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German Pages 308 Year 2015
LebensBilder
Sabine Brombach, Bettina Wahrig (Hg.)
LebensBilder Leben und Subjektivität in neueren Ansätzen der Gender Studies
Gedruckt mit freundlicher Förderung des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur, der Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel sowie des Braunschweiger Zentrums für Gender Studies
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© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Sabine Brombach, Gudrun Viedt, Bettina Wahrig Satz: Alexander Masch, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-334-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Sabine Brombach/Bettina Wahrig LebensBilder: Vorüberlegungen zu einer notwendigen interdisziplinären Debatte
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Renate Tobies Geschlechterverhältnisse in der Mathematik
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Beate Ceranski „Das Leben muss nicht leicht sein…“ Kollektivbiographische Einsichten über Geschlechterverhältnisse in der Radioaktivitätsforschung
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Erika Funk-Hennigs Stationen im Leben der Komponistin und Schriftstellerin Ethel Smyth
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Sabine Brombach/Claudia Schünemann Grenzgängerinnen zwischen Lebenswelten – Biographieforschung am Beispiel von Sozialarbeiterinnen in Führungspositionen
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Ute Frietsch Zur gegenwärtigen Faszinationskraft von Bio-Graphie
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Bettina Gockel Motive der Künstlerpathographie in Psychiatrie, Kunstkritik und Künstlerleben
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Bettina Wahrig Arbeit am Habitus: Ärzte und Apotheker im 18. Jahrhundert zwischen Bildungsroman und Schöpfungsphantasie
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Bettina Dausien Repräsentation und Konstruktion. Lebensgeschichte und Biographie in der empirischen Geschlechterforschung
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Sabine Kampmann Pipilotti Rist. Die Künstlerin als „Person“
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Alma-Elisa Kittner „…keine Selbstbespiegelung.“ Hannah Höchs visuelle Autobiographie Lebensbild
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Regina Henze Erfolg sichtbar machen – the making of „Wo ist Minerva“
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Stephanie Zuber LebensBilder als Beispiel interdisziplinärer Herausforderungen
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Autorinnen
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LebensBilder: Vorüberlegungen zu einer notw endigen interdisziplinären Debatte SABINE BROMBACH UND BETTINA WAHRIG
Die Beiträge dieses Bandes sind das Ergebnis der Tagung: „LebensBilder: Leben und Subjektivität als Gegenstand neuerer Ansätze in den 1 GenderStudies.“ Im Fokus stehen zwei Worte, welche für die Kultur der Moderne Signalfunktion haben und zusammengenommen eines ihrer zentralen Phänomene bedeuten: Das Komposit „LebensBilder“ kennzeichnet gleichsam zwei oszillierende Fluchtpunkte für das (Selbst-)verständnis moderner Menschen in ihrer Eigenschaft als Lebewesen und als Individuen, als Trajektorien gelebter Prozesse sowie als Subjekte und Objekte von Repräsentationen. Schon die vielfältigen Bedeutungen der beiden Teile unseres Komposits lassen einige der Spannungen und Probleme aufscheinen, die in diesem Band entfaltet werden. So bindet „Leben“ als biologische Daseinsform den Menschen an das Sein anderer 2 Lebewesen und macht ihn zum Gegenstand der Humanwissenschaften, und es bedeutet zugleich – im Sinne von „Lebenszeit“ – etwas für den Menschen Spezifisches. Die Bedeutung von „Bild“ erschöpft sich keineswegs in Umschreibungen wie „Darstellung“ oder „Abbildung“. „Bild“ kann genauso gut „Vorstellung“ bedeuten; in diesem Sinne können wir uns z.B. ein „Bild“ von etwas machen. Ein „Lebensbild“ nun scheint auf die Darstellung des Lebens eines einzelnen Menschen hi1 2
Braunschweig, 15.01.-17.01.04. „[…] daß in den verschiedenen Humanwissenschaften, die sich entwickelt haben […] der Mensch am Ende seiner langen und verschlungenen Wege niemals sich selbst begegnet ist. Wenn es das Versprechen der Humanwissenschaften war, uns den Menschen zu entdecken, so haben sie es gewiß nicht gehalten; es handelte sich dabei eher um eine allgemeine kulturelle Erfahrung, nämlich die Konstitution einer neuen Subjektivität, vermittelt durch eine Operation, die das menschliche Subjekt auf ein Erkenntnisobjekt reduziert.“ (Foucault 1996: 84f.)
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SABINE BROMBACH/BETTINA W AHRIG
nauszulaufen, auf eine Biographie. Der Titel „LebensBilder“ steht für eine Auswahl unterschiedlicher, resümierender und reflektierender Beiträge, die auf verschiedene Weise mit dem Thema „Biographie“ bzw. dem Leben einzelner Menschen, umgehen. In einer Perspektive, die auf die ‚Bild‘-haftigkeit von Biographien fokussiert, lässt sich jedoch auch fragen: Welchen Machteffekt hat die Fokussierung des Lebens Einzelner, gar ‚großer‘ Einzelner? Welche Muster gesellschaftlicher Hierarchien werden bestätigt, wenn wir Helden – und Heldinnen – von Kunst, Wissenschaft, Literatur und Gesellschaft verehren? Nicht erst seit dem 21. Jahrhundert stellt sich die grundlegende Frage nach dem modernen Subjekt: Ist es nicht ein Konstrukt oder ein Aggregat von Identitätssplittern? Wenn dieser – bereits im 19. Jahrhundert gestellten und in der neueren Kultur- und Wissen3 schaftsforschung aufgegriffenen – Diagnose zuzustimmen oder sie zumindest weiter zu diskutieren ist: Was bedeutet dann das hartnäckige Weiterleben der Biographie und des Individuums im symbolischen Repertoire (post)industrieller Gesellschaften? Aus dem Komposit „LebensBilder“ lässt sich also ein Spannungsbogen konstruieren, in dem gefragt werden kann, was der Erkenntnisgewinn zukünftiger individual- und kollektivbiographischer Forschung für eine Geschlechterforschung sein kann, die parteilich ist, ohne unreflektiert Mythen zu produzieren oder andersherum, was die Bedingungen einer subjektkritischen Reflexion auf Subjektivität in der Moderne sind, die ihrerseits nicht auf die – ebenfalls subjektiv verortete – Kritik an der 4 Macht im Sinne einer „Geschichte für die Gegenwart“ (Foucault 1994a: 43) verzichtet. Um diesen Spannungsbogen zu explizieren, sollen im Folgenden knapp Perspektiven für subjektzentrierte und subjektkritische (dezentrierende) Ansätze im Hinblick auf Gender Studies skizziert werden.
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Vgl. Foucault 1994, bes. S. 141 zur Rolle Friedrich Nietzsches in diesem Prozess. Neben dem Fortbestand eines theoretischen Ortes für „Kritik an der Macht“ war den Organisatorinnen der Tagung ebenfalls wichtig, einen Ort für theoretisches und praktisches „Empowerment“ zu erhalten. Dieses Interesse war einer der Reibungspunkte auf der Tagung, wie z.B. aus dem Beitrag von Ute Frietsch zu erkennen ist.
LEBENSBILDER: VORÜBERLEGUNGEN
1. Biographische Forschung im Kontext von Gender Studies Biographien waren und sind ein traditionsreicher Gegenstand zahlreicher akademischer Disziplinen, etwa der Geschichte, der Psychologie, der Sozialwissenschaften, der Geschichte der Naturwissenschaften und der Kunstgeschichte. Das individuelle Leben und die individuelle Lebensgeschichte bieten sich in den genannten Disziplinen als ‚natürlicher‘ Focus, als scheinbar leicht zu identifizierender Gegenstand sozial-, kunst- und kulturwissenschaftlicher Forschung an, gerade deshalb, weil die der biographischen Forschung zugrunde liegenden Vorannahmen zu den umstrittensten in den neueren Kulturwissenschaften gehören. Es ist ein Verdienst der Frauenforschung, mit archäologischer Akribie und neuen methodischen Zugängen die individuelle Lebensgeschichte von Frauen – und nicht nur der ‚großen‘ Frauen – zum Forschungsgegenstand erhoben zu haben. Gerade die Biographie war lange Zeit ein zentrales Instrument, um die Perspektive von Frauen in die jeweiligen Disziplinen einzuschreiben, sei es als Hinweis auf vom Kanon übergan5 gene Künstlerinnen, (vgl. Salomon 1993) Wissenschaftlerinnen und Po6 litikerinnen, sei es in Form einer ‚Geschichte von unten‘, welche die Perspektive der von Geschichte ‚Betroffenen‘ in historische und aktuelle 7 Debatten einbrachte. Die Ergänzung der Fach-, Kunst- und Literaturgeschichten um weibliche Akteurinnen hatte, besonders wenn diese für sich betrachtet wurden, jedoch eine Rückseite: Die neuen Figuren trugen 5
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Beispielhaft sei erinnert an Lise Meitner, deren Beitrag zur experimentellen Etablierung der Kernspaltung in der Nachkriegszeit zunächst heruntergespielt wurde. Vgl. Sime 2001 und Sexl/Hardy 2002. Die Mathematikerin Emmy Noether wurde nicht vom Kanon übergangen, sie begründete eine anerkannte mathematische Schule, musste sich aber mit dem Status einer nicht beamteten außerordentlichen Professorin abfinden. Vgl. Koreuber/Tobies 2002. Den Versuch der Kombination feministischer Wissenschaftskritik mit der Biographie einer Wissenschaftlerin macht FoxKeller 1995. Beispielhaft sei hier die Arbeit von Gisela Notz (2003) genannt, die anhand von 26 Einzelbiographien sozialdemokratischer Frauen ein Stück Zeitgeschichte erfasst und beides miteinander verbindet. Furore machten in den 1970er Jahren z.B. Dacia Marainis „Erinnerungen einer Diebin“ (Maraini 1994), die literarische Dokumentation einer Frauenbiographie, welche die Autorin in persönlichen Gesprächen mit der wegen zahlreicher kleiner Delikte in einem römischen Gefängnis einsitzenden Teresa führte. Vgl. auch Jahnke 2002. Als neuere Arbeit in dieser Tradition sei Mahers Studie über die Lebensgeschichten von Schneiderinnen in Turin in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts genannt (Maher 2002), die Studie wurde auf der ifu („Internationale Frauenuniversität‚ Technik + Kultur“) in Hannover präsentiert.
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SABINE BROMBACH/BETTINA W AHRIG
häufig die Attribute eines patriarchalisch geprägten Bildes vom Leben 8 des großen Einzelnen an sich; die Viten von Künstlerinnen, Wissenschaftlerinnen und Dichterinnen perpetuierten die Sichtweise auf Wissenschaft und Kunst als Produkt großer Einzelner und stilisierten die Akteurinnen genau wie ihre männlichen Pendants zu Heldinnen oder Märtyrerinnen; sie wurden hinterrücks zu Teilnehmerinnen patriarchaler Kunst- und Wissenschaftsmythen. Interessanterweise zeigen auch Alltagsentwürfe von Frauen eine ähnliche Ambivalenz von Widerstandshandlung auf der einen und Perpetuierung patriarchaler Mythen auf der anderen Seite (vgl. Heintz/Honegger 1984). Andererseits wirkte die Einbeziehung bislang nicht ‚kanonisierter‘ Viten und Werke in produktiver Weise dezentrierend auf die jeweiligen Fachgeschichten. Dies lässt sich exemplarisch nachvollziehen an der Rezeption von Margaret Cavendish als Literatin und Wissenschaftlerin: Während Virginia Woolf sie mit persönlicher Sympathie für ihre Biographie, aber deutlicher literarischer Kritik behandelte, erhöhte Carolyn Merchant (1994; zuerst amerik. 1980) sie in den 80er Jahren zu einer Gallionsfigur im Kampf gegen den „Tod der Natur“ in den Naturwissenschaften des 17. Jahrhunderts. Mittlerweile wird ihre wissenschaftliche Position als eine von vielen verschiedenen Stimmen in der wissenschaftlichen Umbruchszeit Mitte des 17. Jahrhunderts behandelt; damit können auch die Ironie und der Spott, mit denen Cavendish die ersten systematischen Versuche behandelte, eine auf Experimenten basierende Naturwissenschaft zu betreiben, neu rezipiert werden (Hutton 1997). Mit dem Ende der Wissenschaftsgeschichte als Fortschrittsgeschichte ist sie der Alternative „sympathische Dilettantin“ oder „Vorkämpferin des Fortschritts“ entronnen, und die Historiographie kann gleichzeitig die Schattierungen im wissenschaftlichen Diskurs genauer nachvollziehen. Beispielhaft für die historische – und wissenschaftshistorische – Kontextualisierung von Wissenschaftlerinnenbiographien sind die Arbeiten von Londa Schiebinger, die zeigen, wie Stereotype des Geschlechterverhältnisses sowohl die konkreten Inhalte der Biowissenschaften als auch die persönlichen Schicksale und die Forschungstätigkeiten von Wissenschaftlerinnen zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert beeinflusst haben (vgl. Schiebinger 1997). In den letzten Jahren hat sich die Frauenforschung zu den Gender Studies, d.h. zu Forschungen über das Geschlechterverhältnis, weiterent8
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So im Titel des Buches „Artemisia Gentileschi. The Image of the Female Hero in Italian Baroque Art“ von Mary Garsard (Princeton 1989) deutlich ersichtlich. Die Übernahme von Elementen traditioneller Künstlerviten in den Tagebüchern der Malerin Marie Bashkirtseff analysiert Sabine Voigt (1997).
LEBENSBILDER: VORÜBERLEGUNGEN
wickelt. Die Frage ist nun nicht mehr nur: Warum werden Frauenbiographien vergleichsweise weniger fokussiert, sondern: Wie war und ist das gelebte Geschlechterverhältnis und wie wird es repräsentiert? Welche impliziten Wertungen verknüpfen sich mit den scheinbar neutralen Wissenschaften von der Natur und von der Gesellschaft? Wie sind diese an die Geschlechterverhältnisse, an die gesellschaftlichen Machtverhältnisse gebunden?
2 . W a s i s t e i n Au t o r / e i n K ü n s t l e r / e i n e Au t o r i n / e i n e K ü n s t l e r i n ? Am 22. Februar 1969 hielt M. Foucault einen Vortrag mit dem Titel „Qu’est-ce qu’un auteur?“ (1994b) Er stellte die These auf, dass der Autor kein vorbestehendes Objekt, sondern eine Funktion in einem Diskurs sei (ebd.: 798). Das „Verschwinden des Autors“ (ebd.: 796) stellte er in Beziehung zum bereits von Nietzsche festgestellten Verschwinden des Subjekts. Foucault reagiert gleichzeitig auf eine Situation in den Geistesund Sozialwissenschaften seiner Zeit, deren Konsequenzen noch in methodologischen Ansätzen wie dem Postrukturalismus, dem Konstruktivismus oder dem Dekonstruktivismus zu spüren sind. Für Foucault stellte sich dabei nicht nur die Frage des Autors, sondern auch diejenige des Werks. Mit der Rezeption von sozialhistorischen Ansätzen einerseits und dem Foucaultschen Diskursbegriff andererseits lockerte sich in den Disziplingeschichten seit den 1970er Jahren die Bindung an traditionelle Objekte der Geschichtsschreibung auf, es trat auch vom methodischen Zugang her eine Dezentrierung ein, unter deren Einfluss jetzt der Blick nicht nur durch das einzelne Subjekt, sondern auch durch an dieses gekoppelte Entitäten wie ‚das Werk‘ hindurch glitt. Die von Wissenschaftlerinnen der Braunschweiger Hochschule für Bildende Künste mitorganisierte Tagung „Was ist ein Künstler?“ (Hellmold et al. 2003) spitzte die Frage Foucaults „Was ist ein Autor?“ auf die Figur des Künstlers zu. Nicht nur für die diskursanalytischen Ansätze wurde die Frage der Subjektkonstitution zu einem Zentrum der methodischen Diskussion. Für die theoretische Diskussion in den Gender Studies sei stellvertretend die Arbeit von Sabine Hark (1999) genannt; in den poststrukturalistischen Science Studies wurden der/die Einzelne und sein/ihr Leben einerseits zum Gegenstand von Dekonstruktionen und andererseits zu Knotenpunkten in sozial und historisch zu rekonstruierenden Aktantennetzwer-
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SABINE BROMBACH/BETTINA W AHRIG 9 ken. Dezentrierungstendenzen ergriffen aber auch die Frauenforschung selbst: Durch Vernetzung von biographischer Forschung mit Fragen der Wissenschaftspraxis und der impliziten Geschlechterverhältnisse in der wissenschaftlichen Praxis und im institutionellen Alltag wird „Geschlecht“ als biologische und sozialwissenschaftliche Kategorie kritisch analysiert (vgl.Wanie/Stoller 2001). Die individuelle Biographie wird als „biographische Konstruktion“ analysierbar (vgl. den Beitrag von Dausien in diesem Band). Ute Frietsch, die wir um einen Zwischenkommentar gebeten hatten, reflektiert die im ersten Teil des Bandes vorgestellten Beiträge in einer subjektkritischen Perspektive und stellt unserer Rede vom Spannungsbogen zwischen „BilderLeben“ und „LebensBildern“ die Unterscheidung zwischen „gelebtem Leben“ und „gemachtem Leben“ an die Seite. Sie fragt mit Beckett: „Wen kümmert‘s wer spricht?“ im Hinblick auf das heute gerade wieder stark angewachsene Interesse an Biographien.
3. Von der Biographie zur Prosopographie – vom Subjekt zur Trajektorie? Seit den 90er Jahren macht sich zunehmend der Einfluss kulturwissenschaftlicher Arbeitsmethoden und vor allem ethnomethodologischer Ansätze in den genannten Disziplinen bemerkbar, was unter anderem dazu führt, dass die mit dem Thema „Biographie“ verbundenen Stilisierungen der Alternative entkamen, entweder fortgeführt oder abgewiesen zu werden: Sie wurden kontextualisierbar z.B. im Rahmen analytischer Arbei10 ten zu Metaphern und Mythen. Es ergaben sich fruchtbare Konjunkturen mit dem Feld der feministischen Wissenschaftskritik, auf dem die impliziten an das Geschlechterverhältnis gekoppelten Normen zunehmend sichtbar gemacht wurden. Im Dialog zwischen verschiedenen historiographischen Ansätzen innerhalb und außerhalb der Kulturwissenschaften ergaben sich neue Fragestellungen, welche die disziplinären Grenzen – z.B. zwischen Wissenschaftsgeschichte und Kunstwissenschaften – transzendierten. Neuere Forschungsansätze in den Gender Studies und Kulturwissenschaften befragen z.B. das „Subjekt in der modernen Kunst“ in Hinblick 9
Als Beispiel für die Rezeption Latours in den Gender Studies s. z.B. Lucy Suchmans Analyse von Software-Agenten: Suchman 2003; Donna Haraway setzt sich in „Modest Witness Second Millenium“ (1996) ebenfalls mit Latour auseinander. 10 Für einen Ansatz, der die Mythostheorie von R. Barthes mit der dekonstruktiven Perspektive von J. Bulter kombiniert vgl. Höhler (2001: 36-57)
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LEBENSBILDER: VORÜBERLEGUNGEN
auf zentrale Begriffe des Subjektivitäts- und Autorschaftsdiskurses wie Kreativität, Authentizität, Autonomie, Legenden und Mythen (vgl. Hellmold/Kampmann/Lindner/Sykora 2003) In der Wissenschaftsgeschichte nahm ein von Lorraine Daston und Heinz Otto Sibum initiiertes Forschungsprojekt den „persona“-Begriff von M. Mauss zum Ausgangspunkt und widmete sich in beispielhaften Analysen der Geschichte der 11 „wissenschaftlichen Persona“. Der persona-Begriff (aus dem lateinischen Wort für dramatische Rolle, Maske) wurde hier eingesetzt, um den fließenden Übergang zwischen einer in einer bestimmten sozialen Gruppe kodierten Form des Lebens und Arbeitens auf der einen und Formen der Selbstdarstellung und Selbststilisierung auf der anderen Sei12 te nachzuzeichnen. Künstlerbiographien als Kristallisationspunkte für den Austausch zwischen Kunst und Wissenschaft waren der Fokus eines von der Universität Tübingen und dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte getragenen Projekts (vgl. Gockel/Hagner 2004). Während zum einen die Biowissenschaften spätestens seit dem 19. Jahrhundert die Konstruktion eines in Schädel und Gehirn biologisch „fundierten“ Genies unternahmen (Hagner 2005) und Biologen und Psychiater die altbekannte Parallele zwischen Genie und Wahnsinn erbbiologisch und phänomenologisch ,untermauerten‘, suchten oder schufen sich Künstler im Garten der pathologischen Arten eine Bleibe oder richteten sich dort ein (Gockel 2002/3). Neuere biographische Forschung in den Gender Studies berücksichtigt die genannten Verschiebungen im Forschungsfeld. Stärker als bisher wird Biographieforschung als Medium zur Sichtbarmachung des Geschlechterverhältnisses (und nicht mehr nur des Lebens und der Perspektive von Frauen) betrachtet. Wenn Frauenbiographien fokussiert werden, dann in der Regel nicht mehr als Aneinanderreihung gleichartiger Frauenschicksale und auch nicht durch Sammlung möglichst vieler „großer“ 13 Frauen an einem Ort. Bei der Erforschung biographischen Materials 11 Vgl. das Doppelheft 1/2 von Bd.16 (2003) von Science in context. In: Lorraine Daston, H. Otto Sibum: Introduction: Scientific Personae and their Histories. Science in Context 16 (2003), 1-8; Daston und Sibum greifen für die Wissenschaftsgeschichte das von Kris und Kurz eingeführte „persona“-Motiv auf. 12 Zur Problematik von „persona“ und Repräsentation bei Thomas Hobbes vgl. Wahrig-Schmidt 1997. 13 Vgl. z.B. die von Sybille Duda und Luise F. Pusch herausgegebenen Sammlung „Wahnsinns-Frauen“ (Frankfurt/Main 1996-1999). Besonders der erste Band bedient in exemplarischer Weise ungewollt das GenieWahnsinns-Stereotyp, dem in den späteren Bänden allerdings durch Abkehr von der Suche nach ‚großen‘ Frauen entgegengearbeitet wird.
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setzen neuere Studien häufig beide Geschlechter in einen Vergleich. So wird z.B. von Tobies et al. (2004) über das reine Aufarbeiten der biographischen Daten von Wissenschaftlerinnen hinaus gegangen, indem das soziale Umfeld der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vergleichend herangezogen wird (vgl. den Beitrag von Renate Tobies in 14 diesem Band). Beate Ceranskis prosopographische Studie fokussiert zwar auf Frauen in einen bestimmten disziplinären Feld, diskutiert anhand dieser Biographien aber vor allem die Wechselwirkung zwischen der historischen Situiertheit der frühen Radioaktivitätsforschung auf der einen und der gesellschaftlichen Position von wissenschaftlich arbeitenden Frauen im frühen 20. Jahrhundert auf der anderen Seite. Im Leben der durch Erika Funk-Hennigs in Wort und Ton vorgestellten Komponistin, Suffragette und Schriftstellerin Ethel Smyth finden sich Elemente der Anpassung und des Widerstands. Ihr später Erfolg als Komponistin war auch Ergebnis von „networking“ in der politischen Elite sowie ihrer Selbststilisierung in ihren autobiographischen Werken. Als sozialwissenschaftlicher Ansatz arbeitet Biographieforschung an Themen der Herausforderung von Reflexivität und Biographiezität in der postindustriellen Gesellschaft. Globalisierung und Individualisierung verändern in großer Geschwindigkeit kontinuierliche und dauerhafte Lebenslaufmuster (Beck 1986) lassen aber dennoch Raum, trotz Diskontinuitäten der Lebensverhältnisse auf der individuellen Ebene die Suche nach lebenslanger ‚biographischer Arbeit‘ fortzusetzen. So plädieren Margret Kraul und Winfried Marotzki (2002) aus der Perspektive der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung dafür, unter veränderten gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen individuelle Bildungsprozesse als „Selbst- und Weltverhältnisse“ im „Kontext der Moderne“ neu zu konzipieren (Kraul/Marotzki 2002: Einleitung). Provokativ oder als Eingeständnis dazu ist die Forderung nach einem Paradigmenwechsel zu sehen, die Bettina Dausien aufstellt, mit ihrem Anspruch, die erziehungswissenschaftliche Sozialisationsforschung durch die biographische Forschung abzulösen (Dausien 2002). Bettina Dausien zeigt in einer eingehenden Metaanalyse auf (vgl. ihren Beitrag in diesem Band), dass sich Biographien in einem komplizierten Wechselspiel von Konstruktion und Repräsentation ereignen und dass diese beiden Begriffe gleichzeitig bestimmte theoretische Voraussetzungen über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft beinhalten, die es in der biographischen Forschung zu reflektieren gilt. 14 Als neuere methodologische Ansätze seien beispielhaft genannt: Neusel/ Wetterer 1999.
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LEBENSBILDER: VORÜBERLEGUNGEN
Auf der Ebene der Leit- und Rollenbilder erkennen Mechthild Oechsle und Birgit Geissler (1996) Gemeinsamkeiten in den Lebenslaufmustern junger Frauen und bewerten diese als Ressource im Individualisierungsprozess. Während es die Ergebnisse von Tobies et al. (2004) zunächst einmal erlauben, bestimmte geschlechtsgebundene Stereotype bezüglich mathemathischer Begabung abzuweisen (s. den Beitrag von Tobies in diesem Band), geht es Brombach und Schünemann in ihrem Beitrag zu den Biographien von Sozialarbeiterinnen in Führungspositionen darum zu fragen, wie es besonders Frauen gelingen kann, eigene Kräfte zu mobilisieren, um in berufliche Positionen vorzudringen, die traditionell Männern vorgehalten waren. Die Macherinnen der Ausstellung „Wo ist Minerva?“ (s. den Beitrag von Regina Henze in diesem Band) machten sich auf die Suche nach den Besonderheiten in den Biographien von heutigen Wissenschaftlerinnen, die es an die Spitze der akademischen Forschung geschafft hatten, nahmen aber hier besonders auf Elemente in ihren Lebenswegen Rücksicht, die in patriarchalen Lebensmustern als untypisch gelten (z.B. Umwege) und kommentierten mit bildnerischen Mitteln z.T. ironisch traditionelle Stilelemente der Heroisierung. Die Beiträge von Tobies, Brombach/ Schünemann und Henze geben in sehr unterschiedlicher Weise Auskunft über die biographischen Konstruktionsleistungen von Frauen und verfolgen damit unterschiedliche Strategien von Empowerment. Frietsch vermutet, dass die Differenz von „gelebtem Leben“ und „gemachtem Leben“ mit ihren unterschiedlichen Formen der Anpassung, der ‚sichvermachten-Lassens‘ und der widerständigen ‚eigensinnigen‘ biographischen Selbstverortung, die in den Beiträgen dieses Bandes zu finden ist, auch unterschiedlichen praktisch-politischen Handlungsperspektiven der Autorinnen zwischen Empowerment und kritischer Reflexion geschuldet sein kann. Einer historischen Dekonstruktion des Mythos des/der „großen Einzelnen“ widmen sich explizit die Beitrage von Bettina Wahrig, Bettina Gockel, Sabine Kampmann und Alma-Elisa Kittner. Während Gockel und Wahrig in ihrem Material das weitgehend unangefochtene Wirken eines ‚biographischen Mythos‘ vorfinden und dessen Entwicklung und Gestalten zu Beginn und in der Mitte der Moderne erkunden, stellen Kampmann und Kittner zwei Künstlerinnen vor, die in ihren Arbeiten das ‚Bild des Künstlers‘, d. h. des kreativen, autonomen Subjekts, selbst verfremden und reflektieren. Mit dem Titel – und nicht nur dem Titel – von Alma Höchs Collage „Lebensbild“ (Kittner) steht damit das Tagungsthema selbst noch einmal zur Debatte, verweist doch schon die von Höch angewandte Technik auf die widersprüchliche Bewegung des Zerschneidens, Zusammenklebens, des Ausschnitthaften als Vorbedin15
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gung für die Existenz von ‚Identitäten‘. Die von Kampmann vorgestellte Pipilotti Rist gar droht durch ihre Performationen künstlerischer Selbstinszensierung nicht nur die künstlerische, sondern auch die feministische Identität in den Abgrund der Reflexion zu reißen.
4. LebensBilder – BilderLeben Der vorliegende Band versucht eine Zusammenschau des Themas „Biographie“ über die Grenzen der Disziplinen und der mit ihnen verbunden Handlungsfelder hinweg. Hierbei fallen nicht nur unterschiedliche Perspektiven auf, sondern es kommt teilweise zur Artikulation konträrer Erkenntnisinteresse, die mit biographischen Studien verbunden sein können. Ein erstes Konfliktfeld entsteht durch die Notwendigkeit einer reflexiven Differenzierung von Konzepten, welche biographischen Konstrukten zugrunde liegen auf der einen und dem Bedarf nach einer produktiven Umsetzung gelebten Frauen-Lebens in Empowerment und Veränderung auf der anderen Seite. Ein zweites Konfliktfeld entsteht zwischen dem Ernstnehmen der künstlerischen/wissenschaftlerischen Biographie auf der einen und der Notwendigkeit ihrer reflexiven Dezentrierung auf der anderen Seite. In diesem Sinne deutete sich in der Planungsphase, aber auch in den Diskussionen auf der Tagung selbst eine Dichotomie der Perspektiven an, die wir zu Anfang dieser Einleitung als einen Spannungsbogen zwischen einer ‚zentrierenden‘ und einer ‚dezentrierenden‘ Perspektive bezeichnet haben. Diese beiden Perspektiven haben wir in der Anordnung der Beiträge mit den Kompositwörtern „LebensBilder“ (für eine eher zentrierende Perspektive) und „BilderLeben“ (für eine eher dezentrierende Perspektive) auszudrücken versucht. Gerade die historisch festzustellende gegenseitige Inanspruchnahme von Wissenschaft und Kunst kann eine solche gleichzeitig zentrierende und dezentrierende Perspektive äußerst fruchtbar machen sowie zugleich den Blick auch für zeitgenössische Relationen zwischen Kunst und Wissenschaft schärfen. So bleibt z.B. im Dialog zwischen Kunst- und Wissenschaftsgeschichte zu klären, wie der dezentrierende Effekt der Fragen „Was ist ein/e Autor/in?“ und „Was ist ein/e Künstler/in“ in beiden Disziplinen differiert und was aus dieser Differenz zu lernen ist. Ist das Kunstwerk ein genaues Analogon der écriture und wie verhält es sich mit dem ‚Werk‘ eines Wissenschaftlers oder einer Wissenschaftlerin? Ist der Autor, den Foucault in Frage stellt, mit einer Künstlergestalt wie Ernst Ludwig Kirchner gleichzusetzen? Was haben diese mit einem akademischen Mediziner des 18. Jahrhunderts gemein (vgl. die Beiträge von Gockel und Wahrig in diesem Band)? Auch die sozialwissenschaft16
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liche Perspektive einer Dialektik von subjektiver Aneignung von bei gleichzeitiger Reflexion auf Gesellschaft (vgl. Brombach/Schünemann 2002) kann in dieser doppelten, zentrierenden und dezentrierenden, Perspektive gesehen werden. Den unmittelbaren Anstoß für die Planung der „LebensBilder“ gab die Koinzidenz von Forschungsprojekten der drei Braunschweiger Hochschulen, die sich einerseits mit kollektivbiographischen Studien und andererseits mit subjektkritischen bzw. dekonstruktivistischen Ansätzen in den Kulturwissenschaften – jeweils unter Einbeziehung des 15 Geschlechterverhältnisses – beschäftigten. Die Tagung wagte den Versuch, über methodologisch unterschiedliche Ansätze hinweg die genannten Perspektiven miteinander und gegeneinander arbeiten zu lassen. Anstatt ausschließlich allgemeine theoretische Überlegungen, etwa zum Subjektbegriff oder zur Biographie, anzustellen oder ausschließlich konkrete Biographieforschung und biographische Forschung zu treiben, sollten zentrierende und dezentrierende Perspektiven über die Fächergrenzen hinweg konkret dargestellt und im interdisziplinären Raum diskutiert werden. In einer analog zu Gianna Pomatas „Close-Ups and Long Shots“ (1998) gedachten Bewegung sollten Allgemeines und Partikuläres sowie Zentrierendes und Dezentrierendes abwechselnd in den Blick genommen und über die Disziplinen hinweg reflektiert werden. Die für die Erforschung von Lebensläufen nach wie vor notwendige konkrete empirische Forschung mit ihrer ‚konstruktiven‘ Perspektive sollte der ‚dekonstruktiven‘ Frage „Was ist ein Subjekt?“ ausgesetzt werden; umgekehrt war zu fragen, in welche neuen Perspektiven und zu welchen konkreten Ergebnissen eine durch die Forschungen zur künstlerischen und wissenschaftlichen persona und durch die im Anschluss an Foucault verhandelte Frage der Subjektformierung (Wahrig/Sohn 2003) instruierte Forschung kommen kann. Stephanie Zuber wirft in ihrem Beitrag einen Blick zurück auf die Erfahrungen des „LebensBilder“-Projekts mit Interdisziplinarität. Anhand der Beiträge und Diskussionen kann sie zeigen, dass es gerade dort produktiv wurde, wo zunächst ein Nicht-Verstehen artikuliert wurde, weil dieselben Ter15 An der Hochschule für Bildende Künste war dies das Projekt „Das Bild des Künstlers“ (vgl. Hellmold et al. 2003), an der TU Braunschweig ging es um das Verhältnis von Wissen und Macht im Gesundheitswesen (vgl. Wahrig 2003), an der FH Braunschweig/Wolfenbüttel um Sozialarbeiterinnen in Führungspositionen (vgl. Brombach/Schünemann 2002). Zusätzlich war an der TU Braunschweig Renate Tobies zu Gast (im Rahmen einer vom Ministerium für Wissenschaft und Kultur geförderten Maria Goeppert-Mayer-Professur), die eine historisch-soziologische prosopographische Studie zu Mathematikerinnen und Mathematikern an der Universität Göttingen durchführte (vgl. Tobies 2004).
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mini oder Denkfiguren in verschiedene Diskurse (Disziplinen, Praxisfelder) eingebettet waren. Produktiv waren auch die unterschiedlichen Diskursformen wie Vortrag, Musik, Film, wie Stephanie Zuber in diesem Band erläutert. Die Tagung „LebensBilder“ wurde vom Braunschweiger Zentrum 16 für Gender Studies vom 15. bis 17. Januar 2004 durchgeführt. Sie verfolgte explizit das Ziel, über unterschiedliche methodologische Ansätze hinweg verschiedene Perspektiven miteinander und gegeneinander arbeiten zu lassen und dieses auch in der jeder Disziplin eigenen Form. Wichtig für das Konzept der Tagung war auch, dass diese nicht nur aus Wortbeiträgen bestand. Erika Funk-Hennigs ließ zu ihrem Vortrag Musik von Ethel Smyth erklingen; Regina Henze erläuterte mit ihrem Beitrag die Ausstellung „Wo ist Minerva?“, die gleichzeitig an der TU zu sehen war. Heidi Kommerell und Sabine Ritterbusch führten Musik von Komponistinnen auf, zu denen sie auch biographische Informationen zur Verfügung stellten. Der Film „Conceiving Ada – Leidenschaftliche Berechnung“ von Lynn Hershman Leeson stellte Ausschnitte aus der Biographie der Mathematikerin Ada Lovelace dar; er thematisierte und reflektierte Biographie, Wissenschaft, Mythos und Geschlechterverhältnis im Medium des Films. Der vorliegende Band dokumentiert einen Diskussionsprozess, der durch die Tagung angestoßen und in der Arbeit an den Tagungsbeiträgen sowie in weiteren Forschungen der hier versammelten Autorinnen fortgesetzt worden ist. Die Beiträge sind – entsprechend den disziplinären Gepflogenheiten bzw. den Medien, in denen die Tagungsteilnehmerinnen sich ausdrückten – unterschiedlich gestaltet. Diese Vielfalt war von den Veranstalterinnen der Tagung – neben den Herausgeberinnen waren dies Sabine Kampmann und Stephanie Zuber – so gewollt und soll auch in der Publikation ganz bewusst zum Ausdruck kommen. Wie andere Publikationen (bisherige finanzielle gefördert, jetzt mit dieser erste eigenständigen) im Rahmen des Braunschweiger Zentrums für 17 Gender Studies, so soll auch dieser Band zur weiteren Etablierung und Institutionalisierung von Gender Studies und zur Unterstützung des Braunschweiger Zentrums für Gender Studies beitragen.
16 Das Braunschweiger Zentrum für Gender Studies wurde 2003 als gemeinsame Einrichtung der drei Braunschweiger Hochschulen gegründet. Es wird vom Ministerium für Wissenschaft und Kultur des Landes Niedersachsen finanziert. 17 Zu nennen sind hier die ersten beiden Bände der Reihe „Wissenschaftlerinnen im Blick“: Doetsch (2004); Vogel (2005).
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Die Veröffentlichung und die Tagung wurden gefördert durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur. Ein besonderer Dank gilt hier Dr. Barbara Hartung als stets kompetente Ansprechpartnerin für alle Belange der Geschlechterforschung. Ebenso danken wir dem Präsidenten der Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel, Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Umbach, für seine spontane Bereitschaft, die Publikation dieses Bandes durch seine finanzielle Unterstützung zu ermöglichen. Der Technischen Universität Braunschweig und der Hochschule für Bildende Künste danken wir für ihre logistische Unterstützung. Ohne die organisatorische, fachlich beratende und vor allem integrierende Arbeit von Stephanie Zuber, der wissenschaftlichen Mitarbeiterin des Braunschweiger Zentrums für Gender Studies, wäre dieses komplizierte Projekt einer Kooperation mit so vielen Beteiligten über einen längeren Zeitraum nicht möglich gewesen. Auch Gudrun Viedt gilt unser Dank, die mit Ruhe und Sorgfalt redaktionell an der Erstellung des druckfertigen Manuskripts mitgewirkt hat. Die Herausgeberinnen bedanken sich bei Gero Wierichs und dem transcript Verlag für die Betreuung des Manuskripts und die ansprechende Gestaltung des Bandes. Natürlich bedanken wir uns herzlich bei allen Autorinnen, die in kooperativer Weise unsere Arbeit als Herausgeberinnen in Form von Redigieren und Anregungen zu Überarbeitungen aufgenommen und damit zur Verwirklichung dieses Anspruchs auf ein interdisziplinäres Gesamtwerk beigetragen haben. Braunschweig, im Oktober 2005
Prof. Dr. Sabine Brombach
Prof. Dr. Bettina Wahrig
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SABINE BROMBACH/BETTINA W AHRIG
Literatur Abele, Andrea/Neunzert, Helmut/Tobies, Renate (2004): Traumjob Mathematik. Berufswege von Frauen und Männern in der Mathematik, Basel. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. Brombach, Sabine/Schünemann, Claudia (2002): „Sozialarbeiterinnen in Führungspositionen“. In: Zeitschrift für Sozialwirtschaft 12, S. 1013. Daston, Lorraine/Sibum, H. Otto (2003): „Introduction: Scientific Personae and their Histories“. In: Science in Context 16, S. 1-8. Dausien, Bettina (2002): „Perspektiven erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung“. In: Kraul, Margret/Marotzki, Winfried (Hg.): Biographische Arbeit, Opladen, S. 65-91. Doetsch, Brigitte (Hg.) (2004): Philosophinnen im dritten Jahrtausend. Ein Einblick in aktuelle Forschungsfelder, Bielefeld. Foucault, Michel (1994a): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1994b): Dis et écrits Bd.1, hg. von Defert, D./Ewald, F., Paris, S. 789-821. Foucault, Michel (1996): Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Frankfurt a.M. Fox-Keller, Evelyn (1995): Barbara Mc Clintock: Die Entdeckung der springenden Gene, Basel/Boston/Berlin. Garsard, Mary/Gentileschi, Artemisia (1989): The Image of the Female Hero in Italian Baroque Art, Princton. Gockel, Bettina (2002/3): „‚Der Künstler als Objekt psychiatrischer Theorie und Praxis‘. Zu Ernst Ludwig Kirchner und Ludwig Binswanger d.J“. In: Georges-Bloch: Jahrbuch des Kunsthistorischen Instituts der Universität Zürich, S. 150-175. Gockel, Bettina/Hagner, Michael (2004): Die Wissenschaft vom Künstler. Körper, Geist und Lebensgeschichte des Künstlers als Objekte der Wissenschaften. 1880-1930, Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte Preprint Nr. 279. Hagner, Michael (2005): Geniale Gehirne, 2. Aufl., Göttingen. Harraway, Donna (1996): Modest Witness Second Millenium, New York/London. Hark, Sabine (1999): Deviante Subjekte. Die paradoxe Politik der Identität, Opladen. Heintz, Bettina/Honegger, Claudia (Hg.) (1984): Listen der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen, Frankfurt a.M. 20
LEBENSBILDER: VORÜBERLEGUNGEN
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SABINE BROMBACH/BETTINA W AHRIG
Sime, Ruth Lewin (2001): Lise Meitner. Ein Leben für die Physik, Frankfurt a.M./Leipzig. Suchman, Lucy (2003): „Figuring ‚service‘ in discourses of ICT: The case of software agents“. In: Jutta Weber/Corinna Bath (Hg.): Turbulente Körper, soziale Maschinen. Feministische Studien zur Technowissenschaftskultur. Opladen, S. 65-74. Vogel, Ulrike (Hg.) (2005): Was ist weiblich – was ist männlich? Aktuelles zur Geschlechterforschung der Sozialwissenschaften, Bielefeld. Voigt, Sabine (1997): Die Tagebücher der Marie Bashkirtseff (18581884), Dortmund. Wahrig, Bettina/Sohn, Werner (2003): „‚Alle Ärzte sollten also zu redlichen Männern gemacht werden.‘ Der Zeitschriftendiskurs zur medizinischen Polizei“. In: Wahrig, Bettina/Sohn, Werner: Zwischen Aufklärung, Policey und Verwaltung. Zur Genese der Medizinalwesens 1750-1850, Wiesbaden, S. 39-69. Wahrig-Schmidt, Bettina (1997): „Spur, Zeichen, Repräsentation. Politik und Wissenschaft bei Thomas Hobbes“. In: Rheinberger, HansJörg/Hagner, Michael/Wahrig-Schmidt, Bettina (Hg.): Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin, S. 123-145. Wanie, Eva/Stoller, Silvia (Hg.) (2001): Verhandlungen des Geschlechts. Zur Konstruktivismusdebatte in der Gender-Theorie, Wien. Weber, Jutta/Bath, Corinna (2003): Turbulente Körper und Soziale Maschinen, Opladen.
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Geschlechterverhältnisse in der Mathematik RENATE TOBIES
Ausgehend von dem Tagungsthema „Lebensbilder“ gibt dieser Beitrag einen Überblick über biografische Forschungsansätze in der Mathematik und fragt danach, in welcher Weise sie Erkenntnisse über Geschlechterverhältnisse in der Mathematik vermitteln. Dabei werden nicht nur Ergebnisse präsentiert, die mit dem von der Volkswagenstiftung geförderten interdisziplinären Projekt „Frauen in der Mathematik. Determinanten von Berufsverläufen in der Mathematik“ erzielt wurden. Es wird darüber hinaus gefragt, welche Erkenntnisse zum Thema vorliegende Biografien über (große) Mathematiker und Mathematikerinnen bringen, wie sich das Thema Frau/Mann und Mathematik in individuellen Lebensgeschichten von Mathematiker/innen widerspiegelt, wie Mathematikerinnen, die zur Schriftstellerin wurden, das Thema aufgriffen. Bezug nehmend auf das noch immer vorhandene Klischee – Frauen können nicht mathematisch logisch denken – stelle ich ein historisches Zitat an den Anfang. Der Hamburger Gymnasial-Professor Johannes Schröder schrieb 1913 – angeregt durch den Göttinger Mathematiker Felix Klein (1849-1925) – eine Studie über Mathematik an deutschen Mädchenschulen. Darin hieß es: „Früher bestand lange Zeit das Vorurteil, dass Frauen die Beanlagung für mathematisches Denken gänzlich fehle, ihre weibliche Eigenart ziehe sie mehr zu einer Beschäftigung mit literarischen, sprachlichen, historischen und ethischen Fragen als zur streng logischen Denkbetätigung, wie sie nun einmal die Mathematik von jeher erfordert. Treffend hat u.a. Klein darauf aufmerksam gemacht, wie unberechtigt und haltlos die Ansicht ist, dass Frauen die Mathematik nicht liege.“ (Schröder 1913: 89)
Neunzig Jahre später findet populärwissenschaftliche Literatur reißenden Absatz, nach der sich Mädchen ängstlich fragen müssen: Bestimmen 23
RENATE TOBIES
meine Hormone, dass ich schlecht in Mathe bin? Stereotype bedienend und angeblich auf wissenschaftlichen Erkenntnissen fußend, wird die Schlusskette gezogen: Aufgrund der Konstitution des Gehirns besitzen Mädchen ein schlechteres Raumvorstellungsvermögen, deshalb wählen sie Berufe weniger, die dies erfordern (Pease 2002: 65-199). Prüfen wir 1 nach, handelt es sich um nicht abgesicherte Aussagen, es gilt bisher als nicht nachgewiesen, dass ein gutes Raumanschauungsvermögen – wie auch immer es gemessen wird (vgl. Leopold 1997) – notwendige Vor2 aussetzung für mathematische Begabung ist (vgl. auch Pieper-Seier 1997: 109). Schon vor mehr als hundert Jahren wurde unter Mathematikern die 3 Existenz verschiedener Forschertypen diskutiert : den Philosophen unter den Mathematikern, der vom Begriff aus konstruiert, den Analytiker, der mit der Formel operiert oder den Geometer, der von der Anschauung ausgehend zu neuen Erkenntnissen gelangt – so der Mathematiker Felix Klein im Jahre 1892 (zitiert in Tobies 1987). Das begriffliche Denken wurde vor allem dem maßgeblichen Begründer der Mengenlehre Georg Cantor (1845-1918) zugeordnet. Aber auch Emmy Noether (1882-1935) sowie ihre Schüler und Schülerinnen arbeiteten später in eben dieser Richtung. Unsere Analysen im Rahmen des von der Volkswagenstiftung geförderten interdisziplinären Projekts bestätigen, dass dieses unterschiedliche mathematische Arbeiten bei den Geschlechtern gleich verteilt ist (vgl. Tobies/Görgen 2001). Auch aktuelle Abschlussarbeiten in Mathematik, die im Rahmen unseres Projekts bei einer repräsentativen Gruppe der 1998 absolvierten Personen untersucht wurden, bestätigen diese Aussage (vgl. Abele/Neunzert/Tobies 2004). Das Arbeiten in einem mathematischen Gebiet mit bestimmten mathematischen Methoden ist vor allem ein Resultat der Bildung, der Gruppenspezifik und Schulenzugehörigkeit. Geschlechterverhältnisse in der Mathematik in Verbindung mit unserem Tagungsthema „Lebensbilder“ (Biografienforschung) zu betrachten, gestattet verschiedene Blickwinkel:
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Vgl. z.B. den Verweis auf die angeblich abgesicherten Untersuchungen der Psychologie-Professorin Camilla Benbow (Pease 2002: 166) mit Bezug auf (Benbow/Stanley 1983) und das Urteil in (Beerman et al. 1992: 41), dass auch weitere Ergebnisse von Benbow nicht bestätigt werden konnten. Zu Komponenten mathematischer Begabung vgl. (Beerman et al. 1992: 15) Die Diskussionen begannen in Verbindung mit Berufungsvorgängen im Jahre 1892 und bezogen sich ausschließlich auf männliche Personen; konkrete Mathematiker wurden den einzelnen Typen zugeordnet.
GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE IN DER MATHEMATIK
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Welche Erkenntnisse offenbaren vorliegende Biografien über (große) Mathematiker und Mathematikerinnen? Wie spiegelt sich das Thema Frauen und Mathematik in den individuellen Lebensgeschichten von Mathematikern wider? Wie thematisieren Mathematikerinnen, die zur Schriftstellerin wurden, das Thema Frau und Wissenschaft? Welche Aussagen zum Geschlechterverhältnis konnten durch das neue methodische Herangehen, eine große Gruppe von Lebenswegen zu erforschen, gewonnen werden?
1. „Große“ Mathematiker/innen-Biografien Eine einzelne große Biografie über Mathematiker/innen des 19./20. Jahrhunderts zu schreiben – mit „groß“ sei gemeint, dass auch das mathematische Werk detailliert beurteilt und in die Gesamtentwicklung eingebettet wird – ist ein schwieriges Unterfangen, da die Mathematik kompliziert und dem Laien nur schwer vermittelbar ist (vgl. Hashagen 2003: 10). Somit liegen bisher erst wenige „große“ Mathematiker-Biografien 4 vor. Andere Biografien sind mehr populärwissenschaftlicher Art, geschrieben unter weitgehendem Verzicht auf die Darstellung der mathematischen Leistungen, wie die von Constance Reid (Reid 1970, 1976) über David Hilbert (1862-1943) und Richard Courant (1888-1972); oder es sind Biografien mit geringerem Umfang, in denen nur Grundtendenzen der mathematischen Leistungen gezeichnet sind, Biografien über Carl Friedrich Gauß (1777-1855), Felix Klein u.a. Leichter fällt es offensichtlich bei Personen, deren mathematisches Forschungsgebiet begrenzt war und deren Tätigkeit sich breiter in wissenschaftsorganisatorische Felder erstreckte, wie die jüngste Biografie über den Felix-Klein5 Schüler Walther Dyck (1856-1934) vermuten lässt (Hashagen 2003).
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Vgl. insbesondere die Reihe „Vita Mathematica“ des Birkhäuser-Verlags mit Biografien über Georg Cantor (1845-1918), Bernhard Riemann (18261866) u.a., bei Springer über Joseph Liouville (1809-1882), die jüngere Biografie des norwegischen Mathematikers Niles Hendrik Abel (18021829) (Stubhaug 2000). Der Autor breitet auf 800 Seiten ein beachtliches Panorama über einen Mathematiker, Wissenschaftsorganisator und Rektor der TH München aus, allerdings ohne ein Wort zum Frauenstudium, das während seiner Amtszeit begann. Die 1994 von Margot Fuchs vorgelegte Studie zum Frauenstudium an der TH München steht nicht im Literaturverzeichnis des Buches, während sonst jedes Detail gut belegt ist. Es scheint eine Frage des Blickes zu sein.
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RENATE TOBIES
Über zahlreiche bedeutende Mathematiker/innen des 19. und 20. Jahrhunderts fehlen bisher biografische Darstellungen, die über einen Nachruf hinausgehen, völlig. Einen Ersatz bildet die Herausgabe Gesammelter Mathematischer Abhandlungen, die nahezu von allen wichtigen Mathematikern und auch inzwischen von einzelnen Mathematikerinnen wie Emmy Noether (Noether 1983) und Julia Robinson (19191985) vorliegen. Die Schriftstellerin Constance Bowman Reid ist die Schwester der Mathematikerin Julia Bowman Robinson; mit Unterstützung ihrer Schwester verfasste sie die Biografien über Hilbert und Courant und auch die über ihre eigene Schwester. Sie wollte daran nicht verdienen, sondern errichtete in San Diego eine High School Foundation für einen Julia Bowman Prize. Im Jahre 1996 schrieb sie in einem Artikel: „The prize is not gender-designated. It is simply to go to the best mathematics student in the graduating class. Last year it happened that it went to a young man and this year to a young woman; and I understand from their teacher, a remarkable and dedicated woman, that the ratio of females and males in the advanced mathematics class is now 50:50.” (Reid 1996: 1492)
Die nichtmathematische und die mathematische Schwester waren sich darin einig, dass Mathematik nicht etwas nur für Männer ist. Seit den 1970er Jahren beruhte der Fokus mathematischer Frauenforschung darauf, den Biografien der Mathematikerinnen von Hypatia 6 († 415) bis Emmy Noether nachzuspüren. Die Biografien von Mathematikerinnen zu erforschen, war und ist noch immer ein berechtigtes Anliegen, da selbst die Pionierinnen nicht hinreichend bekannt sind. Zugleich sind diese Biografien geeignet, Bedingungen erfolgreicher Frauenkarrieren in verschiedenen Ländern detaillierter zu erfassen. 7 Mit den Arbeiten über Sofja Kowalewskaja (1850-1891) – die als erste Frau im 19. Jahrhundert in Mathematik promovierte (als Russin in Göttingen 1874) und als erste Frau eine ordentliche Mathematik-Professur erhielt (1884 in Stockholm zunächst befristet, ab 1889 dort eine Lebenszeitstellung) wurde nicht nur der Weg der einzelnen Frau gezeichnet, sondern es wurden die prägenden Bedingungen für eine ganze Generation russischer Frauen analysiert. Kowalewskajas Leistungen waren zu ihrer Lebzeit unter Mathematikern unumstritten, von der Pariser Akademie erhielt sie einen bedeutenden Preis. Ihr Beispiel diente deutschen 6 7
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Vgl. die biobibliografische Arbeit von (Grinstein/Campbell 1987) sowie die Übersichten (Tobies 2001a, 2001b). Vgl. hierzu vor allem (Hibner-Koblitz 1983); (Tollmien 1995) mit Verweisen auf weitere Literatur zu Kowalewskaja.
GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE IN DER MATHEMATIK
Mathematikern bereits vor 1900 als Argument, um für das Frauenstudium einzutreten. Wenn auch der Leipziger Neurologe Paul Möbius (1853-1907) „mathematische Frauen“ „entartet“ nannte und das Beschäftigen mit Mathe8 matik als „wider die Natur der Frau“ apostrophierte, so finden wir zu diesem Zeitpunkt keinen Mathematiker – wie schon das eingangs angeführte Zitat belegen sollte –, der sich dieser Argumentation angeschlossen hätte. Vielmehr argumentierten Mathematiker mit dem Beispiel Kowalewskajas und anderer Ausländerinnen. Unsere Untersuchungen lassen erkennen: Mathematiker förderten Frauen früher und vorurteilsfreier als Vertreter anderer Wissenschaften. In dem von der Frauenforschung viel zitierten Buch Die akademische Frau (Kirchhoff 1897) plädierten die befragten Mathematiker geschlossen und ohne Abstriche für das mathematische Frauenstudium, während bei allen anderen Fachvertretern auch gegnerische und skeptische Stimmen tönten. Wie energisch sich Mathematiker durchsetzen mussten, um eine Frau zur Promotion zu führen, zeigt David Hilberts Bemühen um seine Doktorandinnen (vgl. Tobies 1999). Hilbert hatte wie sein Kollege Felix Klein erkannt, dass sich die in Göttingen studierenden Frauen „ihren männlichen Konkurrenten in jeder Hinsicht als gleichwertig erwiesen“ (vgl. Kirchhoff 1897: 241). In der philosophischen Fakultät, die Mathematik und Naturwissenschaften noch mit umfasste, mussten die Mathematiker Geisteswissenschaftler überzeugen, wenn sie die Promotion einer Frau durchsetzen wollten. Hilbert bereitete sich schriftlich vor, als er 1899 die erste Frau zur Promotion führen wollte. In seinen handschriftlichen Aufzeichnungen mit der Überschrift „Ueber Frauenstudium“ können wir u.a. lesen: „Es stehen ja manche unter Ihnen, meine Herren, dem Frauenstudium nicht günstig gegenüber. Ich bitte sie aber für das Fach der Math.[ematik] von einer Betätigung dieser Abneigung abzusehen.“ (Zitiert in Tobies 1999) In einem derartigen Umfeld konnte sich auch Emmy Noether entfalten, die 1908 in Erlangen promoviert und zum Sommersemester 1915 von Klein und Hilbert nach Göttingen geholt worden war – sie sollte 9 sich habilitieren und einen „Ersatz“ für die im Kriegsdienst sich befin8
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„Man kann also sagen, dass ein mathematisches Weib wider die Natur sei, im gewissen Sinne ein Zwitter. Gelehrte und künstlerische Frauen sind Ergebnisse der Entartung. Nur durch Abweichung von der Art, durch krankhafte Veränderung, kann das Weib andere Talente, als die zur Geliebten und Mutter befähigenden, erwerben.“ (Möbius 1900: 85) Dies gelang – aufgrund der Gesetzeslage – erst beim dritten Anlauf (1915, 1917, 1919), aber noch vor der neuen Verordnung vom 21.2.1920, die bestimmte, dass die Habilitation nicht mehr an das Geschlecht der Person gebunden ist, vgl. bes. Tollmien 1990.
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RENATE TOBIES
denden Privatdozenten bilden – wie Emmy Noether selbst in einer Vita formulierte. Klein, der bereits emeritiert war, und Hilbert argumentierten in ihren Schreiben an das Ministerium mit der wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit Noethers, die – unabhängig vom Krieg – in Göttingen befruchtend wirkte und wirken sollte. Emmy Noether gilt ohne Zweifel als eine der bedeutendsten, wenn nicht gar als die bedeutendste Mathematikerin des 20. Jahrhunderts. Wenn auch seit 1970 ihre erste Biografie vorliegt (Dick 1970), so blieben viele Details ihres Wirkens lange Zeit unbekannt. Ihre Karriere ist nicht nur ein Muster für die Ausgrenzung begabter Frauen, sondern zugleich für ein Bedingungsgefüge, das es einer Frau in der Weimarer Republik erstmals ermöglichte, eine eigene anerkannte wissenschaftliche Schule aufzubauen. Es ist einerseits bezeichnend, dass dies in der Mathematik gelang, wo außer dem eigenen Kopf keine weiteren materiellen Ressourcen erforderlich waren. Andererseits möchte ich hier betonen, dass diese Aussage, sie habe eine eigene mathematische Schule begründet, nicht allen Mathematikern ohne weiteres einsichtig schien. Obgleich zeitgenössische Mathematiker bereits von der Noether-Schule sprachen und ihre Schüler/innen („Noether boys“) sich entsprechend zugehörig fühlten, verkündete ein sehr bedeutender Mathematiker auf dem Internationalen Mathematiker-Kongress 1998 in Berlin: „Emmy Noether did not have a school.“ (Interview mit Hirzebruch 1998, abgedruckt in 10 (Pier 2000: 1230). Es war für uns Anlass, detaillierter zu analysieren, was unter einer Schule und speziell der Noether-Schule zu verstehen ist. Emmy Noether war der führende Kopf einer Gruppe von Personen, verfolgte ein eigenes Forschungsprogramm, das von Schüler/innen und wissenschaftlichen Enkeln fortgeführt wurde (vgl. ausführlich Koreuber/Tobies 2002). Für Emmy Noether war Wissenschaft zugleich Berufung; damit kam sie dem Status ihrer Kollegen nahe – auch wenn sie keine ordentliche Professur besaß. Es ist bezeichnend, dass man von ihr als der Noether sprach, ihr in Göttingen jedoch auch ab 1925 den Weg ebnete, damit sie ihre Schüler/innen selbst – wie normalerweise nur ein 11 ordentlicher Professor – beim Promotionsverfahren prüfen konnte. Es ist überliefert, dass sie Frauen nicht unbedingt bevorzugte, mit dem Argument, die Männer müssten ja eine Familie ernähren. In einem Brief vom 19. März 1934, den sie aus den USA an den russischen Mathematiker P.S. Alexandroff (1896-1982) schrieb, äußerte sie sich eher distan10 Bereits ein Jahr später jedoch, nach intensiverem Beschäftigen mit dem Gegenstand, hatte er diese Aussage selbst revidiert (Hirzebruch 1999). 11 1933 wurde diese fruchtbare Entwicklung abgebrochen, da sie als Jüdin ihre Position verlor. In den USA begann sie, einen neuen SchülerinnenKreis um sich zu scharen.
