «Vor Sonnenaufgang» zurückgezogen hatte, aber ich sah da Halbe wieder, lernte Hartleben und Mackay, Cäsar Flaischlen, Willy Pastor und Paul Scheerbart kennen, auch den am Müggelsee sommerfrischelnden Schweden «Ola Hansson» und seine Gattin Laura Marholm, sowie als ansässige Friedrichs­ hagener und nächste Freunde der Harts, den ver­ sonnenen Häckelianer Wilhelm Bölsche, der sich da­ mals neben seiner naturwissenschaftlichen Schriftstel­ lerei auch noch als Romandichter versuchte, und den ebenso gemütstiefen als freireligiös streitbaren Bruno Wille, den Dichter der «Offenbarungen des Wacholder­ baums». Meine Beziehung zu den beiden Hart blieb 208

bei diesen ersten Ausflügen nach Friedrichshagen noch eine recht oberflächliche; die Schar älterer Freunde und Bekannten nahmen sie dermassen in Anspruch, dass sie mich und andere Neuankömmlinge kaum mit ein paar Worten und Winken begrüssen konnten. Eine Aussprache über meine eigenen Ange­ legenheiten war unter solchen Umständen unmöglich, ich lernte auch von den Namhaften, die sich da drängten und mit Feuereifer ihre Angelegenheiten dis­ kutierten, keinen einzigen näher kennen und verharrte als schweigsamer Zuhörer und Beobachter im Hinter­ gründe. Nur einmal, bei einer Nachmittagszusammen­ kunft in der Wohnung Heinrich Harts, wandte sich die allgemeine Aufmerksamkeit mir zu, anlässlich eines Gesprächs über den Spiritismus. Irgend jemand hatte gehört, dass ich Erfahrungen auf diesem Gebiete besässe, und man bat mich neugierigst, alle Anwesen­ den auf ihre etwaige mediumistische Veranlagung zu prüfen. Das war mir wenig angenehm, doch machte ich gute Miene zum bösen Spiel und liess eine illustre Persönlichkeit nach der anderen sich an ein Tisch­ chen setzen oder die Voraussetzungen zum automati­ schen Schreiben erfüllen. Es trafen aber nur bei zweien von den Geprüften entsprechende Erscheinun­ gen auf, bei einer jungen Dame, die fast in Trance geriet, während der Tisch allerlei Verworrenes klopfte, und bei Bruno Wille, der sich als schreib­ medial veranlagt erwies. Letzterer setzte dann, wie er mir später erzählte, die automatischen Schreib­ versuche noch auf eigene Faust fort, gab sie aber bald wieder auf, weil unter seiner Hand immer nur die­ selben drei Worte entstanden: «Wer quält mich?» und er dabei das Gefühl hatte, dass sich sein ver­ storbener Vater über die Ruhestörung beklage. Die besonderen Reize der Märkischen Föhren- und Seenlandschaft überraschten mich bei diesen Fahrten als etwas Unerwartetes. Obschon ich als Hochländer die Formenarmut dieses Landschaftsbildes schärfer empfand als die Ansässigen, lernte doch auch ich seine 14

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schwermütigen Stimmungen würdigen, namentlich wenn die Abendsonne hinter dem Walde versank und ihr glühendes Rot zwischen den fernsten Stämmen durchbrach. Aus meinen erneuten Anstrengungen, irgendwelche feste journalistische Beschäftigung zu finden, riess mich Ende Mai ein Alarmbrief meiner Schwester, der mir eine schwere Verschlimmerung im Zustande des Vaters mitteilte und mein Kommen für nötig erklärte. Bestürzt fuhr ich sogleich nach Bamberg... der Arzt gab keine Hoffnung und ich selbst hatte beim Anblick des Kranken sogleich das bestimmte Gefühl, dass er nicht mehr aufstehen würde... Der Arzt sagte aber, dass bei der Widerstandskraft seiner Natur die Kata­ strophe wohl erst nach einer längeren Frist eintreten werde. Die folgenden Tage in Berlin vergingen mir in beklommenster Erregung; ich musste mich zwin­ gen, mit meinen Vorstellungen nicht unablässig an dem fernen Sterbelager zu verweilen. Ich blieb dann ganz ohne Nachricht, bis ich nach einer Woche eine Depesche erhielt, dass der Vater verschieden sei... Ich fand die Mutter in wort- und tränenlosem Schmerz. Die Schwester führte mich in das Zimmer, wo die Leiche aufgebahrt war und liess mich mit dem Toten allein, worauf ich von dem lieben, vertrauten Antlitz und den arbeitsamen und gütigen Vaterhänden den letzten dankesschweren Abschied nahm. Meine Schwester berichtete mir noch von einer seltsamen Erscheinung, die sie gehabt hatte und die wohl mit ihrer hellseherischen Anlage zusammenhing. Als sie kurz vor dem Ende bei Tage in das Zimmer eintrat, wo der Kranke in stiller Reglosigkeit ruhte, sah sie über ihm aus der Rückwand des gothischen Himmelbetts eine Männerhand hervor kommen, sich wie segnend über das Haupt des Sterbenden breiten und so eine Weile verharren. Dabei habe sie sogleich das sichere Gefühl gehabt, dass es die Hand des Grossvaters Gumppenberg wäre. Ich batte keine Zeit nachzugrübeln, musste ich doch ohne Verzug als Be­ 210

gleiter der Leiche nach Pöttmes weiterfahren, wo sich ihr die Gumppenberg’sche Familiengruft öffnen sollte. Die Ueberführung des Sarges an den Bahnhof erfolgte durch dasselbe Viergespann, das meinen Vater so oft im Amte durch das Frankenland geführt; junge Po­ stillone in ihrer schmucken, heute aber beflorten Gala lenkten es in sichtlicher Ergriffenheit, hatte sich doch mein Vater die Herzen aller seiner Untergebenen gewonnen. Die Fahrt bis an die oberbayrische Bahn­ station, die unserem alten Familiensitz am nächsten liegt, währte bei den schlechten Zweigbahnverbindun­ gen wieder bis zum Morgen. In meiner Ueberreiztheit verbrachte ich auch diese zweite Nacht schlaflos. Als wir frühmorgens die kleine Station erreichten, stand schon ein Ueberführungsgefährt für den Sarg und ein Zweispänner für mich bereit, und wir fuhren in an­ gemessen langsamem Tempo in die grüne Waldein­ samkeit hinein. Mehr als drei Stunden dauerte noch diese stille Fahrt, und die Feierlichkeit der morgen­ frischen Natur ringsum, die mich der Vater von frü­ hester Kindheit lieben gelehrt, die lockenden Wander­ weiten, in die er mich oft kameradschaftlich mitge­ führt, die bunten Sommerfalter, die nun den Sarg ihres Kenners umspielten, alles gemahnte mich mit solcher Eindringlichkeit an den Toten, dass mir die langverhaltenen Tränen hervorbrachen. Ich hatte Mühe, mich zu fassen, als uns etwa eine halbe Weg­ stunde vor dem Ziel eine Schar Pöttmeser entgegen­ kam, um nach altem Brauch dem Sarg laut betend das Geleit zu geben. So sehr hatte sich in solchen vom modernen Weltgetriebe abgeschiedenen, an einen Herrensitz angeschlossenen Ortschaften das Gefühl der Abhängigkeit und Zusammengehörigkeit erhalten; obwohl kaum irgendwer von den Bewohnern des Marktfleckens meinen Vater gekannt hatte, genügte schon seine Verwandtschaft mit dem Schlossherrn, um ihm die ehrerbietige Einholung zu sichern. Ich musste bei dieser Massen-Zeremonie der ursprüng­ lichen Ansprüche meines Vaters auf das Pöttmeser 211

Gut und seines mühseligen Beamtenlebens gedenken; die Ironie, dass man nun dem Toten und nur diesem die angestammten Ehren gönnte, griff mir ans Herz, und daneben auch mein eigenes, noch weit mehr allen Wettern und Winden preisgegebenes Enterbten-Schicksal. Der Sarg wurde in die Kapelle abgestellt, ich selbst ans Schlossportal gefahren, wo mich der Pöttmeser Fideikommissherr, Vetter Hanns Georg, in seiner gut­ mütig-schlichten Landjunkerart willkommen hiess. Als Sohn jenes Ludwig Albert, der die Geschichte der Gumppenberger geschrieben und alle Stammesgenossen zur einträchtigen Wahrung der Familientraditionen ermahnt hatte, hielt er auf freundlich-vertraulichen Umgangston mit der weiteren Verwandtschaft, trotz aller Verschiedenheit der Lebensverhältnisse und An­ schauungen, und so begrüssten er wie auch seine Frau mich mit geschwisterlichem Du. Beide entschuldigten sich, dass sie mich nicht allein zu Tische bitten könn­ ten, da infolge einer militärischen Uebung in der Ge­ gend zur Zeit eine Anzahl Offiziere bei ihnen ein­ quartiert wäre; sie wiesen mir einstweilen ein Zimmer an, damit ich ein wenig ruhen könnte, im Laufe des Nachmittags sollte dann die Einsegnung der Leiche stattfinden. Schon das Betreten des vornehmen Stamm­ schlosses mit seinen Ahnenbildern und Gobelins und dem Ausblick auf eine Wasserfläche, darauf die See­ rose als Gumppenberg’sche Wappenblume schwamm, hatte auf mich im Vergleiche mit der Sphäre, aus der ich kam, halb traumhaft, halb peinlich gewirkt, und noch seltsamere und quälendere Kontraste zu meiner Lebenslage und Augenblicksstimmung brachte mir die Mittagstafel. Es ging üppig her, vor allem der mili­ tärischen Gäste halber, man trank Sekt, und die Offi­ ziere, denen ich kurz und ohne die Erwähnung des Grundes meiner Anwesenheit vorgestellt wurde, plau­ derten in der Weinlaune aufs Lebhafteste und Lau­ teste. Ich konnte mich vom allgemeinen Umtrunk nicht ausschliessen, wenn ich nicht auffallen und 212

stören wollte; dadurch steigerte sich, da ich ja seit Berlin nicht mehr geschlafen hatte, meine Nerven­ überreizung dermassen, dass mich, als die Schloss­ herrin sich endlich erhob, ein jähes Unwohlsein be­ fiel und ich eine Weile Kaltwasserumschläge machen musste, was die Bestattungsfeierlichkeit verzögerte. Als ich mich wieder einigermassen beisammen hatte, fand in der Kapelle die Einsegnung statt, worauf sich die Familiengruft dem Sarge öffnete. Ich hatte mir diese Gruft ganz anders vorgestellt als den engen, schmucklosen, schrecklich nüchternen Raum, in den ich nun blickte. Mit primitivster Symmetrie nebenund übereinander waren da Nischen in die kahlen Mauerwände gebrochen, die meisten enthielten bereits Särge, einige wenige klafften noch leer, und in eines dieser leeren Schubfächer wurde nun der neue An­ kömmling gestossen. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, dass jedes schlichte Bäuerlein auf dem idyllischen, kirchenbehüteten Dorffriedhof unter seinem buntüberblühten, vom Sonnen- und Sternen­ himmel überdachten Hügel und dem Holzkreuz, mit dem frommen Spruch darauf, tausendmal schöner und würdiger begraben läge, als sie alle, die hier in dumpfer Finsternis ihre vornehm abgesonderte Ruhe­ statt gefunden hatten und es regte sich in mir wie ein Protest dagegen, dass die irdische Hülle meines Vaters, in dem der natürliche Schönheitssinn zeit­ lebens so stark ausgeprägt war, in diese schmucklose Vorratskammer des Todes gebracht wurde. Allein er hatte es selbst so angeordnet; vielleicht war es ihm dabei um jene Genugtuung zu tun, dass man wenig­ stens seiner Leiche den Platz in Pöttmes nicht ver­ wehren sollte. Von meiner Rückreise über Bamberg nach Berlin hat mein Gedächtnis keine Einzelheiten aufbewahrt. Jedenfalls erfuhr ich nun durch Mutter und Schwe­ ster genaueres über die materiellen Verhältnisse, mit denen wir jetzt zu rechnen hatten. Von Ersparnissen war nichts mehr vorhanden; auch die geringe Sum213

me, die den Eltern durch den Verkauf der Miesbacher Villa zugeflossen, war im Verlauf der letzten Jahre aufgebraucht worden, teils durch die Sommerreisen, die meinem Vater gesundheitlich so notwendig waren, teils durch die Repräsentationspflichten seiner Bam­ berger Zeit, nicht zuletzt aber durch die Notwendig­ keit, all meine unstäten Kreuz- und Querzüge vor­ wiegend zu bestreiten. Uns verblieb nichts als die Witwenpension meiner Mutter; ich aber konnte jetzt keinesfalls mehr auf wesentliche Hilfe von daheim rechnen. So hatte ich denn Grund genug nach der Rückkehr in die Hauptstadt, meine Bemühungen um irgend eine Anstellung zu verdoppeln. Sie blieben aber nach wie vor ohne Erfolg. Und da auch meine Produktion in verwertbaren Skizzen, Aufsätzen oder Feuilletons spärlich genug floss, und ich meine Mutter keinesfalls noch mehr in Anspruch nehmen durfte, als ich ohne­ dies musste, begann für mich jetzt jene typische «Ber­ liner Hungerzeit» hoffnungsvoll zugewanderter junger Literaten. Wäre das Leben in Berlin damals nicht erheblich billiger gewesen als anderswo, ich hätte den ersten harten Daseinskampf überhaupt nicht be­ stehen können; so aber fristete ich mich mit Ach und Krach durch. Die Jagd nach Feuilleton-Stoffen führte mich in allerlei echt berlinische Lokale, und es gelang mir da auch manchmal, Brauchbares zu ergattern; ich klopfte mit diesen Sächelchen beim «Berliner Tageblatt» an, für dessen Feuilletonleitung damals Friedrich Dernburg, der Freund Kaiser Friedrichs und Vater des nachmaligen Staatssekretärs gewonnen war. Der freundliche alte Herr fand soviel Gefallen an meiner Schreibweise, dass er nicht nur diese Feuil­ letons aufnahm, sondern auch zu weiterer Mitarbeit aufforderte. Von den Berliner Jüngstdeutschen lernte ich jetzt und in der unmittelbar folgenden Zeit äusser Flaischlen auch noch den treuherzigen Bruno Wille näher kennen, mit dem mich bald gute Duzfreundschaft ver­ 214

band, dann Hartleben, Paul Scheerbart, Mackay und Willy Pastor. Hartleben suchte ich des öfteren vor­ mittags in seiner Wohnung auf, wo er mit seinem «Moppchen» damals noch in freiem Verhältnis zu­ sammenlebte. Er selbst, der jede Nacht mit Bekannten zu durchkneipen pflegte, lag immer noch zu Bett, mochte man auch erst um 1 Uhr kommen. Trotzdem wurde man eingelassen und hatte dann oft längere Zeit geduldig am Bett sitzend abzuwarten, bis sich der Schläfer die Augen rieb, allmählich den Besuch bemerkte, und ruhig weiter liegen bleibend, die Unter­ haltung eröffnete. Ich mass Hartleben, der eben seine Nachdichtungen des «Pierrot Lunaire» vollendet hatte, in jener Berliner Zeit höhere Bedeutung bei als später. Eines Abends traf ich mit ihm und einigen anderen Literaten in einem Bierlokal zusammen, er sammelte damals für die geplante Gründung des «Simplizissimus» die ersten literarischen Beiträge und hielt unter uns Umfrage nach ungedruckten Gedichten. Ich hatte gerade ein neuentstandenes in der Tasche und legte es ihm vor. Er las, bezeichnete es als vortrefflich und erklärte, es sogleich für 20 Mark erwerben zu wollen. Dabei holte er aus der Westentasche ein 20 Mark­ Stück hervor und schob es mir auf der Tischplatte zu; noch ehe ich es aber ergreifen konnte, zog er mir das Geldstück mit jäher Bewegung wieder weg, und sagte in unnachahmlich schadenfrohem Tone: «Nein, ich kann das Gedicht doch nicht nehmen — es ist doch nicht gut genug.».... Der absonderliche Phantast Paul Scheerbart, der damals seinen Erstling «Das Paradies» veröffentlicht halte, war trotz seiner traurigen Lebensverhältnisse extremer Alkoholiker, wie der wohlbegüterte Hart­ leben, wenn er auch seinem Trieb gewöhnlich nur als Gast anderer frönen konnte. Wir vertrugen uns sehr gut; obschon ich mit der krankhaften Ueberreiztheit seines Wesens nichts gemein hatte und mein eigener Grotesk-Humor von ganz anderer Farbe war, fanden wir uns doch im übermütigen Spiel einer Einbildungs­ 215

kraft, die sich jenseits aller Vorurteile, auch der zeit­ genössisch literarischen, mit Götterwonne tummelte. Er hatte sich ein merkwürdig derbes, prosaisches, weibliches Wesen beigesellt, das er seinen «Bären» zu nennen pflegte; doch hatte dieser Bär offenkundige Verdienste, denn er hielt das Wenige, was es bei Scheerbart zu verwalten gab, mit aller Umsicht einer tüchtigen Hausfrau zusammen, und das ewige grosse Kind hätte sich in der feindseligen Welt ohne seine stämmige und treubesorgte, wenn auch brummige Ueberwacherin sicher nicht so lange erhalten können. Als ich einmal den Abend mit Scheerbart in dessen armseliger Wohnung verbrachte, kam ich auf den Einfall, eine Anzahl kleiner Skizzen in seinem Stil zu improvisieren, ich schrieb und schrieb gleich ein ganzes Dutzend auf lose Quartblätter, wie es mir gerade in den Bleistift kam. Scheerbart aber, frei von eitler Verletzung, hatte seine helle Freude daran, ja er steuerte selbst zu jeder Skizze den Titel und Unter­ titel bei. Die Mehrzahl dieser Parodien habe ich dann später, samt jener Scheerbart'schen Ueberschrift in das «Teutsche Dichterross» mit aufgenommen. Alles, was zur jungen Literatur zählte, oder dazu zählen wollte, kam um jene Zeit an einem Abend der Woche regelmässig in einem Sonderlokal des «Archi­ tektenhauses» an der Wilhelmstrasse zusammen, und das Pathos der hochliterarischen Gespräche und Meinungsstreitigkeiten bei diesen «Symposien» wurde von Scheerbart und mir mit grotesken Ironisierungen gewürzt, sodass wir beide bald als die «lustigen Figuren» des Kreises galten. Bei mir machte sich da freilich nur der Galgen­ humor meiner augenblicklichen Lage Luft, während Scheerbart damit sein ganzes Wesen gab. An einem dieser Abende tauchte auch Frank Wedekind unter uns auf, und zwar in ebenso sorgfältiger als heraus­ fordernd seltsamer Tracht, von der mir namentlich ein orangebrauner Ueberrock mit ungeheuer langen Schössen in Erinnerung ist. Der Zufall setzte den 216

exzentrischen Frank auf den Platz neben mir, wir wechselten aber kaum ein paar Worte; bei der Selten­ heit unseres früheren Zusammentreffens in München wusste ich keinen persönlichen Gesprächsstoff und er selbst unternahm keine Versuche, eine Unterhaltung anzuknüpfen. Als ich dann ein Jahrzehnt später in München mit ihm auf jene Begegnung im «Architekten­ hause» zu sprechen kam, überraschte er mich durch das Bekenntnis, er habe damals den Eindruck gehabt, dass ich ihn abgründig missachtete, und habe sich nur deshalb mir gegenüber so zurückhaltend gezeigt; ein Zug phantasierender Ueberempfindlichkeit, aufschluss­ reich genug für das seelische Wesen des Vielum­ strittenen. Auch Karl Bleibtreu, der in seiner Schrift «Revo­ lution in der Literatur», die Berliner Bewegung in Fluss gebracht hatte, lernte ich jetzt, wenngleich nur flüchtig, kennen. ... Seine Vielseitigkeit als Lyriker, Dramatiker und Erzähler, Militärschriftsteller und Literarhistoriker hatte nicht so viel Anerkennung gefunden, als sein sehr anspruchsvoller Ehrgeiz verlangte. Und voll bitterem Groll darüber balgte er sich nun in endlosen und ganz unfruchtbaren Pole­ miken mit seinen Kritikern herum. Zu den merkwürdigsten Erscheinungen des Fried­ richshagener Kreises zählte der mit mir gleichaltrige Schlesier Gustav Renner. Von untersetztem Körperbau, lichtblond und vollbärtig, mit übergrossem Grübler­ kopf, der entfernt an Hebbel gemahnte, war er aus dem schlichtesten Arbeiterstand hervorgegangen und erst Tischlergeselle gewesen, bis es ihn dermassen zum Dichten trieb, dass er der Werkstatt Valet sagte. Er hatte auch das Glück, die Jüngstdeutschen Berlins, die damals ohnehin für die «Männer mit der schwieli­ gen Hand» schwärmten, für seine nicht eben welt­ bewegende, doch immerhin eigenartige Lyrik zu interessieren und allseitige Förderung zu finden. Bemerkenswerter noch als sein Talent und die Unge­ wöhnlichkeit seines Lebensweges war aber sein fester 217

mystischer Glaube, schon einmal in hochvornehmer Inkarnation auf Erden gewandelt zu sein. Er be­ hauptete nämlich, sich seit frühester Jugend aufs leb­ hafteste daran zu erinnern, wie er als selbstherrlicher orientalischer König ein ganzes Volk zu seinen Füssen gesehen habe. Dass er sich mit dieser Behauptung nur interessant machen wolle oder dass er als Romantiker blossen Träumereien Gegenständlichkeit zuschriebe, schien bei der Ehrlichkeit seines Wesens ausge­ schlossen, sodass es sich wohl um eines jener seelischen Rätsel handeln mochte, denen unsere modernen Psy­ chologen noch völlig ratlos gegenüberstehen. Uebrigens hat Renner die grossen Hoffnungen nicht erfüllt, die seine Gönner und Förderer damals in ihm setzten. Der Herbst 1893 beschenkte mich auch mit dem verständnisvollen und mitfühlenden Freunde, dem ich in jener ersten, schweren Berliner Zeit mehr innere Stärkung und Aufrichtung zu danken hatte, als allen anderen, die mir damals wohlwollend begegneten. Es war Adalbert von Hanstein, der erst die moderne Ber­ liner Bewegung in nahen Verkehr mit ihren Führern mitgcmacht, dann aber verstimmt durch egoistische Teilnahmslosigkeit, sich in seine Junggeselleneinsam­ keit zurückgezogen hatte. Als Sohn des 1880 verstorbe­ nen Bonner Botanikers Johannes von Hanstein, hatte er selbst ursprünglich botanische Studien getrieben und mit einer Arbeit auf diesem Gebiete promoviert. Seine dichterischen Neigungen liessen ihn aber bald auf die Gelchrtenlaufbahn verzichten, umsomehr, als auch ihm die dafür zureichende materielle Basis fehlte. Nur wenige Jahre älter als ich, hatte er eine Gedicht­ sammlung und ein Versdrama «Die Königsbrüder» veröffentlicht, das den Konflikt zwischen Otto dem Grossen und seinem Bruder Heinrich bühnenwirksam behandelte und bereits erfolgreich zur Aufführung gelangt war. Durch Veranlagung und Charakterent­ wicklung hochsinniger Idealist von vorwiegend ethi­ schem Pathos, neigte er ein wenig zum Rhetorischen, blieb aber durchaus menschlich-gesund in seinem Emp218

finden; ein freier, überschauender, vornehmer Geist von grosser Vielseitigkeit der Interessen, der an allen Zeitströmungen lebhaften Anteil nahm, liess er jedes echte und wahre Verdienst mit neidloser Freude gelten, so scharf er alles windig Pseudogeniale und krampfhaft Originalitätssüchlige ablehnte, das sich schon damals in den Vordergrund drängen wollte. Als Dramatiker besass er starken Kunstverstand für den Aufbau, Schönheit und Adel der Idee, Energie der Durchführung, Sinn für grosszügige Symbolik wie auch für bildmässige szenische Gruppierung und eine schwungvolle, wenn auch nicht eben eigenwüchsige Verssprache. Die kleineren Züge der Menschlichkeit und das animalisch Triebhafte lagen seiner al frcscoGestaitungsweise ebenso wenig wie das Eindringen ins Labyrinth ungelöster und vielleicht unlösbarer Zweifelsfragen, so sehr er all das bei anderen Poeten schätzte und treffend beurteilte; er war sich dieser Grenzen auch voll bewusst und empfand sie als einen Mangel, den er offen eingestand. Was er formen sollte, musste in allem Entscheidenden intellektuell und ethisch durchaus klar liegen: in der dichterischen Veranschaulichung des Kampfes der grossen Prinzi­ pien, die er aufgriff, bewährte er aber dann eine geistvolle Dialektik. Da die ästhetische Vorliebe der Zeitgenossen schon damals gerade dem ungeklärt Problematischen oder dem rein Triebhaften gehörte, war es begreiflich, dass Hanstein auf der Bühne keine bleibenden Erfolge erringen konnte. Er hatte sich damit auch schon abgefunden, als wir uns kennen lernten, und in puncto Tagesruhm schon damals resigniert; umso höher musste ich es ihm anrechnen, dass er, sobald er über mich im Klaren war, mit selbstloser Warmherzigkeit sich meiner'annahm. Er lernte, mich zur Mitteilsamkeit veranlassend, die meisten meiner grösseren Dramen kennen, später dann auch «Alles und Nichts», das besonders stark auf ihn wirkte, und erkannte meine Begabung mit so treffender Hervorhebung der Besonderheiten an, dass 219

ich mich in weit höherem Masse verstanden fühlte, als es mir vorher begegnet war; und was ich meiner­ seits über seine eigenen Bühnendichtungen, auch über neu entstehende, die er mir vorlas, in aufrichtig urteilender Würdigung sagte, schien ihm denselben Eindruck gründlichen Verstehens zu machen. Fand er in meinem Wesen Goethe’sche und Hebbel’sche Züge vereinigt, so schien es zu seiner Selbstkritik zu stimmen, wenn ich immer wieder seine Wahlverwandt­ schaft mit Schiller betonen musste; und an diese Ver­ gleiche knüpfte sich allerlei scherzender Galgenhumor. Es konnte nicht fehlen, dass uns, die ein Zufall zu­ sammengeführt, schnell und aus beiderseitigem Antrieb und Bedürfnis eine sehr herzliche, rückhaltlos ver­ trauliche Duzfreundschaft verband, die auch in un­ verminderter Wärme andauerte, als er, bald nachdem wir uns kennengelernt, eine kleine muntere Frau heimführte. In meine ständigen Daseinskämpfe kam durch die Entscheidung Max Grubes (damals Oberregisseur am Kgl. Schauspielhause, dem Gumppenberg zwei Stücke eingereicht hatte. Anmerkung des Herausgebers.) ein

Hoffnungsschimmer, Freilich aber nur ein Schimmer, denn auch diesmal erfüllte sich mein Schicksal, mit dem Hauptsächlichen, was ich zu geben hatte, unter­ drückt zu werden und nur in kleinen Nebensächlich­ keiten Anerkennung zu finden. Mit «Alles und Nichts», dem Werk, an dessen Verwirklichung mir vor allem liegen musste, konnte sich Grube keineswegs befreun­ den, und zwar nicht etwa, weil es ihm bühnen­ technisch zu anspruchsvoll oder zu schwierig erschie­ nen wäre, sondern des ideellen Gehalts halber. «Was wollen Sie,» sprudelte er ärgerlich verweisend her­ vor, «mit diesem traurigen Pessimismus? Schauen Sie doch um sich! Alles freut sich des Daseins, und mit Recht, denn es ist etwas Herrliches um das Leben — und nun kommen Sie, und wollen uns dieses Leben verlästern und verleiden!» Ich hätte ihm ent­ gegnen können, dass mein Drama höchstens dem 220

seichtesten Philistertum lebensfeindlich erscheinen könne; ja, dass es in der entscheidenden Schlusszene jenen wahrhafteren Optimismus vertrete, der auch den unausbleiblichen Grausamkeiten des Daseins Stand hält; doch sprach ich kein Wort der Verteidi­ gung, sah ich doch genau, dass bei dem sanguini­ schen Günstling des Glücks, dem seine angenehme Augenblickslage als Masstab aller Dinge galt, auf kein Verständnis zu hoffen war. «Aber», fuhr Grube in milderem Tone fort, «das andere, der Einakter ist sehr hübsch, und den wollen wir im Frühjahr geben. Ich habe gerade einen Dreiakter angenommen, zu dem er recht gut als abendfüllend passen wird.» Ich erfuhr, dass es sich um die Verskomödie «Verbotene Früchte» des badischen Dichters Emil Gött handle, die ein Schelmenspiel des Cervantes für den moder­ nen Theatergeschmack zubereitet hatte. So sprach ich denn meine Befriedigung aus, wenigstens mit dem Einakter im Königlichen Schauspielhause zu Wort zu kommen, und dankte Grube für seine Mühewal­ tung. ... Grube, der die Inszenierung des Stücks selbst übernommen hatte, liess mich gleich von Anbeginn an den Proben teilnehmen und zeigte dabei viel Eifer und bühnentechnische Klugheit. Wie bei der Münchener Einstudierung des «Thorwald» sah ich auch bei diesen Proben wieder mit Genugtuung, dass ich die Wirkungen bis ins einzelne innerlich richtig gesehen hatte. Da sich auch Grube bald davon über­ zeugte, wurde auch dieses Stück ohne alle Striche gegeben. Die männliche Hauptrolle war mit Adalbert Matkowski, der damals auf der Höhe seines Könnens und seiner Erfolge stand, in jedem Betracht vortreff­ lich besetzt; der berühmte Heldenspieler hatte auch sichtliches Vergnügen an der charakteristischen Auf­ gabe, die ihm Gelegenheit gab, Humor und doch auch «tiefere Bedeutung» zu zeigen. Frau von Hochenburger brachte für die «Minnekönigin» eine entspre­ chend schöne und stattliche Bühnenerscheinung mit, 221

und wenn sie auch nicht so viel Ueberlegenheit und Laune besass, um das schalkhafte Spiel mit dem spröden, deutschen Ritter mimisch ausschöpfen zu können, erschien sie doch geeignet, alles Hauptsäch­ liche zur Geltung zu bringen. Dekorativ wurde das Stückchen recht hübsch ausgestattet, kostümlich aller­ dings nicht in demselben Grade; die groteske Ueberzierlichkeit, die doch, weil sie dem Helden einiges Recht zu seiner Stellungnahme bietet, ein wesent­ liches Moment der Komödie ist und im Dialog selbst wiederholt betont wird, konnte ich nicht durchsetzen; so viel Aufwand wollte man eben dem «blossen Ein­ akter» und einem noch ganz unbekannten Autor nicht zugestehen. Alles in allem durfte ich aber der Aufführung mit guten Hoffnungen entgegensehen. Max Halbe bereitete ganz um dieselbe Zeit die Uraufführung seiner Verskomödie «Der Amerika­ fahrer» an einer anderen Rerliner Bühne vor. Als ich ihm während jener Tage der beiderseitigen Pro­ ben einmal auf der Strasse begegnete, war er auch in sichtlich siegesgewisser Stimmung, und da der Zufall es gefügt hatte, dass unsere Premieren auf den gleichen Abend angesetzt waren, lud er mich ein, nach der meinen in ein bestimmtes Restaurant der Friedrichstrasse zu kommen, wohin er sich mit seinen Freunden verabredet hätte. Der Tag der Doppelschlacht kam heran. Da äusser Hanstein und Julius Hart das gesamte literarische Berlin der Halbe-Aufführung beiwohnen wollte, diese aber als Referenten sich völlig neutral verhalten mussten, zog ich ohne jedes streitbare Gefolge in den Kampf. Während der Vorstellung ging ich hinter den Kulissen auf und ab, zuweilen einen Auftritt mit an­ hörend. Matkowski spielte mit prächtiger Natürlich­ keit, auch die Hochenburger kam in lebhafteren Zug und bot von ihrem Besten. So wurde es ein kräftiger und fröhlicher Erfolg, über den ich des öfteren quit­ tieren musste und da auch das folgende Gött’sche Stück sehr gefiel, stand alles unter dem Eindruck 222

eines musterhaft glücklichen Premierenabends. Ich verliess das Haus völlig allein und unbeobachtet und wanderte dann in gehobenster Stimmung jenem Re­ staurant zu, wo ich mit Halbe und seinem Kreis Zu­ sammentreffen sollte. Ich dachte auf eine angeregte, geräuschvolle Tafelrunde zu stossen; um so erstaun­ ter war ich, als ich das Lokal in schläfriger Stille vorfand und nur noch von einigen Spiessbürgern be­ sucht, die ihre Zeitung studierten. So wurde es elf Uhr und schliesslich Mitternacht, ohne dass Halbe oder sonst jemand vom literarischen Berlin erschie­ nen wäre und ich ging den weiten Weg nach meiner Mietstube heim, wobei ich eine melancholische An­ wandlung nicht ganz niederzukämpfen vermochte. Ich war gewiss der erste und letzte Poet, der nach einem Berliner Bühnensieg zu Bette ging, ohne auch nur mit einem einzigen Menschen zwei Worte gewechselt zu haben. Der nächste Tag brachte mir dann aller­ dings wieder erfreulichere Eindrücke. In aller Frühe schon meldete sich bei mir als erster Bestätiger meines Erfolgs ein eifriger Vertreter der Reclam’schen Universalbibliothek und bestürmte mich mit grossem Wortschwall, die Komödie seinem Verlag zu überlassen, indem er mir dessen popularisierende Vorteile in den leuchtendsten Farben malte. Obwohl er als einzige Gegenleistung nur ein paar hundert Freiexemplare des Bücheichens versprechen konnte, schien mir das Anerbieten doch insofern günstig, als der sofortige Druck in billigster Ausgabe einer raschen Verbreitung bei den Bühnen dienlich sein konnte, und so sagte ich schliesslich Ja und Amen, schon um die zudringliche Suada des Mannes los zu werden, die mir auf die Nerven ging. Als ich dann einen Vormittagsspaziergang durch die Friedrichsstrasse machte, begegnete mir Matkowski. Kaum hatte er mich erblickt, so stürmte er auch schon in seiner impulsiven Art auf mich los und zog mich umarmend an seine breite Brust, was in dieser Stadt­ gegend, wo jeder Passant ihn kannte, mehr Auf­ 223

sehen erregte, als mir lieb war. Dabei beglück­ wünschte er mich nochmals in der lebhaftesten Weise, duzte mich ohne weiteres und schleppte mich in eine benachbarte Weinstube, wo ich mit ihm eine Flasche vom Besten leeren und auf die Zukunft der «Minne­ königin» und aller meiner sonstigen Bühnendichtun­ gen anstossen musste. Dass die Freundschaftswallung eines Schauspielers, und wäre es der menschlich­ gehaltvollste und ehrlichste, immer ganz besonders beurteilt sein will, vor allem, was die Dauer der hohen Temperatur anlangt, wusste ich damals be­ reits und machte mir keine Illusionen; abgesehen von dieser stillschweigenden Resignation im voraus, freute ich mich aber von Herzen des neu gewonnenen Duzbruders, dessen intuitive, aus dem Vollen schöp­ fende Künstlerschaft ich hochschätzte, und an dem ich nun beim Näherbekanntwerden auch rein mensch­ liche Eigentümlichkeiten entdeckte, die mir ungemein sympathisch waren. Uebrigens währte sein Interesse an mir für einen Schauspieler recht lange, immerhin fast ein Jahr hindurch; so oft er mich gerade zu­ fällig traf, musste ich in irgend einer von den Wein­ stuben, die er zu besuchen pflegte, sein Trinkgenosse sein, ein Vergnügen, das in rein bacchantischem Be­ tracht für mich nicht ganz ungetrübt war, denn ich hatte niemals wie er ein reichliches Mahl hinter mir und so rebellierte mein unbefriedigter Magen gegen die grossen Mengen, wenn auch noch so edler Flüssig­ keit, die man ihm unlogischerweise zumutete. Matkowski erzählte mir da aufs lebendigste und anschau­ lichste, mit der vollen Rückhaltlosigkeit eines brüder­ lichen Freundes, von verschiedensten Erlebnissen künstlerischer, erotischer, auch mystisch transzenden­ taler Art. Ich gewann den Eindruck einer elemen­ taren, in vielen Zügen dämonischen Kraftnatur, die von dem faustischen Drang erfüllt war, in allem Menschlichen schrankenlos sich auszuleben, sodass es mehr nur als Zufall erschien, dass er Bühnen­ künstler geworden war, oder wenigstens nur dadurch 224

begründet, dass die grossen Leidenschaften, deren er bedurfte, im Illusionsrausch dichterischer Helden­ darstellung sich eher austoben konnten, als in der Nüchterheit, Kleinlichkeit und vielfältig überwucher­ ten Unfreiheit des realen Gegenwartslebens. Schliess­ lich lud er mich auch einmal für einen Abend als einzigen Gast in seine Junggesellenwohnung. In einem orientalisch ausgestatteten, von magisch rotem Ampellicht übergossenen und von kostbaren Teppichen und Raubtierfellen strotzenden Gemach bewirtete er mich da erst aufs Ueppigste, von seiner Reise nach Südamerika plaudernd, wo er, die Taten­ Surrogate der Kunst auf eine Weile verschmähend und in aller Unbändigkeit am Wirklichen seine Kraft erprobend, mit einer Axt ganz allein durch das Ge­ strüpp des Urwaldes sich einen Weg geschlagen hat. Dann sprang er auf, zog mich in einen Nebenraum, wo ein grosses Harmonium erhöht stand, bot mir einen bequemen Polstersitz zum Lauschen und be­ gann mir nun auf dem Harmonium vorzuphanta­ sieren. Ich merkte schnell, dass er Meister auf diesem Instrument war, und der Eingebungen, an denen er mich nun teilnehmen liess, musikalischer Gebilde voll echtem Pathos, himmelstürmender Leidenschaft, aber auch zartester Schönheitsanbetung hätte sich kein Tondichter zu schämen brauchen. Wie in einem see­ lischen Taumel befangen, musizierte er selbstverges­ sen weiter und weiter, stundenlang, aber ursprünglich und abwechslungsreich, dass er mich nicht ermüdete, ja bis zur Ergriffenheit hinriss. Als er dann nach Mitternacht endete, war er völlig erschöpft; kaum fähig zu sprechen, drückte er mir nur kurz beide Hände und verabschiedete mich. Es war das letzte Mal, dass ich in Berlin mit ihm zusammen war; etwa zehn Jahre später traf ich ihn dann noch ein­ mal zufällig und flüchtig in München, und nicht lange darauf hörte ich von seinem vorzeitigen Tode. Die Kritik der Berliner Blätter hatte die «Minne­ königin» fast ohne Ausnahme sehr günstig bespro­ 15

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chen. Natürlich fehlte im grossen Konzert der Presse auch hämische Schmähsucht nicht ganz, sie blieb aber auf ein kleines Blatt ohne Einfluss beschränkt. Der betreffende Referent bespöttelte «die Geschmack­ losigkeit», dass ich, dessen «schlicht bürgerlichen» Namen er sehr gut kenne, mir «das adelige Pseudo­ nym Hanns von Gumppenberg» angemasst hätte. Ich musste nur herzlich lachen über den Einfall dieses Patrons, der ausgerechnet mir alberne Sucht nach Adelsprädikaten zuschrieb, und überliess seine Zu­ rechtweisung den im «Berliner Tageblatt» und an­ derswo erschienenen biographischen Notizen. Die erprobte Vereinigung der beiden Stücke ge­ langte dann rasch zur Annahme an einer Reihe von Bühnen, unter anderen auch am Lobetheater in Bres­ lau. In München war es das letzte Stück, das Keppler inszenierte, und in dem Klara Heese die Hauptrolle verkörperte. Unmittelbar nach der Première der «Minneköni­ gin» hatte ich Grube im Schauspielhause aufgesucht, um ihm nochmals für die auf mein Stück verwandte Sorgfalt zu danken. Er schien jetzt aufs lebhafteste für mich interessiert und erklärte, er müsse schleu­ nigst ein anderes, womöglich abendfüllendes Werk von mir haben. «Ich habe schon eines,» entgegnete ich. «Ach ja — das indische? Sie wissen —» «Nein, ein anderes. Es heisst «Die Hugenotten», und behandelt —» «Die Hugenotten? Nein, das geht nicht!» «Hier im protestantischen Preussen?» «Gerade darum! Wir haben da erst recht Rück­ sicht zu nehmen.» «Aber die Oper wird ja doch —» «Ja, das ist eben eine Oper! Bei einer Oper ist das eben eine andere Sache!» «Aber in meinem Stück spielt der Glaubenskampf als solcher gar keine wesentliche Rolle! Es handelt sich da um ganz andere ideelle Konflikte —» 226

«Einerlei! Ein Hugenottenstück können wir nicht geben! Das brauche ich garnicht zu lesen. Haben Sie nicht sonst etwas?» Ich verneinte, wider besseres Wissen, denn mich würgte schon wieder der Ekel über die allgemeine Misère der deutschen Bühne mit ihren tausenderlei Verboten und Bedenklichkeiten und ihrem zweierlei Mass für Oper und Schauspiel, auch musste ich mir sagen, dass Grube an allem «sonstigen», was ich hätte nennen können, gewiss gleichfalls irgend eine prin­ zipielle Unmöglichkeit entdeckt hätte. Und so schied ich nur mit dem Versprechen, mich an das Schau­ spielhaus zu wenden, sobald ich etwas Neues ge­ schrieben hätte. Das liess nun freilich eine ganze Weile auf sich warten, denn meine Bemühungen um zureichenden Erwerb, nahmen mich völlig in Anspruch. Täglich studierte ich den Anzeigenteil aller Zeitungen durch nach «offenen Stellen», aber nirgends fand ich etwas, das auch nur annähernd für mich geeignet gewesen wäre. Kaufmännisch Gebildete, Agenten, Techniker, Handwerker, Kellner und Dienstboten brauchte man massenhaft, nur keinen «Akademiker» meiner gott­ verlassenen Gattung. Schliesslich entdeckte ich das Inserat eines Kolportage-Verlags der «tüchtige Schriftsteller» für neue Lieferungsromane suchte, und beschloss in meiner Verzweiflung, mich anzubieten. Ich lief in die betreffende obskure Stadtgegend und traf in düsterem Kontor einen knasterbärtigen Mann in Kanonenstiefeln, der in Aussehen und Gehaben mehr einem Maurerpolier oder Pferdehändler als einem Verleger glich. Er empfing mich misstrauisch und mit kurz angebundener Brummigkeit, bezeichnete mir das gebotene Honorar — ganze fünfzig Mark pro Druckbogen grössten Formats — und erklärte, ich müsse ihm vorerst mehrere Kapitel eines Romans zur Probe schreiben, dann werde er ja sehen, ob das Geschäft mit mir zu machen sei; acht Tage nach Uebermittlung des Manuskripts könne ich dann wie­ 227

der vorsprechen und mir den Bescheid holen. Er händigte mir ein Heft des letzterschienenen Meister­ werks als Vorbild ein, ich versprach alles, eilte heim und schrieb in acht angestrengten Tagen vier Kapitel eines freierfundenen Schauerromans voll Mord und Intrige und spannender Geheimnisse, krampfhaft be­ müht, dabei nicht ins Parodieren zu verfallen und trotzdem das erhaltene Muster in grausigen Effekten noch zu überbieten. Das fertige Elaborat, das nun in seiner aufregenden Jahrmarktsromantik mir selbst beinahe imponierte, sandte ich eingeschrieben an meinen Pferdehändler, und fand mich pünktlich eine Woche später wieder bei ihm ein. Er empfing mich jetzt weit höflicher als das erste Mal und bot mir sogar einen Stuhl an, sodass ich schon glaubte, als Hausdichter in Gnaden aufgenommen zu sein. Aber es sollte ganz anders kommen. «Ja, sehen Sie, Herr von Gumppenberg,» sagte der Knasterbart beinahe verlegen, «was Sie geliefert haben, ist gewiss sehr spannend, sehr effektvoll, alles ist da, aber — so etwas können wir natürlich nicht gebrauchen». «Ja — wieso? wenn es spannend und effektvoll, und alles —» «Tja... Sie schreiben eben zu gut für uns!» «Zu gut??» «Viel zu gut, lieber Herr! So etwas verstehn unsere Abnehmer nicht! Sie müssen für ganz andere Verlage schreiben —» «Soo??» «Jawohl! Für uns ist das jedenfalls nichts — tut mir leid!» Damit gab er mir meine dicken vier Kapitel zu­ rück und verabschiedete mich mit einer respekt­ vollen Verbeugung. In Wut über die vergebliche Selbstverleugnung vernichtete ich meine allzu gute Moritat, immerhin lieferte mir aber diese für die Weltstellung der «besseren» Literaten so bedeutsame 228

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Episode den Stoff zu einer kleinen Galgenhumoreske, die eine Feuilleton-Correspondenz mir gerne abnahm. Also wieder neues Studium der Inseratenteile, wochenlang ohne jeden Erfolg, bis ich eine Annonce der Berliner Patentbüros H. & W. N. fand, das für seine «Verwertungsabteilung» zu sofortigem Eintritt einen «Akademisch gebildeten Herrn mit technischen Vor­ kenntnissen gegen gutes Gehalt» suchte und «ausführ­ lichen schriftlichen Bewerbungen» entgegensah. «Tech­ nische Vorkenntnisse» hatte ich nun freilich nicht, wenn ich nicht etwa das bisschen elementare Mecha­ nik dafür ansehen wollte, das mir vom Gymnasium her in dunkler Erinnerung war; aber das Uebrige stimmte ja. So dachte ich: «dem Mutigen helfen die Götter», oder etwas weltlicher in berlinerischer Ak­ klimatisation: «Frech muss der Mensch sein», und schrieb eine gar selbstbewusst klingende und wohl­ stilisierte Bewerbung, in der ich auf meine vielge­ wandten literarischen Fähigkeiten, meine Feuilletons im «Berliner Tageblatt», meine Beiträge für die «Tägliche Rundschau» und auch auf das Stück hin­ wies, das zur Zeit von mir am Königlichen Schau­ spielhaus gegeben werde; zudem behauptete ich keck, auch im Technischen bewandert zu sein, im Ver­ trauen auf die Möglichkeit, dass ich, was man in die­ sem Betracht von mir verlangen würde, ja wohl als «Intellektueller» in kurzem irgendwie mir würde an­ eignen können. Und das Unverhoffte geschah. Ich stach, wie ich später hörte, über 60 Bewerber aus, deren Mehrzahl gewiss bei weitem mehr Technik im Leibe hatte als ich. Zum Disponenten der Firma zitiert, wurde ich bald mit ihm einig, und unterschrieb ein Vertrags­ formular, demzufolge ich mich gegen ein Monats­ gehalt von ganzen Mk. 125.— verpflichtete, die Re­ klame-Anpreisungen der einzelnen neuen Patente und Gebrauchsmuster für die Verwertungsabteilung aus­ zuarbeiten, lebenslänglich auf irgend welche Tätig­ keit bei Konkurrenzfirmen zu verzichten, die Ge229

schäftsgeheimnisse von H. & W. N. als Heiligtum zu hüten, «alles, was ich selbst erfände», getreu in den Rachen meiner Nährmutter zu werfen, und wie da noch andere Klauseln mehr lauteten. Am darauf fol­ genden Morgen sass ich bereits in einem der vielen nüchtci n-kahlen Büroräumen des weitläufigen Geschältshauses an der äusseren Friedrichstrasse und mühte mich, aus mehreren ungefügen Maschinen­ beschreibungen klug zu werden, die man mir als erstes Rohmaterial auf den Tisch gelegt hatte. Die Sache erwies sich für mich technischen Laien als verzweifelt schwierig, da sie nicht nur die Beherr­ schung sämtlicher Benennungen der einzelnen Ma­ schinenteile, auch noch alle möglichen sonstigen Kenntnisse auf mechanischem, elektrotechnischem und chemischem Gebiet voraussetzte. Aber ich war entschlossen, mich um jeden Preis auf dem eroberten Platze zu behaupten: und die Not liess mich einen diplomatischen Ausweg finden. Die lange Flucht der Büroräume beherbergte eine Menge junger Ingenieure, die von den beiden ungarisch-jüdischen Geschäfts­ inhabern für ihren Betrieb eingefangen waren, und die da nun, vielfach in gesonderter Stube und die meisten als Spezialisten dieses oder jenes technischen Fachs, gegen möglichst geringe Vergütung für die Firma sinnieren, konstruieren und kritisieren muss­ ten. Ich freundete mich schnell mit der Mehrzahl dieser meiner neuartigen «Kollegen» an, ganz be­ sonders mit denen, die in separaten, der allgemeinen Beobachtung entzogenen Räumen arbeiteten: und so­ bald mir eine neue Aufgabe gestellt war, lief ich je nach dem einschlägigen Fache unauffällig von einem Ingenieur zum anderen und liess mir so viribus unitis sämtliche Rätsel lösen, wobei ich jedem einzelnen von meinen Nothelfern den Glauben liess, mir wäre auf Grund meiner reichen Eigenkenntnisse alles Uebrige vollkommen klar, nur nicht die kleine Einzelheit, um die ich ihn gerade frug. Auf diese Weise half ich mir über die Gefahren des Anfangs hinweg, meine 230

ersten Ausarbeitungen präsentierten sich. nicht bloss in zweckentsprechend wirksamer und gefälliger Stili­ sierung, sie machten auch den Eindruck, von einem durchaus versierten technischen Sachverständigen zu stammen, und so galt ich der Firma alsbald für eine sehr günstige Acquisition. Allerdings war es für mich höchst nervenaufreibend, dieses hastige Zu­ sammensuchen der Aufschlüsse, die Notwendigkeit, in wenig Augenblicken das Richtige zu erfassen, oft nur aus Andeutungen, die man gegenüber meinen ver­ meintlichen Kenntnissen für hinreichend hielt, und um deren nähere Erläuterung ich nicht ersuchen konnte, ohne mich blosszustellen; aber «es ging», und nach den schwierigsten ersten Wochen hatte ich mir schon so viele Einzelheiten gemerkt, dass ich eine selbständige Basis gewann und meine geistigen An­ leihen bei den Ingenieuren mehr und mehr ein­ schränken konnte. In hohem Grade anstrengend blieb aber die Arbeit, die ich täglich zu leisten hatte, und wäre es auch für einen perfekten Techniker ge­ wesen, denn jeder Auftrag musste schleunigst erledigt werden, man wurde mit einer kurzen Mittagspause von früh morgens bis zum späten Abend ausgenützt, dazu wirkte die dumpfe Büroluft überaus erschöpfend auf mich, sodass ich nach vollbrachtem Tagewerk im­ mer todmüde und in den ersten Monaten unfähig war, mich geistig noch irgendwie zu beschäftigen. Allein, ich war nun «in Stellung», konnte mich sogar einen «Privatbeamten» nennen, und fand in jeder Hinsicht Gnade vor den Augen des gestrengen Mitchefs Wil­ helm N., der als der lebhaftere von den Brüdern rast­ los durch die Büros lief, um zu kontrollieren, ob über­ all stramm gearbeitet wurde, und der sonst immer bemängelte und loswetterte; so durfte ich auch auf die baldige Gehaltsaufbesserung hoffen, die mir bei befriedigenden Leistungen zugesagt war. Trotzdem war mein Entschluss verwegen genug, nunmehr ohne längeien Verzug meinen eigenen Hausstand zu grün­ den: wenngleich ich in meinem Optimismus nach dem 231

Erfolg der «Minnekönigin» auch noch mit steigenden literarischen Einnahmen für die Zukunft rechnete. Als der «Drache» (eine Knittelverskomödie aus der Hanns Sachs-Zeit) in Reinschrift vorlag, erinnerte ich mich an das Grube gegebene Versprechen und reichte ihm die Komödie ein. Ich erhielt sie aber bald mit dem Bescheid zurück, sie zeichne sich zwar durch schöne Verse aus, sei aber doch «zu naiv», als dass sie für das Königliche Schauspielhaus in Betracht kommen könnte. Nun war ich mir zwar voll bewusst, dieses Stück im Charakter der volks­ tümlichen altdeutschen Naivität gehalten zu haben, es war das aber im vorliegenden Falle eine ganz selbstverständliche Stilforderung, zudem auch eine notwendige Voraussetzung der besonderen Art von Humor, der in meinem Stoffe lag. Meine Befürch­ tungen bezüglich der allgemeinen Krittelei der deutschen Theaterleitungen, den leider noch lebenden Poeten gegenüber, bestätigte sich aufs Traurigste, und ich war dermassen verstimmt, dass ich den «Dra­ chen» in meine Schublade warf, ohne an anderer Stelle einen Versuch damit zu machen. Da aber meine Schaffenslust neu erwacht war, ging ich un­ verzüglich an die Ausführung eines anderen drama­ tischen Planes, der mir schon seit Jahren durch den Sinn gegangen war. Wie alle «Urphänomene» der Menschlichkeit, hatte von jeher auch das Problem des dämonischen Reizes, den Weibesschönheit auf einen sinnenfreudig veranlagten Mann ausübt, meine Nachdenklichkeit beschäftigt. Mich interessierte aber dabei von allem Anbeginn weder der feminine Mann, der zum Sklaven des anderen Geschlechtes wird, noch auch der Don Juan-Typ, der, eigentlich nie in­ nerlich ergriffen, in einer endlosen Reihe von Liebes­ siegen nur das Hochgefühl tyrannischer Ueberlegenheit sucht. Was mir zu denken gab und mich zur Gestaltung lockte, war vielmehr die Unerreichbar­ keit, weil reale Unmöglichkeit eines weiblichen Schönheitsideals, das in seiner Einzigkeit alle andere 232