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GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE IN DER MATHEMATIK 12 ziert und belustigt über den Arbeitseifer ihrer Schülerinnen. Mathematikerinnen in einer Pionierinnen-Rolle entsprachen weitgehend dem Bild der männlichen Persona – wie es Lorraine Daston gezeichnet hat (Daston 2003), ohne dass sie sich auf einen fördernden Ehepartner stützen konnten und ohne dass sie den Status des Ordinariats besaßen.
2 . Au t o b i o g r a f i e n v o n M a t h e m a t i k e r / i n n e n und Erkenntnisse für das Thema Frau/Mann und Mathematik Als Constance Reid 1964 mit ihren Arbeiten an Mathematiker-Biografien begann, fand sie im englischsprachigen Bereich nur zwei Autobiografien von Mathematikern vor, Norbert Wiener (1994-1964) Ex-Prodigy: my childhood and youth und Godfrey H. Hardy (1877-1947) A Mathematician’s Apology. Während darin das Thema Frauenstudium keine Rolle spielte, legte der Mathematiker Gerhard Kowalewski (1876-1950) in seinen 1950 in München erschienenen Lebenserinnerungen großes Gewicht darauf, seinen eigenen Anteil an der Förderung von Mathematikerinnen hervorzuheben. Kowalewski hatte in den ersten 40 Jahren des 20. Jahrhunderts die meisten Frauen in Deutschland zu einer mathematischen Dissertation angeregt. Er beschrieb das unterschiedliche Klima für das Frauenstudium an deutschen Universitäten und erwähnte seine mathematischen Schülerinnen in Bonn, Dresden und Prag gar häufiger als seine Schüler (Kowalewski 1950). Auch der Mathematiker Felix Klein verwies in einem autobiografischen Aufsatz auf seine eigenen Leistungen beim Fördern von Frauen (Klein 1923). Lothar Heffter (1862-1962) betonte seine Heirat mit einer promovierten Mathematikerin (Heffter 1952). Unter den promovierten Mathematikerinnen finden wir anerkannte Schriftstellerinnen. Dabei möchte ich nicht nur auf Helga Königsdorf verweisen, die Mathematik-Professorin in Berlin war, selbst eigene Schülerinnen hat und in ihren Erzählungen das mathematische Forschungsfeld, einschließlich forschende Mathematiker/innen, scharf und brillant zeichnet(e) (vgl. u.a. Königsdorf 1990). Auch unter den historischen Mathematikerinnen ragen einige schriftstellerisch heraus. Dazu gehören Kowalewskajas Werke Kindheitserinnerungen, die Nihilistin
12 „Meine drei girls, zu denen noch ein Dozent kommt, sind mit Begeisterung bei der Lektüre von v.d. Waerden I; eine Begeisterung, die bis zur Bearbeitung sämtlicher Übungsaufgaben geht, eine echt weibliche Sache die mich einigermaßen erschreckt.“ (Tobies 2003: 105)
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RENATE TOBIES 13 u.a. Kowalewskaja thematisierte in einem Brief an die russische Schriftstellerin A. S. Schabelskaja den engen Bezug von Kreativität in der Literatur und in der Mathematik:
„Ich verstehe, dass es Sie so verwundert, dass ich mich gleichzeitig mit Literatur und Mathematik beschäftigen kann. Viele, denen sich niemals die Gelegenheit bot, mehr von der Mathematik kennenzulernen, verwechseln sie mit Rechnen und halten sie für eine trockene und fruchtlose Wissenschaft. Im Grunde genommen aber ist sie eine Wissenschaft, die vor allem Phantasie er14 fordert und einer der ersten Mathematiker unseres Jahrhunderts sagt völlig zu Recht, dass man kein Mathematiker sein kann, ohne nicht gleichzeitig in der Seele auch ein Poet zu sein. […] Was mich betrifft, so konnte ich mich mein ganzes Leben lang nicht entscheiden: wofür empfinde ich größere Neigung – für die Mathematik oder für die Literatur?“ (zitiert nach Tollmien 1995: 166f.).
Der erwähnte Mathematiker Gerhard Kowalewski hatte in seiner Autobiografie über eine seiner Schülerinnen geschrieben, die Schriftstellerin wurde: „Die später so berühmt gewordene Romanschriftstellerin Marie Vaerting, deren erster Roman ‚Haßkamps Anna‘ aus ihrer Bonner Studentenzeit stammt, war auch meine Schülerin, ebenso ihre Schwester Mathilde, die später eine Professur für Pädagogik an der Universität Jena bekleidete und durch große pädagogische Werke stark hervortrat. Marie Vaerting sorgte in bewunderungswürdiger Weise für ihre Geschwister, unter denen sich auch ein Bruder 15 befand, der Jura studierte. Die Eltern waren beide gestorben und Marie Vaerting war das Oberhaupt der Familie. […] Daneben arbeitete sie in Bonn unter meiner Leitung an einer Doktordissertation über ein recht schwieriges Thema. Es kam aber nicht dazu, dass sie bei mir promovierte, da ich nach Prag berufen wurde. Sie zog dann mit allen Geschwistern nach Gießen, wo ihre Arbeit von Professor Pasch angenommen wurde, so dass sie dort ihren Doktor 16 machen konnte.“ (Kowalewski 1950: 206f.) 13 Vgl. die detaillierten Quellenangaben zu Kowalewskajas Werken bei Tollmien (1995). 14 Sie bezog sich damit auf ihren Doktorvater, den Berliner Mathematikprofessor Karl Weierstraß (1815-1897), über den bisher keine „große“ Biografie existiert. 15 Nach Auskunft von Maria Kottebernds, Messingen, vom 30.6.1996 waren es zehn Geschwister, acht Mädchen und zwei Knaben (4. u. 6. Stelle); Marie war das 3., Mathilde das 5. Kind. 16 Sie erwarb den Titel mit der Dissertation „Zur Transformation der vielfachen Integrale“ und mit gut bestandenem Rigorosum in Mathematik, Physik und Philosophie unter Moritz Pasch (1843-1930), der im Gutachten zur Dissertation die Anregung durch Kowalewski hervorhob.
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GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE IN DER MATHEMATIK
Die 1910 in Gießen promovierte Mathematikerin Marie Vaerting (18801964) thematisierte in ihrem ersten Roman „Haßkamps Anna“ die komplizierten Bedingungen einer aus katholischem Milieu stammenden studierenden Frau und die einflussreiche Rolle des Doktorvaters. Weibliche Rollenvorbilder fehlten. Mit ihrem Motto „Aller Männerkultur, allen Weiberkörpern und Balletts zum Trotz!“ (Vaerting 1912: 172) drückte sie das Bildungsstreben der Pionierinnen-Generation in Deutschland aus, die dem Stereotyp widersprechend Mathematik und Naturwissenschaften studierten und in diesen Fächern promovierten (vgl. auch Costas/ Roß/Suchi 2000). Wie unsere Analysen dokumentieren, lag der Anteil von Mathematikstudentinnen lange Zeit über dem Anteil von Studentinnen insgesamt; d.h. Mathematik war – entgegen jedem Stereotyp – ein sehr beliebtes Studienfach für Frauen (vgl. Abele/Neunzert/Tobies 2004: Kap.2). Während Marie Vaerting die fördernde Rolle des Doktorvaters in ihrem autobiografischen Roman pries, hatte die frühe MathematikProfessorin Helene Braun (1914-1986) diese Rolle von Mathematik-Professoren so verinnerlicht, dass sie an keine Benachteiligung von Frauen glaubte. In ihrer Autobiografie schrieb sie, nie benachteiligt worden zu sein: „Immer wieder habe ich gesagt, dass die Mathematiker von jedem Frauenzimmer begeistert sind, das ein hübsches Integralzeichen an die Tafel schreiben kann. Jedenfalls ist das meine langjährige Erfahrung.“ (Braun 1990: 72)
Diese Aussage ist verschiedentlich kritisiert worden, und wir sollten bedenken, dass die Unterstützung in der Regel nur soweit ging, bis die Frau selbst eine Konkurrenz für einen Lehrstuhl wurde. Die Analyse der vorliegenden einzelnen Biografien und Autobiografien von Mathematiker/innen kann dazu beitragen, das Geschlechterverhältnis in der Mathematik zu erfassen. Das Bild bleibt jedoch bruchstückhaft. Um begründete Aussagen treffen zu können, ist es erforderlich, repräsentative Stichproben von Lebenswegen zu analysieren. Diese Analyse wurde im eingangs bezeichneten, von der Volkswagenstiftung geförderten Projekt durchgeführt. Die Hauptergebnisse sollen im folgenden Abschnitt vorgestellt werden.
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RENATE TOBIES
3. Berufswege von Mathematikerinnen und Mathematikern im Vergleich Im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsprojekts (Mathematik, Mathematikgeschichte und Sozialpsychologie), das in Kaiserslautern (FB Mathematik der Universität und Fraunhoferinstitut für Techno- und Wirtschaftsmathematik) und Erlangen (Institut für Sozialpsychologie) durchgeführt wurde, erforschten wir die Berufswege einer sehr großen Zahl von Mathematiker/innen, die in den ersten Jahrzehnten bzw. gegen Ende des 20. Jahrhunderts ein Mathematikstudium erfolgreich abschlossen. Die Analyse der Berufslaufbahn von Personen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts graduierten, fußte auf einem historischen Forschungsansatz, d.h. auf der Analyse personenbezogener Quellen. Dabei wurden zwei repräsentative Stichproben von Personen untersucht: 1) 3040 Personen (15,2% weiblich), die von 1902 bis 1940 ein Staatsexamen bzw. eine Oberlehrer/innen-Prüfung im Hauptfach Mathematik erfolgreich ablegten (das sind ca. 38% der Gesamtzahl); 2) reichlich 1400 Personen (8,5% weiblich), die von WS 1907/08 bis WS 1944/45 in Mathematik promovierten (das sind nahezu 100% der Gesamtzahl). Die Stichproben umfassen Personen, die ein Mathematikstudium erfolgreich absolvierten. Stichprobe 1 beruht auf einem neuen Aktenfund: Personalblätter preußischer Lehrerinnen und Lehrer. Damit konnten personenbezogene Daten zu Herkunft (Vaterberuf, Konfession), Schulbildung, Studienverlauf, Studienabschluss, Art der Prüfungen, Promotion, Berufsverlauf, Heirat, Kinder erfasst werden. Stichprobe 2 basiert auf den Promotionsakten und weiteren Quellen. Unsere Erlanger Kooperationspartnerinnen befragten eine repräsentative Anzahl von Personen mit Mathematik-Abschluss am Ende des 20. Jahrhunderts, so dass wir nach konstanten und variablen Größen über 17 einen größeren historischen Zeitraum schauen konnten. Welche Erkenntnisse bringen uns diese gruppenbiografischen Forschungen für das Thema Frau/Mann und Mathematik? Das Überraschende an unseren Untersuchungsergebnissen ist, dass wir viele Klischees widerlegen konnten und dass es zwischen Mathematikerinnen und Mathematikern, die ein Studium erfolgreich bewältigten, viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt.
17 Die Resultate sind zusammenfassend präsentiert in (Abele/Neunzert/Tobies 2004).
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Ein Vorurteil lautet, Frauen seien weniger leistungsfähig in der Mathematik als Männer. Wir fanden heraus: Frauen und Männer unterschieden sich in ihren Leistungen beim Studienabschluss nicht. Wenn sie die gleichen Möglichkeiten wie Männer hatten, erbrachten sie – durchschnittlich gesehen – die gleichen Leistungen. Das betraf sowohl die Noten im Lehramts-Staatsexamen als auch bei der Promotion. Die mathematischen Dissertationen von Frauen und Männern erschienen im Zeitraum von 1907 bis 1945 zu gleichen Anteilen in mathematischen Zeitschriften (was ein besonders hohes Maß für Qualität darstellte). Es gibt bisher keine entsprechende Untersuchung für andere Disziplinen. Diskussionen in der Soziologie lassen vermuten, dass mathematische 18 Leistung eher objektiv bewertbar ist, im Vergleich mit Leistungen in geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Die Soziologin Bettina Heintz diskutiert in einer jüngeren Arbeit, dass in Disziplinen mit hohem kognitiven Konsens, was bei der Mathematik zutrifft, die Wahrscheinlichkeit größer sei, dass wissenschaftliche Beiträge nach ihrem Gehalt und nicht nach den sozialen Merkmalen der Autoren und Autorinnen beurteilt werden (Heintz 2003: 225). Eine weitere Ansicht gegenwärtig ist: Wenn Frauen sich für Mathematik interessieren, dann wählen sie in erster Linie einen Lehramtsstudiengang. Sie stehen anderen mathematischen Tätigkeitsfeldern eher abgeneigt gegenüber. Dazu müssen wir zunächst wissen: Der traditionelle und lange Zeit auch für Männer dominante Berufsweg nach einem Mathematikstudium bestand in einer Lehrtätigkeit an höheren Schulen. Noch um 1930 strebten 90% aller Mathematikstudierenden in diesen Beruf. Auch für die in Mathematik promovierten Personen war vor 1945 dieser Beruf der dominante Weg. Dies beruhte auf den Berufschancen, die sich erst in den 1930er Jahren erweiterten (vgl. dazu Abele/Neunzert/Tobies 2004: 55ff., 95ff.). Heute wählen mehr Frauen als Männer den Lehramts-Weg in die Mathematik; im Studienjahr 1999/2000 betrug der Frauenanteil unter den Erstsemestern im Lehramtstudiengang Mathematik mehr als zwei Drittel (68%). Der Lehrberuf entwickelte sich inzwischen zu einem dominanten Frauenberuf. Der Diplomstudiengang Mathematik hat eine kürzere Geschichte. Während es vor 1945 nur sehr wenige Diplommathematiker gab (darunter aber auch Frauen mit herausragenden Karrieren), entwickelte sich dieser Studiengang inzwischen zu einem sehr florierenden Zweig, seit 18 Vgl. zum Thema Objektivität in der Wissenschaft und zur Entwicklung des Begriffs wissenschaftliche Objektivität vor allem (Daston 2002) auch (Fox-Keller 1986) und (Heintz 2003).
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den 1970er Jahren auch mit Studiengängen für Wirtschafts- und Technomathematik. Gegenwärtig liegt der Frauenanteil in mathematischen Diplomstudiengängen bei über 40%. Wie unsere Untersuchungen zeigen, war der Zugang zu den verschiedenen Tätigkeitsfeldern geschlechtsunabhängig. Auch die Einstiegsgehälter unterschieden sich nicht. Wir können also sagen: Frauen bevorzugen zwar das MathematikLehramt, aber im Diplomstudiengang sind sie inzwischen ebenfalls stark vertreten, und ihre Berufsfelder unterscheiden sich nicht von denen ihrer Kollegen. Auch die folgende Aussage ist ein nicht bestätigtes Vorurteil: Frauen interessieren sich weniger für wissenschaftliches Arbeiten und wissenschaftliche Berufsfelder in der Mathematik. Sowohl bei unserer historischen Analyse als auch bei den aktuellen Befragungen konnten wir feststellen, dass Frauen, die ein Studium erfolgreich abgeschlossen hatten, zu nahezu den gleichen Anteilen wie Männer in Mathematik promovierten bzw. beabsichtigen, dies zu tun. Mehr als 20% der Frauen und der Männer, die ein Staatsexamen im Hauptfach Mathematik ablegten, erwarben einen Doktortitel. Das konnte in unterschiedlichen Fächern sein. Wenn dabei der Frauenanteil an den Mathematikpromotionen mit 8,5% vor 1945 noch relativ gering war, so sei betont, dass die ersten Promotionen und auch Habilitationen von Frauen deutschlandweit bevorzugt in Mathematik, Naturwissenschaften und Medizin und weniger in Geisteswissenschaften erfolgten, wie auch eine jüngere soziologische 19 Studie belegt. Wenn auch die meisten promovierten Mathematikerinnen im höheren Schuldienst tätig waren bzw. mit der Heirat die Karriere endete, so gab es doch auch Frauen mit weiteren Karrieren in der Wissenschaft. Meist ist nur Emmy Noether bekannt; bis 1945 habilitierten sich in Deutschland sechs Frauen in Mathematik. Dabei bestätigt das Spektrum der Habilitationsgebiete, dass Frauen nicht auf ein spezielles Gebiet festgelegt waren: Emmy Noether in Algebra, Ruth Moufang (19051977) in Geometrie, Hel(ene) Braun in Zahlentheorie, Maria-Pia Geppert (1907-1997) in Biostatistik, Erna Weber (1897-1988) in mathematischer Statistik und die österreichische Mathematikerin Hilda Geiringer (1893-1973) in angewandter Mathematik. Emmy Noether war die einzige, die vor 1945 in Deutschland einen Professorentitel an einem mathe19 Ilse Costas und Bettina Roß, Göttingen (2002), analysierten im Rahmen eines von der DFG geförderten Projekts die Fächerwahlen und Karrieren der ersten Hörerinnen und Studentinnen an deutschen Universitäten: http://www.data-quest.de/pionierinnen/doku/DokuPionierinnen.pdf
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matischen Institut erhielt (nichtbeamtete außerordentliche Professur 1922 in Göttingen); die anderen konnten nach 1945 bis zur ordentlichen Professur in Deutschland aufsteigen, bzw. Hilda Geiringer in der Türkei und den USA. Drei weitere vor 1945 promovierte Mathematikerinnen erhielten nach 1945 ohne Habilitation eine Professur: Irmgard FlüggeLotz (1903-1974) in den USA sowie Margarethe Hermann (1901-1984) und Ruth Proksch (1914-1998) an Pädagogischen Hochschulen in Deutschland. Es waren zunächst wenige, aber ihr Beispiel zeigt, dass Frauen an einer wissenschaftlichen Laufbahn in der Mathematik interessiert und auch dafür befähigt sind. Eine weitere Ansicht lautet: Mathematikerinnen sind – durchschnittlich gesehen – (und trotz gleicher Leistungen) beruflich weniger erfolgreich als Mathematiker. Für die Wege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist diese Aussage sofort einsichtig. Frauen mit Staatsexamen im Hauptfach Mathematik, deren Weg in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in den höheren Schuldienst führte, erreichten zwar noch die Eingangsprüfung zu gleichen Anteilen wie die Männer (je 85%) und wurden Studienassessorinnen; eine signifikant geringere Zahl gelangte jedoch in eine verbeamtete Position (als Studienrätin). Für 36% dieser Frauen endete der Berufsweg auf der Stufe der Studienassessorin, während nur 16% der Männer nicht weiter kamen (vgl. hierzu auch Tobies 2002). Eine feste Position im höheren Schuldienst erhielten 59% der Frauen, aber 72% der Männer. Frauen wurden seltener mit leitenden Funktionen betraut. Aufgrund der damals nahezu unmöglichen Vereinbarkeit von Beruf und Familie können wir jedoch kaum von einem freiwilligen Aufstiegsverzicht der Frauen ausgehen. Mathematikerinnen wurden zwar seit den Jahren des Ersten Weltkrieges als wissenschaftliche Assistentinnen angestellt; dies war für sie jedoch weniger als für Männer ein Ausgangspunkt für eine weitere wissenschaftliche Karriere. Zwar konnten sie promovieren, aber ein weiterer Aufstieg zur ordentlichen Professorin war vor 1945 eine Ausnahme, an Sonderbedingungen geknüpft, nicht in allen deutschen Ländern möglich. Es gab deutschlandweit bis 1945 nur zwei ordentliche Professorinnen: Margarete Wrangel (1876-1932), die 1923 als erste Ordinaria für Pflanzenphysiologie in Stuttgart-Hohenheim (Württemberg) ernannt wurde, und die bereits von Gerhard Kowalewski erwähnte Mathilde Vaerting (1884-1977). Vaertings Biografie ist von Soziologinnen und Bildungshistorikern vielfach analysiert worden, jedoch ohne ihren mathematischen Hintergrund zu beleuchten (vgl. u.a. Wobbe 1995; Kraul 1999). Mathilde Vaerting hatte das Staatsexamen für das höhere Lehramt in Mathematik, Physik und philosophischer Propädeutik abgelegt, in 35
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Psychologie promoviert und war 1923 auf eine Pädagogik-Professur an der Universität Jena (Thüringen) berufen worden, ohne habilitiert zu 20 sein. Bis zu ihrer Berufung hatte sie als Studienrätin in Berlin ausschließlich Rechnen und Mathematik unterrichtet. Sie förderte Mädchen in mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern und verfasste international beachtete Schriften zum Mathematikunterricht. Darin propagierte sie eine Problem lösende Methode, die heute im Zuge der PISA-StudienErkenntnisse zu Ehren gelangt (vgl. Abele/Neunzert/Tobies 2004: 28ff.). Mathematikerinnen konnten ansonsten nur dann einen wissenschaftlichen Weg einschlagen, wenn sie finanziell unabhängig waren. Sie erhielten vor 1945 selten eine angemessen bezahlte Position. Emmy Noether, obgleich sie seit 1922 einen Professorentitel hatte, lebte nur vom Geld eines Lehrauftrags und einer Erbschaft. Auch aktuell schreiten Mathematiker schneller in der Karriere voran – wie unsere Erlanger Kooperationspartnerinnen herausfanden. Zwar sind heute mehr Mathematikerinnen in exzellenten Positionen und liefern auf ihren jeweiligen Feldern hervorragende Arbeit, doch insgesamt gilt: Es sind etwas mehr Mathematikerinnen als Mathematiker ohne Arbeit; sie verdienen bereits nach drei Jahren Berufstätigkeit – durchschnittlich gesehen – in einigen Berufssparten weniger und sind seltener als ihre männlichen Kollegen in Spitzenpositionen zu finden. Unsere Analysen, die historische wie die aktuelle Berufslaufbahnforschung in der Mathematik, belegen also einen sogenannten Schereneffekt beim Karriereweg von Frauen und Männern. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts klaffte die Schere direkt nach der Einstiegsphase massiv auseinander. Dies ist durch die Gesetzeslage leicht erklärt. Die Frauen hatten zwischen Beruf und Familie zu entscheiden. Einerseits galt bis 1919 das Beamtinnen-Zölibat; auch in der Folgezeit wurden Paragrafen erlassen, die die Entlassung der verheirateten Frau ermöglichten. Andererseits bestand die öffentliche Meinung, dass eine studierte Frau nicht auch noch heiraten solle. Marie Vaerting ließ in ihrem autobiografischen Roman einen Dialekt sprechenden Mann sagen: „Mag eine weibliche Person der Neuzeit entsprechend studieren wie eine männliche, aber auch noch wie eine männliche zu heiraten ist und bleibt bei einer weiblichen verdammenswert.“ (Vaerting 1912: 119)
Dementsprechend blieben die berufstätigen Mathematikerinnen bis auf wenige Ausnahmen unverheiratet und ohne Kinder. Marie Torhorst, die 20 Zu ihrer an der Berliner Universität abgelehnten Habilitation vgl. (Tobies 1997)
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es als promovierte Mathematikerin bis zur Volksbildungsministerin in Thüringen bringen sollte – auch eine Autobiografie schrieb (Torhorst 1986) –, verzichtete auf eine Ehe, da sie keinen Mann finden konnte, der ihr berufliches und politisches Engagement akzeptiert hätte. Für mehr als 20% der bis 1945 promovierten Mathematikerinnen endete der Berufsweg mit der Eheschließung. Sie hatten größtenteils selbst das vielfach vorgebrachte Argument verinnerlicht, dass es „dem nachwachsenden Geschlecht schaden könne“, wenn die Frau berufstätig ist, so die promovierte Mathematikerin Ingeborg Seynsche (1905-1994), die den theoretischen Physiker Friedrich Hund heiratete (vgl. Hentschel/Tobies 1996). Für das gegenwärtige allmähliche Auseinander-Entwickeln der Berufswege von Mathematikerinnen und Mathematikern gibt es eine Vielzahl kleinerer Gründe: Dazu gehört erstens, dass die historische Alternative „Karriere oder Familie“ auch heute noch – modifiziert – relevant ist. Mathematikerinnen, insbesondere Promovierte, haben im Alter zwischen 35 und 39 Jahren seltener Kinder als die entsprechende Bevölkerungsgruppe allgemein, d.h. offensichtlich entschieden/entscheiden sie bewusst, Beruf und Familie nicht verbinden zu wollen bzw. konnten dies nicht. Dazu gehört zweitens, dass Frauen (wie die repräsentative Befragung der Mathematikerinnen und Mathematiker des Jahrgangs 1998 ergab) etwas weniger Karriere orientiert sind als die Männer. Akademikerinnen allgemein sind – durchschnittlich gesehen – mehr an einer sogenannten „sanften“ Karriere interessiert, bei der Beruf und Familie integriert werden können; deshalb auch die bevorzugte Wahl des Mathematik-Lehramts (vgl. Abele et al. 1994). Dazu gehört drittens das bei Mathematik-Lehrerinnen und bei promovierten Mathematikerinnen geringer ausgeprägte berufliche Selbstvertrauen – trotz gleicher Leistungen. Unsere Studien zeigen, dass hohes berufliches Selbstvertrauen sowie eine ausgesprochene Karriereorientierung mit beruflichem Erfolg korrelieren (vgl. detailliert Abele/Neunzert/ Tobies 2004). Diese und weitere Gründe für den Schereneffekt sind nicht mathematikspezifisch, sondern gelten auch bei anderen Studienfächern. Hier etwas zu verändern, bedarf gewiss längerfristiger Prozesse, denn Deutschland besitzt im Allgemeinen und im internationalen Vergleich immer noch ein sehr konservatives Rollenbild der Frau.
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„Das Leben muss nicht leicht sein…“ Kollektivbiographische Einsichten über Geschlechterverhältnisse in der Radioaktivitätsforschung BEATE CERANSKI
Hoch in ihren Achtzigern stehend, formulierte die Physikerin Lise Meitner nach einem ereignis- und erfolgreichen Leben als Quintessenz, dass ein Leben nicht leicht sein müsse, wenn es denn nur reich sei. Ihr Leben, so Meitner, sei in der Tat nicht leicht, aber reich gewesen (Meitner 1964). Steht diese Einschätzung der alt gewordenen österreichischen Physikerin für viele Naturwissenschaftlerinnen? Was bedeutete es für die Arbeits- und Lebensgestaltung, als Frau in den Naturwissenschaften im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts tätig zu sein? Worauf stützten und woran maßen sich Identität, Lebensgefühl und Selbstwertgefühl jener Frauen? Welche Rolle spielten die einschneidenden politischen Entwicklungen ihrer Zeit für ihre Biographien? Für meinen Blick auf Lebensverläufe und Lebens(re)konstruktionen von Frauen in den Naturwissenschaften betrachte ich in diesem Beitrag Frauen, die etwa im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in der Radioaktivitätsforschung tätig waren. Zeitlich bewege ich mich damit in der Epoche jener ‚Pionierinnen‘, die jeweils als erste an die Universitäten kamen oder bestimmte Stufen der akademischen Karriereleiter erklimmen konnten; die Frage nach der Durchsetzung dieser Möglichkeiten steht allerdings nicht im Zentrum meines Interesses. Die Radioaktivitätsforschung war zu jener Zeit ein im doppelten Sinne junges, stark international geprägtes Forschungsgebiet im Grenzbereich zwischen Physik und Chemie. Sowohl seine äußerst prominent gewordenen Vertreterinnen, allen voran Marie Curie, als auch der auffallend hohe Anteil von Frauen unter den ‚normalen‘ Wissenschaftlern machen die Radioak43
BEATE CERANSKI
tivitätsforschung für die Frage nach Biographieverläufen und Biographiekonstruktionen unter der Geschlechterperspektive außerordentlich spannend und ertragreich (zuletzt Rentetzi 2003). Ich gehe in meinem Beitrag kollektivbiographisch und vergleichend vor und verfolge die verschiedenen Fragestellungen anhand einer Gruppe von sechs Wissenschaftlerinnen aus verschiedenen Ländern und einer Zeitspanne von etwa einer Generation. Die dabei gewonnenen, zwangsläufig nur ausschnitthaften Einsichten werden durch Teilergebnisse aus 1 meinem Projekt zur Geschichte der Radioaktivitätsforschung gestützt. Nach einem kurzen Blick auf einige Lebensläufe geht es in einem ersten Teil dieses Beitrags um Arbeitsbedingungen und Arbeitsinhalte 2 von ‚Radioaktivistinnen‘, im zweiten Teil um ihre Identität und Selbstwahrnehmung. Reflexionen über die Funktion und Funktionalisierung biographischer Rekonstruktion beschließen diesen Einblick in das Verhältnis von Biographie und Geschlecht in der Naturwissenschaftsgeschichte.
Prolog: Einige Lebensläufe Die folgende Tabelle fasst die Basisinformationen über insgesamt sechs Frauen zusammen, die im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts an ver3 schiedenen Orten in der Radioaktivitätsforschung tätig waren. Die Palette reicht von einer ‚Kurzzeit-Radioaktivistin‘ wie Szmidt-Tschernitschwa, die zwei Gastjahre in Paris bzw. Manchester verbrachte und später in Russland ganz andere Gebiete erforschte, über Harriet Brooks, 1
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Meine Habilitationsschrift mit dem Titel „Die Arbeit mit dem Radium. Radioaktivitätsforschung 1896-1914“ enthält unter anderem eine datenbankgestützte prosopographische Analyse der Radioaktivitätsforschung im deutschsprachigen Bereich, auf die ich mich immer wieder beziehe. Diesen Begriff gebrauche ich in Anlehnung an zeitgenössische Praxis und an Hughes 1993 für die Frauen bzw. Männer, die in der Erforschung der Radioaktivität aktiv waren. Die hier näher betrachteten Biographien wurden so ausgewählt, dass sie eine möglichst breite internationale Vielfalt von Karriere- und Lebensverläufen erfassen und gleichzeitig zentrale Wissenschaftlerinnen der Radioaktivitätsforschung vertreten. Ausführliche Lebensläufe sind hier aus Platzgründen leider nicht möglich, dafür sei auf folgende Werke verwiesen: Quinn 1995 für Curie; Sime 1996 für Meitner; Rayner-Canham 1992 für Brooks. Der Sammelband Rayner-Canham 1997, aus dem die letztgenannten drei Aufsätze stammen, enthält Beiträge zu allen Genannten und darüber hinaus zu einer ganzen Reihe weiterer Radioaktivistinnen. Problematisch ist seine hagiographische Tendenz; die Fülle von Informationen über die verschiedensten Frauen ist aber immens und immens verdienstvoll.
GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE IN DER RADIOAKTIVITÄTSFORSCHUNG
eine der ersten und begabtesten Studentinnen des Physikers Ernest Rutherford, bis zu Lise Meitner und Ellen Gleditsch, die beide in ihrem langen Leben vielfältige wissenschaftliche und kulturelle Tätigkeiten ausübten. Die starke Präsenz von Osteuropäerinnen in meiner Beispielgruppe ist repräsentativ für die Pionierzeit der Frauen an den Universitäten. Name
Lebensdaten aktiv in RA
Land
Arbeitsorte
Arbeitspartner/-innen
Stichworte zur Biographie
Curie, Marie
1867-1934 1898-1934
Polen/ Frankreich
nur Paris
P. Curie, A. Debierne, E. Gleditsch, Mitarbeiter/ -innen
zwei Nobelpreise, Professorin an der Sorbonne, seit 1906 verwitwet, zwei Töchter
Brooks, Harriet
1876-1933 1900-1907
Kanada
Montreal Cambridge Paris
E. Rutherford, J.J.Thomson, M. Curie et al.
erste Schülerin Rutherfords, heiratet ehemaligen Mitstudenten, drei Kinder, kompletter Ausstieg aus Physik
Meitner, Lise
1878-1968 1906-1950er
Österreich/ Wien, Berlin O. Hahn, später 1938 Emigration; Deutsch(Stockholm) viele Mitarbei- erste Deutung der land ter/innen Kernspaltung, ledig
Gleditsch, Ellen
1879-1968 1907-1940er
Norwegen
Paris, Yale, Oslo
M. Curie, B. Boltwood und viele Kolleg/innen
Professorin in Oslo, nach 1945 kulturpolit. Engagement (u.a. UNESCO), ledig
Horovitz, 1887-1940er Stefanie 1913-1916
Polen/ Österreich
nur Wien
Otto Hönigschmid
im Warschauer Ghetto umgekommen
Szmidt- 1889-1940 Tscherni- 1911, 1913/14 tschewa, (1916-1930er) Jadwiga
Polen/ Russland
Paris, Manchester (Leningrad)
M. Curie, E. Rutherford (A. Tschernitschew)
arbeitete später (u.a. mit ihrem Mann) zu anderen Themen, wohl mit ihrem Mann unter Stalin umgekommen
1 . Ar b e i t s b e d i n g u n g e n u n d Ar b e i t s i n h a l t e von Frauen in der Radioaktvitätsforschung Die Frage nach den konkreten Arbeitsbedingungen und Arbeitsinhalten der Radioaktivistinnen dient längst nicht nur der Information über ihre Lebensverhältnisse. Denn zu den Erträgen wissenschaftshistorischer Geschlechterforschung der letzten Dezennien gehört die Einsicht, dass ne45
BEATE CERANSKI
ben und nach dem institutionellen Ausschluss von Frauen aus den Wissenschaften die subtileren Mechanismen einer impliziten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung oder Arbeits(platz)gestaltung Geschlechterdifferenz perpetuier(t)en und stabilisier(t)en. Dies kann etwa die Verteilung von Frauen und Männern über die Teilgebiete einer Disziplin betreffen, wie es Renate Tobies in ihrem Beitrag zu diesem Band für die Mathematik gezeigt hat. Oft waren es auch die (weiblichen) Konnotationen einer bestimmten Tätigkeit, die die Frauen für bestimmte Arbeiten ‚prädestinierten‘ (Rossiter 1982: Kap. 3 u. passim). Sehr oft entpuppten sich solche Tätigkeiten und Teilgebiete als implizit hierarchisch gegliedert, so dass aus einer zunächst ausschließlich ‚horizontalen‘, vermeintlich ‚neutralen‘ Segregation ‚vertikale‘, hierarchische Geschlechterverteilungen erwuchsen. Wie also sah die Aufgaben- und Themenverteilung in der Radioaktivitätsforschung aus?
1.1 Frauenarbeit? Die Arbeitsinhalte der Radioaktivistinnen Die Frage, ob die Forschungsthemen in der Radioaktivitätsforschung im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts geschlechtsspezifisch verteilt waren, ist einfach und eindeutig zu beantworten: nein. Frauen forschten zwar durchaus an Themen, die langdauernde, hochpräzise, immer wieder zu wiederholende, mühsame Arbeitsprozeduren involvierten, also als weibliche Tätigkeiten zu konnotieren wären. Zu nennen sind in der Radioaktivitätsforschung zunächst alle Tätigkeiten, die mit der Herstellung der radioaktiven Substanzen in möglichst reiner Form und möglichst großen Mengen einhergingen. Sie erforderten die schier endlose Wiederholung immer derselben Operation von Lösung und Auskristallisation der radiumhaltigen Salze. Marie Curie hatte diesen Prozess der sogenannten fraktionierten Kristallisation aus einem anderen chemischen Teilgebiet in die Radioaktivitätsforschung importiert. Mit ihrem Namen ist die Radiumdarstellung, für die sie 1911 den Nobelpreis erhielt, in der Tradition fest verbunden. Auch andere zentrale Fragestellungen erforderten ähnlich langwierige Prozeduren, etwa die Frage nach der Lebensdauer des Radiums – ein wichtiges Thema von Gleditsch – oder Atomgewichtsbestimmungen. An letzterem arbeitete Stefanie Horovitz, eine gebürtige Polin, deren Familie in ihrer Kindheit nach Wien emigriert war. Ab 1913 untersuchte sie als Partnerin von Otto Hönigschmid das Atomgewicht verschiedener Bleisorten, eine der spannendsten Aufgaben in dieser Zeit, weil sie die ersten Beweise erbrachte, dass das Konzept der Isotopie richtig war. Hönigschmid hatte zuvor ein Jahr in Amerika bei Theodore Richards, 46
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dem ‚Papst‘ der Atomgewichtsbestimmung, verbracht. Horovitz war demnach klar die Juniorpartnerin in dieser Arbeitsbeziehung, die vermutlich durch den gemeinsamen Doktorvater gestiftet worden war. Auch Männer waren also an den beschriebenen langwierigen mühsamen Prozeduren beteiligt. Es gibt viele Beispiele für ebenbürtige Arbeitspartnerschaften. Umgekehrt studierte etwa Lise Meitner über Jahre das Energiespektrum der Betastrahlen und damit einen zentralen, auch das theoretische Verständnis der Radioaktivität betreffenden Themenkomplex. In den 20er Jahren entwickelte sie eigene Hypothesen zum Verständnis der Beziehung zwischen Beta- und Gammastrahlen und verfolgte diese mit ihren Mitarbeiter/inne/n. Ihre Tätigkeit weist also typische ‚männliche‘ Züge auf: Untersuchung fundamentaler Eigenschaften der Materie, eigene Theorie, und, nicht zuletzt, Ausfechten einer wissenschaftlichen Kontroverse. Brooks und Szmidt verfolgten Fragestellungen im Rahmen der Forschungsprogramme ihrer Labors und Mentor/inn/en, wählten ihre The4 men also nicht selbst. Eine bevorzugte Zuweisung weiblich konnotierbarer Tätigkeitstypen ist aber auch hier nicht erkennbar. Der systematische prosopographische Blick über die hier betrachteten sechs Frauen 5 hinaus stützt diesen Befund. Aus einer Perspektive mit emanzipatorischen Sympathien ist dieser Befund soweit ausgesprochen erfreulich. Einen Wermutstropfen hat er aber doch. Denn so wenig sich eine geschlechtersegregierte Arbeitsverteilung in der Radioaktivitätsforschung nachweisen lässt, so sehr feierten Geschlechterstereotype in der historiographischen Rezeption der Marie 6 Curie fröhliche Urstände. Erst seit kurzem hat die Historiographie hier neue Zugänge gefunden (vgl. Boudia 2001 und Boudia/Roqué 1997).
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Etwas problematisch ist darum die Tendenz in Rayner-Canham 1992, Brooks eine zentrale Bedeutung in der Geschichte der frühen Radioaktivitätsforschung zuzusprechen. Im Rahmen meines Habilitationsprojektes habe ich sämtliche Forschungen im deutschsprachigen Raum bis 1914 erfasst und auch in diesem Rahmen von rund 800 Publikationen eine hierarchisch relevante Arbeitsteilung von Männern und Frauen ausschließen können. Aus Platzgründen nur ein Beispiel: Malley 1976: 146f. spricht von der Witwe, die vom Geist ihres verstorbenen Ehemanns gejagt worden und als Sklavin der Vergangenheit keiner schöpferischen Arbeit mehr fähig gewesen sei.
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1.2 Nur im Kellergeschoss? Äußere Arbeitsbedingungen der Radioaktivistinnen Ein Arbeitsplatz im physischen Sinn ist mehr als ein Platz, an dem die Arbeit getan werden kann. Er ist zugleich Ausdruck der Position der betreffenden Person oder Disziplin, hat also in der topographischen und architektonischen auch eine soziologische Dimension (beispielhaft Traweek 1988: Kap. 1). Generell ist zu sagen, dass die Frauen in der Radioaktivitätsforschung die Arbeitsbedingungen ‚ihres‘ jeweiligen Instituts- bzw. Arbeitspartners teilten – im Guten wie im Schlechten. Marie Curie musste die ersten Mengen der von ihr neu entdeckten Elemente unter äußerst primitiven Laborbedingungen herstellen – in jenem berühmt gewordenen Schuppen im Hinterhof, den Pierre Curie von der Hochschule, an der er lehrte, zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Diesen Schuppen konnte er frei nach eigenem Gutdünken nutzen und eben auch seiner Frau für ihre Forschungen überlassen. Pierre war ein ausgesprochener Außenseiter, der nicht zum französischen wissenschaftlichen Establishment gehörte. Für Marie Curie war dies vermutlich ein Vorteil – es ist nicht wahrscheinlich, dass sie etwa an der Sorbonne die Räumlichkeiten ihres Mannes ebenso unkompliziert hätte mit nutzen können. Es gehört zur großen Tragik der Curies, dass Pierre den Bezug ‚seines‘ Laboratoriums als Sorbonne-Professor nicht mehr erlebte. Marie Curie arbeitete ab der Übernahme der Professur an der Sorbonne nach Pierres Unfalltod 1906 bis zum ersten Weltkrieg in extrem beengten Laborräumlichkeiten, wobei die Enge durch den Andrang von Gastwissenschaftler/inne/n und Schüler/inne/n aus aller Welt noch verschärft wurde. So lehnte Curie etwa das erste Ansuchen von Gleditsch auf einen Gastaufenthalt in Paris gerade aus Platzmangel ab und gab erst nach längerem Zögern eine Zusage. Gleditsch, Brooks und Szmidt teilten als Mitarbeiterinnen in Curies Labor jeweils die Beengtheit der nobelpreisgekrönten Lehrerin. Die räumlichen Verhältnisse Meitners – und ihres langjährigen wissenschaftlichen Weggefährten Otto Hahn – symbolisieren geradezu den Aufstieg der Radioaktivitätsforschung im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Hahn, der von Emil Fischer, dem Berliner ‚Großordinarius‘ der Chemie, auf Grund einer Empfehlung des englischen Chemikers William Ramsay aufgenommen worden war, erhielt in dessen Institut für Organische Chemie einen ehemaligen, nicht mehr gebrauchten Werkstattraum im Untergeschoss zugewiesen. Diese nicht gerade statusträchtige Lage an der Peripherie entsprach der Randständigkeit der Radioaktivität in Fischers Institut. Für größere Analysen, für die er eine volle Laboratoriumsausstattung benötigte, durfte Hahn Arbeitsräume eines Pri48
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vatdozenten im ersten Stock des Instituts nutzen. Bei Meitner, die ein Jahr später, im Herbst 1907, hinzustieß, kam zum disziplinären der Geschlechteraspekt hinzu. Fischer erklärte sich zwar einverstanden, dass Meitner mit Hahn arbeitete, wünschte aber, dass ihre Präsenz am Institut unsichtbar bliebe, damit – rund ein Jahr vor der Zulassung von Frauen zum Studium an preußischen Universitäten – keine Unruhe in sein Institut käme. Nun erwies sich die Randlage von Hahns Arbeitsraum als Vorteil, denn es war ein eigener Eingang vorhanden, den Meitner auf Fischers Wunsch hin benutzte. Aus der räumlichen Einschränkung für Meitner erwuchsen inhaltliche Einschränkungen, da Meitner sich an den chemisch-analytischen Arbeiten, die Hahn im ersten Stock in fremden Laborräumen durchführte, nicht beteiligen konnte. Mit der Zulassung der Frauen zum Studium verschwanden diese Grenzen 1908 zwar formal, blieben aber weiterhin implizit wirksam (Meitner 1964). Obwohl die Radioaktivität in epistemischer und methodischer Hinsicht von der Organischen Chemie weit entfernt war, wirkte Fischer in den folgenden Jahren immer wieder als Patron für Hahn und Meitner, etwa in der ‚Zuschiebung‘ von Förderpreisen an die beiden. Fischer ist wohl auch zu verdanken, dass die Radioaktivitätsforschung 1912 in das neu gegründete Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie einzog, eines der 7 ersten Forschungsinstitute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Im repräsentativen Institutsneubau bezog die Abteilung für Radioaktivität das Erdgeschoss eines ganzen Gebäudeflügels – wahrlich ein Aufstieg aus dem einzelnen Raum im Keller… Zu den äußeren Arbeitsbedingungen gehört auch die Frage nach der materiellen Entlohnung der Wissenschaftler/innen. Ein Gehalt für die wissenschaftliche Arbeit war nicht nur für die materielle Existenzsicherung von Belang sondern auch – und in manchen Fällen vor allem – als Ausdruck der Anerkennung. Deutlicher als alle anderen Formen der Belohnung (Publikationen, Einladungen zu Vorträgen usw.) führte das Gehalt den Frauen vor Augen, dass sie nicht einer besonders exotischen Liebhaberei frönten, sondern dass ihre Tätigkeit von gesellschaftlichem Nutzen und Interesse war. Bei Meitner spielte dieser Gesichtspunkt eine zentrale Rolle für ihre Identität als Wissenschaftlerin und ermöglichte ihr überhaupt erst, diese Rolle als eine für sich erlaubte wahrzunehmen (s. dazu 2.1). Das Arbeitspaar Hahn/Meitner ist aber auch ein schlagendes Beispiel für die Asymmetrie zwischen Frauen und Männern unter gleichen Ausgangsbedingungen: Hahns Aufstieg ging schneller und führte weiter als Meitners, die erst ein Gehalt von der KWG bekam, 7
Aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) ging nach dem Zweiten Weltkrieg die Max-Planck-Gesellschaft hervor.
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nachdem sie einen Ruf aus Prag erhalten hatte. Freilich wurde Meitner nach dem ersten Weltkrieg Leiterin einer eigenen Abteilung und erreichte so eine prestige- und einflussreiche Position – Hahn aber wurde in den 30er Jahren Direktor des Instituts. Die nationalsozialistische Herrschaft setzte Meitners Karriere 1938 ein jähes Ende – als Frau und als Jüdin war sie doppelt verwundbar. Nachwuchswissenschaftlerinnen wie Brooks oder Szmidt wurden bei ihren Gastaufenthalten an den Labors von Curie oder Rutherford entweder durch Stipendien finanziert oder unterhielten sich selbst, d.h. durch ihre Familien. Auch bezahlte Tätigkeiten als Tutorin (Brooks) oder Assistentin (Meitner, Gleditsch) trugen zum Lebensunterhalt bei – und darüber hinaus auch zur Stabilisierung ihrer wissenschaftlichen Professionalität. Diese Rollen nämlich waren Teil des etablierten, von den männlichen Kollegen praktizierten Lebensstils als Nachwuchswissenschaftler. Die Frage nach den äußeren Arbeitsbedingungen verweist demnach einerseits auf die Kontingenz individueller Karriereverläufe und lokaler Rahmenbedingungen in der Pionierphase eines neuen wissenschaftlichen Feldes. Andererseits führt sie auf die unten diskutierte Schlüsselfrage nach der Identität der Radioaktivistinnen.
1.3 Arbeitspartnerin – Heiratskandidatin? Soziale Arbeitsbedingungen der Radioaktivistinnen Ebenso wie in ihren Lebensläufen und Arbeitsbedingungen unterscheiden sich die hier vorgestellten Radioaktivistinnen in ihren sozialen Lebenszusammenhängen voneinander und vertreten eine ganze Palette möglicher Lebensentwürfe. Auch die uns durch die Quellen überlieferten zwischenmenschlichen Erfahrungen in ihren Arbeitsumfeldern variierten beträchtlich. Ich konzentriere mich in diesem Abschnitt auf letzteren Aspekt und nehme die Frage nach den Lebensentwürfen im Abschnitt 2.2 wieder auf. Angesichts dessen, dass die hier vorgestellten Frauen durchweg zur ersten Frauengeneration an den Hochschulen gehörten, liegt die Frage nahe, ob und wo sie als Wissenschaftlerinnen auf Vorbehalte stießen. Mein Eindruck ist, dass es im wissenschaftlichen Arbeitsalltag kaum Akzeptanzprobleme gab. Insbesondere in den hier betrachteten engeren Arbeitspartnerschaften zwischen einem Mann und einer Frau waren die Männer ausgesprochen loyal; es ist sogar der Schluss erlaubt, dass die Männer sich der geschlechtsspezifischen Schwierigkeiten ihrer Arbeitspartnerinnen bewusst waren. Im Fall der Curies hat Helena Pycior auf die Sorgfalt aufmerksam gemacht, mit der Pierre und Marie ihre jeweili50
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gen Arbeitsanteile als solche kennzeichneten und insbesondere dafür sorgten, dass Marie auch von den Publikationen her in eigenem Recht sichtbar blieb (Pycior 1993). Otto Hahn setzte sich bei Rutherford nicht nur dafür ein, dass in den Zitationen neben seinem auch Meitners Name genannt werde. Er bat seinen Mentor auch, Sonderdrucke von seinen Aufsätzen nicht nur an ihn, Hahn, sondern auch an Meitner zu schicken: „It always depresses me a little if I get these copies and she does not. As a matter of fact, we do our work like equal people and not by far like a professor and his assistant. […] Dear Prof. Rutherford, you will not be angry with me, that I am telling you these things; but in our days it is really hard for a woman 8 to get appreciated compared with a man who does the same.“
Diese Aussage von Hahn über ihr nicht-hierarchisches Arbeitsverhältnis ist mir deswegen so wichtig, weil die zweite Phase der intensiven Arbeitspartnerschaft Hahn/Meitner, die in der Entdeckung und Deutung der Kernspaltung ihren Höhepunkt fand, in dieser Hinsicht mit einem bitteren Missklang endete. Was auch immer in der radikal veränderten Situation ab dem Ende der 30er Jahre die Ursachen dafür gewesen sein mögen, dass nur Hahn den Nobelpreis bekam und diese Entscheidung 9 selbst niemals in Frage stellte: Mindestens im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts (und auch darüber hinaus) achtete Hahn aktiv darauf, dass Meitners Anteil an der gemeinsamen Arbeit gesehen und gewürdigt wurde. Mir ist nur ein Fall bekannt, wo eine Frau mit erheblichen Vorbehalten empfangen wurde. Ellen Gleditsch erhielt 1913 ein Stipendium für einen Forschungsaufenthalt in den USA und entschied sich, diesen bei dem Radiochemiker Bertram Boltwood an der Yale University zu verbringen. Bei dem Junggesellen Boltwood löste diese Ankündigung, die ihn vor vollendete Tatsachen stellte, zweideutige Gefühle aus. Er vertraute sich Rutherford an: „I have a piece of news that will interest you. Mlle Gleditsch has written that she has a fellowship from the American-Scandinavian Foundation (I never heard of it before!) and wishes to come and work with me in New Haven!! 8 9
Otto Hahn an Ernest Rutherford, 19.12.1913. Cambridge University Library, Rutherford Papers, H 66. Die Bitte um Meitners Erwähnung in der Zitation findet sich in einem früheren Brief vom 12.12.1912, ebd., H 59. Bis heute ist die Debatte um die jeweiligen Anteile von Strassmann, Meitner und Hahn an der Entdeckung und Deutung der Kernspaltung nicht verstummt. Der Erkenntnisgewinn dieser Polemiken ist m.E. inzwischen ziemlich begrenzt. Speziell für die Frage nach der Nobelpreisverleihung vgl. Crawford/Sime/Walker 1996.
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What do you think of that? I have written to her and tried to ward her off, but as the letter was unnecessarily delayed in being forwarded to me, I am afraid she will be in New York before I get there. Tell Mrs Rutherford that a silver fruit dish will make a very nice wedding present!!!“ (Nach der Edition Badash 1969: 285)
Gleditsch verbrachte das akademische Jahr 1913/14 in der Tat als Boltwoods Gast in Yale und arbeitete dort an Messungen der Lebensdauer des Radiums, einem Thema, das auch Boltwood sehr interessierte. Wie so oft in der Geschichte weiblicher Partizipation an den Naturwissenschaften, baute die gemeinsame Arbeit Boltwoods Vorurteile nachhaltiger ab als jede Apologetik. Als Gleditsch ein knappes Jahr später wieder fuhr, schrieb er ihr hinterher: „I want to tell you how much I enjoyed having you working here and how satisfying it was to have this opportunity of learning to know you and finding that we have so many scientific interests in common. I wish you every possible success in the future.“ (Nach Weidler-Kubanek/Grzegorek 1997: 58)
Entgegen aller Befürchtungen Boltwoods ist eine Hochzeit übrigens nicht zustande gekommen; beide blieben bis an ihr Lebensende unverheiratet. In der Traditionsbildung hat diese Episode ein aufschlussreiches kleines Nachspiel gehabt. Boltwood, in einem Interview gefragt, was er, der bekannt notorische Junggeselle, an Gleditsch besonders schätzte, antwortete: „[unlike other women] she does not scream“. Gleditsch ihrerseits bezeichnete diese Äußerung 1930 als „the biggest compliment of my scientific career“ (beides loc.cit.) – ob in souveräner feiner Ironie oder geradliniger Selbstverständlichkeit, muss dahingestellt bleiben. Geschlechterstereotype, selbst der einfältigsten Art, so jedenfalls die Moral aus dieser amerikanisch-skandinavischen Geschichte, lauerten stets angriffsbereit und waren nur durch den praktischen Umgang mit Frauen in der wissenschaftlichen Alltagsarbeit zu verscheuchen. Die unmittelbaren männlichen Kollegen und/oder Mentoren standen demnach den Radioaktivistinnen loyal und ermutigend gegenüber. Für das weitere Umfeld oder die Öffentlichkeit kann deswegen jedoch noch lange nicht davon gesprochen werden, wie zahllose kleinere oder größere Begebenheiten aus den verschiedenen Lebensgeschichten zeigen. Marie Curie ist hier – wie so oft – das markanteste Beispiel. Sie wurde wegen ihrer Affäre mit einem verheirateten Kollegen zur Rückgabe ihres zweiten Nobelpreises aufgefordert und bei der Kandidatur zur Académie des Sciences einer beispiellosen Hetzkampagne der Medien unterzogen. 52
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In der Wahl fiel sie, die doppelte Nobelpreisträgerin und Entdeckerin zweier neuer Elemente, gegenüber dem katholischen Kollegen Branly durch, der heute vor allem dafür bekannt ist, dass er eben diese Wahl gegen Marie Curie gewann. Durch Hahn ist die Geschichte überliefert, dass man beim Brockhaus Konversationslexikon ausgesprochen interessiert gewesen sei, Herrn L. Meitner als Autor zu gewinnen und dann entrüstet davon Abstand genommen habe, als man erfuhr, dass Herr Meitner eine Frau sei (Hahn: 57). Solche Begebenheiten haben eine Lise Meitner, als sie sich ihres Weges selbst gewiss war, vermutlich eher amüsiert als gekränkt. Dennoch darf man die Wirkung der vielen kleinen derartigen Botschaften nicht unterschätzen, die den Radioaktivistinnen immer wieder klar machten, dass sie eine Ausnahmeerscheinung darstellten. Nicht zuletzt konnten auch im loyalen eigenen Arbeitsumfeld die Geschlechterrollen ganz unvermutet zuschlagen: Als Rutherford Ende 1908 auf der Rückreise von Stockholm, wo er den Nobelpreis entgegengenommen hatte, Station in Berlin machte, war es Meitners Aufgabe, für Mrs. Rutherford das Damen- und Einkaufsprogramm zu gestalten – während Rutherford und Hahn miteinander fachsimpelten (Sime 1996: 33f.). Wenn das unmittelbare Umfeld auch in der Regel keine ausgesprochen kritische Haltung an den Tag legte, hatten viele Frauen doch mit Schüchternheit oder Minderwertigkeitskomplexen zu kämpfen. Die letzteren kreisten klar um ihre wissenschaftliche Befähigung und kommen im nächsten Abschnitt zur Sprache. Die ersteren betrafen vor allem den Umgang mit oder in Gruppen von Menschen (die weitestgehend aus Männern bestanden), sei es in einer Vortragssituation oder im Alltag. Jadwiga Szmid traute sich erst in die tägliche Runde des Nachmittagstees in Rutherfords Labor, als Gleditsch, auf der Durchreise zu einer kurzen Visite in Manchester abgestiegen, mit ihr zusammen dorthin ging. Lise Meitner kämpfte bei jeglicher Art von öffentlichen Auftritten und Präsentationen mit Schüchternheit. Ihre persönliche und wissenschaftliche Souveränität freilich war so groß, dass sie dieses Problem ironisieren und bewusst angehen konnte. Offensichtlich wurde ihr Arbeitspartner Otto Hahn zum Verbündeten im Kampf mit den eigenen Ängsten; ihm schrieb sie etwa im Februar 1917: „Gestern habe ich im Colloquium vorgetragen, ich habe an Sie gedacht und laut gesprochen und mir die Leute und nicht die Tafel angeguckt, obzwar unter Umständen die Tafel viel erfreulicher anzusehen ist als manche Leute.“ (Nach Ernst 1992: 66)
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2. Identität und Selbstwahrnehmung von Frauen in der Radioaktvitätsforschung Im ersten Teil haben wir die äußeren Arbeitsbedingungen einiger Radioaktivistinnen kennen gelernt, gleichsam die objektivierbaren Bedingungen ihrer wissenschaftlichen Existenz. Im zweiten Teil geht es nun um die persönlichen Seiten des Wissenschaftlerinnen-Daseins, nämlich einerseits um die Frage nach ihrem Selbstbild und ihrer Selbstwahrnehmung und andererseits um die Frage nach ihren Lebensentwürfen und -verhältnissen jenseits der wissenschaftlichen Arbeit. Inwiefern die wissenschaftliche Arbeit Kern- und Kristallisationspunkt der persönlichen Identität war, wird am Schluss dieses Kapitels erörtert und zu der in Meitners Eingangszitat aufgeworfenen Frage zurückführen, inwiefern und aus welchen Gründen Naturwissenschaftlerinnen im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts ihr Leben als beglückend oder gelingend wahrnahmen.