Weibesschönheit in den Schatten stellen könnte. Oder noch allgemeiner gefasst: die Gipfellosigkeit der sinn­ lichen Erscheinungswelt, die niemals endgültig, stets nur für den Augenblick zu befriedigen vermag, so sehr auch ihre ewig wechselnden Reize dem mensch­ lichen Verlangen immer wieder ein Höchstes und Letztes vortäuschen mögen. Einen ebenso schön­ heitsdurstigen wie anspruchsvollen Mann wollte ich auf dieser aussichtslosen Jagd nach der höchsten und unüberbietbaren sinnlichen Beglückung zeigen, ge­ narrt vom wandelreichen Schleierspiele der Maya, die ihn von Erscheinung zu Erscheinung weiterhetzt und schliesslich noch der Phantasie des Geblendeten und Sterbenden vorgaukelt, er habe just in dem sinn­ lich reizlosesten Weibe jene Allerschönste gewonnen, während ihn in Wahrheit nur die Güte und Treue dieser Armseligen an ein Ziel ganz anderer Art ge­ langen liess: ein Ziel erreichbar für jeden in der seelischen Sphäre. Da der ideelle Nachdruck hier garnicht auf den Schwierigkeiten lag, in den Besitz dieser oder jener Frau zu gelangen, sondern nur auf der Wirkung solchen Besitzes, war der Held des Vor­ ganges in Lebensverhältnisse zu stellen, die ihm mög­ lichst schranken- und mühelos Freiheit gewährten; so ergab sich von selbst ein Herrscher des polygamen Orients: und das Studium der türkischen Geschichte lieferte mir in dem jungen Sultan Ibrahim, der im Beginn des 17. Jahrhunderts bei einer Palast­ revolution umkam, den Mann, den ich brauchte. Natürlich musste ich den hysterischen Lüstling für meinen Zweck bedeutend idealisieren, was umso leich­ ter möglich war, als von seiner Zügellosigkeit nur wenig Aeusserliches überliefert ist. Zudem bot mir die Janitscharenverschwörung, der vernachlässigte Krieg mit Venedig und anderes Geschichtliches die Möglichkeit eines kräftigen und realistischen Gegen­ gewichts gegen das Rein-erotisch-Beschauliche und Phantastische des Hauptvorgangs, während doch anderenteils die zeitliche Entlegenheit ermöglichte, 233

das romantische Licht von «Tausend und eine Nacht» über die Handlung auszugiessen. Auch dieses abend­ füllende Versstück, das den Titel «Die Einzige» er­ hielt, schrieb ich in einem Zuge und bezeichnete es als «Tragikomödie», nicht weil ich von seinen leiden­ schaftlichen und zuletzt düsteren Vorgängen eigent­ lich erheiternde Nebenwirkung erwartete, sondern wegen des starken Gehalts an tragischer Ironie. Neu­ gierig. was Grube nun zu einer von der «Drachen­ Komödie» so völlig verschiedenen sagen würde, legte ich ihm wieder das Manuskript vor. Allein, er war auch diesmal um Bedenken nicht verlegen und erklärte die «Atmosphäre» des Stückes für so «sinn­ lich schwül», dass er es den höheren Töchtern des Schauspielhauspublikums «nicht zumuten» könne. Ob er einzelne Momente der nirgends anstössigen Hand­ lung ins Derbere missverstanden hatte oder nur von seiner allgemeinen Ueberängstlichkeit geleitet war, weiss ich bis heute nicht; aber selbst wenn ich in dieser Dichtung mehr unverhüllte Erotik gewagt hätte, als ich tatsächlich für nötig fand: wann war ein Stück im Kern wie im Verlauf weniger frivol als gerade dieses? Und welche Jämmerlichkeit, die Ent­ scheidungen eines öffentlichen Kunstinstitutes solchen Ranges von der Rücksicht auf Backfische abhängig zu machen! Uebrigens erklärte Grube, das Stück ver­ diene jedenfalls ernstliche Beachtung, und er habe es mit diesem Vermerk, wenn auch unter Erwähnung seiner Befürchtungen, «weitergegeben». Dass «dieses Weitergeben» bei der beherrschenden Stellung Grubes nur eine belanglose Formalität und Pillenverzuckerung bedeutete, sagte ich mir sogleich: und wenige Tage später erhielt ich dann auch das Manuskript mit einem kurzen offiziellen Bescheid zurück, der ledig­ lich die persönlichen Bemerkungen Grube’s unpersön­ lich wiederholte. Vom Königlichen Schauspielhause hatte ich nun­ mehr auf lange Zeit genug: und so entschloss ich mich jetzt, bei Otto Brahm s «Deutschen Theater», 234

das sich damals ausschliesslich der «Jüngstdeutschen» Bühnendichtung, vor allem der Verherrlichung Ger­ hart Hauptmanns gewidmet hatte, einen Vorstoss zu machen. Ich wählte dafür «Alles und Nichts», das mir nach wie vor als meine gewichtigste Leistung galt, und vertraute dieses Manuskript Brahms dama­ ligem Dramaturgen Dr. Ehrlich an, der mir gleich beim ersten Besuche intelligent und künstlerisch ge­ wissenhaft erschien. Als ich mir nach einiger Zeit den Bescheid holte, erklärte er mir, einen dichterisch bedeutenden Eindruck erhalten und das Stück sofort Brahm aufs Wärmste empfohlen zu haben; dieser habe auch lebhaftes Interesse dafür gewonnen, doch sei es nach Brahm’s Meinung in der gegnwärtigen Form viel zu umfangreich, und ich müsste es auf höchstens zwei Drittel der Ausdehnung kürzen, wenn es Aussicht auf Verwirklichung haben sollte. Als ich Ehrlich frug, wie er oder Brahm sich die fraglichen Striche etwa dächten, erwiderte er mir, das sei nun freilich eine sehr schwierige Sache; er habe bereits selbst das Stück darauf durchgesehen und keine eigentlichen Längen oder Ueberflüssigkeiten entdeckt, Schuld an der Ausdehnung trage eigentlich nur die Fülle des Geschehens, so dass er mir keine be­ stimmten Vorschläge zu machen wisse. Trotzdem müsse die Zurückführung aufs Mass eines «normalen» Theaterabends versucht werden, und diesen Versuch könnte nur ich selber machen, da ich allein wüsste, was ich noch am ehesten opfern wolle. Ich solle mich also der harten Arbeit unterziehen, und ihm dann das gekürzte Stück wieder zustellen. So dankte ich denn Ehrlich für seine wohlwollende Teilnahme und machte mich mit aller Selbstverleugnung ans Amputieren. Dass sich die Handlung selbst nicht ver­ stümmeln liesse, ohne dass ihr ganzer Bau und Sinn zusammenbrach, wurde mir bald klar, und so blieb keine andere Möglichkeit, als das preiszugeben, was in der dichterischen Ausgestaltung und Formengebung nicht unbedingt zum Verständnis nötig erschien. All 235

diesen dichterischen Schmuck strich ich unbarmherzig fort, mein heftiges inneres Widerstreben durch den Gedanken niederzwingend, dass mehr als eine Pflicht mir geböte, auch die schmerzlichsten Zugeständnisse zu machen, um wenigstens das Wesentlichste ver­ wirklichen zu können und die praktische Gelegenheit nicht zu versäumen. Als ich mit der grossen Schläch­ terei fertig war, reichte ich das Stück wieder ein. Aber alle Mühe und Selbstüberwindung waren ver­ geblich gewesen. Bald darauf erhielt ich das Manu­ skript endgültig von Ehrlich zurückgesandt, mit einem Schreiben voll sichtlich aufrichtigem Bedauern. Er teilte mir mit, dass meine Kürzungsversuche Brahm und ihn selber nur leider überzeugt hätten, dass tatsächlich keine zureichenden Striche ohne empfind­ liche Schädigung der Gesamtwirkung möglich wären: und da es sich nun einmal verbiete, ein Stück von so ungewöhnlichem Ausmass zu geben, so liesse sich in der Angelegenheit nichts machen. Dem ersteren Argument gab mein eigenes Gefühl recht; das zweite aber erschien mir sehr fragwürdig. Auf mancher zeit­ genössischen Schauspielbühne gab man dieses oder jenes Drama, das den «normalen Theaterabend» weit überschritt: den ungestrichenen «Don Carlos», den gesamten «Wallenstein» in einem Zuge, den unver­ kürzten «Faust», Wilbrandts «Meister von Palmyra», der von 6 Uhr bis Mitternacht spielte, und anderes «Uebermässige» mehr, ganz abgesehen von den Zu­ geständnissen, die man den Wagnerischen Musik­ dramen oder dem Oberammergauer Passionsspiel ge­ macht hatte; warum war nun mit einem Male für das Werk eines jungen Dichters «unmöglich», was sich in jenen Fällen als ausführbar erwiesen hatte? Allenthalben erscholl die Klage über geistigen Nieder­ gang der deutschen Bühnendichtung, die nichts mehr hervorbrachte, was sich zu der Höhe eines Welt­ bildes grossen Stiles erhob: kam dann aber einer mit einem Werk solcher Art, das eben naturgemäss andere Dimensionen forderte, als ein simples Familienstück, 236

dann schrie man Zeter und Mordio und wies das Monstrum ab! Bald nachher kam ich zu den beiden Hart nach Friedrichshagen, um eine Zeit, da sie von den be­ triebsamen Literaten des Tages weniger überlaufen waren; ich hatte daher Gelegenheit, etwas näher mit ihnen bekannt zu werden und mich auszusprechen. Dabei erwähnte ich auch «Alles und Nichts», und die Brüder sprachen den Wunsch aus, das Stück kennen zu lernen. Wir verabredeten einen der nächsten Nachmittage, fanden uns in der Wohnung des jün­ geren Bruders zusammen, und ich las ihnen das ganze Gedicht von A bis Z vor. Es war für ihre und meine Spannkraft keine geringe Aufgabe, aber die beiden zeigten sich im höchsten Masse gefesselt, und als ich tief in der Nacht geendet hatte, waren sie von dem Gehörten so begeistert, dass sie mir stürmisch das Du anboten und erklärten, ihr Verleger, Heinrich Bonge in Grossenhain, müsse das Stück unverzüglich auf seine Kosten drucken. Sofort setzte sich auch Heinrich Hart an den Schreibtisch, warf entsprechend energische Zeilen auf ein Briefblatt, kouvertierte und frankierte, und fünf Minuten später lag der Druck­ befehl bereits im Postkasten. Der Mann in Sachsen gehorchte auch; wenige Tage darauf traf seine Bereit­ erklärung ein; ich machte den Kontrakt, sandte ihm das Manuskript, und nach ein paar Wochen hatte ich die Autorenexemplare des fertigen Buches in Händen, in dem vorsichtigerweise auch die denkbaren Striche angedeutet waren. Von den jungen Bühnenkünstlern, mit denen ich mich in München angefreundet hatte, tauchte jetzt Karl Rössler in Berlin auf. Unter seinem Schau­ spielernamen Franz Ressner hatte er hier Engage­ ment gefunden, ohne bei der beschaulichen Lässigkeit, die er noch immer zeigte, erheblich vorwärts zu kommen; man gab ihm nur kleinere Nebenrollen, die er dann gleichmütig und ohne Ehrgeiz erledigte. Wir 237

trafen uns zunächst nur selten, erneuerten aber dabei die alte vertrauliche Beziehung. Um dieselbe Zeit hatte sich auch Bierbaum mit seiner Gusti in Berlin niedergelassen. Das «Schwabemädla» war ein kleines, mehr drall als zierlich gebautes Geschöpf mit grossen, lachenden, doch auch ein wenig verschmitzt drein­ sehenden Braunaugen und dunklem Lockenkopfe. Bierbaum war damals besonders fröhlich gestimmt, begrüsste mich kameradschaftlich, und wir verkehrten viel miteinander. Der Zufall liess mich ein Mitglied der Berliner «Philosophischen Gesellschaft» kennen lernen, einen Privatgelehrten von bescheidener Bedeutung, dessen Name mir entfallen ist; er las meine «Kritik des Wirklich-Seienden», fand einiges Interesse daran und führte mich dann in jene Gesellschaft ein, die vor­ wiegend aus Hegelianern vorgerückten Alters bestand, und deren Zusammenkünften der greise, 93-jährige Michelet noch immer, mit Lichtschirm und Hörrohr, präsidierte. Ich nahm als still Aufnehmender an mehreren solchen Sitzungen teil, trug aber keinen wesentlichen Gewinn davon. Ich hatte in dem Kreise auch den Rechtsphilosophen Adolf Lasson kennen gelernt, und da der stattliche, frische, liebenswürdige Sechziger gleichfalls in Friedenau wohnte, ergab sich mir noch einiger Verkehr mit ihm. Ich fand im Gespräch mit ihm kluge und wohlwollende Teilnahme für meine eigenen philosophischen Ideen und bei seinen allgemeineren literarischen Interessen, auch für meine dichterische Tätigkeit. In Friedenau war damals auch der junge, unter dem Namen «Fidus» bekannte Maler und Zeichner Höppner ansässig geworden. Der Schüler und Jünger des früher erwähnten Münchener Naturapostels und Malers Dicffenbach. Er hatte sich von seinem allzu tyrannischen Meister getrennt, um in Berlin allein seinen eigenen Zielen nachzustreben und obschon er in der «naturgemässen» Tracht, wie auch in seiner 238

künstlerischen Manier noch allerlei Dieffenbachisches zeigte, war sein Wesen doch freier, reicher und sym­ pathischer, auch interessierte mich sein Bemühen, Elementar-Menschliches und Geistiges in symbolischen Zeichnungen zu versinnlichen und so suchte ich ihn, nachdem ein Zufall uns zusammengeführt, des ölteren in seiner Werkstätte auf. Dadurch wurde ich zu­ gleich mit dem ihm befreundeten Ilarzländer Lyriker Franz Evers bekannt, einer mystisch-theosophischen Schwärmernatur, deren «esoterische» Verzückungen mir nur als ein Sichberauschen an grossen Worten erschien. Ein Kreis von Schriftstellern, Journalisten und Schöngeistern veranstaltete um jene Zeit in Friedenau einen literarischen Unterhaltungsabend, wofür ich auf Ersuchen meinen Philosophenscherz vom «Spitzhütlin» zur Verfügung stellte. Die Rezitation über­ nahm ein Friedenauer Annoncenacquisiteur, ein frü­ herer Arzt und vielseitig gebildeter Mann, der sich als vorurteilsfreier Praktikus ins einträglichere Ge­ schäftsleben geworfen hatte und damit reich geworden war. Der Abend erfreute sich grossen Zuspruchs, auch von Berlin waren allerlei Journalisten neugierig her­ ausgekommen, und da meine Groteskskizze, von dem witzigen und gewandten Acquisiteur trefflich vorge­ tragen, von zündender Wirkung war und aufs leb­ hafteste belacht und beklatscht wurde, bestürmte mich sofort ein ganzer Schwarm von anwesenden Berliner Zeitungsvertretern, wetteifernd und in glän­ zenden Versprechungen einander überbietend, das Manuskript ihrer Zeitung zum ersten Abdruck zu überlassen. Da ich von allen nur einen, den Redakteur Ferdinand Runkel vom «Berliner Tageblatt» kannte, und gerade sein Blatt sich mir ja so wohlwollend erwiesen hatte, sprach ich die Skizze schliesslich ihm zu; er gelobte, für ein ungewöhnlich gutes Honorar Sorge zu tragen, und zog triumphierend mit dem eroberten Schatze ab. Das «Spitzhütlin» erschien denn 239

auch sehr bald im Feuilleton von «Artur Levysons Papier», wie Henckell gesagt hätte. Was erhielt ich aber als «ungewöhnlich gutes» Honorar? Zehn Mark — sage und schreibe: ganze zehn Reichsmark! Als ich in meiner Verblüfftheit über diese Kraftleistung mich auf der Redaktion erkundigte, erfuhr ich, dass Runkel mir tatsächlich ein weit grösseres Honorar ausgesetzt, dass aber der sparsame Herr M ..., dem die Honorar­ liste regelmässig vorgelegt werden musste, den betref­ fenden Abstrich gemacht hatte. Durch Bierbaum lernte ich nunmehr auch Richard Dehmel und den deutsch akklimatisierten polnischen Dichter Stanislaw Przybyszewski kennen. Zu beiden konnte ich kein näheres Verhältnis künstlerischen oder geistigen Austausches gewinnen, wie übrigens auch meine literarische Beziehung zu Bierbaum nach wie vor insofern sehr einseitig blieb, als wohl ich mich für seine Produktion interessierte, er sich aber nicht für die meine. Dehmels unstet flackernde Lei­ denschaftlichkeit erschien mir mehr gewaltsam als natürlich, sein mysteriöses Wichtigtun mehr auto­ suggestiv als tiefsinnig, auch störte mich die persön­ liche Rücksichtslosigkeit, mit der sich sein unmäs­ siges Selbstgefühl geltend machte. Kaum dass ich ihm vorgestellt war, packte er mich bei den Schul­ tern, starrte mir ins Gesicht und rief: «Mensch — wie kommen Sie mit Ihrem bayerischen Bauern­ schädel zu diesen Augen?» Einmal, als wir abends mit Bierbaum und Przybyszewsky in einer kleinen Bier­ wirtschaft zusammen sassen, schrie er urplötzlich: «Kinder — heute bin ich in Laune! heut’ muss ich Euch etwas vortanzen!» Damit war er auch schon aufgesprungen, und begann in fanatisch - ernsthafte­ ster Hingabe und mit eben so heftigem als selbstgefäl­ ligem Gebärdenspiel einen dithyrambischen Solotanz, der zwar seiner körperlichen Geschmeidigkeit das beste Zeugnis ausstellte, aber als spontanes Sichzurschaustellen an solchem Orte befremdlich genug wirkte. 240

Przybyszewski, gleichfalls eine exzentrische und aufgeregte Natur, verhielt sich im Umgang nicht so gewalttätig, ja seine Begeisterungsfähigkeit und gutmütige Liebenswürdigkeit berührte da nur ange­ nehm; allein die geistige Atmosphäre, in der er lebte, sinnierte und seine phantastischen «Vigilien» dichtete, war zu fremdartig und absonderlich, als dass ich etwas damit hätte anfangen können. Zudem war er extremer Alkoholiker, und ich hatte den unheim­ lichen Eindruck, dass seine menschlichen und künst­ lerischen Eigentümlichkeiten weniger in einer ganz besonderen Veranlagung als in den ganz besonders starken Spirituosen begründet waren, die seine Ner­ ven in ständiger Ueberreiztheit hielten. Uebrigens liebte auch Dehmel damals schwerste Alkoholika, nur dass er sie weit besser vertrug als der Pole. Es ging die Sage, dass beide sich einmal eine Bowle aus purem Spiritus und Zucker gebraut und zusammen geleert hätten: ein Vergnügen, um das ich sie bei all meiner eigenen Trinkfröhlichkeit nicht beneidete. Dehmel pflegte im engeren Kreise seiner Freunde und Bekannten Dichtungen anderer Jüngstdeutschen vorzulesen und man rühmte seine rezitatorischen Fähigkeiten. Einer Augenblicksidee nachgebend, frug ich ihn, ob er nicht auch einmal ein Stück von mir in dieser Weise zu Gehör bringen wolle. Er zeigte sich im Prinzip nicht abgeneigt, wünschte aber vor einer Zusage das betreffende Opus kennen zu lernen, was um so begreiflicher war, als er noch keine Zeile von mir gelesen hatte. Ich wählte die «Einzige», sandte Dehmel das Manuskript und war beinahe überrascht, als ich ein paar Tage später von ihm die briefliche Mitteilung erhielt, er wolle das Stück vor­ lesen, und zwar in der Wohnung Przybyszewskis nahe der Weidendammer Brücke am nächsten Sonntag­ nachmittage; Bierbaum, Peter Hille und die beiden Hart seien bereits dazu eingeladen. «Aber,» so schloss der Brief, «bringen Sie zwei grosse Flaschen Rum 16

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mit, denn ohne Toddy geht’s nicht.» Die zwei Fla­ schen Rum bedeuteten einen gelinden Schreck für mich: einmal, weil sie das ganze Taschengeld ver­ schlangen, das ich mir damals zubilligen durfte, dann auch, weil ich nichts weniger als ein Sachverstän­ diger in Spirituosen war. Aber was blieb übrig? Ich konnte jetzt nicht alles an dem Toddy scheitern lassen. So erstand ich denn zwei imposante Bouteillen von einer anständigen Mittelsorte und wanderte da­ mit an dem bezeichneten Nachmittag zu Przybyszewski. Alle Geladenen waren gekommen mit Aus­ nahme Bierbaums. Unbekannt war mir bisher der seltsame, in sich versponnene Vagant und Natur­ schwärmer Peter Hille gewesen, der in seinem «härenen Gewand» und Eremitenbart erschien, doch mit dem wenigen, was er verlauten liess, Ursprüng­ lichkeit und Feinsinn verriet. Der Rum wurde schnell in einen Grog von unerhörter Stärke verwandelt, jedem ein Halbliterglas davon vorgesetzt, und Dehmel begann. Er las verständig und eindrucksvoll, wenn auch nicht mit so viel Kraft und Feuer, als ich gerade von ihm gehofft hatte, und ohne rechte Füh­ lung mit dem dämonisch-metaphysischen Untergrund des Vorganges. Immerhin hätte seine Leistung wenig­ stens von allem menschlich Unmittelbaren meiner Dichtung ein klares und zureichendes Bild geben können, wäre nicht der Toddy gewesen, dem nament­ lich die beiden sonst so mässigen Hart, an denen mir vor allem lag, viel zu arglos zusprachen, und der sie dann schnellstens in einen Zustand jenseits aller Fähigkeit künstlerischen Aufnehmens und Urteilens versetzte. Heinrich Hart musste alsbald aus dem Zim­ mer flüchten, Julius begann sinnlos zu lachen und verworren zu stammeln, Przybyszewski geriet in ein verzücktes Gezappel, das aber mit den Erlebnissen des Sultans Ibrahim garnichts mehr zu schaffen hatte, Hille wurde stier und stille, kurzum, der tückische und, ach, so teuer gekaufte Toddy brachte mich um 242

alle Früchte dieser intimen Würdigung. Nur Dehmel blieb normal und selbstbeherrscht, obschon er minde­ stens ebenso viel trank wie die anderen; unentwegt las er das Stück zu Ende und war dann sogar noch in der Lage, mir in väterlichem Tone zu bemerken, dass ich zweifellos in einigen Jahren bei gereifter Einsicht noch dieses und jenes an der Sache ändern werde: eine Prophezeiung, die freilich nicht einge­ troffen ist. Der Abschied war, entsprechend dem Zu­ stand der Hörer, höchst unerfreulich, man torkelte wüst auseinander, und mir blieb von dem Ganzen nur ein Brummkopf und ein geleerter Geldbeutel. Hanstein, der die «Einzige» gleichfalls kennen lernte, zählte das Stück zu meinen besten Gestal­ tungen und meinte unter anderm, der erste Akt erin­ nere ihn an Molière. Er teilte mir damals auch die Absicht des in Berlin neu gegründeten «Verlags für deutsches Schrifttum» mit, eine Serie moderner Ro­ mane herauszugeben; zur Beteiligung eingeladcn, hatte er seinerseits zugesagt und einen Roman «Die Aktien des Glücks» zu schreiben begonnen. Da der Verlag noch mehrere junge Autoren für die Sammlung suchte, riet Hanstein mir, unter Berufung auf ihn mich gleichfalls anzubieten, falls mir ein geeigneter Gegenstand nahe läge. Er sagte mir auch, dass der Verlag jeden der in Aussicht genommenen zwölf Ro­ mane mit zweitausend Mark honoriere. Diese An­ regung und günstige Gelegenheit war mir um so will­ kommener, als ich mich ohnehin schon mit dem Gedanken getragen hatte, meine spiritistischen Mün­ chener Erlebnisse in irgend einer freieren erzählen­ den Form zu gestalten; ich wandte mich daher unver­ züglich an den Verlag und wurde gerade noch als letzter, zwölfter Autor zur Mitwirkung angenommen. Sofort machte ich mich an die Arbeit und begann in meinen Abend- und Nachtstunden den Roman «Der fünfte Prophet» zu schreiben. Dem Helden gab ich viele Züge von mir, zum Teil in schonungsloser Selbst­ verspottung, wenn ich auch sein Erleben grotesker 243

und zuletzt tragischer auf die Spitze trieb und, in wesentlichem Unterschied zu der rätselvollen Ungeklärtheit meiner eigenen Erfahrungen, den möglichen Sonderfall annahm, dass die entscheidenden mediumistischen Mitteilungen sich durch Autosuggestion und Gedankenübertragung lediglich aus den persönlichen Wünschen und Träumen des «Propheten» ergeben. Nebenher verwertete ich auch allerlei Einzelheiten des älteren wie auch des modern-revolutionären Mün­ chener Literaturgetriebes und setzte aus diesen und jenen Zügen von Bekannten scharf umrissene Zeit­ typen zusammen, wie sie der Gesamtentwicklung des Vorganges am besten dienen mochten. Naturalistische Einzelportraitierungen lagen aber durchaus nicht in meiner Absicht, sodass ich dann ehrlich überrascht war, als Bierbaum und andere meiner Münchener Kameraden dergleichen zu erkennen glaubten und sich darüber verstimmt zeigten; hätte ich die eine oder andere Persönlichkeit als solche kopieren wollen, so wäre das ganz anders ausgefallen, hätte aber den satirischen Zwecken meines Bomans nicht dienen können. Nach der Vereinbarung mit dem Verlage hatte ich das Manuskript kapitelweise abzuliefern; das Ho­ norar sollte ich allmählich in zehn Monatsraten be­ ziehen. Eine Weile ging alles gut, die Arbeit schritt munter fort; in verhältnismässig kurzer Zeit war sie vollendet und gedruckt und die monatliche Rate er­ möglichte eine etwas bessere Lebensführung. Mittlerweile hatte sich aber mein Ekel vor der eben so öden als aufreibenden Fronarbeit bei N. bis zum Gefühl der Unerträglichkeit gesteigert. Wie schon erwähnt, hatte man mir bei entsprechenden Leistungen baldige Erhöhung meines lächerlich geringen Gehalts zugesagt; auf meine Mahnungen erhielt ich aber nur immer wieder Vertröstungen auf eine Zeit «besseren Geschäftsganges», wiewohl die Firma nach meinen Beobachtungen gar nicht üppiger hätte florieren kön­ nen. Dazu kam noch eine Episode, die mir in anderem 244

Betracht auf die Nerven ging. Im Hause N. wurde irgend eine Hochzeit gefeiert, der jüngere Chef wollte sich dabei mit einem längern schwungvollen Trinkspruch in Versen hervortun, und da er sich die Reimerei nicht zutraute oder sich nicht selbst damit plagen wollte, wandte er sich leichthin an mich und übertrug mir unter Einhändigung der nötigen Daten die Verfertigung wie eine ganz mir obliegende Büro­ arbeit, weil das «etwas für mich wäre». So sehr mich diese Bemerkung und die ganze Inanspruchnahme als «Hausdichter» innerlichst empörte, verschluckte ich im Augenblicksbewusstsein meiner Abhängigkeit die Er­ widerung, die mir schon über die Lippen wollte, und stellte, wenn auch nur mit einem Drittel meines Gei­ stes das Hochzeitscarmen her; um so schärfer empfand ich aber nachträglich die erduldete Entwürdigung und um so unleidlicher die hartnäckige Knauserei in der Gehaltsfrage. Auch hatte das Gelingen des Roman­ unternehmens mein Selbstgefühl ebenso gestärkt wie der Erfolg der «Minnekönigin» und mir die Hoffnung wiedergegeben, mich vielleicht doch als freier Schrift­ steller durchschlagen zu können wenn ich mich eine Zeitlang von der Sklaverei einer Brotarbeit um jeden Preis zu befreien vermöchte. Wess das Herz voll ist, des geht der Mund über, und so erfuhr Bierbaum, den ich gerade damals öfter traf, von meinem Mar­ tyrium. Seine eigene Freiheitsliebe liess ihn meine Seelennot lebhaft mitempfinden, er bestärkte mich in der Meinung, dass es eine unabweisbare Pflicht gegen mich selber wäre, dem unwürdigen Zustand ein Ende zu machen, so gut oder schlecht es gehen wollte; zugleich bot er mir kameradschaftlich an, mir von einem seiner Bekannten ein Darlehen zu verschaffen, das mich eine Weile über Wasser halten könnte; es müsste doch, meinte er, mit dem Teufel zugehen, wenn ich mir dann nicht in ein paar Monaten eine ange­ messenere und einträglichere Stellung sollte erobern können. Nun war ich vom Borgen nie ein Freund ge­ wesen und bei der Unsicherheit meiner Zukunft fiel 245

es mir doppelt schwer, mich mit einer Schuld zu belasten, von der ich nicht wusste, wann ich sie würde abtragen können. Die nun unmittelbar bevorstehende Entbindung meiner Frau liessen mir einen übereilten Entschluss noch unverantwortlicher erscheinen. Ich erwiderte daher Bierbaum, dass ich bei der Firma nochmals einen energischen Versuch machen wolle, die Gehaltserhöhung durchzusetzen; bliebe auch dieser letzte Versuch erfolglos, so nähme ich seine Vermitt­ lung dankbar an. Anderen Tags ging ich zu dem jüngeren Chef und erklärte kurz und bündig, ich sei nicht in der Lage, gegen die bisherige Vergütung Weiterarbeiten zu können; wenn mir nicht schon für den nächsten Monat die versprochene Aufbesserung zugebilligt würde, sei ich genötigt, meine Tätigkeit niederzulegen. Dass die Firma mich als Arbeitskraft schätzte und mich nicht gerne ziehen liess, merkte ich auch jetzt deutlich; der Chef sagte mir allerlei Schmei­ chelhaftes und suchte mich unter abermaliger Ver­ tröstung zu halten. Ich blieb aber fest. Und so endete die Unterredung mit der Lösung meines Dienstver­ hältnisses. Uebrigens vollzog sich dann der Abschied in äusserer Höflichkeit. Bierbaum, den ich von dem «Scheitern des Ver­ söhnungsversuches» benachrichtigt hatte, setzte sein Anerbieten unverzüglich in die Tat um und teilte mir schon wenige Tage darauf mit, sein Freund Meier­ Gräfe, der bekannte Kunsthistoriker, den ich schon kurz vorher flüchtig kennen gelernt, sei bereit, mir 1500 Mark anzuvertrauen; wenn ich wolle, könne ich den Betrag sofort von ihm erhalten. Ich dankte Bier­ baum für seinen Freundschaftsdienst, ging zu Meier­ Gräfe, der mir mit weltmännischer Freundlichkeit ent­ gegenkam, und empfing von ihm die erwähnte Summe gegen mündliche Zusicherung der Rückerstattung, sobald es mir in den Folgejahren möglich wäre. Dass er ausdrücklich betonte, sein Geld auch wirklich ein­ mal wiedersehen zu wollen, war um so begreiflicher, als er mich nicht näher kannte und schon wiederholt 246

Literaten des Bierbaum’schen Freundeskreises in der­ selben Weise grössere Summen zur Verfügung gestellt hatte, ohne sie zurückzuerhalten. (Ich war froh, nach etwa zwei Jahren diese Schuld tilgen zu können.) Natürlich setzte ich nun alle Hebel in Bewegung, schnellstens eine würdigere andere Stellung zu finden. Leider zunächst erfolglos. Dagegen traf mich jetzt noch eine ganz unerwartete Einbusse. Der Verlag für «Deutsches Schrifttum» verkrachte, als ich erst die Hälfte meiner Monatsraten erhalten hatte, und ich musste den Rest des Honorars verloren geben, wäh­ rend alle übrigen Beteiligten ihr Schäflein im Trokkenen hatten. Um so schwerer lastete die Sorge auf mir, wenn wir auch für die nächsten Monate von der geliehenen Summe zehren konnten und ich begann schliesslich wieder mechanisch die Inserate zu stu­ dieren ... (Am 27. März 1895 starb Gumppenbergs erste Gattin nach einjähriger Ehe bei der Geburt eines Mädchens. Seine Mutter nahm sich des Kindes an. Das kaum ge­ gründete Friedenauer Heim musste abgebrochen werden. Anmerkung des Herausgebers.)

Im Spätsommer, nach Monaten dumpfen Hin­ brütens, fühlte ich endlich, dass es mit mir nicht so weiter gehen könnte. Ich sagte mir, dass ich mich in meinen jungen Jahren nicht verloren geben dürfe, dass ich noch Pflichten zu erfüllen habe, und dass es für mich nur ein einziges Heilmittel gab: Abbrechen aller Gedankenbrücken zur Vergangenheit, vorsätzliches, gewaltsames Vergessen. In diesem Sinne suchte ich auch Zerstreuungen auf, wo immer ich sie finden mochte, verkehrte fast nur mit Fernerstehenden und trachtete vor allem nach völlig neuen Bekanntschaften. Dies Bestreben führte mich auch einmal, ich weiss nicht mehr wie, in eine nachmittägige Teegesellschaft kleinbürgerlicher, vorwiegend junger Leute. Man schwatzte da lebhaft und vielerlei, und dabei kam man wieder einmal auf den Spiritismus. Die an­ wesenden Mädchen zeigten sich sehr neugierig. Man trug schliesslich auch mich, was ich von der Sache 247

hielte, und als ich meine Vorkenntnisse andeutete, liess man mir keine Ruhe, bis ich alle auf ihre mediumistische Veranlagung prüfte. Unter ihnen befand sich, neben belanglosen Gänschen, auch ein Fräulein D ..., das mit ihrer lebhaften alten Mutter gekommen war. Eine beseelte Stimme, eine natürliche Offenherzigkeit und eine ungewöhnliche geistige Regsamkeit gaben ihr so viel Anziehendes, dass sie sich vorteilhaft von den übrigen Teegenossinnen unterschied. Sie erwies sich bei der mediumistischen Probe in so auffallendem Grade veranlagt, dass ich, der die Angelegenheit erst ohne persönliche Teilnahme, wie ein blosses Gesellschaftsspiel behandelt hatte, wirkliches Interesse gewann und die Meinung ausprach, dass sich bei ihr im Falle weiterer Versuche wohl noch bemerkens­ wertere Ergebnisse einstellen könnten. Bisher ohne Kenntnis der fraglichen Erscheinungen, zeigte sie auch selber grosse Lust, die Sache ernsthafter zu verfolgen, ihre gleichfalls wissbegierige Mutter stimmte bei und die beiden baten mich, nächster Tage in ihre Wohnung zu kommen, um als vertrauenswürdiger Sachver­ ständiger die Experimente zu leiten, was ich auch versprach. Meine Erwartungen bezüglich der kräf­ tigen mediumistischen Veranlagung D... .’s hatten mich nicht getäuscht; bei den Versuchen, die sie nun unter meiner Anleitung in rascher Folge machte, traten ungewöhnlich starke Manifestationen ein, und zwar, neben geklopften Mitteilungen von «Schutz­ geistern» und angeblichen verstorbenen Verwandten, namentlich physikalische Erscheinungen, wie ich sie früher noch nicht miterlebt hatte. So entstanden ein­ mal, während das Medium ruhig am «Geister­ tischchen» sass, drei scharfe Klopfschläge in der Zimmerwand, und, als ich aufstand und mich über­ zeugte, dass die Entstehung der Schallwellen wirklich an einer ganz bestimmten Gangstelle zu lokalisieren war, rückte das Klopfen deutlich an der Wand gegen die Ausgangstüre zu. Ich folgte mit ständiger Kon­ trolle, während das Medium an seinem Platz ver­ 248

harrte, und wurde so durch den Korridor nach der Küche geführt, wo das Klopfen auf die Herdplatte übersprang und die rätselhafte Kraft plötzlich wie mit wuchtigen Fausthieben dreimal in die Herdringe schlug, sodass diese vor meinen Augen hochsprangen. Dass wir Hörer — die Mutter, die Tochter und ich — uns nicht etwa im Banne einer Suggestion befanden, erwies sich bald, denn der Lärm der Schläge wurde im ganzen Hause vernommen, und aus anderen Stock­ werken kamen Leute, um sich nach der Ursache des beunruhigenden Getöses zu erkundigen, worauf wir sie mit einem Vorwand abfertigten, und die Sitzung auf­ geben mussten, um der Familie Unannehmlichkeiten zu ersparen. Auch den Ansatz zu einer «Materialisa­ tion» erlebte ich damals. Bei hellem Tageslicht legte ich ein mit Russ geschwärztes Blatt Papier auf einen Tisch, der mehrere Meter von dem Medium und mir entfernt stand, kehrte dann auf meinen Beobachter­ sitz zurück und ersuchte die «Geister» um einen Hand­ abdruck, wobei ich das Blatt, wie auch das regungs­ los bei mir sitzende Medium unablässig im Auge be­ hielt. Nach einer Weile tönte von dem Blatt her ein leises Geraschel und bald darauf bedeuteten uns die «Geister» durch Tischklopfen, dass sie ihr Möglichstes getan hätten. Ich stand auf, sah nach und fand zu meinem Staunen auf der berusten Blattfläche den Abdruck einer Männerhand, die erheblich grösser war, als die meine. Es ist hier nicht der Ort, alle diese seltsamen Phänomene zu diskutieren; erwähnt sei nur, dass ich damals mehr dazu neigte, ihren Urheber in einer unbewussten Willens- und Phantasiebetätigung des Mediums zu suchen, die sich einer über dessen Körpergrenzen hinaus wirkenden, noch unerforschten Stoffkraft bedient. Jedenfalls konnte ich mit den Er­ gebnissen unserer Experimente vollauf zufrieden sein, und D... wie auch ihre Mutter, welche die auf­ tretenden Manifestationen begreiflicherweise und trotz meines Abmahnens noch rein spiritistisch deuteten, waren davon in noch höherem Masse befriedigt, er249

hoben sie doch keinen Anspruch auf strenge Beweise, sodass sie viel idealistische Erhebung in dem ver­ meintlichen Verkehr mit wohlwollenden Geister­ freunden fanden Später hat D....... , wie ich erfuhr, mehrere Schriften über den Spiritismus, den Traum und den Heilmagnetismus, sowie verschiedenes Novel­ listische veröffentlicht. Die erneute Beschäftigung mit dem Okkultismus gab mir in jenem Winter auch die Anregung, mir die Gesellschaft anzusehen, die sich in Berlin zu der Sache bekannt hatte, ihr mit grossem Eifer oblag und schnell zu bedeutender Mitgliederzahl angeschwollen war. Ihre wöchentlichen Versammlungen, bei denen die fraglichen Phänomene nicht experimentell gezeigt, nur in Vorträgen erörtert wurden, fanden am Alexanderplatz statt in einem der Säle des Riesen­ restaurants unter dem Stadtbahnbogen. Ich war bald darüber im klaren, dass in diesem Kreise, ganz ent­ gegen der Meinung Goethes, die nüchterne Preussenmetropole wäre aller mystischen Dämonik abhold, der naivste und fanatischste Glaubensspiritismus bei wei­ tem die vorsichtig prüfende okkultistische Forschung überwog. Die Redner pflegten da kurzweg zu er­ klären, dass man bereits eine Unmenge vollwertiger Zeugnisse für die Identität der Urheber aller mediumistischen Erscheinungen mit den Geistern bestimmter verstorbener Menschen besässe, und dass somit der experimentelle Unsterblichkeitsbeweis nur mehr von Dummköpfen angezweifelt werden könnte; Männlein und Weiblein — die Weiblein vor allem — fanden wohliges Behagen an dieser behaupteten Erwiesenheit, die über die Zukunft so schön beruhigte und für die Gegenwart äusser angenehmen Gruselschauern auch Eitelkeitsbefriedigung besagten Dummköpfen gegen­ über lieferte. Angesichts solchen Wahns fühlte ich mich verpflichtet, für die minder bequeme Wahrheit einzutreten: und da man neue Redner suchte, meldete ich mich gleich für eine Reihe von Vorträgen, deren Ausarbeitung ich mich um so mehr widmen konnte, 250

als die Gesellschaft derartige Darbietungen angemessen honorierte. So machte ich denn eine zahlreiche Zu­ hörerschaft mit den Ergebnissen meiner Beob­ achtungen und meines Nachdenkens über das ganze Gebiet bekannt. Es sprach sich wenig angenehm in dem betreffenden Saal, über den Zug auf Zug hin­ donnerte, sodass man zwischen störendem Pausieren und widerwärtigem Ueberschreien des Lärms zu wählen hatte; trotzdem fanden meine ersten, mehr einleitenden Vorträge ungeteilten Beifall, und ich glaubte schon, einen neuen, geistig nicht unverdienst­ lichen und nebenbei auch zu meiner materiellen Auf­ besserung beitragenden Wirkungskreis gewonnen. Als ich aber dann in meinem dritten Vortrag den Dingen mit der logischen Sonde zu Leibe rückte, und nach­ wies, dass neben der Urheberschaft abgeschiedener Menschen noch allerlei andere betrugsfreie Möglich­ keiten sich mit ganz ebenso guten Gründen verteidigen lassen, schlug jäh die Stimmung um, die ganze Gesell­ schaft empörte sich gegen mich, als gefährlichen Glau­ bensfeind, und man bedeutete mir, dass meine Vor­ träge nicht weiter erwünscht seien. So überliess ich . denn die Leute dem Irrtum, der ja wohl auch auf allen Gebieten für die grosse, zum kritischen Urteil nicht geschaffenen Mehrheit ein notwendiges Lebens­ element bedeutet. Äusser mit der Familie D .. .. war ich in jenem Winter auf 1896 auch viel mit Karl Rössler zusammen, der nun auch mein «Alles und Nichts» kennen lernte und in der mehr versonnen aufnehmenden als selbst­ tätigen Art, die ihm damals eigen war, sich sehr für diese Dichtung, namentlich für ihre Schlusszenen er­ wärmte. In selbstloser Kameradschaftlichkeit schaffte er mir auch allerlei Erleichterungen, wie kleine Lebensgenüsse. Zeitweilig kampierte Rössler damals mit anderen jungen Schauspielern bei einer Frau Biesendahl, einer mustergiltigen «Theatermutter» mit nachsichtigem Verständnis für das phantastisch-leicht­ lebige Zigeunertum ihrer Pflegbefohlenen, und ich liess 251

mich gerne mit in den tollen kleinen Kreis ziehen, dem u. a. auch der hübsche jugendliche Liebhaber Otto Fricke und der talentvolle Paul Biensfeld angehörten. Unvermutet traf ich einmal unter den Linden mei­ nen alten Münchener Freund Weirauther, mit dem ich fast ganz äusser Korrespondenz gekommen war. Nach wechselvollen Lehr- und Wanderjahren hatte er sich jetzt in Köln zum ersten Charakterspieler empor­ gearbeitet und damit das Ziel seiner Wünsche erreicht. Umsomehr verstimmte es ihn, dass er mich in so schlimmer Lage fand. Durch Hanstein erfuhr ich, dass Heinrich Landsberger (Heinrich Lee) jetzt in Berlin weilte und war dann öfters mit ihm zusammen. Lands­ berger war unverheiratet geblieben und hatte sich auch sonst wenig verändert. Nur war das Bedächtige in seinem Wesen noch stärker ausgeprägt als früher, unter dem Einfluss des Goethekults, den er damals trieb. Darin, dass es der betagte Goethe war, den er sich da als junger Mann zum Lebensmuster nahm, schien er keinen Widersinn zu erblicken. Auch nicht in Betracht zu ziehen, dass bei dem Altmeister die Gehaltenheit wohl mehr nur einen rein persönlichen Schutzwall gegen die Gefahren seines leidenschaft­ lichen Naturells bedeutete und daher für ohnehin mehr zur Nüchternheit neigende Leute kaum ein er­ spriessliches Vorbild abgeben konnte. Mir gegenüber verhielt sich Landsberger ungefähr ebenso wie früher in München. Wie damals, schalt er mich unpraktisch und unbeholfen, namentlich auch, weil ich den Erfolg der «Minnekönigin» nicht auszunützen verstünde. Im übrigen liess er sich meinen Roman geben und ver­ sprach darüber zu schreiben, wenn er ihm gefiele. Ich war angenehm überrascht, als er sich sehr aner­ kennend über das Buch aussprach, das er mir nach eigenem Eingeständnis nicht zugetraut hatte. Da das Buch nach dem Zusammenbruch des Verlags kläglich verramscht worden, war, konnte es aber auch durch rühmende Hinweise nicht zu Ansehen gebracht wer­ 252

den. Erwähnt sei noch, dass Landsberger mit Wilhelm Meyer-Förster, dessen «Altheidelberg» damals sieg­ reich über alle Bühnen ging, nah befreundet gewesen war, und dass Meyer-Förster um jene Zeit in Hannover die Feuilletonredaktion des «Hannoverschen Courier» übernommen hatte, was später für mich belangreich werden sollte. Von Bedeutung für mein Aufrechtbleiben wurde das Freundschaftsverhältnis, das ich um dieselbe Zeit zu einem jungen Schauspieler gewann. Es war Ferdi­ nand Gregori, der damals am «Deutschen Theater» in kleineren Rollen beschäftigt war. Eine tüchtige, ernst­ hafte Natur von ungewöhnlicher Intelligenz, gründ­ licher allgemeiner Bildung und einer geistigen Streb­ samkeit, die weit über den durchschnittlichen Ge­ sichtskreis jugendlicher Bühnenkünstler hinausgriff, namentlich auch literarisch interessiert, geriet er zu­ fällig mit mir zusammen und meine traurig-wider­ spruchsvolle Lage, die ihm bald klar wurde, regte seine Anteilnahme. Er las «Die Einzige» und «Alles und Nichts», zeigte sich namentlich von dem letzteren Drama gefesselt und fühlte sich getrieben, nach besten Kräften für mich und meine Stücke tätig zu sein. Trotz seiner eifrigen Alarmrufe blieben die Theater, wie auch die breitere Oeffentlichkeit so teilnahmslos wie vorher, doch wurden wir, wie es nicht anders sein konnte, vertraute Freunde und sind es dann fürs Leben geblieben. Hansteins jüngerer Bruder Otfried hatte sich in Berlin auf diese und jene Weise eine Existenz zu schaf­ fen gesucht und schliesslich, mit einem jungen, frü­ heren Theaterdirektor, ohne sonderliche Geldmittel, aber mit desto grösserem organisatorischem Eifer eine Theaterschule gegründet. Der Zufall führte mich nun mit ihm zusammen, und da mein Freundschaftsver­ hältnis zu seinem Bruder eine Brücke zwischen uns bildete, kam ich jetzt auch mit ihm in freundlichen Verkehr. Er suchte damals gerade einen Lehrer der Fechtkunst für sein neues Unternehmen, und ich 253

erinnerte mich an meine Kenntnisse im Degenfechten, das ja fürs Theater vor allem in Betracht kam, bot mich selber an, wurde mit Freuden in die Liste der Lehrkräfte eingereiht und mit einem zwar kleinen, aber für mich recht wertvollen Gehalt bedacht. Die Stunden, die ich dann auf dem «Fechtsaal» einem Rudel junger Schauspieler und Schauspielerinnen mit aller Gewissenhaftigkeit gab, wobei ich erst noch lernen musste, die empfindlichen Brüste der Schü­ lerinnen vor allzu rauhen Florettstössen zu wahren, zählen zu meinen drolligsten; Erinnerungen; das Groteske meiner Metamorphose vom Dramatiker zum Fechtmeister kam mir aber kaum zum Bewusstsein, ich war lediglich froh, einen Verdienst erobert zu haben. Freilich währte der nicht lange, denn diese grossartig inszenierte Theaterschule musste bald wieder ihre Tore schliessen. Mit Otfried von Hanstein und seiner gutherzigen, jungen Frau verkehrte ich aber noch länger freundschaftlich. Bald darauf entschloss ich mich, zu meiner Mutter nach Bamberg zu ziehen, um meinen Unterhalt zu verbilligen. Ich packte meine spärliche Habe zusam­ men und nahm Abschied von der Hauptstadt, die mir zwar neue Freunde und manches Schöne geschenkt, mir aber weit mehr Hässliches und Jämmerliches auf die Seele geladen.

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undreise Bamberg - Belgrad- HannoverBamberg.

Ich traf meine Mutter gealtert und müde, aber sie war verständnisvoll bemüht, mir den schroffen Uebergang aus dem Getriebe der Grosstadt in die Stille ihrer halbländlichen Zurückgezogenheit zu er­ leichtern. Komponieren und Musizieren gab mir einen Ersatz für das dichterische Schaffen, das sich noch nicht in der früheren Frische einstellen wollte. Ich begann zwar an einem Prosaschauspiel aus der Zeit der Königin Luise zu arbeiten, vernichtete dann aber den ersten Entwurf wieder, weil ich sah, dass nichts Rechtes daraus werden wollte. Zufriedener war ich mit den ersten Niederschriften zu einem Zyklus deut­ scher Geschichtsdramen, dessen Plan mir schon früher durch den Sinn gegangen war. In dem Schicksal der deutschen Herrscher von König Konrad dem Franken bis zum dritten sächsischen Otto, sah ich ein in sich geschlossenes, politisches Entwicklungsdrama von all­ gemein-ideellem Reiz und von stärkster Symbolik für sämtliche Grundprobleme Deutschlands und des deut­ schen Wesens. König Konrads weltfremder und daher zum Misserfolg verdammter Idealismus und Heinrichs ebenso einseitige, lediglich weltkluge Realpolitik, deren Erfolg mangels ideeller Weihe die kraftvolle Persönlichkeit ihres Trägers nicht überlebt, können beide das Reich nicht dauernd von der äusseren und inneren Not befreien und zur vollen Höhe der Macht emporführen; das gelingt, nach hartem Kampf auch mit den engeren Menschlichkeiten des eigenen Ichs, erst dem grossen Otto, dessen umfassende Natur und 255

tiefere Einsicht beide Richtungen in sich vereint. Aber gerade dies Umfassende seines Wesens trägt auch schon den Keim des Niedergangs in sich; sein geweiteter Blick und seine deutsche Abenteuerlust greift über die Grenzen national-deutscher Entwick­ lung hinaus, will Italien und das Weltreich, und ver­ ursacht damit das Unglück seiner Nachfolger. Das Schlussdrama der Reihe, der «Kaiser Otto III.» sollte dann, sehr abweichend von jenem Stücke, das ich als Achtzehnjähriger geschrieben, die Tragödie eines geistvollen, aber entwurzelten und hilflosen Dekaden­ ten und Epigonen vorführen. Im ganzen wollte ich mich möglichst geschichtlicher Treue und daher auch eingehender Quellenstudien befleissen, man sollte den Eindruck wirklichen einstigen Geschehens erhalten. Daher entschloss ich mich auch zum Prosa­ dialog und zu einer Sprache, die bei allem notwendi­ gen Verzicht auf gelehrte «Echtheit» doch durch einige altertümelnde Andeutungen die Illusion be­ günstigen konnte. Ich nahm zunächst den «König Konrad» in Angriff, wofür mir die Bamberger Bibliothek alle Geschichtsquellen lieferte. Der Stoff gliederte sich mir von selbst in ein Vorspiel und fünf Akte, und die Gestaltung ging mir anfangs leicht und nach Wunsch von statten. Dann aber fühlte ich wieder eine Abnahme der rechten Schaffensfrische und zwang mich, wie immer in solcher Lage, zum Aufschub der Weiterführung, wusste ich doch, dass bei hartnäcki­ gem Beharren nichts Vollwertiges entstünde. Ich ver­ sank bei dem Aussetzen meiner Produktivität, und unter den Einflüssen des Kleinstadtlebens mehr und mehr in eine stumpfe Lässigkeit, unter der ich inner­ lich zu leiden begann. Das bisschen Mitarbeit an der Berliner «Täglichen Rundschau» bedeutete keine Tä­ tigkeit, neue journalistische Anknüpfungen waren nicht möglich von der entlegenen und ereignisarmen Frankenstadt aus, und auch das Komponieren konnte mich auf die Dauer über die Qual des Brachliegens, über mein Einsamkeitsgefühl und die anscheinend 256

aussichtslose Traurigkeit meiner Existenz nicht hin­ wegtäuschen. Allein in der Umgebung umherstreifend, suchte ich mich durch neue Natureindrücke zu be­ reichern und aufzufrischen, aber auch das wollte nicht recht gelingen. Wenngleich die Friedenauer Kata­ strophe nun seelisch überwunden war, so hatte ich doch diese gewaltsame Ueberwindung mit einer für meine jungen Jahre unnatürlichen Herzensleere teuer genug erkauft, und ich war nun nahe daran, in eine allgemeine Apathie zu versinken. So bedeutete es ein Glück für mich, dass ich im Spätsommer von zwei Seiten zugleich aus diesem trübseligen und unfrucht­ baren Zustand gerissen wurde, zu neuer Anspannung meiner Kräfte. Zunächst erhielt ich einen Brief von Landsberger, in dem er mir mitteilte, sein Freund Meyer - Förster sei durch ein schweres Augenleiden genötigt, die Feuilletonredaktion des «Hannoverschen Courier» niederzulegen; bei dem Vakantwerden dieser Stelle hätten sie an mich gedacht, und wenn ich wollte und könnte, sollte ich mich sofort für den Oktober schrift­ lich darum bewerben, er und auch Meyer-Förster würden mich dann dem Verlag Jänecke angelegentlichst empfehlen. Das gebotene Gehalt von 4000 Mark jährlich musste mir in meiner Lage verlockend genug erscheinen. So antwortete ich denn dankend und zu­ stimmend, und liess ein ausführliches Bewerbungs­ schreiben an den Verlag abgehen. Um dieselbe Zeit, gegen Ende August, schrieben uns mein Schwager und meine Schwester, wir sollten nach Pancsova kommen und den September dort als ihre Gäste zubringen. So machten wir uns denn reise­ fertig und fuhren nach kurzer Unterbrechung in Nürn­ berg ohne Aufenthalt über die ungarische Grenze. Ich nahm mit neugieriger Spannung die Flachland­ bilder in mir auf, die sich während der Fahrt ent­ rollten. Freilich wirkte die ungeheure Einförmigkeit der Landschaft, die da einen ganzen Tag lang im grellen Sonnenschein an mir vorüberrückte, auf die 17

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Dauer abstumpfend auch gegen das fremdartig Fes­ selnde und räumlich Imposante dieser endlosen Mais­ felder und Heidestrecken. Mein Schwager bewohnte am Ende von Pancsova ein grösseres Haus, das ebenso ländlich-schlichten Charakters war, wie die anderen Gebäude des Orts. Als Direktor der Gasanstalt bedeutete er in der kleinen Stadt schon einen grossen Herrn, als gebil­ deter Mann aus dem eigentlichen Europa einen noch grösseren. Er selbst liess sich ironisch und weg­ werfend genug über das Pancsova’er «Gesindel» und «Gaunerpack» aus. Bei seinen gelegentlichen Besuchen im benachbarten Belgrad hatte er sich übrigens auch dort in Respekt gesetzt, pflegte doch damals in den Belgrader Weinschenken überhaupt jeder auftau­ chende Kulturmensch von den höheren Offizieren, ja den Ministern, ohne weiteres auf gleich und gleich begrüsst zu werden. Dank solcher Bekanntschaften war der Schwager auch bereits mit dem serbischen Takowa-Orden ausgezeichnet worden, für seine — ihm selbst nicht recht klaren — «Verdienste um die serbische Kultur». Ich fand mich in ein völlig sorgenloses Wohlleben versetzt in dem prachtvollen Frühherbst, unter süd­ lichem Himmel und romantischer Fremdartigkeit der Lebensverhältnisse. Da bot das Grenzgemisch unga­ rischen und serbischen Volkstreibens mit den beson­ deren Trachten, Sitten und Tanzweisen die verschie­ densten fesselnden Bilder; da gab es originelle Schen­ ken, wo die Zigeuner wild darauflosfiedelten und malerisch gewandte Bosniaken, ideal schöne Kerle, von hohem und prachtvoll ebenmässigem Wuchs, die allerlei Waren, namentlich reich verzierte Dolch­ messer, feilboten. Da war ferner ein schmuckes und auffallend sauber gehaltenes deutsches «Sachsendorf», unweit der Stadt in seiner streng bewahrten Eigen­ art, und ein Urwald mitten in der sonst weiten baum­ losen Ebene; da war die reiche Vogelwelt der Strom­ ufer, da waren vor allem die von zahllosen Wachteln 258

wimmelnden «tropischen» Maisfelder, die der Land­ schaft das entscheidende Gepräge geben, und um deren Pflege und Aberntung sich fast das ganze Leben der Bevölkerung dreht. In Belgrad, das man auf kurzer Dampferfahrt erreichen kann, gab es wieder viel Eigenartiges und noch mehr Drolliges zu sehen. Erheiternd wirkte schon das «Portal», durch das man vom Ufer aus auf holprigen Stufen in die Stadt hin­ anstieg, ein eigenartiger Türbogen, aus morschen Brettern, mit verwittertem grünen Anstrich und der Aufschrift: «Belgrad» und fast noch erheiternder be­ rührten mich die armseligen verkehrslosen Gassen und Gässchen der «Gernegross»-Metropole, ihr putziges Hoftheaterchen und die sonstigen «Prachtbauten», mit denen sie zu glänzen suchte, am lustigsten aber das Gartenrestaurant «ersten Ranges», eine Art kahl um­ bauten Hofraumes, dessen Kalkwände greulich grelle «Wandmalereien» verunzierten. Ein voll und würzig mundender dem Burgunder ähnlicher Rotwein «Negotiner» genannt, nötigte mir indessen alle Hoch­ achtung ab. Fesselnd war dei- Blick von der Höhe der Stadt auf die umringenden Wasser, besonders bei sinkender Nacht, ein stimmungsvolles Strandbild, mit feurigbunten Lichtreflexen, von stark fantasti­ schem Reiz der Rest der ehemaligen türkischen Be­ festigung vor allem der alte Turm, in den wir gerade einige Gefangene einführen sahen, die ihre mittel­ alterlichen, massiven eisernen Ketten kaum zu schlep­ pen vermochten. Im ganzen überwog aber der Ein­ druck des rührend Dürftigen und hätte uns an jenen Septembertagen eine Zigeunerin geweissagt, dass 18 Jahre später von hier aus die Brandfackel geschleu­ dert würde, die den gewaltigen Weltkrieg entflammen und die mitteleuropäischen Reiche in unerhörtes Elend stürzen sollte, so hätten wir alle ihr ins Gesicht gelacht. Während dieser Ferien Wochen bereitete mir der Schwager auch noch eine schalkhafte Ueberraschung; sie sollte mir wohl zeigen, dass er in dem Nest alles 259

Mögliche und Unmögliche bewerkstelligen könnte. Auf der Gartensommerbühne des Städtchens liess sich nämlich damals, kühn genug, eine Truppe deutscher Komödianten sehen, und der Schwager meinte, wir sollten nicht versäumen, eine ihrer abendlichen Vor­ stellungen zu besuchen, gleichviel was gerade für ein obskures Stück gegeben würde: ein Vorschlag, der auch meinen vollsten Beifall hatte. Als wir an einem der schon ziemlich gut besetzten Gartentische Platz nahmen, fand ich darauf, wie auf allen übrigen Tischen, den Theaterzettel liegen; er kündigte einen mir völlig unbekannten Schwank an, war aber hier von meinem Schwager unterschoben und stammte von einem früheren Abend. Der Vorhang hob sich und ich sah — meine Altnürnberger «Drachen-Komödie» spielen! Der «allmächtige» Grandseigneur hatte sich mein Manuskript heimlich zu verschaffen gewusst und bei der Truppe die sofortige Einstudierung durch­ gesetzt. Natürlich war ich auf’s Heiterste verblüfft und konnte mich auch ehrlich der Wiedergabe freuen, da die deutschen Landsleute ihre Sache recht brav mach­ ten und der seltsamen «Uraufführung» in Südungarn zu einer «sehr beifälligen Aufnahme» verhalfen. Anderentags gab dann mein Schwager der tapferen Truppe, mitten auf den weltbedeutenden Pancsova’er Brettern, ein Gabelfrühstück, an dem wir alle teil­ nahmen. Der Direktor hielt da eine treuherzige Rede auf mein «echt deutsches» Gedicht, ich entgegnete mit entsprechendem Trinkspruch auf ihn und dieSeinen und der edle Ungarwein erwies sich als durchaus geeignet, die deutsch-nationale Begeisterung zu erhöhen... (Um diese Zeit traf Gumppenberg wieder mit der früher erwähnten Jugendfreundin zusammen und verlobte sich mit ihr. Anmerkung des Herausgebers.)