2.1 Minderwertigkeitskomplexe? Die Selbstwahrnehmung der Radioaktivistinnen Die hier betrachteten Frauen gehören, wie bereits festgestellt, sämtlich zur ‚Pionierinnen’generation in den Naturwissenschaften. Neben den sicherlich vorhandenen Bedenken oder Anfeindungen ihrer Umwelt hatten zumindest einige von ihnen auch mit der Frage zu kämpfen, ob sie denn wirklich dafür begabt seien. Am Beispiel der Kanadierin Harriet Brooks lassen sich Konjunkturen von Selbstzweifeln und Selbstbewusstsein eindrücklich studieren. Brooks war der/die erste „graduate student“ bei dem frisch nach Montreal berufenen Rutherford und stürzte sich mit Enthusiasmus und Geschick in die Arbeit. Ihre Studienzeit fiel in die stürmische Entwicklung der Radioaktivität in deren Anfangsjahren, und Brooks war an mehreren Entdeckungen beteiligt. Im akademischen Jahr 1902/03 erhielt sie – für sie völlig überraschend – ein Stipendium für ein Studienjahr in Europa und entschied sich für das Cavendish Lab in Cambridge, den renommiertesten Platz für Experimentalphysik in der angloamerikanischen Welt. Dort jedoch fühlte Brooks sich überhaupt nicht wohl. Frustriert schrieb sie im Frühjahr 1903 ihrem Lehrer nach Kanada: „I am afraid I am a terrible bungler in research work, this is so extremely interesting and I am getting along so slowly and so blunderingly with it. I think I shall have to give it up after this year, there are so many other people who can
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do so much better and in so much less time than I that I do not think my small efforts will ever be missed.“ (Nach Rayner-Canham 1997: 132)
In der ausgesprochen kompetitiven und aggressiven Atmosphäre im Cavendish gedieh Brooks, die stets sehr gering von ihren eigenen wissenschaftlichen Fähigkeiten dachte, gar nicht. Rutherford hingegen, der dort auch studiert hatte, hatte sich geradezu mit Spaß in die wettkämpferische Konfrontation gestürzt, als er als Neuseeländer mit dem Snobismus der ‚einheimischen‘ Physiker konfrontiert worden war. Bei Brooks hätte der Cambridge-Aufenthalt fast zu ihrem Ausstieg aus der Physik geführt. Nach Kanada zurückgekehrt, arbeitete Brooks zunächst erneut bei Rutherford und wechselte dann nach New York, an das Frauencollege der Columbia University. Ursache war vermutlich der Physikprofessor in Columbia Bergen Davis, den sie in Cambridge kennengelernt hatte. Als sie sich im Sommer 1906 mit ihm verlobte, signalisierte die Leiterin des College ihr, dass sie ihre Stelle als Verheiratete nicht behalten können würde. Darauf antwortete Brooks unmissverständlich: „I am quite sure that my duties will be, if anything, better performed under the new conditions but if I find that my new relationship, at any time, interferes in the slightest with my professional work, I shall, of course, at once tender my resignation. But failing such an outcome I should not be justified in resigning. I think also it is a duty I owe to my profession and to my sex to show that a woman has a right to the practice of her profession and cannot be condemned to abandon it merely because she marries. I cannot perceive how women’s colleges, inviting and encouraging women to enter professions can be justly founded or maintained denying such a principle.“ (Nach Rayner-Canham 1997: 133f.)
In der Konfrontation mit ihrer Vorgesetzten, die ihren Lebensentwurf – Wissenschaft lehren und verheiratet sein – ablehnte, bewies Brooks demnach eine erhebliche Portion Mut und Standfestigkeit. Drei Jahre nach ihrem Beinahe-Ausstieg aus der Physik, mit einer bezahlten Stelle, die sie mit Souveränität und Hingabe erfüllte, war die Aufgabe dieser Arbeit für Brooks nicht vorstellbar. Selbstbewusst und klar argumentierte sie gegen die Unterstellung, nach einer Heirat ihren Pflichten als Tutorin nicht mehr in angemessenem Umfang nachkommen zu können. Alle Einwände waren freilich vergeblich; die letzte Antwort lautete: „The college cannot afford to have women on the staff to whom the college work is secondary; the college is not willing to stamp with approval a woman to whom self-elected home duties can be secondary.“ (Ebd.)
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Brooks entschied sich übrigens im Endeffekt gegen beide Möglichkeiten: Die Heirat kam nicht zustande, und noch im Sommer 1906 verließ sie Barnard College. Ab Herbst arbeitete sie für ein Jahr im Labor von Curie in Paris und bewarb sich für das Folgejahr um ein Stipendium für Manchester. Dies hätte sie wieder mit Rutherford zusammengeführt, der just von Montreal nach Manchester gewechselt war. Aber noch während sie auf den Bescheid wartete, entschied sie sich, einen Physiker zu heiraten, den sie aus der Zeit in Montreal kannte. Mit ihrer ausgesprochen plötzlichen Rückkehr nach Kanada vollzog sie den vollständigen Ausstieg aus der Forschung. Brooks führte in der Folge ein rollenkonformes, von persönlicher Tragik nicht freies Leben als Professorenfrau und verstarb mit 57 Jahren. In seinem Nachruf auf sie betonte Rutherford ein letztes Mal die Qualifikation und den Wert ihrer wissenschaftlichen Beiträge. Bei Jadwiga Szmidt kamen zu den Zweifeln an ihrer wissenschaftlichen Begabung die schwierigen Bedingungen einer Wissenschaftler/innen-Existenz in Osteuropa hinzu, die auch von Männern empfunden und thematisiert wurde. Szmidt hatte an einem Lehrerinnenseminar in St. Petersburg studiert und unterrichtete einige Jahre Physik an einer höheren Mädchenschule. Mitte 1911 reiste sie für eine Art Fortbildung nach Paris und erhielt die Möglichkeit, während dieses Sommers in Curies Labor zu arbeiten. Sowohl das Interesse für physikalische Forschung, insbesondere Radioaktivitätsforschung, als auch einige Freundschaften zu anderen dort arbeiteten Gastwissenschaftlerinnen, u.a. Ellen Gleditsch, blieben über Jahrzehnte bestehen. 1913/14 arbeitete Szmidt für ein Jahr bei Rutherford; dort erhielt sie, wie erwähnt, Besuch von Gleditsch, die sie ermunterte, den Nachmittagstee der Arbeitsgruppe zu besuchen (s. oben). Nach Russland zurückgekehrt, holte Szmidt den formalen Universitätsabschluss nach, den sie mit ihrer LehrerinnenAusbildung nicht besessen hatte. Sie arbeitete dann in Leningrad bei Ioffe, einem der bekanntesten russischen Physiker und einer zentralen Lehrer- und Vaterpersönlichkeit der russischen Physik. In den schwierigen Arbeitsbedingungen nach der Revolution wurde der Wunsch mächtig, noch einmal bei Rutherford arbeiten zu können. Sie wandte sich mit dieser Anfrage an ihn und führte zugleich alle Argumente auf, die gegen sie sprachen: „1. You will remember I am not too good a worker. 2. The life we lead here is not too favourable for intellectual progress. […] And there is not more than one thing I can say in my favour and that is that I wish so much to do some work.“ (Nach Rayner-Canham 1997: 149)
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Neben ihrem geringen Selbstwertgefühl berührt in dieser Schlusspassage ihres langen Briefes der eindringlich formulierte Wunsch nach wissenschaftlicher Arbeit. Zur Radioaktivitätsforschung kehrte Szmidt nicht wieder zurück, ihrem Bekenntnis zur wissenschaftlichen Arbeit blieb sie aber treu. Im Jahr 1923 heiratete Szmidt A. Tschernitschew, einen Kollegen am Institut, und arbeitete in den Folgejahren erfolgreich – ab 1924 als Abteilungsleiterin – an Arbeiten, die zu den Vorstudien und der Anfangszeit des Fernsehens zu zählen sind. Nebenher übersetzte sie zahlreiche Lehrbücher ins Russische. In den vom stalinistischen Terror geprägten 30er Jahren verliert sich ihre Spur; ihr fast gleichzeitiger Tod mit ihrem Mann im April 1940 und vage Andeutungen einer „Tragödie“ lassen es wahrscheinlich erscheinen, dass sie keines natürlichen Todes starb. An Jadwiga Szmidt, über die nicht viele Quellen erhalten sind, wird – ebenso wie bei Horovitz und Meitner – dramatisch und bedrückend sichtbar, wie sehr die politischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts das einzelne Leben in ihren Strudel ziehen konnten, und wie wenig selbstverständlich die schiere Erhaltung des Lebens in den durch Krieg und Schreckensherrschaften geprägten Zeitläufen war. Die relativ kurze Zeit, die sie bei Curie und Rutherford verbrachte, war hinreichend, sie für längere Zeit stabil in einem internationalen Beziehungsnetz mit Kolleginnen zu verankern – und sie war prägend genug, trotz aller Widrigkeiten zeitlebens die Erforschung und Vermittlung der Physik zu betreiben. Und nur im Kontrast mit den Briefen von Männern aus Ländern am Rande der wissenschaftlichen Welt wird deutlich, dass Szmidt ungleich 10 stärker als diese an ihren eigenen Fähigkeiten zweifelte. Bei Meitner waren es in ihren Anfangsjahren als Physikerin hingegen nicht die Zweifel an ihren Fähigkeiten, die sie in tiefe Fragen darüber stürzten, ob sie ihre Tätigkeit fortsetzen sollte. Ihre außerordentlich erfolgreiche Zusammenarbeit mit Hahn ließ diese Frage nicht aufkommen. Umgetrieben wurde sie aber von der Frage nach der Legitimität ihres Lebensweges, die schlicht daraus erwuchs, dass es niemanden in ih10 Zwei Beispiele aus dem Umfeld von Rutherford seien hier genannt: Sowohl der Japaner Nagaoka als auch der Pole Godlewski klagen nach ihrer Rückkehr in ihre Heimatländer über die schwierigen Arbeitsbedingungen und die Unmöglichkeit eigener Forschungen (Cambridge University Library, Rutherford Papers, G 101-110 und N 2). Dass sie selbst nichts oder nur wenig publizieren, führen sie niemals auf mangelnde eigene Fähigkeiten zurück; erst im Kontrast zu Szmidt wird die unterschiedliche Wahrnehmung der identischen Situation deutlich. Wünschenswert wären hier systematische Untersuchungen über ‚Rückkehrer/innen‘ aus Wissenschaftszentren in die wissenschaftliche Peripherie ihrer Heimatländer; mir ist keine derartige Studie bekannt.
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rer Umgebung gab, die ihren Lebensentwurf teilte oder ihr ein Vorbild hätte sein können. Einer Freundin schrieb sie 1911: „Manchmal bin ich kleinmütig, und mein Leben mit seiner großen Unsicherheit, die ewig sich wiederholenden Sorgen und dem Gefühl meiner Ausnahmestellung, des absolut Alleinseins, erscheint mir dann kaum erträglich. […] Alles, was ich tue, nützt im besten Falle mir allein, meinem Ehrgeiz und meiner Freude am wissenschaftlichen Arbeiten. […] irgendwie müsste unser Leben mit dem der anderen verknüpft sein, für sie notwendig sein. Ich aber bin vogelfrei, weil ich niemandem nütze.“ (Nach Geschichte 1989: 58.)
Ein Jahr später wurde Meitner als erste Frau in Preußen Assistentin und folgte damit dem für Männer etablierten Weg auf eine wissenschaftliche Laufbahn. Nicht zuletzt erhielt sie nun, mit Mitte Dreißig, erstmals Geld für ihre Arbeit. Mit ihrer Anstellung 1914 am Kaiser-Wilhelm-Institut waren nicht nur die existenziellen Sorgen vorüber, sondern auch ihre Selbstwahrnehmung war eine andere geworden. Die Zweifel an der Legitimität des von ihr gewählten Lebensweges waren vorüber, wie diese Passage aus einem Brief von 1916 an eine andere Freundin zeigt: „Herzlich liebe ich die Physik, ich kann mir sie schwer aus meinem Leben wegdenken. Es ist so eine Art persönlicher Liebe, wie gegen einen Menschen, dem man sehr viel verdankt. Und ich, die ich so sehr an schlechtem Gewissen leide, bin Physikerin ohne jedes böse Gewissen.“ (Nach Geschichte 1989: 75)
2.2 Leben nur für die Wissenschaft? Lebensentwürfe und Lebensverläufe der Radioaktivistinnen Ebenso wie in ihren Arbeitsbereichen, Nationalitäten und Karriereverläufen unterscheiden sich die hier vorgestellten sechs Wissenschaftlerinnen in ihren individuellen Lebensentwürfen. Curie und Szmidt heirateten Wissenschaftlerkollegen und setzten ihre Arbeit ihr ganzes Leben fort, Curie auch als Mutter und Witwe mit zwei Kindern. Horovitz blieb nach allem, was wir wissen, ledig und kehrte nach dem Tod ihrer Eltern zu ihrer in Warschau lebenden Schwester zurück. Brooks heiratete nach einer kurzen Laufbahn in der Forschung mit 31 Jahren und wurde Professorengattin. Horovitz und Brooks sind demnach Beispiele für Frauen, die die wissenschaftliche Arbeit nach einer gewissen Zeit wieder aufgaben. Meitner und Gleditsch hingegen blieben ein langes Leben hindurch ledig und wissenschaftlich aktiv. Gleditsch erhielt nach langem Kampf eine Professur in Oslo und damit sowohl die volle institutionelle Anerkennung als auch eine komfortable Existenzsicherung. Für Meitner bedeutete der Einzug des Nationalsozialismus und schließlich das da58
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durch erzwungene Exil einen Karriereknick und Lebensbruch, von dem sie sich nie wieder erholte. Dennoch war und blieb sie, ebenso wie Gleditsch und Curie, bis zum Ende ihres Lebens eine weithin anerkannte Wissenschaftlerin. Bei allen dreien kamen gegen Ende ihrer aktiven Forschungszeit neue Rollenaspekte hinzu: Sie wurden, wie ich es nennen möchte, ‚elder stateswomen of human affairs‘ und engagierten sich mit einer ausgedehnten Reise- und Vortragstätigkeit für die Belange der Kultur, der Frauen, der Völkerverständigung und des Friedens. Diese Rolle könnte man als weibliches Pendant zur Rolle des ‚elder statesman of science‘ bezeichnen, jener Lebensphase also, in der ein erfolgreicher und profilierter (männlicher) Wissenschaftler zum Berater in fach-, wissenschafts- und mitunter auch allgemeinpolitischen Fragestellungen wird – oftmals auch ohne formales Amt (Traweek 1988: 101f.). So verschieden das Ausmaß, die wissenschaftlichen Erträge und die Anerkennung der wissenschaftlichen Arbeit in der Radioaktivitätsforschung bei allen betrachteten Frauen waren, haben sie doch eines gemein: Sie alle haben sich ihren Zugang zur wissenschaftlichen Arbeit erkämpfen müssen, sind mitunter Wagnisse eingegangen und haben sowohl im wörtlichen als auch im metaphorischen Sinn lange Wege zurückgelegt. Brooks, Tochter eines kanadischen Kaufmanns, erwähnte gegenüber Rutherford im Zusammenhang mit ihrem in Aussicht genommenen Jahr in Cambridge/UK „the objections of my family for instance who will think me wholly out of my mind but I think I can overcome them“ (nach Rayner-Canham 1997: 132). Das Unverständnis der Familie verweist auf die ungeheure Grenzüberschreitung, die in Brooks’ Ansinnen steckte, allein und unabhängig für ein ganzes Jahr nach Europa zu reisen – und auf ihre Entschlossenheit, sich von solchen Hindernissen nicht ablenken zu lassen. Gerade an Harriet Brooks wird auch deutlich, wie schwierig, ja undenkbar es für Frauen war, eine Heirat, gar Kinder, mit wissenschaftlicher Arbeit in Verbindung zu bringen. So couragiert Brooks sich gegen ihre Entlassung wegen Heirat gewehrt hatte, so konsequent setzte sie letztlich nach weniger als zwei Jahren genau diese Schranke in ihrer eigenen Biographie um. Hinzuzufügen ist hier noch, dass ihr in ihrem heimischen kanadischen Umfeld nur Vorbilder für das Rollenmodell der Hausfrau zur Verfügung standen, unter anderem Rutherfords Ehefrau, mit der sie befreundet war. Dass es auch andere Möglichkeiten gab, zeigen aus der hier vorgestellten Gruppe Curie und Szmidt. Wissenschaft und Familie verschmolzen hier durch die Heirat mit einem Kollegen in beiden Fällen zu einer neuen Einheit. Bei den Curies wurde sie jäh und tragisch zerstört und erst anderthalb Jahrzehnte später mit Irène Curies Einstieg in die Wissenschaft und mit ihrer Heirat zu einer neuen, nun generationenübergrei59
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fende Realität. Ein zentraler Fixpunkt im Leben der Curies, von Pierre Curies Zeiten durch die schlimmsten Krisen hindurch, waren die Sommerferien in der Bretagne. Sie wurden regelmäßig mit Freund/inn/en und anderen Familien verbracht und knüpften damit ergänzende Beziehungsnetze. Die Familie war ein integraler Bestandteil – Maries Schwester Bronia mit Familie war oft dabei – aber die Sommerdomizile reichten in die beruflichen Beziehungen hinein und verwandelten sie in Freundschaften. Auch Ellen Gleditsch war immer wieder Sommergast bei Marie Curie. Unter den unverheirateten Radioaktivistinnen bildeten sich ähnliche Strukturen aus: Man korrespondierte miteinander, auch über Ländergrenzen und Jahre hinweg, verbrachte nach Möglichkeit Sommerferien miteinander – vorzugsweise (berg-)wandernd und darin die männlichen Kollegen bewusst oder unbewusst perfekt nachahmend – und nahm jede Gelegenheit wahr, einander zu besuchen oder den Kontakt auch über Dritte zu halten. Gleditsch ging mit einer schwedischen Kollegin, die sie von Curies Labor her kannte, jahrelang im Sommer auf ausgedehnte Bergtouren, und Szmidt machte auf der Rückreise von ihrem Gastjahr in Manchester ausgiebig Station bei Gleditsch. In vielen Fällen waren diese Freundinnen auch (ehemalige) direkte Kolleginnen, so dass auch hier, wie bei ‚Wissenschaftspaaren‘ bzw. bei der Witwe Marie Curie, familiäres und wissenschaftsbezogenes Netzwerk an wichtigen Knotenpunkten übereinstimmten. Die naturwissenschaftliche Tätigkeit prägte damit nicht nur die Grundidentät der Frauen, sondern über weite Strecken auch ihre Freundschaften und langfristigen persönlichen Beziehungen, sowohl mit anderen Frauen als auch mit Männern. Mit dem Ausstieg, entweder durch eine Heirat oder durch die Rückkehr in das Heimatland, wurden diese Beziehungen loser – vor allem aber die Quellenlage so 11 prekär, so dass sich das Bild nicht mehr zeichnen lässt. Bei allen hier vorgestellten Persönlichkeiten, so die Schlussfolgerung, brachte die wissenschaftliche Arbeit (zumindest für bestimmte Lebensabschnitte) neben dem schieren Lebensunterhalt und einem großen Teil des Alltagsinhaltes auch die Beziehungen mit sich, in denen sie wurzelten. Kein Leben (nur) für die Wissenschaft, sicher aber – auch 11 Im Fall von Horovitz etwa lässt sich über ihr Leben nach dem ersten Weltkrieg praktisch nichts sagen; die Quellenlage wird hier noch dadurch verschärft, dass der Nachlass von Hönigschmid, mit dem sie am ehesten hätte korrespondieren können, durch die Kriegswirren verloren gegangen ist. Zu Szmidt, die bis zum Schluss in der russischen Physikerschaft verwurzelt blieb, sind immerhin Dokumente im Nachlass ihres Mannes im Archiv der Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg erhalten (Golonka et al. 1994).
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und in allen Kämpfen um die Vergewisserung darüber – ein Leben als 12 Wissenschaftlerin.
Epilog: Von der Wirkmächtigkeit des gemachten Lebens für das gelebte Leben Jeder einzelne Akt biographischer Erinnerung einer Person zeitigt, so haben Psychologie und Soziologie gelehrt, letztlich eine blitzschnelle Neukonstruktion des bisher gelebten Lebens im Sinn einer rationalen Rekonstruktion der eigenen Lebensgeschichte (vgl. dazu auch den Beitrag von Dausien in diesem Band). In letzter Konsequenz gedacht, fließen „gelebtes Leben“ und „gemachtes Leben“ damit, soweit es um „selbst gemachtes Leben“ geht, untrennbar in eins. Aber auch in die hier ausschnitthaft vorgestellten „gelebten Leben“ der sechs Physikerinnen und Chemikerinnen vom Beginn des 20. Jahrhunderts ist mindestens meine persönliche Konstruktion ihrer Biographien buchstäblich eingeschrieben – „gemachte(s) Leben“ auch sie. Indem ich die Erkenntnisinteressen offenlege, die mich bei diesem Schreib-Prozess geleitet haben, indem ich möglichst präzise das „gelebte Leben“ beschreibe, den unmittelbaren Zeugnissen aus der Vergangenheit den Vorzug gegenüber den reflektierten gebe, indem ich, kurz gefasst, in der – intrinsischen, nicht hintergehbaren – Schaffung von Biographie(n) den methodischen Kanon der Historiographie praktiziere, bleibt aber auch in meiner biographischen (Re)Konstruktion das gelebte Leben ‚meiner‘ Akteurinnen fassbar. In der wissenschaftshistorischen Biographik ist die Funktion der Biographie je nach wechselnden Konjunkturen – von der Ideen- bis zur Strukturgeschichte – durchaus verschieden beschrieben worden. Eine 12 Auch für männliche Wissenschaftler galt natürlich, dass ihre Arbeitszusammenhänge die sozialen Beziehungen prägten. Hahn etwa hatte seinen Freundeskreis bei den Physikern, nicht bei den Chemikern (deren er einer war), und dies war wesentlich dadurch bedingt, dass erstere seinem Arbeitsgebiet deutlich interessierter gegenüber standen. Möglicherweise spielte auch eine Rolle, dass Meitner unter den Physikern voll integriert war, von einigen Chemikern hingegen diskriminiert wurde (Meitner 1964). Für spätere Lebensphasen scheint mir ein wesentlicher Unterschied darin zu liegen, dass den in der Regel unverheirateten Wissenschaftlerinnen im Gegensatz zu den in der Regel verheirateten Wissenschaftlern die Gastgeberschaft im eigenen Hause als Rolle nicht zugänglich war, so dass Beziehungen zu anderen Frauen einen wichtigeren Platz einnahmen als Einzelbeziehungen zu anderen Männern für die Männer. Meines Wissens gibt es jedoch zu dem ganzen Themenbereich keine Forschungen, und diese Vermutungen müssten durch systematische Untersuchungen erhärtet werden.
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eher am Rande stehende, für unseren Zusammenhang aber bedeutungsvolle Konzeption stammt von Thomas Söderqvist. Er definierte die Wissenschaftler/innen-Biographie als ein „edifying genre“, als eine Gattung also, die der Erbauung der Leser/innen dient (Söderqvist 1996). Bis zum ‚empowerment‘ ist es da nicht weit, und auch hier lohnt sich ein Blick auf ‚meine‘ Radioaktivistinnen. Das – die realen, gelebten Leben verändernde – Potenzial der Lebens-Konstruktion durch Schreiben, der Bio-graphie also, zeigt sich nämlich, wieder einmal, an Marie Curie besonders deutlich. Auf Veranlassung der amerikanischen Journalistin Melloney besuchte Curie 1921 die Vereinigten Staaten. Erklärtes Ziel war die Überreichung von einem Gramm Radium an sie. Die amerikanischen Frauen hatten es für diese Forscherin gestiftet, die zusammen mit ihrem Mann darauf verzichtet hatte, das Verfahren zur Radiumgewinnung patentieren zu lassen und 13 damit für sich zur Einnahmequelle werden zu lassen. Implizites Ziel Melloneys war die Präsentation einer äußerst erfolgreichen Gelehrten, die zugleich Mutter war, mithin den Amerikanerinnen als Vorbild dafür dienen konnte, dass akademische Bildung und Familiengründung sich keineswegs ausschlossen. Die ungeheure öffentliche Resonanz, die Curies Tournee erfuhr, führte dazu, dass Curie selbst sich als eine Berühmtheit wahrnahm, die mit ihrem bloßen Namen Menschen bewegen konnte. Und schließlich gehört es in bitterer Ironie auch zu den Folgen von Curies Besuch, dass an amerikanische Wissenschaftlerinnen fortan implizit der Maßstab der zweifachen Nobelpreisträgerin gelegt wurde – der „Curie-Effekt“ ist keineswegs als frauenfördernd in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen (Rossiter 1982: Kap. 125-128; Quinn 1995: 383-399). Exemplarisch mögen diese so verschiedenartigen Folgen der Konstruktion der Marie Curie durch Mary Melloney ein Hinweis darauf sein, dass auch im ‚Machen‘ von Menschenleben die Wirkungen der gemachten Lebens-Schreibungen auf die gelebten Leben immer noch um Größenordnungen komplexer sind als die Macher/innen zu antizipieren vermögen. Für die Beschäftigung mit Biographien – gleich ob in künstlerischer, emanzipatorischer, analytischer oder unterhaltender Absicht – bleibt diese Erkenntnis dauerhaft Verheißung und Verpflichtung zugleich.
13 In der biographischen Konstruktion der Curies spielt dieser Topos des freiwilligen Verzichtes auf persönlichen Profit an ihrer Entdeckung eine Schlüsselrolle für die Konstruktion des hehren selbstlosen, von allen wirtschaftlichen Interessen freien Wissenschaftlerehepaares. Vgl. dazu ausführlicher Ceranski 2005.
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Stationen im Leben der Komponistin und Schriftstellerin Ethel Smyth ERIKA FUNK-HENNIGS
Auf dem Hintergrund der theoretischen Erörterungen Theodor Schulzes zur Biographieforschung sollen einige Stationen aus dem Leben der Komponistin Ethel Smyth untersucht werden. Dabei gilt es zu berücksichtigen, die Komponistin als ein Subjekt zu betrachten, das sich in einer Folge von Geschichten und Erfahrungen exponiert, sich selbst gegenüber tritt, indem es das gelebte Leben erinnernd betrachtet und beurteilt, es ordnet, deutet und rechtfertigt. Das Subjekt stellt sich nicht nur als produzierendes, sondern auch als reflektierendes Ich dar (vgl. Schulze 2002: 31). Da jede biographische Erzählung sich nicht nur im sozialen, sondern auch im historischen Raum bewegt, spiegelt sie den Geist der Epoche wider. Mein Erkenntnisinteresse zielt darauf, herauszuarbeiten, unter welchen Bedingungen die Künstlerkarriere stattfindet, ob es der Komponistin Smyth gelingt, Frauen behindernde Einschränkungen zu durchbrechen, Benachteiligungen aufzuheben, Widerstände und Vorurteile zu überwinden und neue Bewegungsräume für sich zu erschließen. Es wird das Augenmerk auch darauf zu richten sein, inwieweit die autobiographischen Aufzeichnungen die subjektive Wahrnehmung der Komponistin wiedergeben und damit zur Künstlerinnenlegendenbildung beitragen. In den vergangenen 20 Jahren sind mehrere Biographien erschienen, die sich jedoch alle auf die autobiographischen Aussagen von Smyth stützen. Werkverzeichnisse liegen vor, allerdings sind nicht alle Werke auf Tonträgern erschienen. Musikwissenschaftliche Analysen der Kammermusikwerke, der Messe und verschiedenen Opern fehlen, so dass ein Vergleich mit Werken von männlichen Kollegen dieser Zeit nicht vorgenommen werden kann. Hier ergibt sich noch ein weites Forschungs-
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feld, das in dieser Studie aufgrund bisher nicht zugänglicher Partituren nicht angegangen werden kann.
Abbildung 1: Ethel Smyth
In Ethel Smyth (1858-1944) begegnet uns eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Sie war nicht nur als Dirigentin und Komponistin, sondern auch als erfolgreiche Schriftstellerin tätig. Ihr schriftstellerisches Oeuvre reicht von autobiographischen Aufzeichnungen wie „Impressions that 66
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Remained“ (1919), „As Time Went On“ (1936) und „What Happened Next“ (1940) bis zu Essaysammlungen „Streaks of Life“ (1921), „A Final Burning of Boats“ (1928) und „Female Pipings in Eden“ (1933), in denen sie zeitgeschichtliche Ereignisse mit autobiographischem Material vermischt. Ein umfangreicher Briefwechsel sowie ein Tagebuch bieten weiteres Quellenmaterial. Die folgenden Ausführungen werden sich weitgehend auf das veröffentlichte autobiographische Material von Ethel Smyth beziehen. Sie spiegeln nicht nur die Persönlichkeit der Komponistin mit ihren Gefühlen, Stärken und Schwächen wider, sondern auch die intellektuelle Vielseitigkeit dieser Künstlerin. Die Aufzeichnungen können als Rechtfertigung ihres Lebensentwurfes als Künstlerin verstanden werden. Der Wunsch nach öffentlicher Anerkennung ihrer Werke ist gekoppelt mit äußerster Kraftanstrengung ihrerseits, durch eigene Präsentationen Öffentlichkeit herzustellen. Aus vielen ihrer Gedankengänge geht hervor, dass sie immer bestrebt war, die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie lebte und arbeitete, zu durchschauen und zu analysieren. So stoßen ihre konservative, viktorianische Erziehung, durch die ihr die Akzeptanz der gesellschaftlichen Elite zuteil wurde, und ihre kritischen Positionen, in denen sie versucht, Herrschaftsbeziehungen aufzudecken, oftmals hart aufein1 ander. Smyth wurde in eine Zeit hinein geboren, die durch das viktorianische Zeitalter geprägt war. Bereits seit dem 18. Jahrhundert wurde für Frauen der Platz in der modernen Gesellschaft bewusst anders zugeschnitten als für Männer. War für Männer das Erlernen und Ausüben einer Profession angesagt, erschien für Frauen nur ein gleichsam angeborener ‚natürlicher‘ Beruf möglich. Frauen hatten Verzicht auf Autonomie und Selbstbestimmung zu leisten. So schreibt z.B. einer der wichtigsten Vertreter der Philanthropen, Joachim Heinrich Campe in seiner 2 Schrift „Väterlicher Rath an meine Tochter“ gegen die Gelehrsamkeit und die ‚Schöngeisterei‘ der Frau: „Sie soll nur insoweit ausgebildet werden, als es ohne Vernachlässigung ihrer hausfraulichen Tätigkeit und ihrer Gesundheit möglich ist und dann zweitens all diese Dinge nicht aufs Parodieren und Glänzen, sondern lediglich auf das 1 2
Sie trifft in Berlin den Kaiser Wilhelm II. bei einem Empfang. Obwohl sie sich als interessante Gesprächspartnerin des Kaisers darstellt, urteilt sie sehr negativ über den Untertanengeist der Deutschen (vgl. Rieger: 100f.). Die Philantropen prägten im 19. Jahrhundert das Bild der Frau. Campes Schrift konnte bis 1832 zehn Auflagen verzeichnen, woraus hervorgeht, welchen Einfluss er hinsichtlich des Erziehungsgedankens auf die bürgerliche Gesellschaft ausübte.
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Vergnügen und den Nutzen ihres kleinen häuslichen Zirkels abrichten.“ (Nach Rieger 1981: 42).
Auch Musikerzieher wie Karl Heinrich Heydenreich waren von dem philanthropischen Gedankengut beeinflusst und äußerten sich über das weibliche Geschlecht: „Wenn Frauenzimmer für gewisse Wissenschaften und Künste entschieden großes Genie besitzen, darf man dieses Genie seinem Fluge überlassen, oder ist es nicht vielmehr Pflicht ihm die Flügel zu verschneiden? Es kommt bei der Beantwortung dieser Frage darauf an, ob man berechtigt sei vorauszusetzen, dass durch das herrschende Interesse für die Wissenschaft und die immer glücklicheren Fortschritte in der Bearbeitung derselben, in der Seele des Frauenzimmers sein Eifer geschwächt werde, kann es mit allem Grunde vorausgesetzt werden, so halte ich es für die Pflicht des Erziehers, das aufstrebende Genie des Mädchens zurückzudrücken, und auf diese Weise zu verhindern, dass es selbst die Größe seiner Anlage nicht bemerke.“ (Heydenreich 1800: 01).
Bis ins 20. Jahrhundert blieben die Frauen sozial und wirtschaftlich auf Gedeih und Verderb ihrer jeweiligen familialen Standeszugehörigkeit unterworfen. Der Familienstand entschied über die gesellschaftliche Position. Der Status der lebenslang unverheirateten Frau brachte in den meisten Fällen soziale und wirtschaftliche Diskriminierung mit sich, was gleichzeitig den Ausschluss von der bürgerlichen Öffentlichkeit bedeutete (vgl. Hausen 1998: 42).
1 . E t h e l S m yt h s J u g e n d j a h r e Ethel Smyth, 1858 in Kent geboren, entstammte einer aristokratischen Familie. Der Vater, Generalmajor der Königlichen Artillerie, hatte in dieser Funktion mehrere Jahre in Indien gedient. Wenngleich die Familie Smyth ein anregendes geistiges Klima bot, hatte sie sich dennoch den traditionellen Vorstellungen des Vaters von der Rolle der Frau in der Gesellschaft zu fügen. Gemeinsam mit ihrer Schwester wurde sie 1872 in ein Internat geschickt, um dort hausfrauliche Tätigkeiten wie Handarbeiten und Kochen zu erlernen. Hier erlebte sie erstmalig, dass sie gegenüber Frauen eine besondere Neigung empfand, die im Laufe der Jahre immer häufiger in der leidenschaftlichen Verehrung älterer Frauen zum Ausdruck kam. Über frühzeitige musikalische Interessen ist nichts bekannt. Smyth erinnert sich an ein Ereignis, das sie als Zwölfjährige erlebte und ihren 68
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musikalischen Werdegang außerordentlich beeinflussen sollte. Ihre aus Deutschland stammende Gouvernante, die am Leipziger Konservatorium Musik studiert hatte, spielte ihr eine Beethoven-Sonate vor. Nach ihrer eigenen Interpretation dieses Lebensabschnittes war Smyth so fasziniert, dass sie beschloss, ebenfalls in Leipzig Musik zu studieren. In3 wieweit es sich hier um einen typischen Künstlermythos handelt, ist aufgrund mangelnder anderer Quellen nicht auszumachen. Ein Freund der Familie, ein Offizier des Army Service Corps namens Ewing, führte sie in die Welt der Musik ein, in dem er ihr Werke von Berlioz, Liszt, Schumann und Wagner auf dem Klavier singend und spielend demonstrierte und sie mit den Grundbegriffen der Musiklehre vertraut machte. Durch ihn und seine Frau lernte sie auch das Londoner Konzertleben kennen. Nachdem es durch ein Missverständnis einen Bruch zwischen Ewing und der Familie gegeben hatte, fuhr Smyth, gerade sechszehnjährig, heimlich allein zu Konzerten nach London, hörte dort Clara Schumann spielen und lernte u.a. Werke von Brahms kennen. Louise Collis charakterisiert Smyths Verhalten zu dieser Zeit als sehr lebendig, individualistisch, begabt, aufrichtig und von Grund auf gutmütig (Collis 1984: 19). Gegen ihren Vater, der ein Musikstudium in Leipzig kategorisch ablehnte, konnte sie sich zunächst nicht durchsetzen. Nachdem alle Überredungskünste gescheitert waren, nahm sie eine extreme Protesthaltung ein, in dem sie über Wochen verstummte und sich ausschließlich in ihrem Schlafzimmer, das sie verschloss, aufhielt. Durch dieses Verhalten, so interpretiert Smyth ihre Situation, gelang es ihr als mittlerweile Neunzehnjährige den Vater umzustimmen. Collis, die sich in ihrer Biographie über Ethel Smyth auch mit diesem Lebensabschnitt auseinandergesetzt hat, greift zwar die Argumentation von Smyth auf, erweitert sie jedoch um die Aussage, der Vater habe von verschiedenen Leuten mitgeteilt bekommen, dass die Universität Leipzig als eine der besten von Europa bekannt sei und diese Tatsache schließlich mit zu einer Meinungsänderung beigetragen habe (Collis 1984: 21).
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Ebenso wie Sabine Voigt in den Tagebüchern der Marie Bashkirtseff nachweist, dass die Autorin dort ihre Geisteshaltung sowie ihre künstlerische Auffassung, ihre Gefühle, ihre Stärken und Schwächen widerspiegelt, wird hier davon ausgegangen, dass Smyth in ihren Memoiren einen ähnlichen Weg beschreitet. Wie aus mehreren vorgestellten Musikkritiken hervorgeht, ist es „nicht der eigentliche Lebenslauf, der Legenden schafft, sondern das Urteil der Mit- und Nachwelt“ (Voigt 1997: 56).
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2 . E t h e l S m yt h s S t u d i e n j a h r e i n L e i p z i g Smyth hatte sich für ihre musikalische Ausbildung einen interessanten Studienort ausgesucht. Wenn aus ihren Memoiren hervorgeht, dass sie diese Auswahl traf, weil ihre Gouvernante dort studiert hatte, mag dies zum Teil stimmen, zum Teil aber auch anekdotische Züge tragen. Dies wird deutlich, wenn man sich die Rolle der Stadt Leipzig im europäischen Musikleben des 19. Jahrhunderts vergegenwärtigt. Damals bildete Leipzig wegen des vielfältigen Musikangebotes, das aufgrund dort tätiger und über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannter Komponisten und Dirigenten auf einem sehr hohen Niveau stand, einen Anziehungspunkt für Musiker in vielen Teilen Europas, allen voran Skandinavien und Osteuropa. 1835 hatte Felix Mendelssohn-Bartholdy die Leitung des Gewandhausorchesters übernommen und bestimmte von nun an die musikalische Richtung. Mit dem 1843 neugegründeten Konservatorium kamen als Lehrer weitere berühmte Musiker wie Robert Schumann, Thomaskantor Max Hauptmann, der Organist der Nikolaikirche Carl F. Becker, später Ignatius Moscheles, Josef Joachim u.a. hinzu. Aufführungen der Werke von Mendelssohn, Schumann, Lortzing, Berlioz trugen dazu bei, dass die Stadt Leipzig zu einem musikalischen Zentrum von europäischer Bedeutung wurde. Nach dem Tod von Mendelssohn im Jahre 1847 übernahm zunächst Nils W. Gade die Leitung, wurde 1860 von Carl H. C. Reinecke, der der zeitgenössischen Musik eher verhalten gegenüber stand, abgelöst. Die Gewandhauskomponisten und zahlreiche Orchestermitglieder wirkten als Lehrer am Konservatorium mit, unter ihnen die Musikwissenschaftler Hermann Kretzschmar und Arnold Schering, der Organist und Komponist Max Reger und heute nicht mehr so bekannte Namen wie Adolf Brodsky, Robert Teichmüller und Stephan Krehl. Unter den Studenten befanden sich später berühmt gewordene Komponisten wie Edward Grieg und Leos Janácek (vgl. Hempel 1996: 1066f.). Vor diesem Hintergrund erscheint es als wahrscheinlich, dass Smyth gezielt auf die Stadt Leipzig zuging, weil sie von Anfang an auf eine hochqualifizierte Ausbildung bedacht war. In Begleitung eines Schwagers trat sie im Juli 1877 die Reise nach Leipzig an, um dort ein Kompositionsstudium aufzunehmen. Dies war ungewöhnlich, da Frauen bisher nur einen Beruf als Musiklehrerin angestrebt hatten. Smyth begab sich ohne zu zögern und sehr mutig in die ausschließlich von Männern beherrschte musikalische Domäne. Sie war sich der Rolle der Frau und den damit verbundenen gesellschaftlichen Repressalien offensichtlich bewusst. Daher versuchte sie, ihrem Drang nach Freiheit folgend, diese Einschränkungen manchmal zu umgehen. So z.B. wandte sie, um an dem vielfältigen musikalischen 70
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Angebot der Stadt Leipzig teilnehmen zu können, häufiger das Mittel 4 der Maskerade an. Als junge Frau war es nicht schicklich, allein zu Konzertveranstaltungen zu gehen, deshalb bediente sie sich häufiger eines Tricks und trat als alte Frau verkleidet oder in Männerkleidung auf. Am Konservatorium machte sie sehr bald die Erfahrung, dass ihr das dort gebotene Niveau für ihr musikalisches Fortkommen nicht ausreichte. Den Kompositionsunterricht bei Carl Reinecke empfand sie als Farce, ihr Kontrapunkt- und Theorielehrer kam grundsätzlich zu spät und erzählte viele Anekdoten, nahm sich aber nicht die Zeit, die angefertigten Arbeiten der Studierenden durchzusehen, und Louis Maas, ihr Klavierlehrer, erschien ihr zwar gewissenhaft aber langweilig (vgl. Rieger 1988: 20). Aufgrund ihres Ehrgeizes entschloss sie sich, das Angebot des ebenfalls in Leipzig wohnenden Komponisten Heinrich von Herzogenberg anzunehmen, sich von ihm privat in Kontrapunkt und Harmo5 nielehre unterrichten zu lassen. Diese Entscheidung sollte sie nicht bereuen, da ihre späteren Werke die gründliche Ausbildung widerspiegeln. Während der Leipziger Zeit schrieb sie mehrere Liederzyklen, ein Streichquartett, das 1884 in Leipzig aufgeführt wurde, sowie mehrere Kammermusikwerke in spätromantischer Tradition. Zu von Herzogenbergs Ehefrau Lisl verband sie sehr schnell eine tiefe Freundschaft. Eva Rieger interpretiert die Beziehung zur ihr als eine innige Liebebeziehung: „Auch Lili Wach, Mendelssohns jüngste Tochter, wurde zu einer treuen Freundin. Aber alle diese Begegnungen erblassten neben der innig geliebten Elisabeth von Herzogenberg […] War Ethel für Lisl ein Ersatz für das ersehnte Kind, genoss Ethel die erotisch vermengte Mutter-Tochterbeziehung“ (Rieger 1988: 229).
Letztere scheiterte jedoch, als Smyth den Schwager von Lisl, einen in Frankreich aufgewachsenen reichen amerikanischen Philosophen und 4
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Das Maskerade-Verfahren war bei Künstlerinnen im 19. Jahrhundert ein beliebtes Mittel, um die eigene Identität in der Öffentlichkeit zu verschleiern. Die Malerin und Autobiographin Marie Bashkirtseff z.B. benutzte sowohl die Sprache als auch die Mode als Instrument der Verschleierung der eigenen Identität. Ihr Ziel war gesellschaftliche Anerkennung und Anspruch auf Freiheit, zwei Bedürfnisse, die im weiblichen Lebensentwurf des 19. Jahrhunderts nicht zusammen passten (vgl. Voigt 1997: 92f., 106) Die französische Komponistin Augusta Holmes veröffentlichte ihre Werke unter einem männlichen Pseudonym. Der österreichische Komponist Heinrich von Herzogenberg war in der Leipziger Musikszene ein anerkannter Musiker. Er gründete 1875 zusammen mit Philipp Spitta und Franz von Holstein den Leipziger Bachverein (vgl. Hempel 1995: 1067).
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Schriftsteller namens Henry Brewster kennen lernte und dieser sich in Ethel verliebte. Smyth, die auf die Liebesbeteuerungen Brewsters nicht einging, knüpfte dennoch eine enge geistige Beziehung zu ihm, die bis zu dessen Tode im Jahre 1908 andauerte. Er schrieb mehrere Libretti für ihre Opern, und sie standen seit dieser Zeit in ständigem Gedankenaustausch. Nach dem Tode seiner Frau bat er Smyth, ihn zu heiraten. Diese ging zwar nun eine engere Beziehung mit ihm ein, entschied sich aber gegen eine endgültige Verbindung, da ihr die geistige Beziehung zu ihm und ihre Freiheit wichtiger erschienen. Smyth, die verschiedene lesbi6 sche Beziehungen einging, ließ sich auch in einer Zeit, in der der Frau eine eigenständige Sexualität abgesprochen wurde, nicht die Wünsche von anderen oktroyieren. Smyth war sehr kontaktfreudig und als interessante Gesprächspartnerin bekannt. Das musikalische Klima in Leipzig bot ihr die Möglichkeit, zu verschiedenen Künstlern Verbindung aufzunehmen. So lernte sie Peter Tschaikowsky kennen, der ihr riet, ihre Instrumentierweise zu verbessern. In ihren Memoiren führt sie die Gründe für diesen Mangel auf ihr musikalisches Umfeld zurück: „Eine andere Merkwürdigkeit an der Gruppe um Brahms war, dass sie für die Instrumentation anscheinend kein Interesse aufbrachte, die infolgedessen in meiner Ausbildung auch keine Rolle spielte“ (nach Rieger 1988: 55). Gunter Hempel berichtet allerdings, dass 1881 am Konservatorium eine Klasse für den Umgang mit Orchesterinstrumenten eingerichtet wurde (vgl. Hempel 1996: 1067), die Smyth, obwohl sie bis 1889 in Leipzig studierte, wohl nicht wahrgenommen hat. Während eines Besuches in Berlin kam sie mit dem Geiger Joseph Joachim und dem Pianisten und Komponisten Anton Rubinstein in Berührung, machte die Bekanntschaft mit dem Bachbiographen Heinrich Spitta und dem Händelbiographen Karl Franz Friedrich Chrysander. Wieder in Leipzig begegnete sie Johannes Brahms, der sie offensichtlich als Komponistin nicht ernst nahm. Aus ihren Memoiren geht hervor, dass er Frauen die Fähigkeit komponieren zu können, absprach und sich ihnen gegenüber sehr chauvinistisch verhielt. Trotz seiner manchmal etwas groben Verhaltensweisen schätzte Smyth die Werke von Brahms sehr und nutzte jede Gelegenheit, ihn zu treffen und sich musikalisch 6
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Tamsin Wilton spricht in seiner Abhandlung über Ethel Smyth offen über Smyths lesbisches Liebesleben. „Smyth’s love life was a series of grand lesbian passions. Many were fully reciprocated, while others – such as the deep crush she developed in her seventies on a much younger Virginia Woolf – probably were not“ (vgl. Wilton 2002). Darüber hinaus weist er darauf hin, dass im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert unter Künstlern in der europäischen Kulturszene sexuelle Extravaganzen nicht nur toleriert, sondern sogar unter sensiblen Seelen erwartet wurde.
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auszutauschen. Neben Brahms machten auch Komponisten wie Edward Grieg, Franz Liszt, George Henschel und Clara Schumann ihre Bekanntschaft und bereicherten sie in ihrer musikalischen Arbeit. Hinzu kamen die Tochter von Felix Mendelssohn-Bartholdy, Lili Wach, sowie viele Interpreten der neuen Musik. Die musikalische Szene in Leipzig war geprägt durch Orchesterwerke und Oratorien. Laut Erinnerungen Smyth’s schienen sich die Abonnenten des Gewandhauses gegenüber Opern sehr zurückhaltend zu verhalten, so dass sie in ihrem musikalischen Umkreis kaum mit diesem Genre in Berührung kam. Wie stark die Konkurrenz und verbunden damit die musikalisch unterschiedlichen Neigungen des Konzertpublikums gewesen sein mögen, lässt sich daran ablesen, dass neben dem Gewandhaus zwischen 1864 und 1868 das Leipziger Theater unter der Leitung des Operndirektors Angelo Neumann entstand und dort Opern von Mozart, Gluck und Wagner aufgeführt wurden (vgl. Hempel 1996: 1067). Auch wenn in Ethel Smyths Bekanntenkreis die Oper als eine zu vernachlässigende Kunstform angesehen wurde, wie sie berichtet, hatte sie vor Ort die Möglichkeit, sich mit diesem Genre auseinander zu setzen, aufgrund ihrer Ausbildung allerdings eher rezipierend als analysierend. Nach ihrer Zeit in Leipzig kehrte Smyth nach England zurück. 1890 gelang ihr mit der Aufführung ihrer viersätzigen Serenade in einem Konzert im Crystal Palace der professionelle Durchbruch als Komponistin. Inzwischen waren zwei Bände deutscher Lieder op. 3 und 4, ein Streichquintett, eine Sonate für Violoncello und Klavier sowie die Violinsonate op. 7 erschienen. Ein Jahr später nahm sie ein größeres Werk in Angriff. Die Freundschaft zu der überzeugten Katholikin Pauline Trevelyan hatte sie dazu ermutigt, eine Messe in D zu komponieren. Nach der Fertigstellung des Klavierauszuges bemühte sie sich an mehreren Stellen um eine Aufführung, allerdings ohne Erfolg. Sie führte diesen Misserfolg eindeutig auf die Tatsache zurück, dass sie eine Frau war. Erst durch die Kontakte zu der Kaiserin Eugénie, der Witwe Napoleons III., die in der Nähe des elterlichen Familienbesitzes lebte und freundschaftliche Beziehungen zur Familie Smyth pflegte, konnte ihr geholfen werden. Die Kaiserin stellte Smyth der britischen Königin Victoria vor, der sie aus ihrer Messe vorsang und vorspielte. Diese war so begeistert von der Musik und der Vortragsart, dass sie Smyth königliche Unterstützung zusagte und die Messe 1893 von der Royal Choral Society in der Albert Hall aufgeführt wurde. Die Kaiserin übernahm die Finanzierung der Solisten und des Orchesters.
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Abbildung 2: Ethel singt (John Singer)
Dass die Messe beim Publikum ein Erfolg wurde, geht u.a. aus einem Brief von Bernhard Shaw, mit dem sie in freundschaftlichem Kontakt stand, hervor: „You are totally and diametrically wrong in imaging that you have suffered from a prejudice against feminine music. On the contrary you have been almost extinguished by the dread of masculine music […] It was your music that cured me for ever of the old delusion that women could not do man’s work in art and all other things […] your Mass will stand up in the biggest company! Magnificent!“ (Smyth 1928: 35).
Auch ein Musikkritiker der Zeitschrift „The Times“ berichtet über die Messe in D mit Begeisterung:
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„This work definitely places the composer among the most eminent composers of her time, and easily at the head of all those of her own sex. The most striking thing about it is the entire absence of the qualities that are usually associated with feminine productions; throughout it is virile, masterly in construction and workmanship, and particularly remarkable for the excellence and rich colour of the orchestration“ (St. John 1959: 86).
Erst 31 Jahre nach der Uraufführung am 7. Februar 1924 in Birmingham konnte die „Messe in D“ wieder gehört werden. In den kommenden Jahren erfolgten weitere Wiederholungen.
E x k u r s : E t h e l S m yt h u n d V i r g i n i a W o o l f Als Beispiel für eine Frauenfreundschaft sei die stürmische Liebe zu der um 24 Jahre jüngeren Virginia Woolf erwähnt, der sie jahrelang fast täglich schrieb. Trotz des Altersunterschiedes und der Gegensätzlichkeit ihrer Charaktere, – auf der einen Seite der Ästhetizismus, die Innengewandtheit und die Hypersensibilität von Woolf, auf der anderen Seite Ethels kämpferische Haltung und ihre Fähigkeit, politisch, wissenschaftlich und künstlerisch gebildete Menschen kennen zu lernen –, so berichtet die Musikwissenschaftlerin Eva Rieger (vgl. Rieger 1988: 235), sei 7 die Beziehung für beide äußerst bereichernd gewesen. Nigel Nicolson hat in seiner Biographie über Virginia Woolf eine detaillierte Beschreibung der Beziehung zwischen Virginia und Ethel vorgenommen. Ausgangspunkt eines ersten Treffens zwischen Woolf und Smyth war die von Woolf veröffentlichte Schrift „Ein eigenes Zimmer“, in der sie den harten Kampf der Künstlerinnen um Anerkennung in der Männerwelt zum Ausdruck brachte. Dieses Thema betraf Smyth, seit sie angefangen hatte zu komponieren. Nicolson beschreibt die Situation als Zeitzeuge folgendermaßen: „Ethel, mittlerweile dreiundsiebzigjährig, war Komponistin und verfolgt von dem Gedanken, die Aufführung ihrer Werke sei nur durch männliche Vorurteile verhindert worden, während es sich in Wahrheit genau anders herum verhielt. Eine Komponistin war etwas so Seltenes, dass schon die Tatsache, dass es sie gab, Erstaunen hervorrief; und als Frau, die sich noch in manch anderer Hinsicht – durch ihre Autobiographien, ihre hochgestellten Freunde, ihre zweimonatige Inhaftierung als Suffragette – Prominenz erworben hatte, war sie ein 7
Nigel Nicolson ist der jüngste Sohn von Vita Sackville-West, der Geliebten von Virginia Woolf. Er lernte Virginia Woolf mit neun Jahren kennen und hatte bis zu ihrem Tod Kontakt zu ihr.
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nationales Unikum, so dass ihre Musik, etwa ihre Oper „The Wreckers“, nicht nur aufgeführt wurde, weil sie frisch und kraftvoll war, sondern weil sie von Ethel Smyth stammte“ (Nicolson 2001: 138).
Diese Beobachtung mag für die ältere Dame Ethel Smyth zugetroffen haben, in jüngeren Jahren jedoch musste sie sich jede Aufführung ihrer Werke erkämpfen. Nicolson charakterisiert Smyth als eine energische Frau und von unwiderstehlicher Entschlossenheit. Woolfs Verhältnis zu Smyth war gespalten, auf der einen Seite verehrte sie die alte Dame aufgrund ihrer Intelligenz, ihrer Erfahrungen und ihrer schriftstellerischen Kompetenz, wie aus Hunderten von Briefen an Ethel Smyth hervorgeht (vgl. Nicolson 2000: 139), auf der anderen Seite ging ihr die sehr direkte, ja manchmal aufdringliche und selbstbezogene Art auf die Nerven. Ihre kritische Haltung hält sie in ihrem Tagebuch fest: „Ethel gestern sehr beunruhigt wegen ihres Rufes […] Ich halte es für möglich, dass die Natur sie mit allem ausstattete, außer mit der Kraft des Ausdrucks durch Musik: daher der Eifer und das Gewaltsame und die Ruhelosigkeit ihrer Natur: der eine Ausfluss ist verstopft. Und sie trommelt ewig an die Tür; die bleibt verschlossen; sie überschwemmt mich […] mit der Vehemenz ihres gequälten und verstörten Geistes. Aber sie würde lieber sterben als das zugeben. Daher die entsetzliche Selbstbezogenheit: ihr unstillbares Verlangen nach Lob, da ihr die einzige wahre Befriedigung verwehrt ist. Eine erschöpfende Gefährtin, demzufolge“ (Woolf 2003: 34).
Dass die 24 Jahre jüngere Frau der hier verklausuliert angesprochenen gewünschten körperlichen Liebe nicht nachkommen kann und will, geht aus zwei Tagebuchaufzeichnungen hervor, die eher Abscheu vor der Körperlichkeit Smyths, sei es in ihrem Auftreten oder Verhalten, zum Ausdruck bringen: „Ich höre ein typisches langsames und schwerfälliges Stampfen. Dann ein herausforderndes Klopfen an der Wohnzimmertür. Herein tritt Ethel Smyth in ihrem gefleckten Pelz, wie ein ungeschorenes und übergroßes wildes Waldtier, Spezies unbestimmt. Sie trägt, wie üblich, ihren Dreispitz à la Friedrich der Große und eine ihrer zahllosen Kombinationen von Tweedjacken und -röcken. Sie hat eine Ledermappe bei sich. Ehe sie sich hingesetzt hat, redet sie schon“ (Woolf 2003: 112).
Dies war im Jahre 1932. Im März 1935 notiert Woolf:
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„Gestern habe ich nicht genossen. Wie die gute Ethel sich das Schlingen angewöhnt hat. Sie verschlang unsere sehr zähen Dinger, bis ich nicht mehr still sitzen konnte. Sie ist eine gierige alte Frau, ich mag Gier nicht, wenn sie zum Malmen und Schmatzen und dem Auflöffeln der Soße führt. Und sie läuft rot an, wenn sie trinkt!“ (Woolf 2003: 418)
Trotz dieser abfälligen Bemerkungen wird Woolf von Smyth immer wieder in ihren Bann gezogen. Nicolson fand aufgrund der Analyse ihrer Briefe heraus, dass sie Smyth Dinge mitteilte, die sie bis dahin kaum jemandem anvertraut hatte, ihre Wahnvorstellungen, ihre Empfindungen und sogar ihre Selbstmordgedanken (vgl. Nicolson 2000: 139).
3 . Z u m O p e r n s c h a f f e n v o n E t h e l S m yt h Smyth kannte andere Komponistinnen, so z.B. die deutsche Komponistin Clara Schumann und die englische Komponistin Dorothy Howell. Inwieweit sie ihr als Vorbild für ihr Opernschaffen dienen konnten, ist fraglich, da sie sich wie die meisten Komponistinnen des 19. Jahrhunderts auf das Komponieren von Liedern und Kammermusikwerken beschränkten. Eine Ausnahme bildet die französische Komponistin Augusta Holmès (1847-1903), die mehrere Bühnenwerke veröffentlichte, allerdings unter dem männlichen Pseudonym Hermann Zenta. Es ist nicht bekannt, ob Ethel Smyth von der Existenz dieser Komponistin wusste. Das Opernschaffen von Smyth umfasst die fantastische Komödie, das Musikdrama, das lyrische Drama und die Komödie. Zwischen 1894 und 1898 entstand ihre erste Oper „Fantasio“, eine Komödie in zwei Aufzügen mit einem Libretto nach Alfred de Musset von Henry Brewster. Smyth musste sich selbst um Aufführungsmöglichkeiten kümmern. Verschiedene Schwierigkeiten standen ihr im Weg. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Musikleben in England wenig entwickelt. Die Interessierten orientierten sich mehr an der kontinentalen als an der spezifisch britischen Musik. Englische Kompositionen fanden nur Anklang, wenn sie bereits im Ausland Erfolg gehabt hatten. Hinzu kam, dass das Publikum sich nicht vorstellen konnte, dass Frauen überhaupt komponieren konnten. Die Vorurteile reichten aus, um eine Veröffentlichung ihrer Musik zu verhindern. Aufgrund der zentralistischen Musikstrukturen konzentrierten sich die musikalischen Aufführungsstätten in England vorwiegend auf London, wodurch die Aufführungsmöglichkei8 ten extrem einschränkt wurden. Deutschland, im Gegensatz zu England 8
Aus der musikgeschichtlichen Entwicklung geht hervor, dass sich die kulturellen Aktivitäten Englands sehr stark auf die Hauptstadt konzentrierte.
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ein sehr opern- und musikbegeistertes Land, wie Ethel es im Laufe ihres Studiums erfahren hatte, bot mit seinen 14 Opernhäusern weit größere Chancen. Daher entschied sich Smyth, nach Deutschland zu reisen und bei verschiedenen Dirigenten, Produzenten und Musikdirektoren in Dresden, Leipzig, Köln, Hamburg, Wiesbaden, München und Karlsruhe vorzusprechen. Bei dem Großherzog von Weimar hatte sie schließlich Erfolg, und dort kam die Oper zur Uraufführung (Rieger 1988: 232). Die Aufführung ihrer zweiten Oper, „Der Wald“, ein Einakter, bereitete noch größere Schwierigkeiten. Nachdem sie in Dresden eine Absage bekommen hatte, versuchte sie ihr Glück an der Berliner Oper. Sie hoffte, dass Kontakte, die sie zu dem Operndirigenten Karl Muck pflegte, den sie bereits aus London kannte, ihr dabei helfen könnten. Um 1902 herrschte in Deutschland eine große Antipathie gegenüber den Engländern, die durch den von Großbritannien gegen die Burenstaaten von 1899 bis 1902 geführten Kriege ausgelöst wurde. Die Engländer hatten reiche Goldminen entdeckt, die sie industriell ausbeuten wollten, und deshalb versucht, das Land zu erobern, woraufhin die Republik Transvaal Großbritannien den Krieg erklärt hatte. Smyth bekam diese antibritische Stimmung in Berlin deutlich zu spüren. Direktor Georg Pierson erklärte sich, nachdem sie ihm aus der Oper alle Chor-, Orchesterpartien und Soli vorgespielt hatte, bereit, die Oper anzunehmen und nach Weihnachten mit den Proben zu beginnen. Allerdings warnte er sie vor der anglophoben Atmosphäre und meinte, dass die Presse in dieser Situation mit einer englischen Oper gnadenlos umgehen werde, noch dazu, wenn sie von einer Frau komponiert sei. Der Vorbereitungsprozess ging entsprechend langsam voran. Die Sänger und mehrere Orchestermusiker blockierten die Arbeit durch häufiges Krankfeiern. Ganz ins Stocken geriet die Probenarbeit, als der Direktor plötzlich verstarb und die Leitung an einen anderen Intendanten, der ihr nicht sonderlich gewogen war, übergeben werden musste. Schließlich kamen ihr die Freundschaft zur Ehefrau des deutschen Kanzlers Graf von Bülow und die dadurch entstandenen Kontakte zum englischen Botschafter Sir Frank zur Hilfe. Der Aufführungstermin der Oper wurde endgültig festgesetzt. Wie der Direktor vorausgesagt hatte, Die Vorreiterstelle der italienischen Opern an den Londoner Musiktheatern änderte sich nach der Gründung der Philharmonic Society in London. Von nun an wurden Werke von Beethoven, Spohr und Mendelssohn gespielt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts stellte das King’s Theatre, das nach wie vor an der italienischen Sprache festhielt, Opern von Mozart, Rossini, Meyerbeer, Donizetti, Verdi und Gounod vor. Das englische Publikum erhielt Zugang zum gesamten Repertoire der kontinentaleuropäischen symphonischen Musik. Unter diesen Umständen war es für englische Komponisten nicht einfach, sich zu etablieren (vgl. Caldwell 1995: 37).
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wurde die Oper vom Publikum ausgebuht und die Zeitungen schrieben eine vernichtende Kritik. Es folgten noch drei weitere Aufführungen, die vom Publikum positiver angenommen wurden. Der letztere Erfolg machte es möglich, dass ihre Oper kurze Zeit später auch in England in Covent Garden in London aufgeführt wurde. Das Publikum reagierte mit großer Begeisterung (Rieger 1988: 232). Während ihres Aufenthaltes in Berlin – sie blieb den ganzen Winter über dort, um das Vorankommen der Proben zu begleiten und zu überwachen – lernte sie durch die Familie Bülow auch den deutschen Kaiser Wilhelm II. kennen. Dieser empfand Smyth als eine interessante Gesprächspartnerin und war auch von ihrer musikalischen Arbeit sehr angetan. In ihren Memoiren beschreibt Smyth, dass Deutschland im Unterschied zu Großbritannien ausgesprochen militaristisch und von einem ausgeprägten Untertanengeist gegenüber dem Kaiser beherrscht sei. Gerade in Berlin sei sie bei jeder Gelegenheit damit konfrontiert worden. An anderer Stelle macht sie sich scharfzüngig über die Auswirkungen des Kaiserkultus und das strenge preußische Offizierswesen lustig. Sie beobachtete, dass der Kaiser nur in ehrfurchtsvollem Flüsterton erwähnt wurde, was ihr als liberaler Britin völlig unverständlich war (Rieger 1988: 100). In den Jahren 1902-1904 entstand die Oper „The Wreckers“ (Strandrecht), die auf eine düstere Sage aus Cornwall zurückging. Henry Brewster, der sich gemeinsam mit Smyth auf einer Reise durch Cornwall Anregungen für einen neuen literarischen Stoff geholt hatte, verfasste das Libretto. Auch dieser Veröffentlichung standen immer wieder Hindernisse im Weg. Der berühmte Dirigent Arthur Nikisch hatte 1905 einer Premiere am Leipziger Opernhaus zugestimmt, wurde aber zwei Monate später vom Stadtrat entlassen. Ein zweiter Versuch ein Jahr später in Wien schlug ebenfalls fehl, da Gustav Mahler, mit dem sie die Verhandlungen geführt hatte, seines Amtes enthoben wurde. 1908 führte Arthur Nikisch in der Queen’s Hall in London eine Kammer-KonzertFassung von der Oper „The Wreckers“ auf, die großen Zuspruch erhielt. Ein Jahr später erfolgte die Uraufführung der Oper, dirigiert von dem berühmten Dirigenten Sir Thomas Beecham. Mit dieser Oper erregte sie das Interesse der englischen Frauenbewegung, der Suffragetten. Versuche in Deutschland schlugen fehl, da der erste Weltkrieg ausbrach. So konnte auch Bruno Walters Zusage für die Münchener Oper aus diesem Grunde nicht eingehalten werden. Die danach in London in Covent Garden zugesagte Aufführung scheiterte an einem Dirigentenwechsel. 20 Jahre vergingen, bis 1931 eine Wiederaufführung erfolgte, die vom Publikum begeistert aufgenommen wurde. Leider konnte Smyth
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zu dieser Zeit nur noch als Zuschauerin teilnehmen, da sie unter fortschreitender Taubheit litt. Ähnlich erging es der Oper „The Boatwain’s Mate“, die in den Jah9 ren 1913 und 1914 von Smyth auf einer Reise durch Ägypten geschrieben wurde. Die Premiere war 1915 in Frankfurt/M. angesetzt, doch der Krieg zeigte auch hier seine Auswirkungen. In London kam die Oper schließlich unter der Leitung des Dirigenten Sir Thomas Beecham zur Aufführung. Allerdings war das Echo wegen einiger Fehler des Regisseurs nicht sehr groß. Smyth, die über diese Entwicklung sehr unglücklich war, schrieb im Jahre 1919 ihre erste Autobiographie „Impressions that Remained“, wodurch sie sehr schnell als Schriftstellerin bekannt wurde. Diese Tatsache hatte einen positiven Nebeneffekt, denn das Publikum begann, sich auch nach der Komponistin zu erkundigen. Der Dirigent Henry Wood hatte Smyth schon mehrfach aufgefordert, ihre Werke selber zu dirigieren, um auf diese Weise die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu lenken. Sie entschied sich, diesem Ratschlag zu folgen und nach und nach konnte sie der Öffentlichkeit verschiedene Orchesterwerke zu Gehör bringen. Zu ihrer Freude gelang im Jahre 1924 eine Wiederaufführung ihrer „Messe in D“ in Birmingham. Die zwischen 1923 und 1924 verfasste Oper „Entente Cordiale“ kam 1925 am Royal College of Music zur Uraufführung und wurde vom Publikum sehr positiv aufgenommen. Trotz dieser relativen Erfolge schreibt Smyth in ihren Memoiren, dass sie sich sowohl bezüglich der Aufführungspraxis als auch in bezug auf die Musikkritik gegenüber ihren männlichen Kollegen immer zurückgesetzt fühlte und jahrelang unter mangelnder Anerkennung litt. Dennoch konnte sie immer wieder positive Pressestimmen über ihre musikalischen Werke verbuchen, wie aus den 1924 niedergeschriebenen Gedanken in „A Burning of Boats“ hervorgeht. So wurde von dem berühmten Dirigenten Bruno Walter folgender Text in „The Times“ abgedruckt: „Ich betrachte Ethel Smyth als eine besonders bedeutende Komponistin, der ein dauerhafter Platz in der Musikgeschichte sicher ist. Echte musikalische Produktivität ist so selten, dass wir zu Recht fragen können, ob der Eindruck von Originalität, den diese Kompositionen hervorrufen, nicht ihrer Weiblichkeit zuzuschreiben ist? Doch während unsere Ohren zwar darin geschult sind, nationale Musikunterschiede sofort zu entdecken, sind wir zu unerfahren, um Merkmale herauszuhören, die auf die Geschlechtszugehörigkeit des Komponisten schließen lassen. […] Die Geschlechterfrage ist jedoch vergleichsweise unbedeutend angesichts eines so großen Talentes, einer so originellen themati9
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Der Gesundheitszustand von Smyth war zu dieser Zeit kritisch, daher riet ihr ein Arzt, in die Wärme nach Ägypten zu reisen.
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schen Erfindungsgabe, eines so tiefen und warmherzigen Temperamentes […]“ (nach Rieger 1988: 173).
Angesichts ihrer häufig geäußerten Enttäuschungen soll hier an die Tagebucheintragungen von Virginia Woolf erinnert werden, in denen sie Smyth ungeheuren Ehrgeiz und eine immerwährende Sucht nach Lob nachsagte. Smyth war in der Öffentlichkeit sehr wohl anerkannt. Ihr wurden mehrere Ehrungen zu teil. Bereits im Jahre 1910 erhielt sie von der Universität Durham einen Ehrendoktortitel. 1923 verlieh ihr König Edward VII. für ihre Kompositionen den Adelstitel „Dame of the British Empire“, womit sie den Hö10 hepunkt ihrer Berühmtheit erreicht hatte. Es folgten noch zwei weitere Ehrendoktortitel der Musik, 1926 von der Oxford University und 1928 von der St. Andrews University.
4 . E t h e l S m yt h u n d d i e S u f f r a g e t t e n b e w e g u n g 1911-1912 Um 1911, Smyth lebte bereits seit mehreren Jahren wieder in England, beschloss sie, sich politisch zu engagieren. Unter den verschiedenen Suffragetten-Grupppen, die sich um die Einführung des Frauenwahlrechts bemühten, nahm die 1905 von Emmeline Pankhurst gegründete Women’s Social and Political Union (WSPU) eine besonders militante Stellung ein. Sie gab sich nicht mit Demonstrationszügen und öffentlichen Veranstaltungen zufrieden, sondern griff auch zu Mitteln der Gewalt. Emmeline Pankhurst, die in Manchester wegen versuchter Unruhestiftung angeklagt und zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, zog nach verbüßter Haft mit ihren Töchtern nach London, um von hier weitere Demonstrationen zu organisieren. Smyth, die sich mit Emmeline Pankhurst anfreundete, brachte ihre musikalischen Fähigkeiten in die Bewegung ein, in dem sie eine Hymne „The March of the Women“ für die Suffragetten komponierte. Ein Suff-
10 Parallel zu dem Titel „Dame“ wurden Männer zu Rittern geschlagen mit dem Titel „Sir“. Verschiedenen Musikern, mit denen Smyth bekannt war, wurde während ihrer Schaffensperiode dieser Titel verliehen: Sir Thomas Beecham, ein Dirigent, der mehrfach Werke von Smyth aufführte, Sir William Henry Hadow, Sir Edward W. Elgar, der beabsichtigte, ebenfalls in Leipzig zu studieren, aber aus finanziellen Gründen das Vorhaben fallen lassen musste (Heldt 2001: 232), Sir Arthur Sullivan, der ihr mit seinem Opernschaffen hätte ein Vorbild sein können etc.
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Abbildung 3: „The March of the Women“
ragetten-Chor übte die Hymne ein und brachte sie am 23. März 1911 in der Albert Hall unter den Klängen einer Orgel und eines Kornetts zur Aufführung. Smyth engagierte sich in dieser Suffragetten-Bewegung als Kurier und Lockvogel. Da sie ebenso wie ihre Mitstreiterinnen ständig von der Polizei beschattet wurde, bediente sie sich wiederum des Mittels der Maskerade. Sie verkleidete sich häufig und versuchte auf Nebenstrecken, die verabredeten geheimen Treffpunkte zu erreichen. Sie scheute auch nicht davor zurück, an gewaltsamen Aktionen teilzunehmen. Aufgrund ihrer vielseitigen sportlichen Betätigungen wie Reiten, Golf, Ten82
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nis, Schach, Radfahren, Cricket und Fuchsjagd, denen sie regelmäßig nachging, war sie körperlich in sehr guter Verfassung und brachte ihrer Anführerin bei, wie man gezielt mit Steinen z.B. Fensterscheiben zerstören konnte. Am 1. März 1912 schlugen etwa zweihundert Frauen in der vornehmen Einkaufsstraße Oxfordstreet in London fast sämtliche Scheiben ein. Smyth gehörte zu den Rädelsführerinnen und wurde gemeinsam mit ihnen verhaftet. Ihre Gefängniszeit kommentiert sie folgendermaßen: „In diesen zwei Monaten in Holloway war ich zum ersten und zum letzten Mal in meinem Leben in guter Gesellschaft. Man stelle es sich vor! Mehr als hundert zusammen gesperrte Frauen, alte und junge, reiche und arme, kräftige und schwache, die sich alle samt und sonders von jedem selbstsüchtigen Gedanken verabschiedet hatten, die alle möglichen Konsequenzen in Kauf nahmen, die alles vergaßen außer der Idee, für die sie ins Gefängnis gingen“ (Rieger 1988: 149).
Möglicherweise müssen diese Aussagen auch als Künstlerinnenlegende begriffen werden. Es darf nicht übersehen werden, dass Smyth trotz ihrer gesellschaftskritischen Einstellung in sehr konservativen Kreisen groß geworden war und bewusst den Kontakt zu dieser Gesellschaftsschicht pflegte, da sie hier auf finanzielle Unterstützung für die Auffüh11 rungen ihrer Opern rechnen konnte. Ihren musikalischen Neigungen folgend dirigierte Ethel aus dem Zellenfenster heraus mit einer Zahnbürste den „March of the Women“, den die im Hof marschierenden Frauen bei vielen Gelegenheiten anstimmten. Bei dieser Erinnerung handelt es sich offensichtlich um eine Zeugenaussage, die Sir Thomas Beecham angesichts eines Besuches im Gefängnis Holloway berichtet: „I arrived in the main courtyard of the prison to find the noble company of martyrs marching round it and singing lustily their war-chart [March of the Women] while the composer, beaming approbiation from an overlooking upper window, beat time in almost Bacchic frenzy with a toothbrush“ (John 1959: 155).
Nach zwei Jahren intensiver Arbeit in der Suffragettenbewegung kehrte Smyth der Politik den Rücken und wandte sich wieder ausschließlich dem Komponieren und der Schriftstellerei zu. 11 Nicht nur die Kaiserin Eugénie hatte sie finanziell unterstützt, auch Damen aus Adelskreisen waren ihr immer wieder mit Geldbeträgen behilflich.
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5 . D i e g e s e l l s c h a f t l i c h e , s o z i a l e u n d p s yc h i s c h e S i t u a t i o n d e r K o m p o n i s t i n E t h e l S m yt h An den vielen Aktivitäten von Smyth ist deutlich geworden, dass sie immer wieder versuchte, aus ihrer angestammten Geschlechterrolle auszubrechen und neue Wege zu gehen. Ihre Künstlerkarriere ging sie sehr zielstrebig an. Der klassischen Ausbildung in Leipzig, die geprägt war durch ihr Liederschaffen, das Komponieren von Kammermusikwerken und die musikalische Auseinandersetzung mit vielen Komponisten ihrer Zeit, folgte die Beschäftigung mit größeren Werken wie der „Messe in D“ und den Opern. Sie nutzte jede Gelegenheit, ihre Werke an den Opernhäusern in Deutschland bekannt zu machen und scheute nicht davor zurück, ihre Opern singend und spielend vorzutragen. In England nahm sie auf Anraten von Henry Wood selbst die Position der Dirigentin ein und machte ihre Werke auf diese Weise bekannt. Neben ihrem schriftstellerischen Oeuvre hielt sie viele Vorträge und nutzte die Möglichkeiten des Rundfunks. In dem 1928 entstandenen Essay „A final burning of boats“ reflektiert sie über die Rolle der Frau in der Gesellschaft und bringt an verschiedenen Stellen ihre eigenen Erfahrungen mit ein. So beobachtete sie, dass Frauen, die um die Jahrhundertwende, sei es in der Literatur oder in der Politik, besondere Stellungen einnahmen, immer wieder mit einer Mauer aus Vorurteilen seitens der Männer umgeben wurden. Sie bezichtigte die Männer der kollektiven Selbstsucht, deren spezifische Form umso gefährlicher sei, da sie im Verborgenen wirke. Der Umgang mit berufstätigen Frauen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten ließ sie erkennen, dass Männer „es gar nicht leiden [konnten], den Erfolg einer Frau mit ansehen zu müssen, daher [würden] sie ihn abwerten oder mindern, wann immer sie könnten“ (Rieger 1988: 152). Mit ihren Erfahrungen in Musikerkreisen, sei es unter Komponisten oder Orchestermusikern, wo Frauen nichts zu suchen hatten, teilte sie das Schicksal der anderen Frauen. Im Gegensatz zu ihren männlichen Kolle12 gen, von denen viele in lukrativen Stellen untergebracht waren, die ihnen die ökonomische Sicherheit bot, gelang es ihr nicht, beruflich eine feste Anstellung zu erlangen. Pädagogische Arbeit, die den Frauen als Ausweg zugestanden wurde, kam für sie nicht in Betracht. Ebenso wenig wollte sie die Chance einer Heirat ergreifen, die ihr nicht nur soziale, 12 „Hubert Parry (1848-1918) wurde Nachfolger Arthur Sullivans als Direktor der Royal College of Music, Charles Villiers Stanford (1852-1924) war Musikprofessor in Cambridge, Edward Elgar (1857-1934) Musikprofessor an der Universität Birmingham, und Alexander Mackenzie (18471935) war der Leiter der Royal Academy of Music“ (Rieger 1988: 240).
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sondern auch ökonomische Sicherheit und gesellschaftliche Akzeptanz geboten hätte. Ihre kritische Haltung anderen gegenüber bezog sie auch auf sich selbst und wies immer wieder darauf hin, welcher Mut und welche Kraft nötig waren, um die Verachtung und den Ärger ihrer männlichen Zeitgenossen zu ertragen. In ihrer Auseinandersetzung mit verschiedenen Frauenbiographien, z.B. George Sand, Vernon Lee, Sonja Kowalewskaja und Florence Nightingale z.B. kam sie zu der Überzeugung: „Es gibt genug Belege in der Geschichte dafür, dass das weibliche Gehirn, Herz, die weibliche Intuition, Kraft etc. von besonderem Wert in unserem Leben sein sollte. Nur ein kleiner Teil der Frauen hat solche Positionen eingenommen, in denen Männer es sich leisten konnten, ihnen ein wenig Unterstützung zu geben, ohne selbst das Gesicht zu verlieren“ (vgl. Rieger 1988: 154/ 155).
Am Beispiel der Anführerin der Suffragetten-Bewegung Emmeline Pankhurst zeigte sie auf, dass diese sogar bereit gewesen sei, sich foltern zu lassen, weil ihr dies als der einzige Weg erschien, die Freiheit zu erlangen. Als Fazit kann festgestellt werden, dass Smyth die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ihrer Zeit, sowohl was die politischen, kulturellen und künstlerischen Ereignisse anbelangt, richtig wahrgenommen und ihre Persönlichkeit in diesem Kontext beschrieben hat. Als realistische, selbstkritische, kämpferische und scharf reflektierende Frau gab sie sich keinen Illusionen hinsichtlich ihrer Rolle als Frau und Komponistin hin und konnte ihre Situation nur durch folgende Überlegungen verwirklichen und ertragen: „Wenn ich nicht drei Dinge besessen hätte, die absolut nichts mit Musikalität zu tun haben, nämlich 1. eine eiserne Gesundheit, 2. einen recht ausgeprägten Kampfgeist und 3. – und das ist das wichtigste – ein kleines, aber selbständiges Einkommen – wenn ich das nicht gehabt hätte, dann hätten Einsamkeit und Entmutigung mich schon vor vielen Jahren bezwungen. Und ich will noch eins hinzufügen: Hätte ich nicht im Jahre 1919 zwei Memoiren-Bände veröffentlicht, meine Werke würden heute noch genau so selten gespielt wie damals“ (Rieger 1988: 162).
Aufgrund der zunehmenden Taubheit verbrachte Ethel ihre letzten Lebensjahre fast ausschließlich mit Schreiben. Am 8. Mai 1944 starb sie nach kurzer Bettlägerigkeit mit 86 Jahren.
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Verzeichnis der Kompositionen Streichquartett d-moll, 1880 Prelude und Fuge for Thin People, ca. 1883 Four Short Chorale Preludes für Streicher und Soli, 1882-4 Streichquintett E-dur op.1, 1884 Lieder und Balladen op.3, 1886 Lieder op. 4, 1886 Sonate für Vc. und Klavier op.5, 1887 Sonate für Violine und Klavier op.7, 1887 Trio für Streicher D-dur, 1887 Streichquartett C-dur, 1886-8 The Song of Love, Kantate op.8, 1888 Ouvertüre zu Shakespeares „Antony and Cleopatra”, 1890 Serenade D-dur, 1890 Messe D-dur für Soli, Chor und Orchester, 1891 Oper „Fantasio“, 1892-4 Oper „Der Wald“, 1899-1901 Oper „The Wreckers“, 1902-4 Vier Lieder mit Kammermusikbegleitung: Odelette, La Danse, Chrysilla und Anacreontic. Ode für Flöte, Harfe, Streicher und Schlagzeug, 1907 Sleepless Dreams für Chor und Orchester, 1912 Songs of sunrise: Laggard Dawn, 1910 March of the Women, für Chor a capella, 1910 March of the Women für Chor mit Klavier-Begleitung, 1911 Hey Nonny No! für Chor und Orchester, 1911 Streichquartett e-moll, 1902-1912 Sleepless Dreams für Chor und Orchester, 1912 Fünf kurze Choralpreludien, 1913
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Drei Lieder (The Clown, Possession, On the Road) mit Orchesterbegleitung, 1913 Lieder: Three Moods of the Sea: Requies, Before the Squall, After Sunset, mit Orchesterbegleitung, 1913 Oper „The Boatswain’s Mate”, 1913-4 Dreamings für Chor a capella, 1920 Soul`s Joy, Madrigal für Chor a capella, 1923 Oper-Ballett „Fète Galante”, 1923 Oper „Entente Cordiale”, 1923-4 Konzert A-dur für Violine, Horn und Orchester, 1927 Variationen über Bonny Sweet Robin für Flöte, Oboe und Klavier, 1927 Zwei Trios für Violine, Oboe und Klavier, 1927 The Prison, Sinfonie für Soli, Chor und Orchester, 1930 Hot Potatoes, Fanfare für Bläser, 1930 Präludium über eine irische Volksmelodie, 1939 (erstellt nach Eva Rieger (1988: 251))
Diskographie Mass in D 1891/Mrs. Water’s Aria from The Boatswain’s Mate/The March of the Women. The plymouth Music Series; Soli, Chor und Orchester, Ltg. Philip Brunelle. London, Virgin Classics, 1991 „The Wreckers“, Oper in drei Akten. BBC Philharmonic Orchestra, Ltg. Odaline de la Martinez, England, Conifer Classics, 1994 Complete piano Works. Liana Serbescu, Klavier. Georgsmarienhütte, Germany, cpo Records 1995 Streichquartett in E Minor/Streichquartett op. 1 in E Minor, Mannheimer Streichquartett, Joachim Griesheimer, 2nd Cello, cpo Georgsmarienhütte, Germany, 1996 Kammermusik & Lieder, Vol. 4: Lieder op. 4/Lieder und Balladen op. 3, Maarten Koningsberger, Bariton; Kelvin Grout, Piano/Sonate für Violoncello und Klavier c-moll, Friedemann Kupsa, Violoncello, Anna Silova, Piano/Three Moods of the Sea für Bariton und Klavier, Maarten Koningsberger, Bariton, Kelvin Grout, Piano. Troubadisc, Germany, 1997
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Grenzgängerinnen zw ischen Lebensw elten – Biographieforschung am Beispiel von Soz ia la rbe ite rinnen in Führungs positionen SABINE BROMBACH/CLAUDIA SCHÜNEMANN
1. Frau – Beruf – Karriere Berufstätigkeit hat im biographischen Selbstverständnis von Frauen einen hohen Stellenwert. So weist das Statistische Jahrbuch (2005) für das Jahr 2004 von 38,4 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland 18,1 Millionen Frauen aus. Dies bedeutet einen Anstieg weiblicher Erwerbstätigkeit auf 47,1%. Dennoch ist Erwerbsarbeit für alle Frauen – historisch betrachtet – ein junges Phänomen. Erst im 19. Jahrhundert errang die bürgerliche Frauenbewegung einen gesellschaftspolitischen Erfolg mit der Schaffung von „Brotberufen“ (Gerhard 1978) für unverheiratete bürgerliche Frauen, die zudem im Vergleich zu den industriell tätigen Arbeiterfrauen ein Anrecht auf Ausbildung und Auskommen hatten. In dieser Phase entstanden Frauenberufe wie Erzieherin, Lehrerin, Krankenpflegerin und Fürsorgerin, heute Sozialarbeiterinnen genannt. Durch die Akademisierung der sozialen Berufe in der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde der Beruf des Sozialarbeiters auch für Männer attraktiv. Zur Zeit studieren ca. 23% männliche Studierende Sozialarbeit/ Sozialpädagogik (BMBF, Grund- und Strukturdaten 2001/2002) – in den Führungspositionen des mittleren und oberen Managements in den Tätigkeitsbereichen der sozialen Arbeit findet man dagegen ca. 95% Männer (vgl. u.a. Ehrhardt 1998; Zentrale Studienberatung Universität Lüneburg 2003). Der Anteil von ca. 5% Frauen in Führungspositionen entspricht dem in anderen Branchen wie im produzierenden Gewerbe, der Wirtschaft und dem öffentlichen Dienst. 89
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Die wenigen ‚Karrierefrauen‘ erhielten Ende letzten Jahrhunderts viel Beachtung sowohl in wissenschaftlicher als auch in alltagspraktischer Ratgeberliteratur. Mit Helgesens Triumphstoß: Frauen führen anders (1990) begann in bester konstruktivistischer Manier die Auseinandersetzung um „spezifisch weibliche Qualitäten“. Helgesens Untersuchung erhitzte mit ihrer geheimen Botschaft, Frauen seien die besseren Vorgesetzten, sogleich die Debatte um Differenz und Gleichheit und legitimierte Karriereratgeber für aufstiegswillige Frauen wie: „So komme ich beruflich voran“ (Becht 1993). Monique Siegels historische Reflexion über berühmte Frauenkarrieren von Kleopatra VII. über Maria Theresia, Louise OttoPeters bis zu Coco Chanel und Golda Meir erhob weibliches Leiten gar zur „Weibliche(n) Führungskunst“ (1993). Ein Widerspruch in sich: Kunst als Inbegriff kreativen Schöpfertums und Führen als rational, organisiertes Handeln? Oder gelingt gerade Frauen, wenn auch sehr wenigen, dieser Spagat? Oder ist Führungskunst nur ein Privileg der berühmten Frauenpersönlichkeiten? Oder weisen auch ‚normale‘ Frauen in Führungspositionen Qualitäten auf, die beispielhaft und vergleichbar wären?
2. Entwicklung des Forschungsprojekts In den Jahren 1999 bis 2001 wurde am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel ein empirisches Forschungsprojekt mit dem Titel: „Individuelle Karriereverläufe von Sozialarbeiterinnen in Führungspositionen“ (Schünemann/Brombach 2001) durchgeführt. Die Untersuchung beschäftigte sich mit außergewöhnlichen Frauen, nicht mit Berühmtheiten. Zwanzig Sozialarbeiterinnen wurden gebeten, sich biographischer Anteile zu erinnern, die ihren beruflichen Lebensweg als den eines Karriereverlaufs kennzeichnen. Hinter diesem Vorgehen stand die Fragestellung, ob es überhaupt einen Zusammenhang zwischen individueller Biographie und Karriereverlauf geben könnte, und ob dabei die soziale Kategorie ‚weibliches Geschlecht‘ als eine beeinflussende Größe zu erkennen sei. Somit war das Vorgehen nicht defizit-strukturell (welche Strukturen/Barrieren hindern Frauen, eine Führungsposition zu erreichen?), sondern ressourcenorientiert (aufgrund welcher biographischer Einflüsse oder Handlungen ist es den Frauen gelungen, eine Führungsposition zu erreichen?). Dabei wurde der Ressourcenbegriff nicht in einer ökonomischen sondern in einer sozialwissenschaftlichen Begrifflichkeit verwendet, d.h. im Selbstverständnis ureigener besonderer individueller Fähigkeiten, Potenziale und
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Kompetenzen, die die Frauen adaptiert oder entwickelt haben, und die ihnen möglicherweise den Weg in die Führungsposition ebnen konnten. Nach Rommelspacher (1991) sind (insbesondere im sozialen Bereich) berufstätige Frauen zwei unterschiedlichen Normensystemen verpflichtet: im Privatbereich der mütterlichen Fürsorge und im Beruf der Professionalität mit ihren traditionell herausgebildeten männlichen Strukturen. Wie gestalten ‚Karrierefrauen‘ diese oftmals als dichotom gekennzeichneten Lebensbereiche? Ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine prognostizierbare Karrierebremse oder sind diese Grenzgängerinnen zwischen Lebenswelten ein exemplum für gelebtes Frauenleben in Empowerment und Veränderung der bestehenden Geschlechterverhältnisse? Zur Klärung dieser und weiterer Fragestellungen galt es, folgende theoretische Rahmenbedingungen zu beachten.
3. Theoretische Rahmenbedingungen der Untersuchung 3.1. Individualisierung und Geschlecht Gelebtes Frauenleben vollzieht sich als individuelle Biographie unter den Bedingungen eines gesamtgesellschaftlichen Individualisierungsprozesses. Beck und Beck/Gernsheim (1986; 1994) haben drei Dimensionen der Individualisierung beschrieben: • Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und Sozialbindungen im Sinne traditioneller Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (Freisetzungsdimension) • Verlust von traditionellen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (Entzauberungsdimension) und • eine neue Art der sozialen Einbindung (Kontroll- und Reintegrationsdimension). Die Herauslösung von Individuen aus traditionellen Klassenbindungen und Versorgungsbezügen der Familie und der Verweis auf sich selbst verbunden mit der Suche nach neuen Formen der Einbindung stellt Männer wie Frauen vor die Aufgabe, ihren Lebenslauf selbst zu gestalten, die eigene Biographie aus „vorgegebenen Fixierungen“ (Beck 1986: 5) herauszulösen und zu verantworten. Kohli (1978: 83) bezeichnet dieses als
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„Auflösung der bisher institutionalisierten Verlaufsmuster des Lebens – vor allem, was die sequentielle Ordnung des Lebenslaufs betrifft, d.h. eine Situation, die nach eigenständiger biographischer Orientierung verlangt.“
Bezogen auf das Geschlechterverhältnis beschreibt Diezinger (1991: 29), dass das „herrschende Beziehungsmodell durch ein ‚harmonisches Ungleichgewicht‘ zwischen Mann und Frau gekennzeichnet“ sei, was zur Folge habe, dass Frauen erst über Optionen verfügen müssen, die eine neue Qualität von sozialen Bindungen ermöglichen. Somit sieht Diezinger (1991: 30) für Frauen zwei unterschiedliche Formen der Individualisierung. Zum einen die „gesellschaftlich dominante ArbeitsmarktIndividualisierung“ und zum anderen die „geschlechtsspezifisch kontrollierte Individualisierung“. Sie erläutert dieses so: „Individualisierung von Frauen bedeutet zum einen die veränderte Einbindung in Erwerbsarbeit und Familie(narbeit) und zum anderen Veränderbarkeit des ‚Lebenszusammenhangs‘, d.h. des Verhältnisses der beiden Lebensbereiche zueinander. Die Gewichtungen, die im individuellen Lebensplan Beruf und Familie enthalten sind, können sich lebensphasenspezifisch ändern, die Balance von Optionen und Ligaturen sich jeweils zu neuen Lebenschancen austarieren“ (ebd. 31).
3.2 Weibliche Lebensplanung Wohlrab-Sahr beschreibt die Folgen dieses Prozesses als neue Form von „Kontinuität und Diskontinuität“ im weiblichen Berufsverlauf und diagnostiziert, dass „die alte Gestalt des in Phasen unterteilten Erwerbsverlaufs von Frauen abgelöst (wird) durch eine Vielzahl berufsbiographischer Varianten, mit denen sich meist auch charakteristische Konstellationen von beruflicher Einbindung und privater Lebensform verbinden“ (1993: 73).
Auch Geissler/Oechsle (1996: 30) konstatieren, dass „die doppelte Lebensführung zum neuen Leitbild für Frauen geworden ist, dass es dafür jedoch kein ausgearbeitetes Modell gibt“. Weiterhin sehen sie die Anforderungen an Verarbeitungsmuster für Frauen als Qualifikationen des weiblichen Lebenslaufs. „Die Fähigkeit zur Lebensplanung, verstanden als Bilanzierung der bisherigen Biographie, als Exploration objektiver Chancenstrukturen, als Evaluation der eigenen Ressourcen und als Antizipation möglicher Alternativen in der Zu-
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kunft, wird damit zu einer wichtigen Ressource im Prozess der Modernisierung weiblicher Lebensführung“ (Geissler/Oechsle 1990: 186).
Diese Planungsleistung einer weiblichen Biographie – eingebunden in gesellschaftliche Strukturen – ist ein Konstrukt, das sich in den von uns durchgeführten Befragungen in doppelter Reflexion manifestiert. Die eigene Biographiearbeit, die durch unsere leitfragenorientierten qualitativen Interviews initiiert wurde, ist eine soziale Konstruktionsleistung, d.h. „sie erhält ihre Akzente aus dem kommunikativen Kontext, in dem sie vergegenwärtigt wird“ (Erlemeier 1998: 199). Somit kann mit Glinka Biographie verstanden werden, als „sozialbiographisches Konstrukt […], das in komplexer Wechselwirkung zwischen biographischen Prozessen und der Konstitution von sozialer Wirklichkeit steht. Biographie hat immer auch konkrete Bezüge zu äußeren und inneren Befindlichkeiten des Biographieträgers, und sie ist sozusagen der Schlüssel zur Identitätsentfaltung“ (Glinka 2001: 210).
Die empirische Studie über „individuelle Karriereverläufe von Sozialarbeiterinnen in Führungspositionen“ (Schünemann/Brombach 2001) hat den Anspruch, Prozesse der ‚Enttraditionalisierung‘, ‚Individualisierung‘ und ‚Biographisierung der Lebensführung‘ transparent zu machen. Dabei entspricht unser Vorgehen der Konzeptualisierung, wie sie Dausien (2002: 79) als Gewinn der Biographieforschung für die Sozialisationsforschung beschrieben hat: „Im Konzept der biographischen Re-Konstruktion wird, wenn man so will, der ‚Sozialisationsprozess‘ aus einer anderen Perspektive heraus untersucht: Es geht nicht um die Suche nach Kausalzusammenhängen einzelner Faktoren(bündel), in der Hoffnung, auf diese Weise allgemeine Gesetze oder Regeln zu entdecken, sondern um Rekonstruktionen je konkreter Geschichten des Gewordenseins. Statt eines Ursache-Wirkungsmodells liefern Biographieanalysen Erklärungen vom Typ einer ‚wie es dazu kam, dass‘ Erzählung“.
Um das Thema in seiner gesamten Komplexität zu erfassen, war es zusätzlich notwendig, einen weiteren implizierten Aspekt zu berücksichtigen, den Kontext ‚Soziale Arbeit‘. Dieses Arbeitsfeld ist im Allgemeinen eher mit dem Begriff des uneigennützigen Helfens verbunden als mit ‚Karriere‘ und ‚beruflichem Aufstieg‘ und stellt sich wie folgt dar.
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3.3 Spezifikum des Berufsfeldes Soziale Arbeit Obwohl sich das Berufsbild der Sozialen Arbeit als helfender Frauenberuf über die Fürsorgebürokratie hin zu einem professionellen Dienstleistungsberuf entwickelt hat, steht in der Sozialen Arbeit immer noch die Arbeit für und mit Menschen in sozialen Notlagen im Mittelpunkt (vgl. Rabe-Kleberg 1990: 65). Während kontrollierende verwaltende Tätigkeiten dieses Berufsfelds heute vor allem von Männern ausgeführt werden, verteilen sich Frauen hauptsächlich auf die direkte klientenzentrierte Basisarbeit. Ursachen hierfür finden sich einerseits in der auf Fürsorge und Emotionalität angelegten geschlechtsspezifischen Sozialisation von Mädchen, andererseits entstehen durch die ‚innere‘ Verwandtschaft von privater und professioneller Fürsorge (vgl. Rommelspacher 1991: 38) Wechselwirkungen zwischen der Entwertung weiblicher Beziehungs- und Versorgungsarbeit im privaten Bereich und der Übertragung derselben auf das professionelle Handeln. Somit bietet Sozialarbeit Frauen umso schlechtere Aussichten auf Karriere, je mehr sie der privaten Beziehungsarbeit ähnelt. Für die Karriereambitionen von Frauen in der Sozialen Arbeit bedeutet dies zweierlei: Zum einen müssen sie sich umorientieren, weg von der grundständig helfenden Tätigkeit direkt an der KlientIn hin zu eher bürokratischen, organisatorischen Tätigkeiten im ‚Sozialen Management‘. Zum zweiten bedeutet dies auch, sich im individuellen Alltag einzustellen auf fortwährende ‚Konstruktionsleistungen zwischen Lebenswelten‘, was in der Realität bedeutet, einen permanenten Rollenwechsel zwischen Beruf und Privatleben, zwischen Chef(in)-Sein, Sozialarbeiterin-Sein, Frau-Sein, Mutter-Sein, PartnerinSein zu bewältigen … um hier nur einige zu nennen. Dieser Rollenwechsel muss bewusst vollzogen werden, denn in jeder dieser Lebenswelten wird ein bestimmtes Verhalten erwartet. Das NichtAnnehmen der jeweiligen Rolle führt zu negativen Sanktionen und verhindert das erwünschte Feedback der Umwelt. Dies ist einer der Gründe für viele Frauen in der Sozialen Arbeit, Karriere und Führungspositionen abzulehnen. Sie möchten eher in Positionen arbeiten, deren Inhalte sie befriedigen, wie Meinhold bereits 1993 in ihrer Untersuchung feststellte (Meinhold 1993). Allein aus materiellen Gründen würden nur die wenigsten Frauen eine höhere Position anstreben. So kommt es dazu, dass wie in allen anderen gesellschaftlichen Lebens- und Arbeitsbereichen auch im sozialen Bereich Frauen in Führungspositionen immer noch in der Minderheit sind. Ursache dieses Tatbestandes sind neben den o.g. nicht zuletzt die patriarchalischen Strukturen im persönlichen und beruflichen Umfeld der Frauen. Andererseits gibt es Hindernisse, die in den Persönlichkeits94
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strukturen einzelner Frauen selbst liegen. Hindernisse, die sie im Verlauf ihres Lebens auf Grund von Erfahrungen internalisiert haben, und die sie nun daran hindern aus vorgegebenen Bahnen auszubrechen. Diese Tatsachen treffen für den größten Teil der Frauen zu. Es gibt aber auch andere, die erfolgreich waren (bzw. sind) und Karriere gemacht haben. Was zeichnet diese Frauen aus?
4. Entwicklung der Fragestellungen Da, wie schon erläutert, bisher immer nur ausgehend von einer Defensivperspektive unter der Fragestellung „was hindert Frauen…?“ geforscht wurde, war diese Untersuchung ressourcenorientiert angelegt. D.h. es wurde nach Ressourcen, im Sinne von ureigenen Qualitäten in der Biographie der einzelnen Frauen gesucht, die sie auf ihrem Weg nutzen konnten um ihre jetzige Position zu erreichen. Ziel dieser Studie war es somit herauszufinden, ob Sozialarbeiterinnen in Führungspositionen aufgrund individueller biographischer Ressourcen, durch besondere individuelle Kompetenzen oder möglicherweise durch Protektion oder Parteipolitik in ihre Positionen gekommen sind. Die Ergebnisse dieser Studie sollten im Sinne von Empowerment einen Beitrag dazu leisten, Frauen, die sich nicht durch Barrieren, äußere Umstände und innere Hindernisse abschrecken lassen, Anregungen zu geben und Wege aufzuzeigen im Sozialen Bereich Karriere zu machen und möglicherweise von den Erfahrungen anderer Frauen zu profitieren.
4.1. Methodisches Vorgehen Befragt wurden 20 Sozialarbeiterinnen in unterschiedlichen Führungspositionen im sozialen Bereich öffentlicher und freier Träger (z.B. öff. Dienst, verfasste Kirche, Diakonie, Caritas etc.). Führungspositionen waren hier definiert über Eingruppierung, Entscheidungskompetenzen und ökonomische Spielräume innerhalb der institutionellen Hierarchie. Befragt wurden ausschließlich Sozialarbeiterinnen mit Fachhochschulabschluss in Führungspositionen. Als konkrete Definitionsmerkmale für die Auswahl der Zielpersonen wurden folgende Kriterien angesetzt: • Abgeschlossenes Studium der Sozialarbeit/Sozialpädagogik (FHDiplom) • Einstufung in Gehaltsstufe BAT III (o. vergleichbar) und höher • Personalkompetenz • Budgetkompetenz (ggf.)
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Das Alter des Personenkreises wurde im Vorfeld nicht festgelegt. So ergab sich die Möglichkeit, ein intergeneratives Spektrum zu erfassen, um möglicherweise Veränderungstendenzen in der individuellen Sozialisation zu erkennen, die wiederum mit den gesellschaftlichen Veränderungsprozessen korrespondieren. Die Erhebung wurde im Zeitraum August 1999 bis März 2000, bundesweit auf Grund der geringen Anzahl von Sozialarbeiterinnen in Führungspositionen, durchgeführt. Dies ergab sich auch dadurch, dass sich einige Interviewpartnerinnen als Multiplikatorinnen erwiesen und den Forscherinnen weitere Interviewpartnerinnen nannten (Schneeballsystem). Die Interviews wurden in Braunschweig, Wolfsburg, Hannover, Berlin, Wilhelmshaven, Rendsburg, Münster, Stuttgart, Mühlheim/Ruhr durchgeführt. Durch die Hilfestellung der Kooperationspartnerinnen – die Frauenbeauftragte der Stadt Braunschweig und die Frauenbeauftragte der evangelische Landeskirche Niedersachsen – ergaben sich neun Interviews im Diakonischen Werk, acht im Öffentlichen Dienst, zwei bei Freien Trägern und eins in der freien Wirtschaft. Die befragten Frauen waren zum Zeitpunkt der Befragung zwischen 35 und 59 Jahren alt. Die Aufgaben der einzelnen Frauen gliederten sich abhängig vom jeweiligen Tätigkeitsfeld in: • Dienst- und Fachaufsicht, Personalkompetenz; dazu gehören Zielvereinbarungsgespräche, Konfliktmanagement, Leitung von Dienstbesprechungen, Koordination abteilungsintern, PraktikantInnenausbildung, Anleitung, Beratungstätigkeit • Budget- und Finanzverantwortung • Geschäftsführung, Qualitätsmanagement, Verhandlungen mit Gewerkschaften und Betriebsrat • Koordination zwischen Kirche und Diakonie, Vertretung des Trägers nach außen, Gremienarbeit, Vernetzung mit anderen Trägern und Anbietern. Die Aufgabengebiete der Frauen waren sehr vielfältig, und sie verlangten Managementfähigkeiten. Die wenigsten Frauen befassten sich noch mit sozialpädagogischer, d.h. klientenzentrierter Basisarbeit. Diejenigen, die noch Klientenkontakte hatten, wendeten nur einen geringen Teil ihrer Zeit dafür auf. Zudem verfügte eine Anzahl von ihnen über unterschiedliche Zusatzqualifikationen.
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4.2 Vorannahmen als Basis der Untersuchung Diese Tatsachen führte zu folgenden Vorannahmen: Zum einen wurde davon ausgegangen, dass es in der Biographie der einzelnen Frauen Hinweise auf Besonderheiten geben könnte, die ihre heutige Karriere begünstigt haben. Zum anderen wurde vermutet, dass die Frauen in Führungspositionen individuelle Ressourcen nutzen können, die sie im Verlauf ihrer primären und beruflichen Sozialisation erworben haben. Des weiteren bestand die Annahme, dass diese Frauen über individuelle Dispositionen verfügen, die eher dem männlichen Verhaltensspektrum zugeordnet werden. Zuletzt galt es Faktoren herauszufiltern, die manche Frauen hindern aber auch andere zur Karriere führen können. Diese Vorannahmen wurden in problemzentrierten Leitfadeninterviews umgesetzt. Die implizierte Problemzentrierung wurde theoriegeleitet auf bestimmte Themenschwerpunkte abgestimmt (vgl. Witzel 1982/1985; Mayring 1996). Grundlage dafür waren sogenannte „sensibilisierende Konzepte“ (vgl. Glaser/Strauss 1979), die sich aus dem theoretischen Hintergrundwissen ergaben. Diese wurden nicht schon vorab durch genaue Definitionen oder Operationalisierungen präzisiert. Vielmehr war die Konzeption darauf angelegt, die Konkretisierung aus dem empirischen Material herauszufiltern (vgl. Kelle/Kluge 1999: 27). Die praktische Vorgehensweise gestaltete sich über den Einstieg mit offenen Sondierungsfragen hin zu vorgegebenen sachorientierten Themenkomplexen. Diese wurden unter Gesichtspunkten konstruiert, von denen erwartet wurde, dass sie für den Verlauf der Berufsbiographie Bedeutung haben könnten. Wie Dausien (1994: 131) anmerkt, lassen Leitfadeninterviews ausgehend vom Prinzip der Offenheit in Abgrenzung zum vorherrschenden männlichen Wissenschaftsverständnis zudem aus der Subjektperspektive der am Forschungsprozess Beteiligten die persönlichen Erfahrungen der Frauen sichtbar werden und ermöglichen es, diese gleichzeitig als Ausgangspunkt der Theoriebildung zu nehmen. Die befragten Frauen werden somit zu Expertinnen ihres eigenen Lebens und Handelns. In dem halbstrukturierten Leitfaden wurden die Lebenswelten (-bereiche) berücksichtigt, die den Alltag der Frauen bestimmen, bzw. bestimmt haben. Aus diesen Überlegungen ergaben sich 6 Themenbereiche für den Interviewleitfaden: • Lebenslauf (in chronologischer Abfolge) • Herkunftsfamilie und Schulzeit • Beruflicher Werdegang (allgemein und spezifisch in der Sozialen Arbeit, bzw. in der Sozialpädagogik) 97
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• • •
Berufliches Selbstverständnis und Führungsstil Beruf und Familie/Partnerschaft Rückblick und Zukunftsperspektive (Bilanzierungsteil)
4.3 Auswertung der Untersuchung Nach der Transkription der Interviews erfolgte eine erste Sichtung des Materials im Hinblick auf die thematischen Vorgaben des vorstrukturierten Leitfadens. Angelehnt an Mayrings (1996) qualitative Inhaltsanalyse galt es, eine Vorgehensweise zu wählen, die sich zum einen an seinem Ansatz orientiert, aber aufgrund der spezifischen Themenstellung die Kombination verschiedener analytischer Verfahren zuließ. In einem ersten Schritt wurde jedes transkribierte Interview einer ausführlichen Einzelfallanalyse unterzogen. Dabei entstand eine Kurzbiographie, die sich aus dem verschriftlichten Datenmaterial ergab. Es handelte sich hierbei um die gezielte Aufbereitung des chronologisch dargestellten Lebenslaufs der Interviewpartnerin in Kurzform (vgl. Haupert 1991: 228). Dieses Vorgehen liegt in der Tatsache begründet, dass sich schon bei der ersten Durchsicht des Materials mögliche Typen abzeichneten und erste Hinweise darauf bereits in den Kurzbiographien zu finden waren. Als nächstes entstand eine Form der Fallkontrastierung, in der das Datenmaterial mit Hilfe von Kodekategorien indiziert bzw. kodiert wurde, um anschließend einen systematischen Vergleich von Textstellen vornehmen zu können (vgl. Kelle/Kluge 1999: 54). Abschließend wurde eine Typenbildung (Kelle/Kluge 1999) vorgenommen, die zum einen größtmögliche Übereinstimmungen zwischen den Einzelfällen aufzeigen sollte, gleichzeitig aber eine Anzahl größtmöglicher Varianten zuließ.
5. Ergebnisse der Untersuchung 5.1 Biographie und Karriere Wie die Daten zeigen, gibt es einen Zusammenhang zwischen individueller Biographie und Karriereverlauf. Die Annahme, diese Karrierefrauen seien durch eine besondere familiäre Förderung von Kindheit an auf diesen Weg vorbereitet worden, bestätigte sich nicht (vgl. hierzu Seeg 2000: 67; Bischoff 1990: 79). Auch waren nur wenige von ihnen bezogen auf ihre kognitiven Leistungen herausragende Schülerinnen. Ebenso wenig gab es für die meisten Frauen Vorbilder in der Familie. Auch ließ
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sich die These, dass besonders Väter die Töchter gefördert hätten, nicht verifizieren. Die Auswertung dieser Untersuchung zeigte aber, dass die Frauen bis auf eine in vollständigen Herkunftsfamilien aufgewachsen waren, zudem hatten alle Geschwister. In der Geschwisterposition waren sie – bis auf eine – entweder das älteste oder das jüngste Kind. Die meisten Frauen berichteten, dass sie in einem Klima gegenseitiger Wertschätzung, anerkannt als individuelle Persönlichkeiten, aufgewachsen seien. Es wurde ihnen zugebilligt, eigene Interessen zu verfolgen und eigene Wege zu gehen. Sie wuchsen auf in einem beständigen Auseinandersetzungsprozess innerhalb der Familie, in dem sie sich positionieren und sich abgrenzen mussten gegen Interessen von Geschwistern und Eltern. Ihnen wurden von Kindheit an oft mehr als altersgemäße Aufgaben innerhalb des Familienalltags, im familieneigenen Betrieb oder in der Landwirtschaft übertragen. Sie übernahmen frühzeitig Verantwortung innerhalb der Familie, oder sie suchten sich selbst Tätigkeitsfelder, wenn ihnen diese nicht seitens der Familie übertragen wurde. Auch war ein beständiger Auseinandersetzungsprozess um die Übernahme bzw. die Nicht-Übernahme von Familienwerten festzustellen. Die Ergebnisse dieser qualitativen Pilotstudie zeigen, dass die familiäre Situation der Einzelnen im übergeordneten Sinn als Übungsfeld für eine spätere Führungstätigkeit betrachtet werden kann. Diese Tatsache und die Auffälligkeit, dass im Verlauf ihrer Schulzeit alle Frauen in irgendeiner Form aktiven Einfluss auf das Klassengeschehen, sei es als Klassen- oder Schulsprecherin, als integrierendes Element, als Anführerin einer Clique oder durch die Übernahme organisatorischer und sozialer Belange nahmen, könnte Gegenstand einer vertieften repräsentativen Studie sein.
5.2 Biographie, Qualifikation und Karriereentwicklung Der kontinuierliche Aufstieg der Frauen bis zu ihren heutigen Positionen erscheint in der Retrospektive als eine folgerichtige Entwicklung jedes einzelnen Lebenslaufs. Auch wenn die wenigsten Frauen selbst im Voraus eine Karriere geplant hatten, erwähnten einige, ihnen sei während der Interviews deutlich geworden, dass dieser Weg im Rahmen ihrer persönliche Entwicklung vorgezeichnet war. Insgesamt kann man die Interviewten als ‚Macherinnen‘ bezeichnen, die bereits von Kindheit an in vielerlei Hinsicht die Initiative ergriffen haben, wenn sich ihnen Gelegenheit dazu bot. In ihrer beruflichen Tätigkeit engagieren sie sich in unterschiedlichem Maße, auch abhängig von den Freiräumen, die ihnen die verschiedenen Arbeitgeber zubilligen. 99
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Sie zeichnen sich aber auch hier durch hohes Engagement, Innovationsfreude und Offenheit für Neues aus. Als Verhandlungspartner erweisen sie sich als gut vorbereitet, einerseits sehr zielorientiert, wenn es um die Interessen ihrer Abteilung, ihrer Mitarbeiter/innen bzw. ihres Arbeitsbereiches geht. Andererseits zeigen sie sich kooperativ und kompromissfähig, wenn es angemessen erscheint. Hier scheinen die in der familialen Sozialisation erworbenen und erprobten Fähigkeiten eine gute Grundlage zu bieten. Zudem haben alle nach anfänglichen Selbstzweifeln im Laufe ihrer Tätigkeit ein gesundes Selbstvertrauen erworben. Sie können ihre eigenen Fähigkeiten sehr gut einschätzen, wissen, was sie wollen und stehen sozusagen ‚mit beiden Beinen im Leben‘. Wenn man dieses gesamte Verhaltensspektrum mit Männern zugeschriebenen Verhaltensweisen vergleichen will, gibt es sicherlich viele Übereinstimmungen, aber auch einige Unterschiede. Typisch weiblich sind zumindest die anfänglichen Selbstzweifel bei der Übernahme neuer Aufgaben (vgl. Helgesen 1996; Brückner 1996; Schlapheit-Beck 1991). Selbstzweifel, die sich auch später im beruflichen Alltag noch gelegentlich einstellen. Auch ist die sehr realistische Selbsteinschätzung der Frauen in Bezug auf ihre eigenen Fähigkeiten differenzierter: die Frauen erscheinen klarer, geradliniger und besser strukturiert. Ein Aspekt, der an dieser Stelle nicht belegt werden kann, der aber im Verlauf der Untersuchung deutlich wurde, ist, dass alle Frauen in ihrer Persönlichkeitsstruktur sicherlich bestimmte Eigenschaften mitbrachten, die diese Entwicklung begünstigten. Dies wäre durch eine Untersuchung aus psychologischer Perspektive genauer zu belegen.
5.3 Biographie und Berufswahl Gibt es Zusammenhänge zwischen der Biographie der einzelnen Frauen und ihrer Entscheidung für eine berufliche Tätigkeit in der Sozialen Arbeit? Die meisten Frauen berichteten, dass die Soziale Arbeit oder das Berufsfeld der Sozialpädagogik für sie nicht zwangsläufig die erste Berufswahl war. Sicherlich deutet vieles darauf hin, dass die meisten von ihnen eine gewisse Affinität zum sozialen Bereich hatten, sei es durch familiäre Erfahrungen, eigene Kindheits- und Jugenderfahrungen mit Sozialer Arbeit oder durch das Kennenlernen von Personen, die ihnen Zugang zum sozialen Arbeitsfeld eröffnet haben. Dennoch scheint der Aspekt der doppelten Sozialisation gerade bei der Berufswahl der Frauen eine nicht geringe Rolle gespielt zu haben. Gerade weil die Frauen mehrheitlich in einer Zeit (50er/60er Jahre) aufwuchsen, in der weibli100
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che Berufstätigkeit zunehmend gesellschaftlich toleriert wurde, dies aber noch immer nicht als gleichberechtigtes Lebenslaufmodell neben der Alternative Familienfrau und Mutter gesellschaftlich anerkannt war, bot sich eine Ausbildung an, die dem ‚weiblichen Arbeitsvermögen‘ (vgl. Beck-Gernsheim 1976; Ostner 1978) nahe stand. Soziale Arbeit zeigte sich als Kompromiss, der den allgemeinen Schwebezustand der gesellschaftlichen Umbruchsituation zwischen ‚Mädchen müssen einen Beruf lernen, damit sie zumindest eine gute Ausbildung haben, falls sie keinen Mann finden‘ und ‚weibliche Berufstätigkeit als Alternative einer unabhängigen weiblichen Lebensführung‘ überwinden half. Besonders deutlich wird dies an den Frauen, deren Schulleistungen im oberen Bereich lagen und die dennoch, sei es, weil ihnen das Selbstvertrauen für eine akademische Ausbildung fehlte und ihre Eltern dies auch nicht unterstützten, diese Chance nicht nutzten. Diese Frauen bedauern heute gelegentlich ihre Berufswahl, weil sie zwar innerhalb ihrer Berufsgruppe viel erreicht haben, ihnen aber weitere Aufstiegsmöglichkeiten fehlen. Frauen, die vor dem Studium erst einen anderen Beruf erlernt haben, berichten darüber, dass sie Sozialarbeit studierten, um einen Beruf zu ergreifen, dessen Arbeitsinhalte weniger entfremdet, lebensnäher und sinnhafter waren als ihre vorherige Tätigkeit. Sie wollten mit Menschen arbeiten, Beziehungen gestalten und sich persönlich weiterentwickeln. Dieses Verhalten beschreibt auch Jünemann als Berufswahlmotivation von Sozialarbeiterinnen (vgl. Jünemann 2000: 86). Auffällig ist dennoch, dass fast alle Frauen in ihren Tätigkeitsfeldern weit von sozialarbeiterischer Basisarbeit entfernt sind und bis auf zwei Befragte eher selten noch direkte Klientenkontakte haben. Sie engagieren sich in ihrer jetzigen Managementtätigkeit. Aus den Äußerungen zu ihrem Selbstverständnis wird klar, dass sie sich weniger mit dem Berufsbild Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin, sondern eher mit ihrer Tätigkeit als Führungskraft identifizierten.