Glücklicherweise traf bald darauf ein Schreiben des Verlags ein, das zum Monatsschluss meine per­ sönliche Vorstellung in Hannover wünschte. Dort ging es glatter und schneller von statten, als ich ge­ hofft hatte. Der Vertrag wurde mit den erwähnten 260

Bedingungen unterzeichnet, und ich liess mich so­ gleich in meine Obliegenheiten einweihen, worauf ich unverzüglich die Arbeit aufnahm, die sich als ebenso vielseitig wie anspruchsvoll erwies. Ich sollte nicht nur für das Feuilleton des Hauptblattes in jedem Be­ tracht, einschliesslich der Romanbeschaffung und der damit verbundenen Manuskriptlektüre und Korrespon­ denz, allein ohne jede Hilfskraft sorgen, sondern auch die Unterhaltungsbeilage redigieren und ausserdem die gesamte Schauspielkritik der verschiedenen Bühnen, ebenso die Kunstkritik übernehmen. Da ich bei dem lebhaften damaligen Theaterbetrieb fast jeden Abend eine Vorstellung zu besuchen und in unmittel­ barem Anschluss meinen Bericht zu schreiben hatte, die redaktionelle Arbeit aber die übrige Zeit ver­ schlang, musste ich der Romanlektüre noch weitere späteste Nachtstunden opfern; der Besuch der Kunst­ ausstellungen verkürzte auch oft noch meine Mittags­ pause auf ein Minimum, sodass sich mein Leben äusserst anstrengend gestaltete. Wie schon in München als Referent der «Stadt­ zeitung» und der «Münchener Kunst» hielt ich mich auch jetzt als Kritiker an strenge Wahrhaftigkeit. Trotzdem und trotz der besonderen Beachtung, die meine Referate als die des führenden Blattes der Stadt finden mussten, bin ich während meiner Han­ noverischen Kritikerzeit niemals in persönlichen Kon­ flikt oder auch nur Auseinandersetzungen mit Au­ toren, Darstellern oder Spielleitern geraten. Von meiner grundsätzlichen «Unbeeinflussbarkeit» hatten sich die Schriftsteller, Theaterleute und bildenden Künstler wohl bald überzeugt, mein Streben nach möglichster Objektivität schien ihnen gleichfalls ein­ zuleuchten und so liess man mich von aussenher dauernd in ungestörter Ruhe schalten und walten; auch in meine redaktionelle Tätigkeit hatte ich mich bald eingearbeitet, und man liess mich dann auch hier selbständig gewähren. Da somit alles in Ord­ nung schien, eröffnete ich dem Verlag meine Heirats­ 261

absicht und man sprach mir einen kleinen Urlaub zu. Unsere Hochzeit wurde für den Dreikönigstag 1897 anberaumt.... Zu einer Weiterführung meines «König Konrad» oder zu anderen dichterischen Entwürfen fand ich während der ganzen Hannover’schen Zeit nicht die nötige Musse. Doch entstand immerhin nach und nach die Niederschrift einer neuen philosophischen Arbeit, die ich schon seit Pancsova fertig im Kopfe trug. Mein metaphysisches Nachdenken hatte sich inzwischen auch von den mystisch-theologischen Elementen frei­ gemacht, die «der Kritik des wirklich Seienden» noch anhafteten, und mich zu einer Systematik geführt, die nunmehr von allgemeinen Tatsachen ausging und in rein logischer Schlussfolgerung daraus das Welt­ bild entwickelte. Es handelt sich um die Schrift, die ich später in München unter dem Titel «Grund­ lagen der wissenschaftlichen Philosophie» veröffent­ lichte. Mit den Denkergebnissen, die in dieser Skizze niedergelegt sind, hat sich dann auch mein Er­ kenntnisdrang längere Zeit zufrieden gegeben. Im Frühjahr begann sich mein Verhältnis zum Verlage zu trüben. Der junge M. interessierte sich mit einem Mal angelegentlichst für das Feuilleton, er­ schien jeden Augenblick, um mich zu «kontrollieren», fand dieses und jenes auszusetzen und wenn ich aus reiner Gewissenhaftigkeit manchmal noch über die Pflichtzeit auf dem Büro blieb, nur um irgend einen Rückstand zu verhüten, verdächtigte er mich, dass ich «nicht fertig werde», obschon das die Wahrheit auf den Kopf stellte und ich meine Manuskripte stets rechtzeitig an die Druckerei ablieferte. Besonders empörte mich auch die brutale Art, wie er sich nun in meine Korrespondenz mit den Roman-Autoren zu mischen begann. Einmal wollte ich den wirklich guten und dabei sehr umfangreichen Roman eines be­ gabten Schriftstellers erwerben und hatte dessen nicht unbescheidene Honorarforderung bereits herab­ gedrückt. Der schneidige M. erkundigte sich bei mir 262

nach dem Stande der Verhandlungen und als er er­ fuhr, was ich erreicht hatte, rief er in hellem Hohn: «Lächerlich! Da muss man eben energischer schrei­ ben! Ich will Ihnen zeigen, wie man das macht! Geben Sie mir die Korrespondenz mit dem Mann — ich werde sie selbst weiterführen und Sie sollen sehen, dass wir das Zeug für ein paar hundert Mark be­ kommen!» Und wirklich gelang es ihm dann, dem Poeten, der jedenfalls gerade in einer Notlage war, sein Werk um den gewünschten Spottpreis abzu­ pressen. Um nicht selbst eine Erschütterung meiner Stellung zu verschulden, verschluckte ich Groll und Ekel über alle diese Eingriffe und Zurechtweisungen; aber der junge Besserwisser steigerte mehr und mehr seine Nörgeleien, sodass ich schliesslich den Eindruck absichtlicher Herbeiführung eines Konfliktes erhielt. Und dieser Eindruck täuschte mich auch nicht. Nach Ostern wurde ich ohne jeden unmittelbaren Anlass zitiert und mir erklärt unter Hinweis auf jene ver­ schiedenen unbegründeten Bemängelungen, man könne mit mir nicht Weiterarbeiten, der Verlag müsse mir für den 1. Januar kündigen, was er mir schon jetzt mitteilen wolle; auf Wunsch könne ich das Verhältnis auch schon zum 1. Oktober lösen. Was mir alles durch Kopf und Herz fuhr, beim unverschuldeten Zusammen­ bruch der kaum gewonnenen Existenz, bedarf keiner Schilderung. Dass der eingebildete junge Herren­ mensch da vor mir, wiewohl er meine Lebenslage und die Notwendigkeit der Wiederauflösung meines eben erst gegründeten Haushaltes genau kannte, kein Wort des menschlichen oder auch nur gesellschaftlichen Be­ dauerns fand, erfüllte mich mit solcher Erbitterung, dass ich schon deshalb nicht imstande war, mich noch zu einem Verständigungsversuch zu zwingen ... Die Ueberlegung meiner Lage führte mich zu der Einsicht, dass ich doch wohl am ehesten in München die Möglichkeit hätte, mir eine neue Lebensbasis zu schaffen. Doch erschien es uns ratsam, zunächst nach dem billigeren Bamberg zu ziehen: ich wollte dann 263

von dort aus die Lage in München sondieren, damit wir den Sprung in meine Heimat zurück nicht ganz aufs Ungewisse wagten. Der Abschied von den Redaktionskollegen, die teils — wie der Chefredakteur — mit stiller Verständnis­ innigkeit, teils auch ausgesprochener Weise auf meiner Seite standen, gestaltete sich sehr herzlich. Sie kamen sogar am Vorabend meiner Abreise noch zu einer Art Abschiedsfeier mit mir zusammen, wobei sie sich nun freimütigst über alle Uebelstände aussprachen; zudem wurde mir die allgemeine Ueberzeugung nicht vor­ enthalten, dass mein Nachfolger, dem ich noch selbst das Material der Feuilletonredaktion übergeben hatte, bereits zur Zeit meiner Bewerbung endgiltig für den Posten bestimmt, doch nicht in der Lage gewesen wäre, ihn sogleich anzutreten und dass man mich nur als ahnungslosen Lückenbüsser eingestellt habe, um mich dann im rechten Moment wieder vor die Tür zu setzen. Wenn dem wirklich so war — und ich zweifle nicht daran — hatten Landsberger und Meyer-Förster gewiss nicht um das Spiel gewusst, das mit mir getrieben werden sollte ... In Bamberg fand ich im ersten Frühjahr 1898 end­ lich wieder die Frische und Sammlung zu einer grösseren Dichtung. Es war das Versschauspiel «Der erste Hofnarr», das dem leidüberwindenden Optimis­ mus, wie ich ihn seelisch und geistig in mir erlebt hatte, allgemeinen Ausdruck gab und zugleich in en­ gerem Zusammenhang mit dem metaphysischem Welt­ bild stand, das ich in Hannover entworfen hatte. Der Vorgang war im Hauptsächlichen frei erfunden, wenn­ gleich er einige geschichtliche Züge mitverwertete. In voller Konzentration auf meine Arbeit, hatte ich das Stück bald vollendet, gab es wieder Heinrich Ronge in Verlag, und konnte noch vor dem Sommer Exemplare an die Bühnen verschicken, vor allem auch an das Münchener Hoftheater, wo Possart anstelle des zurückgetretenen Freiherrn von Perfall Intendant ge­ worden war. 264

Jahrhundert-Ende in München, Theaterkatzenjammer, Ueberdramatiker\der Elf Scharfrichter,^Lyriker und Schweden­ prophet, Kritikermartyrium und Trost der Berge.

Mittlerweile hatten wir uns entschlossen, Bamberg zu verlassen und in München nach Wohnung Umschau zu halten. Ein herrlicher Tag blaute über den lieben, alten Frauentürmen, als ich die Stadt nach mehr als sechsjähriger Abwesenheit bewegten Herzens wiedersah; die ganze Flut der Erinnerungen umbrandete mich, und obwohl ich nie an der Scholle geklebt hatte, spürte ich doch jetzt mächtig das Heimatgefühl. Die Unterkunftfrage war bald gelöst, da wir in Haid­ hausen eine leere Wohnung fanden und unsere Be­ friedigung darüber sollte noch durch eine unerwartete Freude gesteigert werden. Ich hatte noch keinerlei Mitteilungen von der Münchener Hofbühne erhalten und musste nach früheren, trüben Erfahrungen an­ nehmen, dass man die erfolgreichen Aufführungen des «Thorwald» und der «Minnekönigin» längst vergessen hätte und dass mein Stück dem Schicksal der Hun­ derte von alljährlichen Einreichungen obskurer Her­ kunft verfallen wäre, unbeachtet zu verstauben; ich wollte daher meine Anwesenheit ausnützen, um Pos­ sart aufzusuchen und ihn womöglich zu persönlichem Lesen des Buches zu bewegen. Ich musste längere Zeit warten, was ich natürlich in pessimistischem Sinne deutete; endlich wurde ich vorgelassen. Possart stand am Fenster, in strenger Napoleonshaltung und 265

empfing mich mit einer eisigen Gemessenheit, dass ich auch die letzten Hoffnungen verloren gab und mich zwingen musste, meine offenbar aussichtslose Bitte und einiges über den Charakter des Stückes vor­ zubringen. Possart-Napoleon liess mich in scheinbar teilnahmslosem Schweigen ausreden. Dann trat er an den nahen Schreibtisch, griff ein dort liegendes Buch auf, indem ich erst jetzt meinen «Hofnarren» erkannte, hob es bedeutsam, warf es mit leichter Handbewegung wieder hin und sagte trocken, ohne eine Miene zu verziehen: «Ich hab es angenommen.» Meine Verblüfftheit war noch grösser als meine Freude. «Das Stück ist gut,» fuhr er in gleichem Tone fort, sich an der kräftigen Wirkung der Szene wei­ dend, «das Stück ist wirksam und interessant — wir werden es geben.» Ich fand in meiner Verwirrung nur wenige gleich­ falls lakonische Worte, worauf er unmittelbar zu einem liebenswürdig heiteren Konversationston überging, auch in irgendwelcher Anknüpfung von den Ozean­ eindrücken seiner letzten Amerikareise plauderte. Schliesslich verabschiedete er mich mit allen Zeichen der Hochschätzung. — Immerhin: das gesamte Fazit unseres ersten Vorstosses nach dem Süden war er­ freulich. Das Literatur- und Theaterleben Münchens hatte seit meinem Abschied im Frühling 1892 allerlei Wandlungen erfahren. Bald nach jenem Sommerfest in der «Isarlust», hatte sich Conrad kampfmüde aus dem Vorstand der «Gesellschaft für modernes Leben» zurückgezogen, und im Frühjahr 1893 war dann die ganze Vereinigung infolge schnell um sich greifender Teilnahmslosigkeit der Mitglieder eines ziemlich un­ seligen Todes verblichen. Doch war ihr Wirken nicht vergeblich gewesen; in den Wall der Ueberlieferung hatte sie die entscheidende Bresche geschlagen, der neue Geist war in München eingezogen und liess sich nun nicht mehr unterdrücken. 1896 war der «Simplizissimus» erschienen mit seiner kaustischen Kritik an 266

allen Misständen und Auswüchsen, und fast gleich­ zeitig war als Schöpfung des schönheitsfrohen Dr. Georg Hirth und Fritz von Ostinis, die «Jugend» auf den Plan getreten, die sich die positive Förderung aller frischaufstrebenden Kräfte zur Aufgabe machte. Auch unser altes Projekt einer «freien Bühne» hatte man nun auf verschiedenste Weise zu verwirklichen gesucht. In dem neu entstandenen «Deutschen Theater» an der Schwanthalerstrasse hatte erst der wagemutige und geschäftskluge junge Direktor Mess­ thaler mit modernsten Stücken experimentiert, dann, nach etlichen belangloseren Intermezzi, der unglück­ liche vordem als Darsteller so erfolgreiche Emil Drach; aus der kurzlebigen Unternehmung des letz­ teren aber war nach seinem materiellen und geistigen Zusammenbruch dank der Tatkraft seines Regisseurs und Nachfolgers Stollberg das «Münchener Schauspiel­ haus» hervorgewachsen und hatte kurz vor meiner Wiederkehr in dem für mich so erinnerungsreichen, jetzt zu einem Theaterraum umgestalteten grossen Saal der «Zentralsäle» mit tüchtigen Kräften und ent­ schiedenem Glück seine Vorstellungen eröffnet, die vor allem den modernen Naturalisten gewidmet waren. Schon früher hatte sich Halbe in München niedergelassen und mit einem Kreis junger Literaten, und Künstler mehrere Aufführungen eines «Intimen Theaters» bewerkstelligt; auf ähnliche Art waren auch verwandte Unternehmungen Ernst von Wolzogens zustande gekommen. Alle diese letzteren Ex­ perimente wirkten freilich kaum über den engsten Literatenzirkel hinaus; etwas weitere Kreise zogen schon die sich anschliessenden Bestrebungen des neu­ begründeten «Akademisch-Dramatischen-Vereins», der sich aus den freigesinnten Elementen der Studenten­ schaft rekrutierte und moderne Uraufführungen vor ein grösseres Publikum brachte. Der rein gesellige Zusammenschluss der Jungdeutschen hatte inzwischen gleichfalls neue Blüten getrieben und sich neue Namen beigelegt. Josef Ruederer, dessen hohnvolle Satire 267

«Die Fahnenweihe» der letztgenannte Verein zur er­ folgreichen Aufführung brachte, war als neuer Mann auf getaucht und hatte den Kreis der «Nebenregierung» ins Dasein gerufen, dem bald ein anderer, vorwiegend um Halbe gruppierter unter dem Namen «Unter­ strömung» folgte. Auch diese Unterströmung war aber mittlerweile schon wieder im Sande verlaufen. Ich selbst suchte den ersten Anschluss bei meinen alten Münchener Sturmgenossen. Von ihnen waren Conrad, der greise Redner und Schaumberg, München dauernd treu geblieben, Schaumberg hatte schon 1893 als Geschäftsführer der «Pensionsanstalt deutscher Journalisten und Schriftsteller» ein Arbeitsfeld er­ halten, für das er bei seiner organisatorischen Bega­ bung und vielfältigen Erfahrung wie kein Zweiter geeignet erschien. Auch Schaumberger war nun wieder nach München zurückgekehrt, und hatte das Theater und Kunstreferat für den «Berliner Börsen-Courier» übernommen. Unter meinen früheren Freunden hatte der Tod aufgeräumt; manche von den anderen waren in die weite Welt zerstreut. "Wedekind hatte sich mittlerweile in der Schweiz, in Paris und anderwärts durchgeschlagen; schliesslich war auch er wieder in München gelandet und hatte dann die bekannten, von ihm selbst im Zerrbild verulkten Erlebnisse mit dem Simplicissimus. Hier sei auch gleich des tief­ traurigen Endes meines alten Freundes "Weirauther gedacht. "Wie schon erwähnt, hatte er in Köln als erster Charakterspieler eine sehr schöne Stellung ge­ wonnen und auch sonst schien das Glück sein langes und zähes Ringen krönen zu wollen, da aber rächte sich die Ueberanstrengung, die er seinem durch frühe Entbehrungen verkümmerten Körper in der Zeit des Sichdurchsetzens zugemutet hatte; ein schwerer Blut­ sturz riss ihn jäh aus seinem "Wirken. In einem Sanatorium am Vierwaldstättersee siechte er dann lang dahin, bis ihn der Tod erlöste. Er schrieb mir noch mehrmals von dort, ohne Klage über seinen aussichtslosen Zustand, ja, mit gelassenem Humor, 268

und dabei mit der alten liebevollen Teilnahme für meinen Lebens- und Dichterkampf. «Leb’ wohl und werde grösser als Hebbel!» schlossen die letzten Zei­ len, die ich von ihm erhielt, und die den Charakter eines bewussten Abschiedsbriefes trugen, Da hier von Hebbel die Rede gewesen, sei auch gleich einiges über meine eigene innere Stellung zu ihm gesagt. Weirauther war nicht der einzige, der meine Art gerne mit der seinen verglich, auch später­ hin hat mich noch mancher Beurteiler in Beziehung zu ihm gesetzt und Geist von seinem Geiste in meinen Dichtungen zu entdecken geglaubt. Ich selbst aber habe Hebbel nie als nahverwandt empfunden, bei aller Hochschätzung seiner Gestaltungskraft und seines Bestrebens, im Drama das tiefere Wesen der Dinge zu entschleiern. Seine Gedankenwelt wie auch seine künstlerischen Prinzipien erschienen mir, un­ beschadet ihrer persönlichen Ursprünglichkeit, Gross­ zügigkeit und Tiefe mehr absonderlich als allgemein gütig. Ich spürte bei ihm überall die spezifischen Mängel eines abseits stehenden Autodidakten, der ohne rechte Fühlung mit der Gesamtentwicklung in Wunderlichkeiten geriet. Auch widersprach seine frostige Leidenschaft, in den Menschen seiner Stücke das Räderwerk eines geistigen Maschinensystems blosszulegen, meinen eigenen dichterischen Nei­ gungen, die äusser dem ideellen Weltbild immer auch das natürliche, seelische und sinnliche in voller Lebenswärme geben wollten. Trotz meiner teils freiwilligen, teils durch die ver­ änderten Verhältnisse mir aufgezwungene Isoliert­ heit in der ersten Haidhausener Zeit machte ich eine neue Poetenbekanntschaft. Es war der Deutsch­ Schweizer und Pastorensohn Edgar Steiger, der in Leipzig die literarische Revolution mitgemacht hatte und nun gleichfalls in München sein Heil suchte. Er war acht Jahre älter als ich, eine seltsame Mischung aus sozialistischem Fanatismus, doktrinärer Philo­ logengelehrsamkeit, literarischem Zigeunertum und 269

sinnlicher Lebenslust. Wiewohl er über eine ansehn­ liche, formale Gewandtheit verfügte, blieb seine dich­ terische Produktion auf einzelne lyrische Gelegen­ heitssachen und satirische Zeitgedichte beschränkt; mit Versen der letzteren Gattung wurde er dann auch Mitarbeiter der «Jugend» und später des «Simplizissimus». Ausserdem trat er in literar-historischen und kritischen Aufsätzen für die naturalistische Be­ wegung ein und hatte damals in einem grösseren Buche das «Werden des neuen Dramas» geschildert. So wenig ich seine einseitige Begeisterung für den Naturalismus oder die Sozialdemokratie teilte, fand ich doch Gefallen an seinem sprühenden Tempera­ ment, und da auch ihm mein Wesen zusagte, ergab sich bald ein freundschaftlicher Anschluss. Einer meiner ersten Besuchsgänge führte mich zu meinem ehemaligen Gönner, dem Hofschauspieler Schneider, der jetzt eine Villa in dem Vorort Lud­ wigshöhe besass. Schon die bevorstehende Verwirk­ lichung meines Stückes, bei der ihm eine darstel­ lerische Aufgabe zufallen musste, liess mir die Wiederanknüpfung der alten Beziehung wünschens­ wert erscheinen. Auch hatte ich den berechtigten Unmut über sein früheres Verhalten längst ver­ wunden und ich konnte mir sagen, dass Possarts Entgegenkommen und die Annahme meines neuen Schauspiels gewiss alle Befürchtungen Schneiders zerstreut hätten, durch den freundschaftlichen Um­ gang mit mir in Ungnade zu fallen. Ich traf den Münchener Wallenstein bei rüstiger Schaufelarbeit in seinem Garten, trotz der Herzbeschwerden, die dem alternden Manne schon seit längerer Zeit zu schaffen machten. Unser Wiedersehen nach 10 Jahren — waren wir doch seit den Aufführungen des «Thor­ wald» nicht mehr zusammengetroffen — gestaltete sich ziemlich sonderbar. Mein Kommen schien Schneider mehr zu überraschen als zu erfreuen, und obwohl ich, ohne mich viel bemühen zu müssen, den herzlichen Ton aus unserer «Odysseus»-Zeit anschlug, 270

merkte ich doch schnell, dass seinerseits einer Wiederaufnahme der alten Vertraulichkeit noch Hemmungen entgegenstanden. Wahrscheinlich hatte er seinerzeit mein Wirken unter den literarischen Revolutionären, meine spiritistischen Extravaganzen und meinen Majestätsbeleidigungsprozess aufmerk­ samer verfolgt, als ich wusste; auch mochten ihn die Kühnheiten des «Messias»-Buches stutzig gemacht haben. Und bei nachträglicher Ueberlegung konnte ich mir denken, dass all das seiner einfachen Natur und seinem nüchternen norddeutschen Verstände ebenso kurios als unheimlich erschienen war. Dass er sich irgendwelche grotesken Vorstellungen von mir gemacht hatte, ging auch aus der Art hervor, wie er die schlichte Beantwortung seiner Frage nach meinen seitherigen Erlebnissen aufnahm; als ich da erwähnte, dass ich schon eine Frau verloren und eine zweite Ehe geschlossen hätte, lachte er, wie über einen tollen Witz, hell auf, sodass ich im Augenblick gar nicht wusste was ich aus solchem befremdlichen Be­ nehmen machen sollte. Uebrigens nahm unser Gespräch späterhin einen normalen Verlauf; er versprach, sich für die Rolle des Kaiser Karl zu interessieren, von der ich ihm sagte, dass ich sie jedenfalls von ihm verkörpert sehen möchte. Die Uraufführung des «Ersten Hofnarren» warf bald ihre Schatten voraus. Der Dramaturg des Hof­ theaters, Dr. Wilhelm Buchholz, ein mit drolligen Pedanterien behafteter, aber im Grunde doch warm­ herziger und wohlwollender älterer Herr, bestellte sich mit mir zusammen, um einige Kürzungen in Ord­ nung zu bringen. Auch konnte ich meine persön­ lichen Wünsche hinsichtlich der Rollenbesetzung äussern. Ich bat mir dringendst den prächtigen alten Häusser für den heiteren Philosophen aus, und die beste neugewonnene Kraft des Hofschauspieles, Fer­ dinand Suske, für den Dyskolos. Wusste ich doch, wieviel von einer verständnisvollen Verkörperung dieser beiden Gestalten abhing. Für die Titelrolle 271

nannte ich Mathieu Lützenkirchen, der damals noch jugendliche Helden spielte, für den Kaiser, der Ver­ abredung gemäss, Schneider. Der Vorschlag für die weiblichen Rollen bereitete mir grosse Verlegenheit. Hatte mich doch inzwischen der Besuch mehrerer Vorstellungen des Hofschauspiels mit der betrüblichen Tatsache bekanntgemacht, dass dessen Blütezeit vor­ bei war, und dass namentlich der weibliche Nach­ wuchs viel zu wünschen übrig liess. Für die Männer­ rollen setzte ich zunächst meinen Willen durch, aber die Leuba erhielt Fräulein Berndl, weil sie eine Schü­ lerin des immer noch sehr einflussreichen Oberregis­ seurs Savits war. Savits, der mich im übrigen jetzt gelten liess, und dann auf den Proben sogar Anlass nahm, mir allerlei Schmeichelhaftes über mein Stück zu sagen, bestand auf seiner Schülerin als der einzig für diese Rolle geeigneten Kraft. Und auch einige andere Mädchen- und Frauenrollen fielen unzuläng­ lichen Kräften zu. Ich suchte meine Befürchtungen durch den Gedanken an die vollwertige Vertretung der männlichen Hauptrollen zu beschwichtigen, die ja wohl das wesentlichste meines Schauspiels zur Geltung bringen könnte. Aber auch diese Hoffnung sollte mir wieder geraubt werden. Zwar mit Lützen­ kirchen schien zunächst alles auf gutem Wege; er zeigte grossen Eifer, den Wilfried ganz in meinem Sinne zu gestalten, liess sich meine Auffassung bis ins Einzelnste erklären; aber Häusser, der sein leb­ haftes Interesse an der zugeteilten Rolle mir in einem persönlichen Briefe zum Ausdrucke brachte, musste sie unmittelbar vor dem Beginn der Proben abgeben, da eine jähe Verschlimmerung seines Augenleidens ihm auf längere Zeit das Auftreten verbot; so kam der Pamphilos an Fritz Basil, vor allem, weil dieser gewandte, aber eigentlich mehr im modernen Ge­ sellschaftsstück heimische Schauspieler ein Herkules im Memorieren war und die umfangreiche Rolle in kürzester Frist bewältigen konnte. Freilich aber zu dem inneren Wesen der Gestalt gewann er keine 272

rechte Fühlung, sein Pamphilos blieb eine Art behag­ licher Lustspielonkel, und so erwies sich der Ver­ lust Häussers für mich als schwerer Schlag. Immerhin konnte ich mich auf den Proben noch an der charakteristisch kraftvollen Verkörperung des pessimistischen Philosophen durch Meister Suske freuen, so empfindlich mich auch die Leistungen fast aller anderen Mitwirkenden enttäuschten. Nun aber traf mich ein neuer Schlag. Auf der Generalprobe brach mitten im Spiel der schon seit Jahren herz­ leidende Suske plötzlich ohnmächtig zusammen, er musste nach Hause geschafft werden, erkrankte ernstlicher, und an seine Mitwirkung war auf ab­ sehbare Zeit nicht mehr zu denken. Es lag nahe, die Aufführung unter solchen Umständen zu vertagen; allein Possart wollte keinen längeren Aufschub, in der Zuversicht, dass meinem Stück auch bei noch ungün­ stigerer Wiedergabe ein starker Erfolg sicher wäre. Er dekretierte, dass Geis, der bekannte Beckmesser der «Meistersinger», der damals gelegentlich auch im Schauspiel, aber nur in komischen Röllchen mit­ wirkte, den finsteren Dyskolos übernehmen müsste: vor allem auch nur wieder, weil er in Memoriertüch­ tigkeit mit Basil wetteiferte. Natürlich sprach ich meine Bedenken dagegen aus, doch Possart behaup­ tete, «unser vortrefflicher Geist» werde die Aufgabe glänzend lösen, und die schon für den Folgctag an­ gesetzte Première könne unter keinen Umständen mehr abgesagt werden. So musste denn der arme Beckmesser über Nacht die ganze düstere Dialektik des Weltverneiners sich einpauken! Er tat das mit heroischer Gewissenhaftigkeit, und blieb dann bei der Aufführung erstaunlicherweise keinen Vers schul­ dig, auch bewahrte ihn seine schlagfertige Intelligenz vor allzu störenden Missgriffen; aber bei der grotes­ ken Ueberstürztheit seiner Leistung und bei dem schroffen Gegensätze, der zwischen dieser hochpathe­ tischen Aufgabe und seinem gewohnten Rollengebiet bestand, konnte er naturgemäss nicht mehr geben 18

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als ein oberflächliches Andeuten. Doch glaube man ja nicht, dass sich mein unerhörtes Missgeschick bei dieser Aufführung mit den beiden grausamen Zwi­ schenfällen schon begnügt hätte! Als ich mich abends hinter den Kulissen eingefunden hatte, langte Schnei­ der schlotternd vor Fieberfrost an und erklärte mir keuchend, er komme nur mir zuliebe und zur Er­ möglichung der Aufführung; wie er die Rolle in sol­ chem Zustand durchführen könne, wisse er selber noch nicht Tatsächlich musste dann auch er sich auf ein notdürftiges Markieren beschränken und da­ bei liess ihn oft sein Gedächtnis im Stich, während Publikum und Kritik keine Ahnung von allen Schwie­ rigkeiten hatten, denn die Nachsichterbittung durch den Regisseur wollte man bei einer Uraufführung unbedingt vermeiden. Anderntags veröffentlichte dann Schneider eine Notiz, in der er die Mängel seiner Leistung durch Hinweise auf seine Erkrankung ent­ schuldigte; mir aber konnte diese nachträgliche Auf­ klärung nicht mehr nützen. Es sollte aber noch schlimmer kommen. Fräulein Soboda zog sich, als sie sich vor dem Marienbilde niederwarf, eine Verletzung am Arme zu und konnte vor heftigen Schmerzen ihre Rolle kaum zu Ende spielen, was dem zweiten Akt­ schluss alle Wirkung raubte! Und zu all dem Unheil fand sich gleich am Beginn des 4. Aktes die Theater­ katze im Vordergrund der Szene ein und wollte nicht mehr von der Bühne weichen. Das Publikum wandte natürlich sofort seine Aufmerksamkeit dem Eindring­ ling zu und die vergeblichen Versuche der ärger­ lichen Darsteller, das Tier während der Weiter­ führung des Liebesgesprächs durch Fusstösse zu ver­ scheuchen, steigerte die allgemeine Heiterkeit, sodass auch dieser Akt verloren ging. Bei solcher tollen Häufung von Unfällen konnte niemand ohne gründ­ liche Buchkenntnis ein Bild von dem Stück gewin­ nen, und es war nur selbstverständlich, dass der an­ fangs freundliche Beifall von Akt zu Akt lauer wurde. Possart, der unter uns erschien, bestritt bis zuletzt 274

ein Ausbleiben des erwarteten grossen Sieges. Wahr­ scheinlich suchte er damit den Vorwurf zu ent­ kräften, dass er durch die Erzwingung der Auffüh­ rung unter denkbaren übelsten Voraussetzungen das Stück ans Messer geliefert habe; trotzdem behauptete sich am Schluss der Beifall noch so weit gegen den Widerspruch, dass ich dankend erscheinen konnte. Das massgebende Referat der «Neuesten Nach­ richten» hatte kurz vorher Edgar Steiger erhalten und wenngleich ich ihm als einseitigem Hauptmannianer nicht viel Sympathie für mein ausserhalb aller Zeitmode stehendes Stück zutraute, so durfte ich doch eine gerechte Hervorhebung alles dessen erwar­ ten, was die verschiedenen Zwischenfälle verschuldet hatten. Aber Steiger brachte nichts von all dem zur Sprache. Als uns nach Wochen ein Zufall wieder zusammenführte, verzichtete ich auf jede Auseinan­ dersetzung und verkehrte dann in aller Gelassenheit weiter mit ihm, ohne auf die Angelegenheit zurück­ zukommen. Mancher wird das unbegreiflich finden und wäre in meiner Lage schon durch die Schädigung aus Verständnislosigkeit und Gleichgültigkeit zum Abbruch der Beziehungen veranlasst worden. Allein mir war von jeher die Vorstellung unerträglich, dass mein Umgang mit irgend wem von seinem Urteil über meine Arbeiten abhängen sollte. Uebrigens hat die hemmungslose Subjektivität Steigers, so schwer sie mich damals schädigte, bei einer späteren Gelegenheit mir auch genützt, wovon noch die Rede sein wird. Die übrigen Kritiken fielen teils besser, teils gröber aus als die Steiger’sche. Einzelne Berichte, auch an auswärtige Blätter, rühmten das Problem des Stücks «gross und erhaben», bewunderten «die weite und reiche Gedankenwelt», eine radikal anerkennende Be­ sprechung des Buches durch J. V. Widmann im Ber­ ner «Bund» bezeichnete das Stück als eine Dichtung, die «nicht nur gelesen und gelobt», auch auf grossen Bühnen aufgeführt zu werden verdiene. Possart aber war nicht der Mann dazu, seine Mitschuld an dem 275

unerfreulichen Ergebnis gutzumachen und in zähem Kampf weiterhin für das Werk einzutreten, wie das später für andere nach heillosestem Durchfall an so manchem Theater geschah. Der verunglückte Pre­ mierenabend und die abfällige Kritik in den «Neuesten Nachrichten» genügten, um den «Ersten Hofnarren» auf absehbare Zeit zur Todesruhe zu verurteilen....... Im Frühjahr 1899, als auf dem «Nockherberg» der berühmte Salvator-Quell sprudelte, fand ich mich dort an einem sonnheilen Nachmittag mit den alten Genossen und mit Liliencron zusammen, der zu kur­ zem Besuch nach München gekommen war. Wir stan­ den da mit unseren schäumenden Masskrügen vor dem Kellergebäude im Freien, feierten das Gedächtnis unserer Revolutionszeit und liessen unsere «histori­ sche» Gruppe knipsen. Schliesslich hielt auch ich eine Ansprache. Aber mitten unter meinen schwungvoll­ sten Ausführungen trat ich, mit dem Rücken gegen den Steilhang des Hügels stehend, unversehens ins Leere und stürzte rücklings gegen den Holzzaun ab. Der ersten zwerchfellerschütternden Ueberraschung über mein zauberhaftes Verschwinden folgte ernste Besorgnis auf dem Fusse. Hätte ich doch leicht das Genick brechen können. Aber so konsequent sich mein Missgeschick in jeder anderen Beziehung erwiesen hat, so viel Glück hatte ich zeitlebens in körperlichen Gefahren. Als ich einmal während eines Frühlings­ sturmes in raschestem Tempo durch die Augustenstrasse ging, sauste ein losgerissener Fensterstock so dicht vor mir herab, dass er mir die Stiefclspitze glatt abschlug. Ebenso ging es in anderen gefährlichen Situationen. Bald nach unserem Zusammensein auf dem Nockherberg verliess Schaumberger München, um die Redaktion eines auswärtigen Blattes zu übernehmen. Er empfahl mich dem «Berliner Börsen-Couricr» als geeignetsten Nachfolger im Münchener Theater- und Kunstreferat. 276

Meine dramatische Produktion war nach der Vol­ lendung des «König Konrad» und den ersten disponie­ renden Entwürfen zum «König Heinrich» wieder ins Stocken geraten. Jetzt drängte mich ein ganz anders­ artiger dichterischer Vorstellungskreis zur Gestaltung, dem als einzige äussere Anregung die Abbildung eines nordischen Steingrabs in irgend einem Buche über den vorgeschichtlichen Menschen zugrunde lag. Un­ willkürlich verbanden sich mir mit dieser schlichten Zeichnung Phantasien und Gedanken über die mög­ liche Stellungnahme damaliger Wanderstämme zur Frage der persönlichen Unsterblichkeit und zu den eng damit verknüpften ethischen Problemen. Mir tauchte da die innere Entwicklung eines elementaren Wahr­ heitssuchers gegenüber der zweckdienlich beschöni­ genden Priesterüberlieferung auf, eines auch damals schon möglichen Vertreters des freien Erkenntnis­ drangs, der die kühn erzwungene Aufklärung mit persönlicher Verzweiflung bezahlen muss, aber auf diesem Wege auch zum Bewusstsein seiner unwür­ digen Eigenliebe gelangt und dann in ebenso tragi­ scher als heroischer Selbstüberwindung zum Heile seiner Volksgenossen die schönen, tröstlichen und ethisch fruchtbaren Illusionen weiter bekräftigt. Kein sagenhaft maskiertes Tendenzstück über das Thema «Dem Volke muss die Beligion erhalten werden» schwebte mir vor, sondern wirklich nur ein Drama aus der Urzeit, entwickelt aus deren besonderen ein­ fachen Voraussetzungen und naiven Vorstellungen. Demgemäss konnte auch der symbolische Gehalt, der sich ganz von selbst ergab, durchaus nicht eine pessi­ mistische Trostlosigkeit als den «wahren» Stand der Dinge und eine Notlüge als die letzte ethische und politische Weisheit verkünden, vielmehr zeigte er nur, wie das Edle in der Menschennatur eine Sache des Willens und nicht des Intellektes ist, unabhängig von den jeweiligen Ergebnissen der Erkenntnis und un­ ter allen Umständen, sei es auch durch Selbstauf­ opferung, über sie triumphierend. Ich schrieb das 277

kleine Drama, das den Namen «Die Verdammten» erhielt, während der Abendstunden weniger Tage in einer Gaststube im «Thal» nieder; als Form dafür ergab sich mir ganz von selbst eine rhythmisch bewegte Prosa. Als es vollendet vorlag, machte ich meine Frau damit bekannt, die es sehr hoch stellte; doch war ich neugierig, seine Wirkung auch auf andere Naturen zu erproben. So luden wir denn Max Halbe und Steiger mit ihren Frauen, ausserdem Schaumberg und Weinhöppel und einige andere für einen Abend in unser enges Heim, und ich las dem kleinen Kreise mein neues Opus vor. Der Effekt war ein recht geringer; allerdings hatte ich nach dem Urteil meiner Frau herzlich schlecht gelesen. Die Gäste wussten augenscheinlich mit meinen alten Kelten nicht viel anzufangen; Halbe sagte nur vieldeutig, es sei «ein echter Gumppenberg», der naturalistische Steiger meinte mit geringschätziger Miene, es sei «eben ein Märchen», und die übrigen schwiegen sich aus. Objek­ tiv wie ich geworden war, interessierte mich diese «kühle Aufnahme» nur als psychologisches Problem, statt mich bitter zu stimmen oder gar an der Sache irre zu machen: und da der «Akademisch-dramatische Verein», mit dem ich nun bereits einige Fühlung ge­ wonnen hatte, an seinen literarischen Abenden auch Vorlesungen neuer Bühnendichtungen veranstaltete, wandte ich mich an eines seiner eifrigsten Mitglieder, den gescheiten und talentvollen, schon damals der Schauspielerlaufbahn zustrebenden Bernhard von Jacobi mit der Bitte, die «Verdammten» bei einer solchen Gelegenheit zu Gehör zu bringen. Er fand sich bereit, das Stück machte in der schlicht-verständigen Interpretation des Vortragenden so starken Eindruck, dass der Verein beschloss, es zusammen mit der Hedwig Lachmann’schen Verdeutschung von Oscar Wilde’s «Salome» im Schauspielhause zur Urauffüh­ rung zu bringen. Für die wichtige Bolle der Morna setzte ich die temperamentvolle Frau Bardou-Müller durch, die zu den hervorragendsten Kräften des Schau278

spielhauses zählte; der Kathmor wurde dem Schau­ spielhausmitglied Adolf Mehner, der Usmoth dem Vereinsmitglied und angehenden Schauspieler Hans Blum zugeteilt, den schwärmerischen Gelamma über­ nahm Bernhard Rehse, der dann später selbst als Bühnenschriftsteller hervorgetreten ist, den Dermid der nachmalige Hofschauspieler Julius Stettner, den Barden Fonar August Weigert, die übrigen kleinen Nebenrollen wurden von Mitgliedern des Schauspiel­ hauses besetzt. Für die Menge der Keltenkrieger stell­ ten sich Vereinsmitglieder in stattlicher Zahl zur Ver­ fügung, und als Regiebeirat wurde — übrigens ohne mein Zutun — der Hofschauspieler Schneider gewon­ nen. Ich sprach mit ihm erst auf den Proben über das Stück, und er äusserte sich da über die vermut­ liche Wirkung mit vorsichtiger Zurückhaltung. Ich selbst aber gewann schon während des Einstudierens frohe Zuversicht. Wiewohl die mitwirkenden Anfän­ ger und Dilettanten bei allem Feuereifer kein volles Zurgeltungbringen verbürgen konnten und eigentlich nur die Bardou-Müller ihrer Aufgabe ganz gewachsen war, spürte ich doch, dass schon der Vorgang allein mitreissen müsse. Der Abend, den mein Einakter eröffnen sollte, kam heran; er brachte den «Verdammten» einen ehrlichen und lauten Erfolg. Ich musste wiederholt für den starken Beifall danken, und da auch die preziöse Dämonik des Wilde’schen Stückes in geschickter Wieder­ gabe und glücklichem szenischen Rahmen ausseror­ dentlich gefiel — in der Titelrolle fesselte die bald darauf verstorbene Münchnerin Jenny Rauch vom Wiesbadener Hoftheater durch rassiges Temperament — konnte der wackere Verein einen entschiedenen Doppelsieg buchen. Ich war natürlich in freudigster Stimmung, zumal Schneider, von der Wirkung meines Stückes überrascht, mir nun impulsiv erklärte, es sogleich zur Annahme für das Residenztheater empfeh­ len und dort die Rolle des Usmoth übernehmen zu wollen. Für die «Salome» konnte er nicht in gleicher 279

Weise eintreten, da sie sich für das damals noch sehr züchtige Hofschauspiel verbot. Als ich nach der Vor­ stellung die Bar der «Vier Jahreszeiten» aufsuchte, wo die Darsteller vom Verein den Sieg feierten, begrüssten mich die abgeschminkten Keltenrecken mit dem schallenden Chorruf «Segne die Waffen, Ullin!» sodass die verblüfften profanen Gäste des Lokals gar nicht wussten, was sie aus der seltsam klingenden Huldigung machen sollten ... Inzwischen war in der literarischen Modenwelt der kaum erst zum Sieg gelangte Naturalismus schon wie­ der «überwunden» worden; «Symbolismus» und «Neu­ romantik» zogen mit flatternden Fahnen ein und brachten die Phantasie und den Vers wieder zu An­ sehen: freilich aber jetzt im Dienste eines mehr oder weniger affektierten Artistentums, das mir noch ferner lag als der geistig und seelisch unfruchtbare Wirklich­ keitsabklatsch. Am erträglichsten erschien mir diese Artistik noch, wo sie nur preziös unterhaltliche, über­ mütig heitere und schlechthin groteske Kleinkunst bieten wollte; so fand ich trotz allem einige Anpas­ sungsmöglichkeiten, als auf Anregung Bierbaums, der nun seine Gusti an einen Hausfreund verloren, aber seinen Humor darüber nicht eingebflsst hatte, der Kult der «zehnten Muse» des «Ueberbrettls» aufgekommen war. Bekanntlich sollte damit das Variété künstlerisch geadelt werden, nach dem Vorbild der Pariser Cabarette, doch auch in heimischer Umbildung und Bereicherung. Wie dieser neue, deutsche Frühling der Bohème in Berlin mit Bierbaums kurzlebigem «Intimen Theater» und Ernst von Wolzogens erfolgreicherem «Bunten Theater» seine zierlichen und launischen Blüten trieb, so hatte sich gleichzeitig, ja noch etwas früher in München eine Anzahl jüngerer und jüngster Literaten, Musiker und Künstler zum Unternehmen der «Elf Scharfrichter» zusammengetan. Im Quartier latin Isarbabels, im Café Stephanie an der Theresienstrasse, das als Treffpunkt des selbstbewussten Nachwuchses um jene Zeit den Spottnamen «Café Grössenwahn» 280

erhielt, und in einer daneben betriebenen, jetzt längst verschwundenen Weinstube wurde der Plan ausge­ brütet. Das grosse Wort führten dabei drei junge Poeten: der Rheinländer Otto Falckenberg, der dann zur Zeit des Weltkrieges Direktor der Münchener Kammerspiele geworden ist, der aus Siebenbürgen zugewanderte Leo Greiner und Willy Rath, dessen Eltern in Wiesbaden ein Variété besassen, sodass er von klein auf Brettl-Luft geatmet hatte. Den Anschluss an die Pariser Kabarettkunst vertrat der bewegliche junge Literaturzigeuner Marc Henry, recte: Aristide Vaucheret, der in München bereits als Herausgeber der zweisprachigen «Revue franco-allemande» bezw. «Deutsch-französischen Rundschau» für die versöhn­ liche und friedenssichernde Annäherung der Nachbar­ völker wirkte oder doch zu wirken schien. Das schmachsücht'ge Buch, das er dann während des Welt­ krieges als Heimgekehrter über Deutschland veröffent­ lichte, hat seine damalige Verbrüderungsgeste in ein sehr zweifelhaftes Licht gerückt; bei seiner Intelligenz und seiner ungewöhnlichen Kenntnis der deutschen Zustände lässt sich nicht annehmen, dass der Krieg sein wirkliches Urteil dermassen verändert hätte; entweder bestimmte nur die platte Augenblicksnütz­ lichkeit sein jeweiliges Verhalten, oder man müsste glauben, dass er zu den zahlreichen französischen Spionen zählte, die schon lange vor dem Weltkrieg im arglosen Deutschland gute Kameraden spielten. Erwies sich doch auch mein ehemaliger PagerieInspektor Monsieur Savaete, dessen kindlich-naiv an­ mutende Fröhlichkeit uns Zöglinge belustigt hatte, gleich am Anfang des Krieges mehr als verdächtig, noch ganz andere Dinge inspiziert zu haben ... Das Münchener Cabarett sollte neben der Darbie­ tung verschiedenartigster dichterischer und musikali­ scher Kleinkunst vor allem auch eine freimütige und frohlaunige, durch Phantastik gewürzte Kritik an allen Zeiterscheinungen üben; seine vier ideellen Be­ gründer und sieben alsbald sich anschliessende För­ 281

derer des Plans kamen daher überein, es auf den bereits erwähnten grimmigen Namen zu taufen und in entsprechende altdeutsche Henkerromantik einzu­ kleiden. Jeder von ihnen legte sich einen unheimlichen, ans Mörderische gemahnenden Namen bei, ein grausi­ ger Chorgesang und Grotesktanz der Elf in scharlach­ roten Talaren und mit blanken Richtbeilen sollte jede «Exekution» einleiten, auch beschloss man, im Zu­ schauerraum einen «Schandpfahl» aufzustellen, der, sinnreich geziert mit dem abgeschnittenen Zopfe und Perückenskalp der Rückständigkeit, verschimpfierende Plakate gegen allerlei bekämpfte Uebelstände auf­ nehmen sollte. Als geeigneten Raum für die «Exe­ kutionen» fand man ein Sälchen im Gasthof zum «Hirschen» an der Türkenstrasse des Theresienviertels; es konnte freilich nur knapp hundert Zuschauer­ plätze fassen, doch entsprach das gerade den Ab­ sichten, denn der intime Charakter sollte gewahrt werden. Man baute eine kleine niedliche Rühne ein, errichtete die Schandsäule und dekorierte die Wände mit entsprechend grotesken Radierungen von Rops und Rlättern aus den Mappen der «Insel» sowie mit den Gipsmasken der elf «Scharfrichter». Zu ihnen zählte äusser Falckenberg (Peter Luft), Greiner (Diony­ sius Tod), Rath (Willibaldus Rost) und Henry (Ralthasar Starr), vor allem mein alter Freund Weinhöppel (Hannes Ruch), der sich als Kapellmeister und Lieder­ komponist mit Feuereifer in den Dienst der Sache stellte, dann der junge Rechtsanwalt Robert Kothe (Frigidius Strang), der seiner wenig einträglichen Praxis ziemlich satt geworden war, schon seit Jahren in den schöngeistigen Zirkeln als Sänger, Geiger und Deklamator sich hören liess und jetzt gerne die Gele­ genheit zu intensiverer Kunstübung ergriff; ferner der Architekt Langheinrich (Max Knap), der die Bühne mit allen nötigen technischen Einrichtungen mon­ tierte und auch die sonstige Ausstattung des Sälchens übernahm, sowie die beiden jungen Bildhauer Hecker 282

und Hüsgen (Till Blut), von welchen letzterer die Scharfrichtermasken, ersterer die ziemlich grossen und sehr lustigen Puppen zu einem Marionettenspiel herstellte, das mit seinen Personifikationen der euro­ päischen Mächte zu regelmässiger satirischer Verulkung der politischen Tagesereignisse dienen sollte. Ferner schloss sich auch Frank Wedekind an, im Galgenhumor und Erwerbsbedürfnis seiner damals noch immer wenig rosigen Lage; schon in einer der ersten Exekutionen löste er als Lautensänger Weinhöppel ab, der zwar ein Meister auf der «Klampfe» war, aber für die weichlyrischen Sachen, die er zu Gehör bringen sollte, nicht mehr die entsprechend klangvolle Stimme besass. Wedekind, der übrigens auf einen Scharfrichternamen verzichtete, war gewiss kein grosser Sänger vor dem Herrn, und als Lauten­ spieler damals noch dilettierender Anfänger, aber für die schlichten Weisen, die er sich zu seinen eigenen Bänkelliedern und Moritaten zurecht gelegt hatte, reichten sein Organ und seine Technik aus, und das seltsame, verhalten-satanische Gepräge, das er seinem Vortrag zu geben wusste, zog das originalitätssüchtige Publikum schnell in seinen Bann. Äusser ihm erbot sich von dem älteren Münchner Kreise auch der Lyri­ ker Ludwig Scharf zu regelmässiger Mitwirkung; seine schwerblütige Muse hatte zwar seither nicht viel neue Töne gewonnen, doch eigneten sich seine Proletarier-Monologe und absonderlichen kosmischen Phantasien recht gut als wirksamer Kontrast zu den Ueberzierlichkeiten der Scharfrichterprogramme, wo­ bei seine ungewöhnliche äussere Erscheinung und seine nachdrückliche, dumpfgrollende Vortragsweise ihnen noch aparten Reiz gaben. Als Hauskomponist erhielt Weinhöppel bald noch weitere Konkurrenten, namentlich den Venetianer Leonhard Bulmans, doch auch den vielseitigen, zugleich als Schwankpoet und Darsteller sich betätigenden Paul Schlesinger, einen Bruder des nachmaligen Münchener Generalmusik­ 283

direktors Bruno Walter; ausserdem machte gelegent­ lich noch der bekannte Lisztschüler Bernhard Stavenhagen unter dem Namen Hans Styx als Parodien­ komponist mit. Der Maler Murri unterstützte Langheinrich im Dekorativen; in verschiedener Weise be­ tätigte sich der blutjunge Literaturzigeuner Heinrich Lautensack, als Poet, Uebersetzer, Darsteller, Inspi­ zient, Souffleur und Jüngling für alles. Für grotesk­ humoristische Deklamation gewann man weiter eine sehr originelle und witzige Kraft in dem Maler, Modellierer und Tausendkünstler Mantels (Arcus Troll), als Sänger erst den Bassisten Emanuel Franz, den später der Maler Quidemus (Peter Quidam) ablöste, sowie den Maler Heinrich Rettig mit seinem wohlgeschulten Bariton und den Tenor Hans Dorbe. Für den Vortrag politisch-satirischer Couplets fand sich als trefflicher Vertreter der behaglich-humorvolle Beamte Schatten, für Hauptrollen der aufgeführten Groteskstückchen der schon als Mitverwirklicher meiner «Verdammten» erwähnte Bernhard Rehse, dann der strebsame junge Schauspieler Karl Neubert, der nachher ein beliebtes Mitglied des Münchener Volks­ theaters geworden ist, und der Komiker Larsen, ein armer Komödiant mit Familie und ohne Engagement, für den die «Scharfrichter» geradezu eine Lebensret­ tung bedeuteten. Auch der junge Franz Kaibel, der später als Bühnenschriftsteller und Ergänzer des Schillerschen «Demetrius» bekannt wurde, schloss-sich eine Zeit lang als Liederdichter und Darsteller dem Bunde an, und als Sänger französischer Kabarettlieder trat neben Henry auch der Pariser Clöment-George auf. Von weiblichen Kräften stellten sich vor allem drei Sängerinnen in den Dienst der Sache: die elsässi­ sche Freundin Henrys, Marya Delvard, fürs blümerant Pathetische, die geschmackvolle und wienerisch heitere Frau Gutmann-Umlauft für feinere Humoristika und die niedlich-lustige Olly Bernhardi für den leicht­ füssigen Uebermut; ausserdem gewann man für Rezi­ tationen Marie von Bülow und Ria Classen, und für 284

die weiblichen Rollen der Stücke neben einigen Berufs­ schauspielerinnen auch die Frau Willy Raths, die selbst Variété-Künstlerin gewesen war, sowie andere junge Frauen und Mädchen des Scharfrichterkreises, die sich dafür anstellig zeigten. Als Conférenciers nach Pariser Muster fungierten abwechslungsweise Henry, Falckenberg und Greiner. Ich selbst war durch Falckenberg, den ich im «Akademisch-dramatischen Verein» kennen gelernt hatte, Weinhöppel und Willy Rath in die ersten grund­ legenden Besprechungen mit hineingezogen worden, ohne mich doch zu unmittelbarer persönlicher Beteili­ gung an dem Unternehmen entschliessen zu können. Dagegen sah ich bei dem Bedürfnis der «Scharfrich­ ter» nach kleinen Grotesk-Stücken willkommene Mög­ lichkeiten, meinem Hang zu vergnügter Satire die Zügel schiessen zu lassen. Die Gelegenheit zu schnell­ ster Verwirklichung dramatischer Scherze solcher Art war verlockend genug, und es hatte sich in mir so viel Spottlust über die neuen und neuesten literari­ schen Modenarrheiten und andere Erscheinungen des modernen Lebens angesammelt, dass meine leichte und üppige Produktion auf diesem Gebiete mir eine nicht zu verachtende Nebeneinnahme schaffen konnte, ganz abgesehen von der heiteren seelischen Befriedi­ gung, die sie mir gab. So wurde ich, unter dem Pseudonym Jodok, Mitarbeiter des Unternehmens. Mit Sorgfalt vorbereitet und durch effektvolle Plakate von Künstlerhand angekündigt, verlief die Eröffmmgs-«Exekution» bei ausverkauftem Sälchen durchaus günstig, wenngleich die mitwirkenden Intel­ lektuellen sich ans öffentliche Auftreten erst gewöhnen mussten und daher an jenem Abend bei allem Wage­ mut noch einige befangene Unsicherheiten zeigten, die nicht recht zu ihrem Henkerstitel passen wollte. Zur Einleitung wurde nach Weinhöppels Komposition von den elf Unheimlichen im Talar der geplante Scharf­ richtertanz vorgeführt; sein Text stammte von Leo Greiner und hob an: 285

«Erbauet ragt der schwarze Block, Wir richten scharf und herzlich! Blutrotes Herz, blutroter Rock, All unsre Lust ist schmerzlich .. . Wer mit dem Tag verfeindet ist, Wird blutig exequieret, Wer mit dem Tod befreundet ist, Mit Sang und Kranz gezieret.»