5.4 Typenbildung Die Typenbildung wurde anhand der in der Forschungsfrage enthaltenen Überlegung: „Welche biographischen Ressourcen befähigten die Frauen Führungspositionen zu erreichen?“ erarbeitet. Es war in diesem Zusammenhang nicht Ziel dieser Analyse, einen Idealtypen im Sinne von Max Weber (1988) zu bestimmen. Vielmehr war es im Sinne von Kelle/Kluge (1999), „komplexe soziale Realitäten und Sinnzusammenhänge zu erfassen und möglichst weitestgehend verstehen und erklären zu können“ (Kelle/Kluge 1999: 75). 101
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Dabei ergab sich, dass sich Ressourcen, individuelle oder erworbene, auf verschiedenen Ebenen in den Lebensläufen der Frauen ausmachen lassen. Soziale Ressourcen beziehen sich auf unterstützende Personen, die die Karriere der Einzelperson zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Biographie beeinflusst haben. Zu den sozialen Ressourcen gehören die engere und weitere Familie, d.h. Eltern, Geschwister, Großeltern und andere Verwandte sowie LehrerInnen und ProfessorInnen, MitschülerInnen und KommilitonInnen, FreundInnen, Vorgesetzte und KollegInnen. Materielle Ressourcen sind Geld, Besitz und Vermögen sowie sozialer Status. Persönliche Ressourcen liegen in der Persönlichkeit begründet. Ohne an dieser Stelle tiefer in Sachverhalte der Psychologie oder der Persönlichkeitsforschung einzudringen, lassen sich anhand der Auswertung der Interviews einige Persönlichkeitsmerkmale erkennen, die sich entweder aus dem Verhalten der Personen in bestimmten Situationen interpretieren lassen oder aber von ihnen selbst so benannt werden. Anzuführen sind hier Ehrgeiz, Fleiß, Durchsetzungsvermögen, Durchhaltevermögen, Willensstärke, Wut, Neugier, hohe Intellektualität, Stehaufmännchenmentalität und ein unruhiger Geist. Weiterhin sind Ressourcen feststellbar, die im Verhalten der Personen begründet liegen oder in der Reaktion ihres Umfeldes auf ihr Verhalten in bestimmten Situationen im Verlauf ihrer Biographie. Ressourcen werden hier aus sogenannten Schlüsselerlebnissen heraus entwickelt an möglichen Wendepunkten des Lebenslaufs, die die Entscheidung für den weiteren Verlauf der beruflichen Entwicklung maßgeblich beeinflusst haben. Auch hier sollen exemplarisch einige Aspekte benannt werden, aus denen die Frauen anschließend Qualifikationen und Qualitäten entwickelt haben. • Schulisches Versagen und Demütigung im Elternhaus • Versagen im Studium • Wahl des falschen (von den Eltern nicht akzeptierten) Studienfachs • Revoltieren gegen Elternhaus und sozialen Status • Ablehnung der Geschlechterrolle (bzw. des in der Geschlechtsrolle implizierten erwarteten Verhaltens seitens der Familie) • Ablehnung der von der Familie erwarteten Biographie (Lebensgestaltung) • Akzeptanz eigener Kompetenzen (aber auch Grenzen) • ‚Aha‘-Erlebnisse/Lebenskrisen und Schicksalsschläge • Erkenntnis besser zu sein als andere (aber auch evtl. nicht zu genügen) • Strategisches Verhalten aus Angst um den Arbeitsplatz
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• •
Eigene Betroffenheit von Sozialer Arbeit (bzw. Betroffenheit der Familie) Besondere Förderung durch Vorgesetzte o. Ausbilder
Die oben genannten Items sind selten einzeln in einem Lebenslauf zu finden. Vielmehr treten sie in Kombination miteinander auf und bedingen sich häufig gegenseitig. Somit ergaben sich 4 Typen des Karriereverlaufs: Typ I: Karriere auf geradem Wege Typ II: Karriere, um etwas zu bewegen Typ III: Karriere als Reaktion auf das Verhalten der Herkunftsfamilie Typ IV: Karriere als Folge eines externen Ereignisses
Typ I: Karriere auf geradem Wege Die Frauen in dieser Gruppe sind einen mehr oder weniger geradlinigen Karriereweg gegangen. Sie haben durch Engagement und Leistung überzeugt, so dass sie von ihren Vorgesetzten bzw. Arbeitgebern immer wieder aufgefordert wurden, sich auf höhere Stellen zu bewerben. Diese Frauen bringen Ausdauer und Selbstvertrauen mit und sind sich ihrer Stärken und Schwächen bewusst. Sie sind offen für Neues und überzeugen durch ihre Geradlinigkeit und Beharrlichkeit, mit der sie ihren Weg weiter gehen. Im Verlauf ihrer Sozialisation haben sie die Wertschätzung ihrer Eltern erfahren, auch wenn sich die familiäre Situation nicht immer absolut harmonisch gestaltet hat. In familieninternen Diskussionsprozessen haben sie gelernt, ihre Interessen zu vertreten und diese auch zu verteidigen. Sie haben auch in schwierigen schulischen Phasen Unterstützung bekommen und sind aufgewachsen mit dem Gedanken, dass sie die Kompetenz haben, auch schwierige Lebensphasen durchzustehen. Obwohl sie eine Karriere nicht gezielt geplant haben, ist ihnen der Gedanke, in ihrem Leben möglichst viel zu erreichen, nicht fremd und in der Rückschau sagen sie: „Eigentlich klar, dass ich so weit gekommen bin“ (Originalzitat aus den Interviews). Typ II: Karriere, um etwas zu bewegen Die in dieser Gruppe beschriebenen Frauen können als ‚die Macherinnen‘ dieser Berufsgruppe beschrieben werden. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass es ihnen Zeit ihres Lebens schwer fällt, bestehende Strukturen zu akzeptieren, wenn sie ihrer Ansicht nach unangemessen, bzw. für sie nicht einsichtig sind und dass sie sich auch nicht daran halten, sondern kreative Wege suchen diese zu umgehen oder sie zu verändern. Sie sind charakterisiert durch einen überdurchschnittlich ausge103
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prägten Gerechtigkeitssinn und hohe Ansprüche an ihre eigene Integrität und Selbstbestimmung. Sie schöpfen ihre Kraft immer wieder aus den Erfolgen, die sie mit ihrer oft unkonventionellen Vorgehensweise erreichen. Sie sind oder waren politisch engagiert und zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie an jeder Station ihres Lebens versuchen oder versucht haben zielstrebig ihre Interessen und die ihrer Klienten durchzusetzen. Sie verhalten sich in entscheidenden Phasen strategisch klug, indem sie (wenn sie Kinder haben) auch während Erziehungsphasen Kontakt zum Arbeitgeber halten und sich durch kontinuierliche Weiterqualifikation auf dem einmal eingeschlagenen Berufsweg weiter hoch arbeiten. Die Erfahrung drohender, bzw. durchlebter Krisensituationen setzt immer wieder die Energie frei, sich beruflich zu engagieren und dadurch weiter aufzusteigen.
Typ III: Karriere als Reaktion auf das Verhalten der Herkunftsfamilie Als besonderes Kennzeichen dieses Typs ist festzuhalten, dass der Karriereverlauf der hier beschriebenen Personen maßgeblich bestimmt wird durch Ereignisse, bzw. Haltungen und Handlungsweisen ihrer Herkunftsfamilien im Verlauf der Sozialisation. Diese, wenn auch innerhalb des Einzelfalls unterschiedlichen Auslöser, haben dazu geführt, dass die Frauen daraus Kräfte mobilisiert, d.h. Ressourcen entwickelt haben, die ihren Weg maßgeblich bestimmt haben. Der auslösende Moment für die Entwicklung der Frauen ist somit das Verhalten der Herkunftsfamilie. Typ IV: Karriere als Folge eines externen Ereignisses In dieser Gruppe sind Karrierewege von Frauen beschrieben, die sich deshalb so entwickelt haben, weil sie auf Grund unvorhersehbarer Ereignisse plötzlich ihr Leben neu ordnen und ihre Pläne und Hoffnungen, die ursprünglich bestimmend waren, über Bord werfen mussten. Diese Wendepunkte in den Lebensläufen, beispielhaft zu nennen sind hier Tod des Partners, bzw. Scheidung und Trennung vom Partner, sind der Auslöser, dem Lebenslauf eine andere Richtung zu geben, als bis dahin geplant, wobei nicht zu leugnen ist, dass die Frauen über persönliche Voraussetzungen verfügen, die dies ermöglicht haben.
6. Stellenwert biographischer Erfahrungen für das Karriereverhalten Im Hinblick auf die Forschungsfrage wird anhand dieser Ergebnisse deutlich, dass bestimmte persönliche Eigenschaften und damit korres104
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pondierend besondere familiäre Korrelationen oder spezifische Ereignisse eine besondere Disposition für eine spätere Karriere, in welchem Arbeitsfeld auch immer, wahrscheinlich erscheinen lassen. Das heißt: gerade weil die individuelle Sozialisation der einzelnen Frau so und nicht anders verlaufen ist, hat sie ihre individuelle Biographie so konstruiert. Biographie entsteht somit erst durch die produktive Gestaltungsleistung eines Individuums (vgl. hierzu Schulze 1985: 37f.; Fischer/Kohli 1987: 29f.; Siebers 1996: 25f.; Hoerning 2000: 4; Abels 2001: 267). Sie „ist in dieser Sicht also ein vom Subjekt hervorgebrachtes Konstrukt, das die Fülle der Erfahrungen und Ereignisse des gelebten Lebens zu einem Zusammenhang organisiert“ (Marotzki 1991: 410). Gleichzeitig wird anhand der Analyse der Handlungsweise eines Individuums deutlich, dass die zeitliche Abfolge nur so und in keiner anderen Reihenfolge ablaufen konnte, dass sich Ereignisse aus vorangegangenen Ereignissen entwickeln, bzw. auf der Erfahrung gewonnen in vorangegangenen Situationen aufbauen, immer korrespondierend mit den sich ständig verändernden Bedingungen der Alltagswelt. Welcher Zusammenhang besteht nun aber zwischen Biographie und Sozialisation? Legt man den in dieser Studie formulierten Sozialisationsbegriff des ‚produktiv-realitätverarbeitenden Subjekts‘ zu Grunde, ergibt sich auch für den Prozess der beruflichen Entwicklung ein multidimensionales Bedingungsgefüge. Außerdem wird deutlich, dass Sozialisation nicht mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter aufhört, sondern als lebenslanger Prozess wirkt, der sich in verschiedenen Lebensphasen in unterschiedlicher Ausprägung darstellt. „Jeder Übergang setzt Umorganisationen und Neudefinitionen des Selbstbildes voraus, was meist mit Bilanzierungen zurückliegender Erfahrungen und Erlebnisse sowie Antizipation vorausliegender Erfahrungen und Erlebnisse verbunden ist“ (Marotzki 1991: 152).
Dies bedeutet, dass Menschen in der Lage sein müssen, Veränderungen in ihrem Leben zu antizipieren, Optionen und Chancen wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren. Sie können dies nur, wenn sie im Verlauf ihrer Sozialisation Strategien und Handlungsoptionen erworben haben, die ihnen dies ermöglichen. Somit stellt sich der Sozialisationsprozess als Basis für die Gestaltung der eigenen Biographie dar, unterscheidet sich allerdings insofern von der sogenannten „Biographisierung“ (Marotzki 1991) als das Individuum in einem konstruktivistischen Prozess perspektivisch zukunftsorientiert vorausschauend agiert, während es sich im Verlauf der Sozialisation reaktiv rückblickend verhält und neue Verhaltensmuster auf der Basis der Reaktion der Umwelt auf 105
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alte Verhaltensmuster aufbaut. Damit kann auch von der Behauptung Abstand genommen werden, jemand hätte nur ‚zufällig‘ Karriere gemacht, einer Behauptung, die gerade viele Frauen anführen, wenn sie ihren beruflichen Erfolg beschreiben.
7 . Au s b l i c k Was bedeuten diese Ergebnisse aber nun für Frauen, die möglicherweise Führungspositionen anstreben oder mit einer Karriere liebäugeln? Zum einen heißt es, dass – um an den Titel zu erinnern – ständig Grenzen zwischen Lebenswelten überschritten werden müssen. Beruflicher Aufstieg ist für Frauen auch heute noch genauso wenig selbstverständlich wie es für Männer die aktive partnerschaftliche Teilhabe an regenerativen Haushalts- und Familienaufgaben ist. Deshalb wird den Frauen eine enorme Konstruktionsleistung abverlangt, die sie nur erbringen können, wenn sie darauf vorbereitet sind. Das heißt, entweder bringen sie die entsprechenden Ressourcen mit und hatten, wie die Interviews gezeigt haben, Ressourcen unterschiedlicher Provenienz oder aber, sie planen ihre Biographie bereits ganz gezielt im Vorfeld, überlegen genau, wer sie unterstützen kann und verzichten ggf. wenn sie feststellen, dass sie keine Unterstützung finden. Betrachtet man die aktuelle gesellschaftliche Situation und die immer knapper werdenden finanziellen Mittel, drängt sich zum Zweiten die Frage auf, ob die Hürden für Frauen nicht immer höher werden. Gerade weil es immer weniger Stellen gibt, wird der Kampf um diese wenigen immer härter und wenn eine Frau mit anderen hochqualifizierten Frauen und Männern in diesem Zusammenhang konkurrieren will, folgt daraus für sie, dass sie dafür möglicherweise auf einen Teil ihrer Lebenswelten, d.h. den Bereich Familie, verzichten muss. Dies bedeutet auch, dass die Vielfalt berufsbiographischer Varianten, wie sie in der Einleitung angesprochen wurden, abnehmen könnte und in näherer Zukunft nur noch ein ‚entweder – oder‘ möglich sein wird.
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Zur gegenw ärtigen Fasz inationskraft von Bio-Graphie 1 UTE FRIETSCH
Absicht dieses Kommentars ist es, etwas Abstand zum Tun der Biographie-Forschung einzunehmen und einige Metareflexionen darüber anzustellen, warum uns Biographie heute interessiert und fasziniert. Ich stelle die These auf, dass die ökonomische Umstrukturierung der Gesellschaft und die assoziative Nähe zu den Biowissenschaften die gegenwärtige Publizität der Biographie-Forschung begründet. In meiner Darlegung beziehe ich mich auf die subjektkritische und quasi-dekonstruktive Position von Michel Foucault, um im Kontrast zu einigen zeitgeschichtlichen Aussagen zu gelangen. Foucaults Kritik der modernen Humanwissenschaften unter Formeln wie „anthropologischer Zirkel“ (1973: 539-551), „Erfindung des Menschen“ (1995: 367-462) und „subjektivierende Unterwerfung“ (1977: 238-250) scheint prädestiniert, die gegenwärtige wissenschaftliche Konjunktur von Biographie-Forschung in Frage zu stellen: Besteht Foucaults kritischer Einsatz doch, generell gesprochen, in einer Kritik an der Erfassung des Individuums. Ich zitiere zum Einstieg exemplarisch Foucaults Schrift „Überwachen und Strafen“, um die Zielrichtung dieser historischen Kritik zu vergegenwärtigen: „Lange Zeit hindurch war die beliebige, die gemeine Individualität unterhalb der Wahrnehmungs- und Beschreibungsschwelle geblieben. Betrachtet werden, beobachtet werden, erzählt werden und Tag für Tag aufgezeichnet werden waren Privilegien. Die Chronik eines Menschen, die Erzählung seines Lebens, die Geschichtsschreibung seiner Existenz gehörten zu den Ritualen seiner Macht. Die Disziplinarprozeduren nun kehren dieses Verhältnis um, sie 1
Claudia Wendel danke ich für eine Lektüre der Vortrags-Fassung, Susanne Lettow danke ich für ihre Anmerkungen zu einer Vorstufe des vorliegenden Textes.
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UTE FRIETSCH
setzen die Schwelle der beschreibbaren Individualität herab und machen aus der Beschreibung ein Mittel der Kontrolle und eine Methode der Beherrschung. Es geht nicht mehr um ein Monument für ein künftiges Gedächtnis, sondern um ein Dokument für eine fallweise Auswertung. […] Diese Aufschreibung der wirklichen Existenzen hat nichts mehr mit Heroisierung zu tun: sie fungiert als objektivierende Vergegenständlichung und subjektivierende Unterwerfung.“ (1977: 246f.)
So weit Foucault zur „Fabrikation des abendländischen Disziplinarindividuums“ um 1800 qua Techniken wie beispielsweise der BiographieSchreibung (vgl. ebd.: 397). Doch ist Biographie-Schreibung und Biographie-Forschung noch heute eine disziplinierende Technik? Steht Biographie heute nicht in einem wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Feld, das mit dem von Foucault – für die Zeit um 1800 – beschriebenen nur eingeschränkt zu vergleichen ist? Gerade Gender Studies bringen Biographie-Forschung möglicherweise ein neues Interesse entgegen, für welches „die Instanz“ Foucault nur sehr bedingt aussagekräftig ist. Dieses mögliche Spannungsverhältnis von Gender Studies und Foucaultscher Kritik in Hinblick auf Biographie-Forschung soll im Folgenden skizzenhaft und spekulativ als Reflexionsfeld entfaltet werden.
1 . W a s i s t e i n Au t o r ? W a s i s t ( e i n ) L e b e n ? In seinem Vortrag „Was ist ein Autor?“ von 1969 beschreibt Foucault den Autor als eine der möglichen Existenzbedingungen eines Diskurses. Der Autor sei in unserer Kultur ein Prinzip, mittels dessen man begrenze, ausschließe und selektiere, mittels dessen man die freie Zirkulation, Komposition, Dekomposition und Rekomposition der Fiktion behindere (Foucault 2001: 1030, Variante/Fußnote). Ein Label sozusagen. Als solche quasi-negative Funktion sei er zu analysieren. Foucaults Vortrag oszilliert dabei zwischen zwei Positionen, die sich leitmotivisch an zwei Formulierungen festmachen: dem Titel „Was ist ein Autor?“, der zu unterschiedlichen Untersuchungen und Antworten einlädt, und der von Samuel Beckett übernommenen rhetorischen Gegenfrage beziehungsweise dem Postulat: „Wen kümmert’s, wer spricht […] ?“ (Foucault 1974: 11). Mit der Frageformel „Was ist ein Autor?“ benennt und hinterfragt Foucault eine mögliche, seines Erachtens jedoch nicht notwendige Methode historischer Diskursanalyse. Die jeweilige konkrete Autorenfunktion, die beispielsweise für die Antike anders ist als für die Frühe Neu112
ZUR GEGENWÄRTIGEN FASZINATIONSKRAFT VON BIO-GRAPHIE
zeit, kann analysiert werden, um die Bedingungen eines Diskurses zu beschreiben. Sie kann es, muss es aber nicht. Denn es geht (Foucault) nicht um die Autoren, sondern um die Diskurse. Mit der Beckettschen Provokation „Wen kümmert’s, wer spricht?“ eröffnet er einen im Gegensatz zur konventionellen Autoren- und Subjektanalyse neuen Horizont, insbesondere der Wissenschaftsgeschichte und der Literaturwissenschaft: den Horizont einer Diskursanalyse, die von der Reflexion auf den Autor frei wäre. Foucault behauptet, dass eine solche Analyse für die Geschichte nur einlösen würde, was Literatur bereits erfüllt, denn Literatur hat sich seiner Darstellung zufolge seit Mallarmé von der Autoren-Restriktion frei gemacht. Die literarischen Texte kümmern sich demnach schon seit den 1880er Jahren nicht mehr darum, wer spricht. Foucault legt nahe, dass dieses Absehen vom Autor den Diskurs zu neuen Existenzweisen befreit. In den gegebenen Kontext der Reflexion von Biographie-Forschung übersetzt, ist die kritische, von Foucault her zu stellende Frage daher vielleicht folgende, zunächst etwas absurd klingende Frage: Restringieren Bio-Graphie und Biographie-Forschung in irgendeiner Weise das Leben, den „Bios“? Könnten „wir“ Leben besser freisetzen (oder gar leben) ohne Bio-Graphie?
2. Leben: Gelebt oder gemacht, erzählt oder verschriftlicht Ich kommentiere im Folgenden zunächst einige der Beiträge der Tagung LebensBilder, indem ich sie zu den beiden Fragen des Foucaultschen 2 Textes dialektisch ins Verhältnis setze. Im Anschluss komme ich auf meine epistemologische Ausgangsüberlegung zurück, warum Biographie-Forschung gerade heute so interessiert und fasziniert. Die Beiträge der Tagung LebensBilder, in deren Mitte durch diesen Kommentar quasi ein Spiegel in beide Richtungen geschoben wurde, weisen eine interessante Zweiteilung auf. Im ersten Teil finden sich unter dem Stichwort „gelebtes Leben“ Beiträge zu Biographie-Forschung und Gender Studies im Sinne von Empowerment und Frauenförderung. 2
Die folgende Auseinandersetzung beschränkt sich weitgehend auf die Vorträge und Texte, die meinem Beitrag bei der Tagung LebensBilder vorangingen und mir zuvor in schriftlicher Fassung vorgelegen hatten: auf die Typoskripte von Renate Tobies, Erika Funk-Hennigs, Sabine Brombach und Claudia Schünemann sowie auf einen im Vorfeld publizierten Text von Bettina Dausien. Daher werden keine Seitenangaben gemacht.
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Im zweiten Teil werden unter dem Stichwort „gemachtes Leben“ insbe3 sondere Arbeiten der bildenden Kunst analysiert. Der Blick verlagert sich, von den beteiligten Personen tendenziell weg, hin zu den Praktiken und Werken. Die Beiträge des ersten Teils affirmieren Biographie und Biographie-Forschung insofern, als sie besonders ihre positiven sozialen Effekte betonen. So weist Funk-Hennigs darauf hin, dass das Interesse an den Kompositionen von Ethel Smyth nach Veröffentlichung ihrer Memoiren wuchs. Brombach und Schünemann betonen den Nutzen, der aus der biographischen Befragung von Karrierefrauen gezogen werden kann. Für Frauen förderliche Sozialisationsmomente ließen sich als „Ressourcen“ aus den Interviews herausarbeiten. Ihnen soll bei der Ausbildung besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Biographie-Forschung können demnach pädagogische und praktisch-politische Absichten zugrunde liegen. Dementsprechend ist in einer Reflexion auf die Praxis der Biographie-Forschung zu diskutieren, welche Ziele – für wen? – erreicht werden sollen. Das sozialpolitisch problematische Recht zur Stellvertreterschaft und zur Repräsentation, das Recht des Sprechens für andere, ist im Kontext Biographie-Forschung möglicherweise neu zu problematisieren. Dausien (2001) weist allerdings legitimierend darauf hin, dass Biographie-Forschung, welche Absichten sie auch haben mag, zunächst einmal an eine alltagsweltliche Praxis anknüpft (ebd.: 58). Demnach erzählen wir uns immer schon unser Leben, indem wir uns selbst und unsere Welt interpretieren. Diesem Tun soll ein potentiell widerständiges Moment innewohnen. Dausien bezeichnet Biographie als „eigensinnige Leistung des Subjekts in Auseinandersetzung mit (und in Absetzung von) seiner Welt“ (ebd.: 64). Das alltagswissenschaftliche Fundament von Biographie, zunächst einmal Bionarrativ oder erzähltes Leben zu sein, verkompliziert aller4 dings ihre Verwissenschaftlichung und Erforschung. Dieser Umstand wird in Erzähl- und Biographie-Forschung berücksichtigt, indem die psychologische Herstellungsleistung beziehungsweise die Hergestelltheit von Chronologie und Zusammenhang sowie die Produziertheit von Texten thematisch wird. Dass diese Leistung auch als ein sozialer Zwang zu betrachten ist, hat Pierre Bourdieu in seiner Schrift „Praktische Vernunft. Zur Theorie 3 4
Zur Unterscheidung von „gelebtes Leben“ versus „gemachtes Leben“ vgl. das Vorwort von Sabine Brombach und Bettina Wahrig in diesem Band. Aus diesem Grund unterscheide ich zwischen Biographie (im Sinne von „erzähltes Leben“) und Bio-Graphie (im Sinne von „verschriftlichtes Leben“, „Biographie-Schreibung“ respektive „Leben Schreiben“).
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ZUR GEGENWÄRTIGEN FASZINATIONSKRAFT VON BIO-GRAPHIE
des Handelns“ (1998) unter der Überschrift „Die biographische Illusion“ herausgestellt. Die erzählte Lebensgeschichte nähere sich um so mehr den amtlichen Modellen der Selbstdarstellung an, etwa dem Personalausweis und dem Curriculum Vitae, je näher man offiziellen (im Grenzfall gerichtlichen oder polizeilichen) Fragestellungen komme und je ferner „jenen geschützten Märkten“, „auf denen man unter sich ist“ (ebd.: 81). Nicht nur determiniere die Befragungssituation den erfassten Diskurs; „die öffentliche Darstellung, und damit Offizialisierung, einer privaten Darstellung des eigenen Lebens“ impliziere „einen Mehraufwand an spezifischen Zwängen und Zensurmaßnahmen“ (ebd.). Aus der Perspektive der Geschlechterforschung wäre Bourdieus Darstellung allerdings hinzuzufügen, dass Normierung durch Öffentlichkeit für Frauen nicht notwendig mehr Zensur und Zwang beinhaltet als die Reduktion auf das Private. Ähnliches gilt für die von Bourdieu – geschlechtsindifferent – beschriebenen sozialen Setzungen, die mit dem Eigennamen verbunden sind. Der über die Zeit hinweg konstante Eigenname mag zwar „das Unscharfe und Fließende der biologischen und sozialen Realitäten“ (ebd.: 79) gliedern und sich damit über Einmaligkeiten und eigensinnige Inkonsistenzen hinwegsetzen. Doch seine zivilrechtlichen Effekte (etwa die Vertragsfähigkeit) werden gerade von denjenigen geschätzt, denen sie historisch mit der Konstanz des Familiennamens verwehrt wurden: den von Bourdieu wiederum ent-nannten Frauen (vgl. ebd.: 78-83). Mit der neuzeitlichen Unterscheidung von Vorname und Mädchenname oder aber Familienname war der Eigenname für Frauen eben gerade nicht „der sichtbare Beleg für die Identität […] über die Zeit und über die sozialen Räume hinweg“ (ebd.: 79), sondern vermutlich eher das Gegenteil: sichtbarer Beleg für die Brüche der eigenen sozialen Realität. Mit dem Hinweis auf die von Selbstdarstellung und offizieller BioGraphie abverlangten psychischen und sozialen (Re-Konstruktions)Leistungen ist jedoch ein Stichwort gegeben für den Übergang zur Reflexion des „gemachten Lebens“. Im zweiten dekonstruktiveren Teil der Tagung und des Tagungsbandes LebensBilder, der von mir aus prakti5 schen Gründen nicht im Einzelnen kommentiert wird, geht es weniger um Frauenförderung und um Wissenschaftssoziologie als um den wissenschaftlichen und künstlerischen Diskurs immanent betreffende Fragestellungen. Der Unterschied scheint aussagekräftig zu sein: Gender Studies arbeiten mit eher konstruktiven Ansätzen, wo es um Frauenförderung geht, und mit eher dekonstruktiven, wenn eine immanente (Werk- oder Diskurs-)Analyse betrieben wird. Vielleicht folgt die Pola5
Vgl. Anmerkung 2.
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risierung von „gelebtem Leben“ – um der Frauenförderung willen, und „gemachtem Leben“ – um der wissenschaftlichen und künstlerischen Dekonstruktion willen, einer ähnlichen (strategischen?) Unterscheidung wie Foucaults Fragen „Was ist ein Autor?“ und „Wen kümmert’s, wer spricht?“
3. Bio-Graphie als Genealogie Der ersten Position Foucaults, der zufolge das Autor-Sein als Funktion und als eine der Bedingungen eines Diskurses – also nicht in sich, sondern in Hinblick auf etwas anderes – zu analysieren ist, konnte und kann sich Gender-Forschung anschließen. Ein Terminus wie „der Autor“ oder „das Subjekt“ wird in Frauen- und Geschlechterforschung übereinstimmend mit Foucault als Konstruktion und als Selektionsmechanismus ausgewiesen, allerdings mit sozialwissenschaftlichen und sozialhistorischen Argumenten (vgl. Duby/Perrot 1994). Sozialgeschichtliche Zusammenhänge wurden von Foucaults in dieser Hinsicht relativ traditioneller Epistemologie (1966) zunächst ausgeblendet. In der geschlechtertheoretischen Kritik und Überholung der Foucaultschen Wissens- und Wissenschaftsgeschichte wird explizit, dass das soziale Geschlecht historisch eine der fundamentalen Bedingungen der Konstitution von Autorschaft gewesen ist (vgl. Frietsch 2002). Eine Bedingung, die, und dies leider auch „nach Mallarmé“, über die Validität einer Aussage mit entscheidet: Nicht alles kann zu jeder Zeit mit Anspruch auf Gültigkeit formuliert werden – und gerade auch nicht von je6 der Person. In den Gender Studies werden zur Analyse dieser sozialen und kulturellen (respektive sozial- und kulturgeschichtlichen) Bedingungen eines wahrheitsfähigen und wirkungsmächtigen Sprechens neben der Analysekategorie „Gender“ unter anderem die Kategorien „Klasse“, „Ethnizität“, „Generation“ eingesetzt. Dabei ist immer aufs Neue zu bedenken, dass der analytische Blick auf diskriminierende Verhältnisse die Kriterien des Ausschlusses zunächst reproduziert und implizit bestätigt, indem er sie benennt. Wenn ich sage, „diese Person wurde unterdrückt, weil sie eine Frau war“, und es bei dieser Aussage bewenden lasse, bestätige ich damit den Grund als sozusagen sachhaltig. Dem Enthüllen 6
‚Avantgardismen‘ instrumentalisieren zudem mitunter „das Weibliche“ zu Zwecken der Repräsentation. Auf diese Tradition der Darstellung (und daher eigentlich traditionelle Darstellungstaktik) können sich Frauen wiederum nicht unumwunden affirmativ beziehen (vgl. Deuber-Mankowsky 1998).
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und Benennen müssen weitere Schritte folgen, welche die Unselbstverständlichkeit oder Gemachtheit der jeweiligen Zuordnungen demonstrieren, indem sie normierte Beschreibungsmodi abstreifen und andersartige Konstellationen gelebten Lebens – orientiert an dessen Eigengesetzlichkeiten – zur Darstellung bringen. Notgedrungen sprechen wir aus zeitgeschichtlichen und wissenschaftspolitischen sozialen Kontexten heraus, die den Rahmen dafür darstellen, was uns als wissenschaftlichen Subjekten überhaupt zu denken und zu sagen möglich ist. Renate Tobies weist gegen Ende ihres Beitrags darauf hin, dass etwa das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Wissenschaftlerinnen nach wie vor (beziehungsweise gerade heute) besteht. Ursula Link-Heer spricht vom Zölibat der Akademikerinnen. Während und indem wir Vergeschlechtlichung problematisieren, sprechen wir also nicht lediglich über Gegenstände der Vergangenheit, sondern unser eigenes Sprechen ist in die soziale Dynamik der Vergeschlechtlichung von Subjekten eingespannt. Biographie-Forschung kann in dieser Hinsicht stereotype Vorannahmen aufdecken und Erwartungen zuwiderlaufen, sie kann aber auch zur Reproduktion von Vorurteilen beitragen. Es ist daher notwendig, sich über geeignete Strategien und Darstellungsmodi zu verständigen und diese in gradueller Auseinandersetzung mit den jeweiligen Spielräumen immer wieder neu zu bemessen. Als Bio-Graphie (Schreibung von Leben) stiftet Biographie-Forschung nicht allein Chronologie, sondern letztlich Genealogie: Ursprung, Folge und Verwandtschaft. Als genealogische Methode kann Bio-Graphie und Biographie-Forschung sowohl legitimatorische und stabilisierende wie auch dekonstruktive und kritische Funktionen übernehmen. Beide Funktionen können strategisch sinnvoll sein. Die Wendung der Genealogie zur Kritik (mit Friedrich Nietzsches „Genealogie der Moral“) ist historisch jünger als ihre traditionelle Funktion der Legendenbildung. Im Fall der ebenfalls jungen Gender Studies könnte diese historische Rezenz – die veränderte Einschätzung von „Fortschritt“ etwa – den kritischen Gebrauch genealogischer Methoden nahe legen. Im wie auch immer gebrochenen Meta-Sprechen über Biographie stellt das Subjekt-Sein allerdings weiterhin eine Art Fokus dar. Darin scheint mir die – fragwürdige – Faszination der Bio-Graphie heute zu bestehen: Bio-Graphie und Biographie-Forschung affirmieren oder problematisieren das Subjekt als Fokus und halten auf eben diese Weise an einem Fokus Subjekt fest. Damit möchte ich auf Foucaults zweite Formulierung zurückkommen, die von Beckett übernommene gleichgültige Frage „Wen kümmert’s, wer spricht?“, die den Weg freimachen sollte für andere Frage117
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stellungen. Diese Formulierung bildet einen merkwürdigen zeitgeschichtlichen Widerhaken.
4. Ressource Mensch Biographie-Forschung, die lange im Ansehen des eher Trivialen, Anekdotischen oder Präliminaren stand, wird heute ein allgemeines wissenschaftliches Interesse entgegengebracht, das weit über Gender-Forschung hinaus Kreise zieht. Dieses allgemeine Interesse an Bio-Graphie steht, so meine These, in einem neuen Spannungsfeld. Es ist verortet innerhalb von Prozessen der ökonomischen Neukonzeptionalisierung von Gesellschaft und steht außerdem in assoziativem Bezug zu der naturwissenschaftlichen Bearbeitung des menschlichen Lebens. Die Übertragung von Begriffen aus ökonomischen respektive ökologischen in gesellschaftspolitische Zusammenhänge ist symptomatisch für diesen Zusammenhang, der von Biographie-Forschung eher gespiegelt denn verändert wird. So wird etwa der Begriff „Ressource“ heute im Sinne von „natürliches Produktionsmittel für die Wirtschaft“, aber auch als „individuelle Stärke“ oder „persönliche Kapazität“ verwendet. In der wissenschaftlichen Literatur zur Bildungsforschung und zur Unternehmensberatung der letzten Jahrzehnte treten Menschen zum einen als Eigner von „personalen Ressourcen“ in Erscheinung, zum anderen aber auch selbst als „Ressource“ (vgl. Evangelische Akademie Bad Boll 1989, Kübel 1990, Eggli 1997 u.a.). In einigen Diskussionszusammenhängen oder Diskursen haben Menschen Ressourcen, in anderen sind sie es. Im zweiten Formulierungsfall drängen sich eine Frage und eine zirkuläre Antwort gleichermaßen auf: Für wen sind der Mensch oder die Menschen Ressourcen, wenn nicht für ihn und für sich selbst? Dass dieser Zirkel weniger als ethischer, denn als machtpolitischer zu betrachten ist und zugleich als ein Zirkel der Wissenschaftlichkeit der Moderne hatte Foucault unter den eingangs genannten Formeln „anthropologischer Zirkel“ (1973: 539-551), „Erfindung des Menschen“ (1995: 367-462), „subjektivierende Objektivierung und objektivierende Vergegenständlichung“, sowie „absteigende Individualisierung“ (1977: 238250) historisch und immanent als Selbstunterwerfung des Menschen zum Forschungsgegenstand begrifflich zu fassen versucht. Heute scheint es hingegen erneut und sozusagen auch Kundige der Subjekt-Kritik und Dekonstruktion verstärkt zu interessieren, wie Spuren menschlicher Individualität, der jeweilige konkrete Kontext eines Sprechens, differente Lebensformen oder auch die Genese wissenschaft118
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licher Kreativität und der Impuls zur Kunst beschrieben werden können. In Auseinandersetzung mit Foucaults Archäologie der Humanwissenschaften möchte ich dieses Interesse an den jeweiligen Lebenszusammenhängen provisorisch und spekulativ als humanwissenschaftliches Selbsterhaltungsinteresse bezeichnen.
5. Die Erforschung des Lebens Damit komme ich zum assoziativen Bezug zwischen „Biographie“ und naturwissenschaftlicher Bearbeitung des menschlichen Lebens: Ist die Biographie, so ließe sich etwas polemisch fragen, auch eine Biowissenschaft oder heißt sie nur so? Im gegenwärtigen Kräftefeld der Wissenschaften kann der assoziative Bezug zwischen Biologie und Bio-Graphie für Biographie-Forschung von Vorteil sein. Biowissenschaften gelten als Leitwissenschaften. Mit ihnen assoziiert zu werden, und sei es im Modus der Metapher, weckt Interesse, weil es Anschlussfähigkeit und neue Kooperationsmöglichkeiten verspricht. Dies verweist auf ein – im Vergleich zu den 1960er Jahren – neues Verhältnis zwischen den Wissenschaftsoptionen Leben und Diskurs. Möglicherweise geht es „uns“ (Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaftler/innen) noch wie einst Foucault um „den Diskurs“. Dieser Diskurs kann jedoch selbst in Wunsch und Vision kaum mehr in Gegensatz zur Erfassung des Menschen und des Lebens gestellt werden, denn 7 sprachlich erfasst wird heute ja gerade der „Bios“. Bio-Graphie koexistiert der Bio-Logie. So ist es, im Widerspruch zu Foucaults Perspektivierung der Zukunft der Wissenschaften, vermutlich doch kein Irrtum, die aktuelle wissenschaftliche Erforschung von Leben „[…] als eine Anwendung der Formen der Sprache auf die Ordnung des Menschlichen zu interpretieren“ (vgl. Foucault 1995: 461). Foucault hatte dabei das ideologische Problem eher auf Seiten der Humanwissenschaften gesehen denn auf Seiten der Naturwissenschaften. Seine Kritik an der Unterwerfung des Menschen zum Forschungsgegenstand zielt insbesondere auf die Sozialwissenschaften (vgl. Frietsch 2002: 146-159). Heute konkurrieren Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften mit den Naturwissenschaften um den Begriff Leben, wobei sie ihnen (nach wie vor und ausgerechnet, wie man mit Foucault sagen müsste) den 7
Vgl. Foucaults Darstellung des Nebeneinanders der Wissensmodi „Leben, Sprache und Arbeit“ in der Moderne (1995: 413-439) und seine Hoffnung auf eine neue Seinsweise der Sprache, die den Menschen zum Verschwinden bringt (ebd.: 447-462).
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Menschen entgegenhalten. Von Foucault her gedacht bedeutet dies, mittels der Erfassung des Menschen gegen die Erfassung des Lebens zu argumentieren. Foucaults Hoffnung auf ein Ende der wissenschaftlichen Erfassung des Menschen galt hingegen den Formalisierungsmöglichkeiten der Sprache (der Linguistik). Doch gerade diese scheinen heute als Informationstechnologien in den Dienst eines gesamtwissenschaftlichen Projektes vom Menschen und vom Leben gestellt zu sein.
6. Der Status, Mensch zu sein Wie Foucault interessieren auch heutige Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaftler/innen sich nicht unmittelbar naiv, sondern im Kontext vielfacher, einigermaßen bewusster Vermittlungen für die Viten von Autorinnen und Autoren, Wissenschaftler/innen und Künstler/innen oder auch einfach der Leute. Biographische Forschung scheint allerdings kaum mehr analytischer Notbehelf zu sein, um einen Aspekt von irgend8 etwas anderem, etwa der Seinsweise von Diskursen zu entziffern. Biographien interessieren „uns“ heute möglicherweise gerade um der Ausbuchstabierung und vielleicht sogar um der Aufrechterhaltung der Subjekt-Funktionen willen. Anders formuliert: nach dem Ende des Projektes des Menschen bemühen wir uns angesichts des neuen Projektes des Lebens, historische und gegenwärtige Menschen-Formen in dieses Projekt einzutragen, sie zu beschreiben und aufrechtzuerhalten. Konstruktivismus und Dekonstruktivismus sind dabei keine Gegensätze, sondern eher unterschiedliche Stufen (in der Auseinandersetzung mit) der wissenschaftlichen Dynamik, der das formale Subjekt-, aber insbesondere auch das konkrete Mensch-Sein unterliegt. Die ökonomischen, die sozialgeschichtlichen und die wissenschaftlichen Aspekte der Bearbeitung des menschlichen Lebens bilden dabei durchaus einen Komplex. „Autor“-, „Subjekt“- und „Mensch“-Sein kommen heute zunächst nicht als „Funktion“ in den Blick, sondern als Statussymbole der bürgerlichen Gesellschaft. Subjektstatus zu erlangen oder autorisiert zu sein, ist für soziale Gruppen, die sich historisch und kulturell von diesem Status ausgeschlossen sehen, ein zwar problemati-
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Wirft man wissenschafts- und philosophiegeschichtlich einen längeren Blick zurück, so lässt sich feststellen, dass das biowissenschaftliche Paradigma – nach einer Phase der Physik als Leitwissenschaft – die Stelle des ontologischen Paradigmas, mit seiner Frage nach den unterschiedlichen Seinsweisen, eingenommen hat.
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ZUR GEGENWÄRTIGEN FASZINATIONSKRAFT VON BIO-GRAPHIE 9 sches, doch umkämpftes und begehrenswertes Projekt. Absehen zu können von dem und der, die spricht, wird daher als Wunsch und Ver10 heißung zunehmend unverständlich. Zum einen ist man nicht so weit, dass jede/r sich artikulieren könnte – eine Situation, die sich auf historische Verhältnisse rückprojizieren lässt. Zum anderen bekommen „wir“ (Bürger/innen?) es zusehends mit der Unsicherheit zu tun, ob da noch jemand spricht beziehungsweise, ob unter dem Druck der Curricula und der Selbst-Legitimierung noch jemand lebt. Bio-Graphie zeichnet sich aus durch Retrospektion. Sie scheint für gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten einzutreten und für ein Leben, das durch seine Konkretion und Individualität gewinnt. Dennoch bleibt sie bezogen auf den „Bios“, und auf diese Weise ist sie ein Diskursstrang einer allgemeineren Problematisierung und wissenschaftlichen Bearbeitung von Leben. Gesamtgesellschaftlich betrachtet, könnte ihre derzeitige Funktion darin bestehen, eine sozialwissenschaftliche Möglichkeit der Rückversicherung zu sein, angesichts ökonomischer Umstrukturierungen und in Hinblick auf die naturwissenschaftliche Bearbeitung menschlichen Lebens. Dies würde darauf hinweisen, dass naturwissenschaftliche Bearbeitung menschlichen Lebens und ökonomische Umstrukturierungen in der gegenwärtigen Wissensgesellschaft als identitätsbedrohende Praktiken wahrgenommen werden. Es kann allerdings davon ausgegangen werden, dass die Gender Studies, indem sie traditionelle Geschlechter-Ordnungen kritisch in Frage stellen, heute ein ähnliches Potential der Verunsicherung darstellen. Damit ergäbe sich aber eine veränderte Perspektive auf mögliche Allianzen von Biographie-Forschung und Gender Studies: Wenn die gesellschaftlichen Anlässe dieser Zusammenarbeit metatheoretisch mit reflektiert werden, können diese Allianzen geeignet sein, aktuelle gesellschaftliche Widersprüche dialektisch zu hinterfragen und zu entfalten. Im kritischen Zusammenwirken von Gender Studies und Biographie-Forschung lassen sich möglicherweise gesellschaftliche Verunsicherungen und Konfliktherde eruieren, was für die Weiterentwicklung der Geschlechterforschung produktiv sein kann. Die Problematisierung des Lebens über Disziplinengrenzen und Wissenschafts-Schismen hinweg, bringt jedenfalls neue und oftmals
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In diesem Zusammenhang ist der Unterschied zwischen Stellvertreterschaft und Artikulation prekär. Memoiren und Autobiographien kommt in dieser Hinsicht sicherlich ein Sonderstatus zu. 10 Nur begrenzt auszunehmen sind hiervon neue Publikations- und sonstige mediale Möglichkeiten beispielsweise im World Wide Web. Bewegungen wie die Free Open Software Community stellen selbst zwar möglicherweise eine Praxis der Ent-Normierung dar, verweisen damit allerdings auf gängige Schließungsbewegungen.
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vermutlich nur scheinbare Zugzwänge mit sich. Wenn die gesellschaftlich dringlichen Fragen heute sein sollten: „Was ist eine Person?“ und „Was ist Leben?“, dann lässt sich dem kaum entgegnen: „Wen kümmert’s, wer lebt?“ oder „Wen kümmert’s, wer diese Leben schreibt?“ Um so wichtiger wird es, bei der jeweiligen Erforschung von Leben die wissenschaftspolitischen Kontexte mitzureflektieren.
7. Gender Studies und Biographie Eingangs wurde die Vermutung geäußert, dass Gender Studies Biographie-Forschung möglicherweise ein neues Interesse entgegen bringen, das sie notwendig über Foucault hinaus führt. Wenn in diesem Kommentar der Kontext respektive das Paradigma von Biographie-Forschung auch sehr kritisch gezeichnet wurde, so möchte ich nun noch einmal knapp einige der angeführten Argumente zusammenfassen, die m.E. aus der Warte von Gender Studies für Bio-Graphie sprechen können. Foucaults Epistemologie war ähnlich der von Thomas Kuhn keine Heldengeschichtsschreibung, was sich gerade seinem Ansatz, nach den Diskursen, anstatt nach den Autoren zu fragen, verdankt. Diese Strategie der Anonymisierung konnte von Frauen- und Geschlechterforschung allerdings nicht unbesehen übernommen werden. Einer der systematisch ersten Schritte der Frauen- und Geschlechterforschung war es, eigene Protagonistinnen zu benennen, um Identitätspolitik betreiben und die tradierten Geschichtsschreibungen korrigieren zu können. Dies gilt ähnlich für die Biographie-Schreibung und -Forschung: Der stabilisierende Effekt von Biographie kann als Empowerment durchaus erwünscht sein. Zudem kann auch eine dekonstruktive Analyse in kritischer Absicht nach dem „Bios“ fragen und seine individuellen wie gesellschaftlichen 11 Konstitutionsleistungen transparent machen. Im kritischen Zusammenwirken von Gender Studies und Biographie-Forschung lassen sich möglicherweise gesellschaftliche Verunsicherungen und Konfliktherde eruieren, was für die Weiterentwicklung der Geschlechterforschung produktiv sein kann. Dass dabei selbst in der kritischen soziologischen Auseinandersetzung mit Biographie-Forschung Interessen von Frauen erst einmal benannt werden müssen, weil sie weitgehend entnannt sind, sollte anhand
11 Vgl. hierzu insbesondere den Beitrag von Alma-Elisa Kittner in diesem Band.
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der geschlechterindifferent gehaltenen Ausführungen von Bourdieu zum Eigennamen deutlich geworden sein. Diesen Kommentar abschließend sei einschränkend betont, dass die von mir benannten Einheiten und Gegenstandsfelder in einer eingehenderen Analyse der Faszinationskraft und wissenschaftlichen Spezifik von Bio-Graphie genauer zu unterscheiden wären: Es macht in der Tat einen Unterschied, ob von der Funktion Autor die Rede ist oder von der Funktion Mensch, von Leuten oder vom Subjekt (vgl. Foucault 2001: 1037). Auch lassen sich die Problematiken der Erforschung von Wissenschaftsgeschichte und von Lebensgeschichte nicht aufeinander abbilden, so wenig wie die Gegenstände Kunst, Literatur, Wissenschaft und Alltag. Um die gegenwärtige Faszinationskraft von Bio-Graphie zu enträtseln, und in eine Meta-Diskussion über Biographie-Forschung einzusteigen, wären außerdem Untersuchungen dienlich, in denen die historischen Wellen und Hoch-Zeiten der Biographie-Forschung eruiert und interkulturell vergleichend in den Blick genommen werden.
Literatur Bourdieu, Pierre (1998): „Die biographische Illusion“. In: ders., Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a.M., S. 75-83. Dausien, Bettina (2001): „Erzähltes Leben – erzähltes Geschlecht? Aspekte der narrativen Konstruktion von Geschlecht im Kontext der Biographieforschung“. In: Feministische Studien 19, Heft 2, S. 5773. Deuber-Mankowsky, Astrid (1998): „Geschlecht und Repräsentation. Oder, wie das Bild zum Denken kommt“. In: Die Philosophin. Forum für feministische Theorie und Philosophie 18, S. 24-41. Duby, Georges/Perrot, Michelle (Hg.) (1993-1995): Geschichte der Frauen, 5 Bände (Betreuung der deutschen Gesamtausgabe: Heide Wunder), Frankfurt a.M./New York. Eggli, Peter (1997): Humor und Gesundheit. Eine Längsschnittuntersuchung an StudienanfängerInnen über „Sinn für Humor“ als personale Ressource, Dissertation, Zürich. Evangelische Akademie Bad Boll (Hg.) (1989): Ressource Mensch. Ausund Weiterbildung: Die Zukunftsformel für Jugendliche? Tagung vom 27.-29. September 1989 (Tagungsreihe Zukunftsforum Jugend 2000) (Protokolldienst Evangelische Akademie Heft 28), Bad Boll. Foucault, Michel (1995 [frz. 1966]): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Kapitel 9 und 10, Frankfurt a.M., S. 367-462. 123
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Foucault, Michel (1977 [frz. 1975]): „Die Prüfung“. In: ders., Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M., S. 238-250. Foucault, Michel (1973 [frz. 1961]): „Der anthropologische Kreis“. In: ders., Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a.M., S. 539-551. Foucault, Michel (2001 [frz. 1969]): „Was ist ein Autor?“ In: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band 1, 1954-1969, Frankfurt a.M., S. 1003-1041. Foucault, Michel (1974): „Was ist ein Autor?“ In: ders., Schriften zur Literatur, München, S. 7-31. Frietsch, Ute (2002): Die Abwesenheit des Weiblichen. Epistemologie und Geschlecht von Michel Foucault zu Evelyn Fox Keller, Frankfurt aM./New York. Kübel, Rolf (1990): Ressource Mensch. Erfolg durch Individualität, München.
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M ot i ve d e r K ü n s t l e r p a t h o g r a p h i e i n P s yc h i a t r i e , K u n s t k r i t i k u n d K ü n s t l e r l e b e n 1 BETTINA GOCKEL
„Die Bio-Graphie hätte zwei Unterarten: die Psychographie, die einen Menschen psychologisch und biologisch beschreibt, […]; zweitens die Pathographie, die uns stark abnorme oder ausgesprochen kranke Seiten eines historischen berühmten Menschen aufzeigt, seien es körperliche […] oder seien es eben seelische, die psychiatrisch beschrieben werden müssen. Die BioGraphie stellt sich uns demnach als eine neue Methode vor und bildet nicht etwa bloß das Arbeitsgebiet des Psychiaters; es ist die Methode der Naturwissenschaft, die sich als dringend notwendig erwiesen hat, wenn man eben überhaupt daran denkt, den nackten Menschen zu erfassen. Die Biographie der Geisteswissenschaften, jene der Historiker, Philologen und Kunstwissenschaftler zeigt uns fast niemals die Photographie des historischen Menschen. Ihr Bild ist gewöhnlich schönfärbend übermalt, umgeformt, retouchiert, katathym lasiert, so dass es einen strengeren Wahrheitssinn oft wie ein süsslicher Buntdruck beleidigt“ (Lange-Eichbaum 1935: 214).
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Die Forschung zum vorliegenden Beitrag habe ich mit einem Forschungsstipendium am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin, durchgeführt. Für diese Gelegenheit und intellektuelle Anregungen möchte ich Hans-Jörg Rheinberger herzlich danken. Eine erweiterte Fassung des vorliegenden Textes habe ich als Colloquium-paper unter dem Titel „Beyond Therapy. Pathographies of Artists around and after 1900“ im Juni 2003 dort vorgetragen und danke den Kolleginnen und Kollegen für wichtige Hinweise und eine lebhafte Diskussion. Bettina Wahrig, Sabine Brombach und Stephanie Zuber sei herzlich für die Gelegenheit gedankt, das Thema der Pathographie in den Zusammenhang einer methodisch erweiterten Biographieforschung zu stellen. Die erweiterte Fassung des vorliegenden Beitrags mit einer Analyse von Lange-Eichbaums Werken steht im Rahmen meines Habilitationsprojekts „Der Künstler im System der Künste und Wissenschaften, 1880-1930“.
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„[…] Genie ist nicht Vater, sondern eine Art Mutter. Es wächst, es reift in ihm etwas aus, kraft der körperlichen und seelischen Fähigkeiten seines Gesamtorganismus“ (ebd.: 133).
Einleitung: Pathographie und weibliches Genie Das medizinischen Genre der Pathographie ist bislang kulturhistorisch, 2 aber auch medizinhistorisch ohne umfassende Untersuchung geblieben. Das grundlegende, bis heute immer wieder neu aufgelegte und erweiterte Werk „Genie. Irrsinn und Ruhm“ (1928) von Wilhelm LangeEichbaum, in dem die Pathographie als Wissenschaft dargestellt wird, und das sich schon einer verstärkten pathographischen Beschäftigung mit bildenden Künstlern nach 1900 verdankt, ist bisher wissenschaftsund kunsthistorisch keiner quellenkritischen Analyse unterzogen worden. Auch in Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Pathographie steht eher das inhaltliche Potential dieses Genres, weniger dessen histo3 rische Funktion zur Debatte. Erst in jüngerer Zeit wendet man sich der Pathographie als einer Textform zu, in der sich Wissenschafts-, Litera2
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Siehe folgende Definition in Peters (1980: 401): „Pathographie (f). (P. J. Moebius). Biographie von meist berühmten Persönlichkeiten oder Künstlern unter psychiatrischen Gesichtspunkten. Ziel ist, die psychopathologisch interessanten Seiten der Persönlichkeit und deren Bedeutung für das Werk darzustellen. Anfang des 20. Jahrhunderts glaubte man, auf diese Weise Kunstwerke erschöpfend interpretieren zu können. Die dadurch angeregte umfangreiche Forschung (gesammelt von W. Lange-Eichbaum, 1928), erbrachte viele interessante Fakten; für die Interpretation eines Kunstwerks gilt die Pathographie gegenwärtig jedoch als ungeeignet.“ In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren neben Dichtern und Musikern verstärkt Philosophen, Staatsmänner, Feldherren, Religionsführer und Entdecker ins Blickfeld der Pathographen geraten. Siehe von Engelhardt (2002); Marx (1993).Von Engelhardt stellt die historischen Fakten zur Pathographie zusammen und erklärt den Verlauf vom naturwissenschaftlich biologischen Ansatz zur philosophisch psychiatrischen Orientierung der Pathographie im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Im Hinblick auf die philosophische Psychiatrie Ludwig Binswangers d.J., die im folgenden Beitrag näher untersucht werden soll, meint Engelhardt: „[...], Ludwig Binswanger mit seiner Studie ‚Lebensfunktion und innere Lebensgeschichte‘ (1928), Medard Boss (1903-1990) mit entsprechenden Beschreibungen und Interpretationen [...] bieten ebenso faszinierende wie auch für die Gegenwart noch stimulierende Beiträge“ (ebd., S.203). Ob dem aus medizinischer Sicht zuzustimmen ist, kann und soll aus kunsthistorischer Perspektive hier nicht entschieden werden. Vielmehr soll der Schwerpunkt auf eine historisch kritische Analyse kultureller Funktionen der Pathographie wie auch psychiatrischer Therapiemodelle und Definitionen von Krankheitsbildern gelegt werden.
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tur- und Kunstgeschichte überkreuzen (vgl. Guthmüller 2003; Sirotkina 2002; Hagner/Gockel 2004). Dabei ist der für den vorliegenden Band relevante Aspekt der gender-Thematik nicht einmal am Rande behandelt worden. Historisch ist das einleuchtend, weil die zumeist retrospektiv rekonstruierten Krankengeschichten berühmter Genies, seien dies nun historische Persönlichkeiten aus Politik, Religion, Philosophie, Wissenschaft oder Kunst, mit kaum einer Ausnahme als Geschichten männlicher Genies dargestellt werden. Das Genie als Projektionsfigur von Werten und Hoffnungen kristallisiert sich in männlich bestimmten Typen wie dem Feldherrn, dem Religionsstifter, dem Komponisten und eben auch dem großen bildenden Künstler heraus. Immer ist damit auch ein Konventionsbruch, eine Grenzüberschreitung, oft auch in soziologischer Hinsicht gemeint, die das Genie erst zum Produzenten des Neuen oder zum „Wertbringer“ (Lange-Eichbaum, 1935: 337) werden lassen, und die Frauen gewöhnlich nicht zugebilligt oder zugetraut werden. LangeEichbaum beantwortet die Frage „Warum gibt es so wenig weibliche Genies?“ soziologisch und biologisch: „Aber woran fehlt es? Erstens am Mut. […] sie unterwerfen sich in weit größerem Umfange der Sitte, der Mode, der Gruppe, dem Ansehen, kurz allem ‚Herrschenden‘. Die Frau steht nicht gern allein. […] Im großen und ganzen bleibt die Frau an psychischer Höhe und Kraft zurück. Ihr Gehirn ist im allgemeinen kleiner und auch einfacher gebaut. – Kennt man eine einzige große Philosophin, eine einzige Denkerin hohen Stils? Eine einzige, wirklich hochbedeutende Erfinderin? Die Riesen-Intelligenztalente (Typus Leibniz) fehlen gänzlich“ (ebd.: 342f.).