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Ich hatte das Mystodrama «Der Veterinärarzt» bei­ gesteuert, das die total unverständliche, aber sehr wichtigtuende Geheimniskrämerei verulkte, die bei den Ibsenisten und Maeterlinckianern in Schwung ge­ kommen war; ausserdem hatte ich für Frau GutmanUmlauft ein exotisches Grotesklied «Lucrezia» ge­ schrieben, und Weinhöppel hatte es mit prickelnder Eleganz vertont. Das Stück wurde von Falckenberg, Rehse, Kothe, Frau Rath und anderen mit paro­ distischem Humor verkörpert und fand heiterste Auf­ nahme, auch das Lied hatte in sehr glücklichem Vor­ trag lebhaften Erfolg, sodass ich für meinen Teil zu­ frieden sein konnte, und mich zu weiteren Grotesken angeeifert fühlte. Auch alle die übrigen Nummern des Programmes fesselten das Publikum, die Zweifel­ sucht, die ja jeder neuen Sache entgegensteht, gab sich mehr und mehr gefangen, von «Exekution» zu «Exe­ kution» wuchs der Beifall, Stimmung und Behagen stellten sich ein, und bald zogen die Feinschmecker, einen Abend bei den «Scharfrichtern» anderen Ge­ nüssen vor. Der gewonnene Kontakt äusserte sich auch darin, dass manche Gäste noch über den Vorstellungs­ schluss hinausblieben und sich an der zwanglos ver­ gnügten Geselligkeit beteiligten, zu der sich das Künstlervölklein nach getaner Arbeit vereinte. Der dramatische Spielplan gestaltete sich vielseitig genug; die Eigenproduktion des Kreises wechselte mit Dramolets anderer deutscher Modernen, mit Uebertragungen und Bearbeitungen geeigneter französischer Stückchen und mit literarischen Ausgrabungen ab. So gab man, um nur einiges anzuführen, Goethes «Satyros», H. L. Wagners «Evchen Humbrecht» und Hans 286

Sachsens «Der Bauer im Fegefeuer», Louis Marsolleaus Anarchisten - Schauerscene «Verstörtes Fest» und Courteline’s «Goldene Hochzeit» in Bearbeitung von Greiner, ein Armeleutestück «Unter sich» von Her­ mann Bahr, Hartlebens Ibsenparodie und einen gro­ tesken Einakter «Die schwarze Flasche» von dem in München lebenden kurländischen Dichtergrafen Eduard Keyserling, allerlei von Falckenberg, wie die Tanzgroteske «Der Verliebte», den Dialog «Das Ge­ ständnis», die Zwischenaktskomödie «Die Premiere» und ein Melodram ohne Worte «Der böse Traum», dann von Schlesinger ein «Musikdrama» zur Wagner­ frage «Die Meisterdichter von Berlin» und eine derbe Satire «Die Verschönerungscommission», dazu kamen noch Wedekinds «Kaiserin von Neufundland», später auch Teile seines Lulu-Dramas in der ursprünglichen Fassung, und von mir nach dem «Veterinärarzt» noch eine ganze Reihe von «Ueberdramen», die sich in tollen Zerrbildern nicht nur über die bereits vorliegenden Stilexperimente der Tagesmode, auch über etwa noch mögliche Zukunfts-Rezepte lustig machten. Besonders wirksam erwies sich von diesen das Monodrama «Der Nachbar» mit seinem einzigen mörderischen Satze, doch hätte dieser Ulk später dem Bildhauer Hüsgen, der darin das Dienstmädchen verkörperte, beinahe das Leben gekostet, denn auf einer Gastreise der Scharf­ richter — ich glaube, es war in Darmstadt — versagte im entscheidenden Augenblick der Apparat, der die Erhängungsaktion unschädlich gestalten sollte, der Arme hing ganz ernstlich in der Schlinge, und wenn seine Not nicht gerade noch rechtzeitig bemerkt wor­ den wäre, hätte er seine mimische Opferwilligkeit grausam büssen müssen. Von den anderen «Ueber­ dramen», die ich damals in schnellster Folge ver­ brach, gelangten noch zur Aufführung das Etepetetodrama «Die Verlobung», das dem Prozess des Räubers Kneissl gewidmete Juristodrama «Die glückliche Kur», das retrospektive Drama «Die erste Hilfe», das Logo­ drama «Das Spitzhütlin» (eine Dramatisierung meines 287

früher erwähnten Philosophenscherzes), das Leit­ motivdrama «Das Glück im schiefen Winkel« mit sei­ ner gesprochenen Ouvertüre und seiner Kollektiwerulkung von Wagner, Ibsen, Sudermann, Otto Ernst und anderen, ferner die ausschliesslich in Fragesätzen ge­ schriebene «Nachbarin» (das mir unwillkürlich so naturalistisch geriet, dass die ständige Frageform garnicht im beabsichtigten Masse auffiel) und ein über­ lakonisches Fünfminutendrama «Bella». Lezteres führte in ebenso vielen Akten als Minuten das Vonstufezustufesinken einer «Tochter aus guter Familie» vor, die nach entsprechenden Abenteuern in Paris und London schliesslich Jack dem Aufschlitzer verfällt. An die vormittägige Hauptprobe der Aufführung dieses Stückchens, in dem Leo Greiner mit grimmigem Schlächtermesser bewehrt den Jack gab, knüpfte sich mir eine gar drollige Erinnerung. Wedekind, der sich sonst nur um seine eigenen Nummern zu küm­ mern pflegte und meine «Neuheit» noch nicht kannte, war da zufällig anwesend und sah sich, neben mir in dem Miniaturparkett sitzend, das Spiel an. Er zeigte dabei von Akt zu Akt mehr stumme Betroffenheit, ja Geknicktheit, und als ich schliesslich nach der Ur­ sache frug, erklärte er mir, dass es ja ganz das näm­ liche Stück sei, das er eben selber geschrieben, und das ich, ahnungslos und doch ahnungsvoll, im voraus parodiert hatte. Die Uebereinstimmungen mit der ■ «Büchse der Pandora» konnten, wie sich dann spä­ ter zeigte, in der Tat verblüffend wirken, erstreckten sie sich doch auch auf den wechselnden Schauplatz in Paris und London. Ucbrigens zählte die «Bella» zu den schwächeren Kindern meiner Groteskmuse, sie hat sich auch nicht lange auf dem Spielplan erhallen und ist Wedekind daher nicht so unbequem geworden, wie er damals befürchten mochte. Die Aufführung einiger anderer «Ueberdramen», an denen mir mehr gelegen war, scheiterte an diesen und jenen Schwie­ rigkeiten, so die des fünfundzwanzigakligen FrescoGeschichtsdramas «Napoleon» am Personalmangel 288

und den Kostümkosteri, die des «Spukhauses» an der Befürchtung banaler Missdeutungen; auch die dar­ winistische Affen-Klownerie «Die Entwicklung» blieb zu meinem Leidwesen unverwirklicht, obschon ihre plastische Urwalddekoration bereits mit vieler Mühe hergestellt war; noch im letzten Augenblick streikten nämlich die zur Mitwirkung bestimmten Damen, Marya Delvard als anspruchsvolle Primadonna an der Spitze, gegen die Durchführung der AeffinnenRollen. Nicht dass ihnen dabei kecke Entblössungen zugemutet gewesen wären (in diesem Falle hätten sie auch, bei den freien Sitten des Kreises, kaum Schwierigkeiten gemacht): nein, sie fürchteten ledig­ lich, in den Tierfellen und Aeffinnenmasken lächer­ lich zu erscheinen. Es zeigte sich da deutlichst, dass der Geist der Bohême zwar alle anderen Grenzen, aber nicht die der weiblichen Eitelkeit verrücken konnte. Dagegen wurde eine drastische MaeterlinckParodie «Monna Nirwana», zu der mich die damaligen Münchener Aufführungen des bekannten Sensations­ stücks anregten, mit kräftigem Humor und lautem Lacherfolg dargestellt, freilich mit Larsen in der Hauptrolle der lüstern-fetten Schönheit von ehedem, denn eine von den Damen hätte sich auch für diese Aufgabe nicht gewinnen lassen; der Komiker machte aber seine Sache recht gut, und auch Greiner als vergnügter Gatte, der das Scheusal glücklich los wird, und Neubert als schneidiger und bitter enttäuschter Kondottiere gaben dabei von ihrem Besten. So dank­ bar das Publikum und auch die Tageskritik alle diese bald derberen, bald feineren Ausgeburten meiner Spottlust begrüsste, für mich selber bedeuteten sie nur Gelegenheitsscherze, die ich künstlerisch wenig ernst nahm, wenn ich sie auch in mehr als einem Betracht nützlich empfand: vor allem als Mittel zur eigenen Aufheiterung, deren ich so sehr bedurfte. Für die schon erwähnten politischen Marionetten schrieb Willy Rath eine aktuelle Satire «Die feine Familie»; ihre launigen Knittelverse wurden zwar 19

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viel belacht, doch fand sich dann kein rechter Anlass mehr, die Puppen weiter auszunützen. Besonders reich und bunt gedieh das lyrische Programm. Staunenswert war da namentlich die Produktivität, die Weinhöppel als Hauskomponist ent­ faltete; sein liebenswürdiges Talent schuf charakteri­ stische und einschmeichelnde Melodien zu aller mög­ lichen älteren und neueren, in- und ausländischen Liederdichtung. So vertonte er, was aus «Des Knaben Wunderhorn» irgend Wirkung versprechen konnte, ausserdem Verschiedenstes von Goethe, Eichendorff und Heine, Leuthold, Heinrich Seidel und Reder, von Liliencron und Falke, Dehmel und Holz, Bierbaum, Henckell, Hugo Salus, Borries von Münchhausen, Greiner und Jacobowski, auch von Béranger, Verlaine und Minckiewicz. Von mir komponierte er nach der erwähnten «Lucrezia» noch allerlei Ueberbrettl-Liederchen, so die «Erste Konjugation» und den Berliner «Schusterjungen», die ich für Olly Bernhardi schrieb, die «Dumme Babette», das Kapitalisten-Idyll «Pieter van der Butterseiten» und die Bierbaumparodie «An der Murmelrieselplauderplätscherquelle». Als Spezia­ lität pflegten die «Scharfrichter» das in szenischem Rahmen und Kostüm gesungene, also zugleich schau­ spielerisch dargestellte Lied, und sie erzielten damit besonders kräftige Erfolge. Auch für diese Gattung lie­ ferte ich drei Texte, die Weinhöppel sehr wirksam in Musik setzte: ein groteskes Notturno «Der Tanz um den Schuh», das von Kothe in mittelalterlicher Junker­ tracht gesungen und getänzelt wurde, dann die dü­ stere Allegorie von den drei Totengräbern der Zeit und das Schaukellied des Diogenes, mit dem der tiefe Bass Peter Quidams glänzen konnte. Die «Totengräber» machten später auch in einem Wiener Kabarett, wo der «Falsche», der «Irre» und der «Dumme» kostümlich noch effektvoller gekennzeichnet wurden, starken Eindruck. Äusser mir schrieb namentlich Greiner wirk­ same phantastische Verse für solche gespielten Lieder; auch eine von Bulmans reizvoll komponierte Bearbei290

tung des Hohen Liedes, dessen Text, wenn ich nicht irre, von Mantels stammte, wurde in szenischer Auf­ machung vorgeführt. Von Wedekinds Bänkelsängen zur Laute war bereits die Rede; sein prägnantes Ko­ kottenliedchen «Ilse», das die Delvard sich gesichert hatte, gelangte schnell zu grosser Beliebtheit und wurde das erklärte Münchener Gegenstück zu dem Biedermeier-Schlager des Berliner «Bunten Theaters», dem von Oskar Strauss vertonten «Lustigen Ehemann» Bierbaums. Henry brachte als gewandter Sänger die ganze Schar der Pariser Kabarettpoeten zur Geltung: Léon Xanrof, Théodore Botrel und Montoya, Xavier Privat und Fragerolle, Edmond Blanguernon, del Marcoud und Guérin, Bringer, Varney, Masson, Henri Bernard und noch manche andere. Auch eigene Chan­ sons sang er, und es waren nicht die schlechtesten: sprachlich elegante, wirksam pointierte Sächelchen, die, zum Teil in Weinhöppelscher Komposition, allge­ mein gefielen. Auch alttoskanische Volksweisen und altspanische Lieder wurden ins Programm gezogen, ja selbst das britische Idiom fehlte nicht, denn Dora Stratton liess sich einmal mit «English Songs» hören. Kurz, man gebärdete sich so international als möglich. Was die Rezitationen anlangt, so kam da neben Scharf auch Wedekind mit seinem Dialog «Rabbi Esra» zu Wort, ausserdem Greiner und ich mit lyrischen Parodien; die meinen wurden von Falckenberg und anderen zu Gehör gebracht, sie hatten sich seit jenen Erstlingen von 1890 um allerlei moderne Nummern vermehrt. Die erwähnten Rezitationskünstlerinnen be­ vorzugten dagegen das sentimental Pathetische, na­ mentlich Hofmannsthal, der sich damals besonderer Wertschätzung erfreute: und ihre näselnd monotone, affektierte und singende Deklamationsmanier setzte mich in helle Verzweiflung. Nach derlei fragwürdigen Genüssen bedeutete der vollsaftige Humor, den Man­ tels alias Arcus Troll in der Wiedergabe alter Wielandpoeme und neuerer Schnacken und Schnurren be­ währte, eine wahre Erholung. Arme Arcus Troll! Bald 291

nachdem seine prächtige Laune das Scharfrichter­ publikum und uns alle erquickt hatte, kam er in der Blüte seiner Jahre durch einen bösen Zufall ums Le­ ben. Spätnachts, nicht mehr ganz nüchtern von ver­ gnügtem Zechgelage heimkehrend, stieg er im Dunkeln die Wendeltreppe zu seiner drei Stock hochgelegenen Junggesellenstube hinan und muss dabei kurz vorm Ziele über das Treppengeländer abgestürzt sein, denn am Morgen fand man ihn unten mit zerschmettertem Schädel liegen. Wie das europäische Marionettenspiel schon nach dem ersten Versuch wieder aufgegeben wurde, so konnte auch der dem trefflichen «Schatten» anver­ traute satirische Koupletsang auf politische Aktuali­ täten sich nur kurze Zeit fristen, da die Zensur, der ja sämtliche Texte vorgelegt werden mussten, diese Art von Scharfrichterei sehr bald mit besonderer Strenge behandelte und uns dadurch alle bezügliche Produktionslust nahm. Was gebracht werden durfte, stammte vorwiegend von mir, so eine Ballade vom «Asbesthaus», zu der mir drollige Einzelheiten der deutschen China-Expedition den Stoff lieferten. Als die Kunstübung der «Elf Scharfrichter» so weit zur Verwirklichung der Idee gediehen war, dass sie ein überschauendes Urteil zuliess, musste ich mir darüber sagen: neben vieler Modemanier zweifelhaften Geschmacks, wozu ich auch die übertriebene, ans Dümmliche grenzende Liebe zum primitivsten Volks­ liedgelalle zählte, und neben extrem Fremdländi­ schem, das auf deutschem Boden niemals heimisch werden konnte, manches Gute, Reizvolle und Lustige, alles in allem aber wohl nichts, das einen bleibenden Gewinn bedeutete. Am schmerzlichsten war mir dabei, dass ich diesen melancholischen Vergänglichkeitsein­ druck auch für die satirische Groteskdramatik ge­ wann, der ich mich als Mitwirkender vor allem ge­ widmet hatte, und für deren allmähliche Steigerung ins künstlerisch Wertvolle ich im ersten Optimismus des Gelingens schon feste praktische Grundlagen ge292

Wonnen glaubte. Seit das geistig und seelisch Befreiende der phantastischen Satire mir klar geworden war, schien mir das Erstehen von Heimstätten für eine der­ artige Bühnenkunst geradezu ein Kulturbedürfnis. Allein schon jene ersten Versuche bei den «Elf Scharf­ richtern» belehrten mich über die grossen Schwierig­ keiten, die einer vollentsprechenden Darstellung sol­ cher Gebilde, und die noch viel grösseren, die ihrer Würdigung durch weitere Kreise entgegenstanden; er­ wies sich doch die technische Verwirklichungsmög­ lichkeit wie auch die verstehende Teilnahme der All­ gemeinheit desto geringer, je höher sich meine Ver­ suche über den blossen wohlfeilen Spass erheben wollten. Und abgesehen von diesen besonderen Miss­ lichkeiten galt auch für die «Ueberdramen» wie für die ganze «Scharfrichter»-Herrlichkeit jenes unerbitt­ liche Gesetz, das allem Exzentrischen, und mag es noch so viel Daseinsberechtigung nachweisen, im brei­ ten Alltagstrott des Geschehens immer nur eine kurze Intermezzo-Rolle gönnt. Schnell genug veralltäglichte sich ja auch das erst so aparte, aus jungkünstlerischer Schaffensfreude hervorgewachsene Unternehmen. Bei seinen literarischen Hauptstützen stellte sich bald arge Uebermüdung ein, ihre Nerven konnten eine so all­ seitige Inanspruchnahme als Stückeschreiber, Lieder­ dichter, Darsteller, Conferenciers, Monteure und Ge­ schäftsführer nicht lange aushalten, so sahen sie sich schliesslich genötigt, sich wieder auf ihr Literatentum zurückzuziehen und alles übrige durchschnittlichen und unterdurchschnittlichen Handwerkskräften zu überlassen, die dann das Gesamtbild mehr und mehr vergröberten und trivialisierten. Auch die geschäftliche Leitung fiel auf diese Art nach Jahresfrist dem behen­ den und betriebsamen Franzosen Henry zu, der sich unter Zuhilfenahme von Tourneen noch manche üppige Henkersmahlzeit herauszuwirtschaften verstand, aber das Unternehmen als solches nur umso schneller zu Tode dirigierte und sich auch über die Anrechte der ursprünglich massgebenden Begründer, Teilhaber und 293

Mitarbeiter immer skrupelloser hinwegsetzte, bis er ihre Namen — auch den meinen — zuletzt nurmehr zur Reklame missbrauchte. Der Erfolg und das öffent­ liche Ansehen der «Scharfrichter» in der ersten Zeit wird aber schon durch die Tatsache bezeugt, dass später allerlei banale Variétés sich ebenso krampfhaft als unberechtigt bemühten, ihren Stammbaum irgend­ wie auf sie zurückzuführen oder wenigstens durch ähn­ liche Grotesktitel an sie zu erinnern. Meine lyrischen und epischen Parodien, die, wie bereits erwähnt, auch bei den «Elf Scharfrichtern» ihre Wirksamkeit bewährt hatten, waren nun zu solcher Zahl angewachsen, dass sie einen Band füllen konnten: und so dachte ich daran, sie gesammelt zu veröffent­ lichen. Ich suchte Bierbaum auf, der damals nach dem schnellen Scheitern seines Berliner Unternehmens im Münchener Vororte Gern mit seiner neuen Freundin, einer zierlichen Blondine, zusammenlebte, teilte ihm meine Gedanken mit und bat ihn, einen empfehlenden Brief an seinen Berliner Verlag Schuster & Löffler zu schreiben: wusste ich doch, dass er meine satirische Begabung anerkannte, so wenig er von meinen ern­ steren Dingen hielt. Er war auch sofort bereit und empfahl seinem Verleger die Uebernahme als ein glattes Geschäft, wobei er übrigens nur die Meinung vieler anderer Bekannten und Freunde, zum Beispiel Conrads und Schaumbergs aussprach. Gleichzeitig sandte ich mein Manuskript nach Berlin. Aber zu Bierbaums eigenstem Aerger lautete die Antwort nicht bloss ablehnend, nein, sogar schroff und höh­ nisch. Wie Bierbaum sich nur einbilden könnte, dass solches Zeug überhaupt gekauft würde? hiess es da ungefähr. Dieses Verhalten eines damals sehr an­ gesehenen und ausgesprochen «literarischen» Verlags entmutigte mich dermassen, dass ich auf ähnliche Erfahrungen bei anderen renommierten Firmen ver­ zichtete und meine Sammlung Henry, der sich nun dafür interessierte, für den kleinen Buchverlag der «Deutsch-französischen Rundschau» überliess. Ein 294

junger Künstler des Scharfrichterkreises, Viktor Frisch, entwarf ein charakteristisches Titelbild, und so konnte das Buch noch im Laufe des Jahres 1901 wenigstens mit einem lustigen Umschlag unter dem Titel «Das teutsche Dichterross» erscheinen. Die Aufnahme bei der Kritik übertraf meine kühnsten Erwartungen; namentlich Conrad begrüsste es als ein «Riesenchamäleon der Persiflage, vorgeführt von der Teufel Oberstem» und zugleich als ein «tiefernstes Buch» und einen «blitzblanken Kulturspiegel». Aber die breitere Oeffentlichkeit reihte es zunächst doch nur in die Brettl-Publikationen ein, denn der kleine Winkel-Verlag Henrys konnte die Ausstattung nicht annähernd so vornehm gestalten wie der anspruchs­ volle Geschmack der neuaufgekommenen Biblio­ philen es von richtigen «Büchern des Tages» ver­ langte, und noch weniger konnte er jene umfassende Reklame dafür ins Werk setzen, ohne die jetzt keine Ausnützung eines Erfolges mehr möglich war. Trotz­ dem, und trotz weiterer Schwierigkeiten, von denen noch die Rede sein wird, hat das «Dichterross» als einzige von meinen Veröffentlichungen dann eine stattliche Reihe von Auflagen erlebt, aber unverhält­ nismässig langsam, und ohne mir den materiellen Ge­ winn zu bringen, der seiner allgemeinen Beliebtheit eigentlich entsprochen hätte. — Auf Anregung Rösslers, der mittlerweile nach Berlin zu Wohlzogen gegangen und bei ihm Confe­ rencier und Rezitator — unter anderem auch meiner lyrischen Parodien — geworden war, gelangten nun mehrere meiner «Ueberdramen» auch dort zur Auf­ führung, vor allem «Der Nachbar» und «Die Ver­ lobung». «Der Nachbar» feierte dort sogar ganz be­ sondere Triumphe und erlebte über 300 Wieder­ holungen. Durch diesen «Erfolg» wurde ich jetzt auch in Berlin, wo man sich meiner «Minnekönigin« kaum mehr erinnerte, als Ueberbrettl-Dramatiker allgemei­ ner bekannt, ja es regten sich nun auch die sonst so spröden Berliner Verleger, die mit der neuen Bewe295

gung spekulieren wollten. Schuster und Löffler brachten in einem «Die 11 Scharfrichter» betitelten Bändchen, das in billiger Massenauflage hergestellt wurde, die beiden Stücke Willy Raths und meinen «Nachbar» und «Veterinärarzt», und bald darauf er­ hielt ich auch von einer anderen Berliner Firma, Th. Mayhofers Nachfolger, den Verlagsantrag für eine Sammlung meiner übrigen Groteskstückchen; obschon mir auch hierfür nur ein paar hundert Mark geboten wurden, schloss ich auch diesen Vertrag ab und liess da noch verschiedene von den «Ueberdramen» in drei Bändchen erscheinen. Ich hätte all diesen Au­ genblicksgelegenheiten der Scharfrichterzeit nicht so weit nachgeben sollen, denn nun stempelte mich die schnellfertige Tagesmeinung unter Nichtbeachtung meiner eigensten Bestrebungen ein für allemal als spassigen Ueberbrettl-Parodisten ab, während doch diese Scherze für mich nie mehr bedeutet hatten und bedeuten konnten als ein Intermezzo. Im Juni 1901, also noch in der guten ersten Zeit des Münchener Ueberbrettls, war ich eines Tages nahe daran, selbst offizieller «Scharfrichter» zu wer­ den. Willy Rath war da mit dem Bildhauer Hecker aus dem Unternehmen ausgeschieden; die beiden hatten sich entschlossen, in einem Saal bei Trefler an der Sonnenstrasse ein eigenes «Lyrisches Theater» aufzumachen, das im Geiste des Ueberbrettls mehr nur das Pretiös-Anmutige, die Rokoko- und Bieder­ meier-Zierlichkeit pflegen sollte, so wie es Bierbaum in Berlin versucht hatte. Damit waren zwei Sitze im Henkerkollegium vakant geworden, man bot mir den einen an, und, für den Augenblick in Stimmung, sagte ich trotz aller Bedenken zu. Aber meine Schrafrichterwürde währte kaum vierundzwanzig Stunden, sodass ich zu gar keiner aktiven Teilnahme kam. Schon am Morgen nach meiner Zusage erhielt ich nämlich von Dr. Mordtmann, dem damaligen Chefredakteur der «Münchener Neuesten Nachrichten», ein Schreiben mit der Anfrage, ob ich bereit wäre, die Schauspiel­ 296

kritik des Blattes zu übernehmen, da Willy Rath auch diese Tätigkeit niedergelegt habe, um sich ganz sei­ nem neuen Unternehmen widmen zu können. Ich hatte mich schon kurz nach meiner Wiederkehr nach München bei dem Verlag der «Neuesten Nachrichten» vorgestellt und gebeten, mich für etwaige Vakanzen vorzumerken, nachdem mir der augenblickliche Nichtbedarf an irgendwelchen neuen Kräften bedeu­ tet worden war. Die kühle Aufnahme meines Besuches liess mir damals keine Hoffnung für die Zukunft; nun aber hatten, wie Mordtmann durchblicken liess, die Erfolge meiner «Verdammten» und meines Parodien­ buches die Aufmerksamkeit auf mich gelenkt, und so war die Wahl auf mich gefallen. Mein Entschluss war schnell gefasst, durfte ich doch in meiner Lage die seltene Gelegenheit einer Verbesserung meines Ein­ kommens nicht von mir weisen. So machte ich denn Mordtmann noch am selben Vormittag den gewünsch­ ten Besuch, lernte einen sehr freundlichen älteren Herrn kennen, wurde mit ihm schnell einig. Abends machte ich dann mein Scharfrichtertum wieder rück­ gängig; schien es mir denn doch bedenklich, mit einem Fusse auf dem exponierten Posten des einfluss­ reichsten Münchener Schauspielkritikers und mit dem anderen auf dem Ueberbrettl-Podium des Hirschen­ gasthofs zu stehen. Ehe ich auf meine, ach, so dornenvolle Münchener Kritikertätigkeit zu sprechen komme, muss ich noch einiges über persönliche Beziehungen sagen, die ich um die Zeit der Scharfrichter-Gründung zu mehreren von den neuaufgetauchten Poeten gewann. Als die interessanteste dieser neuen Bekanntschaften erschien mir die mit Leo Greiner, der in seiner halb grüble­ rischen, halb phantastisch-leidenschaftlichen Geistes­ richtung allerlei Berührungspunkte mit mir hatte und auch für meine ernsthafte Produktion mehr Verständ­ nis und Anteilnahme zeigte als die älteren Münchener Kameraden. 297

Erwähnt sei noch, dass er in einer Aufsatzserie, die er damals im Feuilleton der «Münchener Zeitung» über neuere Münchener Dichter schrieb, auch eine Kennzeichnung meiner literarischen Persönlichkeit brachte, wobei sich zeigte, dass mein Roman «Der fünfte Prophet» einen besonders starken Eindruck auf ihn gemacht hatte, ja von ihm auch rein dich­ terisch mit am höchsten gestellt wurde. Durch Greiner lernte ich auch Wilhelm von Scholz kennen, und wir kamen dann selhdritt eine Weile regelmässig abends in dieser oder jener feuchten Ecke zum Ge­ dankenaustausch zusammen. Scholz stak damals noch bis über die Ohren in seinen mystisch-symbo­ listischen Anfängen, und ich mühte mich vergeblich, aus seinen rätselvollen lyrischen und dramatischen Gebilden klug zu werden, was einem fruchtbaren Meinungsaustausch im Wege war. Dessen ungeachtet zeigte er sich auch mir bei jenen Zusammenkünften als Poet von hohem Streben und guter Kamerad, und ich habe es immer bedauert, dass er in späteren Jah­ ren, als er sich für weit überlegen hielt, mit fremder Steifheit von mir abrückte. Auch Josef Ruederer lernte ich nun kennen, und der Verkehr mit ihm gestaltete sich zunächst recht angenehm. Er schien Sympathie für mich zu em­ pfinden und regte auch selbst einen Verkehr von Familie zu Familie an, der aber bald wieder ein­ schlief. Zudem erkannte ich bald, dass Ruederer auch in literarischem Betracht nur eine einseitige Beziehung wünschte; bei aller Freundlichkeit, mit der er mir entgegenkam, suchte er nur Teilnahme für seine eigenen Dichtungen, nicht wie ich den Ge­ dankenaustausch zweier Gleichberechtigten und für einander gleich Interessierten. Ich selbst wusste seine Fähigkeiten, die er in seinen herbkräftigen Novellen­ büchern und in der «Fahnenweihe» bewährt hatte, recht wohl zu würdigen, und nur, weil er mich ehr­ lich interessierte, auch als einer der wenigen des 298

Münchener Poeten-Kreises, die, wie ich, bodenständige Altbayern waren, hatte ich den persönlichen An, Schluss versucht, und es lag nicht an mir, dass dieser nicht dauernd gelang, denn ich war längst nicht mehr empfindlich und ungeduldig und liess Ruederer Zeit genug, unsere Beziehungen für beide Teile mög­ lich und fruchtbar zu gestalten. Er produzierte schwer und langsam, auch litt er an der besonderen Nervosi­ tät jener Leute, denen der Daseinskampf völlig er­ spart blieb. Das Arbeitszimmer, in das er sich ein­ zuschliessen pflegte, war mit gepolsterter Doppeltüre versehen, weil ihn schon der geringste Laut störte: sehr im Gegensätze zu mir, der ich — wie bekannt­ lich auch Wedekind — in geräuschvollen Gaststuben mitten unter fremden Leuten am besten mich sam­ meln und am leichtesten die profane Wirklichkeit ver­ gessen konnte. Ruederers im Grunde nüchtern­ naturalistische Begabung erhielt durch einige Neigung zu dekorativer Phantastik ein geniales Aussehen, dem er seine Erfolge verdankte; seinen satirischen Sachen nahm er oft selbst die reale Ueberzeugungskraft und allgemeinere Bedeutung, indem sein ungezügelter Witz in allzu billiges und schwankmässiges Ulken ver­ fiel. Dass sich sein streitbares Wesen mit der gleich­ falls streitbaren Art Halbes nicht vertragen würde, war vorauszusehen; tatsächlich standen sich auch die beiden bald gegenüber, jeder an der Spitze einer Ge­ folgschaft und jeder bestrebt, den massgebenden lite­ rarischen Einfluss in München an sich zu ziehen. Als nämlich 1903 der «Akademisch-dramatische Verein» wegen eines Konflikts mit den Behörden sich auflösen musste und der «Neue Verein» an seine Stelle trat, übernahm Ruederer dessen Führung, während aus dem Halbe-Kreis die «Dramatische Gesellschaft» her­ vorwuchs. Beide Vereinigungen sollten die junge Literatur pflegen und namentlich neuauftauchende, noch vergeblich um die Eroberung des Theaters rin­ gende bühnendichterische Begabungen fördern, sie wetteiferten in Vereinsaufführungen auf diesen und 299

jenen Münchener Bühnen und erwarben sich beide damit unleugbare Verdienste. Freilich aber drängten sich hüben und drüben auch allerlei unberufene Poet­ lein vorgeblich nur aus selbstloser Begeisterung für den edlen Zweck an den Ratstisch, um dann, sobald sie dort einigermassen festsassen, ihre eigenen Stücke als wichtigste Tat durchzusetzen. Wie gesagt: die allgemeine Spaltung des litera­ rischen Jungmünchen in jene zwei Parteien vollzog sich schon um die Zeit meines näheren Verkehrs mit Ruedercr, sodass ich wohl zunächst für einen «Ruederianer» gelten mochte; in Wahrheit aber war ich dem Gefolgschaftswesen so völlig abhold geworden, dass ich mich um solche Gruppierungen, Wettläufe und Rivalitäten nicht im mindesten mehr bekümmerte, und die Uebernahme des Kritikeramts bei den «Neuesten Nachrichten» nötigte mich dann ohnehin, den privaten Umgang mit Münchener Autoren tun­ lichst zu vermeiden. Das Schauspielreferat hatte ich unverzüglich nach dem Kontraktabschluss zu übernehmen, doch sollte ich erst ab August, nach den Theaterferien, offiziell als Referent angekündigt werden. Der letzte Ausklang der Spielzeit stellte mir keine bedeutenderen Auf­ gaben, doch schien man mit meinen ersten Berichten allgemein zufrieden, und Max Bernstein, der seine früher erwähnten, durch mehr als ein Jahrzehnt fest­ gehaltenen «Theaterbriefe» noch nicht lange vorher aufgegeben hatte, nannte mich Dritten gegenüber «seinen würdigsten Nachfolger», was bei seinen an­ dauernden Beziehungen zu dem Blatte und bei dem Ansehen, das er in München genoss, zur Festigung meiner Stellung beitrug. So hatte denn das Theater­ jahr für mich durchaus günstig abgeschlossen, und ich konnte der Zukunft mit ruhiger Zuversicht ent­ gegensehen. Gleich am Beginn des neuen Theaterjahres erhielt ich einen Brief von Schneider als dem Inszenierer meiner «Verdammten» an der Hofbühne. Er teilte mir 300

offiziell mit, dass Possart jetzt die Aufführungen des erfolgreichen Stücks wieder aufnehmen wolle, und dass die Wahl der neuen Darstellerin der Morna mir selbst überlassen sei. Dem Rollenfache nach konnten nur die Damen Berndl und Swoboda in Betracht kommen, und da mir die erstere weniger geeignet er­ schien, sprach ich mich für das Fräulein Swoboda aus. Darüber zeigte sich Fräulein Berndl gekränkt, und ich hatte noch allerlei Unannehmlichkeiten zu überwinden. Als die Morna-Frage endlich in meinem Sinne entschieden war und das Hofschauspielhaus die Wiederaufnahme der «Verdammten» öffentlich an­ kündigte, besann sich der Verlag der «Neuesten Nach­ richten» plötzlich auf eine Bemerkung des Baron Mensi in der Münchener «Allgemeinen Zeitung», dass es vom Uebel sei, wenn ein Schauspielkritiker die Auf­ führung eines eigenen Stückes in der Stadt seines Wirkens durchsetzte: vom Uebel namentlich deshalb, weil die Oeffentlichkeit in solchen Fällen anzunehmen pflege, der Referent habe seinen Einfluss missbraucht. Diese Aeusserung Mensi’s bezog sich auf das früher erwähnte, so schlimm abgefallene Stück Röllinghoffs, der allerdings zur Zeit der Uraufführung vorüber­ gehend auch als Theaterkritiker bei den «Neuesten Nachrichten» tätig war. Mein Fall lag natürlich ganz anders, handelte es sich doch bei mir nicht um die Frage einer Uraufführung oder Erstaufführung, son­ dern nur um die selbstverständlichen und ehrlich ver­ dienten Wiederholungen eines bereits erprobten Werks; die «Verdammten» hatten ja ihren durch­ schlagenden Erfolg im Residenztheater erzielt, ehe ich oder sonst jemand ahnte und ahnen konnte, dass ich Referent eines Münchener Blattes werden sollte, ja es war der Erfolg im Schauspielhause vorhergegangen, der ganz ohne mein Zutun zu der Uebernahme des Stückes an die Hofbühne geführt hatte! Trotz des offenkundigen Widersinns erhob indessen der Verlag unter Hinweis auf jenen bemängelnden Vorstoss der «Konkurrenz» bei mir Einspruch dagegen, dass die 301

«Verdammten» weiter in München aufgeführt würden, ja man bedeutete mich, dass ich selbst die Intendanz davon abhalten müsse, wenn ich Referent der «Neue­ sten Nachrichten» bleiben wolle. Was sollte ich tun? Durfte ich als Familienvater auf die kaum gewon­ nene festere Existenz wieder verzichten? Die paar Mark Einakter-Tantiemen für jede Aufführung bedeu­ teten auch bei verhältnismässig zahlreichen Wieder­ holungen kein Aequivalent. So sah ich mich denn ge­ zwungen, den Intendanten in einem Schreiben zu er­ suchen, weitere Aufführungen des Werks mit Rück­ sicht auf die Bedenken der «Neuesten Nachrichten» zu unterlassen. Possart gab sich nicht sogleich zufrie­ den, er wandte sich nun seinerseits an den Verlag und betonte mit Recht, dass niemand der Hofbühne ver­ wehren könne, ein erworbenes und erfolgreiches Stück weiter zu geben; allein schliesslich scheute auch er davor zurück, sich in ernstere Kämpfe einzulas­ sen, die Wiederholungen der «Verdammten» wurden trotz aller bereits getroffenen Vorbereitungen aufge­ geben ....... Indes die Lust am Schaffen wurde mir auch da­ durch nicht verleidet. Im Winter 1902 entstand, wäh­ rend der «König Heinrich» noch immer der Auffüh­ rung harrte, ein neuer Einakter, die Komödie «Münch­ hausens Antwort». Wieder war es ein Bild, das mir die erste Anregung gab: irgend eine Gemälde-Repro­ duktion in einer Zeitschrift, die den phantastischen Aufschneider behaglich erzählend im Kreise seiner be­ zopften Zuhörer zeigte; ich glaube, die Unterschrift lautete «Münchhausen erzählt». Meine Einbildungs­ kraft, die immer auch zum psychologischen Erklären und verallgemeinernden Symbolisieren neigte, wob aus dem geschichtlichen Münchhausen, seiner Sagengestalt und eigenen Nachdenklichkeiten eine Lustspielfabel, die den hannoverschen Lügenbaron menschlich näher brachte, sein souveränes Umgehen mit der «Wahrheit» aus geistiger Ueberlegenheit erklärte, und ihn kraft dieser Ueberlegenheit das Treiben der Philister bloss­ 302

stellen liess, vor allem aber die Idee verkörperte, dass die Wirklichkeit tollere Dinge aufweist, als die Erfin­ dung wagen könnte und die kurzsichtigen Wahrheits­ kontrolleure sich träumen lassen. Auch meine Er­ innerungen an Hannover kamen dem Stückchen zu­ gute. Bloch nahm es wieder in Manuskript-Verlag und druckte es in gleicher Form wie die «Verdamm­ ten», doch konnte er zunächst nirgends eine Annahme erzielen, und es sollte noch lange Jahre währen, bis meine Antiphilisterkomödie das Rampenlicht erblickte. Bald nach Neujahr 1902 rief mich eine UeberbrettlAngelegenheit nach Berlin. Wolzogen hatte nämlich lebhaftes Interesse für mein Ueberdrama «Napoleon» gewonnen, es sollte im «Bunten Theater» zur Auf­ führung gelangen, und da ich wohl wusste, wie sehr die Wirksamkeit gerade dieses Scherzes von der zu­ treffenden Inszenierung, Spiel- und Sprechweise ab­ hing, eine durchaus glückliche Wiedergabe aber in Berlin zu ähnlichem, auch materiell sich lohnendem Dauererfolg führen konnte wie beim «Nachbar», ent­ schloss ich mich zu dem Opfer der Reisekosten, um bei den letzten Vorbereitungen ein Wort mitsprechen zu können und dann der Uraufführung durch meine An­ wesenheit noch den üblichen Nachdruck zu geben. Leider fügte es sich, dass mir der Münchener Spielplan nur knapp die Teilnahme an der Generalprobe und der Aufführung gönnte, doch hoffte ich, auch auf der einen Probe noch die etwaigen Mängel zu beseitigen. Allein ich traf alles viel schlimmer, als ich hatte ahnen können. Wolzogen, in dessen Händen ich die Spiel­ leitung zu finden hoffte, hatte nämlich damals gerade seine neue Ehe geschlossen, und die Freuden der Flitterwochen nahmen ihn so völlig in Anspruch, dass er sich augenblicklich um sein Theater garnicht be­ kümmerte und die Einstudierung der fünfundzwanzig Akte ganz dem jungen Dramaturgen Dr. Martin Zickel überlassen hatte. Diesem aber fehlte, wie ich sogleich zu meinem Entsetzen sah, jedes Verständnis für das rein ironische Wesen meiner Geschichtsdramatiker303

Verulkung; statt zu begreifen, dass dabei nur von in­ direkter Komik, vom unentwegten Festhalten des ernstesten Pathos der Effekt zu erwarten war, ver­ misste er die direkten Witze und Witzelchen, und hatte daher aus eigener Laune solche — und nicht von bester Sorte — eingefügt, auch das Spiel aller Mitwirkenden ins Clownmässige verzerrt und so meine satirische Absicht bis zur Unerkennbarkeit ver­ wischt. Am Schlüsse hatte er sogar noch stracks das Grab Napoleons aus der Versenkung auftauchen las­ sen! Wie ich all das schaudernd sah und mir zu­ gleich sagen musste, dass die entsprechende Einren­ kung der Wiedergabe eine völlige Neueinstudierung bedeuten würde und daher bis zum Folgetag ganz unmöglich wäre, gab ich die Sache verloren und fuhr sogleich nach München zurück, ohne die Auf­ führung abzuwarten, die ja nach meiner Ueberzeugung unter solchen Umständen keinen Erfolg bringen konnte. Darin täuschte ich mich auch nicht; die eigenmächtige Zickelsche «Bearbeitung» liess Publi­ kum und Kritik kühl, ohne dass man die Ursache des Uebels erkannt hätte, und das Stück verschwand schnell wieder vom Spielplan. Schade darum! Wie mein Ausklang am «Bunten Theater» melan­ cholisch gewesen, so erlebte ich auch bei den Münche­ ner «Elf Scharfrichtern» zuletzt nichts Angenehmes mehr. Monsieur Henry, der jetzt, wie schon erwähnt, mit seiner mehr und mehr aus Profanen zusammen­ gesuchten Schar grosse Tourneen veranstaltete, setzte wohl die Aufführungen meiner Groteskstückchen eifrigst fort, blieb aber die Abrechnungen schuldig; wenn er einmal wieder nach München zurückkehrte und diese oder jene Autorenforderungen an ihn her­ antraten, pflegte er sich hinter Insolvenzerklärungen zu verschanzen, die auch durchaus glaubwürdig wa­ ren, hatte er sich doch auswärts gewiss nichts ab­ gehen lassen. Auch noch in anderer Richtung schä­ digte er mich jetzt; er verpfändete hinter meinem Rücken das «Teutsche Dichterross» an einen Leipziger 304

Kommissionär, um sich Geld zu verschaffen, sodass ich dann in die schwierige Lage geriet, einen neuen Verleger zu suchen, der bereit wäre, das Buch vor der Uebernahme auch noch um die Pfandsumme los­ zukaufen! Ich fand schliesslich diesen Opferwilligen in Georg D. W. Callwey, dem Münchener Verleger des «Kunstwart»....... Hier spreche ich wohl am besten auch gleich von den ersten Schicksalen des «König Konrad» und «Kö­ nig Heinrich», welche Stücke 1903 vollendet vor­ lagen. Um diese Zeit suchten mich Ferdinand Avena­ rius, der Herausgeber des «Kunstwart», und der mit ihm befreundete Schriftsteller Leopold Weber in der neuen Wohnung auf. Weber, der das Münchener Theaterreferat für den «Kunstwart» innegehabt, wollte es gern abgeben, und da er mit Sympathie meine Be­ sprechungen in den «Neuesten Nachrichten» verfolgte, hatte er Avenarius, der vorher noch wenig oder gar­ nichts von mir gewusst, den Rat gegeben, mich zur Uebernahme auch dieses Referats einzuladen. Ich erklärte mich dazu bereit, obwohl ich schon vorher auf Leo Greiners Vorschlag dessen Theaterkorrespon­ denz für das Berliner «Literarische Echo» übernom­ men und nach wir vor an den «Berliner Börsen-Courier» zu berichten hatte. Aus jener ersten Anknüpfung mit dem «Kunstwart» ergab sich mir dann eine Weile lang ein näherer Verkehr mit Leopold Weber, der mir bei dessen origineller Sonderart und trefflichen Charaktereigenschaften manche menschlich genuss­ reiche und geistig anregende Plauderstunde brachte, in Bezug auf meine dichterische Produktion aber eher herabstimmend auf mich wirkte, ja oft meine ganze grosse und erprobte Duldsamkeit gegenüber fremder Meinung in Anspruch nahm. Da Weber vom Wesen der künstlerischen Produktivität andere Vorstellungen und Ueberzeugungen hatte als ich, sprach er mir nämlich mit lächelnder Selbstsicherheit die echte und rechte Substanz des schaffenden Künstlers ab und wollte mich im Grunde nur als kritische Potenz gel20

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ten lassen. Natürlich machte mich diese absprechende Stellungnahme eines Wohlmeinenden ebensowenig irre an mir selber, als die literarische Nichtachtung seitens meiner persönlichen Gegner, aber sie wirkte doch auch deprimierend, lähmte die unbefangene Aussprache über produktive Dinge, die mir nach wie vor allein am Herzen lagen, und war keinesfalls ge­ eignet, mich irgendwie praktisch zu fördern, wie ichs doch so bitter nötig hatte. Als Weber beobachtete, wie sehr mich mein historischer Dramen-Zyklus beschäf­ tigte, veranlasste ihn sein reinmenschliches Wohl­ wollen und seine geistige Wertschätzung meiner Per­ son sogar, den Verleger des «Kunstwart», Callwey, der bereits einiges Erzählende von ihm selbst in Buchform herausgebracht hatte, zur Verlagsüber­ nahme der beiden vollendeten Stücke zu bewegen, wiewohl er, Weber, mit ihnen nicht viel anzufangen wusste und auch allerlei Einzelheiten des Ausdrucks, die sich aus meinen dichterischen und dramatischen Prinzipien mit Notwendigkeit ergeben hatten, von sei­ nem besonderen Standpunkt als Fehler empfand. An solcher Verekelung konnte auch die uneingeschränkte, froh beglückwünschende Zustimmung Gregoris zu den beiden Werken, die bald nachher eintraf und der er auch öffentlich kräftigen Ausdruck gab, nichts mehr ändern. Hansteins Urteil, auf das ich bei seiner eige­ nen Wertschätzung und Bevorzugung des Geschichts­ dramas besonders gespannt war, sollte ich nicht mehr erfahren; noch ehe ich ihm die Stücke senden konnte, überfiel mich die Trauernachricht von seinem Tode. Eine akute Krankheit hatte ihn jäh dem schönen Wir­ kungskreise in Hannover entrissen, der ihm nach manchen Enttäuschungen nun volle Lebensbefriedi­ gung versprach. Der Verlust des treuen, aufrichtigen und verständnisvollen, in allem Entscheidenden so gleich gesinnten Freundes ging mir sehr nahe; wieder war mir eine tröstliche Beziehung geraubt, die in menschlichem, wie in geistigem und künstlerischem Betracht Dauerkraft besessen hatte. 306

Mein Referat für die «Neuesten Nachrichten» liess mir keine Zeit, den Problemen anscheinend sinnloser Vernichtung eines noch unerfüllten Lebens wieder einmal nachzugrübeln. Denn gerade damals, in den ersten Jahren des neuen Säkulums, entfalteten die Münchener Theater eine regere Tätigkeit als je vor­ her oder später. Vor allem zeigte das Schauspielhaus, unter Stollbergs eifriger und vom Glück begünstigter Leitung rasch emporgekommen, geradezu erstaun­ liche Unternehmungslust; die Ur- und Erstaufführun­ gen jagten sich da fast ohne Pause, und dieser fieber­ hafte Betrieb zwang auch die übrigen Bühnen, ja eine zeitlang sogar das mehr und mehr erschlaffende Hofschauspiel zu lebhafteren Bemühungen, wollten sie nicht allzu sehr ins Hintertreffen geraten; dazu kam noch das Gastieren von Ausländern, das vorher in München zu den Seltenheiten gezählt hatte, dann die Veranstaltungen der verschiedenen neugegründeten, dramatischen Vereine, zahlreiche Gastspiele zur Per­ sonalergänzung, deren verantwortungsvolle Beurtei­ lung mir gleichfalls oblag, und die Besprechung der um jene Zeit üppig ins Kraut schiessenden literari­ schen Vortragsabende, an welchen namentlich der jüngste Nachwuchs auf sich aufmerksam zu machen trachtete. Der Fülle dieser Verpflichtungen entspre­ chend, sass ich die meisten Abende der Woche im Theater oder Vortragssaal. Zwar war ich nicht von der Sucht geplagt, in meinen Referaten feuilletonistische Pfauenräder zu schlagen, um so entschiedener aber gebot mir meine innerste Natur, jedes für die Oeffentlichkeit bestimmte Urteil ausgereift zu geben, unter Klarstellung alles Wesentlichen und so sachlich begründet, als ich es irgend vermochte. Da ich bei solchen Forderungen an mich selbst entsprechender Ueberlegung bedurfte und dann noch jedes Wort auf die Goldwage legen musste, vollzog sich meine Nachtarbeit, die ich nach dem Theaterschluss und üblichen telephonischen Vorbericht an die Redaktion in .Angriff nahm, im Kampf gegen Zeitknappheit und 307

Uebermüdung; darum pflegte ich mich zur Arbeit in eines der am längsten geöffneten Wein- oder Tee­ lokale des Stadtzentrums zu setzen. Es mochte ver­ wundern, dass mich an solchem Ort das Schwatzen und Lärmen der Gäste, das Umherrennen der Kellner­ innen, das Tellerklappern und Gläserklirren nicht störte; tatsächlich war mir aber, wie schon erwähnt, die geistige Isolierung von jeher nirgends bessei- ge­ lungen, als in derartiger Umgebung. Ich fand da eben mitten im Schwarm fremder und gleichgiltiger Leute die Befreiung von allen engpersönlichen Vorstellungen und damit die volle Hingabe an den Gegenstand, während zu Hause jede Einzelheit, auf die mein Blick fiel, durch vertraute Assoziationen meine Phantasie band und mich zu keiner rechten Sammlung kommen liess. Einmal, als ich noch gegen zwei Uhr in einer Teestube nächst dem Marienplatze sass und schrieb, wurde ein rabiater Trunkenbold in meiner unmittel­ baren Nähe durch die ins Freie führende Glastüre hinausgeworfen; ich sah und hörte das kaum, und schrieb ruhig weiter. Der Betrunkene gab sich nicht zufrieden, zertrümmerte von aussen mit wütenden Schlägen die Glasscheiben, dass mir die Scherben nur so um den Kopf flogen — es war gewiss nicht stim­ mungsfördernd, aber endlich kam doch der nötige Schutzmann, und mein Bericht wurde trotz alldem fertig. Das musste er auch, denn der Bote der «Neue­ sten» kam immer schon in aller Frühe zu mir, um das Manuskript abzuholen. Einen entsprechend län­ geren Schlaf in den Tag hinein konnte ich mir übri­ gens nach der nächtlichen Strapaze auch nicht gön­ nen: musste ich doch für eventuelle telephonische An­ fragen der Redaktion eine Weile zur Verfügung stehen und dann über denselben Gegenstand für den «Berliner Börsen-Courier» und für das «Literarische Echo» schreiben, ganz abgesehen von dem Bericht für den «Kunstwart», den ich wenigstens auf etwas spä­ tere Zeit verschieben konnte. In Ermangelung an­ derer sicherer Einnahmequellen musste ich ja für 308

diese reichliche Beschäftigung dankbar sein, obschon meine dichterische Produktion, wie auch meine Nerven, unter der ständigen, gewaltsam erzwungenen Hetzarbeit und dem Mangel an normalen Ruhepausen empfindlich zu leiden hatten. Von den Theaterereignissen, die in allen den Mün­ chener Spielzeiten seit 1901 an mir vorüberzogen, kann ich natürlich nur Einzelnes erwähnen. Eine der ersten neuen Persönlichkeiten, zu denen ich Stellung zu nehmen hatte, war der Altbayer Ludwig Thoma, der damals mit seinen Schwänken «Die Medaille» und «Die Lokalbahn» mühelos die Hofbühne eroberte, nachdem er schon als freimütiger und drastischer Zeitsatiriker des «Simplizissimus» und bodenständiger Humorist von eigenem Ton eine Art Repräsentant bajuwarischen Draufgängertums und damit allge­ meiner Liebling geworden war. Auch Karl Schönherr tauchte in jener Spielzeit 1901—1902 mit seinem Erst­ ling «Karrnerleuf» im Residenztheater auf, während im Schauspielhaus der damals ständig in München weilende, absonderliche Artur Holitscher, im Hof­ theater Korfiz Holm sich als Dramatiker versuchte; Artur Schnitzler, Georg Engel und Wilhelm MeyerFörster kamen im Residenztheater zu Wort, im Schau­ spielhause fanden vor allem Gerhart Hauptmann, Halbe, Keyserling, Hartleben, Max Dreyer, Otto Ernst, d’Annunzio, Maeterlinck, Heijermans und Schlaikjer, Ibsen, Tolstoi und Strindberg wie auch der leicht­ füssige Pariser Schwank eifrige Pflege. Bald nach Neujahr 1902 war es Wedekind ge­ lungen, im Schauspielhaus sein symbolisches Drama «So ist das Leben» zur Aufführung zu bringen, an der er sich pikanterweise selbst als Statist unter dem fahrenden Volk der «Elendenkirchweih» beteiligte. Jeder, der mich kannte, musste wissen, dass ich dieses Stück mit seinem fast ausschliesslich passiven Helden, seinen allzu locker sitzenden Masken, seinen ebenso illusionsstörenden Stilmischungen und seiner mehr epischen als dramatischen Gestaltungsweise 309

nicht als Meisterwerk würde lobpreisen können, und dass persönliche Beziehungen zu einem Autor mein Urteil weder im guten noch im schlimmen Sinne be­ einflussen würden. Aber es zeigte sich, dass mein scharfrichterlicher Duzbruder mich noch sehr irr­ tümlich einschätzte. Ich hatte leider ein im Ganzen ungünstiges Urteil fällen müssen; das veranlasste Wedekind, mich im «Café Grössenwahn» zu stellen und den Versuch zu machen, mich durch drohende Haltung einzuschüchtern. Seine knappen und schar­ fen Erklärungen schienen auf einen charakter­ schwachen Dummkopf berechnet und schlossen mit dem Satz: «In diesen Dingen verstehe ich keinen Spass!» Ich war empört über die groteske Gering­ schätzung, die aus seinen Worten sprach, über die Verdächtigung, dass mir ein abfälliges Kritisieren literarischer Kollegen und Freunde persönlichen «Spass» mache, über die Nichtwürdigung meiner mo­ ralischen Zwangslage und vor allem, über die belei­ digende Annahme, dass derartige Manöver mich zur öffentlichen Unehrlichkeit veranlassen könnten; so gab ich ihm nur ein zorniges «ich auch nicht» zur Antwort. War mein kameradschaftliches Verhältnis zu We­ dekind bei diesem Anlass in die Brüche gegangen, so brachte meine Kritik von Holms nach allgemeinstem Urteil missglückten Versdrama «Die Könige» auch diesen Autor gegen mich auf: und es bereitete sich allmählich eine geschlossene Feindschaft der litera­ rischen Kreise gegen mich vor, trachtete doch damals so ziemlich jeder Poet nach dem Theaterlorbeer, mochte er auch nur episch oder lyrisch oder feuilletonistisch begabt sein und dann bald, nach ernüch­ terndem Misserfolg, zur Erfüllung seiner wahren Be­ stimmung zurückkehren. Die erste Erregung der enttäuschten Neulinge wie auch die Erbitterung jener Bühnenschriftsteller, die durch frühere Erfolge schon das Anrecht auf künstlerische Hochschätzung auch halb oder ganz missratener Stücke erworben glaubten, 310

wandte sich immer nur gegen mich als den Vertreter des einflussreichsten Münchener Blattes, obschon in der Mehrzahl der Fälle das Publikum wie auch die Kritiker der andern Münchener Zeitungen nicht gün­ stiger urteilten als ich, ja, ihre Ablehnung oft in weit derberer Form äusserten. Gekränkte Eitelkeit und Mangel an Selbstkritik, Verständnislosigkeit für meine ■Lage und literarische Nichtachtung des früheren Kollegen, der sich nach ihrer Auffassung plötzlich zum Kunstrichter aufwerfen wollte, einten sich da mit einem Geschäftsgeist, der die öffentliche Theaterkritik überhaupt nur mehr als eine Art besserer Reklame­ macherin gelten lassen wollte und gar von meiner Wenigkeit unbedingt nur bewundernde Zustimmung als etwas Selbstverständliches erwartete....... Im Sommer 1902 war ein junger schwedischer Lehrer namens Rignell, den ich seinerzeit in Berlin flüchtig kennengelernt, und der das Deutsche ganz leidlich sprach und schrieb, auf längere Zeit nach München gekommen und hatte mich aufgesucht, um allerlei lokale Auskünfte von mir zu erhalten. Wir trafen uns dann des öftern, plauderten über ver­ schiedenste Dinge, und einmal wies er im Gespräch darauf hin, dass die Lyrik seiner schwedischen Hei­ mat noch fast gar nicht in Deutschland bekann sei; auch das wenige bei uns Bekanntgewordene sei so schlecht übertragen, dass es keine Vorstellung von den Originalen gebe. Das weckte meine Neugier und Unternehmungslust, obschon ich nie schwedisch ge­ lernt hatte; ein Wort gab das andere, und ich bat den Schweden, mir probeweise ein Gedicht im Origi­ naltext sowie in einer durch ihn versuchten wört­ lichen Prosa-Rohübersetzung zu bringen und auf den schwedischen Versen die entsprechenden Betonungen zu vermerken; ich könne dann wohl sehen, ob eine deutsche Nachbildung in der Form des Originals wirklich so grosse Schwierigkeiten mache. Er brachte mir Snoilskys historisch-romantisches Stimmungsbild «König Erich» in der gewünschten Doppelform, ich 311

wagte mich an die Aufgabe, dank der Verwandtschaft beider Sprachen schien mir ihre Lösung recht wohl zu glücken, und als ich Rignell dann die fertigen deutschen Verse vorlegte, zeigte er sich überrascht und erfreut und erklärte meine Versübertragung für ein gleichwertiges Abbild. Er übermittelte mir dann verschiedenes mit seinen Rohübersetzungen, deren Prosadeutsch sich freilich oft genug im Ausdruck vergriff, aber mich doch die wahre Bedeutung immer aus dem Zusammenhang erkennen liess; darunter be­ fanden sich auch Episteln von Bellman, von dem ich bis dahin überhaupt noch nichts gewusst hatte, und der mich sofort als ungewöhnliche Erscheinung ausserordentlich fesselte. Mein Interesse wuchs, ich gab mich mit Feuereifer an die Arbeit, all meine freie Zeit darauf verwendend, kaufte mir eine schwe­ dische Grammatik und eine Wörterbuch, besorgte mir aus der Staatsbibliothek eine schwedische Bcllmanausgabe und begann nun ernstlich Schwedisch zu lernen. Bald hatte ich mir soviel Sprachkennt­ nis erworben, als ich zum vollen Eigenver­ ständnis der Originaltexte brauchte: und so ent­ stand jene Reihe von formtreuen Versübertragungen, deren Sammlung ich ein Jahr später unter dem Titel «Schwedische Lyrik» bei dem Münchener Verlag für slawische und nordische Literatur Marchlewski & Co. als Buch erscheinen lassen konnte. Sie erfreute sich sogleich entschiedenster Anerkennung, und zwar nicht nur in deutschen Landen, wo namentlich die Brüder Hart, J. V. Widmann (im Berner «Bund»), Edgar Steiger und sogar Karl Busse sie über die Massen lobten, sondern auch in Schweden selbst. Stockholmer Blätter brachten ausführliche Artikel über den langersehnten Verdeutscher schwedischer Sangeslust, unter anderm einen von Gustaf af Geijerstam, ein schwedischer Musikverlag, sicherte sich für eine deutsche Sammlung Bellman’scher «Episteln und Lieder», die deren Originalmelodien für Klavierbe­ gleitung arrangierte, meine hierfür ohne weiteres 312

brauchbaren Uebertragungen, und bald hörte ich, dass der bekannte schwedische Wandersänger, Sven Scholander, Bellman jetzt in meiner Verdeutschung vortrage. Einige Jahre später suchte mich Scholander einmal selbst in meiner Wohnung auf und gab seiner Begeisterung für den «Verbrüderer der Na­ tionen» so stürmischen Ausdruck, dass er mich in Verlegenheit setzte. Doch wie mir in meinem Leben fast jeder Erfolg wieder entrissen wurde, geschah es auch hier. Der Verlag, von allem Anbeginn nicht so geschickt und materiell leistungsfähig, um die glän­ zende Aufnahme der Sammlung entsprechend auszu­ nützen, brach schon bald darauf zusammen, das Buch kam in die Hände eines noch weniger geeigneten kleinen Verlags, der es wieder an einen dritten weiterveräusserte, bis ich endlich auf Grund eines Kontraktbruches alle Rechte an das Buch wieder an mich bringen konnte, aber zu einer Zeit unerhörter Teuerung und so völligen Darniederliegens aller Verlagsunternehmungen, dass eine Neuauflage zu­ nächst ausgeschlossen war. Es sei noch erwähnt, dass Rignell mir später auch die Verdeutschung zweier novellistischer Skizzen des früh verstorbenen Fälle Molin ermöglichte, die ich dann im Feuilleton der «Münchener Neuesten Nach­ richten» veröffentlichte, und dass er selbst meine «Verdammten» ins Schwedische übersetzte, nachdem er seinerseits im Deutschen zureichende Fortschritte gemacht hatte. Er bot diese Uebertragung einem Stockholmer Theater an, und sie wurde dort zur Aufführung erworben, gegen einen rührend kleinen Pauschalbetrag für beliebig viele Vorstellungen, den ich mit Rignell teilte ... Seit der «Scharfrichter»-Zeit war mir auch die Neigung zu eigenem lyrischen Schaffen wieder­ gekehrt. Die Referententätigkeit raubte mir Zeit und Sammlung für Dichtungen grösseren Umfangs, und so warf sich mein Produktionstrieb auf kleine Stim­ mungsbilder, Gefühlsergüsse und Beschaulichkeiten. 313