Dennoch erklärt sich so das wenn auch selten auftretende Phänomen des weiblichen Genies nicht. Die letztendliche biologische Erklärung ist aufschlussreich, weil sie die Transformation der Geschlechterzugehörigkeit unter dem Banner der kulturellen und soziologischen Konstruktion des Genies zeigt: Weibliche Genies müssen „halbe Männer“ sein, eine vermeintlich wissenschaftliche Tatsache, die mit Ergebnissen der Zoologie versucht wird zu belegen (ebd.: 343). Das biologische Geschlecht wird unter dem Druck einer kulturellen Kategorie verändert und als veränderlich deklariert. Interessanterweise taucht die Geschlechteridentität als kulturelles Argument in der bildenden Kunst spätestens seit dem 18. Jahrhundert auf, wenn es um die Kategorisierung und mithin Einordnung nonkonformistischer, anti-akademischer Künstler geht. In der Genie-Debatte seit den 1770er Jahren finden sich Beispiele für die Feminisierung des männlichen Künstlergenies in Verbindung mit einem von diesen verwendeten, oft aufgelöst skizzenhaft wirkenden und die Me127
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diengrenzen von Zeichnung, Aquarell und Ölfarbe überschreitenden Stil. (Gockel 1999: 92-96) Naturhaftigkeit und der noch als materielle Spur auf der Leinwand sichtbare körperliche Gestus als Ingredienzen einer unmittelbar aus dem Gefühl geschaffenen Kunst dienen als Abgrenzung vom intellektuell reflektierten akademischen Künstler. Dieses Argumentationsmuster wiederholt sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Diskussion um das kranke bzw. wahnsinnige Genie, das umso stärker mit femininen Eigenschaften ausgestattet wird, je deutlicher physiologische und psychische Defekte als Antriebskräfte außergewöhnlicher künstlerischer Arbeiten ausgemacht werden, die etablierte ästhetische Grenzen durchbrechen. Dem Künstler wird durch den wissenschaftlichen Nachweis einer Kausalität von Krankheit und Kreativität die für die männliche Intelligibilität notwendige intellektuelle Abstraktionsleistung abgesprochen, wodurch er als Phänomen gleichsam automatisch in die Kategorie weiblicher Eigenschaften hinüberwandert, zugleich aber auch einen geniehaften Sonderstatus zugewiesen bekommt. Der Zusammenhang von Geniedebatte, Geschlechteridentität und Pathographie bedürfte einer umfassenden Studie, zumal es nach der Seite bildender Künstler hin eher die Tendenz zur Diagnose verstärkter femininer Eigenschaften bei Ausbruch psychischer Erkrankungen gibt, während etwa in der Selbstdarstellung der Krankheitserfahrung des Künstlers und Arztes Carl Gustav Carus die Vermännlichung des Gemüts, die Kräftigung der Konstitution, mithin die Stärkung und Heilung durch Krankheit (nicht nur die Genesung von der Krankheit) betont wird (vgl. Engelhardt 2002: 204). Im Folgenden wird die gender-Thematik nur insofern behandelt, als das Quellenmaterial dies nahelegt. Sie steht auch deshalb nicht im Mittelpunkt, weil das Augenmerk auf den Austausch zwischen einem wissenschaftlichen und kunstkritischen Diskurs über das Künstlerleben und der Geschichte eines Künstlerindividuums gelenkt werden soll, also auf die Relation von strukturellen und individuellen Ereignissen der Geschichte.
1. Die Erfolgsgeschichte der naturwissenschaftlichen „Bio-Graphie“ Im Kampf um die moderne Kunst und den modernen Künstler um 1900 fanden das medizinische Genre der Pathographie oder die „pathographische Wissenschaft“ (Lange-Eichbaum 1935: 61) und die naturwissenschaftliche „Bio-Graphie“ (ebd.: 350), wie sie der Tübinger Neurologe und Psychiater Wilhelm Lange-Eichbaum nennen wollte, ihren Nährboden. Zu dieser Zeit nahm das Interesse von Pathographen an dichtenden 128
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und bildenden Künstlern zu. Das Genre selbst erreichte gemessen an den Publikationen, aber auch gemessen an der Durchsetzung pathographischer Bilder vom Künstler in der Kunstkritik, in der Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft, und nach 1900 auch als Lebensmodell für lebende Künstler seinen Höhepunkt. 802 „Psychographien“ und „Pathographien“ – alphabetisch geordnet von Agnesi bis Zola – hatte Lange-Eichbaum 1928 zusammengetragen (ebd.: 464-494) Die Pathographie selbst war ein hybrides Medium. Es bediente sich Wissen aus Kunst und Literatur und machte sich anheischig, literaturwissenschaftliche und kunsthistorische Fragestellungen mühelos klären zu können, wie den Stilwechsel, aber auch den Stilpluralismus eines Künstlers. Es dürfte kein wissenschaftliches Genre geben, das von allem Anfang um 1830 an (mit einigen Vorläufern im 18. Jahrhundert) derart verpönt war wie die Pathographie, sowohl in den Geistes- wie in den Naturwissenschaften. Nicht unähnlich der sofort bei ihrer Publikation angefochteten These Cesare Lombrosos vom Kausalzusammenhang degeneriertepiletischer Veranlagung und geniehafter Hochbegabung, oder vergleichbar mit den sofort umstrittenen, aber in hohen Auflagen erschienen Büchern des Kulturpathologen Max Nordau über den krank ma4 chenden Charakter der Zivilisation (vgl. Schulte 1997), verzeichnete das Bild, das Pathographen vom Künstler, seinem Leben, Körper und Geist entwarfen, einen unerhörten Erfolg. Die Kulturpathologie traf ganz offensichtlich den Nerv des vom Großstadtleben und der Erfahrung von Technisierung und Beschleunigung, aber auch vom neuen Wissen um die Herkunft und die Krankheiten des Menschen verunsicherten Bürgers. Und die Pathographie bannte mit dem Bild vom degenerierten, geisteskranken modernen Künstler die Angst vor dem Außenseiter. Das wäre eine gängige kulturpsychologische Erklärung, die einiges für sich hat und behält. Folgt man der Wanderschaft pathographischer Motive und paradigmatischer Künstlerkrankheiten in Kunst und Literatur bis hin zu Adaptionen und Transformationen, die diese durch Künstler erfuhren, kommen Zweifel an der Ausgrenzungsthese auf, die nunmehr schon gewohntermaßen in der Folge Dörners (1975) den Irren als Anderen des Bürgers verstehen lässt. Im Kampf um die moderne Kunst hatte der pathographisierte Künstler sogar eine Erfolgsgeschichte seiner Integration zu verzeichnen, die ihn nicht nur zum Vorbild des Bürgers, sondern auch zur Identifikationsfigur des Wissenschaftlers aufsteigen ließ. Das hatte zur
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Siehe zur Relevanz von Lombrosos und Nordaus Degenerationsthese für die Kunstgeschichte: Bredekamp 2004; zu Lombroso: Gadebusch Bondio 1995.
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Voraussetzung, dass sich die paradimatischen Krankheitsbilder vom Künstler und ihre Auslegung änderten.
2. Vorbildlich schizophren: Hölderlin und van Gogh Von Protagonisten der wissenschaftlichen Erforschung des Künstlers im 19. und frühen 20. Jahrhundert wie von Historikern ist immer wieder, wenn auch nur am Rande, bemerkt worden, dass es während und nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Umwertung des pathologischen Künstlers kam (Lange-Eichbaum 1935: 48f.; Sirotkina 2002: Kap. 2 „Dostoevsky. From Epilepsy to Progeneration“). Hierzu gehört der Befund Else Pappenheims und Ernst Kris’, es habe um 1920 einen Wechsel von Lombrosos Suche nach dem Kranken im Genie zur Frage nach dem Genialen im Kranken gegeben (Pappenheim/Kris 1946: 6). Gestützt und erweitert wird dieser Verweis auf einen Paradigmenwechsel um 1920 von der Bemerkung Putschers, man habe der Medizin um 1900 zu Unrecht vorgeworfen, alles für Epilepsie gehalten zu haben. Mit mehr Berechtigung müssten sich nunmehr die 1920er Jahre den Vorwurf gefallen lassen, Schizophrenie als Allerweltsdiagnose angewandt zu haben (Putscher 1980: 149, 164). In der Tat fällt auf, dass dieses weiträumige medizinische Konstrukt „Schizophrenie“ als Diagnose auf erstaunlich viele Künstler wie auch Wissenschaftler angewendet wurde, die schon zuvor Anzeichen von Genialität zu zeigen schienen (Paul Klee, Vazlav Ni5 jinski, Otto Groß, Aby M. Warburg). Die Diagnose Schizophrenie bestätigte nur die angenommene Genialität, wurde dem außergewöhnlich begabten schizophrenen Patienten, insbesondere in der existentialphilosophisch und phänomenologisch geprägten Psychopathologie, doch eine vertiefte, halluzinatorische Selbsterkenntnis und Erkenntnis der Umwelt 6 zugeschrieben. Jedoch nicht allein die Debatte, ob ein Künstler an Epi5
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Siehe zu Klee Kersten (2001) Zu Nijinski Beretti/Heusser (1997): 162164. Siehe dort auch am Beispiel Friedrich Glausers zum Zusammenhang von „dementia praecox“ (Schizophrenie) und Willensschwäche wie auch moralischer Hinfälligkeit (S.167). Siehe zu Otto Gross den Beitrag von Christine Kanz in Gockel/Hagner 2004 und zu Warburg Königseder 1995: 82. Die Schizophrenie-These hält bis in die kunsthistorische Debatte über Kunst und Krankheit an, ohne bisher eine historische Untersuchung erfahren zu haben; siehe Gorsen 1980: 29. Gorsen hält van Gogh, Hölderlin, Kubin und Munch für schizophren. Siehe besonders Jaspers 1977, sowie die kategorische Ablehnung von Jaspers und Prinzhorn bei Lange-Eichbaum 1935: 330, der sich gleichwohl mit Ludwig Binswangers d.J. ebenfalls metaphysisch geprägter Methode
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lepsie oder Schizophrenie gelitten habe, wie sie sich am Beispiel van Goghs in den 1920er Jahren entfachte, sondern die Schizophrenie selbst scheint sich ebenfalls als medizinisches und kulturelles Motiv zwischen ca. 1900 und den 1920er Jahren verändert zu haben. Man könnte vielleicht sagen, dass sich der Siegeszug des Krankheitsbildes Schizophrenie gerade aufgrund seines kulturellen Potentials erklären ließe. Die paradigmatische Figur des pathologischen Künstlers, an dem sich diese Umwertung vollzog und die in posthumen oder aktuellen Diagnosen genialer Künstler als Schizophrenie herzuhalten hatte, war 7 Friedrich Hölderlin. Lange-Eichbaum hatte ihn 1909 für einen schizo8 phrenen Künstler gehalten und hielt auch noch später, 1928, in seinem Buch „Genie. Irrsinn und Ruhm“ nachhaltig daran fest, bei ihm das „ausgesprochen Schizoide“ diagnostizieren zu wollen (Lange-Eichbaum 9 1935: 207). Hölderlins Pathographie weist schon alle Merkmale dafür auf, dass der durch Veranlagung wahnsinnig werdende Künstler durch sein soziales Umfeld, aber auch durch seine Disposition feminine Züge erhält. So argumentiert Lange, Hölderlin sei schon weiblich veranlagt gewesen. Durch die Erziehung in einem Haus voller Frauen und durch den großen Einfluss seiner Mutter sei dies gefördert worden. Schlussendlich steht der Dichter Hölderlin als ein eher geschlechtsloses Subjekt da, das wenig „mannhafte“ Gedichte verfasst, aber auch ein wenig männliches Leben gelebt habe: „Hölderlins Liebe war keine ausgesprochen männlich-sexuelle; es war mehr ein Gemisch von hoher, herzlicher Freundschaft und einer schwärmerischen Neigung zu einem Ideal […].“ (Lange 1909: 6),
so Lange über Hölderlins Liebe zu Suzette Gontart alias Diotima. Die Sexualpathologie dieser Zeit hatte sich des abnormen Künstlers, das hieß
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ins Benehmen setzen konnte. Siehe zu Binswanger den Abschnitt 3 des vorliegenden Beitrags. In seinem „Fall“ wird wie bei van Gogh das Zerfallene der Form, das sich aus pathographischer Sicht dem Ausbruch der Psychose verdankt, zwar als krankhaft, aber genial angesehen. Siehe Lange-Eichbaum 1935: 321. Lange 1909. Siehe weitere Pathographien über Hölderlin in Lange-Eichbaum 1935: 474f. Lange-Eichbaum verneint alle sozialen und politischen Ursachen für den Ausbruch von Hölderlins psychischer Störung (S.371f.) Dies sollte später durch Bertaux (1978) wieder in die Debatte um Hölderlins Wahnsinn eingebracht werden und wird auch für den „Fall“ Warburg im Sinne einer historischen, nicht retrospektiven diagnostischen Auffassung der Persönlichkeit überzeugend von Ulrich Raulff in Anschlag gebracht; s. Raulff in Warburg 1996: 61f. und Raulf 2003: 15 Auf S. 130 ist Hölderlin für Lange-Eichbaum (1935) „ein so extrem Schizoider“.
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des homosexuellen und mit Knaben aus niederen sozialen Schichten verkehrenden Künstlers angenommen (Moll 1910). Um die Sexualität des Künstlers war ein heftiger Streit entbrannnt, den Freud in seiner pathographischen Studie „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ (1910) insofern löste, als er dem Renaissance-Künstler zwar eine homoerotische Neigung attestierte, diese aber als platonisches Ideal darstellte, also die physische Asexualität oder „Frigidität“ Leonardos betonte (Clemenz 2003: 31-52). Er folgte damit grundsätzlich einem Zweig der Geniedebatte Ende des 19. Jahrhunderts, die Genies für asexuelle, neutrale Wesen ihrer Art „wie Ameisen und Bienen“ hielt (LangeEichbaum 1935: 53; vgl. Zini 1986: 117). Gerade dieses Element sollte sich später gut in die Vorstellung eines ganz von der Außenwelt abgewandten, vergeistigten Künstlers einpassen, der allenfalls dem Ideal des platonischen Eros verschrieben war. Lange wertet die unmännliche, gleichwohl in der Heterosexualität wurzelnde Eigenart Hölderlins dagegen als Krankheitssymptom: Der Psychopath sei „in hohem Masse bestimmbar und ‚suggestibel‘. Darin erwecken männliche Psychopathen leicht den Eindruck des Weiblichen, Femininen, und zwar im schlechten Sinne, da diese Suggestibilität sonst nicht recht zum männlichen Habitus passt“ (Lange 1909: 13).
Alle weiteren Eigenschaften scheinen denn auch den femininen Einschlag Hölderlins zu bestätigen: Der Verlust der Aufmerksamkeit, das Fehlen eines einheitlichen Stils der Persönlichkeit, die Neigung zu Migräne und Missempfinden des Körpers (ebd.: 13-17), das labile, exzentrische Gefühlsleben, das „fluessiger“ als das „gewoehnliche Wasser“ (ebd.: 26) gewesen sei, schließlich die Virtuosität des Könnens, also eine eher handwerkliche Begabung, und ein „Hang zum Abstrakten“ (ebd.: 22). Die Nervosität wird schließlich zu einem der markantesten Merkmale, die Hölderlins Femininität manifestieren: „Jedenfalls fehlte ihm jede etwas robustere Männlichkeit; er hatte ‚zarte Nerven‘, würde der Laie sagen. Übrigens war sein körperliches Wohlbefinden wesentlich von der Stimmung abhängig.“ (ebd.: 20) Und: „Er war blutleer, er hatte (mit Fischers Worten) Nerven, aber keine Muskeln, Empfindung und Stolz, aber keine Tatkraft.“ (ebd.: 34) Das „Nervenkopfweh“ (ebd.: 20) Hölderlins und die Betonung seiner „zarten Nerven“ verweist darauf, dass sich hier in das Bild des Schizoiden die nervöse Persönlichkeit mischt, in der sich um 1900 das Diktum von einer degenerierten, kranken Gesellschaft schlechthin spiegelte. Die Krankheitsmerkmale werden denn auch ungebrochen auf die Analyse der Gedichte übertragen, deren inhaltliche Leere Lange zufolge 132
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mit einer affektierten, geschraubten, zerfahrenen Form einhergehe, die sich dem Hin- und Herwogen wechselnder Gefühle hingebe (ebd.: 97). Nicht die Syphilis und Tuberkulose, die Susan Sontag als paradigmatische Krankheiten des 19. Jahrhunderts anführt, stehen hier im Hinblick auf die künstlerische Kreativität im Mittelpunkt. Vielmehr ist es die Psychopathie, die neurotische Veranlagung des Künstlers, die zum Drehund Angelpunkt der Kulturpathologie und pathologischen Kunstkritik um 1900 wird, und der die Pathographie zugehörte oder zumindest zuar10 beitete. Lange hatte das Zerfließende an Hölderlins Leben, Empfinden und künstlerischem Schaffen betont und damit eines der Hauptmerkmale der Psychopathie, das Fehlen eines „fest[n], geradlinige[n] Wille[ns]“ (Lange-Eichbaum 1935: 231; vgl. auch ebd.: 236 zu den „Willenlosen“). herausgestrichen. Erst Norbert von Hellingrath invertierte dieses Bild 1916 im vierten Band der Gesamtausgabe der Werke Hölderlins. Er attestierte Hölderlin zwar einen Rückzug ins „innere Asyl“, sah darin aber auch die Konzentrationsfähigkeit und Selbstfindung eines Künstlers, dessen überbordende, barocke Formgestaltung gerade nicht, zumindest nicht in den vormals als „krank“ verworfenen Gedichten, Ausdruck von kranker Willenlosigkeit, sondern von noch gesunder Willensanstrengung, ja von Rationalität gewesen sei (Hellingrath in: Hölderlin 1916: XI, XVIf., XVIIIf.). Gleichwohl hielt Hellingrath an Motiven des Krankheitsbildes Schizophrenie fest, wie dem Rückzug ins Innere einer schöpferischen Phantasiewelt. Der dem George-Kreis nahe stehende Hellingrath hatte damit die Figur des vergeistigten Hölderlin geschaffen, dessen tradierte Abnormität positiv gewendet und zudem in beredtem Schweigen über die Frage der Sexualität des Künstlers dessen Disponibilität als Vorbild Georges gewährleistet. Zwei Jahre später, 1918, versuchte Julius-Meier-Graefe in diesem Sinne auch eine Neubewertung des vermeintlichen Wahnsinns van Goghs. Dieser habe zwar an einer Krankheit gelitten, aber heroisch dagegen angekämpft (Meier-Graefe 1918: 8; 12; 15; 42). Die Kombination von Genialität und schwacher Konstitution war ebenso wie Hellingraths Rückzugsdiagnose doch wieder in den Krankheitsbildern der Genialen wiederzufinden, aber nunmehr mit dem positiven Merkmal der Willensanstrengung gekoppelt, das den Kranken zum Helden avancieren ließ. Und wie Hölderlin kommt auch van Gogh nur in der Abgeschiedenheit, in van Goghs Fall in einer südlichen Bauern-Idylle zu sich. MeierGraefes Vergleich van Goghs mit Dostojewsky, der vor 1900 als Epilep10 Vgl. Sontag 1978 In der jüngeren Forschung ist man sich über die kulturelle Bedeutung der nervösen Erkrankung um 1900 einig: Siehe Schulte (1997: 129), sowie Thomé (1998), Kap. I und II und Radkau (1998)
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tiker gegolten hatte und dem nach 1900 eine kreative, erkenntnisstiftende Krankheit im Sinne des romantischen Kreativitätstheorems attestiert wurde, hebt van Gogh dann 1925 in die Riege der kranken, aber mit vertieftem Wissen ausgestatteten Künstler (Meier-Graefe 1987: 14). Verfolgt man die Geschichte der verschiedenen Künstler, die für krank und genial gehalten wurden, scheinen sie wie in einem komplexen Verweissystem aufeinander bezogen zu sein. Dessen Motive stützen sich gegenseitig, so dass der Wissenschaftler oder Kunstschriftsteller quasi auf eine schon geschaffene Empirie der genialen Natur und Lebensgeschichte des Künstlers zurückgreifen konnte, selbst wenn ihm die wissenschaftliche Systematik und Genauigkeit der Kategorien abhanden zu kommen drohte. Hölderlin und van Gogh wurden von allen Künstlern, die zunehmend seit 1900 bis in die 1920er Jahre pathographisiert wurden, mit Abstand am häufigsten als Vergleichsfiguren und mithin Gewährsmänner des meist posthumen diagnostischenVerfahrens herangezogen. So hatte schon der Psychiater Robert Binswanger (1850-1910) 1894 den Künstler Karl Stauffer-Bern an die Seite des „pathologischen Dichter[s] Hölderlin“ gestellt (Binswanger 1894: 111) und der geniale Tänzer Vazlav Nijinsky, der 1919 von Eugen Bleuler für schizophren erklärt wurde, wird bis heute mit Hölderlin verglichen. Die Gestuftheit des Empfindens schließlich von Paul Klee stellte Paul Westheim 1931 in „Helden und Abenteurer. Welt und Leben der Künstler“ (Berlin 1931) derjenigen Hölderlins an die Seite. Nicht zuletzt, und darauf wird zurückzukommen sein, orientierten sich Künstler an diesen paradigmatischen Typen pathologischer Künstler, ihren Lebensläufen, Arbeitsweisen und Werken.
3. Künstler als Leitfiguren d e r P s yc h o p a t h o l o g i e Der Psychiater Ludwig Binswanger d.J., der Sohn Robert Binswangers, und einer der massgeblichen Beförderer einer philosophisch orientierten Psychiatrie, stützte sich Anfang der 1920er Jahre bei der Darlegung seiner theoretisch-methodischen Überlegungen auf die von Hellingrath und Meier-Graefe neu bewertete Künstlerfigur und die Vorstellung einer ver11 tieften Wahrnehmung des kranken Künstlers. Binswanger hatte sich schon während des Ersten Weltkriegs mit dem Thema des „künstleri11 Binswanger hat indes selber nur eine Pathographie geschrieben: Binswanger 1949. Die folgenden Ausführungen überlagern sich teilweise mit Gockel 2003: 17-22.
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schen Instinkts“ beschäftigt, ein Stichwort, das er bei seiner Lektüre von Wilhelm Worringers „Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stil12 psychologie“ in der Ausgabe von 1916 notiert hatte. Seit 1913 hatte sich der forschende Arzt auch mit der Phänomenologie Edmund Husserls befasst (Fichtner 1992: 21), die für seinen Entwurf einer philosophischen Psychopathologie wegweisend werden sollte und deren Verständnis er mit dem Begriff vom „Instinkt“ des Künstlers als idealer Wahrnehmungsweise amalgamieren sollte. Binswanger wollte darauf hinaus, den „künstlerischen Instinkt“ als wissenschaftliche Erkenntnismethode in der psychiatrischen Praxis zu etablieren. Davon handelt sein im November 1922 gehaltener Vortrag vor der 63. Versammlung des „Schweizerischen Vereins für Psychiatrie“ in Zürich. Binswanger wappnet sich gleich eingangs gegen den Vorwurf der Subjektivität und der Metaphysik, wenn er die etablierte epistemische Methode der naturwissenschaftlichen Psychiatrie, die auf „Eigenschaften, Elemente oder Funktionen“ ziele, ablehnt und erklärt, er wolle sein Thema der geneigten Hörerschaft vor das „geistige Auge“ bringen. Vorbild dafür sei die geistige Wahrnehmung von „echten Künstlern.“ (Binswanger 1923: 11) Unter diesen Künstlern findet van Gogh Erwähnung, der imstande gewesen sei, in einem vom Wind gepeitschten Baum das Drama eines Menschenschicksals zu „sehen“ oder ein „schlafendes Kind“ in einem 13 „jungen Korn“ (ebd.: 12). Der „echte“ Künstler ist also derjenige, der sich nicht auf das Studium der wahrgenommenen Naturgegenstände beschränkt, sondern sich der Wesenhaftigkeit, der inneren Bedeutung der Phänomene erkennend hinzugeben weiß. Obgleich die phänomenologische Wahrnehmung, wie sie Binswanger von Husserl herleitet, nicht mit der künstlerischen identisch sei, empfiehlt Binswanger diese dem Wissenschaftler als Methode. Bezeichnenderweise erwähnt Binswanger zunächst nicht, dass seine künstlerischen Gewährsmänner – Flaubert, Dostojewski und van Gogh – zu jenen pathographisierten Künstlern gehörten, von denen angenommen wurde, dass sie ihr Talent aufgrund eines psychischen oder physiologischen Defekts hatten entfalten können. Andererseits hätte Binswanger gerade diese Künstler nicht als Zeugen für seine neue Methodik verwenden können, wenn sie nicht schon durch die wissenschaftliche Pathographie als außergewöhnliche Genies mit einem spezifischen psy12 Siehe das Exemplar von Worringers Buch in Binswangers Bibliothek, die im Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen aufbewahrt wird. 13 Binswanger bezieht sich hier auf van Goghs Briefe an seinen Bruder Theo.
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chischen Vermögen ausgewiesen worden wären. Erst viel später, im letzten Drittel seines Referats, kommt Binswanger auf den schizophrenen Patienten zu sprechen, der aufgrund seiner „Halluzinationen“ in der Lage sei, sich tiefer in bestimmte Phänomene hineinzuversetzen. Offensichtlich ist das Dilemma des Wissenschaftlers, sich mit dem genialen Künstler zu identifizieren, der bei aller integralen Auffassung vom Kranksein doch mit dem Stigma der Geisteskrankheit behaftet war. So bezieht sich Binswanger auch erst in diesem fortgeschrittenen Verlauf seines Vortrags auf Karl Jaspers’ Pathographie Strindbergs, van Goghs und Hölderlins. Dessen Erörterung der „‚Intuition von einem Ganzen, das schizophren heisst‘ […] von einer ‚schizophrenen Atmosphäre‘“ gelte es nun zu „fixieren und wissenschaftlich zu bearbeiten“ (ebd.: 40f.). Die Neubewertung des schizophrenen Künstlers in der Psychiatrie als ideale Persönlichkeit mit erhöhter innerer Wahrnehmungs- und Erfahrungsfähigkeit war bei Hellingrath und Meier-Graefe präfiguriert und bediente auch die Sehnsüchte von deren bürgerlichem Publikum. In einer Elite von Kunstschriftstellern und Wissenschaftlern wurde das wahnsinnige Künstlergenie von früheren Stigmatisierungen befreit. Es konnte weiterhin das wahnsinnige Genie bleiben, das aber nicht mehr seinen psychischen und physiologischen Triebkräften hilflos ausgesetzt war, die im übrigen dem Ideal des Schönen, das der verinnerlichte Künstler zu erfüllen vermochte, entgegenstanden. Die Hermeneutik der Selbstfindung in Binswangers Psychiatrie sollte sich in der sozialen Beschränkung auf einen kleinen Kreis Eingeweihter und Auserwählter entfalten, zu dem nun auch der Künstler Zugang hatte. Dem entsprach die soziale Struktur einer eleganten, in einem weitläufigen Parkgelände angesiedelten Klinik, der Binswanger vorstand. Die Ideologie vom Ausnahmemenschen, die ein Gegenbild zum vermeintlich von sich entfremdeten modernen Menschen entwarf, beruhte nicht zuletzt auf der Ausgrenzung des Durchschnittsmenschen.
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4. Gelebte Vita Als Ernst Ludwig Kirchner 1917 Binswangers Klinik „Bellevue“ aufsuchte, um neurologische Dysfunktionen an Händen und Füssen behandeln zu lassen, hatte er schon selbst eine Wende seines Leben und seiner Arbeit hin zu einer vergeistigten Existenz projektiert (vgl. Gockel 2003a), die Binswanger am modernen Künstlergenie so faszinierte. Die Abkehr von seiner Identität als expressionistischer Brücke-Künstler, und damit von einer durch körperliche Empfindungen begründeten sinnlichen Kunst, setzte Kirchner mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs 14 an, den Vollzug einer „Umformung des eigenen Lebens“ jedoch erst für seine Zeit in der Klinik „Bellevue“. Das Selbstbildnis (Abb. 1) von 1915 (vgl. Springer 2002), in dem sich der Künstler als Soldat mit abgeschlagener Hand dargestellt, zeigt erstmals in seinem Werk die Abkehr von der bohemienhaften Identität, die Kirchner noch zwei Jahre zuvor im schwarzen Dandy-Aufzug mit pomadisiertem Haar zur Schau getragen hatte (Abb. 2). Die iris- und pupillenlosen Augen im Gemälde deuten nunmehr auf eine Wende nach Innen hin, auf eine Vergeistigung, die als Motiv der leeren Augen und Augenhöhlen zur expressionistischen Ikonographie ab 1914 gehörte. Ein Jahr später, in der Radierung „Selbstbildnis, zeichnend“ (1916) (Abb. 3), verwendete Kirchner das Motiv der pupillen- und irislosen Augen erneut, doch nun im Zusammenhang chaotisch und spontan scheinender Strichlagen. Diese dürfte er selbst jedoch nicht als Ausdruck eines veronalabhängigen wahnsinnigen Genies gesehen haben, für das ihn seine Umgebung hielt und als das er in dieser Phase seines Lebens und Arbeitens mitunter noch in der heutigen Forschungsliteratur gesehen wird. Vielmehr scheint dieser Radierung schon Kirchners neue Auffassung von Kunst und Wahrnehmung zugrunde zu liegen, die dann kurze Zeit später
14 Briefwechsel Georg Reinhart – Ernst Ludwig Kirchner, 1917 bis 1936, Original in der Stadtbibliothek Winterthur, Kopie im Archiv des Kirchner Museums Davos, Brief von der Stafelalp, 14. Juli 1918. Kirchners Bemerkung ist direkt auf die „unendlichen Anregungen von Herrn Dr. Ludwig“ bezogen. Kirchner behauptete auch in späteren autobiographischen Darstellungen, dass das Jahr 1917 (also nicht der Kriegsausbruch 1914) einen Wendepunkt in seinem Leben bedeutet habe. Er nahm damit einen Bestandteil der Therapie und Lehre Binswangers wie auch einen Topos der Künstlerpathographien auf, die die Wende im Leben, die neue Art von Kreativität und den Ausweis geniehaften Schaffens in Zusammenhang setzten.
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Abbildung 1: Ernst Ludwig Kirchner, Selbstbildnis als Soldat, 1915, Öl auf Leinwand, Allen Memorial Museum, Oberlin, Ohio; Abb. nach Ausst. Kat. Ernst Ludwig Kirchner. Von Jena nach Davos, Stadtmuseum Göhre, Jena 1993, S.139.
1917/18 durch den Aufenhalt im „Bellevue“ theoretisch und philosophisch unterfüttert wurde. So schrieb Kirchner im „Bellevue“ davon, wie die Erfassung einer Person im Bild letztlich nicht das Individuum, sondern eine in der Welt „schwebende“ Geistigkeit darstelle, eine Vorstellung, die mit dem Wahrnehmungsmodell als Beziehungsmodell in Binswangers Psychiatrie durchaus übereinstimmte. In diesem Selbstbildnis sind nicht absetzende, hoch und eng geschwungene Linienführungen links und rechts unterhalb der Schultern und links neben der Hand zu sehen. In gedrungener horizontaler Führung finden sich diese Strichlagen links oben neben dem Kopf. Sie gleichen nicht Schraffuren mit immer neu ansetzenden Strichen, sondern einem Schriftbild ohne Buchstaben oder auch der Aufzeichnungskurve von Herzschlägen. Doch nicht die Skizze eines physiologisch begründeten Ausdrucks, sondern die Darstellung des Aktes des Zeichnens als einer direkt mit der Identität des Dargestellten verknüpften Arbeit wird zum bildlichen Prinzip. Kirchner stellt sich als Künstler dar, der im 138
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Zeichnen nunmehr seine existentielle Bestimmung finden wollte und damit gleichzeitig zum Seismographen eines schwebenden Geistigen in der Welt zu werden meinte.
Abbildung 2: Ernst Ludwig Kirchner, Porträtfotografie, ca. 1912-13; Abb. nach Donald E. Gordon: Ernst Ludwig Kirchner, Cambridge, Mass, 1968, S. 38.
Dass das Zeichnen zum Bedeutungsträger eines neu gefundenen Wesensgrundes wird und nicht als spontaner und damit zu psychologisierender Ausdruck zu verstehen ist, zeigt sich auch darin, dass die Hand als Zeichen der körperlichen Ausdruckskraft gegenüber dem dunkel und monumental hervortretenden Kopf mit dem gewaltigen Schädel verblasst. Anders als in seinen früheren Selbstbildnissen, wie einem Linol139
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schnitt von 1906 (vgl. Dube/Dube 1991, Kat. Nr. 99 I), bleibt das Handmotiv untergeordnet. Kirchner bezog sich damit auf die Haltung van Goghs, der, obgleich virtuoser Arbeiter mit dem Farbmaterial, höchst selten überhaupt seine Hände in Selbstbildnissen darstellte und wenn überhaupt, diese nur angeschnitten ins Bild brachte. Ein Vorbild für Kirchner könnte ein Bildnis von 1887 sein (Abb. 4), stellte doch auch van Gogh den Haaransatz mit den tief eingeschnittenen Ecken und die hohe Stirn in den Mittelpunkt der Betrachtung und verlieh auch er, wie Kirchner mit seiner Strichführung, mit der unruhigen Oberfläche in horizontalen hellblauen und vertikalen gelben Pinselhieben dem eigenen Antlitz den Anschein energetisch strahlender Präsenz.
Abbildung 3: Ernst Ludwig Kirchner, Selbstbildnis, zeichnend, Radierung, 1916; Abb. nach Albert Schoop: Ernst Ludwig Kirchner im Thurgau. Die 10 Monate in Kreuzlingen 1917 – 18, Bern, 1992, S. 8.
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Der Absenz des Handmotivs als Symbol handwerklicher Tätigkeit des Künstlers entspricht die Konzentration der Pathographie auf Geist und Seele des Künstlers. Die Materialität des Kunstwerks und die Farbe werden kaum je argumentativ behandelt. Besonders Jaspers und Binswanger meiden das Territorium der künstlerischen Arbeit geradezu, offenbar weil die zweifellos psychisch und ästhetisch aufwühlenden Effekte auf den Betrachter und die Malerei als Ergebnis einer äußeren Virtuosität nicht mit dem Bild der verinnerlichten Person des Künstlers und dem Kunstwerk als Ergebnis meditativer, innerer Wahrnehmung zusammengepasst hätten. Sowohl Kirchner wie van Gogh bewegen sich in ihren Selbstbildnissen also prekär nahe am wissenschaftlichen Entwurf des künstlerischen Genies und seiner Werke als Kopfgeburten eines hochsensiblen Künstlers, dessen künstlerischeVeranlagung erst durch den Wahn freigesetzt zu werden schien. Während jedoch van Gogh dem Kunstkritiker Albert Aurier, der ihn erstmals 1890 emphatisch als wahninniges Künstlergenie gelobt hatte, mit Distanzierung, schließlich mit Ablehnung begegnete, sogar um den Preis, sich und seinen Werken zu Lebzeiten einen durchschlagenden Publikumserfolg zu versagen (Van Gogh 2000: 256f.), setzte sich Kirchner mit dem kulturellen Topos des verrückten, aber genialen Künstlers intensiv auseinander. Dies belegen sein Studium der Briefe van Goghs, seine Zeichnungen nach Werken van Goghs aus dessen Zeit in der Irren15 anstalt in Saint-Rémy, die Bücher Meier-Graefes über van Gogh in seiner Bibliothek und nicht zuletzt sein gegenüber Carl Hagemann geäußerter Wunsch, dieser möge ihm den vierten Band von Hellingraths 16 Hölderlin-Ausgabe zukommen lassen. Wenn Kirchner auch später immer wieder betonte, dass nur der Ausbruch seiner Krankheit ihn die Fähigkeit zur inneren Wahrnehmung habe entwickeln lassen, dann bezog er sich auf das Motiv der Wende im Leben des kranken Genies, das schon so lange die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Künstler geprägt hatte und das Binswanger, Hellingrath und Meier-Graefe positiv zu deuten suchten.
15 Auf diese Zeichnungen hat Roland Scotti (1999) aufmerksam gemacht. 16 Unpublizierter Brief an Carl Hagemann vom 25. Mai 1918, worin Kirchner ausdrücklich den vierten Band der Hölderlin-Ausgabe Hellingraths von 1916 erbittet und schreibt, dass die darin gedruckten Gedichte außerordentlich schön sein müssten, weil sie zur Zeit der Krankheit des Dichters entstanden seien.
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Abbildung 4: Vincent van Gogh, Selbstbildnis, 1887, Öl auf Leinwand auf Karton, Amsterdam, Rijksmuseum Vincent van Gogh, Vincent van Gogh Stiftung; Abb. nach Ingo F. Walther u. Rainer Metzger: Vincent van Gogh, Köln 1997, S. 267.
Kirchner war bestrebt, nach der Entlassung aus dem „Bellevue“ mit hohem intellektuellen Aufwand den Idealtypus des Künstlers zu verwirklichen, den Kultur und Wissenschaft vorgeprägt hatten. In seiner immer stärker anwachsenden Bibliothek finden sich reihenweise Künstlerbiographien und literarische Darstellungen von Menschen, in deren Lebensgeschichte sich eine schicksalshafte, von Krankheit bestimmte Wende vollzogen und zu einer Besinnung auf das Geistige geführt hatte. Das Leben unter Bauern, der Rückzug auf eine hoch gelegene Alp im Sommer bei Davos, der Versuch, von Veronal und Morphium, ja auch vom Rauchen loszukommen, waren für Kirchner Schritte in Richtung einer sozialen und psycho-physischen Umsetzung eines Künstlerideals, einer Herstellung eines „inneren Asyls“, das, wollte man den Kunstschriftstel142
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lern glauben, dazu angetan war, zum Quellort des größten Künstlertums überhaupt zu werden. Mit der Wende in seinem Leben hatte sich zudem Kirchners Konzeption des Zusammenlebens mit Erna Schilling, die er 1911 in Berlin kennengelernt hatte, verändert (vgl. Röske 2000; Gockel 1998, 2001). In Berlin hatten beide noch in Fotografien ihr Bohemien-Leben buchstäblich verkörpert (Abb. 5). Sexuelles Erleben mit seinen Modellen, zu denen Erna Schilling gehörte, galt dem Nietzsche-Leser Kirchner zu dieser Zeit als Quelle seiner Kunst. Im „Bellevue“ meinte er hingegen erstmals
Abbildung 5: Werner Gothein, seine Freundin, Erna Schilling, Ernst Ludwig Kirchner in deren Atelier-Wohnung in Berlin-Friedenau, 1914/15; Abb. nach Kirchner Museum Davos, Katalog der Sammlung, Bd. II, Fotografie, bearb. u. hg. v. Gabriele Lohberg, Davos, Wichtrach/ Bern, 1994, S. 61.
das rein Geistige in der Erscheinung des Kopfes und in den Gesichtszügen Erna Schillings wahrgenommen zu haben. Seine Gefährtin wollte er nunmehr als Geistfigur, weniger als körperlich empfindende Frau sehen. Im Laufe der 1920er Jahre sollte er dann auf Plakaten für seine Ausstellungen das männlich-weibliche Doppelwesen darstellen (Abb.6), aus dem seine Kunst nun hervorging, auch wenn, wie er schrieb, die Öffent17 lichkeit doch nie einen „2geschlechtlichen Gott [sic]“ akzeptieren würde. Mit dem Zurückdrängen physischer und geschlechtsspezifischer 17 Briefe Kirchners an Erna Schilling, Typoscript im Kirchner-Museum Davos, Brief vom 12.3.1929.
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Sexualität zugunsten des platonischen Eros als Leitbild seines Zusammenlebens mit seiner Gefährtin näherte er sich der Idealfigur des asketischen, vergeistigten und nur geistig liebenden männlichen Künstlers an, eine Vorstellung, die sich in der Tat nicht auf Frauen oder auf eine männlich-weibliche Arbeitsgemeinschaft übertragen ließ und deshalb kaum ein Publikum finden konnte. So tauchte das Motiv der Asexualität des Künstlers aus den kulturpathologischen Debatten um 1900 bei Kirchner als Ideal einer künstlerischen Produktion wieder auf, die sich nicht erotisch, sondern eher durch eine geschlechtslos kameradschaftliche Symbiose von Mann und Frau zu begründen suchte. Noch Mitte der 1920er Jahre nahm sich Kirchner während einer Deutschlandreise als „Außenseitererscheinung“ wahr, im Unterschied zu seinem ehemaligen Künstlergefährten Schmidt-Rottluff, der sich mit seiner bürgerlichen Ehe und angepasst scheinenden Verhaltensformen vom Avantgarde-Künstler der „Brücke“ zum Bürger gewandelt zu haben 18 schien. Dass Kirchner selbst einem vorgeschriebenen Lebensentwurf folgte, der es der bürgerlichen Gesellschaft erlaubte, den Außenseiter und seine Lebensgeschichte als bäuerlichen Asketen, platonisch Liebenden, aber auch letztlich an der modernen Welt Scheiternden in ihr Wertesystem zu integrieren, mochte und konnte er wohl nicht sehen. So konnte der „Außenseiter“, der er selbst sein wollte, 1920 in der Zeitschrift „Kunst und Künstler“, die vornehmlich den Impressionismus unterstützte, geradezu segensvolle Worte des Kunstkritikers Karl Scheffler entgegennehmen. Und das von jenem Kritiker, der vor und während des Krieges die deklassierende Subversion bürgerlichen Empfindens durch die expressionistische Kunst buchstäblich mit Feuer und Schwert bekämpft sehen wollte, erhoffte er sich doch vom Ersten Weltkrieg die Vertreibung von der aus der „Langeweile des Geistes geborene[n] Ideologie des Expressionismus, des Kubismus und des Futurismus“ (Scheffler 1915; vgl. Klein 1991: 24f.). Nun steigerte Scheffler die Figur des „kränklichen“, einsamen und hochsensiblen Künstlers ins Religiöse. Als „Heiliger Antonius“ und „schlanker, hohlwangiger Abbé, der ein berühmter Kanzelredner ist und mit seinen ekstatischen Predigten die Hörer zerknirscht“ (Scheffler 1920: 224) gelingt es Scheffler den einsamen Künstler Kirchner disponibel für die Elite der bürgerlichen Kunstinteressierten zu machen, indem er versichert, dieser Asket könne heimlich doch nicht umhin, „auf alle die Herrlichkeiten des Lebens begehrlich hinzuschielen.“ (ebd.) Wie vormals die Pathographen hatte nun der Kunstkritiker den Künstler, wenn auch auf andere Weise, vom Podest
18 Ebd., Brief ohne Datum, datiert auf Januar 1926.
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Abbildung 6: Ernst Ludwig Kirchner, Plakat der Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner, Bern 1933“, 1932, Privatbesitz; Abb. nach Ausst.Kat. Ernst Ludwig Kirchner. Das innere Bild, Kirchner Museum Davos, Köln 1999, S. 166.
des anbetungswürdigen Genies und in die Mitte des nach materiellen Gütern und Lebensfreuden begehrenden Bürgers zurückgeholt. Dass dieses „Nebeneinander von Frömmigkeit und Weltlichkeit, von Ernst und Spiel“ (ebd.) nur aus der Distanz funktionierte, nahm Kirchner wahr, als er seiner Lebensgefährtin schrieb, die Wertschätzung seiner Kunst in Deutschland würde unter seiner Rückkehr dorthin leiden und 19 hinge gerade von seiner Absenz ab. Er hatte damit sehr genau erfasst,
19 So fürchtete er, dass ein Umzug nach Deutschland dazu führen würde, dass er mit seiner „idealen“ Kunst „rasch in die Ecke gestellt werden würde“, obgleich er sich bei seinem Deutschlandaufenthalt jetzt noch „mit
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dass seine ständige Präsenz als lebender Künstler, etwa als Lehrender an der Kunstakademie in Dresden oder Berlin, die so erfolgreiche Kunstfigur Kirchner gestört hätte. Kirchner wäre gewissermassen seinem eigenen Double in die Quere gekommen. So hatte Kirchner sich in den Bergen bei Davos in eine Lebenspraxis manövriert, die überfrachtet war von Fiktionalisierungen seitens der Wissenschaft, der Literatur und der Kunstkritik. Dazu trug bei, dass er die Darstellung seiner selbst als Mystiker und Visionär förderte und sich das Bild Kirchners im eher konservativen Kunst-Organ „Kunst und Künstler“, wo Scheffler Vision und Mystik der neuen Kunst beschwor, nicht grundsätzlich von dem im progressiven „Kunstblatt“ unterschied (Gockel 2003: 22f.). Hier hatte Kirchner die Texte seiner Freunde und Mäzene mit reichem Reproduktionsmaterial unterstützt. Seinem beredten Schweigen über den Inhalt dieser Artikel mag man entnehmen, dass er sich der Differenz zu seiner eigentlichen Kunstkonzeption bewusst war, die nach Objektivität und Verallgemeinerung strebte. Der Literarisierung und Anpassung an vorgeprägte Formeln konnte auch Kirchners Selbstmord 1938 nicht entgehen. Er versinnbildlichte nicht nur lebensgeschichtlich wie van Goghs Tod das notwendige Scheitern der Moderne, wie Jaspers sie hatte verstehen wollen. Kirchners Selbstmord wurde vielmehr sogleich von einem befreundeten englischen Literaten in ein Drama van Goghscher Provenienz umgemünzt. Nicht vor dem Haus seiner Nachbarn, wo Kirchner mit einem Revolver Erna Schilling hinterhergelaufen war, die um Hilfe telefonieren wollte, sondern inmitten jener bäuerlichen Blumen auf der Alp, die Kirchner gemalt hatte, ließ Llewellyn Powys Kirchner sterben: „And then one morning in June [1938], he [Kirchner] went out into the meadows, and there on a bank amongst the clustering Alpine flowers that had so often been made to appear in his pictures as flowers of paradise, he shot himself 20 dead.“ (Powys 1947: 25)
Wie van Gogh gewissermassen am Ort seiner Bilder im hitzeglühenden Getreidefeld den letztlich tödlichen Schuss auf sich abgegeben haben soll, erschoss sich auch Kirchner in Powys Geschichte in der freien Natur, die zugleich sein Bildgegenstand gewesen war. Keineswegs unbegrösster Hochachtung behandelt“ sah; Brief, wie Anm. 51. kann nicht stimmen! 20 Dem Essay über Kirchner liegt die 1939 veröffentlichte Version „Death of a Painter – the strange Genius of Ernest Ludwig Kirchner“ in John O‘ London’s Weekly zugrunde. Vgl. zu Powys und zu einer deutschen Übersetzung des Textes Kornfeld 2001
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wusst holten Kirchner die Formeln der „gelebten vita“ (Kris/Kurz 1980: 64) des Künstlers ein. Und nicht erst Kirchner hatte diese seiner eigenen Lebenweise und Todesart eingeschrieben, hatte doch schon van Gogh in seinen Briefen an den Bruder Theo darüber räsonniert, welch fördernden Effekt der Künstlertod auf die Rezeption des Werks haben konnte. Kirchner, der nach der Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 in München endgültig seinen Traum begrub, zum führenden deutschen Künstler aufzusteigen, und der schon früher Erna Schilling bekannt hatte, dass das atmende Leben und Lieben in seinen Bildern aufgehoben sei, mochte mit seinem Selbstmord nach über zwanzig Jahren gestaltender Arbeit am Drehbuch seines Lebens die letzte Konsequenz aus einer „gelebten vita“ gezogen haben.
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Arbeit am Habitus: Ärzte und Apotheker im 18. Jahrhundert zw ischen Bildungsroman und Schöpfungsphantasie BETTINA WAHRIG
1. Der Sockel und sein Held „Schont die Sockel, wenn ihr die Denkmäler stürzt. Sie können noch gebraucht werden.“ (Lec 1988: 33)
Lange bevor in Berlin und anderswo Lenin von seinem Sockel herunter schwebte, erinnerte Stanislav Jerzy Lec daran, dass für die Existenz eines Vor-Bildes nicht nur der Held auf dem Sockel, sondern auch ein Sockel unter dem Helden stehen muss. Nicht allein die Statue, sondern ebenso ihr erhöhter Platz im architektonischen Ensemble ist entscheidend dafür, dass aus einem Individuum und seinem Leben mit allen Kontingenzen und Besonderheiten, aus diesem räumlich und zeitlich begrenzten Etwas, ein „historisches Individuum“, ein Vorbild, gar ein Held wird. Mein Beitrag stellt Elemente der Habitusbildung bei Apothekern und Ärzten von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit dem Entstehen und der allmählichen Einübung eines neuen Selbstverständnisses als Wissenschaftler, als Staats- und Wirtschaftsbürger dar. Er bezieht sich insofern in doppelter Weise auf das Thema des Bandes „LebensBilder“, denn er probiert erstens einen dezentrierenden wissenschaftshistorischen Zugang zum Thema „Biographie/Biographien“ aus und fragt zweitens nach dem historischen Ort, an dem Wissenschaftler(innen)-Biographien ihre Bedeutung in der modernen Gesellschaft erlangten.
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Das Material – Apotheker- und Ärztebiographien des 18. Jahrhunderts – stammt aus wissenschaftlichen und allgemein verständlichen Zeitschriften, biographischen Sammelwerken und Nachrufen. Es stammt aus zwei lokalen Öffentlichkeiten (Braunschweig und Lübeck), sowie aus zwei Zeitschriften – einer medizinischen („Magazin für Ärzte“ bzw. „Neues Magazin für Ärzte“) und einer pharmazeutischen („Taschenbuch für Scheidekünstler“) – deren Zielpublikum vor allem ein breites Publikum praktizierender und lesender Ärzte und Apotheker war. Ergänzt wird es durch Beiträge aus der ‚schönen Literatur‘ des 18. Jahrhunderts (s. Abschnitt 4). In dem hier fokussierten Zeitabschnitt fanden einige für die Entwicklung der Wissenschaften vom Menschen im Sinne Foucaults als Lebewesen und Gattungswesen (Foucault 1997: 216) entscheidende Veränderungen statt, so z.B. die „mise en discipline des savoirs“ (ebd.: 161), und die Normalisierung der wissenschaftlichen Subjekte durch zunehmend einheitliche Anforderungen in der Ausbildung (Sohn 1999: 21ff.). In derselben Zeit wandelten sich Institutionen, Techniken und Kulturen der Kommunikation, es bildeten sich neue Formen von Öffentlichkeit heraus (Broman 1998; Hölscher 1997; Habermas 1992). Zugleich mit der Entwicklung des ‚Gelehrten‘ zum ‚Wissenschaftler‘ veränderten sich das Geschlechterverhältnis und das Verständnis des Menschen als Lebewesen (Honegger 1991). Es entstand ein Feld aus Machtrelationen und mit ihnen verbundenen Konzepten, in dem das Subjekt in neuer Weise erscheinen konnte.
2 . Ar b e i t a m H a b i t u s : D a s i n d i v i d u e l l e L e b e n als kollektives Projekt Ich werde mich im Folgenden an Bourdieus Begriff des Habitus anlehnen, wonach dieser „als Produkt der Geschichte […] individuelle und kollektive Praktiken“ und damit wiederum Geschichte hervorbringt: „er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen und die Übereinstimmung und Konstantheit [sic!] der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen zu gewährleisten suchen.“ (Bourdieu 1987: 101)
Eine historische Adaptation des Habitus-Begriffs, wie sie hier unternommen wird, hat sich besonders mit der Frage nach seiner Prozesshaftigkeit auseinanderzusetzen. „Als einverleibte, zur Natur gewordene und 152
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damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat.“ (Ebd.: 105) Diese vergessene Geschichte, diese „vom Habitus in […] umgekehrter Vorwegnahme der Zukunft bewirkte Gegenwart der Vergangenheit“ (ebd.: 116), kann dann zu Bewusstsein kommen, wenn – wie etwa im Fall von Don Quichote – die Dispositionen der Individuen zu weit von den „objektiven Möglichkeiten“ des real existierenden Milieus entfernt sind. (ebd.) Der Habitus-Begriff erlaubt, das individuelle Leben als verleiblichten/verleiblichenden Effekt kollektiven Handelns zu verstehen, und zwar in Zusammenhang mit dem „kollektiven Unternehmen der Bildung 1 symbolischen Kapitals“ (ebd.: 125), das seine Dynamik im Austausch mit wissenschaftlichem oder ökonomischem Kapital gewinnt. Im Gegensatz zu soziologischen oder historisch-prosopographischen Ansätzen, die an Bourdieu anknüpfen, werde ich aber nicht versuchen, ‚den‘ ärztlichen oder wissenschaftlichen Habitus in einer bestimmten Epoche zu beschreiben, sondern ihn als instabiles Phänomen, sozusagen ‚in statu nascendi‘ darstellen. Ich möchte diesen „Habitus in statu nascendi“ bzw. die „Arbeit am Habitus“ als kollektives, literarisches, wissenschaftliches und lebenspraktisches Projekt darstellen. Ich bin mir bewusst, dass dieser Ausdruck mit der von Bourdieu anvisierten Zeitstruktur des Habitus schwer kompatibel ist. Bourdieu selbst reklamiert eine Strukturähnlichkeit seines Modells mit demjenigen der prästabilierten Harmonie von Leibniz und positioniert den Habitus als „vergessene Geschichte“ (ebd.: 105, s.o.), gibt ihm also bewusst ein auf den ersten Blick ‚antihistorisches‘ Gepräge. Genauso wie sich aber bei genauerer Analyse des Leibniz’schen Modells doch eine (innere) Dynamik erkennen lässt (vgl. Holz 1997: 361), ist es gerade die von Bourdieu behauptete „Gegenwart der Vergangenheit“ des Habitus, die mich dieses begriffliche Wagnis eingehen lässt. Neben Sabine Harks Aussagen über Subjektformierung (Hark 1999, anknüpfend an Foucault) sind für mich weitere Ergebnisse der feministischen Wissenschaftsgeschichte (z.B. Haraway 1997) relevant. Diese hat zu einer Dezentrierung/Refokussierung beigetragen, indem sie die perspektivisch vereinzelte prominente (männliche) Forscherpersönlichkeit einschrieb in einen hybriden Forschungsprozess, verstanden als Zusammenrottung von Menschen und Dingen, von Subjekten und Objekten, als
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Für die science studies hat Bruno Latour den Bourdieuschen Kapitalbegriff aufgenommen und abgewandelt, allerdings ohne sich explizit auf Bourdieu zu beziehen. Dabei verwendet er den Begriff des „wissenschaftlichen Kapitals“. Vgl. Latour (1996).
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BETTINA W AHRIG 2 Prozess, in dem auch die Erfinder erst erfunden werden mussten. Die Perspektive auf den Helden und seinen Sockel ist durch den Forschungsprozess der vergangenen 20 Jahre dabei, sich auf einen ganzen Sockelwald auszudehnen, wobei zudem der Unterschied zwischen Held und Sockel selbst verschwimmt. Dabei kommt die Frage auf, ob sich der Held nun seinen Sockel baut oder umgekehrt, wobei die Antwort – wenn überhaupt – nur gefunden werden kann, wenn beide in den Plural gesetzt werden. Daston und Sibum sprechen für die Mitte des 19. Jahrhunderts von der Herausbildung einer neuen „wissenschaftlichen persona“. Mit „persona“ ist weder nur „Rolle“, „Maske“, gemeint, noch „Person“ oder „Persönlichkeit“. „Personae“ liegen „vermittelnd zwischen der individuellen Biographie und der sozialen Institution“, sind „Geschöpfe der historischen Umstände“ (Daston/Sibum 2003: 2f.) und Kontexte, sie sind Idealtypen, die nicht ohne „kulturelle (An)erkennung“, aber auch nicht ohne Techniken entstehen, die auf eine Formierung des Selbst „von innen“ gerichtet sind (ebd.: 5). Auch in diesem Ansatz geht es um die Verortung des einzelnen Wissenschaftlers in einem sozialen Kontext. Meine Formulierung „Arbeit am Habitus“ versucht diesen Prozess aus einer etwas anderen Perspektive abzubilden. Während mit der „persona“ bei aller Verschiedenheit der Ausprägung doch am Ende ein – epochenspezifischer – ‚Idealtypus‘ festzuhalten bleibt, erstellt der vorliegende Beitrag eine Momentaufnahme aus einem Prozess, in dem ein bestimmtes Ende noch nicht unbedingt abzusehen ist. Das wissenschaftliche Feld, dem Apotheker und Ärzte im späten 18. Jahrhundert angehörten, hatte noch nicht die relative Autonomie gewonnen, die für die Stabilisierung eines bestimmten Habitus notwendig ist (vgl. Krais/Gebauer 2002). Im betrachteten Zeitraum vollzog sich der Wandel von der Gelehrtenkultur zur wissenschaftlichen Öffentlichkeit, was langfristig eine Änderung des Gelehrtenhabitus zum wissenschaftlichen Habitus zur Folge hatte (vgl. Algazi 2003; Schneider 2002/2003). In diesem Prozess, hatten – so meine These – literarische Repräsentationen eine besondere Bedeutung. Insofern wird die vorliegende Studie traditionelle, eher dem Bereich der ‚schönen Literatur‘ zugeordnete literarische Formen wie Ständesatire, Anekdote und Bildungsroman einbeziehen. Gerade für das dem wissenschaftlichen Habitus eingeschriebene Geschlechterverhältnis (vgl. Krais/Gebauer 2002) sind diese Quellenarten sehr ergiebig, da es in ihnen verhandelt und nicht nur idealtypisch dargestellt wird (vgl. Wahrig 2004).
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Vgl. etwa zur (Selbst)-Konstruktion von Lavoisier als Held der Chemie Bensaude-Vincent 1995: 673.
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Die stabilisierenden und selbstreproduzierenden, ‚geschichtsverschleiernden‘ Effekte des Habitus treten in meiner Erzählung gegenüber jenen Momenten zurück, in denen der Gelehrte mit dem Wissenschaftler, der ‚bourgeois‘ mit dem ‚citoyen‘, der Literat mit dem Praktiker rangen.
3. Sockelmanufakturen Bereits in der frühneuzeitlichen Gelehrtenrepublik hatten Gelehrtenbiographien einen festen Platz. Dies drückt sich in unzähligen schriftlich überlieferten Leichenpredigten und Nekrologen aus. Eine Funktion dieser Textgattungen war es, die Biographie des Verstorbenen als Exemplum zu überliefern, sie als Beispiel für ein gelungenes, an den allgemein akzeptierten Normen orientiertes Einzelleben darzustellen. So war es in Lübeck ein ungeschriebenes Gesetz, dass der jeweilige Rektor des Gymnasiums promovierte Tote mit solchen Biographien versah, falls sich nicht ein Verwandter oder guter Freund dieser Aufgabe annahm. Blieb die Aufgabe in der Familie, dann konnte die Pflege des Andenkens an den Verstorbenen zwanglos mit dem Bestreben verbunden werden, ihn als Mitglied einer angesehenen Familie darzustellen und damit das Erbe nicht nur seines ökonomischen, sondern auch seines symbolischen Kapitals anzutreten. Nahm sich ein Kollege dieser Aufgabe an, so wurde hieran das „kollektive Unternehmen“ des Kapitalerwerbs im Bereich des Berufsfeldes des Verstorbenen sichtbar. Im 18. Jahrhundert wurden zunehmend Sammlungen populär, welche die Biographien verstorbener, teils auch noch lebender Gelehrter zusammenfassten. Diese Unternehmen waren in doppeltem Sinne kollektiv: Zum einen beteiligten sich zumeist mehrere Schriftsteller an ihrer Zusammenstellung, zum anderen wurden die Biographierten als Mitglieder der Gelehrtenrepublik dargestellt. Die Arbeit an diesen Unternehmen vernetzte zusätzlich Herausgeber und Autoren. So erhielt sich die Gelehrtenrepublik in den sie konstituierenden und sie gleichzeitig konstruierenden Individuen. Die Sammlungen verzeichnen Tote und Lebende, gleichsam als Adressbuch der vergangenen und gegenwärtigen gelehrten Welt. So weist das Gelehrte Teutschland als Lexikon lebender 3 Schriftsteller einerseits idealiter jedem einzelnen Gelehrten seinen spe3
Zuerst erschienen von 1767-1779 in Lemgo, hg. v. Georg Christoph Hamberger, fortges. v. Johann Georg Meusel (ab 1776, der 3. Aufl), erschien in 5 Auflagen bis 1834 und ist heute noch in jeder Bibliothek als Reprint oder Microfiche präsent, ebenso der Nekrolog der Deutschen, hg. v. Christian Heinrich Schmid; er erschien zuerst in Berlin 1785; der Neue
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zifischen Platz in der Gelehrtenrepublik zu, andererseits bietet es – ebenso wie z.B. der Nekrolog der Deutschen (Schmidt 1785) – ein Reservoir an Vorbildern. Eine Variante dieses Prinzips sind kollektive Biographien von gelehrten Frauen, so z.B. Johann Caspar Ebertis Eröffnetes Cabinet Deß Gelehrten Frauen-Zimmers. (1706). Mit seiner alphabetisch angeordneten Sammlung von Biographien gelehrter Frauen von der Antike bis zur Gegenwart belegt er zum einen die Fähigkeit von Frauen zu gelehrter (und auch politischer) Tätigkeit, zum anderen verhandelt der Text implizit über den Regel- oder Ausnahmestatus gelehrter Frauen (vgl. Abschnitt 8). Einzelne Exempla gaben die verdienstvollen Kollegen der eigenen Stadt her. Als Beispiel sei der Beitrag „Ehrengedächtniß zweyer verdienstvollen Männer, des Doct. Pott, und Chirurgi Runde“ (1767) aus der Feder von Johann Friedrich Julius Topp (1735-1784) genannt (Topp 1767). Die Leser der Gelehrten Beiträge zu den Braunschweigischen Anzeigen waren das aufzuklärende Zielpublikum, gleichzeitig aber auch prospektive zahlungsfähige Kunden des Autors und mögliche Patrone auf seinem erhofften Weg zu „Ansehen und Wohlstand“ (Drees 1988). Johann Friedrich Julius Topp war Garnisonsmedikus und hatte bereits versucht, durch Lehrtätigkeit an der örtlichen Chirurgenschule sowie durch Inokulation der Pocken auf sich aufmerksam zu machen. 1772 wurde er Physikus in Wolfenbüttel, was ihm ein besseres Salär, aber die Trennung von den Braunschweiger Gelehrten einbrachte, die sich um die dortigen höheren Lehranstalten gruppierten. Einen gewissen Nachruhm erreichte er vor allem als Hausarzt G.E. Lessings (vgl. Mack 1929). Die Erinnerung an verdienstvolle Wissenschaftlerpersönlichkeiten konnte dem Autor helfen, das eigene wissenschaftliche Unternehmen aufzuwerten, es in eine symbolische Verbindung mit dem Olymp der wissenschaftlichen und gelehrten Welt zu bringen. So ersetzte das „Taschenbuch für Scheidekünstler“, das wahlweise auch mit einem Kalendarium zu haben war, ab 1789 die „gewöhnlichen Kalendernahmen“ (d.h. die Namen der Namenstagheiligen) mit den „Nahmen der berühmtesten Scheidekünstler“ (Göttling 1789: ohne Seitenz.). Das Taschenbuch wandte sich an praktizierende Apotheker; es versuchte, einen Beitrag zur Verwissenschaftlichung der Pharmazie zu leisten; hierzu war es wichtig, die Apothekerkunst vom Geruch des bloßen Handwerks zu be-
Nekrolog der Deutschen, hg. von Friedrich August Schmidt, erschien in Weimar von 1824-1854.
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freien und den Beitrag von Apothekern vergangener Zeiten zur Wissenschaftsentwicklung darzulegen.
4 . V o m Ap o l l o n z u m Ag a t h o n o d e r Die Erfindung des wirklichen Lebens Mitte des 18. Jahrhunderts lässt sich ein gesteigertes Interesse an Biographien erkennen, in denen das individuelle Beispiel allgemeine Verhaltensregeln und Normen befestigte – selbst die Ausnahmen konnten diese Normen nur bestätigen. Mit dem wachsenden Bewusstsein eines Wandels im Milieu der Gelehrten und Gebildeten selbst bildete sich jedoch ein neuer Blick auf die Brüche und Widersprüche des individuellen Lebens. Die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen dem Einzelnen und seinem Milieu wurde relevant. So beschreiben Christoph Martin Wielands „Geschichte des Agathon“ (1766/1773/1794) und Carl Philipp Moritz’ „Anton Reiser“ (1785-1790) die Widersprüche des individuellen Lebens in der bürgerlichen Welt. Wieland und Moritz tasten sozusagen „menschenbeobachterisch“ (Lichtenberg 1973: 780; J 910) nach „Sprünge[n] im Dasein“ (Requadt 1964: 59). Trotz – oder gerade wegen – der in diesen Werken dargestellten Verwerfungen zwischen dem Individuum und der es umgebenden Gesellschaft werden hier erste Schritte in Richtung auf die Vorstellung einer sich am Individuum manifestierenden Geschichte, einer Entwicklungsdynamik, gemacht. Vom Menschen, wie er ist, und nicht, wie er sein soll, muss laut Wielands Romanheld jeder Versuch eines vernünftigen Staatswesens ausgehen. Während die idealistischen Staatsentwürfe der Antike den Fehler gemacht hätten, „zuerst die Gesetzgebung zu erfinden, und erst wenn sie damit fertig waren, sich so genannte Menschen zu schnitzeln“ (Wieland 1979: 412), gelte für die „würkliche Welt“: „Die Menschen in derselben sind nun einmal wie sie sind; und der große Punct ist, diejenigen, die man vor sich hat, nach allen Umständen und Verhältnissen so lange zu studieren, bis man so genau als möglich weiß, wie sie sind.“ (Ebd.)
Diese ersten psychologischen Romane erzeugten Spannung, indem sie eine individuelle Biographie in einen Entwicklungszusammenhang stellten; gerade aus der realen Unvollkommenheit der Individuen und der gesellschaftlichen Verhältnisse ergab sich die Hoffnung auf die Vernunftfähigkeit des Menschen, auf die Möglichkeit einer „Erziehung des Menschengeschlechts“ (Lessing), die das Gattungswesen des Menschen 157
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durch moralisch-pädagogisches Einwirken auf das Individuum vervollkommnen sollte. Dieses Erziehungsprojekt suchte sein Praxisfeld z.B. in der literarischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit, auf dem Theater, in der Familie und in der Berufsausbildung. Trotz der durch Autoren wie Moritz und Wieland unternommenen Suche nach Erzähltechniken, die diesem neuen Verständnis des individuellen Lebens entsprachen, existierte gerade in der medizinischen und pharmazeutischen Öffentlichkeit ein unvermindertes Interesse an der Gelehrtenbiographie. Zusammen mit dieser waren auch Anekdote und Satire Erzählformen, in denen sich die neueren Erziehungs- und Moralisierungsprojekte mit der gewohnten Form des Exemplum verbinden ließen, in denen sich Subjektformierung und Leselust – auch Schreiblust – zwanglos miteinander verbanden.
5. Risse im Sockel: S t ä n d e s a t i r e , K o m ö d i e u n d An e k d o t e Neben den positiven Vorbildern, die Verdienste um Wissenschaft und Gemeinwohl sowie die zugehörigen Verhaltensweisen beispielhaft festhielten, hatten die negativen ihren festen Platz im Diskurs. Angelehnt an Bühnenwerke wie Molières „Arzt wider Willen“, Haydns Singspiel nach Goldonis Komödie „Lo Speziale“ oder an Hogarths Kupfersticheleien, waren besonders Ärzte und Apotheker häufige Gegenstände von Spott und Kritik. Dabei griffen die Autoren und Künstler Allgemeinplätze aus der literarischen Tradition der Gelehrtenkritik auf und spielten schreibund leseunkundige Apotheker gegen solche, die kritiklos jede Information glaubten, gewinn- und streitsüchtige Ärzte gegen grobe Empiriker, geizige Apotheker gegen gefräßige Ärzte aus. In J.F.J. Topps Komödie „Die Erwartung“ von 1770 tritt neben dem wissenschaftlich und persönlich tadel- aber mittellosen, promovierten Mediziner Werl ein aufgeblasener Chirurg mit dem welschen Namen Pilot auf, der vorführt, wie man als Arzt nicht sein soll: Er wirft mit Fremdwörtern um sich, hat von Krankheitslehre keine Ahnung, redet seinen Patienten nach dem Mund und setzt kritiklos Geheimmittel ein. Der tugendhafte Werl bekommt als Belohnung die ersehnte Ehefrau; die materielle Basis dazu sind keine Arzthonorare, sondern Losglück. Der Lottogewinn muss für den notorischen Geiz der zahlenden Kunden eintreten. Der leseunkundige Apothekergeselle Mengone in Haydns „Apotheker“ rezeptiert in dubitablem Latein frei Schnauze: „di questo due mani-
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ARBEIT AM HABITUS: ÄRZTE UND APOTHEKER IM 18. JAHRHUNDERT 4 puli, di questo quantum sufficit“ während sein Prinzipal statt pharmazeutischer Literatur nur Gazetten liest und jeden Unfug darin glaubt. Unwissenheit, Gewinnsucht, die Unmäßigkeit im Lesen und die Weigerung, sich mit den Beschränkungen des eigenen Standes zufrieden zu geben, sind in diesen literarischen Verarbeitungen der Ständesatire wiederkehrende Motive. Ebenso wie diese Satiren haben die in der Zeitschriftenliteratur häufig erzählten Anekdoten eine unterhaltende und gleichzeitig moralisierende Funktion. 1792 schildert J.C.L. Liphardt eine „Apothekervisitation in einer Reichs-Stadt“. Hier beleuchten sich die Untugenden der Vertreter des Arzt- und des Apotheker-Standes gegenseitig. Der Bericht arbeitet mit Mitteln der Dramaturgie; zunächst bekommt die Leserschaft eine Regieanweisung:
„Sie können sich leicht eine Idee machen, wie feierlich es bey unsrer Apothekenvisitation ausgesehen habe, wenn ich Ihnen sage, daß sie des Abends bey Lichte geschahe, […] wenn Sie sich ein geräumiges Zimmer denken, in dessen Mitte einen runden Tisch, auf demselben zwey brennende Wachskerzen, einige Flaschen mit Wein, Gläser zum trinken, eine Schüssel mit Kuchen und Backwerk, daneben ein dickes Buch. Um den Tisch herum zwölf Personen, alle in Prediger-Ornat mit Mantel und Kragen, mit Allongeperücken, und zu dieser Friede verkündigenden Kleidung einen Degen an der Seite.“ (Liphardt 1792: 110)
Die Erwähnung von Perücke und Degen ordnet die Ärzte dem Ständestaat zu und brandmarkt sie als höchst altmodische Gesellen. Gewöhnlich, so Liphardt, verhielten sich die Visitierenden passiv und ließen es zu, dass der Apotheker die zu begutachtenden Arzneien im Halbdunkel an ihnen vorübertrage. Manchmal würden die Ärzte aber zudringlicher und versuchten ernsthaft, die Qualität der vorrrätig gehaltenen Arzneistoffe zu prüfen. Dann spielten sich z.B. folgende Szenen ab: „Es ist, dünkt mich, nicht genug, wenn zwey oder vier Nasen das Krausemünzwasser beriechen – ‚geschwind den äussern Rand der Flasche mit einem Tropfen wesentlichen Krausmünzöls bestrichen’… Es ist nicht genug, sich auf einer Schüssel ein Stückchen Aloe zeigen zu lassen. – ‚Da werden sie mir keinen Schaden dran thun, flüsterte Herr **; kosten Sie das Zeug ja nicht, Herr Präsident, Sie verderben sich den Geschmack auf acht Tage.‘ – Der Kranke 5 kann ohne weise Reglise gesund werden. – ‚ja nur ein ganz kleines Stückchen 4 5
„Von diesem zwei Hände voll, von jenem so viel wie ausreicht.“ Lederzucker, Pasta gummosa: Zubereitung aus Wasser (früher auch Aufguss von Eibischwurzel), Zucker, Gummi arabicum, Eiweiß und Orangen-
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auf den Teller gelegt, das ist wieder was süsses.‘ – Es ist nicht genug das Wachholderholz anzusehen. – Der Geier! das hab‘ ich nicht! Friedrich! lauf er in den Holzstall, versteht er wohl? und Sie geben mir derweile das Wachholderöl herunter, wir wollen gleich ex tempore Wachholderholz machen.“ (ebd.: 115)
Das Lesepublikum wird hier förmlich genötigt, sich die schnellen Wechsel von innerem Monolog, Dialogfetzen, Handlungselementen und kommentierenden Einwürfen auf einer Bühne vorzustellen. Der durch die unerwartete Aktivität der Visitatoren in Bedrängnis geratene Apotheker reagiert geistesgegenwärtig und offenbart durch seine erfolgreichen Täuschungsmanöver einen Riss im wissenschaftlichen Subjekt unter den Bedingungen der Ständeordnung. Fokussiert werden vor allem die Unvollkommenheiten der Individuen: Die Inspektoren sind ignorant und gefrässig, die Apotheker habgierig, geizig, unordentlich und verschlagen. Die Kritik fällt auf die beteiligten Subjekte zurück, sie setzt vor allem an ihnen an, wenn es darum geht, Veränderungen einzufordern. 6 Fokussiert wird eine Strategie des „Umschaffens“ der an der medizinischen Versorgung beteiligten Personen. In dieser Perspektive einer Veränderbarkeit des individuellen Verhaltens liegt dann auch die Differenz zur Ständesatire: Goldonis Figuren überstehen das in der Satire inszenierte Spiel von Täuschung und Verwechslung unverändert, und dies gilt auch für die Ärzte und Patienten in der Komödie von Topp. Wie die Komödien zielen auch die Schriften aus pharmazeutischen und medizinischen Zeitschriften, sofern sie Motive dieser Satiren aufgreifen, auf eine moralische Verbesserung der Individuen. Die „Erziehung des Menschengeschlechts“ wird moralisch untermauert, gleichzeitig beginnt man, sie in Lehrverhältnisse und Ausbildungspläne einzuschreiben.
6. Sockelschule: Von der moralischen zur w i s s e n s c h a f t l i c h e n D i s z i p l i n d e s Ap o t h e k e r s In seinem an Apothekerlehrlinge gerichteten „Sendschreiben über die moralische Disciplin des Apothekers“ fordert J. J. Bindheim 1783 seinen jungen Leser auf:
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blütenwasser; die Paste wird ausgestrichen, angetrocknet und in Stücke geschnitten. „Die wenigsten Collegia Sanitatis sind noch das, was sie seyn sollten. Sie tragen noch zu wenig bey, die Aerzte umzuschaffen, [...]“ (Baldinger 1784: 364).
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„Vor allen Dingen frage und beantworte sich der Lehrling selbst: was bin ich itzt und was soll ich künftig seyn?“ (Bindheim 1783: 84)
Ehrlichkeit und Ökonomie sind grundlegende Werte: Er „gewöhne sich zur Arbeitsamkeit; er sey ökonomisch. – Hüte sich für aller Unmäßigkeit; er sey nicht naschigt. Zähme seine Zunge; liebe Verschwiegenheit. Verdopple täglich seinen Fleis.“ (ebd.)
Die rechte Moral drückt sich nicht zuletzt in der Haltung aus: „Er befleißige sich der Wohlanständigkeit. – Gewöhne sich einen adretten, hurtigen Gang an.“ (ebd.: 87). Die Ökonomie ergreift auch das Lesepensum: „Er lese nur wenig auf einmal und überdenke es oft. – Bey allen was er thut, forsche er, wozu es nütze. Unnütze Dinge verderben die Zeit und machen unvermerkt träge zu nützlichen. – […] – Er suche so viel als möglich die Hindernisse zur Tugend und zur Vollkommenheit aus dem Wege zu räumen. – Er lerne sich selbst genau kennen, fliehe Aberglauben und Vorurtheil; liebe Religion und Rechtschaffenheit – befleißige sich eines sittlichen Charakters – und dann – so scheue er niemand.“ (ebd.: 92f.)
Bindheims Ermahnungen erstrecken sich auf alle Dimensionen des Lebens eines Apothekerlehrlings: die Haltung am Mörser und Rezeptiertisch, das Verhalten gegenüber Kunden und Kollegen, die angemessene Lektüre, die Religion. Die typischen Gelehrtentugenden, Mäßigkeit (auch im Lesen) und Rechtschaffenheit, treten hier auf im Verbund mit anderen bürgerlichen Tugenden wie Gewissenhaftigkeit, Reinlichkeit und Ehrlichkeit, die auch in anderen Texten als Kardinaltugenden für Apotheker erscheinen. In einem Seitenblick möchte ich diese „moralische Disziplin“ des Apothekerlehrlings mit autobiographischen Berichten von Apothekern vergleichen. So bemerkt etwa Ernst Wilhelm Martius (1756-1849) über seine Erlanger Lehrlingszeit in den 1770er Jahren: „Man mußte, um in das Heiligthum des Aesculaps zu dringen, eine mehrjährige Knechtschaft und mancherlei Demüthigungen ertragen“ (zit n. Friedrich 1995, 18).
Carl Georg Ludwig Reichard (1783-1869) berichtet über seine Lehrzeit in Göppingen 1802:
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„Meine Beschäftigung bestand in rein mechanischen Arbeiten, Capseln für Pulver fertigen, Wurzel schneiden, Kräuter sammeln, Chocolade und Pflaster machen, […]“ (ebd.: 37).
Noch ein weiterer Seitenblick: Carl Philipp Moritz‘ Festellung über seinen „Anton Reiser“ – dass dieser „von der Wiege an unterdrückt ward“ (Moritz 1971: 9) – lässt sich sicherlich auch als Reflex auf die vom Autor wie von seiner Romanfigur durchlaufene Hutmacherlehre begreifen, die vor allem als Prozess der Unterdrückung und Disziplinierung beschrieben wird. Moritz plädiert für eine neue Psychologie und Pädagogik, in der die Autonomie des Subjekts einen zentralen Platz einnimmt. Hier dient die traditionelle Ausbildungsform der Lehre als (negativ konnotiertes) Gegenbild für aufgeklärte Pädagogik. Aus diesen Vergleichen erhellt jedoch auch, dass Bindheim mehr intendiert als die Disziplinierung durch „Knechtschaft“ oder „Unterdrückung“. Vielmehr geht es um eine Moralisierung und Neuverortung des Subjekts in Beruf und Wissenssystem der Apotheke. Bindheims Beitrag im „Almanach für Scheidekünstler“ provozierte weitere Zuschriften, deren Autoren auch den Lehrherrn selbst in die Pflicht nahmen: Auch das Vorbild war zu verbessern. Die Frage, wer denn die Erzieher erzieht, ist eine höchst aufklärerische. Johann Bartholomäus Trommsdorff, der auf dasselbe Thema eingeht, fordert gleichzeitig den Übergang von einer empirischen zu einer wissenschaftlichen, auf dem Fundament der Chemie und der Naturerklärung beruhenden Pharmazie sowie eine Vereinheitlichung der Ausbildung (Tromms dorff 1793). Damit greift er Beschwerden über häufige Mängel der tradi7 tionellen, am Handwerksberuf orientierten Apothekerausbildung auf. Trommsdorff gründete eine neuartige Schule für Pharmazeuten (Trommsdorff 1807), in der er seine eigenen Ideen von der ‚Normalisierung der Apotheker‘ verwirklichen wollte. Trotz einiger Unterschiede zu den genannten Aufsätzen schildert auch Trommsdorff einen (anonymen) Vorbild-Apotheker: Dieser rezeptiere sorgfältig, sei sanft zu seinen Lehrlingen „und verwendet auf ihre Bildung viel Zeit.“ Er spinne keine Intrigen (Trommsdorff 1793: 85) und lebe „froh durch die Erfüllung seiner Pflichten, geliebt von den Seinigen und den mehrsten Bürgern seiner Vaterstadt; geschätzt von vernünftigen Aerzten, und 7
Während Martius während seiner Lehrzeit zwar hart arbeiten muss, aber durchaus pharmazeutisches Wissen erwirbt, berichtet Reichard rückblickend: „Einen Unterricht zu ertheilen“, habe sich sein Lehrherr nicht einfallen lassen. (Friedrich 1995: 20f., 37)
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angebetet von den Armen, die er so oft im stillen unterstüzt. – Junger Leser werde wie dieser Mann!!“ (ebd.: 96)
7. Heroes in the making: Ärzte und die Metamorphosen wissenschaftlichen Kapitals Obwohl die Medizin als klassisches akademisches Fach andere Ausgangsbedingungen als die Pharmazie hatte, wurde auch von Ärzten die Uneinheitlichkeit der medizinischen Subjekte in Benehmen, medizinischer Praxis und Theorie zunehmend als störend empfunden. Als Abhilfe wurden diskutiert: Vereinheitlichung der ärztlichen Ausbildung, verstärkte Kontrolle der ärztlichen Subjekte, Ausschluss Inkompetenter und Moralisierung (vgl. Frank 1783; Sohn 2003). Die „Arbeit am Habitus“ bzw. die Verhandlungen darüber, wie dieser auszusehen habe, schlugen sich in literarischen Versuchen wie dem oben zitierten von Topp sowie in ärztlichen Zeitschriften nieder. Die Diskussionen reflektierten den status quo medikaler Praxis am Übergang vom Stände- zum Verwaltungsstaat. Dazu einige wenige Bemerkungen: Die Inanspruchnahme von Heilern durch Patienten entsprach keineswegs der ständestaatlich konnotierten und gesetzlich festgelegten Arbeitsteilung zwischen akademischen Ärzten, Apothekern, Chirurgen und Hebammen. Was die zahlende Kundschaft an einem Heiler (oft auch an einer Heilerin, vgl. Landgraf 2003) schätzte, waren praktische Kompetenz, Erfahrenheit und Eingehen auf die eigenen Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit. Zwar bedeutete ein Doktortitel einen Statusgewinn, jedoch erlangten gerade akademische Mediziner oft schwer ein Auskommen. Die Teilnahme an der gelehrten oder literarischen Öffentlichkeit oder das Erfinden von Geheimrezepturen besserten manchmal die Einkünfte von Ärzten auf. Ein gewisses Entrepreneurtum gehörte zum Überleben dazu (vgl. Broman 2003: 95). Andererseits waren viele Apotheker im 18. Jahrhundert bestrebt, sich durch Universitätsbesuch und wissenschaftliche Tätigkeit als den Ärzten ebenbürtige Mitglieder der Gelehrtenrepublik auszuweisen. Die Wege vom Doktortitel als Ausdruck einer sozialen Rangposition zum standesgemäßen Auskommen waren verschieden. Wenn man nicht durch gelehrte Publikationen oder Beziehungen an ein Fixum als Physikus, Garnisonsarzt oder Hebammenlehrer gelangen konnte, dann musste man sich in Städten wie Lübeck oder Braunschweig vor allem gut verheiraten, um als Arzt zu reüssieren.
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Erfahrenheit (oder den Ruf von Erfahrenheit) konnte man vor allem während der Ausbildungszeit erwerben, indem man berühmte Ausbildungsorte bereiste. So ließ der Lübecker Ratschirurg Jacob Leonhard Vogel seinen Sohn Adof Friedrich Medizin studieren und verschaffte ihm die für eine Europareise nötigen Mittel aus dem Stadtsäckel (vgl. Behn 1785; Loytved 2002). In den fast 50 Jahren, die zwischen der Niederlassung des Vaters und derjenigen des Sohnes liegt, begann sich die Waage zugunsten der akademischen Medizin zu neigen, die Familie Vogel hatte dies aufmerksam beobachtet und ihre finanziellen Mittel jeweils in den richtigen Ausbildungsweg investiert. Vogel senior mobilisierte ökonomisches Kapitel seiner Familie und des Rats, um seinem Sohn später den mit einem festen Jahresgehalt versehenen Titel des Hebammenlehrers zuschanzen zu können. Dieser begann umgehend, sich durch mehrere Publikationen wissenschaftliches Kapital zu erwerben und wäre womöglich Physikus geworden, wenn er nicht so früh gestor8 ben wäre. Ein gezeichnetes Porträt (Abb. 1) stellt ihn mit seiner wichtigsten Erfindung dar: einer verbesserten Lanzette zum Starstechen. Der Porträtierte langt aus dem ovalen Rahmen mit der Hand, welche das Instrument hält, heraus, wodurch dessen Stellenwert unterstrichen wird. Ein Claim im Bereich der Handwerkschirurgie wird hier abgesteckt; die manuelle Geschicklichkeit wird als wichtigste Fähigkeit des Porträtierten dargestellt. Im Gegensatz dazu erwähnt der Braunschweiger Arzt Julius Friedrich Topp (von dem kein Porträt bekannt ist) anlässlich seiner Inokulationsversuche gegen die Pocken, dass die Handgriffe des Einimpfens von Handwerkschirurgen ausgeführt wurden. Sein Anspruch, als Erster in Braunschweig dieses Verfahren angewandt zu haben (vgl. Albrecht 1998), beschränkt sich auf die an Theorie ausgerichtete akademische Medizin; Lanzette und direkter Patientenkontakt gehören in die Ägide des Chirurgen. Der aus Wolfenbüttel stammende und später in Lübeck praktizierende Johann Julius Walbaum (vgl. Kopitzsch 1993) stellt eine Übergangsfigur dar: Einerseits zeigt ihn sein Porträt (Abb. 2) als Vertreter der Gelehrtenrepublik: Der Porträtierte sitzt am Tisch eines Bibliothekszimmers, den Blick nachdenklich nach vorne gerichtet, die Hand auf einem Buch. Andererseits hatte er im Anhang eines von ihm übersetzten geburtshilflichen Werks zahlreiche von ihm selbst erfundene geburtshilfliche Instrumente abbilden lassen (Levret 1758/1761). Das Interesse der Aufklärungszeit an technischen Verbesserungen und Instrumenten
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Er starb mit 37 Jahren; Loytved (2002): 117.
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Abbildung 1: Adolf Friedrich Vogel (1748-1785), Zeichnung von E.H.J. Abels, Museum für Kunst und Kulturgeschichte Lübeck
teilt Walbaum. Er musste sich jedoch vorwerfen lassen, deren Anwendung nicht zu beherrschen und hierdurch den Tod einer Gebärenden und ihres Kindes verursacht zu haben (Loytved/Wahrig-Schmidt 1998): Nach Ansicht des gegen ihn polemisierenden Physikus war „ein Uebersetzer von Wahrnehmungen vieler schweren Geburten durch seine Uebersetzung nicht so gleich ein geschickter Geburtshelfer“ (Lembke 1769: 14f.). Der Streit fand genau zu jenem Zeitpunkt statt, an dem die Instrumentalisierung der Geburtshilfe eine erste Nagelprobe für die Instrumentalisierung der akademischen Medizin darstellte, die in einem komplizierten, konfliktgeladenen Feld stattfand: Titel und Statussymbole, gelehrter Habitus und Publikumserwartungen, die Abwertung nichtakademischen Wissens, die Funktion der Öffentlichkeit sowie das Geschlechterverhältnis (wer hat das Sagen im Gebärzimmer?) wurden an Fällen wie demjenigen Walbaums verhandelt. Der Nekrolog auf einen Lübecker Zeitgenossen, Hermann Nicolaus Kienmann, der – im Gegensatz zu Walbaum – den Umgang mit der Gebärzange in einer Entbindungsanstalt praktisch eingeübt hatte, schrieb diesem dann auch ein be165
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sonderes „Gelimpf und Geschicke“ zu (Siebeth 1770). Obwohl Walbaum als Geburtshelfer nicht reüssierte, starb er als anerkannter und wohlhabender gelehrter Arzt; er hatte sich vor allem als Autor in der Naturgeschichte Ruhm erworben. Die Basis seines Wohlstandes war wohl weniger die ärztliche Praxis als das Vermögen aus Heiraten und Erbschaften. Polemiken wie die zwischen Walbaum und dem Lübecker Physikus waren im 18. Jahrhundert an der Tagesordnung, obwohl die ärztlichen Schriftsteller immer wieder das Ende öffentlicher Streitereien zwischen den Ärzten forderten, da diese dem Habitus des vernünftigen, aufgeklärten Arztes widersprachen. Erst in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts gelang es den Lübecker Ärzten, die tatsächliche Einhaltung der Medizinalordnung weitgehend durchzusetzen, nicht autorisierte Heiler/innen zu delegitimieren und als Berufsgruppe das Vertrauen der zahlenden Patienten zu gewinnen. Mit der Bildung des Ärztlichen Vereins 1809 erreichten die Ärzte, dass die Konkurrenz unter ihnen geregelt wurde und dass sich ansatzweise einheitliche Verhaltensmaßstäbe entwickelten. Damit konnte der Erwerb sozialen Kapitals zu einem kollektiven Unternehmen werden, und die „Arbeit am Habitus“ wurde seltener durch polemische Querschüsse gestört.
8. Unterholz im Sockelwald: Frauen und die Gelehrtenrepublik „[…] daß ich gantz nicht Ursache habe mit meiner Philosophie mich als einen gelehrten Mann für andern Gelehrten zu rühmen/nachdem ich in der That an mir selbst erfahren/daß die Gelahrtheit/die man von denen Gelehrten lernet/an der Wahrheit und Weißheit mehr hinderlich als beförderlich sey/und daß […] also auch ein unstudirter Mann/er möge nun ein Soldate/Kauffmann/HaußWirth/ja gar ein Handwercks-Mann oder Bauer/oder eine Weibes-Persohn seyn/wenn sie nur die Præjudicia von sich legen wollen/noch viel bessere Dinge in Vortragungen der Weißheit werden thun können/als ich oder ein an derer/die wir wegen der allzulangen Gewohnheit uns von dem Abwege der Autorität und der leidigen Bücher-Sucht wie gerne wir auch wollen/nicht so fort loß zu reissen vermögend sind“ (Thomasius 1691, Widmung).
Ende des 17. Jahrhunderts ließen sich noch Stimmen vernehmen, die den Frauen gerade aufgrund ihrer Ferne von der Gelehrtenrepublik eine besondere Fähigkeit zur Erkenntnis zuschrieben. Schon etwas anders sieht die Intention Johann Caspar Ebertis aus, des erwähnten Autors eines
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Abbildung 2: Johann Julius Walbaum (1724-1799), Ölgemälde, Museum für Kunst und Kulturgeschichte Lübeck
Verzeichnisses gelehrter Frauen. Eberti leistete mit seinem literarischen Unternehmen einen Beitrag zu einer im großen und ganzen affirmativen allgemeinen Geschichte der gelehrten Welt und nahm gleichzeitig an der Querelle des femmes teil. Er gehörte wohl jener Fraktion der Diskutanten an, die den Frauen die geistige Befähigung zu gelehrter Tätigkeit grundsätzlich zubilligten, jedoch nichts am status quo ihres Ausschlusses von Institutionen und Ämtern ändern wollten (Gössmann 1990: XII). Im Gegensatz dazu vertrat etwa Christian Thomasius die Meinung, dass es unsinnig sei, für Frauen und Männer verschiedene Maßstäbe anzulegen. Der Braunschweiger Arzt Friedrich Börner antwortete 1750 auf eine „Aufgabe“ in den Gelehrten Anzeigen und ging der Frage nach, ob es den Frauen erlaubt sein solle, die Heilkunde auszuüben. Wie Eberti sah auch Börner keinen Grund, einzelnen Frauen die Befähigung zur Gelehrsamkeit abzusprechen. Jedoch wetterte er gegen jede Absicht, ihnen die praktische Anwendung dieser Gelehrsamkeit zu ermöglichen, etwa durch Erlaubnis zur ärztlichen Tätigkeit. Ein Arzt müsse den menschli167
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chen Körper genau kennen, er müsse sich mit einer großen Anzahl von Heilmitteln und deren Wirkweise auskennen. Kurz: „er muß etwas mehres seinem Kranken geben können, als etwan Mixtur Simplex, Schwefelblumen, Chinarinde, Theerwasser und Sauerbrunnen“. (Börner 1750: 14; vgl. Wahrig 2004a). Frauen haben nicht das komplizierte theoretische akademische Wissen, sie vertrauen Börner zufolge auf wenige, mündlich-empirisch überlieferte Heilmethoden. Zusätzlich seien sie schwatzhaft und schon deshalb nicht zur Ausübung des ärztlichen Berufs geeignet. Börner konstruiert hier mittels kontrastierend eingesetzter misogyner Stereotype das Ideal des akademischen Arztberufs, der nicht nur die Frauen, sondern alle anderen Konkurrenten auf dem Feld des Heilens und Helfens abwertet und ausschließt. Im späten 18. Jahrhundert war man sich unter Ärzten und Apothekern weitgehend einig, dass Frauen weder in der ärztlichen Praxis noch in der Offizin etwas zu suchen hatten. Im Fall der Apotheke war es aber gestattet und erwünscht, dass sich die Frau an deren ökonomischer Führung und besonders an der Beschäftigung der Lehrlinge beteiligte, war 9 sie doch für das reibungslose Funktionieren des Haushalts zuständig. Die Grenzen zwischen dem Haushalt und der Offizin waren dabei fließend. So berichtet ein anonymer Apotheker im Rückblick auf seine eigenen Lehrlingsjahre: „Ausserdem war die Frau Herr im Hause und besorgte größtentheils die Zucht der Schüler. Ein älterer bald ausgelernter Schüler und ich, wir hatten allein die Officin zu besorgen, doch war die Hausfrau mit ihren häußlichen Geschäften größtentheils gegenwärtig, und trieb dabey immer fleissig zur Arbeit an, die oft mehr einem Tagelöhner oder einer Magd zugekommen wäre, als einem schwächlichen Jüngling von vierzehn Jahren.“ (W. 1793: 59)
Im Rückblick auf die frühere eigene Demütigung wird hier die Apothekersfrau zum Zerberus. Bei dem Apotheker und Berufspolitiker Alois Sterler gerät sie 1818 zum Abjekt (Kristeva 1980), wenn sie sich dennoch in die pharmazeutische Praxis einmischt: „Es ist unanständig und herabwürdigend für die Pharmacie, von Weibern ausgeübt zu werden, und giebt den Anschein als ob es so leicht wäre, einen Apotheker vorzustellen. Nur ein wenigen Apotheken wird dieser Unfug bisher noch nicht abgestellt seyn. Kochlöffel, Spinnrocken und Nadel sind die Attribute einer Hausfrau, nicht aber Spattel, Schmelztiegel und Retorte. Papierkap9
Die allmähliche Delegitimierung der Frauen als pharmazeutische Tätige in der Schweiz beschreibt Zurbriggen 2001.
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sel, Dutten und Signaturen kann die Frau des Apothekers vorräthig machen, [… ] aber nicht receptiren und präpariren.“ (Sterler 1818, 135)
In den Ärztebiographien des 18. Jahrhunderts fehlt die Erwähnung der Ehefrau selten. Zumeist, wie etwa in Walbaums von seinem Schwiegersohn verfasster Biographie (Brehmer 1799), tritt sie als treue Gefährtin auf. Ein früher Tod der Ehefrau – oft auch ihr Tod im Kindsbett – werden zum Anlass, die Treue und das innige Verhältnis zwischen den Ehepartnern hervorzuheben. Oft ist die Erwähnung der Frau nicht mehr als die Folie, um die Qualitäten des Biographierten als Ehemann und Vater hervorzuheben, der sich trotz vielfältiger Geschäfte die eigene Erziehung der Kinder nicht nehmen lässt. Es gab jedoch auch weibliche Ausnahmefiguren wie etwa die erste Doktorin der Medizin, Dorothea Christiane Erxleben (1715-1762). Erxlebens Promotion war in Quedlinburg, der Stadt, in welcher sie praktizierte, heftig umstritten. Schließlich konkurrierte sie dort mit den anderen Ärzten um Patienten. Möglicherweise hat auch ihr Fall das Blut von Doktor Börner 1750 in Wallung gebracht. Posthum wurde sie jedoch ohne große Schwierigkeiten in den Pantheon der Ausnahmefiguren integriert. Ihr Sohn betont, dass sie die Pflichten der Mutter mit denen der Ärztin immer vereinbart habe (Erxleben 1789: 351). Eine andere typische weibliche Figur im Gelehrtenpantheon ist die Gelehrten-Frau, die ihrem Mann als treue, aber stumme Gehilfin dient. Als Beispiel sei Friderica Dorothea Baldinger genannt, die sich ihrem Mann, dem gelehrten Physicus, anscheinend klaglos unterordnete, obwohl sie in ihrer Autobiographie berichtet, dass sie den Wunsch nach eigener Gelehrsamkeit gehegt habe (Baldinger 1994). An ihrer Biographie lässt sich zeigen, dass ab der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts eine polare Sichtweise auf die Geschlechtscharaktere prädominierte; Frauen wurden zunehmend von jeder nach außen hin sichtbaren wissenschaftlichen Tätigkeit ausgeschlossen (Schiebinger 1993), sie geronnen gleichzeitig nach Daston (2003) zum Komplement der „wissenschaftlichen persona“ im 19. Jahrhundert – als treusorgende Unterstützerinnen des männlichen Genies.
9 . Au s b l i c k : V o m H e l d e n z u m S c h ö p f e r Ich habe versucht, anhand der genannten Beispiele zu skizzieren, welche Handlungen, Attribute, Darstellungs- und Selbstdarstellungstechniken in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts für Ärzte und Apotheker typisch waren, um auf diese Weise darzulegen, wie Mitglieder dieser Berufe ihren 169
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Habitus in einem vielstimmigen Aushandlungsprozess erarbeiteten. Die Zeit von 1750-1800 war gekennzeichnet durch Bestrebungen, Pharmazie und Medizin zu wissenschaftlichen Disziplinen und ihre Vertreter zu Wissenschaftlern umzubilden. Mit dem allmählichen Übergang von der Gelehrtenrepublik zur wissenschaftlichen Öffentlichkeit akzentuierten sich die Geschlechterrollen neu, und die Auffassung des Individuums sowie der individuellen Biographie verwandelte sich. Die in diesem Beitrag skizzierte „Arbeit am Habitus“ wurde auf vielen Schauplätzen geleistet: in Reskripten und Verordnungen, auf der Bühne und dem Buchmarkt, aber auch in der lokalen Öffentlichkeit eines Städtchens, in der nach wie vor ‚sozial-repräsentative‘ Techniken wie Heirat, die Gestaltung von Wohnung und Offizin, der Umgang mit Statussymbolen eine wichtige Rolle für den Erwerb sozialen Kapitals spielten. Die Arbeit erfolgte auch im Wechselspiel mit den Obrigkeiten, an die man durch Titel, Fixum und Untertanenschaft, durch Privilegien und Verordnungen gebunden war. Selbstverständlich wurde diese Arbeit auch geleistet, indem angehende Ärzte und Apotheker versuchten, durch eine jeweils zeitgemäße Ausbildung den Erwartungen des Publikums zu entsprechen. Den in Sammelwerken, Nachrufen und Nekrologen überlieferten Biographien des 18. Jahrhunderts ist die Bemühung anzusehen, durch Beispiele Nachahmung zu erzeugen. Im Gegensatz zu den literarischen Vorlagen der Zeit sind in den Ärzte- und Apothekerbiographien nur sparsame Äußerungen über deren Kindheit zu entnehmen. Typischerweise fängt die Biographie mit der höheren Schulbildung an, also zu dem Zeitpunkt, an dem die ersten Gönner und Wohltäter der biographierten Person zu erwähnen sind. Dagegen macht Karl Philipp Moritz sein Postulat, „daß dies künstlich verflochtne Gewebe eines Menschenlebens aus einer unendlichen Menge von Kleinigkeiten besteht, die alle in dieser Verflechtung äußerst wichtig werden, so unbedeutend sie an sich scheinen“ (Moritz 1971: 87),
auch an der frühen Kindheit Reisers deutlich. Trotz Übereinstimmung mit diesem Postulat wird in den Biographien die Kleinkindzeit übergangen; auch fehlt in den Selbst- und Fremddarstellungen von Ärzten und Apothekern Reisers Gradwanderung zwischen lebenslanger „Unterdrückung“ und dem Willen zur Selbstbestimmung. Diese Differenz zeugt vielleicht doch von einem unterschiedlichen Verhältnis zwischen Sockel und Held in beiden Erzählformen. Während Moritz mehr an der „unendlichen Menge von Kleinigkeiten“ gelegen ist, die zum Gelingen oder Misslingen einer Biographie führen können und während auch für 170
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die Autoren des von ihm herausgegebenen „Magazins für Erfahrungsseelenkunde“ das Scheitern nie ausgeschlossen ist, steht in den Wissenschaftler- und Gelehrtenbiographien der nachmalige Platz auf dem Sockel immer schon fest. 10 1759 sieht Lessing den Ursprung des Genies in der Erziehung. Biographien und Autobiographien können als Versuche angesehen werden, diesem Ursprung nachzuspüren, ihn zu analysieren und vor allem immer wieder nachzuerzählen. Sie haben wie Anekdoten und Satiren die Funktion von Fabeln, das Einzelne am Allgemeinen festzunageln, dieses an jenem aufscheinen zu lassen, aber sie zeugen darüber hinaus immer wieder vom Ursprung des Helden, von seinem Schöpfungsprozess, der ihn zum Schluss der Erzählung seinen Platz auf dem Sockel einnehmen lässt. Im Zuge der Verwissenschaftlichung von Pharmazie und Medizin, welche um 1800 eine neue Qualität erlangte, verschob sich das Verhältnis von Handwerk und Kunst, von Instrument und Subjekt im Wissenschaftsprozess. In diesem Kontext ist die Aufwertung der manuellen Geschicklichkeit, wie sie für den Arztberuf nachgezeichnet wurde, von zentraler Bedeutung. Diese Aufwertung begann in der Geburtshilfe. Sie wird bereits deutlich an dem Porträt des Göttinger Professors der Geburtshilfe Johann Georg Roederer (1726-1763; Abb. 3), das auf dem Titelblatt seines Lehrbuchs der Geburtshilfe abgedruckt ist. Der Porträtierte ist im Halbprofil abgebildet, seine rechte Hand ist leicht geöffnet und nimmt eine angedeutete Touchierhaltung ein, die linke ruht – ebenfalls leicht geöffnet – auf einem Glas mit dem Spirituspräparat eines Embryos. Das Porträt betont damit gleichzeitig Roederers manuelle Fähigkeiten und seine besonderen Verdienste um den Aufbau einer geburtshilflichen Sammlung. Die Haltung der Touchierhand lässt vielleicht sogar Ähnlichkeiten mit dem Schöpfergestus erkennen, wenn man an die Rolle des göttlichen Zeigefingers bei der Erschaffung Adams in der „Sixtinischen Kapelle“ denkt. Hier schließt sich der Kreis: Der männlich konnotierte Schöpfer legt die Hand auf das Geschöpf im Glas. Dieser souveräne Geburtshelfer verweist die Frau und das Kind in den Kreis seiner wissenschaftlichen Objekte. Der Wissenschaftler tritt als Schöpfer auf, seiner Hand vermag auf die Dauer kein Geschöpf zu widerstehen. Dies ist der Ort, an dem der Gelehrte zum Helden der Moderne wird und seine „Lebensgeschichte“ vom Werden des souveränen Subjekts kündet. 10 „Warum fehlt es in allen Wissenschaften und Künsten so sehr an Erfindern und selbstdenkenden Köpfen? Diese Frage wird am besten durch eine andre Frage beantwortet: Warum werden wir nicht besser erzogen? Gott gibt uns die Seele, aber das Genie müssen wir durch die Erziehung bekommen.“ ( aus Abhandlungen über die Fabel Lessing 1995: 481)
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Abbildung 3: Johann Georg Roederer (1726-1763), Porträt. Frontispiz seines Lehrbuchs: „Elementa artis obstetriciae”, Göttingen 1766.
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ARBEIT AM HABITUS: ÄRZTE UND APOTHEKER IM 18. JAHRHUNDERT
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Repräsentation und Konstruktion. Lebensgeschichte und Biographie in der empirischen Geschlechterforschung BETTINA DAUSIEN
Die Bedeutung biographischer Formen der Selbst- und Fremddarstellung 1 in der Geschichte der Frauenbewegung und Frauenforschung ist verschiedentlich beschrieben worden (vgl. Kraul 1999; Dausien 1994: 2001). Sie kann sowohl für literarische und journalistische Formen der Präsentation von Lebensgeschichten konstatiert werden als auch für die Nutzung biographischer Dokumente und Methoden in der Frauen- und Geschlechterforschung. Dabei sind Übergänge zwischen einer literarischen oder journalistischen Dokumentation und einer wissenschaftlichen Analyse besonders in den Anfängen der Frauenforschung fließend. In beiden Fällen ging es – zunächst – um die öffentliche Thematisierung und politische Artikulation von Erfahrungen und Perspektiven, die in patriarchalen Diskursen ignoriert und verschwiegen wurden, seien diese in Politik, Alltagsleben oder Wissenschaft lokalisiert. Biographische Formen der Selbstreflexion spielten auch in der Alltagspraxis der Frauenbewegung eine Rolle, so in den „Selbsterfahrungs-Gruppen“ oder „Emanzipations-Gesprächsgruppen“, die nach dem Vorbild der consciousness raising groups der US-amerikanischen Frauenbewegung Anfang der 1970er Jahre auch in der westdeutschen Frauenbewegung vielfach gegründet wurden (vgl. Wagner 1973). Biographische Erinnerungsarbeit wurde als politisches und wissenschaftliches Instrument der kriti1
Ich beziehe mich hier auf die Frauen- und Geschlechterforschung im deutschsprachigen Raum seit den 1970er Jahren, durchaus im Bewusstsein, dass diese Geschichte in internationaler Perspektive, aber auch bei genauerer Betrachtung des deutschsprachigen Kontextes differenzierter behandelt werden müsste.
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BETTINA DAUSIEN
schen Analyse gesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse seitdem systematisch weiterentwickelt (vgl. Haug 1990, 1999). In den angesprochenen Zusammenhängen war der Biographiebegriff mit vielfältigen Bedeutungen und Interessen verbunden. Dies gilt auch heute noch. Der Begriff ist schwer greifbar, zumal er nicht nur in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen je unterschiedlich verwendet wird, sondern auch ein voraussetzungsvoller Alltagsbegriff ist, der gera2 de in jüngster Zeit medial und politisch wieder vielfach genutzt wird. Ohne diesen vielschichtigen Zusammenhang hier zu entwirren, betrachte ich „Biographie“ in einer ersten Annäherung als ein diskursives Format für die Darstellung und Kommunikation individueller Identität. Es zeichnet sich besonders durch den Aspekt der Zeitlichkeit aus. Biographie ist eine kulturelle Form der Darstellung einer zeitlich erstreckten, sich verändernden Identität individueller Subjekte (vgl. Hahn 1987, 1988). Dieses Format hatte sich für die politischen Kommunikationsinteressen der frühen Frauenbewegung offensichtlich als besonders geeignet erwiesen, es versprach aber auch ein Erkenntnis generierendes Potenzial für eine wissenschaftliche Erforschung der Lebenswirklichkeit von Frauen. Um diesen zweiten Aspekt, die Bedeutung des Biographiekonzepts in der Frauen- und Geschlechterforschung, soll es im Folgenden gehen. Dabei wähle ich eine Perspektive, die mit zwei Begriffen markiert werden kann: Repräsentation und Konstruktion. Sie eröffnen ein Spannungsfeld, in dem ich die Verwendung biographischer Ansätze in der Frauen- und Geschlechterforschung verorte. Im ersten Teil des Artikels untersuche ich die sich wandelnden Positionen in diesem Feld. Der zweite Teil ist methodologischen Problemen und Ansätzen zur Bearbeitung des Verhältnisses von Repräsentation und Konstruktion in der empirisch-biographischen Forschung gewidmet. Ein knappes Fazit zur Bedeutung biographischer Ansätze in der Geschlechterforschung schließt den Beitrag ab.
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Biographisch angelegte Talkshows im Fernsehen oder die Präsenz von Biographien auf dem Zeitschriften- und Buchmarkt haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Daneben ist auch daran zu erinnern, dass zentrale gesellschaftliche Systeme wie Arbeit, Bildung oder Gesundheit zunehmend an Modelle des Lebenslaufs gekoppelt werden (s. z.B. „lebenslanges Lernen“, Vorschläge zu „Studienkonten“ oder „Lebensarbeitszeitkonten“). Die damit verbundenen Anforderungen an die Subjekte, gesellschaftliche Aufgaben zu biographisieren, d.h. in die Verantwortung einer individuellen Lebensplanung und -führung zu übernehmen, können im Foucault’schen Sinn als neue Varianten der Subjektivierung interpretiert werden.
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BIOGRAPHIE IN DER EMPIRISCHEN GESCHLECHTERFORSCHUNG
1. Lebensgeschichten als „Repräsentation“ oder „Konstruktion“ sozialer Wirklichkeit? Das Private ist politisch – dieser Satz, der die zweite Frauenbewegung in ihrer Aufbruchphase geprägt hat, verweist darauf, dass die ‚kleinen‘ Geschichten des Lebens mit den ‚großen‘ Geschichten der Gesellschaft und Politik zusammenhängen. Dieser Zusammenhang wurde als wechselseitig und aktiv gesehen: Das Private, also die konkreten Lebensverhältnisse, die Menschen eingehen, und die Erfahrungen, die sie im Alltag und in ihrer Lebensgeschichte machen, sind durchdrungen von den großen gesellschaftlichen und politischen Strukturen – und sie sind deshalb geeignet, eben diese Strukturen ‚sichtbar zu machen‘. Andererseits aber ‚machen‘ sie diese Strukturen auch. Das vermeintlich Kleine (Individuelle, Singuläre, Private) ist nicht nur eine Widerspiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse, es ist auch ein Ort, an dem diese gelebt werden, lebendig sind und lebendig gemacht werden. In der Sprache aktueller Theorieansätze lässt sich dieser Gedanke mit Begriffen wie „Performanz“ (Butler 1991), „Existenzweise“ (Maihofer 1995) oder mit der sozialkonstruktivistischen These ausdrücken, dass kulturelle Geschlechterordnungen in „situierten Praktiken“ (immer wieder neu) hergestellt werden. Auch die These, dass die alltäglichen Lebenspraktiken ein Ort sind, an dem gesellschaftliche Verhältnisse verändert werden können, war schon – oder gerade – mit dem Slogan der frühen Frauenbewegung verbunden. Das Private ist also auch ein Ort der Konstruktion gesellschaftlicher Verhältnisse. Das damit angesprochene wechselseitige Verhältnis zwischen Lebenspraxis und gesellschaftlichen Strukturen ist – auch unabhängig vom konkreten historischen Kontext und dem politischen Duktus der Rede – ein Spannungsverhältnis, das dem Biographiekonzept eingeschrieben und mit Grundfragen sozialwissenschaftlicher Analyse verknüpft ist, etwa mit der soziologischen Unterscheidung von Mikro- und Makroebene, 3 Handlung und Struktur und der Suche nach der „Schnittstelle“. Im Kontext aktueller Geschlechterforschung wird dieses Problem an der theoretischen Frage diskutiert, wie mikrosoziologisch analysierbare doing gender-Prozesse mit überdauernden und verfestigten Strukturen auf Seiten der Subjekte (vgl. Maihofer 2002) und der Gesellschaft (vgl. Knapp/Wetterer 2001) zusammenhängen. In methodologischer Hinsicht schließt sich die Frage an, was empirische Zugänge, die sich auf die Analyse von Mikroprozessen der Geschlechterkonstruktion in situierten 3
Eine kritische systematische Aufarbeitung dieser soziologischen Problemstellung findet sich bei Anthony Giddens (1988).
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BETTINA DAUSIEN 4 Interaktionen (doing gender) konzentrieren, zur theoretischen Erkenntnis über die Bildung und Wirksamkeit gesellschaftlicher Strukturen und kultureller Systeme auf der Makroebene (Geschlechterverhältnisse) beitragen können. Eine vergleichbare Anfrage kann an biographische Forschungsansätze gerichtet werden, da auch sie sich explizit auf das „Kleine“, auf die Perspektive individueller Subjekte und ihre Erfahrungen, Handlungen und Deutungen, beziehen – und zugleich den Anspruch erheben, etwas über gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse aussagen zu können. Diesen Anspruch verdeutliche ich in einem ersten Schritt unter dem Stichwort der Repräsentation.
1.1 Lebensgeschichten als Repräsentation des „weiblichen Lebenszusammenhangs“ Nach dem Duden (1997: 701) bedeutet Repräsentation zunächst die „Vertretung einer Gesamtheit von Personen durch eine einzelne Person od. eine Gruppe von Personen“. Eine spezifische Version dieser Bedeutung ist die politische Stellvertretung eines Volkes oder einer gesellschaftlichen Gruppe durch gewählte oder nach anderen legitimen Regeln bestimmte Personen bzw. Personengruppen. Es geht um die machttheoretisch zu reflektierende Frage: Wer vertritt wen? Der Frauenbewegung ging es in diesem Sinn um Repräsentation. Der Satz, dass das Private 5 politisch sei, drückte, sehr allgemein gesagt , den Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe jenes Teils der Bevölkerung aus, der aus der Sphäre der Politik bis dahin nahezu ausgeschlossen war: der Frauen. Damit war zugleich ein Kollektivsubjekt geschaffen, das jedoch durch einzelne konkrete Frauen vertreten wurde. Lebensgeschichten einzelner zeitgenössischer oder historischer Frauen standen exemplarisch für „die Frauen“ in der patriarchalen Gesellschaft. An ihren Beispielen konnten Mechanismen von Macht und Ohnmacht aufgezeigt und kritisiert werden. Dieses Verständnis von Repräsentation findet sich auch in wissenschaftlichen Texten der frühen Frauenforschung. Auch hier wird „das Phänomen der kollektiven Ausklammerung von Frauen“ (Rommelspacher 1987: 7) zum Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Gegenentwurfs gemacht. Frauenleben – in aktueller und historischer Perspektive – 4 5
Zu den methodologischen Postulaten und Problemen des doing genderAnsatzes vgl. Kelle 2000. Die wie in einer unendlichen Spiegelung verschränkte Idee, dass das Private politisch und das Politische im Privaten sei – dargestellt und reproduziert, aber auch hergestellt und konstruiert werde –, hat politisch und theoretisch vielschichtige Implikationen, die in der verdichteten Formulierung des Slogans genial ‚auf den Punkt gebracht‘ wurden, hier aber nicht angemessen entfaltet werden können.
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kam bis dato in der androzentrischen Wissenschaft kaum vor, wenige ‚Ausnahmefrauen‘ konnten weder die herausragenden Leistungen von Frauen in Gesellschaft, Kunst und Politik angemessen repräsentieren, noch erst recht die Erfahrungen von Frauen, die keine öffentliche oder politische Bedeutung erlangt und keine Spuren, keine Dokumente in der Geschichte hinterlassen hatten. Für das Forschungsprogramm der sich etablierenden feministischen Wissenschaft boten sich biographische Methoden und Materialien besonders an, denn sie schienen geeignet, gerade jenes ignorierte private Leben, die Erfahrungen, die Subjektivität von Frauen, ihre Sichtweisen und ihre ganz persönlichen Geschichten zu thematisieren, und zwar in einer Weise, die den neu gesetzten Prinzipien feministischer Wissenschaft – Subjektivität und Betroffenheit, Parteilichkeit und Solidarität (vgl. Mies 1978) – angemessen schien. Ein Beispiel für diese Erwartung an biographische Zugänge ist eine Tagung zum Thema „Weibliche Biographien“, die 1981 in Bielefeld stattfand. Sie dokumentiert, dass biographische Ansätze eine große Anziehungs- und Integrationskraft für das noch junge feministische Forschungsprogramm besaßen und dass in unterschiedlichen Disziplinen konkrete empirische Studien begonnen wurden. Auf der Agenda standen methodische Fragen, historische Studien zu Lebensgeschichten einzelner Frauen und biographische Forschungen zu Themen, die für die Konstituierung der Frauenforschung zentral waren (Erwerbsarbeit, Politik, Krankheit/Gesundheit, Mutterschaft, Sexualität). Die Herausgeberinnen 6 der Tagungsbeiträge waren überzeugt, „dass für die Erforschung der Einflüsse aus den verschiedenen Lebensbereichen auf die konkrete Alltagspraxis und die Erfahrungen von Frauen ein biographischer Ansatz unverzichtbar ist“ (Adolphy u.a. 1982: 7).
Erfahrungen von Frauen – eben jenes politische Private – werden, so die These, über einen biographischen Ansatz auf eine Weise zugänglich, die nicht nur möglich, sondern unverzichtbar ist. Biographieforschung wird damit als eine Art „Königinnenweg“ empirischer Frauenforschung emp7 fohlen. Diese Perspektive war von der nicht immer explizit reflektierten erkenntnistheoretischen Annahme getragen, dass das Besondere einer Lebensgeschichte das Allgemeine des Frauenlebens in bestimmten historisch-gesellschaftlichen Verhältnissen repräsentiert, dass es stellvertretend den „weiblichen Lebenszusammenhang“ (Prokop 1976) sichtbar 6 7
Vgl. beiträge zur feministischen theorie und praxis, Heft 7, 1982. Diese These habe ich an anderer Stelle (Dausien 1994) kritisch untersucht und relativiert.