Ich schrieb damals ziemlich viel derartiges, und der rührige Hauptschriftleiter der «Jugend», Dr. Siegfried Sinzheimer, stets auf die Heranziehung literarischer Kräfte begabt, brachte fast alle diese Verse in die angesehene Wochenschrift, sodass ich nun auch als Lyriker weiteren Kreisen bekannt wurde. So musste ich nachgerade an die Zusammenstellung und Her­ ausgabe eines Gedichtbandes denken. Von den zahl­ reichen Versen meiner Frühzeit nahm ich nur das formal Reifste in die Sammlung auf, ordnete die Sachen chronologisch und gab ihnen den Uebertitel «Aus meinem lyrischen Tagebuch». Callwey übernahm den Verlag, Fritz von Ostini brachte in den «Neuesten Nachrichten» eine ausführliche, warmherzig anerken­ nende Besprechung, andere öffentliche Beurteiler begrüssten das Buch nicht minder zustimmend, und ich mochte schon glauben, dass ich in dieser Form die volle Gunst der Zeit gewinnen würde. Allein Call­ wey, durch den «Kunstwart» und die ihm angeglie­ derten Unternehmungen in Anspruch genommen, konnte nicht so viel Zeit und Bemühungen darauf verwenden, als gegenüber der lärmenden Konkurrenz für breitere Erfolge nötig gewesen wäre; so tauchte auch dieses Buch schnell wieder ins Dunkel, und die Allgemeinheit kannte mich nach wie vor nur als Spassmacher, als den Jodok der «Elf Scharfrichter» und den Reiter des «Teutschen Dichterrosses» ... Meiner Neigung zum improvisierten «Wettdichten», fröhnte ich, wenn meine Berufsarbeit mir die Zeit liess, mit Freunden und Bekannten zusammenzu­ kommen. Ich fand da erst in Edgar Steiger einen willigen und launigen Genossen, der sich in der Lösung von allerlei kühnen Versifizierungsaufgaben mit mir mass. An einem grösseren Stammtisch des Gasthofs zum Schlicker im Tal produzierten wir uns des öfteren in solchen Künsten der Schlagfertig­ keit zum allgemeinen Gaudium. Mich trieben dazu nicht etwa rein spielerische Neigungen oder gar der Ehrgeiz, am Biertisch als Virtuose zu glänzen, viel­ mehr suchte ich in den durchschnittlichen Stumpf­ 314

sinn solcher Zusammenkünfte, auf diese Art einige frischere, geistigere Anspannung und Bewegung zu bringen. Die Pflege der literarischen, musikali­ schen und zeichnerischen Improvisation bildete auch, auf etwas höherer Stufe, das Programm einer freien Vereinigung, die ich mit Steiger und anderen Be­ kannten unter dem Namen «Die Maultrommel» ins Leben rief. Wir kamen da in gemietetem Sonderlokal zusammen, schrieben allerlei Themen auf Zettel und losten eines davon aus, das dann von den Poeten straks in Versen, von den bildenden Künstlern aber zeichnerisch behandelt wurde, alles binnen weniger Minuten. Waren die Verse fertig, so setzen sich die anwesenden Komponisten eilig ans Klavier und extemporierten nicht minder behend die Vertonung der Elaborate und gleichzeitig auch schon deren ge­ sangliche Wiedergabe. Es entstand viel guter Spass bei dieser genialisch beschleunigten Produktion. Eine hervorragende Rolle in dem Schlicker-Kreise spielte der trinkfeste, als Rezitator und Sänger un­ gewöhnlich begabte Lothar Schmidt (nicht zu ver­ wechseln mit dem Bühnenschriftsteller gleichen Na­ mens). Er rief etwas später die zwanglosen Abende der «Freistatt» ins Leben, eines intimen Zirkels von Musikern, bildenden Künstlern, Literaten und Freun­ den behaglicher Kunstpflege, der sich wechselseitig gebend und empfangend an guten Gelegenheitsleistun­ gen vergnügte. Lothar Schmidts prachtvolle und ein­ fühlende Rezitationskunst nahm sich da mit Vorliebe und entschiedenem Glück meiner Lyrik an, und auch mancher andere Poet, Komponist, vor allem zahl­ reiche talentvolle Anfänger, hatten der Freistatt an­ sehnliche Förderung zu danken. Wenn ich an dem betreffenden Abend theaterfrei war, suchte ich gern diese kunstfrohe Runde auf, die im Erdgeschoss des originellen alten Gasthofs «Zu den drei Rosen», am Rindermarkt, zusammenkam. Äusser Lothar Schmidt, der auch als geschickter Leiter der Abende sich aus­ zeichnete, und seinem nicht minder eifrigen Vertreter, dem lebhaften Assessor und späteren Regierungsrat 315

Weidinger, der als munterer Lautensänger glänzte, seien aus der wechselnden Fülle künstlerischer Kräfte, die sich um den Kreis verdient machten, nur einige genannt: der Komponist der am Hoftheater aufgeführten Oper «Maja», Adolf Vogl, der sich später zur Vertonung meiner «Verdammten» entschloss; der mehr lyrisch begabte Komponist Ludwig Weber, der mit reizvollen Vertonungen von Arno Holzens «Lie­ der auf einer alten Laute» erfreute; ferner der erfindungsreiche Zeichner und Silhouettist Rolf Wink­ ler, der mit urkomischen Gesangsvorträgen Lach­ stürme entfesselte, und dessen Hand die reich bedach­ ten Protokollbücher des Kreises mit den witzigsten Einfällen schmückte. Auch den Rechtsanwalt Ludwig Butterfass, einen lebensfrohen Rheinpfälzer von viel­ seitigen Interessen, lernte ich später in diesem Zirkel kennen und sollte dann an ihm einen nahen Freund gewinnen. Lange Jahre hindurch glückte es der «Freistatt», sich über dem Dilettantismus und Spiessertum der Familienunterhaltungen auf künstlerischer Höhe zu halten, und so bot sie mir Ersatz für den früher gewohnten Verkehr mit den «offiziellen» Li­ teraten- und Künstlerkreisen, den mir mein Kritiker­ amt jetzt immer kategorischer verbot, teils, weil ich aus Integritätsgründen den Anschein persönlicher Be­ ziehungen vermeiden musste, teils auch, weil ich mich bald genug überzeugt hatte, dass ich selbst bei grösster Zurückhaltung vor Zudringlichkeiten und Beeinflus­ sungsversuchen nicht sicher war. Lothar Schmidt war es auch, der gleich nach dem Erscheinen meiner «schwedischen Lyrik» im Rück­ sälchen einer Weinstube der Theresienstrasse, vor einem kleinen, aber erlesenen Publikum, eine Reihe dieser Uebertragungen rezitierte, nachdem ich selbst den Abend mit kurzen Ausführungen über den Gegen­ stand eingeleitet hatte. Mit dem kräftigen Erfolg der Veranstaltung konnten wir beide zufrieden sein. Spä­ ter wurde dann auch der Münchener Verleger Albert Langen, schon durch seine Ehe mit einer Tochter Björnsons für skandinavische Literatur interessiert, 316

auf meine Bellinan-Verdeutschungen aufmerksam, und als ich ihn einmal abends in der Torggelstube neben dem Hofbräuhaus, die damals zum Treffpunkt des literarisch-künstlerischen München wurde, persön­ lich kennen lernte, sprach er mir seine besondere Freude über die Nahebringung des «schwedischen Anakreon» aus und meinte, ich möchte doch einen ganzen Bellman-Band fertigstellen, er werde ihn dann mit grossem Vergnügen in vornehmer Aus­ stattung herausbringen. Diese Anregung entsprach nur meiner eigensten Neigung, und der Zufall wollte, dass mir gerade um jene Zeit aus Schweden von einem dort gewonnenen Freund meines Bellman-Prophetentums eine illustrierte Gesamtausgabe des Dichters als eine Art Huldigungsgeschenk übersandt wurde, worin auch die Melodien der Episteln und Lieder, sowie aus­ führliche Kommentare enthalten waren, sodass ich gleich auch alles mögliche Material für die geplante Arbeit zur Hand hatte. Bei der Aehnlichkeit vieler von den «Episteln und Liedern» beschränkte ich mich auf eine Auswahl von beiden, besserte auch noch Ein­ zelheiten an dem früher Uebersetzten und fügte die wünschenswerten rhythmischen und sachlichen Er­ läuterungen bei. Meine Arbeit, mit grosser Lust und Liebe unternommen, schritt rasch und fröhlich fort; doch eben, als ich sie abgeschlossen, starb Langen, nachdem er, wie ich hörte, sich noch als Schwer­ kranker mit dem Projekt des Bellman-Buches be­ schäftigt hatte. Immerhin wirkte dieser Todesfall zu­ nächst nicht so mörderisch auf die Aussichten der Publikation, wie ich in der ersten Betroffenheit und in Gedanken an mein nachgerade fatalistisch aufgefasstes Missgeschick meinte; Langens Erben behandelten die Angelegenheit, obschon noch kein förmlicher Vertrag bestand, pietätvoll als ein Vermächtnis des Toten, sie brachten meine Sammlung, der ich den Namen «Bellman-Brevier» gab, in der geplanten vornehmen Aus­ stattung und mit stilvollem Buchschmuck heraus. Allein in der Folgezeit erwies sich dann doch der Tod Langens als schwerer Verlust für das Buch. 317

In die ersten Jahre meiner Tätigkeit bei den «Neuesten Nachrichten» fielen auch zwei Veröffent­ lichungen anderer Art. Bei Callwey gab ich die vor­ läufigen Endergebnisse meines philosophischen Nach­ denkens unter dem Titel «Grundlagen der wissen­ schaftlichen Philosophie» als Broschüre heraus. In der wissenschaftlichen Beilage der Münchener «All­ gemeinen Zeitung» gab ich die Darstellung einer in­ stinktiven Verbesserung unreiner Reime in der ge­ samten neu-hochdeutschen Lyrik, eines merkwürdigen Phänomens, auf das ich in zufälliger Beobachtung ge­ kommen war, und dessen Gesetzmässigkeit ich dann nachgespürt hatte. Ueber denselben Gegenstand hielt ich einen demonstrierenden Vortrag, dem auch die Professoren Lipps und Muncker beiwohnten; beide erklärten meinen Nachweis des Gesetzes im wesent­ lichen für überzeugend, wenngleich sie bezüglich der E-Laut-Skala unter Hinweis auf die mundartlichen Klangschwankungen noch einige Zweifel äusserten. Später erhielt diese ästhetisch-psychologische Studie noch eine gründlichere, auf viele Beispiele gestützte Ausarbeitung, doch ergab sich zunächst keine Möglich­ keit, sie in der endgültigen Form zu veröffentlichen. Schon in den frühesten Anfängen der «Freistatt» befriedigte ich bei diesen sangesfreudigen Zusammen­ künften auch meine noch immer bestehende Neigung zur Chorkomposition durch Anregung einer ulkigen Konkurrenz. Allerlei Leistungsfähige aus dem Kreise komponierten da gleichzeitig mit mir ein Goethe’sches Gedicht für Männerquartett, wir lieferten die fertigen Elaborate nebst ausgeschriebenen Stimmen anonym und indirekt ab, und für den Abend eingeladene Gesangskräfte der Hofoper sangen prima vista die einzelnen Lösungen der Aufgabe der übrigen Tafel­ runde vor, die dann in feierlicher Abstimmung über die Rangordnung entschied und dementsprechend die Urheber mit mehr oder weniger edlen einzelnen Zi­ garren belohnte. Drolligerweise fiel mir dabei der erste Preis zu, während die angesehensten Fachleute unter den Bewerbern arg ins Hintertreffen gerieten; 318

ihre Chöre waren eben für die Mehrzahl der Hörer zu modern-unmelodisch und auch für die prima vista Sänger zu kompliziert und schwierig, als dass sie zu rechter Geltung hätten gelangen können. Der meine aber war in seiner schlichten Melodik leicht zu ver­ wirklichen wie auch zu würdigen. Um den Preis meiner immerhin rechtmässig verdienten, auserlesenen Importzigarre wurde ich indessen geprellt, denn ein aui höhere Gerechtigkeit bedachter Spassvogel ver­ tauschte sie mir im entscheidenden Augenblick gegen die Pfälzer schlimmster Sorte, die dem letzten Preis­ träger zugedacht war, und wenngleich ich die Unter­ schiebung schnell genug feststellte, war der Schaden doch nicht mehr zu reparieren. Als eine Art ulkiges Symbol für den Ausgang ernster Konkurrenzen, um deren Preis ich betrogen wurde, ist mir diese kleine Episode lebhaft in Erinnerung geblieben. Neben dem Kreise der «Freistatt» besuchte ich in jenen Jahren gelegentlich auch einen in der Schwa­ binger Brauerei, dem Georg Schaumberg angehörte, dann der Lyriker Ewald Silvester, der Geschichts­ professor und Romanschriftsteller Graf Richard Du Moulin-Eckart, der nachmals als Romanschriftsteller, wie als Dramatiker erfolgreiche Friedrich Freska und seine unter dem Namen Margarete Beutler literarisch bekannte Gattin. Mit dem Grafen Du Moulin, einem Patenkinde Richard Wagners, in dessen Wesen sich Adelstradition und Freimaurertum mit studentischer Frische und zwanglosem Künstlergeist temperament­ voll und liebenswürdig einten, verband mich bald herzliche Freundschaft. Später steckte auch meine Be­ geisterung für den alten Schweden Bellman Schaum­ berg und Du Moulin dermassen an, dass wir uns ein­ mal abends in der Wohnung des Grafen als Rokoko­ herrn einfanden und in dieser stilgemässen Maskerade eine Art Gedenkfeier für meinen Liebling abhielten, wobei der Organist Kraus verschiedene BellmanVerdeutschungen nach den Originalmelodien sang. Endlich ist noch ein dritter Kreis zu erwähnen, an den ich damals geselligen Anschluss fand, im Cafö319

restaurant Heck am Odeonsplatz, der als abendlicher Treffpunkt der Münchener Hochschulprofessoren, wie auch älterer Offiziere, eine gewisse Tradition hatte. Eine der dortigen Stammtische beherrschte der freundliche und humorvolle Theologieprofessor a. D. Johannes Friedrich, der bekannte altkatholische Kampfgenosse Döllingers, dessen empfindlichen Augen zuliebe der Tisch grün gedeckt war; namhafte alte Freunde pflegten sich bei ihm einzufinden, so der Historiker und Präsident der Akademie der Wissen­ schaften Karl Theodor v. Heigel und der alte General von Nagel. Am Tische nebenan trafen sich der Rechts­ gelehrte Geheimrat Karl Gareis, ein prächtiger alter Herr von grossem menschlichen Wohlwollen und freiester Natürlichkeit des Wesens, mit dem Histo­ riker Professor a. D. Hans Prutz, einem Sohne des Dichters Robert Prutz, und anderen Herren verschie­ denen Berufs. Endlich gehörte diesem Kreise noch der Redakteur der wissenschaftlichen Beilage zur «Münchener Allgemeinen Zeitung», Dr. Oskar Bulle, an, der schon damals in seiner ruhigen Art viel wohl­ wollendes Interesse für meine Produktion, namentlich für meine deutschen Geschichtsdramen zeigte und sich mir später, als er in Weimar Generalsekretär der Deutschen Schillerstiftung geworden war, in noch höherem Masse als freundschaftlicher Förderer er­ wies. Im vorigen wurde des Zusammenhangs halber schon allerlei mit zur Sprache gebracht, was in spätere Jahre fiel; ich kehre nun zurück zur chrono­ logischen Darstellung meiner markantesten Erlebnisse als Schauspielreferent der «Neuesten Nachrichten». Die zweite Spielzeit (1902/03), die ich in dieser Eigen­ schaft mitmachte, brachte mir einen Konflikt mit meinem alten Gönner und Förderer Wilhelm Schnei­ der, dem Heldenvater und Regisseur der Hofbühne. Er hatte jetzt die Aufnahme seiner einzigen Tochter Elisabeth, die sich unter seiner Führung gleichfalls der Bühne gewidmet, in das Personal des Hofschau­ spiels durchgesetzt und dafür Sorge getragen, dass sie 320

schneller als andere Anfängerinnen in ersten Rollen beschäftigt wurde. Das entsprach zwar seiner echt väterlich hohen Einschätzung ihrer Begabung, nicht aber dem tatsächlichen Reifegrad der jungen Künst­ lerin, und da auch ihre spröde Erscheinung der weib­ lichen Anmut noch entbehrte, blieb sie bei aller Ver­ ständigkeit ihrer Leistungen als jugendliche Lieb­ haberin oft den wesentlichsten Reiz schuldig. Die Folge war natürlich, dass ich an ihr vieles auszu­ setzen fand, was Vater Schneider dermassen erboste, dass er einen höhnisch zurechtweisenden, mir jedes künstlerische Urteil absprechenden Brief an mich schrieb, in dem keine Spur mehr von der Hoch­ schätzung zu entdecken war, die er mir einst aus­ gesprochen und ja noch kurz vorher bei der Empfeh­ lung meiner «Verdammten» auch durch die Tat be­ wiesen hatte. Wie so viele andere, konnte eben auch er sich nicht in die veränderte Sachlage finden, dass sein junger Schützling von ehedem nun als öffentlicher Kunstrichter fungieren sollte. Seine Zuschrift war nach Inhalt und Ton so masslos, ungehörig und be­ leidigend, dass sie eine entsprechend derbe Antwort verdiente; aber ich hielt mich zurück, dessen geden­ kend, was Schneider mir vordem gewesen war, auch zog ich die leichte Erregbarkeit des Herzleidenden mit in Betracht und so erwiderte ich zwar mit ener­ gischer Verwahrung gegen seine Ausfälle, doch ohne Gegenhieb. Zur Einsicht seines Unrechts kam der zor­ nige Alte trotzdem nicht mehr, und da er bald darauf starb, endete unsere einst so schöne und herzliche Beziehung mit jenem schrillen Missklang, an dem nichts weiter die Schuld trug als seine väterliche Befangenheit und mein pflichtgemässes Urteil ohne Ansehen der Person. In derselben Spielzeit reizte mich die Münchener Erstaufführung von Maeterlincks «Monna Vanna» zur Niederschrift der bereits erwähnten parodierenden Verulkung «Monna Nirvana», die aus der Voraus­ setzung des Stücks, die allein natürlichen Konsequen21

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zen zog und bei den «Elf Scharfrichtern» noch fröh­ liche Verwirklichung fand. Bald nach meiner Auseinandersetzung mit dem Regisseur Schneider verlor ich auch die Freund­ schaft Bierbaums. Zwar hatte diese seinerseits, wie ich schon früher andeutete, nie auf festem Grund ge­ standen; trotz der materiellen Aushilfe, die er mir in Berlin vermittelt hatte, und manchen anderen Kame­ radschaftlichkeiten, war ich bei ihm das Gefühl einer gewissen Rückhaltigkeit, wie auch der unverhältnis­ mässig geringen Einschätzung meiner «künstlerischen Fähigkeiten» nicht los geworden, und dieses dunkle Gefühl hatte mich auch nicht getäuscht. Als sich nach seinem frühen Tod manche Zunge löste, erfuhr ich durch einen Ohrenzeugen, dass er zu einer Zeit, als ihn scheinbar noch herzlichste Bruderschaft mit mir verband, meine von anderer Seite vorgeschlagene Be­ ziehung zu einem repräsentativen, in jedem Betracht sehr vorteilhaften literarischen Unternehmen durch seinen Protest verhindert hatte. Wie schon erwähnt, hatte ich ihn nach meiner jahrelangen Isoliertheit in seinem Gerner Liebesnest aufgesucht. Er begrüsste da mein Kommen anscheinend aufs freudigste, und wies im Verlauf unserer Aussprache mit auffallender Nach­ drücklichkeit darauf hin, dass er jetzt ernstlich unter die Dramatiker gegangen sei und ein Schauspiel ge­ schrieben habe, von dem er viel halte und erwarte; es werde in Breslau und wohl auch auf einer Münche­ ner Bühne zur Darstellung gelangen. So sehr ich, ja eben weil ich Bierbaum als ausgesprochen lyrische und feuilletonistische Begabung schätzte, wurde mir bei dieser fast feierlich vorgebrachten Eröffnung bang zu Mute; ich sah, wie der Erfolg des spielerischen und ins primitiv Rührsame abgeirrten «Lobetanz», der doch sein Bühnenglück nur der Thuille’schen Ver­ tonung dankte, das sonst so klare Urteil Bierbaums über das Wesen und die Grenzen seines Talents ver­ wirrt hatte, und ich musste mir sagen, dass auf diesem Wege keine Lorbeeren für ihn, wohl aber, bei meiner Wahrhaftigkeitspflicht als Kritiker, Gefahren für un322

sere persönlichen Beziehungen zu erwarten stünden. So kam es denn auch, ja es kam noch schlimmer, als ich damals ahnen konnte. «Stella und Antonie» ge­ langte im Residenztheater zur Aufführung, und wie ich vorhergesehen hatte, wies das Stück bei allen Pretiositäten des Dialogs, die sich bei Bierbaum von selbst verstanden, aber im Bühnenvortrag mehr oder weniger verloren gehen mussten, so viele empfindliche Schwächen auf, dass ich, so schwer es mir fiel, auch hier gerechter Weise mit gleichem Mass wie bei anderen messen zu müssen, in meiner kritischen Ana­ lyse zu keinem günstigen Gesamtergebnis kam, was mir umso unangenehmer war, als es der Première bei dem allgemeinen Ansehen Bierbaums nicht an lautem Beifall fehlte, gegen den sich erst am Schlüsse auch einiger Widerspruch hervorwagte. Dass mein Urteil nicht irrtümlich war, bewies dann das schnelle Wiederverschwinden des Stückes von den Bühnen, trotz der praktischen Geschicklichkeit Bier­ baums und der zahlreichen Verbindungen, deren er sich überall erfreute; man kann sich aber vorstellen, wie meine strengsachliche Unentwegtheit auf einen impulsiven Stimmungsmenschen von seiner Art wirkte, der kein Verständnis für die ernsteren Seiten meines Wesens und Charakters hatte, meine Zwangslage nicht würdigte und mit aller Bestimmtheit von mir nur einen kameradschaftlichen Lobeshymnus erwartet hatte. Zwar unternahm Bierbaum zunächst in der Oeffentlichkeit noch nichts gegen mich; nach der Auf­ führung seines Stückes traf ich auch persönlich nicht mehr mit ihm zusammen, schon weil er damals oft auf längere Zeit zu verreisen pflegte; noch im selben Jahre und namentlich zwei Jahre später, sollte ich aber erfahren, wie extrem feindselig der alte «Julkusch», wie er sich mir gegenüber zu nennen ge­ pflegt, nun gegen seinen «Hanusch» gesinnt war. Seit des Generalintendanten von Possart Interesse und Ehrgeiz sich der Oper und insbesondere seiner Lieblingsschöpfung, dem neuerbauten Prinzregenten­ theater und dessen Wagnerfestspielen zugewandt 323

hatte, fand er keine Zeit und wohl auch keine Lust mehr, sich viel um die Pflege des schlichten Wort­ dramas zu bekümmern. So wai- das Hofschauspiel nach dem schon erwähnten ersten Konkurrenzeifer dem tatkräftig aufstrebenden Schaulspielhause Stollbergs gegenüber sowohl in der Unternehmungs­ freudigkeit, wie auch in den künstlerischen Qualitäten des stark gelichteten und nicht entsprechend ergänz­ ten Personals auf einen vorher nie dagewesenen Tief­ stand gesunken; das Schauspielhaus aber konnte in­ sofern keinen Ersatz bieten, als es für das Drama grossen Stils weder den Raum, noch den Fundus, noch auch das geeignete Personal besass. Die Sache hatte sich in jener Spielzeit 1903 auf 1904 bereits zu einem so allgemein empfundenen Uebel ausgewachsen, dass ich es für meine Pflicht hielt, sie in einem besonde­ ren Artikel zur Sprache zu bringen.........und warf dann Ende Januar 1904 in einem «Aufraffung oder Niedergang?» betitelten Feuilleton der Generalinten­ danz ihre Unterlassungssünden vor. Auch in diesem Falle stellte ich die Pflichten des mir anvertrauten Urteils über meine persönliche Neigung oder Abnei­ gung, denn ich hatte Possart das erste Eintreten für mein Hofnarren-Schauspiel nicht vergessen, und wie es mir peinlich war, jetzt als öffentlicher Kläger gegen ihn auftreten zu müssen, war ich mir auch durchaus bewusst, mir damit einen einflussreichen Feind mehr zu machen. Der Artikel schlug wie eine Bombe ein und bedeutete für Possart, wie ich später erfuhr, eine vollkommene Ueberraschung. Es kam dann zwischen ihm und der Redaktion der «Neuesten Nachrichten» zu einer ganz ungewöhnlichen Vereinbarung; Possart wollte sich vor dem Forum unserer Schriftleiter in einer besonderen Zusammenkunft persönlich verteidi­ gen und die schwebenden Fragen besprechen. Diese seltsame Geheimsitzung, zu der ich beigezogen wurde, fand dann auch wirklich in einem verschwiegenen Saal des Redaktionsgebäudes an der Sendlingerstrasse statt. Der Angeklagte, gewohnt, auch bei allen An­ lässen des realen Lebens seinem Auftreten wirksame 324

Form zu geben, zeigte die würdevolle Haltung eines hochverdienten und unrecht angefeindeten Imperators in katastrophaler Lage; seine Rede war mehr auf den Schmerzenston erlittener Undankbarkeit gestimmt, doch versäumte er nicht, einmal mit pathetisch erho­ bener Stimme auf den «Ruhm seiner alten Kriegs­ jahre» hinzuweisen, den er sich nicht wolle nehmen lassen. Die gestrengen Richter von der Redaktion blieben aber unzugänglich für alle Mittel der Rüh­ rung; in herber Nüchternheit wurden dem Intendan­ ten nochmals alle Misstände vorgehalten, wobei be­ sonders der junge Redakteur Dr. P... B........ durch scharfe, mit Ironie getränkte Angriffe sich her­ vortat. Für mich selbst ergab sich keine Notwendig­ keit mehr, erheblich in die Diskussion einzugreifen, ich konnte mich auf ein paar kurze gelegentliche Bemerkungen beschränken, und das war mir auch nur angenehm. Im ganzen nahm man trotz der vor­ läufig und äusserlich gütlichen Beilegung des Kon­ flikts, mit der die Aussprache naturgemäss abschloss, den Eindruck mit fort, dass Possarts Autorität unheil­ bar erschüttert war. Der Ausblick auf den bevor­ stehenden Absturz dieses Schauspielerlebens, das sich durch kluge Geschicklichkeit und zielbewusst zähe Kraftanstrengung zu glänzender Höhe emporge­ schwungen, stimmte mich ernster als die anderen, die Possart seiner schauspielernden Manier wegen ledig­ lich bespöttelten; ich hatte Achtung vor den tatsäch­ lichen Leistungen des Darstellers, Regisseurs und Unternehmers, deren Ungewöhnlichkeit sich trotz allem nicht bestreiten liess, und so war es mir fast leid, dass gerade ich, durch die Sachlage genötigt, den Auftakt zu seinem Rückzug aus der Oeffentlichkeit hatte geben müssen. Possart selbst scheint zunächst alles, was sich be­ drohlich gegen ihn erhoben hatte, irrtümlicherweise mir allein zugerechnet zu haben, während ich doch nur einer ganz allgemeinen Misstimmung Ausdruck gab; ja er soll mich dritten Personen gegenüber als seinen «Mörder» bezeichnet haben. 325

(Diesen Irrtum hat Possart später eingesehen, jedenfalls stellte er künstlerisches Interesse über Persönliches und wurde ein ebenso begeisterter wie meisterhafter Interpret Gumppenberg’scher Lyrik, als Gumppenberg längst nicht mehr Referent war. Anmerkung des Herausgebers.)

Dieselbe Spielzeit 1903 auf 1904, die mir «Stella und Antonie» und die Notwendigkeit brachte, gegen die Vernachlässigung des Hofschauspiels Klage zu er­ heben, beglückte mich auch noch mit weiteren An­ nehmlichkeiten. Der Lyriker Emanuel von Bodman war auf längere Zeit nach München gekommen, wir hatten uns näher kennen gelernt und manchen ver­ traulichen Abend plaudernd zusammen verbracht. Ich schätzte an ihm ein zwar engumgrenztes, aber echtes Stimmungstalent, und wir fanden aneinander Behagen. Plötzlich hatte nun auch von ihm der Theaterdämon Besitz ergriffen, und er brachte ein Märchendrama «Die Krone» im Schauspielhause zur Aufführung. Die Folge war, dass ich der öffentlichen Kunstgerechtigkeit abermals ein Opfer schlachten musste, und dass auch dieser mein letzter literari­ scher Umgang ein Ende nahm. Ausserdem brachte die gleiche Bühne als Gastspiel des Nürnberger radikal­ modernen Messtaler-Ensembles Wedekinds «Büchse der Pandora», und mein ehrliches Urteil über dieses Stück erregte den Autor und seinen Anhang bis zur Siedehitze. Noch war aber die Pandorabüchse, die jene Spiel­ zeit über mich ausschüttete, nicht erschöpft, ja das schwierigste und folgenschwerste war mir noch zum Schlüsse aufbehalten. In Berlin hatte während der Vorjahre Reinhardt als Leiter des Kleinen und Neuen Theaters mehr und mehr Aufsehen erregt... Fried­ rich Kayssler hatte ihn auf meine in München so er­ folgreichen «Verdammten» aufmerksam gemacht; er hatte das Stück sofort erworben und zwar auf mein Verlangen unter kontraktlicher Festlegung eines Ter­ mins und einer Konventionalstrafe für den Ver­ säumungsfall. Reinhardt hatte damals, wie ich nach326

träglich hörte, ganz allgemein die Taktik, sich eine Menge von Stücken zu sichern und die Poeten dann auf die Verwirklichung warten zu lassen, wahrschein­ lich in der Annahme, dass sie sich mit ihm nicht würden verfeinden wollen, vielmehr in jedem Be­ tracht seine Partei ergreifen würden, solange sie eine Aufführung bei ihm in Aussicht hatten. Bei den allermeisten glückte ihm das auch, aber ich verlor schliesslich die Geduld, klagte die Konventionalstrafe ein, und erhielt sie auch. Im Sommer 1904 wurde bekannt, dass Reinhardt in unserem Volkstheater mit seinem Ensemble eine Reihe von Gastvorstellungen geben sollte. Vor seiner Ankunft brachte er Reklame­ notizen in Münchener Blätter, die nur in unerhört vollkommenen Darbietungen ihre Rechtfertigungen hätten finden können. Eine Aufführung von Gorkis «Nachtasyl», der damaligen grossen Sensation des Tages, sollte den Anfang machen. Mit diesem Stück hatte uns in derselben Spielzeit und im gleichen Theater bereits ein anderes Gastspiel bekannt ge­ macht, die von Melanie Dorny geführte «Internationale Tournee» hatte es in einer Wiedergabe geboten, die zwar in der Einzeldarstellung vielfach mangelhaft, aber in allem, was die Regie unmittelbar in der Hand hat, in der Inszenierung, den Gruppierungen und in der Gesamtstimmung durchaus anerkennenswert ge­ wesen war. Die Verwirklichung durch das Reinhardt­ Gastspiel erhob sich nun für mein Urteil keineswegs so himmelhoch über jene frühere Aufführung, die mir noch in frischer Erinnerung war, ja sie erschien mir in der Suggestionskraft gerade jener eigensten und freiesten Leistungen der Regie sogar erheblich schwächer, und wenngleich die Verkörperung der ein­ zelnen Gestalten dank der kräftigeren Individualitäten der Darsteller und ihrer überlegenen Routine im ganzen mehr interessieren mochte, konnte ich doch die von Reinhardt angelegentlichst gepflegte, auf äusser­ lichsten Effekt berechnete Manier unvermittelten krampfhaft schreienden Loslegens weder naturwahr 327

noch geschmackvoll finden und fast in keiner der schauspielerischen Leistungen eine so glanzvolle Versinnlichung des dichterischen Urbildes erkennen, wie sie allein dem Tone jener Vornotizen entsprochen hätten. Es verstand sich für mich von selbst, dass ich diesen Eindruck im Referat ungeschmälert wiedergab. Unmittelbar nach dem Erscheinen meines Arti­ kels erhielt die Redaktion der «Neuesten Nach­ richten» zu ihrem und meinem Erstaunen folgende Zuschrift, die gleichzeitig auch an die «Münchener Post» und wohl noch an andere Münchener Blätter ging: «Unterzeichnete Zuschauer der Vorstellung des Gorkischen Nachtasyl durch das Ensemble des Kleinen und Neuen Theaters Berlin halten es für ihre Pflicht, gegen die Besprechung dieser Vorstellung durch Herrn Hanns von Gumppenberg öffentlich Stellung zu nehmen. Wir wollen in keiner Weise das Recht des Kritikers bestreiten, seine persönliche Meinung selbst in der schärfsten Weise auszusprechen; aber wir ver­ wahren uns dagegen, dass ein ganz aussergewöhnlich starker künstlerischer Erfolg dem Lesepublikum gegenüber durch hämische Redewendungen zu einem eklatanten Misserfolg umgestempelt wird. Vor allem jedoch verwahren sich Unterzeichnete, dass einer so ernsten Kunstleistung gegenüber ein so unwürdiger Ton angeschlagen wird, wie er unseres Erachtens in dieser Besprechung gebraucht wird. (Unterzeichner waren neun teils namhafte, teils seither wieder in Vergessenheit geratene Literaten und Künstler. Anmerkung des Her­ ausgebers.)

Da hatte ich nun gleich die ganze Verschworenen­ Liste! Darunter gleich drei Duzbrüder nach eigenem Antrag: Steiger, Wedekind und Bierbaum! Da der Wortlaut meines Berichts dem Vorwurf, dass ich den Erfolg der Nachtasyl-Aufführung zu einem «eklatanten Misserfolg» verdreht hätte, offen­ sichtlich widersprach, war es der Redaktion nicht 328

schwer gemacht, sich völlig auf meine Seite zu stellen. Sie druckte zwar die Verwahrung der neun Ent­ rüsteten ab, fügte aber die folgende Entgegnung an: «Wir gedachten dieses Schriftstück zunächst ad acta zu legen, wie so viele andere, die Unzufriedenheit mit irgendeiner Kritik äussern, und uns mit den Unterzeichnern des Protestes privatim auseinander­ zusetzen. Da aber heute Nachmittag die «Münchener Post» — ein Blatt, das sich seinerzeit bei dem Feldzug Sudermanns eifrigst für die Freiheit der Kritik ins Zeug gelegt hat und von dieser Freiheit sonst auch ausgiebigst Gebrauch zu machen pflegt — den Protest veröffentlicht, sehen wir uns genötigt, auch öffentlich dazu Stellung zu nehmen. Wir wollen nicht untersuchen, welches Interesse die Unterzeichner — die bisher doch als unbedingte Anhänger der freien Meinungsäusserung in Wort und Schrift gelten mussten — daran haben, in einer Sache, die sie nicht einmal persönlich berührt, unseren Herrn Theaterreferenten — frei nach Sudermann — öffent­ lich anzugreifen, und inwiefern sie dazu berufen und befugt sind, ihre Ansichten mit solcher Bestimmtheit öffentlich für die richtigeren zu erklären, als die unseres anerkanntermassen stets ruhig, sachlich und vornehm urteilenden Herrn von Gumppenberg. Bei­ spielsweise ist uns nichts davon bekannt, dass die Herren Stavenhagen und Dressier sich so intensiv mit Dramaturgie und Literatur beschäftigt hätten, dass sie beanspruchen könnten, mit ihrem wunderlichen Pro­ test ernst genommen zu werden. Die übrigen Herren sind zum Teil Bühnenschriftsteller, die als solche mit dem Kleinen und dem Neuen Theater in geschäft­ lichen Beziehungen stehen oder in Zukunft stehen werden, oder aber Autoren, über die Herr von Gump­ penberg schon kritisch zu Gericht hat sitzen müssen. Auch sie hätten es also besser unterlassen, Herrn von Gumppenberg wegen der Ausübung seiner kritischen Tätigkeit öffentlich zu insultieren, denn zum min­ desten der Schein persönlicher Sympathien und Anti­ 329

pathien, wenn auch unbewussten, ist da nicht zu ver­ meiden. — Doch abgesehen von diesen persönlichen Momenten, die uns den Protest ohne weiteres ab­ lehnen lassen, ist dieser auch rein sachlich völlig un­ gerechtfertigt. Es heisst darin: «Wir verwahren uns dagegen, dass ein ganz aussergewöhnlich starker künstlerischer Erfolg dem Leserpublikum gegenüber durch hämische Redewendungen zu einem eklatanten Misserfolg umgestempelt wird.» Wir setzen zur Widerlegung lediglich hierher, was Herr von Gumppenberg geschrieben hatte: In der Vornotiz in Nr. 281: «Der heutige erste Gast­ spielabend des «Kleinen Theaters»....... wurde mit starkem Beifall aufgenommen, das Ensemble zuletzt stürmisch und oftmals gerufen.» In seinem Bericht Nr. 282: «Das ... Haus war sehr beifallslustig und spendete den Herren Reicher und Massmann bei offener Szene, dem Ensemble nach allen Akten starken Applaus; am Schluss wurden die Mitwirkenden... immer wieder stürmisch an die Rampe gerufen.» Welches Leserpublikum, fragen wir, liest aus diesem Bericht einen eklatanten Misserfolg heraus? Herr v. Gumppenberg hat vollständig objektiv den starken Erfolg verzeichnet, den das Ensemble beim Publikum hatte, und im übrigen, wie es eben das Amt des Kritikers ist, seine Meinung über das En­ semble geäussert. Hätte er etwa seine Ansicht nach der des Publikums «umstempeln» sollen? Muten die Herren Steiger,............. , ....................... . Wedekind, Bierbaum, dem Kritiker wirklich zu, dass er sein Ur­ teil dem Verhalten des Publikums entsprechend ein­ richtet? — Im übrigen hat sich Herr v. Gumppenberg in seiner Kritik weder «hämischer Redewendungen» bedient, noch einen «unwürdigen Ton» angeschlagen. Er hat dem Gefühl der Enttäuschung Ausdruck ver­ liehen, das ihm diese Vorstellung nach den über­ enthusiastischen Berichten von auswärts bereitet hat, und das war nicht nur sein gutes Recht, sondern auch 330

seine Pflicht Wir erklären dem ganz ungewöhn­ lichen, die merkwürdigsten Konsequenzen eröffnenden Vorgehen der Unterzeichner gegenüber unser voll­ ständiges Einverständnis mit Herrn v. Gumppenberg.» Diese redaktionelle Zurückweisung des Angriffes war so treffend und gründlich, dass ich garnicht mehr nötig hatte, selbst das Wort zu ergreifen. Die Gegner, offenbar um eine Erwiderung verlegen, schwiegen zu­ nächst. Sie wussten wohl noch nicht von jenem Unterbleiben der Aufführung meiner «Verdammten» bei Reinhardt, sonst hätten sie gewiss schon damals irgendwie mich damit zu diskreditieren versucht; auch Reinhardt selbst erinnerte sich sehr wahrscheinlich nicht sogleich an den Vorfall, bei der Menge von Stücken, die er schon einmal angenommen hatte, und deren Autoren er kaum alle im Gedächtnis behalten konnte, andernfalls wäre es ihm ja ein Leichtes ge­ wesen, seinen eifrigen Verteidigern diese «Waffe» indirekt in die Hand zu spielen. Trotzdem musste ich mir sagen, dass die augenblickliche Stille nur eine kurze Pause in dem einmal entbrannten Kampf be­ deute, und die Redaktion schien die Lage ebenso auf­ aufzufassen, wenigstens nahm sie mir für alle Fälle das Versprechen ab, meinerseits auf etwaige persön­ liche Angriffe nicht mit Rauflust, sondern um des Blattes willen mit gelassenem Ignorieren zu antwor­ ten. Ich versprach diese Zurückhaltung — ungern genug, denn ich ahnte Situationen, die sie mir schwer machen würden. Meine Vermutung bestätigte sich: die Studentenschaft wurde gegen mich alarmiert — grotesk genug, denn gerade die jugendlich-idealistische Kampfeslust hätte für mich als den angefeindeten Ver­ treter der Wahrhaftigkeit und gegen eine vergewalti­ gende Stimmungsmache Partei ergreifen müssen! Aber freilich, man hatte den jungen Leuten gesagt, ich sei ein Ausbund von Niedertracht oder von dummer Schulmeisterei oder von beiden zusammen, und die Leistungen der Reinhardttruppe denkbar reinste und edelste deutsche Kunst, und sie glaubtens. Ihre Begei331

sterung für die Berliner Gäste und ihre Entrüstung gegen mich wurde noch gesteigert durch die kluge Massnahme Reinhardts, ihnen zu einer Nachmittags­ aufführung von «Kabale und Liebe» freien Eintritt zu gewähren. Infolgedessen beherrschten sie bei dieser Vorstellung das Haus, liessen es an tosenden Beifall und demonstrativem Bravogeschrei nicht fehlen und überreichten im Zwischenakt dem geliebten Meister feierlichst eine Dankadresse, die zugleich ein Pereat gegen mich als angeblichen «osor» bedeutete. Die tapferen Jünglinge suchten mich, der ich auf einem der Ränge ruhig wie immer dem Spiele folgte, auch mit höhnischem Angrinsen und herausfordernden Ge­ berden zu belästigen, ja sie drängten sich am Schlüsse, als ich das Theater verliess, an mich heran und bil­ deten eine Art feindseliges Spalier. Wäre ich nicht, meinem Versprechen treu, in stummer Gelassenheit an ihnen vorübergegangen, darauf verzichtend, auch an ihnen «rückhaltlose Kritik» zu üben, so wäre eine solenne Schlägerei zwischen mir einzelnem und hun­ derten von Gegnern unausbleiblich gewesen. Auf mein Urteil über die Leistungen der Gäste ge­ wannen alle diese persönlichen Anwürfe gar keinen Einfluss. Hätte ich auch nur im geringsten eine solche Beeinflussung in mir verspürt, sei es nun im Sinne heftiger Vergeltungsneigungen oder in dem Trieb zu opportuner Abmilderung meiner Ausstellungen, so hätte ich sofort der Redaktion erklärt, wegen Befan­ genheit auf die Fortführung des Referats über das Gastspiel verzichten zu müssen. Aber ich konnte keine Erregung solcher Art in mir feststellen, dafür lag alles in seinen Gründen zu trivial klar und reichten die Angriffe zu wenig an mein Seelisches heran. Ich konnte daher ganz so sachlich und freimütig wie über die Eröffnungsvorstellung auch über alle anderen Reinhardt-Aufführungen berichten, und da ein glück­ licher Zufall es fügte, dass keine von ihnen auch nur annähernd in gleich starken Widerspruch mit mei­ nem Urteil geriet, wie die Aufführung des naturali­ 332

stischen «Nachtasyl», ja einzelnes, wie die Wieder­ gabe der Legende «Schwester Beatrix» dank dem über­ hitzten Eigenwesen der betreffenden Werke auch mir durchaus entsprechend und anerkennenswert erschien, gab es für den Augenblick keinen weiteren Konflikts­ stoff. Dass man meine nur in der Sache begründete günstigere Beurteilung dieser anderen Vorstellungen als verschüchtertes Einlenken deuten konnte und bei der völligen Verkennung meines Charakters und mei­ ner Motive wahrscheinlich auch für nichts Besseres nahm, liess mich kalt; für mich handelte es sich wie immer nur darum, vor meinem eigenen Gewissen bestehen zu können, und die Unterdrückung oder Einschränkung eines zustimmenden Urteils aus Grün­ den persönlicher Vorteilhaftigkeit hätte ich mir ebenso wenig verziehen, wie die Verleugnung eines abfälligen. Obschon man mich jetzt eine Weile in Ruhe liess, war für die Gegner, die meiner kritischen Tätigkeit nun einmal den Tod geschworen hatten, die Angele­ genheit noch keineswegs beigelegt; schon das ent­ schiedene Eintreten der Redaktion für mich und die öffentliche Abfuhr, die sie erlitten hatten, stachelte sie zu neuen Versuchen, meine Stellung zu erschüttern. Eine in München neu aufgekommene Zeitschrift «Die Freistatt», die mit dem früher geschilderten gleich­ namigen Abendzirkel in keiner Weise zusammenhing, sich aber anfangs ebenso freundlich zu mir gestellt und sogar meine «Schwedische Lyrik» mit besonderer Wärme begrüsst hatte, nahm plötzlich die Partei meiner Feinde und überfiel mich im Hochsommer, feige genug, während meiner Ferienabwesenheit von München, mit einem verdächtigenden Artikel; ich hätte Reinhardt nur deshalb am Zeuge flicken wollen, weil er ein von mir eingereichtes, jämmerlich schlechtes Stück abgelehnt habe. Es konnte sich nur um jene Affäre mit den «Verdammten» handeln, die nun in böswilliger Entstellung, ja man darf wohl sagen: Um­ kehrung der Tatsachen, dem edlen Zweck meiner Be­ seitigung dienen sollte. Darauf aufmerksam gemacht, 333

benachrichtigte man mich telegraphisch von dem neuen Angriff, dessen Unschädlichmachung meine so­ fortige Rückkehr erfordere. Hals über Kopf musste ich mitten aus meinem Tiroler Bergfrieden über Mün­ chen nach Wolfratshausen eilen, wo meine Frau damals mit den Kindern zur Sommerfrische weilte und mir das nötige Material bereit hielt. Ich las dort den Artikel und schrieb die entsprechende Ent­ gegnung, in der ich die Erwerbung der «Verdammten» durch Reinhardt nach den starken Münchener Erfol­ gen des Stücks, seinen Kontraktbruch und den Ab­ schluss der Angelegenheit durch Reinhardts Zahlung der Konventionalstrafe feststellte, auf Grund des Pressegesetzes die öffentliche Berichtigung verlangend. Freilich war ich mir klar darüber, dass, wer von den Erfolgen der «Verdammten» nichts wusste und mein Wesen nicht kannte oder nicht kennen wollte, auch noch aus dieser wahren Sachlage etwas wie meine Be­ fangenheit als Reinhardt-Kritiker würde konstruieren können. Die «Freistatt» wusste indessen meine not­ gedrungen aufgenommene Berichtigung nur mit der plumpen und stumpfen Bemerkung zu glossieren, dass Reinhardt gewiss froh gewesen sei, durch Zahlung der Konventionalstrafe das Stück loszuwerden. Für jeden vernünftig Ueberlegenden las sich das gewiss unlo­ gisch genug; der geniale Direktor sollte den greulichen Unwert meines Werks erst lange nach der kontrakt­ lichen Erwerbung erkannt und sich noch obendrein über den Verlust der Konventionalstrafe herzlich ge­ freut haben. Aber für oberflächliche Leser, wie sie ja immer die ungeheure Mehrzahl bilden, bedeutete auch diese Glosse der «Freistatt», auf die ich ohne Herauf­ beschwörung unwürdigen und schliesslich doch un­ fruchtbaren Gezänks nicht weiter erwidern konnte, eine wirksame Herabsetzung meiner «Verdammten» und damit auch eine allgemeine Schädigung meines Ansehens und meiner praktischen Aussichten als Bühnenautor....... Mittlerweile war der langjährige Dramaturg der Hofbühnen, Dr. Buchholz, gestorben; Possart hatte

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Umschau nach einem geeigneten Nachfolger gehalten. Eines Tages liess er durch den Regisseur Lützenkir­ chen telefonisch bei mir anfragen, ob ich geneigt wäre, die vakant gewordene Stellung anzunehmen. Einen sol­ chen Dramaturgenposten an einem grösseren Theater hatte ich ja selbst von jeher angestrebt, und da ich ja durchaus nicht mit Leidenschaft an meiner Kritiker­ tätigkeit hing, hatte der Antrag in der Tat etwas Verlockendes für mich. Freilich aber konnte ich das Wagstück nur unter Bedingungen unternehmen, die mir entsprechende Möglichkeiten eröffneten. Der ver­ storbene Hoftheater-Dramaturg hatte zuletzt nur mehr die Funktionen einer Lese- und Registriermaschine und eines Intendanz-Prügeljungen gegenüber der Oeffentlichkeit und den Autoren inne gehabt; irgend­ welchen praktischen Einfluss auf den Betrieb hatte man ihm nicht mehr gegönnt. Auf solche Art mich kaltstellen, ja lebendig begraben lassen, wollte ich natürlich nicht, so verzögerte ich denn meine Antwort mit der Gegenfrage, ob mir ein Sitz im Regie-Kolle­ gium und einige andere Rechte zugebilligt würden, die Dr. Buchholz versagt geblieben waren, auch ersuchte ich um Aufklärung über die Gehaltsfrage. Die Inten­ danz erwiderte brieflich, die Befugnisse des Drama­ turgen könnten nicht erweitert und es könnte mir auch kein höheres Gehalt geboten werden, als meinem Vorgänger. Unter solchen Umständen wurde mir die Entscheidung leicht; ich lehnte dankend ab. Die Episode sollte aber noch ein Nachspiel haben. Durch irgendwen war sie zur Kenntnis meiner alten Freun­ din, der Wochenschrift «Freistatt» gelangt, diese be­ eilte sich, durch einen, «Danilo» gezeichneten Artikel, den Vorfall in einer meiner Kritiker-Ehre abträglichen Verdrehung an die Oeffentlichkeit zu bringen, denn wäre ich tatsächlich, wie da zu lesen stand, selbst aus freien Stücken mit einer Bewerbung um den Drama­ turgenposten an die Intendanz herangetreten, so konnte man, zumal nach meiner früheren Stellung­ nahme gegen Possart, den Vorwurf einer Art erpres335

serischen Ausnützung meiner Referentenstellung gegen mich erheben. Ich sah mich daher wieder zu einer öffentlichen Richtigstellung gezwungen, und erledigte das in den «Neuesten Nachrichten» mit der folgenden Erklärung: «Die Wochenschrift «Freistatt» bezeichnet mich mit all der Liebenswürdigkeit und Sachkenntnis, die ich von dieser Seite gewohnt bin, als den neuesten «Kan­ didaten» für den vakanten Posten des Kgl. Hoftheater­ Dramaturgen und Herrn Lützenkirchen als meinen «Protektor». Hiernach müsste es scheinen, als hätte ich mich um das genannte Amt aus eigenem Antrieb beworben und in Herrn Lützenkirchen einen Fürspre­ cher gesucht und gefunden. In Wahrheit aber hat nur Herr v. Possart dieser Tage Herrn Regisseur Lützen­ kirchen beauftragt, in seinem Namen die private tele­ fonische Anfrage an mich zu richten, ob ich eventuell mich bereit finden liesse, den Dramaturgenposten zu übernehmen. Ich erwiderte Herrn v. Possart brieflich, dass ich diesem Projekt nicht auf der Basis der bis­ herigen Verhältnisse nähertreten könnte, sondern nur bei einer Erweiterung der Rechte und Pflichten des Dramaturgen und entsprechend höherer Dotierung. Ich erhielt dann die kurze briefliche Gegenäusserung des Intendanten, dass eine solche Umgestaltung der Dramaturgenstellung ausgeschlossen sei, womit die An­ gelegenheit für mich erledigt war.» Der Feuilleton-Redakteur der «Neuesten Nachrich­ ten», wie vorher auch bei diesem Anlass ganz auf meiner Seite, hatte eine besondere Aeusserung der Redaktion zu dieser Sache nicht für nötig gehalten. Nun beantwortete der Pseudonyme in der «Freistatt» meine Erklärung mit Schmähungen gegen mich und dem höhnischen Ausdruck der Verwunderung, dass eine solche redaktionelle Stellungnahme unterblieben sei; worauf Emil Grimm den Hartnäckigen folgender­ massen abfertigte: «Ein unter dem Pseudonym «Danilo» schreibender Herr hat es vor einer Woche für zweckmässig gefun336

den, sich in der «Freistatt» mit unserem geschätzten Schauspiel-Referenten, Herrn Hanns v. Gumppenberg in Sachen der Besetzung des Dramaturgenposten am Kgl. Hof- und Nationaltheater zu befassen. Herr v. Gumppenberg hat darauf sofort eine erschöpfende Auskunft gegeben. Herr Danilo vermisst jetzt bei der Erklärung des Herrn v. Guppenberg einen Kommentar der «Münchener Neuesten Nachrichten». Er möge ihn haben: «Die Anzapfung in Nr. 3 vom 21. Januar 1905 der «Freistatt» und die Herabsetzung der literarischen und kritischen Tätigkeit unseres Schauspiel-Referenten war ein so unanständiger und von persönlicher Ge­ hässigkeit eingegebener Angriff, dass man sich wun­ dern muss, ihn in einer Wochenschrift vornehmen Stils aufgenommen zu sehen....... Herr «Danilo« weiss nun, was wir von der Sache halten.» Bierbaum war durch die Erfahrungen, die er mit «Stella und Antonie» gemacht, von seinen dramatischen Ambitionen nicht geheilt worden. Die Spielzeit 1905^06 brachte im Münchener Schauspielhause seine «Stilpes­ Komödien, die er nach seinem gleichnamigen, burschi­ kos-humoristischen Roman fürs Theater zurechtgezim­ mert hatte. Was im Roman als behaglich verschnör­ kelte Redseligkeit eines spasshaften Erzählers hinzu­ nehmen war, wirkte als Bühnendialog unnatürlich und anödend. Die Studentenspässe nahmen sich hier, wo man sie als Handlung respektieren sollte, dürftig ge­ nug aus, und die Nasführung des wohlmeinenden alten Herrn wirkte im grellen Rampenlicht, das nun einmal zu realer Ueberlegung der Dinge zwingt, sogar gefühlsroh. All dem musste ich in meinem Bericht ehrlicherweise Ausdruck geben: Und nun dachte Bier­ baum, mir mit einer wohlgezielten Salve den Garaus zu machen. Martin Feuchtwanger, ein Bruder des begabten, damals mit Erstlingen auf dem Plan erschienenen jungen Bühnenschriftstellers Lion Feuchtwanger, gab unmittelbar nach der Veröffentlichung meines Refe­ 22

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rates die erste Nummer einer neuen Zeitschrift «Mün­ chener Schauspiel-Premieren» heraus, die äusser regel­ mässigen Besprechungen der Schauspiel-Neuheiten und Selbstkritiken der betreffenden Autoren vor allem auch — das sollte gewiss der Hauptzweck sein — eine «Kritik der Kritik» pflegen wollte, um den schuldlos misshandelten Dramatikern auf diese Weise das letzte Wort in der Oeffentlichkeit zu sichern. In das Eröff­ nungsheft brachte nun Bierbaum seinen «Hanns der Unbefugte» überschriebenen Angriffsartikel, und er ge­ brauchte darin Waffen, die ich dem langjährigen Ka­ meraden trotz allem nicht zugetraut hätte. Nicht nur dass er mir in diesem Pamphlet jedes Urteil und Kunstverständnis und jede «Autorität» absprach und das Publikum gegen mich aufzuhetzen suchte, dem gegenüber ich mir durch eine Redewendung des «Stilpe»-Berichts Zensoren-Befugnisse angemasst hätte: er holte auch meine damals schon 14 Jahre zurück­ liegende spiritistische Episode wieder hervor und suchte mich damit als notorisch geistesgestört hinzu­ stellen, unter Verschweigung der Tatsache, dass ich mich in meinem Roman «Der fünfte Prophet» über jene Verirrung alsbald zu einer «Selbstkritik» erhoben hatte, die an schonungsloser Gründlichkeit gewiss nichts zu wünschen übrig liess. Natürlich sorgte er auch dafür, dass die Nummer der «Schauspiel-Pre­ mieren» sofort dem Verlag wie auch der Redaktion der «Neuesten Nachrichten» zuging. Der Verlag befasste sich aber gar nicht mit der Sache, und die Redaktion trat wieder ganz auf meine Seite. Der Feuilleton-Redakteur Grimm zerpflückte zunächst in längeren Ausführungen einen mit erstaun­ licher Leichtfertigkeit riskierten Leitartikel Martin Feuchtwangers, worin dieser der bisherigen Münche­ ner Theaterkritik — natürlich war ich gemeint — das Uebersehen einer Reihe von Misständen vorrech­ nete, die gerade ich schon wiederholt nachdrücklichst zur Sprache gebracht hatte; Grimm brauchte da ein­ fach nur meine betreffenden Sätze zu zitieren. Er 338

kam dann auf den Schmähartikel Bierbaums und des­ sen Vorwurf des Publikum-Zensurierens zu sprechen, und wies mit gebührender Schärfe auf die Tatsache hin, dass Bierbaum selbst bei einem früheren Anlass in den «Neuesten Nachrichten» dem Theaterpublikum gehörig die Wahrheit gesagt hatte. Die Zurückweisung der übrigen Angriffe Bierbaums überliess die Redak­ tion mir selber, und auch ich hatte es bei der blinden Unbedachtheit des Angreifers nicht schwer, ihn vor der Oeffentlichkeit durch einen wuchtigen Gegenhieb abzuführen, denn schonen durfte ich ihn jetzt nicht mehr. Anderen Tages brachten die «Neuesten Nach­ richten» folgenden offenen Brief von mir: «Die Auslassungen des Herrn Otto Julius Bierbaum könnte man aus allzu menschlicher Erregung eines von scharfer Kritik mitgenommenen Autors begreifen, wenn seine Stücke von mir ungünstiger beurteilt wor­ den wären als von den Kollegen der Münchener Schau­ spielkritik. Das aber war bekanntlich keineswegs der Fall: vielmehr hatte ich sie immer noch schonungs­ voller — unter Anerkennung der lyrischen Verdienste des Autors — besprochen als die übrige Kritik, die Bier­ baum bei dem letzten Anlass u. a. vorhielt, dass er die «Stilpes-Komödien überhaupt nur aus geschäftlichen Rücksichten verfertigt habe. Da ich meinerseits ein so hartes Votum nicht abgab, sondern mich auf die künstlerische Beurteilung der Stücke beschränkte, musste die gerade an mir geübte «Rache des Autors» eigentlich rätselhaft erscheinen. Doch des Rätsels Lösung ist einfach! Otto Julius der Geschäftsmann rechnet eben nur mit den «M. Neuesten Nachrichten» und darum suchte er jetzt in der bewährten Maske der idealen Entrüstung ausschliesslich mich zu diskre­ ditieren. Er ist aber bei diesem Versuch nicht vor­ sichtig genug verfahren. Denn derselbe Bierbaum, der mich nunmehr in einem Atem als verständnislos, bös­ willig und unzurechnungsfähig hinstellt und als ehe­ maligen Okkultisten in einer Komödie eigenen Fabri­ kats zu verhöhnen «droht»: ganz derselbe Bierbaum 339

hat kurze Zeit vor der hiesigen Erstaufführung seiner «Stella und Antonie», nämlich am 7. März 1903, in der Wiener «Zeit» ein Feuilleton über jene meine kurze und jetzt vierzehn Jahre zurückliegende mystische Schwärmerzeit veröffentlicht, in welchem er nicht bloss vor mir, dem Schauspielkritiker der «M. Neuesten Nachrichten», eine sehr respektvolle Verbeugung machte, sondern auch mein okkultistisches Intermezzo von 1891 so hochachtungsvoll als möglich und unter ausdrücklicher — sehr dankenswerter — Hervor­ hebung meiner überhaupt niemals gestörten geistigen Gesundheit beurteilte. Er schrieb da wörtlich, dass ich jetzt «am ersten Blatte Münchens mit ebensoviel küh­ lem Urteil wie kunstempfänglichem Herzen das Amt des Schauspielkritikers verwalte», ferner, dass er mich schon damals — anno 1891 — «bei all meiner humo­ ristischen Begabung» als einen «sehr ernst ringenden Geist» kannte; er betonte ausdrücklich — was er jetzt bezeichnender Weise verschweigt! — dass ich bald nachher jene meine metaphysische Kinderkrankheit in einem Roman «Der fünfte Prophet» selbst persi­ flierte, ja er leitete seine Darstellung — äusserst zart­ fühlend — mit den Worten ein: «Ich würde vor der Oeffentlichkeit nicht davon reden, wüsste ich nicht, dass der Prophet von dazumal ein ruhiger kritischer Kopf geworden ist, der seine «Offenbarung» glücklich überwunden hat und bei der Erinnerung daran gewiss lächelt, wie man so darf, wenn man an Irrungen und Wirrnisse zurückdenkt, deren man siegreich Herr geworden ist.» Also sprach Otto Julius der Betrieb­ same vor meiner Beurteilung seiner Theaterstücke. Hanns von Gumppenberg.» Diese Gegenüberstellung der beiden widersprechen­ den Aeusserungen über mich entwaffneten Bierbaum völlig. Zwar versuchte er noch in zwei Zuschriften an die «Neuesten Nachrichten», den blamabeln Eindruck durch nebensächliche Ausflüchte abzuschwächen, jedesmal aber führte ich ihn, zur Entgegnung das 340

Wort erhaltend, auf die Tatsachen zurück, an denen sich nun einmal nicht rütteln liess. Bierbaums Niederlage fand auch darin ihren Aus­ druck, dass der eigene Bruder des Redakteurs der «Schauspiel-Premieren», Lion Feuchtwanger, in den «Neuesten Nachrichten» erklärte, dass er den An­ griffen gegen mich fern stehe, und dass an gleichem Orte eine ganze Reihe Münchener Schriftsteller, die der neuen Zeitschrift Beiträge zugesagt hatten, darun­ ter Franz Blei, Wilhelm Michel, Richard Braungart und Maximilian Schmidt, in öffentlichen Erklärungen ihre Mitarbeit zurückzogen. Von allen Seiten preis­ gegeben, sah sich die Zeitschrift baldigst genötigt, ihr Erscheinen einzustellen. Man kann sich denken, wieviel Gift und Galle in Bierbaum von dieser unglücklichen Mensur zurück­ blieb. Er verspritzte den Vorrat in seinen folgenden Büchern, wo er nun eifrig Gelegenheiten konstuierte, mich wenigstens in den Augen seiner Leser herabzu­ würdigen. Wenn man alle die Intrigen, Angriffe und Anpöbe­ lungen, denen ich als Referent der «Neuesten Nach­ richten» ausgesetzt war, und von welchen ich im Vori­ gen nur die markantesten schilderte, mit den nerven­ erschöpfenden Anstrengungen zusammenhält, die von mir gefordert waren, wenn man ferner bedenkt, wie der Zwang, allen möglichen Wust mittelmässiger oder auch völlig wertloser Theatermache neben verschwin­ dend wenigen Werken von Rang willig in mich auf­ zunehmen und gewissenhaft zu verarbeiten, mich kaum mehr zu mir selbst, zur persönlichen Sammlung und einer mir angemessenen Eigenproduktion kommen liess: dann wird man sich lebhaft vorstellen können, dass ich alljährlich die mir während der Theater­ ferien vergönnte sommerliche Erholungspause tief­ aufatmend wie eine Erlösung begrüsste ... Dass ich die volle körperliche und seelische Erquickung nur in meinen lieben alten Bergen fand, darüber gab es für mich keinen Zweifel. Abgesehen von dem ganz 341

eigentümlichen, verstandesmässig nicht ohne Rest er­ klärbaren Heimatsgefühl, das mir die Alpen von jeher gegeben hatten, überzeugte ich mich durch gelegent­ liche Versuche mit anderen Gegenden immer wieder, dass auch meine physische Natur nach dem Land der ragenden Höhen und tiefeingeschnittenen Täler ver­ langte; ein einziger Tag, in der reinen und herb­ frischen Bergluft verlebt, erneuerte wie durch ein Wunder alle meine Kräfte. Ein sportmässiger Klet­ terer und Gipfelstürmer war ich nicht. Aber der leb­ hafte Trieb zum freien Wandern in der Bergnatur war mir ebenso geblieben wie die Beweglichkeit und Ausdauer dafür. So lieb mir das einsame Umher­ streifen in meinen frühesten Jugendjahren gewesen war, wo es mir sogar die beste seelische Bereicherung gegeben hatte, jetzt ertrug ich es gerade in den Ber­ gen schwerer. Ich besann mich, wie diesem Uebelstand abzuhelfen wäre. Dass er sich vor allem aus der ungewohnten geistigen Beschäftigungslosigkeit er­ gab, war mir klar geworden: und da die Mitführung einer literarischen Arbeit sich unbedingt verbot, weil damit alles Ausruhen illusorisch geworden wäre, suchte ich nach einer anderen, leichten, aber doch irgendwie zielsetzenden Betätigung, die auch von der persönlichen Reflexion ablenken könnte, und fand sie in der Hingabe an meine mineralogischen Neigungen. Die Tiroler und Salzburger Alpen, in die es mich wegen ihrer reicheren Natur Schönheit mehr zog als in die Berge meiner bayrischen Heimat, waren auch reich an interessanten Mineralien, und obschon ich mich schnell genug überzeugte, dass bei der Abge­ suchtheit der bekannteren und leichter zugänglichen Fundorte unmittelbar nicht viel zu erlangen war, konnte ich doch hoffen, bei den Bergführern, den Jägern und den Bauern, die sich nebenher mit «Stein­ klauben» abgaben und entlegene, von ihnen streng geheim gehaltene Fundstellen wussten, für wenig Geld manches gute Stück aufzutreiben. Diese Hoffnung trog mich auch nicht: die Folge war, dass ich meine alpi342

nen Sommertouren mehr und mehr nach dem minera­ logischen Gesichtspunkt entwarf und lieber auf das Kennenlernen neuer Gegenden verzichtete, wenn sie mir in jenem Betracht zu wenig versprachen. Hier­ aus ergab sich bald ein Jahr um Jahr fast gleich­ förmig festgehaltener Wanderplan, der die minera­ logisch aussichtsvollsten Gebiete umfasste und meist nur kleinere Varianten und Zusätze erfuhr. Ich pflegte erst nach Salzburg zu fahren, dann über Golling, wo mich der schwarzblaue Saphirquarz lockte, nach dem von der Gipfelkette des felsigen Tannen­ gebirgs so prächtig überkrönten Salzachdorfe Werfen zu pilgern, um dort die bäuerlichen Sammler des sel­ tenen goldgelben Wagnerits und des himmelblauen Lazuliths aufzusuchen. Von dort ging es über Zell am See in den Pinzgau, wo ich gewöhnlich mein Standquartier in dem uralten Bramberger Wirtshause nahm. Bramberg empfahl sich mir als eine Art Zen­ trale der Steinklauberei des Grossvenediger-Gebiets, vor allem des Habachtais mit seinen im silber­ schimmernden Glimmerschiefer eingebetteten Sma­ ragdprismen und des Untersulzbachtals mit seinen blauen Beryllen und seiner Knappenwand, dem welt­ berühmten Fundort der herrlichen dunklen Kristalle des Epidots und der wasserklaren des Apatits, dann auch der übrigen benachbarten Tauerntäler mit ihren schönen Drusen von braunem Granat und gelbgrünem Titanit. Im Krimml gab es hernach grosse, weisse Adularkristalle und rosa Flusspath-Oktaeder, worauf mich eine landschaftlich genussreiche Wanderung über den Bergsattel der Gerlosplatte nach Zell am Ziller mit seinem noch immer betriebenen Goldberg­ werk brachte. Hier traf ich meist den humorvollen Innsbrucker Schriftsteller Budolf Greinz, den ich als ständigen Mitarbeiter der «Jugend» in München ken­ nen gelernt hatte, und der sich mit seiner freundlichen Gattin und seinem Töchterchen den Sommer über mit Vorliebe im Zillertal auf hielt, um in ländlicher Ruhe an seinen heimatkünstlerischen Romanen zu arbeiten. 343

Die herzlichen Beziehungen zwischen uns ergaben sich mehr aus menschlicher Sympathie, als aus lite­ rarischen Berührungspunkten, seine volksmässige Pro­ duktion lag mir ebenso fern, als ihm meine Mensch­ heits-Problematik. Nach einem gemütlich mit ihm und seiner Frau verplauderten Abend pflegte ich nach Mayerhofen weiter zu ziehen und dort bei dem stäm­ migen und treuherzigen fürstlich Auerspergschen Jäger Lechner vorzusprechen, der ausserhalb der Ortschaft mit seiner Familie in eigenem Hause wohnte und von seinen Streifen hoch droben in den Felswildnissen des Stillupp-, Ziller- und Floitengrundes manchen schönen Fund, namentlich grosse Kristalle von Apatit und bläulich schimmerndem Mondstein heimbrachte. Im Gespräch mit ihm erhielt ich auch unmittelbaren Einblick in die Anstrengungen und Gefahren, die der Beruf dieser Bergjäger mit sich bringt. Einmal, als er von einem Reviergang noch nicht heimgekehrt war, musste ich bis in die Abenddämmerung hinein auf ihn warten, wo dann endlich der schon recht betagte Mann schweisstriefend und erschöpft anlangte, zwei vielfach geflickte Gewehr-Monstrositäten tra­ gend, die er wildernden Burschen abgenommen hatte. Er erzählte mir sehr anschaulich, wie die Kerle sich vor ihm in eine, sonst für unzugänglich geltende Steil­ wand geflüchtet hatten, bis sie keinen Schritt vor­ wärts mehr wagen durften und in einer schmalen Felsnische kauern blieben, wo sie nicht einmal ihre Gewehre in Anschlag bringen konnten, ohne abzu­ stürzen; wie er dann mit Aufgebot seiner letzten Kräfte und unter Lebensgefahr die halsbrecherische Strecke zu ihnen nachgeklettert sei, ihnen die Waf­ fen abgenommen und ihre Person festgestellt habe... Nicht weit von Ginzling, am Wege nach Rosshag, hatte ein alter Korbflechter seine dürftige Behau­ sung, der unter dem Namen «Josele» als der erfah­ renste Steinklauber des Zillertaler Gebiets, ja ganz Tirols seit Jahrzehnten bei allen Mineralogen Deutsch­ lands und Oesterreichs begründeten Ruhm genoss. 344

In seinen jungen Jahren hatte er sich, lange vor dem Aufkommen des Alpinismus, als kühner Bergsteiger hervorgetan und eine Reihe der schwierigsten Gipfel der Zillertaler Fernerkette als Erster bezwungen; er war es auch, der schon frühzeitig die ergiebigsten mineralogischen Fundstellen dieses Gebiets entdeckte. Letztere hütete er als sein Geheimnis, schaffte all­ jährlich eine Menge schöner Kristallgruppen zu Tal, verhandelte sie an alle Welt und verdiente ein gutes Stück Geld damit, ohne doch sein altgewohntes Korb­ flechthandwerk aufzugeben. Von heiterer Gemütsart und kräftigem Mutterwitz, liebte er die Geselligkeit, pflegte abends in die Ginzlinger Wirtschaft zu kom­ men, dort den Ertrag seiner Steinklauberei in reich­ liche Schoppen Roten zu verwandeln und einen inter­ essierten Kreis um sich zu versammeln, den er durch allerlei Schnacken und Schnurren unterhielt. Als ich ihn kennen lernte, war der untersetzte breitschultrige Alte mit dem Schnauzbart und den schlaugekniffenen Aeuglein bereits ein hoher Siebziger, trotzdem stieg er noch immer zu seinen verborgenen Schatzkammern hinauf, um neue Mineralien zu holen. Durch ihn er­ hielt ich namentlich den seltenen roten Manganepidot und das schöne neue Vorkommen von grossen schwarzgrünen Kristallbündeln des Diopsid, das er erst in jüngster Zeit erschlossen hatte. Von Ginzling aus ging ich in der Regel zum Pfitscher Jochhaus. An den Bergwänden über der Hütte lag der Chloritfels mit den grossen Magneteisen­ Oktaedern zutage, von welchen ich mir mit Hammer und Meissel hübsche Handstücke herausschlagen konnte. Dann ging es nach St. Jakob, wo Rutile und milchweisse Perikline mich erwarteten, und nach dem Weiler Porgum am Fusse der Wildkreuzspitze. Dort hatte ich bald gute Bekanntschaft mit dem Gemeinde­ vorsteher, der droben am Wildkreuzjoch die alt­ berühmten Fundstellen ausbeutete. Längs der wildbachdurchbrausten Fichtenschlucht der «Wöhr» ging es dann weiter hinab in den Talkessel von Sterzing 345

und hinein in das malerische alte Städtchen, dessen vergangenheitsreicher Postgasthof mein ständiges Quartier bei den fast alljährlichen Besuchen wurde. Der gefällige, noch in jungen Jahren stehende Be­ sitzer des Gasthofs kannte bald meine Liebhaberei für die Steine und vermittelte mir manche willkommene Erwerbung... In. Klausen lernte ich einmal den eigenartigen Tiroler Lyriker Arthur von Wallpach kennen, der das nahe gelegene Schloss Anger erworben hatte und dort mit seiner Frau die Sommermonate zu verleben pflegte. Er lud mich auch sogleich auf diese seine Burg ein, und ich verlebte in dem alten Gemäuer, das er im Stil der Lutherzeit gar stimmungsvoll ein­ gerichtet hatte, ein paar anregende Stunden mit dem schwerblütigen und versonnenen Mann. Schwer­ bepackt mit Steinen aller Art und froh meiner Aus­ beute pflegte ich dann über Kufstein nach München zurückzukehren und den kürzeren oder längeren Rest meines Urlaubs im Kreise der Meinen zu verleben... Nach meiner bisherigen Darstellung könnte es scheinen, dass ich auf diesen Sommertouren ganz in der Jagd auf Mineralien aufging. Ein solcher Mono­ mane war ich aber trotz allem nicht geworden. Auf den oft weiten Wanderungen, die zwischen den ein­ zelnen «Stein-Stationen» lagen, genoss ich die Berg­ natur mit voller Empfänglichkeit und im Wohlgefühl des körperlichen Wiederfrischwerdens, freute mich reintouristisch, wenn ich ungewöhnlich anstrengende oder schwierige Wege glücklich bewältigt hatte, be­ obachtete nach alter Gewohnheit und mit der früh erworbenen Sachkenntnis die Pflanzen, Schmetter­ linge, Käfer und Schnecken und, nicht zuletzt, die Menschenexemplare, die ich antraf, schrieb auch wohl Verse, die in mir aufklangen in das Wander­ notizbuch ... Zugleich begann ich, mich, soweit meine Arbeits­ überlastung es gestatten wollte, auch wissenschaftlich mehr in den Gegenstand zu vertiefen. 346

Neben der

Schönheit der Formen und Farben fesselte mich dabei auch allerlei Naturphilosophisches, namentlich die merkwürdige Ausprägung der «Einzelpersönlichkeit» in den Kristallindividuen und die gegenseitige Be­ hauptung ihrer Selbständigkeit, wie auch die For­ derung der Form durch die Substanz. Den Selbst­ vorwurf Goethes, dass er in seinem Leben zu viel Zeit auf seine Steine verwandt hätte, kann ich mir nicht machen; weder meine Brotarbeit, noch meine dich­ terische Produktivität litt unter dieser Liebhaberei, die sofort zurücktrat, wenn die Kunst mein Urteil oder meine Phantasie in Anspruch nahm; wohl aber bot mir, wenn ich übermüdet oder durch meine Erlebnisse als Poet und Kritiker verstimmt war, ein kurzer Blick in die Wunderwelt meiner Kristalle neutrale Ab­ lenkung und seelische Erfrischung. Meinen beiden deutschen Königsdramen erstand am Weimarer Hoftheater in dem Charakterspieler, Regisseur und Bühnendichter Karl Weiser ein ener­ gischer Befürworter. Er schrieb mir über diese Stücke viel Schönes, sprach die Hoffnung aus, mit der Zeit beide Werke, vorerst aber wenigstens den «König Konrad» durchsetzen zu können, und riet mir drin­ gend, das letztere Stück sofort der Weimarer Inten­ danz einzureichen. Das tat ich, und bald darauf wurde mir die Annahme mitgeteilt. Der damals unter dem Intendanten tätige Direktor des Weimarer Hof­ schauspieles suchte mich in München auf, zeigte viel Interesse für das Werk und verständigte sich mit mir in der entgegenkommensten Weise über allerlei In­ szenierungsfragen. Diesmal fand ich wenigstens die Möglichkeit, in achttägigem Urlaub die Einstudierung mitzumachen und das Ergebnis mitzuerleben. Bei meiner Ankunft in der Stadt der Dioskuren gedachte ich bange jenes grotesk verlaufenen Besuches von 1888, als der damalige Intendant mich zur Beseitigung der störenden «Idee» meines «Odysseus» hatte veran­ lassen wollen. Allein der neue, noch in jungen Jah­ ren stehende Nachfolger Goethe’s, Herr von Schirach, empfing mich mit ganz uneingeschränkter Zustim347

mung, weder er noch der vorerwähnte Direktor ver­ langten irgendwelche Aenderungen oder Streichungen. Ebenso war mir bei den Proben alle künstlerische Einflussnahme gegönnt, die ich mir wünschen konnte, ja der regieführende Direktor, schnell erkennend, dass ich nichts Unzweckmässiges oder Unausführ­ bares von den Darstellern oder dem technischen Leiter fordere, überliess mir schliesslich die Führung so gut wie ganz. Aber freilich: das Personal, das ich vorfand, machte eine voll entsprechende Verwirk­ lichung meines Stücks unmöglich. Vor allem hatte für die Titelrolle ein unmittelbar geeigneter Vertreter ge­ fehlt, und man hatte sie in solcher Verlegenheit einem schon stark ruinösen Heldenspieler zugeteilt, der ins ältere Fach übergegangen war; seiner Theatermüdig­ keit und seinem dumpf und stumpf tönenden Organ­ resten liess sich trotz aller Anstrengung nicht ein treues Bild des energischen, jugendlich idealistischen Ueberzeugungshelden abgewinnen. Es trat da eher nur starrer Eigensinn eines schon bejahrten Herrschers in Erscheinung, an dem der weltfremde Idealismus nicht mehr sympathisch genug berührte: und alles, was ich auf den Proben erreichen konnte, waren dyna­ mische Steigerungen und Tempo-Beschleunigungen. Den Bischof Salomon hatte der alte Weiser über­ nommen; und wenn er auch mit aller Lust und Liebe von seinem Besten zu geben suchte und seine Charak­ terisierungsweise mich ahnen liess, was er in den Zeiten seiner Vollkraft geleistet haben mochte, kam dabei doch nur eine schwache Andeutung der Gestalt heraus, nicht der imponierende, überlegen welt­ männisch, bald mit geschmeidiger Freundlichkeit, bald mit rücksichtsloser Schärfe seine egoistischen Ziele verfolgende Kirchenfürst. Ganz schlimm war es um den Sachsenherzog Heinrich bestellt. Er musste einem verstimmten Bonvivant überlassen werden, dessen Kontrakt mit der Hofbühne gekündigt war, und der die Rolle als die letzte, die er in Weimar zu spielen hatte, teilnahmslos und unzulänglich heruntersprach; 348

auch alle meine Besserungsversuche konnten da nicht viel erzielen. Die kleine Rolle der Herzogin Mathilde spielte Elisabeth Schneider, die Tochter meines ehe­ maligen Münchener Gönners, die sich jetzt, künstle­ risch gereift, in Weimar grosser Beliebtheit erfreute. Ich war gespannt, wie sie nach der Kritik, die ihre Münchener Erstlingsleistungen durch mich erfahren hatten, und nach meinem unerquicklichen Konflikt mit ihrem Vater sich zu mir und ihrer Aufgabe stellen würde; doch kam sie mir mit unbefangener Freund­ lichkeit entgegen und gab der Rolle alles, was sie jetzt zu geben vermochte, nur leider nicht die anmutige Weiblichkeit, die ihr immer noch fehlte. Für den herzhaften Kellermeister von St. Gallen fand ich einen wohltuend naturfrischen Vertreter vor, dagegen standen für alle übrigen Nebenrollen nur sehr geringe Kräfte zur Verfügung, die auf den Proben nur notdürftig gedrillt werden konn­ ten. Besser war es um die dekorative Verwirk­ lichung bestellt; hierfür hatte der ansehnliche Fundus des Hoftheaters durchaus brauchbares Mate­ rial geliefert. Doch konnte mich dieser entschieden günstige Umstand wenig trösten, bei den schweren Mängeln der Darstellung, und ich sah dem Ergebnis mit grosser Sorge entgegen. Dieses fiel trotz alledem besser aus, als ich befürchtete. Die aus dem Bau des Stückes folgenden Hauptwirkungen liessen sich nicht töten, mochten die Darsteller noch so viel an sym­ pathischer Lebensfrische und Grosszügigkeit schuldig bleiben; von Akt zu Akt steigerte sich der Beifall, und zuletzt beteiligte sich auch der anwesende Grossherzog ostentativ an dem starken Applaus, der mich wieder­ holt hervorrief. Dieser gute Ausgang nahm zwar den Druck von mir, der während der Proben schwer auf mir gelastet hatte, stimmte mich aber mehr wehmütig als froh; führte mich doch gerade die Erfahrung, dass dieses Werk auch unter so ungünstigen Bedingungen sich mit Ehren behaupten konnte, so recht zum Be­ wusstsein, welchen Eindruck es bei einer voUent349

sprechenden Widergabe hätte machen können. Im­ merhin: für Weimar war es ein Sieg, und der junge Intendant hatte den Impuls, ihn noch durch eine be­ sondere Veranstaltung zu feiern, in aller Eile, denn anderen Tags musste ich bereits heimreisen. In dem­ selben historisch erinnerungsreichen Hotel zum «Ele­ fanten», wo ich abgestiegen war, gab er nach der Pre­ miere mir und den Hauptdarstellern eine Art improvisiertes Festessen und hielt dabei eine feurige Rede auf mich und das deutsche Drama grossen Stils, dessen Pflege er und seine Künstler stets als höchstes Ziel vor Augen behalten wollten. Ich erwiderte ent­ sprechend und so hatte mein Weimarer Debüt doch seinen optimistischen Ausklang gefunden. Für das Schicksal meines «König Konrad» blieb es aber ohne Bedeutung....... Die gegen mich formierte Liga der Münchener Dramatiker unternahm nach der «Stilpe»-Schlacht keinen offenen Angriff mehr, doch war sie im stillen desto eifriger tätig. Vor allem suchte man jetzt Dr. Georg Hirth gegen mich als einen notorischen Schädling scharf zu machen: immerhin gelang es meinen Gegnern nicht, durch ihn meine Entfernung von den «Neuesten Nachrichten» und der «Jugend» zu bewirken. Umso leichteres Spiel hatte man mit der Verhetzung der jüngsten Literaten-Generation. Namentlich in dem Schwabinger Kreise.... wurde eine neue Attacke gegen mich beschlossen... Es war der 22-jährige B., der sich das Verdienst erwerben wollte, den Münchener Parnass von mir greulichem Lindwurm zu befreien....... Eine Broschüre erschien, die den schönen Titel trug «Hanns von Gumppenberg muss entfernt werden». B ... stellte mich in seinem Pamphlet als einen Ausbund phy­ sischer und seelischer Abscheulichkeit hin, als einen Stümper, der in der Verbitterung seiner wohlver­ dienten Erfolglosigkeit alle Leistungen anderer be­ speie und noch das ganze künstlerische Leben Mün­ chens ruinieren werde. Das Heft fand Verbreitung 350

und gelangte natürlich auch zur Kenntnis der «Neu­ esten Nachrichten». Bei aller grünen Jugend des Verfassers enthielt es soviel Beschimpfungen und Wahrheitsverdrehungen, dass ein gelassen lächelndes Ignorieren mir nicht möglich erschien. Ich teilte daher der Redaktion meine Absicht mit, Klage zu stellen. Ich traf aber auf entschiedenen Widerstand. Der sonst so kampflustige Feuilleton-Redakteur Grimm erwiderte mir namens der Schriftleitung, die «Neuesten Nachrichten» könnten sich nicht auf Aus­ einandersetzungen mit einem rabiaten jungen Men­ schen einlassen, der kaum der Schulbank entronnen sei, und man erwarte auch von mir den Verzicht auf ein gerichtliches Breittreten der Anpöbelei, über­ haupt nähme ich den ganzen Zwischenlall zu ernst. In der Broschüre von B ... war natürlich auch wieder Dr. Hirth unmittelbar und nachdrücklichst gegen mich auf gerufen; dieser reagierte aber auch jetzt nicht nach Wunsch. Wahrscheinlich war ihm bei der unanständigen Wüstheit des Angriffs vor dieser Art «Jugend» doch einigermassen bange ge­ worden. Auch im übrigen schien es, als ob die «Neuesten Nachrichten» mit der Schweigetaktik das rechte getroffen hätten; die Schmähschrift ver­ schwand wieder, und es folgte kein weiterer öffent­ licher Anwurf. Aber die Liga hatte ihr Spiel und Ziel trotz aller Fehlschläge nicht aufgegeben, sie suchte nur nach anderen, versteckteren Wirkungsmitteln. Bald genug sollte ich die neue Minierarbeit der Gegner meiner Kritikertätigkeit zu spüren bekommen. Die Redaktion der «Neuesten Nachrichten» hatte vor­ her nie einen Versuch gemacht; meine Stellung­ nahme als Referent zu beeinflussen; jetzt, offensicht­ lich unter dem Druck verschiedener Hintermänner, begann sie, mir allerlei wohlmeinend nahe zu legen. Grimm war durch ein körperliches Leiden — er starb bald darauf — mürbe und nervös geworden, so dass er nicht mehr ohne weiteres meine Partei nahm wie sonst. Als ich trotzdem fest blieb, wurde 351

ich zu dem ... zitiert, der mir die Unzufriedenheit weiter Kreise mit meiner Art der Beurteilung an­ deutete. Man dachte wohl, ich werde nun angesichts der ernstlich drohenden Gefahr als kluger Mann einlenken, und nicht bloss in der «Form», die ja in Wahrheit bei mir immer sehr massvoll gewesen war, mass­ voller und sachlicher jedenfalls als bei vielen anderen Referenten. Die Gefahr sah ich natürlich, aber sie konnte meinen Standpunkt nicht ändern,.... die Redaktion, die mich ja selbst schon so oft gegen Verdrehungen und ungerechtfertigte Beschuldi­ gungen in Schutz genommen hätte, könnte nicht von mir erwarten, dass ich gegen meine Ueberzeugung schriebe. Irgendwelche praktischen Er­ gebnisse zeitigten diese langwierigen und qualvollen Erörterungen nicht ... Ehe ich auf den Abschluss meiner Tätigkeit an den «Neuesten Nachrichten» zu sprechen komme, habe ich noch einiges Nichtjournalistisches nachzu­ holen. Zunächst über eine Dichtung, mit der ich mich etwa um das Jahr 1906 näher zu beschäftigen be­ gann. Es war das dreiaktige Opernlustspiel «Herzog Philipp’s Brautfahrt». Während unseres Bamberger Aufenthaltes hatte ich einmal einen Spaziergang nach dem Wäldchen unweit der Altenburg unternommen und war durch einen jähen Regenguss in die Burg­ restauration gescheucht worden. Der Regen dauerte geraume Zeit an. Und in der Langweile des Ab­ wartens blätterte ich in alten Zeitschriften, die vor mir auf dem Tische lagen. Dabei fand ich eine nur wenige Zeilen umfassende historische Anektode über die Erfindung der neueren Perücke anlässlich der Werbung Philipp des Guten von Burgund um die portugiesische Prinzessin Isabella. Das Geschichtchen gab an sich nicht viel, nur die Ueberlieferung, dass der Hoffriseur, um das gelichtete Haar seines ver­ liebten Herrn zu beschönigen, erst ein Käppchen mit haarähnlichen Wollfransen, dann, als dieses sich nicht hinreichend bewährte, die echte Haarperücke nach 352

dem Muster der altrömischen Frauenperücken kon­ struiert habe; allein ich witterte da sogleich die Elemente zu einer Komödie von jener Symbolik, die meinen dichterischen Neigungen besonders entsprach: und zudem fehlte auch die persönliche Beziehung nicht, wie sie zur rechten Einfühlung in einen Gegen­ stand wünschenswert ist. Gleich auf dem Heimweg überdachte ich dann die Möglichkeiten einer drama­ tischen Ausgestaltung der Anektode, kam aber zu keinem vollbefriedigenden Ergebnis, auch in den folgenden Monaten nicht. Zwar entwarf meine Phan­ tasie einen, wie mir schien, nicht üblen Hauptvor­ gang: allein ich musste mir sagen, dass die Aus­ führung als Komödie realistisches Zeitkolorit, daher eine Menge von kulturhistorischen Einzelheiten ver­ langte, und dass die eigentliche Handlung und ihr Humor von diesem Ballast erdrückt werden konnte, ganz abgesehen von der Schwierigkeit, mir in abseh­ barer Zeit alle die nötigen Aufschlüsse über das bur­ gundische und portugiesische Hofleben des 15. Jahr­ hunderts zu verschaffen. So hatte ich denn damals die Sache vorläufig zurückgestellt und mich auch in den Folgejahren nicht mehr damit befasst. Als ich nun eines Abends mit Weinhöppel allein zusammensass, führte mich irgend ein Gespräch auf den alten Plan, und ich gab in kurzen Worten meinen Lust­ spielentwurf wieder, der alle drolligen Möglichkeiten der Anektode ausbeutete, zugleich aber auch den Vorgang ethisch und seelisch vertiefte und die eitle Verheimlichung der Kahlköpfigkeit zu einem Symbol kleiner Schwächen eines grossen Mannes erhob. Weinhöppel war sofort Feuer und Flamme für den Stoff, er fand ihn vorzüglich für eine heitere Oper geeignet, und als mir diese neue, meine früheren Be­ denken ausschliessende Verwertungsidee einleuchtete, drängte er mich, umgehend eine Ausarbeitung in dieser Form in Angriff zu nehmen, er wolle dann das Buch komponieren. Bei meiner Hochschätzung seines musikalischen Talents erschien das auch mir als guter Gedanke; da ich aber damals gezwungen 23

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war, alle Zeit, die mir die Journalistik übrig liess, auf unmittelbar einträgliche Arbeiten zu verwerten, sah ich zunächst keine Möglichkeit der Ausführung. Weinhöppel beseitigte diese Schwierigkeiten, indem er sich bereit erklärte, mich durch Ratenzahlungen, auf die Dauer der Arbeit über Wasser zu halten; im Begriff, auf längere Zeit nach Italien zu gehen, ver­ wies er mich in der Geldangelegenheit an einen Rechtsanwalt, der dafür Sorge tragen werde, dass mir die Raten pünktlich zugingen; anderen Falls solle ich nicht mehr an ihn gebunden sein. Da ich nicht viel Zeit auf die Textdichtung verwenden konnte, war sie nach zwei Monaten, für die ich die vereinbarte Rate erhielt, erst bis zu zwei Dritteilen gediehen. Nun aber wartete ich vergeblich auf die nächste Geldsendung. Ich erhielt von dem bezeich­ neten Rechtsanwalt die Auskunft, er habe in letzterer Zeit von Weinhöppel keine Nachrichten mehr er­ halten, und er könne mir keine Gewähr geben, dass noch weiter Gelder einträfen. Was tun? Bei der Lebensweise Weinhöppels, dessen augenblicklicher Aufenthalt nicht zu ermitteln war, erhielt ich viel­ leicht lange Zeit keine Möglichkeit, mich mit ihm aus­ einander zu setzen. In meiner Verlegenheit ent­ schloss ich mich, das Buch fertig zu machen, es dann tunlichst rasch an einen anderen Münchener Kom­ ponisten zu veräussern und Weinhöppel die erhal­ tenen Raten zurückzuerstatten, sobald die Verbindung mit ihm wieder hergestellt sein würde. Es währte noch eine ganze Weile, bis mir der Schlussakt nach Wunsch geglückt war. Um die Wirkung des fertigen Textes zu erproben, las ich ihn in einem Separat­ lokal des Hofbräuhauses einem kleinen Kreis von «Freistatt»-Bekannten vor, dem der bereits er­ wähnte Komponist Adolf Vogl, sowie der zufällig in München anwesende Verleger Hans Pfitzners an­ gehörten. Die Wirkung auf alle Anwesenden war so stark, dass der Verleger das Buch sofort für Pfitzner erwerben wollte, gegen Erlag einer grösseren Bar­ summe. Es war verlockend genug, meine Sorgen so 354

schnell loswerden zu können; trotzdem bezwang ich mich und lehnte dankend ab, denn nach allem, was ich von Pfitzner kennen gelernt hatte, schien er mir nicht der rechte Mann für eine Vertonung meines Ge­ dichts. Zugleich hatte aber auch Vogl für die Sache Feuer gefangen. Er verfügte zwar nicht selbst über die zur Erwerbung des Buches nötigen Mittel, doch hatte ein vermöglicher, uns beiden gut bekannter junger Norddeutscher ihm die Vorstreckung eines Betrags zu solchem Zweck in Aussicht gestellt: und so sagte ich Vogl den Text für den Fall zu, dass sein «Mäzen» Wort hielte. Mit diesem wurde denn auch in einer Weinstube eine entscheidende Zusammen­ kunft verabredet, zu der aber Vogl im letzten Augen­ blick nicht kommen konnte, so dass ich allein ver­ handeln musste. Der Mäzen entpuppte sich als ein Trinker schlimmster Sorte, der dem jähen Launen­ wechsel seiner verschiedenen «Stadien» unterworfen war; erst anscheinend sehr geneigt, Vogl sein frü­ heres Versprechen zu halten, widerrief er wieder alles, sobald er mit unheimlicher Schnelligkeit ein Paar Flaschen geleert hat, erklärte lärmend, wir alle wollten ihn übertölpeln, und verfiel dann in einen derartigen Zustand sinnloser Betrunkenheit, dass ich resigniert das Weite suchte. Ich teilte Vogl dieses traurige Ergebnis mit, und da er sich keinen anderen Rat wusste, suchte ich am nächsten Morgen Richard Strauss auf, der gerade von einer Amerikafahrt heim­ gekehrt und im Hotel «Vier Jahreszeiten» abgestiegen war. Ich wurde sogleich vorgelassen und traf den Vielbewunderten, den ich persönlich noch nicht ge­ kannt hatte, allein beim Frühstück. Er sah blass und übermüdet aus, empfing mich aber mit weltmän­ nischer Liebenswürdigkeit und hörte mein Anerbieten, wie es schien, nicht ohne Interesse an. Als ich ihn den Gegenstand andeutend skizziert hatte, bat er mich, ihm das Manuskript zu über senden; er müsse mich aber sogleich darüber aufklären, dass er, auch wenn ihm das Buch zusage, vor Ablauf von zwei Jahren keinesfalls mit der Vertonung beginnen könne, 355

weil er bis dahin durch die Ausführung anderer Pläne in Anspruch genommen sei. Ich versprach, mir die Sache noch zu überlegen, und empfahl mich. Schon nach einer halben Stunde war ich aber mit mir einig, Strauss unter solchen Umständen das Buch nicht zu überlassen; vier Jahre oder noch länger, wollte ich nicht auf die Oper warten, die, wie ich nun glaubte, auch für mich einen Aufstieg mit sich bringen konnte. Ich schrieb also an Strauss einen entsprechenden Entschuldigungsbrief, und trommelte eiligst die übrigen Münchener Komponisten, die ich noch in Aussicht genommen hatte, zu einer Vorlesung des Buches in meiner Wohnung zusammen. Es kamen der junge August Reuss, ein Schüler Thuilles und von diesem brieflich mir aufs Wärmste empfohlen, dann Herr von Schirach, ein Bruder des Weimarer Inten­ danten, ein Vertreter des bereits an der Münchener Hofopfer gut eingeführten Karl von Kaskel. Als ich mit der Vorlesung zu Ende war, erklärte Herr von Schirach, dass das Buch, dessen Vorzüge er nicht ver­ kenne, für ihn leider zu wenig leichten Charakters wäre, und der Vertreter, dass er seinem Freunde sehr zu der Sache raten wollte, aber ihm natürlich erst darüber berichten müsste. Reuss aber blieb noch bei mir zurück und erklärte kurz, der Text gefalle ihm und er wolle ihn sogleich erwerben. In wenigen Minuten wurden wir einig, und ich konnte nach allen Plagen und Erregungen dieser Komponistenjagd auf­ atmen, von den drängenden Augenblickssorgen be­ freit. Anderentags kam dann ein Diener Kaskels, der das Buch kurzweg für seinen Herrn mitnehmen sollte; er brachte ihm nur den Bescheid zurück, dass es bereits vergeben sei. Die ganze Angelegenheit hatte für mich noch ein recht verstimmendes Nachspiel. Als einige Zeit darauf ein Brief von Weinhöppel aus Capri eintraf und ich ihm dorthin, unter bedauernder Schilderung des Ge­ schehenen, den vorgestreckten Betrag zurückgesandt hatte, erhielt ich eine Antwort, aus der schwere Gekränktheit sprach; er konnte sich eben die Zwangs­ 356

läge, in der ich mich befunden hatte, nicht vorstellen, machte mir einen Vorwurf daraus, dass ich vor der Weitergabe des Textes an einen anderen Komponisten nicht doch noch auf Nachricht gewartet hatte, und grollte mir dann noch jahrelang. Reuss, den ich bald näher kennen und als Künstler wie als Menschen schätzen lernte, einigte sich mit mir in den folgenden Monaten über verschiedene Kür­ zungen. Dann machte er sich mit Eifer an die Ar­ beit, die ungefähr zwei Jahre in Anspruch nahm. Endlich konnte er freudig die Vollendung melden. Beim Durchspielen des Klavierauszugs erwies sich mir die Komposition als eine sehr respektable Lei­ stung, die den ernsten Zügen des Herzogs und der Prinzessin ebenso gerecht wurde wie der skurrilen Geschäftigkeit des erfindungsreichen Friseurs, der Komik der Hofherren und dem Humor des Por­ tugiesenkönigs; auch war bei allem modernem Ge­ präge dem Melodischen sein Recht gelassen. Da ich als Halbmusiker bei der Niederschrift des Textes schon selbst mehr oder minder bestimmte musi­ kalische Vorstellungen gehabt hatte, musste ich mich freilich in manches von der Reuss’schen Auffassung erst einfühlen, um es ganz würdigen zu können. An­ dere Momente aber, und nicht wenige, waren völlig in meinem Sinne vertont: und als mir Reussens Ge­ samtwerk in seiner Besonderheit seelisch lebendig geworden war, empfand ich es bei aller subjektiven Variierung als eine voll gelungene musikalische Inter­ pretation meines Gedichts und sah der Verwirklichung mit aller Zuversicht entgegen. Allein, die Theater­ erfahrungen jedes vornehmen ausserhalb der gewöhn­ lichen Streberbetriebs seinen Weg gehenden Künstlers blieben auch Reuss nicht erspart. Im geduld­ zermürbenden Werben um die Gunst der grossen Opernbühnen verlor er schnell die Lust zu weiterm Suchen und Abwarten und überliess das Werk dem Grazer Stadttheater, das die Uraufführung für Januar 1909 ansetzte. Die Grazer Oper hatte keinen schlech­ ten Ruf, ihre Unternehmungen pflegten in Wien mit 357

Aufmerksamkeit verfolgt zu werden, und so schien mir trotz meiner Schauspiel-Erfahrungen in der «Pro­ vinz» Reussens Entscheidung nicht gerade verhäng­ nisvoll, wenn sie auch meine Hoffnungen herab­ stimmte. Es sollte indessen ärgerlich genug damit werden. Wohl bedeutete es einen Vorteil, dass der die Einstudierung leitende Kapellmeister Gross mit Reuss befreundet war und daher alle seine Fähig­ keiten daran setzte, das Werk würdig herauszu­ bringen. Aber die geringen Mittel jenes Theaters schlossen eine vollentsprechende, ja selbst eine kor­ rekte Wiedergabe aus. Reuss fuhr schon längere Zeit vor der Aufführung nach Graz, um nach dem Rechten zu sehen: und aus seinen ernüchterten und galgenhumoristischen Briefen konnte ich entnehmen, auf welche Schwierigkeiten schon die Rollenbesetzung stiess. Die ganze Melancholie der Sachlage wurde mir aber doch erst klar, als ich, glücklich wieder auf kurze Zeit beurlaubt, selbst zu den Proben nach Graz gekommen war. Die Vertreter des Herzogs und des Portugiesenkönigs mochte noch angehen, es fehlte ihnen nicht an Bildung und Intelligenz, wenn sich auch ihre Gesangsleistungen nicht übers gute Stadt­ theater-Mittelmass erhoben. Aber nun die Isabella! Sie musste einer nur halb gebildeten Sängerin anver­ traut werden, einem «feschen Weana Madl», das von der Operette kam und zwar vermöge ansehnlichen musikalischen Talents und einer frischen Stimme mit Recht zu Erfolg und Beliebtheit gelangt war, aber nicht die Fähigkeit besass, als Prinzessin zu repräsen­ tieren. Für die Chöre des letzten Aktes reichte das Personal des Theaters nicht aus, es musste daher die Hilfe eines Gesangvereins in Anspruch genommen werden, der dann, obwohl er wochenlang geübt hatte, bei der Aufführung entgleiste... Fast noch bedenk­ licher aber als meine Eindrücke auf den Proben stimmte mich das unheimliche Verhalten des Kritikers D., der unter den Grazer Theaterreferenten damals eine diktatorisch-massgebende Stellung einnahm. Reuss hatte bei seiner Ankunft in der Stadt erfahren, 358

dass die Vorstellung bei D. unumgänglich nötig wäre, er hatte ihm daher seine Aufwartung gemacht und ihm ein Exemplar des Textbuches übergeben. Trotz dieser Aufmerksamkeit war ihm der Gefürchtete dabei mehr und mehr kühl und unfreundlich erschienen und hatte ihm den Eindruck gemacht, als ob er irgendwie enttäuscht wäre. Nach meiner Ankunft stellte auch ich mich D. vor. Er empfing mich mit der Gleichgültigkeit, die mir schon Reuss geschildert hatte, sodass ich überrascht war, als er mich plötz­ lich zu einem gemeinsamen Spaziergang einlud. Er wanderte mit mir durch verschiedene Strassen des betreffenden Stadtviertels und blieb dabei so einsilbig, dass ich Mühe hatte, das Gespräch in Gang zu halten. Endlich bog er in menschenleere Anlagen ein, wo er noch langsamer und versonnener dahinschritt und des öfteren stehen blieb, ohne äusseren Anlass; es schien, als erwarte er von mir noch irgend eine besondere Mitteilung oder Aussprache, vielleicht eine schmeichel­ hafte Bemerkung über seine literarischen Veröffent­ lichungen. Auch wenn ich diese gekannt hätte, wäre mir eine so plumpe Liebedienerei nicht möglich ge­ wesen: und da alle einigermassen naheliegenden Ge­ sprächsstoffe bereits erschöpft waren, wusste ich nicht recht, was ich ihm noch sagen sollte. Er empfahl sich darauf ziemlich unvermittelt und schien nun auch mir einem Enttäuschten ähnlich. Ich besprach mit Reuss diese Befremdlichkeiten, und wir tauschten Ver­ mutungen über ihre Gründe aus. Als wir aber dann zu unserem Erstaunen von D. die Einladung erhielten, an einem der nächsten Abende seine Gäste zu sein, entschlossen wir uns doch, der Sache zuliebe zuzu­ sagen. In sorgfältiger Gesellschaftstoilette standen wir an dem betreffenden Abend pünktlich zur bezeichneten Stunde an der Schwelle seines Heims; als wir aber läuteten, öffnete uns seine Frau in tiefem Négligée die Türe, wusste nichts von der Einladung und erklärte, ihr Gatte habe einen grösseren Ausflug unternommen und werde wohl erst am Abend des nächsten Tages zurückkehren. Es folgte auch keine Entschuldigung, 359

und so konnten wir von dieser Seite, wenn auch aus unaufgeklärten Gründen, gewiss nichts Gutes für unser Werk erwarten. Für einen anderen der Abende vor der Aufführung hatte uns der Grazer Musikschriftsteller Johannes Schuch zu sich geladen, ein freundlicher und heiterer älterer Herr, der mit Reuss bereits näher bekannt war; ich lernte bei ihm auch Wilhelm Kienzl, den Komponisten des «Evangelimann» kennen, und wir verlebten mit Beiden einige gemütliche und anregende Stunden. Mein gutes Einvernehmen mit Reuss stei­ gerte sich während dieses Grazer Aufenthalts zu herz­ licher Verbrüderung, die sich bei der Harmonie unserer Charaktere von selbst ergab. Der Première fehlte es dann trotz aller Mängel der Wiedergabe nicht an kräftigem Beifall, ja Reuss, der Kapellmeister und ich ernteten am Schlüsse so­ gar eine stattliche Reihe von Hervorrufen. Nach der Vorstellung feierte auch Direktor Hagin mit uns und den Hauptdarstellern den Sieg bei einigen Flaschen Wein. Die Erfahrungen mit D. liessen mich aber von dem weiteren Verlauf nicht viel Gutes erhoffen, und da ich zwei Tage später in München eintreffen musste, zog ich es vor, nicht noch einen ganzen Tag in Graz auf die Kritiken zu warten, sondern lieber meine Heim­ fahrt in der obersteirischen Ortschaft Schladming zu unterbrechen, der ich schon längst einmal einen Be­ such hatte abstatten wollen, um mir womöglich noch einige Erze aus den verlassenen alten Nickelgruben zu verschaffen. Nachts zwischen zehn und elf Uhr langte ich bei eisigem Frostwetter auf dem Bahn­ höfchen in der tief verschneiten Bergeinsamkeit an und hatte dann noch eine gute Strecke im Schlitten nach dem kleinen Marktflecken zu fahren. So spät ich dort ankam, traf ich im Postgasthofe doch noch reges Leben. Es drohte nämlich in jenen Tagen der Krieg mit Serbien, steierische Truppen wurden in nächt­ licher Stille an die Grenze transportiert und ich sah eine Anzahl junger Schladminger von ihren Ange­ 360

hörigen Abschied nehmen; der Weltkrieg warf schon damals seine Schatten voraus. Am Morgen unternahm ich meine Wanderung durch die Ortschaft und erkundete auch glücklich einen alten Bergmann, der noch Erzproben besass und mir einige Stücke abliess; dann fuhr ich über Salz­ burg, das von marschbereiten Soldaten wimmelte, nach München zurück. Das Presse-Ergebnis der Gra­ zer Aufführung, von Reuss ein paar Tage später mit­ heimgebracht, fiel im Sinne meiner Befürchtungen aus. Der massgebende D. hatte in seinem aus­ gesprochen unfreundlichen Referat nichts Gutes an dem Werk gelassen, ja selbst die äussere Tatsache des Erfolges zu verhüllen gesucht; daneben waren freilich andere Kritiker mit Wärme für die Sache eingetreten, nirgends aber fand sich ein verständnisvoller und mutiger Hinweis auf das Eine, das wahrheitsgemäss vor allem hätte betont werden müssen: auf die schwe­ ren Mängel der Wiedergabe. Reuss brachte auch noch die Hiobspost mit, dass der Vertreter der Hauptrolle unmittelbar nach der Aufführung erkrankt war, so­ dass die erste Wiederholung auf längere Zeit habe verschoben werden müssen. Nach einigen Wochen wäre dann die Wiederaufnahme in den Spieplan mög­ lich gewesen; aber nun wollte der bequeme und auf ein gutes Verhältnis zu D. bedachte Direktor die Oper überhaupt nicht mehr geben. Reussens Reklamationen wurden durch Ausflüchte hingehalten und führten zu keinem praktischen Ergebnis, sodass er schliesslich resignierte und das Werk liegen liess. Auch später gelang es ihm dann nicht, andere Bühnen dafür zu gewinnen: und so blieb mir von diesem erst so hoff­ nungsreichen und mit so grossem Aufwand durch­ geführten Ausflug aufs Operngebiet nicht der geringste dauernde Vorteil übrig, wie ich ihn nach dem un­ gewöhnlichen Interesse, das meine Textdichtung ur­ sprünglich gefunden hatte, auch ohne verwegenen Optimismus erwarten durfte. Im Herbste desselben Jahres führte mich Reuss auch in das Münchener «Reych» des Schlaraffen361

Bundes ein, und da ich grosses Wohlgefallen fand am Leben und Treiben dieses Kreises, das im Gewände heiteren Mummenschanzes eine schöne und freie Menschlichkeit zu verwirklichen suchte, wurde ich dann bald selbst «Schlaraffe», erhielt am Ende der «Jahrung» den feierlichen Ritterschlag und den Namen «Hippogryph in allen Gangarten», der auf mein «Teutsches Dichterross» Bezug nahm. Natürlich erwartete sich mein Idealismus auch von dieser Gemeinschaft und Geselligkeit zu viel und erfuhr wieder Ent­ täuschungen; mit der Zeit lernte ich aber auch hier die rechte entsprechende Einstellung aufs praktisch Mögliche und die dauernde Hochschätzung des tat­ sächlich Erreichten. In der Schlaraffia gewann ich auch einen jüngeren Freund, den feinfühligen Kom­ ponisten Richard Mors, der auch mit Reuss befreundet war. Ich blieb auch der Schlaraffia treu, als Reuss nicht lange darauf die Lust an ihr verlor und austrat. Schon vor dem Grazer Abenteuer führten mich mehrere Einladungen zur Rezitation nordwärts. Johannes Fastenrath hatte in Köln nach spanischem Muster seine «Blumenspiele» ins Leben gerufen und mich damals unter humorvollem Hinweis auf meine «Minnekönigin» persönlichst, aber vergeblich zur Be­ teiligung am Sängerwettstreit aufgefordert: schien mir doch seine aus schönem Idealismus erwachsene Schöp­ fung unrettbar einer kitschigen Profanierung zugun­ sten streberischer Dilettanten verfallen. Als aber auf sein Betreiben die Kölner Literarische Gesellschaft mich zur Rezitation eigener lyrischer Dichtungen ein­ lud, sagte ich zu. Mein kurzer Besuch in der modern vernüchterten alten Domstadt verlief angenehm. Mit­ tags lud mich Fastenrath zu sich in sein vornehmes Heim, wobei ich seine Frau und seine hochbetagte, körperlich und geistig noch erstaunlich frische Mutter kennen lernte. In ihm selbst fand ich eine abgeklärte, ungewöhnlich feinfühlige und liebenswerte Menschen­ natur, sodass ich später froh war, dem trefflichen Mann eben noch rechtzeitig begegnet zu sein; seiner Mutter, die bald nachher starb, folgte er schnell in 362

den Tod. Doch über sein Ende hinaus wirkte sein Bemühen um die deutsche Poeterei weiter in der seinen Namen tragenden Stiftung, die er als Vermächt­ nis hinterliess; und als ich ein Jahrzehnt später, durch die Folgen des Weltkrieges in die traurigste Lage geraten, eine Ehrengabe aus dieser Stiftung er­ hielt, empfand ich sie wie einen Gruss des verewigten Freundes der «Minnekönigin». Äusser der Familie Fastenrath lernte ich damals in Köln auch den Romanschriftsteller Karl von Perfall kennen, dessen gesunde Natürlichkeit und humorvolle Frische mich gleichfalls aufs Sympathischste berühr­ ten. Zudem sah ich Weinhöppel wieder, der nun in Köln Lehrer am Konservatorium geworden war und mich mit seiner zweiten Frau, einer dunkelhaarigen Schönheit, bekannt machte. Nicht minder angenehm waren zwei andere Sän­ gerfahrten verlaufen, die der engere Poetenkreis der «Jugend» auf Einladung der Literarischen Gesellschaf­ ten von Frankfurt am Main und Göttingen unternahm, und an denen sich äusser mir Fritz von Ostini, Franz Langheinrich, A. de Nora, Albert Matthäi und Karl Ettlinger beteiligten. An beiden Rezitationsabenden kam jeder von uns in gleichem Ausmass und auch mit ziemlich gleichem Erfolge zu Wort; an dem Frank­ furter Abend gab Ostini in launigen Einführungsversen dem Publikum eine Charakteristik unserer sehr ver­ schiedenen Dichterpersönlichkeiten, während wir Vorgestellten nebeneinander an der Saalwand hock­ ten wie die Spatzen auf dem Telegraphendraht. Von Göttingen aus fand ich noch Zeit zu einem allein unternommenen winterlichen Ausflug in den Südharz nach dem mineralogisch berühmten Andreasberg, wo ich schöne Antimonsilberblenden für meine Sammlung eroberte . . . Dass ich mein Referententum gegenüber den viel­ seitigen Anfeindungen nicht mehr lange würde be­ haupten können, war mir klar. Selbst wenn ich Zuge­ ständnisse hätte machen wollen, hätte das auf die Dauer nicht mehr gefruchtet bei der Erbitterung mei­ 363

ner Gegner. Ohne Hoffnung auf einen Endsieg, erfüllte ich lediglich die Pflicht gegen meine Familie, auf meinem Posten auszuharren, mochte er sich auch noch so unerfreulich gestaltet haben. Die Spielzeit 1908—1909 neigte sich bereits zum Ende, ohne dass es weiter zu Auseinandersetzungen gekommen wäre. ................ In dem neuen Künstlertheater des Aus­ stellungsparks auf der Theresienhöhe wollte im Juni Reinhardt mit seiner Truppe einziehen. Wohl hatte ich in meinen aus Ueberzeugung fast nur anerkennenden Berichten über die späteren Abende seines Münchener Gastspiels von 1904 noch viel weniger Grund gegeben als in meinem «Nachtasylw-Referat, für einen gehässi­ gen «Verfolger» Reinhardts gehalten zu werden, aber ich wusste, dass die Legende trotzdem von meinen Gegnern lebendig erhalten wurde; was lag näher, als jetzt gegen mich diese alte Waffe wieder hervorzu­ holen? .......

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In der Torggelstube. — „Lieht und

Schatten.“

....... Im übrigen waren meine Reflexionen me­ lancholisch genug. Acht Jahre angestrengter Arbeit, die besten meines Lebens, in denen mir unter glück­ licheren Umständen wohl eine Reihe dichterischer Werke gereift wäre, hatte ich dem Moloch Tageskritik in den Rachen werfen müssen, nur um die Existenz fristen zu können, und nun war ich in derselben Lage wie zuvor, nein, in einer weit schlimmeren, denn da­ mals hatte ich mir wenigstens noch keine Feinde gemacht. Uebrigens: ganz ohne Dank sollte mein lang­ jähriges Bemühen um die Erhöhung der Münchener Bühnenkunst doch nicht bleiben. Und zwar kam der Dank von den Schauspielern, die sich in ihrer grossen Ueberzahl bewusst waren, dass ich ihnen mehr gleich­ mässige Gerechtigkeit und künstlerische Anregung ge­ boten hatte, als sie sonst von der Kritik erfuhren. So schrieb mir der prächtige, alte Regisseur Raabe vom Schauspielhaus namens seiner Kollegen einen länge­ ren Brief, der, wie es darin hiess, «meinem Herzen wohltun sollte». Aber auch eine Reihe von Mitgliedern des Hofschauspiels fühlte sich jetzt gedrängt, mir ihre Sympathie zum Ausdruck zu bringen. Hatte ich wäh­ rend der 8 Jahre aus den erwähnten Integritätsgrün­ den persönliche Berührung mit Darstellern und Auto­ ren vermieden, so trank ich nun manchmal abends einen Schoppen in der «Torggelstube» neben dem Hof­ bräuhause, wo sich damals Künstler und Schriftsteller regelmässig zusammenfanden. Hier fiel nun der Bann der Zurückhaltung, die meine strenge Reserve verur­ sacht hatte und man beeilte sich, mir in geselligem 365

Entgegenkommen Gutes und Schönes zu sagen, das jetzt nicht mehr missdeutet werden konnte. Gustav Waldau und Hertha von Hagen boten mir in idealisti­ schem Impuls das «Du», ebenso Friedrich Karl Peppler, den ich schon in Hannover zu kritisieren gehabt, die Hofschauspielerin Margarethe Swoboda und ihr am Schauspielhause tätiger Gatte, der mich als einen «rocher de bronze» feierte. Komplizierter gestaltete sich natürlich mein gesell­ schaftliches Verhältnis zu den Bühnenschriftstellern, die mit ihrem Anhang in der «Torggelstube» verkehr­ ten, musste ich doch in manchen von ihnen erklärte Feinde sehen, denen ich letzten Endes den Verlust meiner ohnehin so bescheidenen materiellen Basis zu danken hatte. Trotzdem veranlassten mich jetzt Eigen­ tümlichkeiten meines Wesens einen modus vivendi mit ihnen — wenn nicht zu suchen — so doch nicht abzu­ lehnen. Als Hauptmotiv wirkte da mein Hunger nach irgendwie befruchtendem Umgang mit anderen Men­ schen meiner Kunstsphäre, mehr durch Zuhören und nachdenkliches Inmichaufnehmen als durch aktive Selbstbeteiligung. Es war mir dabei garnicht von aus­ schlaggebender Bedeutung, wie ich zu den Betreffen­ den menschlich oder künstlerisch stand, ja ob es sich um Freunde oder Gegner handelte. Als Mensch hatte ich mich mit einer gewissen Isoliertheit, wie mit einem unabänderlichen Schicksal abgefunden, aber meine Produktivität verlangte gebieterisch nach der Fühlung mit verschiedenartigsten Zeitgenossen, sei es auch nur im Sinne einer spannkräftigen Gegenüberstellung. Das muss hier ausgesprochen werden, um mein ungewöhnliches Verhalten zu den Bühnenautoren ver­ ständlich zu machen....... In dem kleinen Seitenlokal der Weinstube, das die Literaten und Theaterleute gewissermassen für sich gepachtet hatten, war Wedekind jetzt ständiger Gast, galt als der führende Geist der Zeit, was sich auch darin ausprägte, dass sich allerlei Leute an ihn heran­ drängten, um durch ihn hochzukommen. Es verstand sich von selbst, dass er nicht nur der Spiritus rector 366

des Ecktisches war, an dem er Platz zu nehmen pflegte, sondern auch den ganzen Raum beherrschte; jedesmal wenn er eintrat, wandten sich alle Köpfe nach ihm. Als ich nach meiner Abdankung das neue Generalquartier der Münchener Literatur zum ersten Mal aufsuchte und an einem Seitentischchen mein Viertel Roten trank, kam er zu mir herüber und frug in unbefangenem Kameradschaftston von ehedem, ob ich denn nicht mit an seinen Tisch kommen wolle: so kam ich denn an den Wedekind-Tisch, wo sich seine Anhänger nach dem ersten wortlosen Staunen bald an meine Gegenwart gewöhnten. Als Wedekind nach jenem ersten Abend mit mir allein nach Hause ging — er hatte eine Wohnung an der Prinzregentenstrasse, sodass unser Heimweg derselbe war — sagte er, ganz im Sinne einer intimen Aussprache zwischen Freun­ den, mit einem melancholischen Seufzer: «Ja — nun wäre man wieder glücklich in München, und kann nun hier alt werden.» Als wir uns an der Ecke der Strasse trennten, versäumte er nicht die Bitte, «ihn meiner verehrten Frau Gemahlin zu empfehlen». Trotzdem kam es vor, dass er mich schroff und gro­ tesk ignorierte, wie wenn ich garnicht da wäre. Dann gab er endgültig diesen Trick auf, kehrte zum gemüt­ lich-vertraulichen Freundschaftston zurück und begrüsste mich fortan regelmässig mit einem treuherzig­ altbayrischen «Grüass di God», das wohl halb paro­ distisch klingen sollte. Auch der Hofschauspieler Albert Steinrück verkehrte an dem Stammtisch; er stimmte mit Vorliebe das Hamburger Lied vom «Jan Hinnerk» an, «der immer noch an der Lammer-Lammerstrat wohnt», wobei der Kehrreim von der ganzen Runde mitgesungen werden musste, und der manchmal sich einfindende Schauspieler We'gert sang französische Chansons zur Laute; Wedekind selbst aber verstand sich nur sehr ausnahmsweise dazu, eine seiner Mori­ taten aus der «Schar frichter»-Zeit wieder ertönen zu lassen. Zu den Besuchern des Tisches zählte auch der spätere Professor der Literaturgeschichte, Dr. Artur Kutscher; er arbeitete da bereits für seine künftige 367

Wedekind-Biographie vor, indem er mit gespannter Aufmerksamkeit jede Aeusserung seines Lieblingsdich­ ters verfolgte. Max Halbe pflegte nur an einem be­ stimmten Abend der Woche in die «Torggelstube» zu kommen und am gesonderten Tisch seinen eigenen Kreis um sich zu scharen; übrigens bestand zwischen ihm und Wedekind längere Zeit eine schwere Verstim­ mung, bis dann schliesslich eine Aussöhnung zwischen den beiden erfolgte. Die Seelenruhe, mit der ich als Daniel in die Löwengrube gestiegen war (da es sich um die Löwen des Tages handelte, stimmt wohl der Ausdruck in Jedem Betracht), erfuhr ihre stärkste Belastungsprobe, als eines Abends sogar mein Beschimpfer B. auftauchte (der Verfasser der früher erwähnten Schmähschrift gegen Gumppenbergs Theaterkritiken. Anm. des Herausgebers.) und altklug nachdenkliche Bemerkungen an mich zu richten begann, die wohl von Beleidigungen absahen, aber nach allem Vorhergegangenen darum nicht weni­ ger ungezogen waren. Es fehlte mir eben an «Begei­ sterungsfähigkeit», meinte er. Nun spürte ich zwar nicht den geringsten Antrieb mich auch nur in einen persönlichen Wortwechsel mit ihm einzulassen; selbst wenn mich Rauflust unter die älteren «Löwen» geführt hätte, wäre es mir nicht möglich erschienen, mit dem jungen Löwchen ein unwürdig-lächerliches Schauspiel zu geben. Dennoch verlor ich für ein paar Augen­ blicke meine Selbstbeherrschung. Nicht des belanglosen Gerngross wegen, der von meinen seelischen Fähig­ keiten wissen wollte, aber seine Worte gemahnten mich unmittelbar an die ungeheuerliche Verdrehung, die meine nichts weniger als temperamentlose Liebe zur Kunst während der acht Jahre in München er­ fahren hatte, an jene meine Begeisterung für das echte und ganze Kunstwerk, die mich nicht zufrieden sein liess mit der Talmi-Mache oder mit nur Halbgelunge­ nem. Und so entlud sich meine lange Zeit angesammelte Empörung in dem jäh hervorbrechenden, an keinen einzelnen gerichteten Protest, man dürfe jene alberne Behauptung nicht noch einmal verlauten lassen. Es 368

mag etwas Elementares mitgeschüttert haben in diesem kurzen Ausbruch, denn er war von merk­ würdiger Wirkung auf den Kreis, in dem übrigens Wedekind ausnahmsweise fehlte; alle sassen eine Weile in betretenem Schweigen. Auch der seelenkritische Jüngling unternahm keine Versuche mehr und man ging dann bald auseinander. Ich bin bei diesen Torggelstube-Erlebnissen nui- um ihrer psychologi­ schen Klarlegung willen verweilt; in meinem damali­ gen Leben bedeuteten sie nichts Hauptsächliches oder irgendwie Weiterführendes. — Materielle Sorgen be­ drückten mich, und so verlief der Sommer 1909 trübe genug. Da kam, als ich schon an allen Möglichkeiten ver­ zweifelte, ein überraschender Brief aus Hannover. Ein Herr Josef Molling, Mitbesitzer einer dortigen Kunst­ druckerei, frug bei mir an, ob ich die Herausgabe und Schriftleitung eines in München neu zu schaffen­ den künstlerisch-literarischen Witzblattes übernehmen wolle. Das Blatt sei in der Art des «Simplizissimus» geplant, doch ohne farbige Bilder, und es solle zu­ gleich einer besonderen Pflege der Schwarz-weiss­ kunst dienen; ich hätte mich mit einem bereits in Aussicht genommenen Kunstredakteur, einem Herrn Alfred Auscher, in die redaktionellen Arbeiten zu teilen. Man erster Gedanke war, das Anerbieten ohne weiteres anzunehmen; ihm folgte aber sogleich die Ueberlegung, dass ein neues Witzblatt von dem be­ zeichneten Charakter sicher nicht lebensfähig wäre. Als ständiger Mitarbeiter der «Jugend» wusste ich, dass alle für Witzblattzwecke geeigneten und als leistungsfähig bekannten Zeichner und Literaten schon fest an diese oder jene von den bestehenden Zeit­ schriften oder satirischen Zeitungsbeilagen gebunden waren, und dass um jedes neu auftauchende Talent solcher Art sofort ein heftiger Wettbewerb unter all den wohlfundierten, in der breitesten Oeffentlichkeit bereits durchgesetzten Blättern zu entbrennen pflegt, gegen welchen ein neuer Mitbewerber höchstens mit unverhältnismässigen Geldopfern aufkommen konnte; 24

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ferner, dass es den Künstlern und Schriftstellern doch immer auch um eine sichere und dauernde Beziehung und um allgemeines Bekanntwerden zu tun war, und dass sie daher ein schon gut eingeführtes, bewährtes und weitverbreitetes Blatt einem neuen von unge­ wisser Zukunft vorziehen mussten. Und nun gar die spezielle Konkurrenz mit dem «Simplizissimus» unter Verzicht auf die farbigen Bilder! Ich wusste, dass diese «Farbigkeit» vom «Simplizissimus», der «Jugend» und anderen Blättern der Gattung vor allem deshalb gepflegt wurde, weil sie sich bei der naiven Vorliebe der Massen fürs Bunte als absatzsteigernd erwiesen batte. Ich wusste auch, dass der «Simplizissimus» sich sein Publikum im Zeichnerischen, wie auch im Text­ lichen durch einen scharf ausgeprägten Sonderstil erobert hatte, den man höchstens wirkungslos nach­ äffen, aber nicht erfolgreich überbieten oder variie­ ren konnte. Und dann alle die Massnahmen und Kraftanstrengungen, die man seitens der bestehenden Witzblätter als unerwünschter neuer Konkurrent zu gewärtigen hatte! Aus diesen Gründen erschien mir die geplante Neuschöpfung unmöglich. Zugleich aber brachte mich das Projekt einer Sonderpflege der Schwarz-weisskunst auf eine andere Idee. Wohl war mit der Witzblatt-Graphik, die ja neben der farbigen Karikatur und Groteske ohnehin schon sattsam aus­ gebeutet wurde, nichts Neues anzufangen; dagegen gab es noch keine deutsche Zeitschrift, die überhaupt allen Erzeugnissen dieser geistigsten Form der bilden­ den Kunst, den bildmässig ausgeführtesten von ihnen, wie auch der charakteristischen Skizze, mit ihren reizvollen Aufschlüssen über die einzelne Künstler­ persönlichkeit, dem Holzschnitt, wie auch der Ra­ dierung, der Tusche-, Feder-, Kohlen-, Kreide- und Bleistiftzeichnung mittels der so hoch vervollkommten Reproduktionstechnik eine würdige Heimstatt bot Und hiermit verband sich mir alsbald der Gedanke, dass einer solchen umfassenden Zeitschrift für Schwarz-weisskunst sehr gut und harmonisch die Pflege einer erlesenen literarischen Kleinkunst ein­ 370

zufügen wäre, die Kunst der feingeschliffenen Novellette und des lyrischen Gedichts, in einer strenge­ ren Auswahl, als sie in den bestehenden Zeitschriften üblich war, und in einem gewissen ungezwungenen und doch fühlbaren Stimmungszusammenhang mit den jeweiligen graphischen Gaben, sodass jede Nummer eine Art künstlerische Einheit erhielte. Diese Prin­ zipien schlossen nicht nur alles 'Witzblattmässige, auch das im engeren Sinn Aktuelle aus, dafür schuf man aber etwas konkurrenzlos Neues und Eigenartiges, woran jeder Freund von Kunst und Dichtung seine Freude haben mochte. All das ging mir nach dem Empfang des Briefes durch den Kopf, und auf die Gefahr hin, mir jede praktische Aussicht zu vernich­ ten durch die radikale Verwerfung des ursprünglichen Planes, den ich weder als ehrlicher Ratgeber, noch auch als vernünftiger Anstreber einer Existenzbasis gut heissen konnte, antwortete ich in meinem Sinne und machte meinen Gegenvorschlag. Und siehe da: ich überzeugte den unternehmungslustigen Kapitali­ sten von der Triftigkeit meiner Bedenken, wie auch von den günstigeren Aussichten meines eigenen Plans, sodass er mich sofort einlud, auf seine Kosten zu einer Besprechung nach Hannover zu kommen. Ich erkundigte mich noch in aller Eile nach den finan­ ziellen Verhältnissen des Unternehmers, erhielt eine sehr beruhigende Auskunft, und machte mich dann unverzüglich auf den Weg. Molling, wie auch der vor­ gesehene Kunstredakteur Auscher erwarteten mich zu­ sammen. Von ihrer Universitätszeit her befreundet, waren sie beide jünger als ich, erschienen aber älter und stiller als es ihren Jahren entsprach, was wohl vor allem den nervösen Beschwerden zuzuschreiben war, von denen beide gequält waren, Auscher als physisch ungünstig Veranlagter, Molling infolge eines Unfalls, den er als junger Mensch erlitten hatte; er war da nämlich aus Unachtsamkeit kopfüber in einen Lichtschacht der Kunstdruckerei gestürzt, und von dem schweren Choc waren ihm andauernde Schlaf­ losigkeit und andere Nervenschäden geblieben. Nach 371

dem Tode seines Vaters hatte Molling sich verhältnis­ mässig früh mit seinem Bruder in die Leitung der Firma zu teilen gehabt, die äusser der Kunstdruckerei noch ein Bankgeschäft betrieb, und die Gewohnheit des Anordnens und Repräsentierens mochte zu dem gemessenen Ernst seines Wesens auch noch das Ihre beigetragen haben. Auscher war Kunsthistoriker; selbst vermöglich, wenn auch nicht annähernd in demselben Masse wie sein Freund, wollte er sich an dem Zeit­ schrift-Unternehmen auch finanziell mit einer bebescheideneren Summe beteiligen. Er war es wohl gewesen, der schon bei dem Witzblattprojekt die Sache der Schwarzweisskunst vertreten und nunmehr meine in dieser Richtung noch weitergreifenden Ideen mit Wärme befürwortet hatte. Ich fand Molling be­ reits grundsätzlich mit meinem Plane einverstanden, und bei der eingehenden Erörterung der Angelegen­ heit stellten sich auch keine organisatorischen Schwie­ rigkeiten heraus, sodass wir in allen Punkten un­ schwer zur Einigung gelangten. Dank dem Verzicht auf den Witzblatt-Charakter und die Aktualität er­ schien kein grösserer Redaktionsstab nötig; wir brauchten nur noch für leichtere Arbeiten und ge­ legentliche Vertretung einen Hilfsredakteur, als wel­ cher dann der junge Münchener Künstler Benno Eggert gewonnen wurde, und eine gebildete Schreib­ maschinistin für die Korrespondenz und die Registra­ tur. Als Herausgeber und verantwortlicher Redakteur des literarischen Teils sollte ich selbst, fürs Graphische Auscher zeichnen; die Zusammenstellung der Num­ mern sollte unbeschadet der einheitlichen Führung im Einvernehmen mit Auscher erfolgen. Hergestellt sollte die Zeitschrift in der Mollingschen Kunstdruckerei werden, auf bestgeeignetem Papier und unter Inan­ spruchnahme der leistungsfähigsten modernen Repro­ duktionsverfahren, wofür sich vor allem eine bekannte Wiener Firma empfahl. Unter Mollings Führung und in Gesellschaft Auschers besuchte ich auch die Kunstdruckerei, deren Werkstätten und Magazine ein stattliches Gebäude an 372

der Peripherie der Stadt füllten. Der Gang durch die einzelnen Betriebsräume gab mir neue und inter­ essante Eindrücke. Besonders merkwürdig erschien mir, dass ein Hauptgeschäft der Firma in der Her­ stellung bunter buddhistischer und anderer Heiligen­ bilder für die Asiaten bestand. Also eine richtige Götzenfabrik mitten in Deutschland! Der Gedanke, dass die frommen Heiden des fernen Ostens ihr Erbauungs­ material aus Hannover bezogen, war drollig genug. Auf der Heimreise war ich in allerbester Laune. Die Existenzsorgen waren nun auf absehbare Zeit be­ hoben, da ich meine Bezüge auch schon in der Vor­ bereitungszeit erhielt, und mein wieder kräftig hoch­ schnellender Optimismus hatte alle Zuversicht, dass ich das Schlimmste des Daseinskampfes jetzt endgültig überstanden hätte. Vor mir lag eine Tätigkeit, deren Anspruchsfülle ich zwar keineswegs unterschätzte, die mir aber ungleich sympathischer war als das Kriti­ sieren, weil sie produktiveren Charakter trug, und ich freute mich ordentlich darauf, meinen Deutschen ein­ mal eine nach reinsten künstlerischen Grundsätzen ge­ staltete, von allem Unzulänglichen und Profanen sauber erhaltene Zeitschrift geben zu können. Dass ich durch die angestrengte organisatorische und redaktionelle Arbeit, die mir bevorstand, abermals von der dich­ terischen Eigenproduktion abgedrängt werden musste, kam mir kaum mehr zum Bewusstsein; ich war im Kampf ums schlichte Leben so müde gehetzt, dass ich schon eine schönere und würdigere Form dieses Kampfes mit grosser innerer Dankbarkeit begrüsste. Das Wetter schien meine Rückkehr in gesicherte Ver­ hältnisse auch feiern zu wollen, ich fuhr durch einen wolkenlos strahlenden Herbsttag, und als der Zug durchs malerische Altmühltal rollte, loderten die Bäumchen und Büsche auf den Felsen in ihrem gold­ roten Abschiedsgewand wie Freudenfeuer. Auscher, der künftige Kunstredakteur unserer neuen Schwarzweiss-Zeitschrift, war nach München gekommen und hatte Umschau nach einem Heim für das Unternehmen gehalten. Er teilte mir schon nach 373

kurzer Zeit mit, dass er etwas Passendes in der Schwa­ binger Kaiserstrasse, unweit der Leopoldsstrasse, ge­ funden und gemietet habe, nämlich eine kleine ein­ stöckige Villa mit hübschem Garten, die in ihrem Erdgeschoss Raum genug für die Redaktion biete, während er selbst das obere Stockwerk beziehen wolle. Ich fuhr hinaus und fand, dass er eine durchaus glückliche Wahl getroffen hatte. Bald darauf kam auch Molling auf einige Tage nach München, um die nötigen Schritte zur praktischen Verwirklichung des Unter­ nehmens mit uns zu besprechen. Vor allem musste ein geeigneter Name für die Zeitschrift gefunden werden. Bei den Beratungen über diese Frage hielt ich daran fest, dass der Name nicht nur auf die graphischen, sondern auch auf die literarischen Gaben der Zeit­ schrift Bezug haben müsse, sagte ich mir doch, dass nur bei durchaus koordinierter Behandlung beider Elemente über den engen Kreis der Kunstliebhaber hinaus die Teilnahme der Allgemeinheit zu gewinnen wäre. Ich drang mit dieser Ueberzeugung und meinem schliesslichen Vorschlag durch, die Zeitschrift «Licht und Schatten» zu nennen, welche Bezeichnung auch eine symbolische Deutung auf die heitere und ernste Lebensspiegelung der Novelletten und lyrischen Verse zuliess. Ferner galt es, einen genügend reichhaltigen Vorrat von graphischem, wie auch literarischem Ma­ terial zu sammeln, denn sollte der Plan einer einheit­ lich-künstlerischen Abtönung jeder Nummer verwirk­ licht werden, so konnten wir natürlich erst dann an­ fangen, wenn wir über den sicheren Besitz sehr vieler und sehr verschiedenartiger Beiträge verfügten. Dabei erschien die Beschaffung von entsprechend wertvollem literarischem Material ganz besonders schwierig, wusste ich doch, welche Mühe auch die beliebtesten und vornehmst honorierenden Zeitschriften infolge des ungeheuren Wettbewerbs und der Lässigkeit der Au­ toren schon mit der Bestreitung des augenblicklichen Bedarfs hatten. Wir kamen daher überein, dass ich unverzüglich auf Kosten des Verlags eine Rundreise 374

durch Deutschland und Oesterreich machen sollte, um unter Ausnützung meiner Beziehungen vor allem die in Betracht kommenden Poeten, aber auch einzelne Künstler in persönlicher Rücksprache als Mitarbeiter zu gewinnen und womöglich auch schon gleich Bei­ träge von ihnen zu erwerben, während Auscher gleich­ zeitig an Ort und Stelle die vollständige Einrichtung des Redaktionsbüros besorgen, Beiträge Münchener und auswärtiger Künstler sammeln und dann in Berlin mit mir zu einer gemeinsamen Aktion bei Max Lieber­ mann und zu eventuellen anderen Künstlerbesuchen Zusammentreffen wollte. Meine Reise war auf sechs bis acht Wochen berechnet; ich wollte erst nach Wien, dann über Prag nach Dresden und Berlin, von dort nach Hamburg, Braunschweig, Weimar, Frankfurt und Karlsruhe, endlich an den Bodensee, wo ich Hermann Hesse, Ludwig Finckh und durch sie noch andere für unsere Sache zu gewinnen dachte, und über Inns­ bruck, wo ich durch Greinz die Tiroler Poeten her­ anzuziehen hoffte, zurück nach München. Von bilden­ den Künstlern hatte ich mir in Berlin meinen mittler­ weile berühmt gewordenen Jugendbekannten Slevogt vorgenommen, in Frankfurt Fritz Boehle, in Karlsruhe Hans Thoma und Trübner. Die melancholisch stim­ mende Notwendigkeit, so lange und obendrein in so unerfreulicher Jahreszeit fern von den Meinen das un­ ruhige Leben einer Art von Geschäftsreisenden führen zu müssen, hatte glücklicher Weise ein kräftiges Ge­ gengewicht in der Hoffnung auf die dauernde Siche­ rung und Hebung unserer Existenz durch das Unter­ nehmen und entsprechend tatenfreudiger innerer An­ spannung, ausserdem noch in der ganz allgemeinen Wander- und Abenteuerlust, die mir noch immer eigen war und sich mit meinem neuerdings so starken Heimgefühl widerspruchslos vertrug; war mir doch gerade in abwechselndem Erleben beider am wohlsten. Ende Oktober trat ich die Reise an und fuhr zu­ nächst nach Wien, wo ich nun zwei Wochen hindurch alle nur irgend erreichbaren Poeten für «Licht und 375

Schatten» mobil zu machen suchte. Einer meiner ersten Gänge führte mich zu Arthur Schnitzler. Der lebhafte, damals 48-jährige Mann, mit dem nervös zerwühlten Gesicht, nahm mich sehr liebenswürdig auf und ver­ plauderte mit mir eine anregende Viertelstunde; sein Versprechen mir diese oder jene neue Novellette zu überlassen, hat der Vielbeanspruchte freilich nicht ge­ halten. Ich suchte dann Herman Bahr, Rudolf Hans Bartsch und Jakob Wassermann in ihren entlegenen Vorortbehausungen auf, und überfiel den Verträumten Wien-Schwärmer Max Messer, von dem ich einige Skizzen in der Unterhaltungsbeilage des «Hannover­ schen Courier» gebracht hatte, in seiner Advokaten­ kanzlei. Ich verbrachte mit ihm einen Bummelabend nach seinem beschaulichen Sinn und Geschmack, und wenn ich nicht irre, war er es auch, der mich auf mehrere Wiener Poeten hinwies, namentlich auf Franz Karl Ginzkey und Emil Lucka, mit denen ich mich dann für einen anderen Abend in einem Lokal zu­ sammenbestellte, um in aller Behaglichkeit den Gegen­ stand mit ihnen zu besprechen. Recht abenteuerlich gestaltete sich mein nachmittägliches Entree bei Franz Servaes; eben als ich, bei stürmischem Wetter, mich dem Hause näherte, warf mir der herbstliche Wirbel­ wind eine Handvoll Kehricht ins Gesicht, und dabei geriet mir irgend ein Partikelchen so unglücklich ins Auge, dass ich es nicht zu beseitigen vermochte und schmerzhaft geblendet war. Ich wollte den weiten Weg nicht umsonst gemacht haben, tastete mich mühsam die Treppe hinan und sprach bei Servaes vor; da sich aber Schmerz und Blendung schnell bis zur gänz­ lichen Hilflosigkeit und Unerträglichkeit gesteigert hatten, musste ich dem mir persönlich noch unbe­ kannten freundlichen Kollegen vor allem anderen mein momentanes Missgeschick klagen und ihn bitten, mir bei der Entfernung des Eindringlings behilflich zu sein. Er vollführte die subtile Operation sofort eigenhändigst mit grossem Geschick und glänzendem Gelingen, ich sprach meinen tiegefühlten Dank aus, und konnte erst jetzt auf mein eigentliches Anliegen 376

zu sprechen kommen. Auch einen anderen Redakteur der allmächtigen «Neuen Freien Presse», den ele­ ganten Plauderer Raoul Auernheimer suchte ich auf, dann den gescheiten Felix Salten, die Dichterin Eugenia della Grazie, Stefan Zweig, von dem ich sogleich eine formschöne Verhaeren-Nachdichtung erwerben konnte, und Richard Schaukai, der ganz besondere Teilnahme zeigte. Auch Freund Gregori, der damals am Hofburgtheater erste Rollen spielte, besuchte ich, und da er gerade einen freien Abend hatte, behielt er mich bei sich, und wir tauschten unsere Erlebnisse in den letzten Jahren aus. Als ich in Wien ohne allzu grosse Zeitopfer keiner neuen Mitarbeiter mehr habhaft werden konnte, fuhr ich weiter nach Prag, wo ich nachmittags eintraf, ich wollte die alte Moldaustadt, die ich seit einer Pagenreise von 1881 nicht wiedergesehn, mehr nur besuchen, weil sie mir gerade am Weg lag. Ohne bestimmten Plan, wo ich Quartier nehmen sollte, liess ich meinen Handkoffer zunächst auf dem Bahnhof und wanderte beschaulich stadteinwärts. Allein schon die ersten Eindrücke verleideten mir selbst einen kurzen Aufenthalt. Aus der vorherrschend deutschen Stadt, die ich als Page gesehn, und in der das Tschechische nur hier und da als leichte Sonder­ färbung hervortrat, war eine ostentative, extrem deutsch-feindliche Tschechen-Metropole geworden, in den Strassen hörte ich überhaupt nur fremde Leute, alle Schilder trugen tschechische Namen und Bezeich­ nungen, und auf meine deutschen Fragen erhielt ich nur feindselige oder verächtliche Blicke, aber keine Antwort; ich fühlte mich wie durch bösen Zauber in irgend ein wüstes Barbarenvolk versetzt. Erst als ich mich endlich bis zum «Deutschen Haus» durch­ gefunden hatte und dort ein Glas Kaffee trank, hörte ich wieder deutsch sprechen, doch erzählte mir der mitteilsame Oberkellner so krasse Vorkommnisse aus den letzten, besonders stürmisch verlaufenen Wochen, dass mir die Lust verging, auch nur einen Tag zu bleiben. Ich nahm daher gar nicht Quartier und fuhr 377

noch mit dem Nachtzug nach Dresden. Avenarius, den ich dort zunächst aufsuchte, beglückwünschte mich zu der neuen Tätigkeit, die, wie er meinte, «mich nun erst ganz an die rechte Stelle setzte». Ich wandte mich dann noch an Ottomar Enking sowie an den phantasievollen Karl Gjellerup und nahm von beiden schöne Versprechungen mit, die freilich, wie so manche anderen, keine praktischen Früchte tragen sollten. In Berlin, wohin ich dann weiterfuhr, nahm ich in einem Hotel in der Gegend des Anhalter Bahnhofs Wohnung. Ich schrieb zunächst an Julius Hart, der jetzt sein Domizil nach Wilhelmshagen verlegt hatte und, wie ich gehört, oft nach Berlin hereinkam; ich bat ihn um eine Zusammenkunft — Heinrich Hart war inzwischen gestorben — und er bestellte mich für einen Abend in ein Bestaurant. Ich fand ihn un­ verändert, auch in seiner herzlichen Gesinnung ge­ gen mich, besprach mit ihm mein Unternehmen und erhielt allerlei Auskünfte. Dann suchte ich zunächst Karl Busse auf. Ich traf den «jungen Goethe» der 90er Jahre äusserlich, wie auch seelisch, sehr ge­ wandelt; sein keckes Draufgängertum und seine quecksilbrige Beweglichkeit von damals war einer stillen, resigniert anmutenden Gesetztheit gewichen. Er begrüsste mich als guten alten Bekannten und meinte, als wir im Gespräch auf jene Zeiten kamen, sein Betragen gegen mich sei ihm nachträglich recht leid geworden, denn er habe mich später verstehen gelernt. Für «Licht und Schatten» versprach er mir eine Beihe von Novelletten, und er hat dann auch Wort gehalten. Mit Bruno Wille, der mir mit alter treuer Freundschaftlichkeit entgegenkam und mir auch gleich einiges Lyrische überliess, und Bölsche kam bald nachher eine Abendverabredung zustande, wobei ich auch Friedrich Naumann kennen lernte. — Andere Besuchsgänge führten mich zu Ludwig Fulda, Georg Engel, Eduard Stucken und Willy Pastor, ferner zu Clara Viebig und zu Arno Holz. Letzterer empfing mich mit einer Miene, als wolle 378

er mir im nächsten Augenblick die Türe weisen; er schien meine Parodien auf ihn und seine Schule als bitterbösen Angriff missverstanden zu haben, während es andere Dichter gab, die sich geradezu ärgerten, noch nicht von mir parodiert worden zu sein. «Sie sind mein Feind!», knurrte er mich grimmig an, und ich hatte Mühe ihn eines Bes­ seren zu belehren und ihn schliesslich dahin zu bringen, dass er mir Beiträge zusagte. Noch schlim­ mer ging es mir mit Sudermann. Ich hatte während meiner Referententätigkeit seine Stücke freimütig, wenn auch stets massvoll beurteilt; als ich ihn nun telephonisch anrief, um zu hören, ob und wann ihm mein Besuch passen würde, schrie er, sobald ich meinen Namen genannt hatte: «Schluss.» Ich schrieb ihm sofort einen ruhig-ironischen Brief, in dem ich kurz aufklärte, was ich von ihm gewollt hatte. Cäsar Flaischlen, der mir ja von jeher sehr freundlich zugetan und seit den 90er Jahren mit mir in Correspondenz geblieben war, begrüsste mich herz­ lichst und versprach fleissige Mitarbeit. Den kos­ mischen Phantasten Paul Scheerbart fand ich in un­ verändert schlechter Lebenslage und unbeirrt guter Laune; er war entzückt über die neue Absatzmöglich­ keit und versprach mir eine Waggonladung Manu­ skripte. Um von anderen etwa noch in Betracht kom­ menden Poeten gleich eine grössere Anzahl zusammen zu haben, besuchte ich einen Abend der Berliner «Literarischen Gesellschaft», auf dem ich Rudolf Herzog, Walter Bloem und mehrere weniger Nam­ hafte für die Zeitschrift interessierte. Ich sah da auch zum ersten Male Julius Wolff von Angesicht zu Angesicht, diese verblichene Berühmtheit der sieb­ ziger und achtziger Jahre, die nun zugleich als Jubel­ greis respektiert und als gefallene Grösse ironisiert wurde. Auch Freund Schaumberger suchte ich auf, der damals als Dramaturg an einem kleineren Ber­ liner Theater tätig war, und verbrachte einen behag­ lichen Abend mit ihm. 379

Als dann Auscher ein traf, berichteten wir einander über das bisher Erreichte, und gingen dann zusam­ men zu Max Liebermann, der uns sehr gut aufnahm, allerlei über bildende Kunst im allgemeinen und über sich selbst im besonderen plauderte und uns schliess­ lich verschiedene charakteristische Zeichnungen zur Reproduktion überliess. Zu Slevogt ging ich allein, wie es von vornherein geplant war; er begrüsste mich so vertraulich, als wären nur ein paar Tage seit unseren Chopin-Andachten auf seiner Münchener Akademiker-Bude verflossen. Auch in seinem son­ stigen Wesen fand ich ihn kaum anders als damals. Er lud mich ein, mit ihm und seiner Frau den Mittags­ tisch zu teilen, wir plauderten ganz wie alte Kame­ raden, und suchten dann aus seinen Mappen allerlei Passendes für «Licht und Schatten» zusammen. Ich fuhr nun nach Hamburg, wo ich namentlich Gustav Falke als Poeten wie auch als werbende Kraft für das Unternehmen gewinnen wollte. Falke war mir auch persönlich kein Fremder mehr; etwa zehn Jahre früher hatten wir uns in das Programm eines Vortragsabends des Münchener «Akademisch­ dramatischen Vereins» geteilt, wobei er Lyrik, ich ein paar humoristische Prosaskizzen las. Er bewohnte in einem Vorort Hamburgs ein eigenes Häuschen, das einsam mitten in einem Park lag: und da dieser, dessen Reize in schönerer Jahreszeit ich leider nur ahnen konnte, bei dem jetzt eingefallenen abscheu­ lichen Regenwetter mir ausgedehnte Seen und boden­ losen Morast entgegensetzte, bedurfte ich langwieriger Umgehungen und mancher kühnen Weitsprünge, um endlich zu dem stillen Dichterheim vorzudringen. Falke erinnerte sich sofort meiner und empfing mich so kollegial liebenswürdig, wie es von seinem Natu­ rell zu erwarten war; die Prinzipien der neuen Zeitschrift fanden bei ihm lebhafteste Zustimmung, und er versprach mir aufs bereitwilligste die eigene Mitarbeit, wie auch das Beitreiben aller jüngeren Begabungen seines Bekanntenkreises. Freilich aber wurde meine Hoffnung enttäuscht, ihm bei dieser Ge­ 380

legenheit jenseits aller Zeitschriftenbetriebsamkeit auch persönlich näherzukomen, denn er stand damals noch ganz unter dem Eindruck von Liliencrons kurz vorher erfolgtem Tode. Sobald das Thema «Licht und Schatten» erschöpft war, begann er von dem Freunde zu sprechen, den er so sehr bewundert und geliebt hatte: und die Art, wie er mir dies und jenes über seinen Abgott erzählte, die andächtige Vereh­ rung, mit der er mir schliesslich die Totenmaske des Betrauerten zeigte, hatte etwas Rührendes. In seiner zwei Jahre später veröffentlichten Selbstbiographie hat er sein seelisches Verhältnis zu Liliencron ange­ deutet; der skrupellos lebenslustige Holsteiner war für ihn, der sich aus allerlei gutbürgerlichen Hem­ mungen nicht ohne Störung des inneren Gleich­ gewichts hatte lösen können, die Verkörperung einer genialischen Ungebundenheit, wie sie ihm selbst ver­ sagt bleiben musste. Dass er 'gerade diesen Hem­ mungen als Mensch wie als Dichter manchen zarten und feinen Vorzug verdankte, kam seiner liebens­ werten Naivität gar nicht zum Bewusstsein. Otto Ernst, der mit Falke an der Spitze des litera­ rischen Hamburgs stand, getraute ich mich nach der üblen Erfahrung mit Sudermann nicht aufzusuchen, so gern ich auch den Ton der «Appelschnut» in meinem Konzert hätte miterklingen lassen; ich hatte so manches Ernst’sche Bühnenwerk noch ärger zer­ pflücken müssen als die Stücke Sudermanns, und konnte nicht wissen, ob ich hier trotzdem mehr Selbstkritik, innere Feinheit und Unterscheidung des Mannes von seinem Amt erwarten durfte. Auf einen persönlichen Besuch bei Dehmel, der in Blankenese bei Hamburg wohnte, musste ich aus andern Grün­ den verzichten. Als nämlich die Münchener Zeit­ schrift «Die Freistatt» Liliencron zu seinem sechzig­ sten Geburtstag einen Strauss von Dichterversen dar­ brachte und dabei einen launig-lustigen Trinkspruch von mir neben ein hochpathetisches Poem Dehmels stellte, hatte dieser, wie der Redakteur Dannegger 381

mir damals als Kuriosum mitteilte, in grobem Brief sich darüber beschwert, dass man seiner Dichtung eines meiner «Schnaderhüpferln» an die Seite gesetzt habe. Offenbar war auch der vormalige Rezitator meiner «Einzigen», die gewiss nichts «Schnaderhüpferlndes» hatte, gegen mich aufgehetzt worden, obwohl ich nie in die Lage gekommen war, ihn selbst kritisieren zu müssen: denn dass er mir die Parodie seines eigenen Trinklieds — die einzige, mit der er damals schon in meinem «Teutschen Dichterross» vertreten war — so giftig übelgenommen hätte, konnte ich ihm nicht recht zutrauen. Nach Braunschweig führte mich lediglich der Gedanke, den alten Wilhelm Raabe vielleicht noch für unsere Sache gewinnen zu können. Am späten Nachmittag eines klaren Wintertages langte ich dort an; in den Fenstern lag schon die Goldglut der sin­ kenden Sonne. Trotzdem beschloss ich, mich an gesellschaftlichen Regeln nicht zu kehren und sogleich mein Glück zu versuchen. Als ich an der beschei­ denen Wohnung des Dichters läutete, öffnete er mir selbst in Schlafrock und Pantoffeln die Türe und zog mich, als er mein Anliegen gehört hatte, mit zwang­ loser Freundlichkeit in sein Stübchen. Er liess sich Näheres über den Plan unserer Zeitschrift erzählen, der seinen Beifall zu finden schien, doch erklärte er mir alsbald, er habe jetzt, nachdem eine jüngst über­ standene Krankheit ihn an sein hohes Alter gemahnt, endgültig aufs Produzieren verzichtet und könne mir daher beim besten Willen nichts mehr versprechen. Mein Hinweis auf die ungebrochene Frische, mit der er das sagte, half nichts; lachend bezeichnete er sich als eine Ruine, bei der nichts mehr zu holen sei. Er plauderte dann aber, in seinen Grossvaterstuhl zurückgelehnt und vom roten Schimmer des Sonnen­ untergangs umflossen, noch eine Weile ganz köstlich über sein Verhältnis zur Oeffentlichkeit: und als er mich endlich verabschiedete, hatte ich zwar für «Licht und Schatten» nichts weiter gewonnen, wohl 382

aber für mich selber das Bild einer echten Menschen­ natur, die in heiterer Ruhe das letzte Fazit des Lebens zieht. In Weimar besuchte ich unter anderm den künst­ lerisch ernsthaften und menschlich liebenswürdigen Erzähler Wilhelm Hegeier auf, mit dem ich schon in meiner ersten Berliner Zeit flüchtig bekannt ge­ worden war. Er zeigte lebhaftes Interesse für die Sache, erklärte sich zur ständigen Mitarbeit bereit. Ueber Frankfurt, wo ich auf Auschers Wunsch mir eine Audienz bei dem berüchtigt schroffen und unzugänglichen Fritz Boehle erkämpfte und nach längeren geduldprobenden Bemühungen auch von ihm graphische Beiträge versprochen erhielt, ging es dann nach der badischen Hauptstadt. Dort galt es namentlich Hans Thoma und Trübner zu gewinnen, was mir unschwer gelang; ich konnte auch von beiden sogleich eine Reihe charakteristischer Blätter erwerben. Ein besonderes Erlebnis bedeutete mir der Besuch bei dem wundervollen alten Thoma, in dessen Erscheinung und Wesen körperlich und seelisch kerngesunde, ruhevollgütige und im besten Sinne deutsche Grossväterlichkeit wie zu einer Idealgestalt geformt erschien. Mein Karlsruher Aufenthalt fand stimmungsvollen Abschluss durch einen behaglichen Abend im Heim des Lyrikers Vierordt, den ich gleich­ falls für «Licht und Schatten» interessierte, und der es sich nicht nehmen liess, mir vom besten Tropfen seines Kellers vorzusetzen. Dann fuhr ich bei schönstem Dezember-Frostwetter durch den tiefverschneiten Schwarzwald an den Bodensee. Als ich aber, in Kon­ stanz angelangt, über den See wollte, um Hesse und Finckh in ihrer ländlichen Zurückgezogenheit aufzu­ suchen, machte mir ein wilder und anhaltender Schneesturm einen Strich durch die Rechnung. Ich musste daher auf die persönliche Aussprache mit den Beiden verzichten, fuhr weiter nach Innsbruck, wo ich noch Greinz und Arthur von Wallpach zu Mit­ arbeitern gewann, und kehrte dann, acht Tage vor Weihnachten, nach München zurück. 383

Auch Auscher war wieder eingetroffen, und wir besuchten nun teils gemeinsam, teils einzeln noch eine ganze Reihe von Münchener Künstlern: Def­ regger, Grützner, Toni Stadler, Hans von Bartels und seine begabte Tochter Vera, Albert von Keller, Haber­ mann, Stuck, Samberger, Fritz August von Kaulbach, Zumbusch, Angelo Jank, Fritz Erler, Julius Diez, den kraftvollen Bildniszeichner Karl Bauer und noch manche anderen. Alle kamen uns bereitwilligst ent­ gegen, und liessen uns aus ihren Mappen allerlei Reizvolles für unsern Zweck zusammensuchen. Für die Zeichnung des Titelbilds der ersten Nummer, das programmatisch wirken sollte, gewannen wir Julius Diez, der die Aufgabe auch originell und charakteri­ stisch löste mit dem Streit eines schneeweissen Engels und eines pechschwarzen Höllensohns um die kunstbedeutende Kielfeder. In ausgedehnter Kor­ respondenz bemühte ich mich auch noch um die Heranziehung einer grossen Anzahl literarischer Kräfte, die ich auf meiner Reise nicht hatte erreichen können, und erhielt auf diese Art noch viele Zusagen, auch erfreulicher Weise schon eine Reihe brauch­ barer Beiträge. Selbst Dehmel, dem ich nun immer­ hin eine schriftliche Einladung übermittelte, um ihn nicht aus persönlichen Gründen von dem Unter­ nehmen auszuschliessen, sandte mir mehrere Ge­ dichte, ebenso Wilhelm von Scholz und Leo Greiner die sich während meiner Münchener Referentenzeit um ihre eigenen Dramen bemüht hatten und deshalb von mir abgerückt waren; ferner Hermann Hesse, Borries von Münchhausen, Georg Busse-Palma, Bleib­ treu und Mackay, auch Karl Henckell, der nun mit seiner Frau aus der Schweiz nach München über­ siedelt war und trotz seines kameradschaftlichen Verkehrs mit verschiedenen von meinen Gegnern mir freundlich gesinnt blieb. Thomas Mann und Hein­ rich Mann sagten gleichfalls zu, doch konnte ich dann nur von dem letzteren Beiträge erhalten. 384

Bald nach meiner Rückkehr von Hannover hatte ich dem Chefredakteur der «Jugend» Dr. Sinzheimer mitgeteilt, dass ich als Herausgeber und Schriftleiter einer neuen künstlerisch-literarischen Münchener Wochenschrift meine zuletzt vorwiegend aktuelle Mitarbeit an dem Georg Hirth’schen Blatte wegen Zeitmangels aufgeben müsse; ich wusste ja, dass mich die nötigen Vorbereitungen und später die redaktio­ nellen Arbeiten völlig in Anspruch nehmen würden, auch hatte ich Molling versprechen müssen, selbst produktiv an der Zeitschrift mitzuwirken. Obwohl ich bei dieser Mitteilung an Sinzheimer nicht ver­ säumte, ausdrücklich auf den Sondercharakter des neuen Unternehmens als einer Wochenschrift für Schwarzweisskunst hinzuweisen, die im Graphischen wie auch im Literarischen auf alles Aktuelle und Witzblattmässige verzichte und daher der «Jugend» ebenso wenig ins Gehege komme, wie dem «Simplizissimus», zeigte sich mein bisheriger Gönner in er­ staunlicher Verkennung meines Wesens äusserst er­ regt über die Eröffnung, nahm mich zunächst für einen hinterlistigen Konkurrenten und witterte schnö­ den Hochverrat, ja er warf mir die Beschuldigung ins Gesicht, dass ich der «Jugend» ihre Künstler weg­ fangen wolle. Ich zwang mich zur Ruhe, im Bewusst­ sein aller Freundlichkeit, die mir diese Zeitschrift im allgemeinen und der nun so erboste Doktor im besonderen lange Jahre hindurch bewiesen hatte, und erklärte ihm lediglich, dass er sich im Irrtum be­ finde; die Korrektur seines falschen Verdachts über­ liess ich den Tatsachen und der Zeit, die ihn dann auch schnell zur Einsicht führten. Inzwischen hatte ich mich wieder auf meine brachliegende Bühnendichtung besonnen, deren Auf­ führungen ja jetzt kein Veto aus Kritiker-Rücksich­ ten mehr verhindern konnte. Ich wandte mich an die Hofbühne mit dem Vorschlag, meine früher von ihr erfolgreich gegebene «Minnekönigin» und die nicht minder erfolgreichen «Verdammten» wieder 25

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in den Spielplan aufzunehmen und sie mit dem dritten Einakter, den ich jetzt als Neuheit einreichte, «Münch­ hausens Antwort», unter dem Uebertitel «Wahrheit» zu einem Theaterabend zu vereinigen: was auch ge­ wiss möglich gewesen wäre, da die drei Stücke die Wahrheitsidee — ohne dass ein solcher Zusammen­ hang von mir ursprünglich geplant gewesen war — von verschiedener Seite beleuchteten. Ich wies auf die Tatsache hin, dass die Aufführungen der «Ver­ dammten» nur infolge des Wiener Engagements der Hauptdarstellerin und dann auf das Geheiss der «Münchener Neuesten Nachrichten» wegen meiner Referententätigkeit abgebrochen worden waren, ob­ wohl Possart die sofortige Wiederaufnahme des Stückes bereits vorbereitet hatte. Letzterer hatte mittlerweile, wie es zu erwarten stand, die Leitung der Hofbühne einem neuen Intendanten, dem Frei­ herrn von Speidel, überlassen müssen; Dramaturg war Dr. Eugen Kilian geworden. Speidel war Soldat und Kavalier im schlichten Sinn des bairischen Adels. Sehr wohlmeinend, aber in allem Bühnenlite­ rarischen ohne hinreichende Sachkenntnis, wusste er von meinen früheren Stücken gar nichts; er musste sich erst nach ihnen erkundigen und diese Erkundi­ gung lieferte ein ebenso wahrheitswidriges als trost­ loses Resultat. Ein Antwortschreiben der Intendanz hielt mir entgegen, meine «Verdammten» wie auch die «Minnekönigin» hätten nach den sogleich ge­ pflogenen Ermittlungen keinen Erfolg gehabt und könnten daher nicht in den Spielplan aufgenommen werden. Dagegen wolle die Instanz meinen neuen Einakter zusammen mit einer anderen soeben er­ worbenen Neuheit und Hartlebens «Lore» zur Auf­ führung bringen. So erfreulich es für mich war, die Verwirklichung meiner Münchhausen-Komödie schon so bald erwarten zu können, wehrte ich mich doch gegen die verblüffende Verleumdung der beiden an­ dern Stücke unter Hinweis auf die unwiderleglichen, in der Presse vorliegenden Dokumente ihrer starken 386

und unbestrittenen Erfolge beim Publikum wie auch bei der gesamten Kritik. Es half mir aber nicht das Geringste. Man wich meiner Beweisführung einfach aus, und ich musste von weitern Schritten absehen, wollte ich mir nicht auch noch die «Münchhausens­ Aufführung verderben oder ganz in Frage stellen. Diese Aufführung wurde für den 4. Mai 1910 im Residenztheater angesetzt, das in seinem zierlichen Rokokostil einen hervorragend günstigen Rahmen für meine Komödie lieferte. Eröffnen sollte den Theater­ abend die andere Neuheit, ein einaktiges Drama «Vor Sonnenuntergang» von Robert Hessen, das die Vor­ geschichte von Julius Cäsars Sturz in neuer stark romanhafter Weise behandelte, dann sollte mein «Münchhausen» ins Feuer kommen und die bereits bekannte «Lore» Hartlebens mit Fräulein Terwin in der Titelrolle den Beschluss machen. Es wurde mir hinterbracht, dass Dr. Kilian sich von dem Hessen­ sehen Drama sehr viel, von meiner Komödie dagegen wenig verspräche und letztere nur deshalb zur Annahme begutachtet habe, weil er zur Füllung des Premierenabends äusser der «Lore» noch einen neuen Einakter gebraucht und gerade kein anderer halb­ wegs möglicher vorgelegen hätte. Ich gab im allge­ meinen nichts auf solche Zwischenträgereien, in die­ sem Fall gewann aber das Behauptete grosse Wahr­ scheinlichkeit für sich, denn bei den Proben, die ich an Kilians Seite mitmachte, zeigte er sich meinem Stücke gegenüber auffallend teilnahmslos, so dass ich die meisten nötigen Verbesserungen persönlich bean­ tragen und durchsetzen musste, während er sich der Inszenierung des Hessen’schen Dramas mit grosser Sorgfalt widmete. Dass Albert Steinrück den Julius Cäsar wie auch den Münchhausen übernahm, verstand sich von selbst, da ihm sämtliche anspruchsvolleren Hauptrollen überlassen wurden, die einigermassen in sein Fach schlugen; die Gräfin Bernardine hatte Frau von Hagen zugeteilt erhalten, den Cramm spielte Viktor Schwanneke, den Minister Herr Gura; auch 387

für die übrigen Rollen hatte ich eine gute Besetzung erreicht. Bei den Proben tauchte wiederholt Wilhelm von Scholz im Zuschauerraum auf, war er doch nun dramaturgischer Volontär an der Hofbühne gewor­ den. Ich hatte drei Jahre vorher seine im Hoftheater mit gutem, wenn auch nicht mit nachhaltigem Erfolg gegebene Tragödie «Meroe» zu besprechen gehabt; dass ich mich da bei aller Anerkennung der Vorzüge auch für die Schwächen nicht blind gezeigt, hatte augen­ scheinlich dazu beigetragen, sein kameradschaftliches Gefühl von ehedem abzukühlen. Als die Verwirk­ lichung meines Stückes auf den Proben mehr und mehr Leben und Gestalt gewann, meinte er herab­ lassend und ermunternd, wohl in Berichtigung einer von Dr. Kilian ihm eingeimpften Meinung: «Na, es macht sich ja gar nicht so übel?» Das sah ich selbst, denn obgleich Steinrücks herbe, harte und sozusagen derbknochige Art, die alles zwar lebendig, aber auch immer nur spezifisch «Steinrückisch» lebendig machte, meinem Münchhausen das kavaliersmässige, wie auch den phantastischen Zug schuldig blieb, so brachte er doch die reale Hauptentwicklung kraftvoll und wirk­ sam heraus: und mochte an der sonstigen — darstelle­ rischen und szenischen — Wiedergabe meiner Dich­ tung dies und jenes zu farbenschwach bleiben, im gan­ zen trat doch das Wesentlichste in Erscheinung. Ich wusste schon auf der letzten Probe, dass mir der Abend einen Erfolg bringen werde, und so kam es auch: Ja die Wirkung war noch weit stärker als ich erwarten konnte. Stürmischer Beifall rief mich mehr­ mals hervor, als der Vorhang gefallen war, und auch die Kritik war dann einig in uneingeschränkter An­ erkennung. Mein Nachfolger an den «Neuesten Nach­ richten», bezeichnete die Erzählungsszene, in der es gipfelt, als «etwas in Aufbau und Formgebung Vollen­ detes» und konstatierte den «spontanen» Charakter des Beifalles; alle übrigen Referenten, auch die Korre­ spondenten der auswärtigen Blätter, überboten sich in Superlativen. Das Stück Hessens erzielte dagegen zu 388

Kilians Verdruss nur schwachen Achtungsapplaus und musste, auch von der Kritik arg zerzaust, alsbald vom Spielplan verschwinden; auch die sonst so beliebte «Lore» konnte gegen die «Münchhausen»-Wirkung nicht mehr recht aufkommen. Zu den Besuchern der Premiere zählte pikanterweise auch der zufällig ge­ rade in München weilende Balladendichter Borries von Münchhausen; er wollte wohl sehen, wie ich mit seinem Ahnherrn umgesprungen wäre. Erwähnt sei noch, dass auch Wedekind der Vor­ stellung beiwohnte, mich dann in kurzen Worten be­ glückwünschte und meinte: «Endlich einmal etwas Praktisches!» Er sagte das ganz im Ton eines teil­ nehmenden Kameraden, der sein Behagen daran hat, den Freund in aussichtsvollere Bahnen einlenken zu sehen. Allein ich wusste, dass er von meinen anderen Bühnendichtungen wenig oder gar nichts kannte. «Münchhausens Antwort» hielt sich auf dem Repertoir, wobei nur einer der Thoma’schen Einakter an die Stelle des Hessen’schen Dramas trat. Auch in der nächsten Spielzeit erlebte die Komödie noch eine Reihe von Aufführungen, in welchen Frau v. Hagen und Margarete Swoboda abwechselnd die Bernhardine gaben. Der durchschlagende Münchener Erfolg wirkte auch nach auswärts und hatte zunächst Annahmen durch die Hoftheater in Karlsruhe, Stuttgart und Weimar zur Folge. Auf dem Redaktionsbüro von «Licht und Schatten» hatten Auscher und ich uns mittlerweile häuslich ein­ gerichtet. Im Oktober 1910 war endlich, nach ein­ jähriger Vorbereitung, so viel abwechslungsreiches Material beisammen, dass wir unabhängig von allen Zufälligkeiten den Sprung in die Oeffentlichkeit wagen konnten. Auch der Inseratenteil der Zeitschrift sollte um des harmonischen Eindrucks willen, zugleich aber auch im Sinne einer allgemeinen Reform künstlerisch gestaltet werden, wofür der Münchener Zeichner Emil Preetorius gewonnen wurde. Gleich die ersten Num­ mern von «Licht und Schatten» erregten Aufsehen und 389

wurden in der gesamten deutschen, österreichischen und schweizerischen Presse mit grösster Anerkennung besprochen, die sich bald zu ganz ungewöhnlichen Lobeserhebungen steigerte. Man rühmte die Erschlies­ sung der graphischen Künste für die Oeffentlichkeit und die überraschende Originaltreue der Reproduk­ tionen, wie auch die sorgfältige Auslese der literari­ schen Beiträge und die Vereinigung beider Elemente zu einem künstlerisch reinen, wirksamen und herz­ erfreuenden Ganzen, ja man begrüsste unsere Schöp­ fung geradezu als die deutsche Zeitschrift, die bisher gefehlt hatte. Auch der Absatz liess zunächst das Beste hoffen, in allen besseren Kaffeehäusern und Restau­ rants der grösseren Städte Deutschlands und Oester­ reichs lag «Licht und Schatten» auf, und wenn auch nach der ersten Sensation die Neubestellungen lang­ samer einliefen, gab uns doch schon der starke an­ haltende moralische Erfolg bei der Presse und bei allen Kunstverständigen die Zuversicht auf eine in jedem Betracht glückliche Zukunft des Unternehmens. Freilich war mir klar, dass erst eine Reihe von Jahren werde vergehen müssen, bis die Zeitschrift entspre­ chenden Gewinn abwerfen konnte; hatte ich doch mit angesehen, dass auch die nunmehr gesicherte und ge­ winnbringende «Jugend» noch im siebenten Jahr ihres Bestehens dem Untergang nahegewesen und nur durch die persönliche Opferwilligkeit Georg Hirth’s über die kritische Periode hinweggeführt worden war, bis dann der breite materielle Erfolg die tapfere Ausdauer krönte, und bei «Licht und Schatten», das den profanen Neigungen der Masse überhaupt keine Konzessionen machen konnte, waren trotz der glän­ zenden ersten Aufnahme sicher noch weit grössere Widerstände zu überwinden, ehe die allgemeinste Nachfrage sich einstellte. Es war auch unbedingt nötig, wenigstens die literarischen Beiträge besser zu honorieren, als bei anderen Zeitschriften üblich war, wenn die leistungsfähigsten, meist sehr verwöhnten und auch von anderen Blättern mit Ausnahmehono­ 390

raren bedachten Autoren zur Mitarbeit gewonnen werden sollten; dazu kamen noch die bedeutenden Kosten der künstlerischen Reproduktion und des für sie nötigen erlesenen Papiers. Dagegen waren aller­ dings als günstiges Moment die verhältnismässig ge­ ringen Redaktionskosten in Rechnung zu bringen, bei der kleinen Zahl der Arbeitskräfte und der Beschei­ denheit unserer Bezüge und Büroräume. Alle diese Ueberlegungen brachte ich dem Verlag gegenüber zur Sprache und Molling zeigte sich durch das materielle Gesamtbild in der ersten Zeit keineswegs abgeschreckt, er schien meine und Auschers Anschauungen, unseren idealistischen Ehrgeiz, wie auch unsere Zuversicht durchaus zu teilen und von der Notwendigkeit der hohen Honorare und des opferbereiten Abwartens überzeugt zu sein, ja er griff, als die novellistischen Beiträge einmal spärlicher einliefen, mit Eifer die Idee auf, durch ein splendides und reklamekräftiges Preisausschreiben die Beteiligung der Poeten zu stei­ gern und mit einem Schlag reiches Material zu ge­ winnen; auch die Vergütung für die Arbeit des Preis­ gerichts, das aus Thomas Mann, Ludwig Thoma und mir bestehen sollte, bemass er in durchaus vornehmer Weise. Mann und Thoma folgten meiner Einladung, doch unter der Bedingung, dass sie nicht den ganzen, an 1100 Novelletten umfassenden Einlauf, sondern nur diejenigen Bewerbungen zu beurteilen brauchten, die ich nach einer Vorprüfung zur engeren Wahl begut­ achten würde. So fiel die Hauptlast der Mühe und Verantwortung auf mich allein, und ich las und las die unheimlichen Manuskriptstösse im Schweisse mei­ nes Angesichts, was sehr wörtlich zu nehmen ist, denn ich hatte die Arbeit in den heissesten Monaten des Jahres zu leisten. Endlich konnte ich gegen 300 Sachen als einer näheren Ueberlegung wert Thomas Mann überweisen, von welchen wir dann etwa zwei Dut­ zend, die sich nach seiner und meiner Schätzung als die besten erwiesen, dem am wenigsten leselustigen Thoma überantworteten. Als auch er seine Zensur er391

teilt hatte, konnten wir in einer persönlichen Zusam­ menkunft auf dem Redaktionsbüro die Träger der ausgeschriebenen Preise für drei ernste und drei heitere Novelletten feststellen. Da ich auch von den übrigen Arbeiten der letzten Auswahl noch die mei­ sten mit gutem Gewissen zum Abdruck erwerben konnte, fiel die Gesamtbeute des Fischzugs recht be­ friedigend aus, und Auscher und ich hatten auch bei dieser Aktion, die allein für die Preise 7400 Mark auf­ wandte, den Eindruck, dass Molling zu grosszügigem Durchhalten bis zum Endsieg entschlossen war. Mein persönliches Verhältnis zu Auscher gestaltete sich so gut, als ich nur wünschen konnte; dank seiner Intelligenz und Feinfühligkeit gab es nur selten Mei­ nungsverschiedenheiten zwischen uns, und bei der Zu­ sammenstellung der Nummern, die oft schwierig genug war, wenn das Prinzip der künstlerischen Stimmungseinheit festgehalten werden sollte, er­ gänzten wir uns in der fruchtbarsten Weise. Grosse Arbeit machte mir die Korrespondenz mit den lite­ rarischen Mitarbeitern; abgesehen von der schon an sich bedeutenden Länge nötiger Briefe, die ich täglich zu diktieren hatte, musste ich nämlich häufig weit ausführlicher schreiben, als es in solchen Betrieben zu geschehen pflegt. Den hohen Ansprüchen an künst­ lerisches Durcharbeiten und formale Reinheit, die ich stellen musste, genügten viele sonst begehrenswerten Einsendungen nicht ganz, so dass ich, wenn ich nicht mehr ablehnen wollte, als zweckmässig war, mich gezwungen sah, den Autoren Aenderungen vorzu­ schlagen, die ihre Beiträge für uns möglich machten; die Ueberlegung solcher Vorschläge und ihre zu­ reichende Begründung verschlang aber viel Zeit und Mühe. Fast immer liess sich der Autor dank meiner Ausführungen zu den Modifikationen herbei, ja manche jüngeren Talente fühlten sich durch solche diskreten Hinweise und technischen Erörterungen künstlerisch gefördert und haben mir das noch nach Jahren aus eigenem Antrieb bekannt. Persönlich 392

■sympathisch war mir ja diese Einmischung in fremde Produktion keineswegs; aber was blieb mir angesichts der bestehenden Notwendigkeiten anderes übrig? Von •einzelnen Selbstgefälligen, die jeder künstlerischen Sorgfalt abhold waren, und ihre Beiträge lieber zu­ rückzogen, wurde ich damals freilich als «Schul­ meister» verschrien; das konnte mich aber nicht irre machen. Da mich meine redaktionelle Tätigkeit fast den ■ganzen Tag in Anspruch nahm, und ich ausserdem noch wie zuvor das Münchener Theaterreferat für den «Berliner Börsen Courier» und den «Kunstwart» zu besorgen hatte, blieb mir sehr wenig Zeit, Sammlung und Frische für eigene dichterische Produktion. Trotz­ dem bedeuteten die Jahre von «Licht und Schatten» einen Höhepunkt in meinem Leben. Die journalistische Brotarbeit, zu der mich die Teilnahmslosigkeit der Welt nun einmal verurteilt hatte, trug da einen edleren, künstlerischen und unabhängigeren Charakter als sonst; in Verwertung persönlichster Fähigkeiten konnte ich da Schönes gestalten helfen, das anderen Menschen Freude machte, ich konnte Begabungen entdecken und fördern und gewann jene Fühlung mit ■der Allgemeinheit, die mir als Dramatiker bei den herrschenden Theaterzuständen so selten vergönnt war; zudem war meine materielle Lebenslage ge­ sichert, ja sie liess auch noch einigen Spielraum zu -kleinen Behaglichkeiten.... Die Hoffnung, dass ich mich auf Molling’s Stand­ haftigkeit würde verlassen können, erwies sich als trügerisch. Als im zweiten Jahre des Bestehens von «Licht und Schatten» die Abonnentenzahl keine neue Steigerung erfuhr, verlor er bereits den Glauben an die Lebensfähigkeit des Unternehmens in der von uns geschaffenen und in allen deutschen Landen mit so freudiger Zustimmung begrüssten Form. Es zeigte sich immer deutlicher, dass er den Wert und die Tragweite dieser ungewöhnlichen Auszeichnung ebenso ■wenig einzuschätzen verstand, als er persönlich hin393

reichendes Verständnis für die bildend-künstlerischen und literarischen Vorzüge des bisher von uns Gebo­ tenen und für die erfahrungsgemäss langsame Einbür­ gerung derartiger Zeitschriften besass; auch hörten wir, dass eine Anzahl junger Geschäftsleute in Hanno­ ver und Berlin, deren Urteil er für praktisch zutref­ fender hielt, sich sehr abfällig über unsere Prinzipien geäussert und ihm prophezeit hätten, er werde noch sein ganzes Vermögen verlieren, wenn die Zeitschrift nicht zweckmässig umgeformt und zugleich die Kosten beträchtlich vermindert würden. Als «zweckmässig» scheint ihm dabei die reuige Rückkehr in die Berliner Geschmackssphäre empfohlen worden zu sein. Aus diesen Gründen suchte nun der Aufgehetzte und bange Gemachte entsprechenden Einfluss auf eine lukrative Umgestaltung des Blattes zu nehmen, während er sich zuvor vertragsgemäss jedes Eingriffs ins Redak­ tionelle enthalten hatte: was ihm jetzt, in seiner Un­ kenntnis journalistischer Gepflogenheiten und urheber­ rechtlicher Notwendigkeiten als völlig unbefugte Aus­ schaltung seines persönlichen Willens erschien. Er kam nun öfter als sonst zu uns nach München, er­ klärte sich unzufrieden mit dem Inhalt der Nummern, der zu wenig «effektvoll» und «unterhaltlich» sei, wünschte mehr Leichtes, Amüsantes, Satirisch-Poin­ tiertes, kurz, es machte den Eindruck, als wollte er die Zeitschrift allmählich zu dem ursprünglich geplanten Witzblatt machen, von dessen Unmöglichkeit ich ihn doch seinerzeit überzeugt zu haben glaubte. Wie qual­ voll diese meist langwierigen Auseinandersetzungen für mich und Auscher waren, braucht kaum betont zu werden. Was halfen alle Vorstellungen, nachdem auf der anderen Seite die Grundbegriffe des künstlerisch Zulässigen fehlten und das Vertrauen in unsere jour­ nalistische Einsicht erschüttert war? Einmal er­ schöpfte mich der fruchtlose Redekampf bis zu hef­ tigem physischen Unwohlsein, sodass ich die Verhand­ lungen mit einer Entschuldigung abbrechen und mich in den Garten zurückziehen musste, um mich in 394

frischer Luft zu erholen. Molling kam mir alsbald nach, und es war charakteristisch für den Nerven­ leidenden, dass er für meinen nervösen Zustand, den doch nur er verschuldet hatte, durchaus unbefangene menschliche Teilnahme zeigte. Im übrigen endeten solche Erörterungen stets ergebnislos, denn Auscher war mit mir darin einig, dass wir in allem Wesent­ lichen nicht nachgeben konnten, wenn wir nicht eine günstige Weiterentwicklung unmöglich machen und die Zeitschrift zu Molling’s eigenem Schaden um ihr An­ sehen bringen wollten. So beschränkten wir uns denn auf einige nebensächliche und weniger bedenkliche kleine Zugeständnisse, die freilich das Gesamtbild auch nicht eben glücklich veränderten. Als aber Mol­ ling sah, dass er sich mit uns nicht im gewünschten Umfang verständigen konnte, suchte er in Hannover über die Redaktion hinweg dieses und jenes der künst­ lerischen Vornehmheit Abträgliche in die Zeitschrift zu bringen, wovon er sich irrtümlicherweise einen ge­ schäftlichen Aufschwung erwartete. Ich sah mich schliesslich genötigt, gegen diese Eingriffe in meine Rechte als Herausgeber Verwahrung einzulegen. Mol­ ling antwortete mir gereizt und schroff, und sein Ver­ hältnis zu uns wurde immer gespannter. Zu den Schriftstellern, die mir novellistische Bei­ träge für «Licht und Schatten» gesandt hatten, zählte auch der junge Halb-Norweger Niels Hoyer. Nachdem ich von ihm zwei stimmungsvolle Skizzen in die Zeit­ schrift aufgenommen, nicht ohne allerlei Verbes­ serungen seines zum Teil noch unbeholfenen Deutsch, sandte er mir auch einzelne von ihm übersetzte Stücke von Björnsons hinterlassenen, auch in nor­ wegischer Sprache noch unveröffentlichten Legenden­ buch, welches Victor Hugo’s «Legendes des Siècles» zu einer Folge von Prosadichtungen umschuf, und zwar in einer für Björnson und für germanische Art so be­ zeichnenden Verinnerlichung, dass es für ein Original­ werk gelten konnte. Hoyer hatte sich durch persön­ liche Beziehungen zu der Witwe Björnson das Manu395

skript und die Autorisation verschafft, eine deutsche Ausgabe des Buches noch vor der norwegischen her­ auszubringen, und er machte mir nun den Vorschlag, das Deutsch seiner Uebersetzung, das noch erheb­ lichere Mängel aufwies, als jenes seiner eigenen Dich­ tungen, entsprechend zu überarbeiten, worauf ich diese endgiltige deutsche Fassung als unser gemeinsames Werk bei einem besseren Münchener Verlag unter­ bringen sollte. Die Aufgabe interessierte mich, ich stimmte zu und nahm die Ueberarbeitung vor, wobei ich, selbst des Norwegischen nicht wie des Schwe­ dischen mächtig, über einzelne Stellen ziemlich um­ ständlich mit Hoyer korrespondieren musste. Als ich mit der Arbeit fertig war, hatte ich gerade auch einen neuen Band eigener Lyrik unter dem Namen «Schauen und Sinnen» zusammengestellt: und bot jetzt, nach gütlicher Vereinbarung mit Callwey, meine neue Sammlung wie auch das Björnson-Buch dem Mün­ chener Verleger Georg Müller an, dessen Unterneh­ mungslust und Rührigkeit schon seit Jahren bekannt war. Müller erklärte sich auch sofort bereit, die bei­ den Bücher in der von mir verlangten Ausstattung herauszubringen. Aber ich sollte nur wieder eine Ent­ täuschung erleben. Obwohl die Bücher in der Presse äusserst anerkennende Aufnahme fanden, vernach­ lässigte Müller den Vertrieb und die Reklame in geradezu grotesker Weise, im Gegensätze zu seinen Bemühungen für alle anderen Werke seines Verlags. Ebensowenig sandte er mir Abrechnungen oder beant­ wortete meine Reklamationen, sodas ich mich schliesslich genötigt sah, durch den «Schutzverband deutscher Schriftsteller» das Rückständige energisch von ihm einzufordern, worauf er zwar seinen Zah­ lungsverpflichtungen nachkam, aber in einem groben Briefe an den genannten Verband über den Unwert meiner Sachen schimpfte, die er «lediglich aus per­ sönlicher Gefälligkeit» in Verlag genommen hätte. Woher die jähe Wandlung in seinem Verhalten, zu­ dem gegen sein eigenstes Geschäftsinteresse?............ 396

Schon vor meiner Arbeit an dem Björnson-Buche hatte mich ein junger schwedischer Komponist, Natanael Berg, aufgesucht; er stellte sich als Ver­ ehrer meiner lyrischen Uebertragungen vor und frug an, ob ich die Verdeutschung des Textes einer roman­ tischen Oper übernehmen wollte, mit der er damals beschäftigt war; die Bemessung des Honorars für diese Arbeit würde er mir selbst überlassen. Wie damals viele skandinavische Künstler ihr Heil auf deutschem Boden suchten, hoffte auch er, sein Werk dann in Deutschland zur Aufführung bringen zu können. Mir gefiel der stattliche junge Mann; stolz, frei und sicher in seinem Auftreten, dabei ohne Anmassung oder Un­ natur, repräsentierte er seine Heimat im besten Sinne. Sein persönlich gewinnendes Wesen trug viel dazu bei, dass ich trotz meiner Arbeitslast zusagte und nur eine sehr mässige Vergütung beanspruchte. Die fertige Uebertragung sandte ich dann nach Schweden, auch übertrug ich für denselben Komponisten noch einiges Lyrische von Fröding und Karlfeldt. In meine «Licht- und Schatten»-Zeit fielen auch ver­ schiedene kleine Reisen. Zunächst eine nach Lübeck. Die Zeitschrift hatte mich in Beziehung zu dem tem­ peramentvollen und feinsinnigen Otto Anthes gebracht, dem Dichter von «Don Juans letztes Abenteuer», der in der Geburtsstadt Geibels, Falcke’s und der beiden Mann als Mittelschulprofessor und Poet dazu hauste. Ich hatte von ihm ein paar aparte Novelletten erwor­ ben, und im Verlaufe unserer Korrespondenz frug er auch einmal in seiner Eigenschaft als Vorstand der Lübecker literarischen Gesellschaft bei mir an, ob ich nicht einen der Dich ter abende dieser Vereinigung als Rezitator eigener Sachen übernehmen wollte. Ich sagte zu und machte die Reise. Die Fahrt von Hannover aus nordwärts zeigte mir die imposanten Heide- und Moor­ einsamkeiten dieses Landstrichs mit ihrer reichen wil­ den Vogelwelt im roten Licht der sinkenden Sonne eines klaren Wintertags ganz besonders schön. Auch die alte Hansastadt selbst wirkte in ihrer architektoni397

sehen Eigenart sehr stark auf mich. Anthes verbrachte den Abend mit mir allein im originellen «Schiffer­ hause», dessen merkwürdige Einrichtung das Gilden­ leben früherer Jahrhunderte so anschaulich nahe­ bringt; in der folgenden Nacht musste ich nach mei­ nem Vortrage, der ein zahlreiches und interessiertes Publikum fand, mit Anthes und einigen anderen Herren und Damen der Gesellschaft den berühmten Rotspon des Ratskellers proben. Anthes plauderte an beiden Abenden ebenso heiter als gescheidt; da ich ihm meinerseits von meinen Dramatiker-Missgeschicken er­ zählte, versprach er mir beim Abschied, sich in Lübeck für meine Stücke einzusetzen, ich sollte ihm nur Ver­ schiedenes senden. Das tat ich dann auch, und es glückte ihm wenigstens eine Aufführung meiner «Münchhausen Komödie» im Lübecker Stadttheater durchzusetzen, wobei der Wiedergabe des Stückes die Vorlesung mehrerer Münchhausen-Abenteuer aus dem Volksbuche vorhergeschickt wurde. Die Einstudierung des Spiels musste ich ganz Anthes überlassen, denn eine nochmalige Reise nach Lübeck hätte natürlich nicht verlohnt. Dagegen fuhr ich zu den Proben der Aufführung an der Karlsruher und der Stuttgarter Hofbühne. In beiden Städten errang die Komödie einen vollen Sieg; der Karlsruher Intendant Bassermann hatte das Stück erst gar nicht beachtet, bekehrte sich aber dann zu anderer Meinung, als er eine der letzten Proben besuchte, und nach der Aufführung waren er und seine liebenswürdige Gattin die ersten, die mich beglückwünschten. Auch nach Regensburg führte mich eine Theater­ angelegenheit. Dort war der strebsame junge Dr. Maurach Direktor des Stadttheaters geworden, den ich in der «Torggelstube» persönlich kennen gelernt hatte, der für meine deutschen Geschichtsdramen lebhaftes Interesse zeigte. Selbst mein vom Münchener Hoftheater nachträg­ lich so grotesk verleugnetes Drama «Die Verdammten» sollte um diese Zeit eine Auferstehung feiern. Ferdi­ 398

nand Gregori war nämlich Intendant des Mann­ heimer Nationaltheaters geworden, und wollte nun doch dieses Stück verwirklichen, das ihm von jeher besonders lieb gewesen war. Ich fuhr auf seine Ein­ ladung zu den Proben nach Mannheim, in freudig ge­ hobener Stimmung, schien doch unser schönes, künst­ lerisches Freundschaftsverhältnis durch dieses Unter­ nehmen, um dessen Ergebnis mir nicht bange war, und mehr noch durch weitere Unternehmungen, die sich an den von uns beiden erwarteten Erfolg reihen sollten, seine Krönung zu finden. — Ein Jahr später musste Gregori infolge der Anfeindungen, die er in der Theaterkommission des Stadttheaters erfuhr, von dem Mannheimer Intendantenposten wieder zurücktreten, was nicht nur für ihn eine bittere Enttäuschung be­ deutete, sondern auch für mich, dessen Hoffnungen mit begraben wurden. Mein und Auschers Verhältnis zu Molling war, aus den vorerwähnten Gründen, im Laufe des Jahres 1912 immer unhaltbarer geworden. Wir taten unserer­ seits noch alles, um die Katastrophe zu verhindern, und machten Molling schliesslich das Anerbieten, dass wir uns, bis zum entsprechenden Anwachsen der Abonnentenzahl, mit der Hälfte unserer Bezüge begenügen wollten, wenn er uns die Weiterführung der Zeitschrift in der bisherigen, künstlerisch-würdigen und allein aussichtsvollen Weise zugestände. Aber er blieb starr auf seinem Standpunkt und forderte die gründliche Umgestaltung der Zeitschrift, wie auch die Uebersiedlung der Redaktion nach Berlin. Letzteres wäre uns beiden selbst dann nicht möglich gewesen, wenn wir uns zu Taglöhnern einer Sache hätten her­ geben wollen, die nicht mehr die unsere war. So kam es denn im Frühjahr 1913 zum Bruche. Wie ich selbst legten auch Auscher, Eggert und das Fräulein Römermann ihre Tätigkeit nieder. Der von Molling zu unserem Nachfolger ersehene Berliner Redakteur kam nach München, um sich von uns das Material übergeben zu lassen. Als auch das erledigt 399

war, nahmen wir vier Redaktionsgenossen von ein­ ander Abschied, in ungetrübter Einigkeit und Herz­ lichkeit, doch unter dem melancholischen Druck des Gedankens, dass unser ganzer dreijähriger Aufwand von Arbeit und Hingabe so völlig verloren war. Fräu­ lein Römermann wurde dann, mit auf meine Emp­ fehlung hin, als Sekretärin an die «Jugend» über­ nommen, sie entpuppte sich später auch als Schrift­ stellerin von Regabung und Eigenart. Den bisherigen literarischen Mitarbeitern von «Licht und Schatten» hatte ich durch ein Rundschreiben meinen Rücktritt und dessen Gründe mitgeteilt; viele von ihnen be­ wahrten mir dauernde Sympathie, und manche trugen noch nach Jahren bei mir an, ob ich nicht ein ähnliches Unternehmen ins Dasein rufen wolle und könne. — «Licht und Schatten» selbst erhielt unter der neuen Rerliner Redaktion sofort das von Molling gewünschte andere Gesicht, doch verhalf das der Zeit­ schrift nicht zu dem erwarteten materiellen Auf­ schwung, es hatte, wie vorauszusehen war, nur ihren jähen Niedergang zur Folge. In Süddeutschland wusste man schon nach kurzer Zeit nichts mehr von ihr; in Berlin rang sie in ihrer «amüsanteren» Auf­ machung noch eine Weile vergeblich um den Massen­ absatz und verschwand dann sang- und klanglos in der grossen Versenkung. Ein Ende, traurig genug nach dem Willkommen, das man ihr die paar Jahre vorher zugejubelt hatte!

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(Chinesische Hoffnungen, Weltkrieg, Todesernte, Ausblick.

Die wirtschaftliche Lage, in die ich durch das neue Unheil geriet, war schwierig genug, und es blieb mir nichts übrig, als zur ständigen Mitarbeit an der «Jugend» zurückzukehren, was nach der erwähnten früheren Verstimmung manches Peinliche für mich hatte. Glücklicherweise erleichterte mir Dr. Sinzheimer diese Wiederanknüpfung, auch konnte ich dann gegen ein kleines Fixum einen Teil der Lek­ torenarbeit übernehmen. Nebenher ging ich nun an die Ausgestaltung eines neuen dramatischen Plans. Durch einen Zufall war mir jenes pseudochinesische Scherzpoem «Der Pinsel Mings» des 1872 verstorbenen Literarhistorikers Adolph Ellissen bekannt geworden, das einst schon Hans Hopfen zu seiner gleichnamigen Verserzählung angeregt hatte. Letztere hatte ich auf einem Kranken­ lager meiner frühesten Kinderzeit in einem alten deut­ schen Zeitschriftenbande gefunden, aber die Lektüre schon nach den einleitenden Strophen abgebrochen, weil ich begreiflicherweise den Sinn der Geschichte noch nicht erfassen konnte; doch waren mir einige kleine Illustrationen in Erinnerung geblieben, die den Text begleiteten und durch ihre fremdartigen be­ zopften Gestalten meine Phantasie beschäftigten. Als ich nunmehr das Urgedicht Ellissens kennen lernte, sahen mir daraus halb ulkig, halb ernsthaft die Mög­ lichkeiten zu einer phantastisch-satirischen Literatur­ komödie in meinem eigensten Sinne entgegen, und die dunklen, vielfach wohl schon umgebildeten Kindheits­ erinnerungen an jene Bilder verwoben sich mit der 26

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ersten Konzeption, die vieles Selbsterlebte mit ein­ schloss: Das Verhältnis des Künstlers, insbesondere des Dichters zur Welt und zum Weibe, und demgegen­ über das Leben und Treiben der Pseudopoeten: des frivolen Prakticus und des feierlich-ehrgeizigen Spies­ sers und Dilettanten. Letzterer Typ schien mir in seiner drolligen Grandezza noch von keiner vor­ handenen Komödie auf die Beine gestellt, schon diese Aufgabe allein lockte mich, und so wurde er mir zum negativen Helden der Satire, dem der ursprüngliche Poet Tsching-pang in heiterer Einsicht das Feld räumt; der glückspendende Geist des weisen Ming aber verwandelte sich hier in Ying, den ausgelassenen Dämon des Zufalls, der dem pathetischen Streber ein­ mal den Applaus der Mitwelt verschafft, worauf der unbeirrbare Autoritätsglauben aller «Sachverständi­ gen» den dauernden Ruhm des Beglückten sichert. Zu­ dem fand ich noch bei rasch unternommenen chine­ sischen Sonderstudien die alte Sitte der pomphaften Literaten-Konkurrenz und der Ernennung des Preis­ gekrönten zum Nationalpoeten, womit das Ganze auch eine kulturhistorische Basis erhalten konnte. Die Be­ arbeitung Hopfen’s jetzt näher kennen zu lernen, ver­ mied ich geflissentlich, um von meiner eigenen Auf­ fassung und Ausgestaltung nicht abgelenkt zu werden; ich kenne die Wendung, die Hopfen dem Ellissen’schen Grundgedanken gab, auch heute noch nicht, doch sagten mir damit vertraute Bekannte, dass er ihn nach ganz anderer Seite hin verwertet habe. In einigen Wochen war das dreiaktige Stück vollendet, das den Namen: «Der Pinsel Ying’s» erhielt. Ich reichte es dem Münchener Hoftheater ein, zugleich übermittelte ich ein anderes Exemplar jenem begabten Herrn v. Jacobi, der seinerzeit meine «Verdammten» im «Akademisch-Dramatischen Verein» rezitiert hatte, mittlerweile jugendlicher Charakterspieler an der Hofbühne geworden war und sich als solcher allge­ meinster Wertschätzung erfreute; ich hoffte, er werde, wenn das Stück ihm gefalle, für eine Annahme Stim402

mung machen und sich wohl auch persönlich für eine der Hauptrollen interessieren. Jacobi aber hatte sich verheiratet und war nun Vater eines Knaben, an dem er mit grosser Zärtlichkeit hing; gerade um die Zeit, als er sich mit meiner Komödie beschäftigen wollte, erkrankte der Kleine hoffnungslos, und der verzweifelte Kampf um das Leben seines Lieblings nahm den Bedauernswerten natürlich so ganz in An­ spruch, dass eine Förderung meiner Angelegenheit durch ihn ausgeschlossen war. Auch sein eigenes, so aussichtsreiches junges Künstlerleben sollte bald nach dem Tode des Knaben einen jähen Abschluss finden; gleich am Beginne des Weltkrieges fiel er als Reserve­ leutnant an der Westfront. Ich war also völlig auf den gewöhnlichen Instanzenweg angewiesen. Der da­ malige Hoftheater-Dramaturg Wolff, dem ich persön­ lich noch durchaus ferne stand, trat, wie er mir selbst mitteilte, energisch für die Annahme des Stückes ein. Aber der neue Intendant Freiherr von und zu Franckenstein, der dem mittlerweile verstorbenen Baron Speidel gefolgt war, liess sich nicht für die Sache gewinnen; er fand angeblich, dass das chine­ sische Milieu sich nicht für die deutsche Bühne eigne, weil man «sich die Namen nicht merken könne»; auch machte er geltend, dass eine unmittel­ bar vorher mit grossen Kosten gewagte Uraufführung sehr unglücklich ausgefallen war, und dass er daher nicht so bald wieder eine Neuheit bringen dürfe, die besondere Ausstattung erfordere. Ich musste daher bei auswärtigen Theatern anklopfen und tat das auch nicht vergeblich in Weimar, wo der Intendant von Schirach mir die frühere Sympathie bewahrt hatte und die Personalverhältnisse sich inzwischen günstiger gestaltet haben sollten. Zugleich erwarb aber auch Dr. Maurach, der jetzt Direktor des Essener Stadttheaters geworden war. das Stück für diese rheinische Bühne; freilich konnte er die Aufführung erst für eine spätere Zeit versprechen, und da mir selbst daran lag, dass die beiden Aufführungen gleichzeitig statt403

fänden, um beiden Bühnen den Vorzug der Urauffüh­ rung zu lassen, und die Erfolgsmöglichkeit zu verdop­ peln, bewog ich Herrn v. Schirach zur Abwartung des Essener Termins. Dieser Termin zog sich dann aber bis ins dritte Kriegsjahr hinaus und führte nicht einmal zur Verwirklichung, wovon später die Rede sein wird. In Essen bestanden für die Ausstattung des Stückes besondere günstige Voraussetzungen, da Herr v. Krupp-Bohlen sich als China-Kenner persön­ lich dafür interessierte und eine grössere Summe zu diesem Zweck beizusteuern versprach. Nicht lange nach meinem Abschied von «Lacht und Schatten» befiel mich eine schwere Lungenent­ zündung. Unser Hausarzt hatte wenig Hoffnung, mich durchzubringen; trotzdem trug meine zähe Natur den Sieg davon. Sie büsste aber in diesem Kampfe einen guten Teil ihrer Widerstandskraft ein, und ich musste mich seither mehr denn je vor Er­ kältungen und allen gesundheitlichen Wagnissen in acht nehmen. Ein in München lebender begabter Komponist aus der französischen Schweiz, Baron Pierre Maurice, suchte damals einen Poeten, der ihm die gereimten französischen Verse einer von seiner Frau verfassten und von ihm bereits vertonten Operndichtung aus dem Artussagenkreise «Lanval» in deutsche Reime übertrüge. Max Bernstein, der mit ihm näher bekannt war, frug in Erinnerung an meine schlimme Lage bei mir an, ob ich nicht Lust zu dieser Arbeit hätte: die Aufgabe war nicht leicht, musste doch alles nach der bereits vorliegenden Komposition sangbar bleiben, und das Ganze sich trotzdem als deutscher Verstext leidlich lesen lassen. Maurice zeigte sich aber durch­ aus befriedigt von meiner Arbeit, der freilich auch meine musikalischen Kenntnisse zustatten kamen, und die Oper gelangte dann bald darauf in meiner deutschen Textfassung mit schönem Erfolg an der Weimarer Hofbühne zur Uraufführung. Derselbe Komponist stellte mir ein Jahr später noch eine 404

zweite Aufgabe; ich sollte den wieder von seiner Gattin herrührenden, bereits dialogisierten Prosa­ Entwurf einer antiken Operndichtung «Andromeda», die eine sehr glücklich erfundene tragische Episode aus dem Leben des Malers Parrhasios behandelte, zu einem in freien Rhythmen gehaltenen deutschen Textbuch ausgestalten, das er dann vertonen wollte. Ich übernahm auch diese Arbeit und beschäftigte mich um so lieber damit, als sie mir mehr künst­ lerische Bewegungsfreiheit gönnte als die erste, und der Gegenstand auch ungleich dramatischer war. Maurice ging mit Eifer an die Komposition und vollendete das Werk ziemlich schnell, konnte aber dann zunächst keine Aufführung durchsetzen: zu meiner Ueberraschung, denn bei seiner Begabung und technischen Fertigkeit war die Partitur, die ich allerdings nicht mehr kennen lernte, gewiss nicht hinter seinen früheren Werken zurückgeblieben, und der Gegenstand und Aufbau der Handlung erschien mir so bühnenwirksam, dass ich meinte, alle Opern­ theater müssten begierig darnach greifen. Bald nach dem Ausbruch des Weltkriegs sah sich dann Maurice gezwungen, München zu verlassen, wo sich für ihn als Halbfranzosen allzuviele Misslichkeiten ergaben, obwohl er noch eine Weile versucht hatte, durch Beteiligung an gemeinnützigen Unternehmungen seine Neutralität darzutun. Schon vor meiner Ferienzeit 1914 hatte Stephan Zweig mir aus Wien über seinen Plan einer deut­ schen Sammlung von Paul Verlaine’s Dichtungen geschrieben und mich eingeladen, für diesen Zweck eine Anzahl Lyrika des Pariser Bohémiens zu über­ tragen. Es handelte sich da um recht schwierige Sachen, und nicht um die wertvollsten und ansprech­ endsten des Dichters, also um wenig dankbare Auf­ gaben; dennoch hatte ich zugesagt, teils um in meiner so ungünstigen Lage keine sich bietende Arbeit zu verschmähen, teils auch, weil mich solche Ver­ deutschungsprobleme unter allen Umständen reizten.

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Ich hatte Zweig dann die fertigen Uebertragungen gesandt, die seinen Beifall fanden; ganz besonders gefiel ihm meine Uebertragung der merkwürdigen Terzinen auf den Tod Philipp des Zweiten. Nun war mir aber, gleichfalls auf Anregung Zweigs, vom Leipziger «Insel-Verlag» auch die Uebersetzung von Verlaine’s Prosaschrift «Mes hôpitaux» angeboten worden; auch dazu hatte ich mich bereit erklärt und mir diese Arbeit für den Rest meiner Sommerpause vorgenommen. Ich erledigte sie dann auch in Ammer­ land und erholte mich dazwischen von dem Deka­ denz-Dunst dieser Schrift, indem ich nach Barschen angelte oder mit meinen Kindern den Wald durch­ streifte. Um dieselbe Zeit war in München der 50. Geburts­ tag Wedekinds festlich begangen worden, und man hatte dem Gefeierten dabei auch das Ergebnis einer Geldsammlung als Ehrengeschenk übergeben. Er gab aber die Summe zu gleichen Teilen an eine Anzahl Poeten weiter, denen das Glück bisher weniger hold gewesen war als ihm, und zu dem halben Dutzend dieser stellvertretenden Empfänger zählte zu meiner grossen Ueberraschung auch ich. Bald nach meinem Eintreffen in Ammerland erhielt ich einen Brief Wedekinds, in dem er mich bat, den betreffenden Anteil als Ehrengabe anzunehmen; «er wolle damit das deutsche Volk nachdrücklich auf meine Werke hinweisen.».... So waren jene schicksalsschweren letzten Juliund ersten Augusttage gekommen, da der Ausbruch des Weltkrieges die Gemüter erschütterte. Das nei­ dische Kesseltreiben auf unser Deutschland empörte mich in tiefster Seele, denn trotz aller persönlichen Enttäuschungen, die mir unsere deutschen Kultur­ zustände gebracht hatten, war ich gut deutsch, heimat­ treu und heimatstolz geblieben. Unvergesslich wird mir ein Abend sein, an dem die jungen Ammerlander in dem Gasthof am See, wo ich wohnte, ihren Abschied von der Heimat feier­ 406

ten. Schon seit längerer Zeit war im Bayerischen Heere das Singen mit besonderer Sorgfalt gepflegt worden und so klang es gar nicht primitiv, sondern unmittelbar ans Herz greifend, als die Scheidenden in klangvollem Chor das alte Soldatenlied anstimm­ ten: «Morgenrot, Morgenrot, Leuchtest mir zum frühen Tod!»

Später, als die furchtbaren Verluste gerade der Ober­ bayerischen Regimenter bekannt wurden, musste ich noch oft an die singende Ammerlander Runde denken. Die ständige seelische Anspannung und Erregung durch die kriegerischen Ereignisse machte mich un­ fähig zu grösseren dichterischen Arbeiten: die dazu nötige innere Sammlung und Schaffenslust liess sich nicht hinreichend festhalten, während meine Volks­ genossen an allen Grenzen kämpften, bluteten und starben. So marterte mich der Mangel an geistiger Produktivität in höherem Sinne, denn meine Mit­ arbeit am «Börsencourier» und «Kunstwart», mein Lektorat und meine aktuelle Kleinproduktion für die «Jugend» füllten mich nicht aus. ... Der dritte Kriegswinter brachte mir die Wei­ marer Uraufführung meiner Komödie «Der Pinsel Vings». Nur die erwähnte Rücksicht auf das Essener Stadttheater hatte die Verwirklichung des Stückes so lange verzögert, aber das Warten erwies sich als ganz vergeblich, denn unmittelbar vor dem Termin der geplanten gleichzeitigen Uraufführung teilte mir Dr. Maurach mit, die Sache sei in Essen zunächst unmöglich geworden, da Herr von Krupp-Bohlen jetzt erklärt habe, während des Weltkriegs könne es übel vermerkt werden, wenn er für die Ausstattung eines Theaterstückes so viel aufwände; der Vorzug der Uraufführung müsse daher Weimar allein über­ lassen, und die Essener Première bis nach Friedens­ schluss verschoben werden. Diese unerwartete Wen­ dung war für mich um so ärgerlicher, als ich die üppige Ausstattung nach dem Sinne des Herrn von 407

Krupp-Bohlen gar nicht selbst beansprucht hatte und die Weimarer Hofbühne über das zwecklose Hinge­ haltenwerden verstimmt sein musste, ganz abgesehen von dem schlechten Eindruck auf die breitere Oeffentlichkeit. Die Kritiker der beiden führenden Weimarer Tageszeitungen hatten bei der Lektüre des Stückes einen so starken Eindruck gewonnen, dass sie der Première aus eigenem Antrieb sehr ausführliche Feuilletons rühmenden Charakters voranschickten. Es sei hier gleich eine merkwürdige Ueberraschung erwähnt, die ich mit dem «Pinsel Yings» einige Jahre später erlebte. Ich erhielt da nämlich eines Tages aus einem Thüringer Luftkurort einen längeren Brief des hochbetagten Paul Lindau, den ich nie persönlich kennen gelernt hatte, und mit dem ich auch niemals in Korrespondenz oder sonstige Beziehung gekommen war. Lindau schrieb mir, er habe durch einen Zufall meine chinesische Komödie in der Buchausgabe kennen gelernt, und es dränge ihn, mir seine Freude über das Stück zum Ausdruck zu bringen, das ihn lebhafter interessiert habe als seit längerer Zeit irgend eine andere Bühnendichtung. Er ging dann rühmend auf Einzelheiten ein und sprach die Ueberzeugung aus, dass dieses Lustspiel bei angemessener Wiedergabe eine ungewöhnliche Wirkung erzielen müsse. Allerdings stelle es dem Re­ gisseur keine leichten Aufgaben, «aber», meinte er: «Seien Sie froh, dass Sie’s geschrieben haben!» Seit kurzem habe er sich auch von seiner letzten drama­ turgischen Tätigkeit am Berliner Königlichen Schau­ spielhause zurückgezogen und könne daher leider gar nichts mehr für die Sache tun; aber er wolle mich wenigstens wissen lassen, welchen Eindruck mein Werk auf ihn gemacht habe. Aus dem Schreiben ging klar hervor, dass Lindau von meinen Bühnen­ dichtungen nie vorher gehört und dass er auch von der Weimarer Uraufführung des «Pinsel Yings» keine Ahnung hatte. Die Ironie meines Schicksals, dass dieser Theaterpraktikus, dessen Einfluss mir in 408

Berlin die Wege hätte ebnen können, um eine lächer­ lich kleine Zeitspanne zu spät auf mich aufmerksam wurde und mich nun «rein platonisch» beglück­ wünschte, liess eine bittere Aufwallung dermassen Macht über mich gewinnen, dass mein Antwortbrief bei allem Dank für den freundlichen Impuls recht herb ausfiel. Ich klärte Lindau darüber auf, dass es sich um keinen Neuling, sondern um einen von lang­ jährigem Missgeschick Verfolgten handle, übermittelte ihm gleichzeitig zur Information meine früher er­ wähnte Broschüre über die Erlebnisse meiner Bühnen­ dichtungen. Ich erhielt alsbald noch ein zweites Schreiben von Lindau, das zwar etwas kühler ge­ halten war, aber doch Interesse für den «ungewöhn­ lichen Fall» zeigte. Nach seinen Erfahrungen seien doch alle deutschen Bühnenleiter froh, wenn sie gute Stücke bekommen könnten!... Auch ein anderer greiser und berühmter Paul erwies mir in seinen letzten Tagen noch eine uner­ hoffte Aufmerksamkeit: nämlich Paul Heyse. Sein Zorn über meinen parodierenden Angriff von 1890 war verrauscht, auch hatte er aus meinen Kritiken ersehen, dass ich in meiner einsamen Sonderstellung eigentlich nie zur Phalanx der modernen Rauhbeine und geschworenen Antiklassizisten gezählt hatte, ja meine lyrischen Sachen in der «Jugend» schienen, wenn nicht persönliche Sympathie, so doch ernstere Teilnahme in ihm erweckt zu haben. Anders wenig­ stens konnte ich mir’s nicht deuten, dass er mir mit einem Male durch einen beiderseitigen Bekannten nahe legen liess, mich in seiner Villa an der Luisenstrasse sehen zu lassen. So suchte ich ihn denn eines Nachmittags auf. Ich traf ihn allein zu Hause. So welk und verwittert das Alter und manche Krank­ heit des letztverflossenen Jahrzehnts das Antlitz des «Götterlieblings« gemacht hatte, zeigte er doch noch immer straffe Haltung und volle geistige Frische. Er begrüsste mich sehr freundlich, ging aber dann wider Erwarten garnicht näher auf unsere einstigen 409

Beziehungen oder meine Schicksale in der langen Zwischenzeit ein, vielmehr kam er sogleich auf Ibsen zu sprechen als auf den bösen Geist des Zeitalters, der alle Sünden der modernen Unkunst und After­ kunst verschuldet habe: und nun redete er seinen ganzen Groll an mich hin, als hätte er mich nur zitiert, um sich von mir über diesen seinen Ibsenhass interviewen zu lassen. Man kann sich vorstellen, wie schwer ich als entschiedener Verehrer des grossen Norwegers die ebenso grimmige als verständnislose Expektoration ertrug, auch zeigte sich schon bei meinem ersten Versuch, dass Heyses leidenschaftliche Verneinung sich auf gar keine sachlichen Erörte­ rungen einlassen wollte. Unter solchen Umständen atmete ich ordentlich auf, als Heyses alter Dutzfreund Wilhelm Jensen anlangte und nach flüchtig erledigter Vorstellung mit ihm über persönliche An­ gelegenheiten zu plaudern begann. Da ich dabei über­ flüssig erschien, fand ich auch bald schickliche Ge­ legenheit, mich zu empfehlen. Ich habe dann Heyse und Jensen im Leben nicht wieder gesehen; auch diese beiden letzten der älteren Dichtergenerationen starben, ehe über Deutschland das grosse Verhäng­ nis hereinbrach. Es war überhaupt merkwürdig, dass fast allen, die der deutschen Epoche zwischen 1871 und 1914 das Gepräge gegeben hatten, der Tod das Miterleben der jammervollen Katastrophe ersparte, und durchaus nicht bloss Männern von hohem Alter. (Gegen Ende der Kriegszeit lasteten schwere familiäre Sorgen auf dem Dichter, auf diese bezieht sich die fol­ gende Episode. Anmerkung des Herausgebers.)

... Als ich einmal spät abends in meiner Qual ziel- und ruhelos die innere Stadt durchirrte, kam ich an der «Torggelstube» vorbei, die ich seit Kriegs­ beginn nicht mehr besucht hatte. Ich entschloss mich einzutreten. Mein erster Blick fiel auf Frank Wede­ kind, der im «profanen» Hauptraum dicht an der Tür allein in der Ecke sass, bei einer eben erst an410

gebrochenen Flasche Rüdesheimer. Da auch er mich sofort bemerkte und begrüssend zu sich einlud, war kein Ausweichen möglich, obschon ich natürlich keine Gesellschaft gewünscht hatte und am aller­ wenigsten eines jener versteckten und vertrackten geistigen Duelle, worauf bisher jedes Zusammen­ sein mit ihm hinausgelaufen war. Ich setzte mich also resigniert zu ihm und bestellte einen Schop­ pen Wein; er winkte aber ab und goss mir aus seiner Flasche ein Glas voll. Dabei bemerkte ich einen ungewohnten Ausdruck in seinem Gesicht; das Lauernde war daraus verschwunden, es hatte einer passiven Erschlaffung Platz gemacht, und um seine Mundwinkel zuckte nicht mehr die spielerische Ironie; sie vibrierten leiser, aber echter unter der Wirkung von Erlebnissen, die ihm offenbar schwer zu schaffen machten. Ich hatte auch ihn seit langem nicht mehr gesehen und wusste nur vom Hören­ sagen, dass er in der letzten Zeit eine nicht unbe­ denkliche Krankheit überstanden hatte; er galt in­ dessen für wiederhergestellt und sein Aussehen ver­ riet nichts mehr von körperlichen Leiden. Um die mir jetzt unerträgliche Frage nach meinem eigenen Befinden abzuschneiden, sprach ich ihm meine Ver­ wunderung aus, dass er nicht wie sonst seinen Stammplatz am Literatentisch im Nebenraum ein­ genommen habe. Er erwiderte in halb befangenem, halb bitterem Ton, er passe gegenwärtig nicht in diesen Kreis. Und nun brachen, zu meiner grossen Ueberraschung, Eröffnungen über ein jähes Familien­ unglück aus ihm hervor, wie man sie in solcher Deutlichkeit nur seinem vertrauten Freunde macht; dabei hatte seltsamer Weise sein Erlebnis mit dem meinen trotz aller Verschiedenheit einen Zug ge­ meinsam. Was lasse sich nun machen, meinte er schliesslich, als trinken, um wenigstens schlafen zu können? Ich musste über seinen Impuls staunen, sich gerade mir so ganz ohne Maske auszusprechen. Im­ mer, wenn ich glauben konnte, dass mir jemand mit 411

unverhüllter Menschlichkeit begegnete, pflegte sich über alle Hemmungen hinweg der Trieb in mir ein­ zustellen, auch meinerseits offen zu zeigen, wie es augenblicklich in mir aussah; so entgegnete ich denn, ich verstünde seine Niedergeschlagenheit vollkommen, wenn er aber wüsste, was mich selber jetzt zum Alkohol gehetzt habe, würde er nicht mit mir tauschen wollen. Ich sagte das wohl in einem Ton, aus dem alle Pein meiner letzten Wochen hervorklang, denn Wedekind horchte auf, und drang nun in mich, dass ich mich gleichfalls ohne Rückhalt ausspräche. Etwas in mir aber rief «Nicht weiter!» Wedekind wollte sich erst mit diesen allgemeinen Andeutungen nicht zu­ frieden geben und meinte, ich könne und müsse doch ebenso offenherzig sein wie er. Ich blieb aber stand­ haft. Ich sprach dann noch von meinen autobiogra­ phischen Aufzeichnungen, und trug ihn, ob er nie an Aehnliches gedacht habe. Er erwiderte, vor Jahren habe er wohl einiges Derartige zu Papier gebracht, es aber alsbald wieder verbrannt; er müsste sich da gegen zu viele Zeitgenossen wenden und das «stünde ihm nicht zu Gesicht». Trotz solcher Ablenkung auf andere Gebiete wollte unser Gespräch nicht mehr in Fluss kommen; der Abbruch meiner Eröffnung schien den Leidensgenossen verstimmt zu haben, und wir machten uns dann bald auf den Heimweg. Wie nach frühem Torggelstuben-Abenden ging Wedekind noch bis an die Ecke der Prinzregentenstrasse mit mir, wo er sich mit den nie versäumten Höflichkeits­ formeln von mir verabschiedete. Es war unsere letzte Begegnung. Wenige Wochen später wurde durch die erneute Verschlimmerung seines Leidens eine Opera­ tion nötig und eine Lungenentzündung machte seinem Dasein ein Ende. (Die Folgezeit gab den düsteren Sorgen jenes Abends recht: durch einige Jahre hielt der Tod reiche Ernte im engsten Familienkreise des Dichters. Seine späteren Auf­ zeichnungen berichten zwar kurz über die Arbeit an dem 412

Drama «Kaiser Otto der Grosse», von einem Operntext­ buch, das er für den Leipziger Komponisten Ludwig Lürmann verfasste, von den Opern, die Richard Mors und Adolf Vogl nach der «Minnekönigin» und den «Verdamm­ ten» komponierten, von dem Buch «Philosophie und Okkultismus», das Gumppenberg im Auftrag eines Mün­ chener Verlags schrieb (seither von Gebr. Paetel, Berlin, übernommen), vor allem aber rechnen die letzten Er­ innerungsblätter mit den erwähnten traurigen Erlebnissen ab; erst das Schlussblatt wendet sich wieder an die Allge­ meinheit. Anmerkung des Herausgebers.)

Hier, an der Grenze traurigster Vergangenheit und dicht verschleierter Zukunft, will ich die Aufzeichnun­ gen über mein Leben schliessen. Ob mir noch hellere Tage kommen werden, oder gar noch Tage einer spä­ ten Erfüllung dessen, was die Träume meiner Jugend mir versprachen? Als glückbegehrender Mensch freilich habe ich mich längst bescheiden gelernt; doch als Künstler, wie als Denker hoffe ich noch immer auf ein Fruchtbarwerden meiner Lebensarbeit. Zwar weiss ich genau, was der phantasiearmen, und fast in jedem Betracht krankhaften Gegenwart die Ver­ wertung gerade meiner belangreicheren Hervorbrin­ gungen erschwert. Abgestossen von der Nüchterheit aller Erscheinungsformen unseres zeitgenössischen Lebens, konnte ich als Poet das Umfassende und All­ gemeine, das mich innerlich bewegte, meist nur in freieren symbolischen Gebilden zum Ausdruck brin­ gen, im Gewände alter Zeiten und ferner Zonen, ja der Sage und Traumwelt: und dem, was ich als nach­ denklicher und urteilender Mensch klarlegte, steht der immer noch herrschende Materialismus ebenso schroff gegenüber, wie das zerfahrene Halbdenkertum der gefeierten Tagesgrössen. Aber so schmerzlich ich es empfand, dass diese Zeit des Niedergangs, der sieg­ reichen Scharlatane und des unsteten äusserlichen Experimentierens so wenig Verständnis und Zunei­ gung für das Beste übrig hatte, was ich zu geben vermochte, und so sehr ihr missächtliches, ja feind­ seliges Verhalten nicht nur mein äusseres Leben ver413

düsterte, auch die volle Ausschöpfung meiner Fähig­ keiten hemmte: einer einzelnen Zeit wollte und konnte mein Wirken niemals dienen. Mag auch manches, was ich hervorbrachte, sein Ziel nicht erreicht haben: ein guter Teil dessen, was mir gelang, dürfte sich doch nicht unwert erweisen, den bleibenden geistigen Be­ sitz zu mehren. Und so darf wohl einst auch meine Stimme mitklingen in jener grossen Symphonie der Menschheit, die den Lebenden vernehmbar wird, wenn sie es wieder einmal müde sind, nur auf den wirren Lärm des Tages zu hören.

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Das letzte Blatt der Erinnerungen dürfte 1922 geschrieben sein.

Die folgenden Lebensjahre des

Dichters waren durch seine

eigene zunehmende

Krankheit — ein Herzleiden — schwer getrübt. Schon 1926, als man seinen sechzigsten Geburtstag

feierte, schien sein Ende nahe bevorstehend.

Trotz­

dem blieb er unermüdlich tätig, führte den ersten

Teil seines «Kaiser Otto» zu Ende, bereitete eine Ge­

samtausgabe seines Lebenswerkes vor, für die sich ein einflussreicher Freund einsetzte, der aber leider

kurz vor Gumppenberg starb, befasste sich, wie seit

Jahren, mit mathematischen, besonders zahlentheo­ retischen Arbeiten, nahm sogar noch an Sitzungen des

«Literarischen Beirats» des Münchener Stadtrats teil. Noch wenige Stunden vor seinem Tode bearbeitete

er den Wocheneinlauf an Manuskripten

für

die

«Jugend». Dem Arzt, der ihm abends eine Injektion machte und einiges zur Erleichterung riet, sagte er

lächelnd als letztes Wort: «Was anderen hilft, passt vielleicht nicht für mich». In dieser Nacht auf den

28. März 1928 trat der Tod ein.

Anmerkung des Herausgebers. 415