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macht. Hier kommt noch eine zweite Bedeutung von „Repräsentation“ ins Spiel, nämlich die der Darstellung. Im sprachwissenschaftlichen Kontext wird diese Bedeutung definiert als: „Die Vertretung oder Darstellung von etwas durch etwas, die Vergegenwärtigung von Nicht-Gegenwärtigem. Die Darstellung eines Prozesses oder eines beliebigen Objekts durch Zeichen; das zeichenhafte Vorhandensein eines Objekts für ein anderes Objekt (Peirce)“ (Lewandowski 1985: 839).
Die dazu gehörige Frage lautet: Was wird wie dargestellt? In dieser zeichentheoretischen Sicht geht es um die Repräsentation eines theoretischen oder empirischen Sachverhalts (z.B. „weiblicher Lebenszusammenhang“ oder „Lebenssituation XY“) durch einen symbolischen Ausdruck und – konkreter auf unseren Zusammenhang bezogen – durch einen Text („Lebensgeschichte“, autobiographische Artikulation). Methodologische Fragen und Probleme des angenommenen Repräsentationsverhältnisses (s.u.) wurden in den Anfängen der biographischen Geschlechterforschung allerdings kaum thematisiert. Hier stand die machttheoretische Frage der legitimen Vertretung und Darstellung weiblicher Lebenserfahrung im Vordergrund. Die symbolische Repräsentation von Frauen in der Wissenschaft, ihre Repräsentation im Universum wissenschaftlichen Wissens, war eng verknüpft mit ihrer personalen und politi8 schen Vertretung in der Institution Universität. Zusammenfassend kann für die Frauenforschung der 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts festgehalten werden, dass die wissenschaftliche Erforschung von Biographien als Weg gewählt wurde, um „Frauen in ihren Lebenszusammenhängen sichtbar zu machen“ (Kraul 1999: 456). Sie sollte bislang vernachlässigte oder ausgeblendete Forschungsfragen und -gegenstände zutage fördern und ihnen zu wissenschaftlicher Anerkennung verhelfen, sie sollte aber auch eine individuelle und kollektive Aneignung dieser Geschichte ermöglichen, eine Basis schaffen für die Identitätsbildung und autonome Positionsbestimmung – als Frau und als Wissenschaftlerin. Diese Perspektive färbte auf die Forschung selbst ab: Die Rede war nicht nur von „weiblichen Biographien“, sondern auch von „weiblicher Biographieforschung“, die sich vermeintlich 8
Eine Reaktion auf diesen Zusammenhang war die gelegentlich konflikthaltige Doppelstrategie feministischer Wissenschaftspolitik, einerseits – mit dem Aufbau einer feministischen (Frauen-)Forschung – eine angemessene Vertretung in den akademischen Disziplinen zu erreichen, andererseits – mit den Mitteln der Gleichstellungspolitik – dafür zu kämpfen, dass Frauen als Studierende, Lehrende und Administratorinnen in einflussreichen Positionen quantitativ und qualitativ ihren männlichen Kommilitonen und Kollegen gleichgestellt werden.
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durch eine besondere Sensibilität und Kritikfähigkeit in Bezug auf geschlechtsspezifische Strukturen auszeichnete (vgl. Adolphy u.a. 1982: 7). Und sie sollte darüber hinaus auch eine feministische Wissenschaft im akademischen Machtfeld positionieren, eine „weibliche“ Wissenschaft oder Forschung, wie es nicht selten hieß.
1.2 Die Konstruktion von Geschlecht – Kritik und Neuansätze in der Geschlechterforschung Bereits in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden die vereinheitlichenden und vereindeutigenden Tendenzen kritisiert, die mit der Bezugnahme auf die Differenz ‚Mann/Frau‘ und ‚männlich/weiblich‘ verbunden waren. Damit rückten – zunächst vereinzelt, seit der Rezeption der radikalen Kritik Judith Butlers (1991) aber in nahezu allen Bereichen der Geschlechterforschung – die Begriffe und Strategien selbst in den Blick, mit denen die Frauen- und Geschlechterforschung ihren Gegenstand konturiert und konstruiert. In der bis heute anhaltenden kritischen Debatte über die Konstruktion der Kategorie Geschlecht (vgl. exemplarisch Feministische Studien 2/1993) lassen sich vor allem zwei Argumentationsstränge verfolgen: Der eine betrifft die Unterstellung und Herstellung eines ‚weiblichen Subjekts‘, das mit theoretischen Modellen individueller und kollektiver Identität verknüpft ist, der andere, eher methodologisch ausgerichtete Strang thematisiert die aktive Beteiligung der Frauen- und Geschlechterforschung an der (problematisch gewordenen) Konstruktion ihres eigenen Gegenstandes und diskutiert Probleme und alternative Wege empirischer Forschung (vgl. exemplarisch Feministische Studien 2/2001). Die identitätstheoretische Kritik ist wesentlich von dem Argument getragen, dass die Konstruktion einer weiblichen Identität das dualistische Geschlechtermodell wiederholt, also keine Zwischenpositionen, „que(e)re“ Perspektiven, Uneindeutigkeiten und Veränderungen zulässt (vgl. Butler 1991). Diese Kritik hat Konsequenzen für die empirische Geschlechterforschung im Allgemeinen und für die Arbeit mit biographischem Material und biographischen Fragestellungen im Besonderen. Studien, die nach ‚weiblichen‘ Biographien fragen und Lebensgeschichten im Hinblick auf Merkmale ‚weiblicher‘ oder ‚männlicher‘ Erfahrungen analysieren, setzen schon voraus, dass es derartige eindeutige, dualistische Differenzen gibt. Dieses Problem ist unter dem Stichwort der Reifikation (keineswegs nur oder in erster Linie mit Bezug auf biographische Forschung) verhandelt worden: Die selbstkritische Analyse hatte erbracht, dass die empirische Geschlechterforschung in vielen Studien und methodischen Herangehensweisen den Gegenstand ihrer Untersu185
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chung – die dualistisch konzipierte Kategorie Geschlecht – selbst produziert oder zumindest verstärkt und überfokussiert (vgl. z.B. Gildemeister/Wetterer 1992). Die zu untersuchende Frage wird durch die Untersuchung selbst zur ‚Sache‘ gemacht, ‚Tatsachen‘ werden auf diese Weise nicht gefunden, sondern erfunden. Ein zweites entscheidendes Argument der identitätskritischen Debatte verweist auf die Ausschlusspraktiken, die mit dem Postulat einer weiblichen Identität (und Wissenschaft) einhergehen. Diese sind nicht nur theoretischer, sondern auch politischer Art. Die Kritik, die zugespitzt von Migrantinnen, Schwarzen Feministinnen und lesbischen Wissenschaftlerinnen, aber auch von Forscherinnen mit proletarischem Background formuliert wurde, zielt darauf, dass in den Konstruktionen des Kollektivsubjekts „Frau“, unreflektiert die dominante Perspektive „westlicher, weißer und bürgerlicher“ Frauen verallgemeinert wird (vgl. stellvertretend Rommelspacher 1995, Gümen 1996, Gutiérrez Rodríguez 1996). Die Konstruktionen der Geschlechterforschung repräsentieren eben nicht ‚alle‘ gesellschaftlich relevanten Erfahrungen von Frauen. Vielmehr übergehen und dethematisieren sie systematisch Differenzen innerhalb der „Kategorie Frau“ (Fischer u.a. 1996), die aus gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen wie „class“ und „race“, aber auch Generation oder sexueller Orientierung resultieren (vgl. Lutz 2001). Damit, so die Kritik, reproduzieren sie Geschlechterkonstruktionen und gesellschaftliche Machtstrukturen, die entlang anderer „Achsen der Differenz“ 9 (Knapp/Wetterer 2003) aufgebaut sind. Für empirische Forschung ist diese Kritik insofern relevant, als sie nun nicht mehr unreflektiert ‚den‘ weiblichen Lebenszusammenhang zum Gegenstand machen kann, für den ‚jede‘ Frau exemplarisch steht, sondern, in einer Formulierung von Christina Thürmer-Rohr (1987: 132), „eine möglichst sorgfältige, differenzierte und systematische Wiedergabe der Situation von Frauen – in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit“ zur Aufgabe hat. Im Kontext dieser Diskussionen spielen biographische Forschungsansätze eine widersprüchliche Rolle. Zum einen sind sie – wie die historische Rückblende deutlich gemacht hat – eng mit dem skizzierten Repräsentationspostulat verbunden und müssen sich wie dieses der Kritik stellen. Das Konzept „Biographie“ kann sich subjekt- und identitätstheo9
Hier wird noch einmal die enge Verknüpfung von politischer und wissenschaftlicher Perspektive deutlich. Die identitätstheoretische und -politische Kritik ist im übrigen ein wichtiger Schnittpunkt mit benachbarten Diskursen, vor allem mit den postcolonial und cultural studies, in denen das Problem der Repräsentation als Problem umkämpfter identitätskonstruierender Praxen im sozialen Raum z.T. noch deutlicher artikuliert wird (vgl. Hall 2004a).
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retischen Anfragen nicht entziehen. Andererseits gibt es überzeugende Argumente, dass eine differenzierende Analyse der „Situation von Frauen in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit“ (Thürmer-Rohr) gerade mit biographischen Forschungsansätzen gelingen kann. Biographische Studien haben ein differenziertes empirisches Wissen über Lebensbedingungen und -erfahrungen von Frauen in unterschiedlichen historischen und sozialen Kontexten erbracht und damit auch Argumente gegen vereinheitlichende und fixierende Identitätskonstruktionen für die theoretische Diskussion über Geschlecht geliefert. Selbst wenn Studien durch die Absicht motiviert sein mögen, Merkmale ‚weiblicher‘ Biographien (in kritischer Absetzung von ‚männlichen‘ Modellen) zu finden, und damit Gefahr laufen, in die Falle jenes Reifikationsproblems zu geraten, so führt die empirische Beschäftigung mit Lebensgeschichten in der Regel zu einer Irritation dichotomischer Kategorisierungen. Die Analyse des komplexen und detailreichen Materials, das mit biographischen Methoden erzeugt wird, rückt eher die Vielfalt und Individualität von Frauen- und Männer-Leben in den Vordergrund. Wird dieser Umstand auch gelegentlich als methodisches Problem oder gar als Schwäche biographischer Forschung angesehen, etwa als Problem, das Allgemeine im Besonderen zu entdecken und angemessen zu reformulieren, so sehe ich gerade darin einen Vorteil, dass sich biographisches Material gegen einfache Typisierungen sperrt und eine Differenzierung homogenisierender und dualistischer Differenzkonzepte („männlich/weiblich“, „Deutsche“/ „Ausländer“, „christlich“/„muslimisch“, „heterosexuell“/„homosexuell“ 10 usw.) geradezu erzwingt. Dieser Effekt stellt sich allerdings nicht automatisch ein, sondern setzt eine theoretische Reflexion des Biographiekonzepts voraus.
1.3 Geschlecht als biographische Konstruktion Das eingangs formulierte Verständnis von Biographie als diskursivem Format der Artikulation und gesellschaftlicher ‚Prozessierung‘ individueller Subjektivität kann nun noch einmal aufgenommen werden. Es impliziert die Annahme, dass „Biographie“ als Konstruktion betrachtet wer-
10 Dies ist auch Ergebnis einer eigenen Studie, in der ich erzählte Lebensgeschichten von Frauen und Männern systematisch verglichen habe (Dausien 1996). Diese Einschätzung liegt übrigens auch politischen und pädagogischen Konzepten der Arbeit mit Biographien zugrunde. Mit Heidi Behrens-Cobet (1999) kann in biographischen Zugängen ein Potenzial für Enttypisierungserfahrungen vermutet werden, das sich in der politischen Bildungsarbeit gezielt nutzen lässt, um rassistische, sexistische oder andere homogenisierende und dichotomisierende Zuschreibungen zu irritieren.
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den kann. Diese geht nicht allein aus dem psychischen Artikulationsinteresse und dem sozialen Handeln individueller Subjekte hervor, sondern hat die in jeweils näher zu bestimmenden gesellschaftlichen Kontexten als kulturelle Praxis, als Deutungsmuster und als Institution zur Regelung gesellschaftlicher Mitgliedschaft Geltung erlangt (vgl. Kohli 1985). „Biographie“ ist eine Konstruktion in einem historisch-sozialen 12 Raum , ein Konzept, das eingebunden ist in die sozialen und kulturellen Strukturen dieses Raumes. Damit sind biographische Konstruktionen auch in die Macht- und Differenzverhältnisse eingebunden, die in dem jeweils untersuchten gesellschaftlichen Raum gelten. Ausgehend von dieser abstrakten Überlegung lassen sich analytisch zwei Aspekte biographischer Konstruktionen unterscheiden, die für die Geschlechterfor13 schung genutzt werden können : Zum einen kann Biographie als Konstrukt im Sinne eines „opus operatum“ (Bourdieu 1979: 171ff.) betrachtet werden, als Produkt diskursiver Praxis, das sich vom konkreten Handeln abgelöst und objektiviert hat, Institution geworden ist. Hier geht es also um geronnene soziale Konstruktionsprozesse, die in vielfältigen Formen gesellschaftlich repräsentiert und wirksam sind, z.B. in Gesetzesvorschriften, bildhaften und sprachlichen Symbolisierungen, geschriebenen Texten, Personalakten, einer Abfolge beruflicher Positionen, in Statuspassagen des Bildungssystems u.a. Mitglieder moderner westlicher Gesellschaften finden das biographische Format in Form von institutionalisierten Skripts und „biographischen Schemata“ (Luckmann 1986), als vorgefertigte Bilanzierungsmuster und -zwänge vor. Sie lernen, einen „Lebenslauf“ zu präsentieren, Erfahrungen „biographisch“ zu thematisieren, ihre Identität durch eine Erklärung des Gewordenseins zu präsentieren – und sie lernen, diese Muster flexibel und „authentisch“ an unterschiedliche institutionelle Rahmungen anzupassen. Umgekehrt greifen Institutionen auf normalbiographische Modelle und deren Ausführung (Interpretation und Performanz) durch die Individuen zurück, wenn sie Personen inkludie11 Diese sehr voraussetzungsvolle Annahme kann im Rahmen dieses Artikels nicht ausführlich begründet werden. Sie stützt sich auf eine Vielzahl soziologischer Untersuchungen zur Struktur und Funktion von „Biographie“ in unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Kontexten sowie auf theoretische Konzepte, insbesondere der handlungstheoretischen, sozialkonstruktivistischen und phänomenologischen Tradition (vgl. meine Einführung in die theoretischen und begrifflichen Dimensionen des Biographie-Konzepts in Dausien 2006). 12 Der Begriff des sozialen Raumes wird hier im Sinne Bourdieus verwendet. 13 Die folgende Passage beruht auf einer ausführlicheren Diskussion dieser beiden Aspekte an anderer Stelle (Dausien 2000: 100ff.).
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ren/exkludieren oder in institutionalisierte Prozesse hineinziehen, wie am Beispiel des Bildungssystems oder des Arbeitsmarktes verdeutlicht werden kann. Damit produzieren Institutionen und die in ihnen handelnden Subjekte biographische Normierungen, die nun als ‚objektive‘ Anforderungen und Vor-Schriften auf die Subjekte zurückwirken. Ein Spezifikum dieser institutionalisierten Erwartungen im Modus „Biographie“ ist, wie bereits gesagt, ihr zeitliches Format. Biographische Konstruktionen liefern Modelle für die diachron-sequenzielle Strukturierung individueller Lebenszeit und beinhalten Skripts für typische Biographien. Sie typisieren und normieren Laufbahnen und geben Interpretationsmuster für individuelles Leben vor, die relational auf den sozialen Raum bezogen sind, in dem Subjekte sich positionieren bzw. durch den sie sich biographisch ‚bewegen‘. An dieser Stelle wird die Verflechtung biographischer Konstruktionen mit gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen unmittelbar einsichtig. Der soziale Raum ist von Geschlechterkonstruktionen durchzogen, und die handelnden Subjekte positionieren sich und werden positioniert in Relation zu den gesellschaftlichen Strukturen. Auch die diskur14 siven Schemata und normalbiographischen Verlaufsmuster sind – im Zusammenspiel mit anderen gesellschaftlichen Differenzlinien – eng mit der Position im Geschlechterverhältnis verknüpft. Biographien sind „geschlechtsmarkiert“, ihnen haften Geschlechterkonstruktionen – z.B. normative Erwartungen im Hinblick auf ‚weibliche‘ oder ‚männliche‘ Lebensläufe – mehr oder weniger deutlich an. Biographische Konstruktionen sind gewissermaßen durch Geschlecht eingefärbt. Allerdings ergeben sich daraus keine dichotomisch klassifizierbaren Frauen- oder Männer-Biographien, vielmehr kommen durch andere soziale Zugehörigkeitsdimensionen, um im Bild zu bleiben, weitere Farben ins Spiel, und es entstehen in konkreten Biographien ‚bunte‘ Mischungsverhältnisse, die für den je individuellen Fall im Hinblick auf die wirksamen bzw. relevant gemachten Achsen der Differenz zu untersuchen sind. Biographische Konstrukte sind allerdings nicht nur durch geschlechterbezogene Erwartungsstrukturen eingefärbt, sie tragen auch selbst dazu bei, Geschlechterdifferenzen zu konstruieren. Die geschlechtsbezogenen Normierungen und Deutungen, die in biographische Formate eingelassen sind, wiederholen und variieren diese immer wieder neu und setzen sie als Rahmenbedingungen für jeweils neue Handlungssituationen in Kraft. Wenn diese These plausibel ist, dann kann das Konstrukt Biogra14 Dass Biographien als Deutungsmuster und als ‚faktische‘ Verlaufsstrukturen mit Normalitätserwartungen verknüpft sind und ihrerseits zum Transportmittel für Normen und Normalismen werden, habe ich in einem anderen Kontext diskutiert (vgl. Dausien/Mecheril 2005).
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phie als ein eigenständiger Modus der sozialen Konstruktion von Geschlecht betrachtet werden, der seine Pointe darin hat, Geschlecht als temporale gesellschaftliche Konstruktion analysierbar zu machen, nicht nur als Strukturkategorie, sondern auch als Prozesskategorie (vgl. Dausien 1996; Krüger 1995). Eine historisch-empirische Analyse biographischer ‚Modelle‘ und Deutungsmuster kann deshalb für eine konstruktivistische Geschlechtertheorie eine ähnliche Bedeutung haben wie ethnographische Studien des doing gender, die im Unterschied zu Biographie einen Konstruktionsmodus untersuchen, der als „situierte Praxis“ bezeichnet werden kann (vgl. Dausien/Kelle 2005). Der zweite Aspekt des Begriffs „biographische Konstruktion“ meint nun den konkreten Prozess des Konstruierens auf Seiten der gesellschaftlichen Subjekte und der von ihnen entwickelten Praxen (im Sinne eines „modus operandi“, Bourdieu 1979: 189ff.). Lebensgeschichten sind nicht nur institutionalisierte Formate, sondern auch immer wieder neu zu erbringende Leistungen konkreter Subjekte, die ihre Erfahrungen reflexiv verarbeiten und in Kommunikation und Handlung zur Geltung bringen. Der Begriff der biographischen „Erfahrungsaufschichtung“ (Schütze 1984) meint keine passive Speicherung erlebter Situationen „im Individuum“, sondern einen aktiven Prozess der Sinnkonstruktion, in dem Vergangenes und Zukünftiges, Erfahrung und Erwartung, Retrospektion und Prospektion ineinandergreifen. Lebensgeschichten werden in einem bestimmten Rahmen und von einem je besonderen biographischen Standpunkt aus (Zeitpunkt und Perspektive) immer wieder neu ausgelegt und entworfen. In diesem Prozess stellen Subjekte beiläufig oder ausdrücklich Kontinuität und Kohärenz her, die in dem Grundgefühl zum Ausdruck kommen, durch alle Veränderungen hindurch und u.U. gerade in dramatischen Krisen und Umbrüchen noch „dieselbe“ oder „derselbe“ zu sein – was prinzipiell immer auch misslingen kann. Damit ist keine starre Identität gemeint im Sinne eines klar umgrenzten Selbst und der logischen „Gleichheit eines Selbst mit sich, sondern eine 15 relative Ähnlichkeit, teils Identität, teils Alterität“ (Schmid 1996: 374), die sich in einer zeitlichen Figur des Werdens und Gewordenseins organisiert. „Man ist kein ‚Sojemand‘ ein für allemal, sondern man präsentiert sich als jemand, der sich ‚entwickelt hat‘ oder ‚verändert hat‘“ (Fischer-Rosenthal 1995: 51). 15 Schmid (1996) schlägt in seinem „Versuch, die Identität des Subjekts nicht zu denken“ vor, den Identitätsbegriff ganz durch das Konzept der Kohärenz zu ersetzen. Fischer-Rosenthal (1999) hält dagegen das Biographiekonzept für eine sinnvolle Reformulierung des Identitätsproblems.
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Lebensgeschichten werden erzählt, umgeschrieben und wieder neu erzählt. Und die in ihnen konstruierten Identitäten sind – gerade da, wo sie Kohärenz und Kontinuität herstellen – oft uneindeutig, fragmentarisch, widersprüchlich. Sie bleiben offen, enthalten einen Sinnüberschuss von Nicht-Gesagtem, Nicht-Sagbarem und noch zu Sagendem, der das Po16 tenzial für immer wieder neue Interpretationen liefert. Dennoch sind die biographischen Interpretationen und Entwürfe nicht beliebig, sondern vielfältig begrenzt. Die Limitierungen biographischer Konstruktionen ergeben sich einmal durch die genannten diskursiven Muster und institutionalisierten Prozeduren, die Spielräume der Erkennbarkeit und Anerkennbarkeit als biographisches Subjekt abstecken. Zum anderen sind biographische Konstruktionen durch den Aspekt der Performanz begrenzt, d.h. durch die je konkreten Bedingungen der sozialen Situation, in der eine biographische Reflexion und/oder Kommunikation von konkreten Subjekten jeweils aktualisiert wird – man erzählt nicht in jeder Situation jedem Kommunikationspartner ‚dieselbe‘ Geschichte und man kann zu einem Zeitpunkt immer nur eine Geschichte aus dem Vorrat möglicher Geschichten erzählen. Grenzen liegen darüber hinaus in den Strukturprinzipien der Lebensgeschichte selbst. Sie sind gesetzt durch die je individuelle Abfolge und Formation (die „Aufschichtung“) des schon gelebten und erlebten Lebens: Das biographische Subjekt kann aus der irreversiblen Struktur seiner Bewegungs- und Erfahrungsgeschichte im sozialen Raum nicht beliebig herausspringen, vergangene Erfahrungen können nicht ungeschehen gemacht und durch andere ersetzt werden, sie können nur umgedeutet und neu verknüpft werden und zu veränderten Zukunftsentwürfen führen. Aber auch die Lebensgeschichte, das erzählte und gedeutete Leben, ist nicht ‚frei‘. Die narrative Struktur biographischer Kommunikation hat ihre eigenen ‚Zugzwänge‘, die nicht beliebig transformiert werden können, sondern 17 den Prozess des Erzählens lenken. Zwar kann eine Lebensgeschichte im Unterschied zum gelebten Leben leichter verändert werden, aber die (interaktive) Form des Erzählens sowie bestimmte Haltungen und Erzählmuster, die sich in einer Biographie herausgebildet haben, setzen einem ‚freien Konstruieren‘ Grenzen: Wer es gewohnt ist, sein Leben als ‚Erfolgsstory‘ zu erzählen, wird weniger Erfahrungen haben, Verlust, 16 Dieses Potenzial und sein biographisches Format hat Alheit (1996) mit dem Konzept der Biographizität beschrieben, das insbesondere im erziehungswissenschaftlichen Kontext genutzt wird, um Lern- und Transformationsprozesse zu untersuchen. 17 Zu den Strukturprinzipien des narrativen Darstellungsschemas und seiner Relevanz für die Biographieforschung vgl. Schütze 1984; Rosenthal 1995; Dausien 2006.
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Abhängigkeit oder Versagen zu thematisieren, als jemand, der sein Leben gewöhnlich als ‚sad story‘ präsentiert. Die narrative Konstruktion von Biographie ist – so kann zusammenfassend festgestellt werden – nicht nur ein Darstellungsmodus, sondern auch ein Konstruktionsmodus für soziale Erfahrungen. Auch in den Prozess des biographischen Konstruierens sind soziale Geschlechterkonstruktionen eingebaut. Die Praxis des Erzählens und der biographischen Kommunikation ist wie jede andere soziale Praxis potenziell eine Gelegenheit für doing gender. Aber der Zusammenhang ist wiederum nicht direkt und einlinig durch Geschlecht determiniert. Es gibt keine eindeutig ‚weiblichen‘ oder ‚männlichen‘ Lebensgeschichten. Dennoch wird in der narrativen Konstruktion in der Regel Typisches erkennbar und führt zu Zurechnungen der autobiographischen Subjekte als „Frauen“ oder „Männer“ (vgl. Dausien 2006). In der Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der je konkreten biographischen Konstruktion werden solche Typisierungen jedoch immer wieder relativiert, gebrochen, unscharf. Sie werden flüssig gehalten und in je individuelle Mischungsverhältnisse gebracht. In einer biographischen Einstellung 18 ‚wirkt‘ Geschlecht nicht kategorial , sondern in der Konkretheit des individuellen Falles – und der ist im Zweifelsfall immer ‚anders‘. Wie die Produktperspektive ist auch die Prozessdimension biographischer Konstruktionen somit in doppelter Hinsicht mit sozialen Geschlechterkonstruktionen gekoppelt: Erzählte Lebensgeschichten sind eine (auch) durch Geschlecht strukturierte Sinnstruktur und zugleich eine strukturierende Struktur, eine soziale Praxis, die Geschlechterkon19 struktionen im Modus biographischer Selbst-Verortung hervorbringt. Beide hier unterschiedenen Aspekte begründen die These, dass Biographie als relativ eigenständiger Modus der Konstruktion von Geschlecht analysiert werden kann oder, anders gesagt, dass Geschlecht (auch) eine biographische Konstruktion ist (vgl. Dausien 1996, 1998, 2000). Diese These bildet die Grundlage dafür, biographische Methoden in der Geschlechterforschung nicht nur zu Zwecken der Dokumentation und Repräsentation zu nutzen, sondern als empirische Wege zur Erforschung gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse. Vor dem Hintergrund der Debatten um die Konstruktion und Dekonstruktion der Kategorie Geschlecht gewinnen biographische Forschungsansätze deshalb eine neue Aktualität. Sie bieten – so meine These (vgl. Dausien 2000) – eine methodologische Strategie für eine diffe18 Im Unterschied dazu gilt, dass Geschlecht sich in vielen Interaktionskontexten gerade dadurch als sinnstiftend erweist, dass es als binäre Klassifikation kategorial funktioniert (vgl. Tyrell 1986). 19 Vgl. hierzu Dausien 2004.
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renzierte Analyse sozialer Geschlechterkonstruktionen jenseits binärtypisierender Kategorien und reifizierender Verfahren – vorausgesetzt, das Repräsentations-Konstruktions-Problem wird reflektiert. Die bisherigen Überlegungen zu diesem Problem lassen sich hier zusammenfassen: Waren in der emphatisch-politischen Phase der Frauenund Geschlechterforschung starke Repräsentationsannahmen enthalten, so wurden diese durch zunehmende Kritik der eigenen wissenschaftlichen – und politischen – Thematisierung von „Geschlecht“ zunehmend problematisiert. Zu ihrem Reflexivwerden haben insbesondere die kritischen Debatten um Identitätspolitiken und Theorien des Subjekts beigetragen. Statt Repräsentation wurde nun der Aspekt der De-/Konstruktion betont. In diesem Zusammenhang ist jedoch eine weitere Facette des Problems hervorgetreten: Repräsentation meint neben „Vertretung“ und „Darstellung“ den Vermittlungsvorgang selbst, der als Vertretung oder Darstellung im Rahmen eines sprachlich-symbolischen Systems gedacht wird. Die damit verbundene Frage betrifft nicht nur Macht und Modus der Darstellung (wer repräsentiert wen/was wie?), sondern die Konstruktion der Repräsentation selbst. Repräsentation rückt somit als Relation in den Blick, die zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem besteht. Es geht um die Frage: Wie (und in welchen Kontexten oder Diskursen) wird Repräsentation konstruiert? Die Relevanz dieser Frage wird erst dann evident, wenn unterschiedliche Repräsentationsverhältnisse, wenn beide Seiten der Relation als bewegliche und verschiebbare Sinnkonstruktionen erkennbar werden. Genau dies ist aber die Pointe der de-/konstruktivistischen Wende in der Geschlechterforschung. Zum einen ist deutlich geworden, dass ‚Frau‘/ ‚Mann‘ bzw. ‚Weiblichkeit‘/‚Männlichkeit‘ keine empirischen Fakten sind, sondern soziale Konstruktionen, die im Rahmen komplexer, historisch gewachsener kultureller Systeme erbracht werden und diese ihrerseits hervorbringen und stützen. Zum anderen hat die Kritik an den Reifikationstendenzen empirischer Geschlechterforschung nachdrücklich offen gelegt, dass auch wissenschaftliche Beschreibungen von Phänomenen sozialer Geschlechterkonstruktionen Konstruktionen oder Lesarten sind, die – reflektiert oder nicht – an der Konstruktion ihres Gegenstandes beteiligt sind. Sowohl die Seite gesellschaftlicher Geschlechterverhältnisse und der darin gelebten Biographien als auch die Seite der alltagsweltlichen und wissenschaftlichen Konzepte, die zu ihrer Analyse und Darstellung entwickelt werden, sind variabel. Sie werden als komplexe soziale und kulturelle Konstruktionen betrachtet, die immer wieder neu hergestellt, reflektiert und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden müssen. Die hier 193
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nur knapp formulierte Sichtweise, dass wissenschaftliche Begriffe keine fixe Referenz zu (stabilen) empirischen Phänomenen darstellen, also kein Abbild, sondern flüssige, unsichere, performative Konstruktionen sind, wird im Folgenden als methodologisches Problem und Voraussetzung biographischer Forschung wieder aufgenommen.
2. Perspektiven einer reflexiven Biographieforschung – methodologische Probleme und Positionen Die Biographieforschung hat sich seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Feldern der Sozialwissenschaft als profilierte Richtung qualitativer Sozialforschung entwickelt. Wie in der Frauenforschung waren biographische Ansätze auch in anderen, dem wissenschaftlichen Mainstream kritisch gegenüberstehenden Entwürfen – etwa im Programm einer „Geschichte von unten“, einer kritischen Arbeiter(bewegungs)forschung, einer parteilichen Migrationsforschung oder Sozialpädagogik – zunächst mit identitätspolitischen Argumenten verknüpft. Die Suche nach der „eigenen“ Geschichte, das Zur-SpracheBringen der Erfahrungen marginalisierter Subjekte, die (Wieder-)Aneignung von (kollektiver) Identität und die politische Konstruktion als handlungsfähiges Subjekt sind aber auch hier zunehmend fraglich geworden. Sie überzeugen angesichts zunehmender kultureller Differenzierung und Fragmentierung des Sozialen kaum noch – weder als Kollektivkategorien noch als Modelle individueller Subjektivität. Bemerkenswert ist, dass bei der Suche nach Konzepten, die in der Lage sind, das Veränderliche, Uneindeutige und Brüchige individueller und kollektiver Subjektpositionen auszudrücken, wiederum Ansätze der Biographieforschung, etwa in Verknüpfung mit narrationstheoretischen Ansätzen (vgl. Somers 1994, Dausien 2001) oder der Idee der Dekonstruktion (z.B. Gutiérrez Rodríguez 1999), als geeignete Analysestrategien reklamiert werden. Betrachten wir Biographieforschung im weiteren Kontext der Entwicklung qualitativer Sozialforschung, so kann der am Beispiel der Geschlechterforschung skizzierte Paradigmenwechsel ebenfalls festgestellt werden. Er geht mit einer verstärkten Rezeption „post-empiristischer Wissenschaftstheorien“ und allgemeiner „postmodernistischer“ Theorien einher (vgl. Reckwitz 2003a) und ist in der Geschlechterforschung wie in den postcolonial und cultural studies oder anderen Forschungsrichtungen, deren identitätstheoretischer Bezug kritisch reflexiv geworden ist, nachvollziehbar. Aufgegeben wurde nicht nur die empiristische Vor194
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stellung, dass eine objektive Welterkenntnis in der Form angemessener Abbildungsmethoden möglich sei, sondern auch die rationalistische Reaktion auf diese Einsicht, die – auf unterschiedliche Weise – mit Luhmann oder Habermas Wissenschaft als ein System oder einen Diskurs beschreibt, der Aussagen produziert, die anhand universaler Kriterien oder Diskursregeln entlang der Unterscheidung „wahr/unwahr“ beurteilt werden können (vgl. ebd.). Demgegenüber gehen postmodernistische Ansätze davon aus, dass Forschung unterschiedliche ‚Lesarten‘, ‚Sprachspiele‘ oder ‚Texte‘ hervorbringt, über deren Geltung prinzipiell keine Wahrheitsentscheidung getroffen werden kann, da sie ihrerseits nicht auf ‚eine‘ Realität bezogen werden können. Die Wirklichkeit(en), mit denen Forschung es zu tun hat, werden vielmehr selbst als voraussetzungsvolle ‚Texte‘, als komplexe soziale Welten und umkämpfte kulturelle Symbolsysteme gedacht. Statt ‚Wahrheit‘ wird ‚Macht‘ zur Perspektive, unter der wissenschaftliche Erkenntnisproduktion analysiert und kritisiert wird (vgl. Foucault 1992). Biographieforschung hat es also ebenfalls mit jener doppelten Absage an empiristische Strategien zu tun: Einmal hat auch sie die Vorstellung aufgegeben, einen fixierbaren und objektivierbaren Gegenstand zu ‚haben‘ – dieser ist vielmehr beweglich, perspektivisch und mehrdeutig. Zum anderen ist in der reflexiven Wende der Kultur- und Sozialwissenschaften die eigene Beteiligung an der Konstruktion der untersuchten Wirklichkeit, die unauflösbare Verstrickung der Forschenden mit ihrem Gegenstand deutlich geworden. Hinter diese Einsicht, die in der Ethnologie unter dem Stichwort der „Krise der Repräsentation“ (Berg/Fuchs 1993) oder in der Geschlechterforschung am Problem der Reifikation (s.o.) diskutiert wurde, gibt es auch für die Biographieforschung kein Zurück mehr. Mit dieser doppelten Aufgabe eines Fixpunktes, einer zurechenbaren, eindeutigen Verankerung der Wissenschaft in der Wirklichkeit, gerät empirische Forschung ins Schwimmen. Für unseren Zusammenhang stellt sich die auch forschungspraktisch relevante Frage, welchen Geltungsanspruch wissenschaftliche Interpretationen von Lebensgeschichten haben. Mit dem eingangs eingeführten Verständnis von Biographie als diskursivem Format kann diese Frage nun präzisiert werden: Welchen Geltungsanspruch haben wissenschaftliche Interpretationen jener ‚Texte‘, die – in näher zu spezifizierenden alltagsweltlichen Kontexten – in dem diskursiven Format „Biographie“ produziert worden sind? Wenn mit postmodernistischen Erkenntnismodellen davon ausgegangen wird, dass sie kein (objektivierendes) Abbild einer wie auch immer gedachten objektiven Realität sind, sondern dass
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2.1 Methodologie der Re-Konstruktion Die Annahme, dass soziale Wirklichkeit nicht als objektiv fassbare Realität ‚existiert‘, sondern eine hochkomplexe, veränderliche soziale und kulturelle Konstruktion darstellt, und dass wissenschaftliche Erkenntnis in diese Konstruktion immer schon einbezogen ist als Teil jener alltagsweltlichen Konstruktionsprozesse, ist freilich keine neue Einsicht. Sie bildet den zentralen Ausgangspunkt einer qualitativen Forschung, die in den Traditionen des Pragmatismus, Interaktionismus und der Sozialphänomenologie steht und üblicherweise dem Interpretativen Paradigma (Wilson 1973) zugerechnet wird. Diese Traditionen sind auch für die gegenwärtige soziologische Biographieforschung grundlegend. Die Prämissen, die der Mead-Schüler und Urheber des Begriffs „Symbolischer Interaktionismus“, Herbert Blumer, in seiner methodologischen Standortbestimmung (1973) entwickelte, sind auch nach jener post-empiristischen Wende in der qualitativen Forschung weitgehend konsensfähig. Sie richten sich auf den grundlegend sinnhaften Charakter sozialer Wirklichkeit (nicht die „Dinge an sich“, sondern ihre Bedeutung ist relevant für menschliches Handeln) und die Lokalisierung der Produktion und Veränderung von Bedeutungen in der sozialen Praxis der 21 Individuen (vgl. Blumer 1973: 81). Die gleichen Prämissen gelten 20 Diese These und damit verbundene Textbegriffe müssten differenzierter entwickelt und kritisch hinterfragt werden. An dieser Stelle muss der Hinweis genügen, dass die Sozialwissenschaften im Zuge des sog. „linguistic turn“ das Textmodell nutzen, um die sprachliche und symbolische Konstruktion ihres Untersuchungsgegenstandes zu betonen. Gegen diese Perspektive wird seit einiger Zeit eingewandt, dass damit Dimensionen sozialer Praxis vernachlässigt werden, die vorsprachlicher Art sind wie etwa Körperpraktiken. Eine neue Perspektivverschiebung, ein „practice turn“ deutet sich an (vgl. Reckwitz 2003b). 21 Die Konstruktion von Sinn, die im Symbolischen Interaktionismus als basale Leistung sozialen Handelns und Voraussetzung von Erkenntnis angenommen wird, ist nicht zu verwechseln mit explizit gewussten und bewussten Bedeutungszuweisungen. Sozialer Sinn ist zu großen Teilen „implizit“, vielschichtig und widersprüchlich. Bedeutungen konstituieren sich
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auch für die wissenschaftliche Konstruktion von Erkenntnis (und für empirische Forschung als spezifischen Modus der Erkenntnisproduktion). Forschung ist eine Praxis der Konstruktion von Bedeutungen (Theorien, Modellen, Interpretationen, Thesen usw.) – und zwar von Bedeutungen, die sich auf Bedeutungen beziehen, die in dem sozialen Kontext hergestellt, tradiert und transformiert werden, für den sich die jeweiligen Forschenden interessieren. Alfred Schütz hat diese methodologische Denkfigur folgendermaßen formuliert: „Die Konstruktionen, die der Sozialwissenschaftler benutzt, sind daher sozusagen Konstruktionen zweiten Grades: es sind Konstruktionen jener Konstruktionen, die im Sozialfeld von den Handelnden gebildet werden, deren Verhalten der Wissenschaftler beobachtet und in Übereinstimmung mit den Verfahrensregeln seiner Wissenschaft zu erklären versucht“ (Schütz 1971: 7).
Die Relation, die hier zwischen alltagsweltlicher und wissenschaftlicher Sinnkonstruktion – z.B. zwischen dem ‚Text‘ einer lebensgeschichtlichen Erzählung (alltagsweltliche Konstruktion) und seiner wissenschaftlichen Interpretation (‚Text zweiten Grades’) – angenommen wird, ist die einer Re-Konstruktion. Die wissenschaftlichen Konstruktionen sind nicht beliebig, nicht ‚frei‘, aber sie sind andererseits auch keine ‚Einszu-eins-Abbildungen‘, keine eindeutigen Repräsentationen einer Realität. Sie beziehen sich auf eine uneindeutige, immer wieder neu herzustellende, im Forschungsprozess zu entwickelnde und in der scientific community zu begründende Weise (entsprechend der jeweils geltenden wissenschaftlichen ‚Verfahrensregeln‘) auf einen Gegenstand, der seinerseits nicht fixiert und ‚natürlich gegeben‘ ist, sondern immer nur durch die Perspektive der jeweiligen Beobachtung wahrgenommen und – in diesem Sinn – konstruiert wird. Diese Position hat eine analytische und eine forschungsstrategische Pointe. Sie hält zunächst fest, dass Forschung mit ihren (Re-)Konstruktionen immer schon an vorgängig produzierte Sinnkonstruktionen anknüpft. Dies ist aus der Sicht des Interpretativen Paradigmas, aber auch in der postmodernistischen Perspektive wissenschaftlicher Erkenntnis unvermeidlich und muss selbstreflexiv beschrieben werden. „Die Bedin– so die Annahme – in erster Linie in kultureller Praxis und nicht primär in den kognitiven Reflexionen über diese Praxis. Ihre Erschließung anhand von „Dokumenten sozialer Praxis“ ist – so die These des interpretativen Paradigmas – Aufgabe wissenschaftlicher Forschung. Das ethnomethodologische Konzept des doing gender ist ein prominentes Beispiel für diese methodologische Idee. Vor einem anderen theoretischen Hintergrund hat Pierre Bourdieu (1979, 1987) eine ausgearbeitete praxeologische Theorie vorgelegt.
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gungen des Erkennens gehören“, wie Gudrun-Axeli Knapp feststellt, „selber dem Zusammenhang dessen an, was begriffen werden soll“ (2001: 21). Darüber hinaus legt diese analytische Feststellung jedoch eine methodologische Strategie der Re-Konstruktion nahe. Von wissenschaftlichen Konstruktionen wird erwartet, dass sie nicht affirmativ und reproduzierend an alltagsweltliche Vorstellungen, z.B. von Geschlechterunterschieden oder biographischen Prozessen, anknüpfen und damit eben jener kritisierten Reifizierung Vorschub leisten. Forschende sind gefordert, ihre jeweils gewählte Analyse- und Konstruktionsperspektive kritisch zu reflektieren – und das heißt im Wesentlichen zu explizieren. Die Regeln der wissenschaftlichen Konstruktion unterscheiden sich in diesem Punkt von denen alltagsweltlicher Sinnkonstruktionen, die zu großen Teilen implizit bleiben. Über die Explikation hinaus stellt sich die Frage, welche methodologischen Verfahren geeignet sind, ein reproduzierendes Verhältnis zwischen wissenschaftlichem und alltagsweltlichem ‚Text‘ systematisch aufzubrechen und das Repräsentationsproblem anders zu lösen als durch eine abbildhafte Darstellung. Eine an die re-konstruktive Methodologie anschließende Biographieforschung begnügt sich also nicht damit, biographische (Selbst-)Darstellungen alltagsweltlicher Subjekte zu dokumentieren und die Selbstdeutungen der befragten Personen beschreibend nachzuvollziehen – obwohl eine analytische Beschreibung zweifellos ein wichtiger Schritt der Arbeit am Material ist. Sie kann auch nicht unterstellen, dass erhobene Lebensgeschichten soziale Wirklichkeit repräsentieren, sondern muss – sofern sie an dem Repräsentationspostulat festhält – dieses begründen. Eine re-konstruktive Biographieforschung hat die Aufgabe, die kulturellen Praktiken und Formate der Konstruktion und Artikulation ‚biographischen Sinns‘ zu untersuchen, die in bestimmten Kontexten und von bestimmten sozial-räumlich positionierten Subjekten hervorgebracht werden. Biographieforschung schließt also nicht naiv an jenes alltagsweltlich wirksame biographische Format an, sondern re-konstruiert dessen diskursiven Charakter, seine Strukturen, Funktionsweisen und Variationen in gesellschaftlichen Kontexten und in dem je konkret untersuchten Einzelfall unter einer analytisch-theoretischen Perspektive. Diese Analyseperspektive lässt sich, etwa im Rahmen dekonstruktivistischer Theorien, als Analyse sprachlich-diskursiver Muster realisieren. Andererseits besteht in der Biographieforschung weitgehend Konsens, sich nicht vollständig von der Vorstellung zu lösen, dass biographische Texte etwas über eine ‚außertextliche‘ soziale Wirklichkeit aussagen, dass sie soziale Wirklichkeit – auf eine näher zu bestimmende Weise – repräsentieren. Im Rahmen eines biographietheoretischen Er198
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kenntnisinteresses ist die Restriktion auf eine ausschließlich textbezogene Analyseperspektive wenig befriedigend. Auf den Anspruch, nicht nur die Konstruktionslogik biographischer Texte, sondern ihre Konstitution im sozialen Raum zu untersuchen, die über die Kommunikation im Interview als Background der Textproduktion hinausgeht, würden wohl die wenigsten Biographieforscherinnen verzichten (vgl. Corsten 1994: 198). Ohne auf die Unterschiede in der theoretischen Begründung dieses Anspruchs und jeweilige methodische Umsetzungen einzugehen, sehe ich eine Gemeinsamkeit aktueller Ansätze der Biographieforschung darin, dass sie von der Idee geleitet sind, mit der Erschließung eines biographischen Textes Kontexte re-konstruieren zu wollen, die für die Produktion des jeweiligen Textes relevant sind. Wie diese Geltungsansprüche zur Re-Konstruktion alltagsweltlicher biographischer Konstruktionen begründet und vorgestellt werden, ob an das „gelebte Leben“ (Rosenthal 1995; Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997), an Sozialstruktur und Habitus (Alheit 1996), an „Lebenskonstruktionen“ (Bude 1984, 1987), „Erfahrungsaufschichtung“ und „kognitive Figuren“ (Schütze 1984), an „rhetorische Figuren“ (Koller 1993) oder an „performativ erzeugte Sinnkontexte“ (Nassehi 1994; Nassehi/Saake 2002) oder anderes gedacht wird, ist abhängig von der jeweiligen erkenntnistheoretischen Position und konkreten methodologischen Konzepten, die zu durchaus unterschiedlichen „Konstruktionen zweiten Grades“ führen können. Dass diese Fragen reflektiert werden und das Verhältnis von Text und außertextlicher Wirklichkeit nicht in der alltagstheoretischen ‚Natürlichkeit‘ von Repräsentation belassen wird, kann jedoch als allgemeiner Anspruch an eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Biographie formuliert werden. Gegenüber der von Alfred Schütz formulierten Idee der ReKonstruktion wird in aktuellen methodologischen Ansätzen deutlicher der konstruktive Charakter wissenschaftlicher Re-Konstruktionen her22 vorgehoben. In der Schütz’schen Fassung des Problems klingt noch eine idealisierte Gegenüberstellung zweier Konstruktionsebenen an, der alltagsweltlichen und der wissenschaftlichen, die trotz prinzipieller Strukturgleichheit in eine hierarchische und lineare Relation gesetzt werden (wissenschaftliche Konstruktionen sind „zweiten“ Grades, d.h. „höher“, „wahrer“, aber auch: abgeleitet, untergeordnet, der Empirie angeschmiegt). Der Schütz’sche Vorschlag ist durchaus anfällig für empiristische Interpretationen. Post-empiristische Forschungskonzepte dage22 Die von mir gewählte Schreibweise mit Bindestrich („Re-Konstruktion“) soll diesen Aspekt betonen und deutlich machen, dass es um Konstruktionen geht, deren Bezug auf empirische Phänomene theoretisch zu reflektieren, dass also das „Re“ explikationsbedürftig ist.
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gen lockern die re-konstruktive Relation zwischen alltagsweltlichem Text und wissenschaftlichem Text, aber sie lösen sie nicht notwendig auf. Es können unterschiedliche Varianten wissenschaftlicher und alltagsweltlicher Konstruktionen nebeneinander angenommen werden, ohne dass über die ‚richtige‘ Deutung oder Gegenstandskonstruktion entschieden werden muss. Der Wahrheitsanspruch wird durch den schwächeren Plausibilitätsanspruch abgelöst. Die wissenschaftlichen Interpretationen sind Ko-Konstruktionen zu den biographischen Konstruktionen, die in alltagsweltlichen Kontexten hervorgebracht werden (vgl. Dausien 2006: Kap. 7). Die empirischen Texte werden als ‚Medium‘ für interpre23 tative Texte genutzt, deren Geltungsanspruch sich nicht aus den Verfahrensweisen oder einem Objektivitätsprimat der Wissenschaft ergibt, sondern – im Rahmen wissenschaftlicher, aber auch politischer Diskurse – jeweils neu zu klären ist. Um die Relation zwischen den beiden Textsorten zu reflektieren, ist es erforderlich, die jeweils relevant gemachten theoretischen Perspektiven zu explizieren. Diese Reflexion hat auch eine konkrete, forschungspragmatische Dimension, die abschließend vorgestellt werden soll.
2.2 Text-Kontext-Relationen – ein Reflexionsrahmen für die Interpretation biographischer Dokumente Forschende, die sich mit biographischem Material auseinandersetzen, sind auf einer praktischen Ebene unausweichlich mit den diskutierten methodologischen und erkenntnistheoretischen Problemen konfrontiert und genötigt, sie – reflektiert oder nicht – forschungspraktisch zu ‚handhaben‘: Wie gehen Forschende vor, wenn sie biographische Texte interpretieren? Was tun sie, wenn sie einen Interpretationstext über einen biographischen Text herstellen? Wofür steht der analysierte Text (sei es das Transkript eines biographisch-narrativen Interviews, eine autobiographische Schrift oder ein anderes Dokument)? Worüber kann er Auskunft geben oder, angemessener vielleicht, worauf beziehen Forschende ihn in ihrer Interpretation, worüber möchten sie mit dem Medium des biographischen Materials Auskunft geben? Ohne hier auf bestimmte methodische Konzepte einzugehen oder gar 24 Festlegungen zu treffen , erscheint es mir sinnvoll, einen metatheoretischen Rahmen zu etablieren, in dem das diskutierte Problem der Konstruktion von Repräsentationsverhältnissen systematisch reflektiert und 23 Die Formulierung des methodologischen Problems als „Texte als Medium für Text“ entnehme ich einer Studie von Paul Mecheril (2003: 32ff.). 24 Meine eigene Vorgehensweise in der Arbeit mit biographischen Texten habe ich verschiedentlich beschrieben (Dausien 1996, 2006).
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expliziert werden kann. Als einen derartigen Rahmen schlage ich vor, über Text-Kontext-Relationen nachzudenken, also das Repräsentationsproblem dahingehend zu bearbeiten, dass die zweistellige Relation zwischen den beiden Textsorten (Ko-Konstruktion von wissenschaftlichem und alltagweltlichem Text) erweitert und dezentriert wird. Dies wird m.E. dadurch möglich, dass die Kontexte expliziert werden, die für die Text-Text-Relation, die im Prozess der Interpretation hergestellt wird, relevant gemacht werden. Der zu interpretierende Text, sagen wir modellhaft ein Interviewtranskript, steht nicht ‚für sich‘, sondern wird im Interpretationsprozess auf theoretisch beschreibbare Kontexte bezogen – erst dadurch wird eine über bloße Paraphrase hinausgehende Interpretation möglich. Unter einer starken, wenn auch häufig impliziten Repräsentationsannahme, etwa dass ein Text abbildhaft für ein gelebtes Leben steht oder stellvertretend für die soziale Lage von Frauen im Patriarchat gelesen werden kann, sind mehr oder weniger lineare Text-KontextRelationen im Spiel. Diese gilt es durch die systematische Einbeziehung unterschiedlicher Kontexte aufzubrechen. Was aber meint „Kontext“ in diesem Zusammenhang? Was sind mögliche und geeignete Kontexte für die Interpretation biographischer Texte? Zum einen sind dies prinzipiell wählbare theoretische Perspektiven, die im Forschungsprozess relevant werden: Fragestellungen, Interessen, theoretische Paradigmata usw. Zum anderen aber wird die Wahl der Kontexte durch das Festhalten der Biographieforschung an einer – reflektierten und konstruktivistisch gewendeten Repräsentationsannahme – auch festgelegt. Als Kontexte sind vor allem diejenigen ‚Felder‘ zu explizieren, von denen theoretisch angenommen wird, dass sie für die Konstruktion des alltagsweltlichen biographischen Textes relevant sind – und dass umgekehrt, die Re-Konstruktion dieses Textes etwas über die Konstruktionsprozesse von Biographie als gesellschaftliches Phänomen aussagen kann. Nach den hier entwickelten Überlegungen zur Konstruktion von Biographien sind m.E. neben der ‚freien‘ Wahl von Theorie und Methode und unabhängig von projektspezifischen Interessen mindestens drei Kontexte systematisch in die Analyse biographischer Texte involviert und deshalb explikationsbedürftig. Die folgende Modellierung relevanter Text-Kontext-Relationen kann diese allerdings nur knapp benennen (vgl. ausführlicher Dausien 2006). Ein biographischer Text ist – so der Vorschlag – im Hinblick auf folgende Kontexte als „biographische Konstruktion“ zu re-konstruieren: Die Biographie des autobiographischen Subjekts: Dieser Kontext ist der aus der alltagsweltlichen Perspektive ‚naheliegendste‘: Die Annahme jedoch, dass der Text einer Lebensgeschichte ein ‚gelebtes Leben‘ 201
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darstellt, also (abbildhaft) repräsentiert, muss nach der (de-)konstruktivistischen Kritik differenziert werden. Stattdessen wird angenommen, dass der Text Resultat eines Konstruktionsprozesses ist, der durch die individuelle Erfahrungsgeschichte und die „Bewegung des Individuums im sozialen Raum“ (s.o.) strukturiert ist, und dass er deshalb auf eben diesen Kontext der konkreten Biographie des Individuums verweist, das sich im biographischen Format artikuliert hat. Das autobiographische Subjekt, dem der Text als ‚eigene‘ Lebensgeschichte zugeschrieben wird, gerät dabei in der Doppelperspektive als erzählendes und erzähltes Ich in den Blick. In der Analyse des biographischen Kontextes sind wiederum Differenzierungen vorzunehmen, die zwischen dem ‚Was‘ (erzählte Inhalte) und dem ‚Wie‘ (Modus des Erzählens), zwischen unterschiedlichen Zeitperspektiven (Retrospektion und Gegenwartsperspektive) und Kommunkationsschemata (Erzählung, Beschreibung, Argumentation) unterscheiden. Damit wird auch der Doppelperspektive biographischer Konstruktionen als ‚Produkt‘ und ‚Prozess‘ Rechnung getragen. Welche konkreten biographietheoretischen und methodischen Konzepte hierbei Anwendung finden, ist im Forschungsprozess zu explizieren. Der Kontextbezug „Biographie“ macht dann Sinn, wenn, wie oben beschrieben, Biographieforschung nicht primär ein textwissenschaftliches, sondern ein sozalwissenschaftliches Interesse verfolgt und Aussagen über Lebensgeschichten im Kontext einer ‚außertextlichen‘ sozialen Wirklichkeit machen will. Für die Geschlechterforschung unterscheidet diese Annahme linguistisch orientierte Zugänge, die an der inneren Funktionsweise symbolischer Strukturen (z.B. Modi biographischen Sprechens) interessiert sind, von gesellschafts- und machttheoretischen Ansätzen, die Geschlecht als historische und gesellschaftliche Struktur betrachten, die sozial produktiv wird und an der Konstruktion und Konstitution von Biographien beteiligt ist. Der Interaktionsrahmen: Der zweite methodologisch relevante Kontext ist der interaktive Prozess, in dem eine lebensgeschichtliche Erzählung in einer konkreten Situation hervorgebracht wird. Damit wird der performative Aspekt biographischer Konstruktionen fokussiert und zugleich deutlich gemacht, dass biographische Artikulationen keine Leistungen isolierter Individuen sind, sondern in realen oder imaginierten sozialen Interaktionen lokalisiert sind. Erzählen und Zuhören sind zwei Seiten eines Prozesses. Eine biographische Erzählung ist adressiert und wird interaktiv hergestellt („doing biography“; vgl. Dausien/Kelle 2005). Im Fall eines Interviews sind damit alle Aspekte der Interaktion zwischen InterviewerIn und ErzählerIn gemeint (Machtverhältnisse, Interessen, Differenz- und Identifikationsaspekte, Interaktionsdynamiken usw.). Aber auch Aspekte der Kommunikation in sozialen Situationen 202
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und Interaktionsordnungen (Goffman 1994), die relativ unabhängig von den konkreten Interaktionspartnern bestimmte Regeln vorgeben, sind hier zu reflektieren. Dies gilt auch für Prozesse des doing gender in der Interviewsituation. Kulturelle Muster und soziale Regeln: Das dritte Konstruktionsfeld, auf das ein konkreter biographischer Text interpretativ zu beziehen ist, betrifft das diskursive Format „Biographie“. Hier geht es um die Frage, welche narrativen Muster, Gattungen und Genres, welche kulturellen Modelle der Thematisierung von Biographien, welche konkreten Vorbilder, Erzähltraditionen und kollektiven Deutungsmuster, aber auch welche sozialen Vorgaben und informellen Regeln und Formen biographisierender Praxis in der Konstruktion des untersuchten Textes ‚aufscheinen‘ und – hypothetisch – wirksam geworden sind. Biographische Erzählungen, auch wenn sie spontan hervorgebracht werden, sind nicht ‚frei‘, sondern orientieren sich am kulturellen Wissensvorrat über Biographie(n) und ihren Präsentationsmöglichkeiten im Rahmen aktueller Diskurse. Unter einer geschlechterinteressierten Perspektive wäre hier besonders nach Deutungsmustern für ein (un)mögliches Frauenleben zu fragen, nach normativen Regeln, aber auch nach Möglichkeitsräumen für Variationen und ‚Abweichungen‘, die u.U. in einer konkreten historischen Situation, einem konkreten (sub-)kulturellen Kontext, einer Familientradition usw. gegeben ist. Diese drei, hier nur kurz angedeuteten Text-Kontext-Relationen eröffnen analytische Perspektiven für eine kontextreflexive Re-Konstruktion biographischer Texte, die für je konkrete Forschungsprojekte und Forschungsmaterialien methodisch und inhaltlich konkretisiert werden müssen. Sie schaffen zugleich theoretische Verknüpfungsmöglichkeiten zu anderen Analyseperspektiven konstruktivistischer Geschlechterforschung, z.B. zu einer interaktions- oder institutionstheoretischen oder historisch-diskursanalytischen Perspektive auf die Re- und De-Konstruktion von Geschlecht.
3. Fazit Im Hintergrund der hier diskutierten Probleme stand die Frage, wie angesichts der kritischen Debatte um die De-Konstruktion zentraler Kategorien der Geschlechterforschung (Identität, Subjekt, Frau) Biographieforschung betrieben werden kann, die Biographien weder im binären Schema ‚männlich – weiblich‘ festschreibt oder gar eine ‚weibliche‘ und ‚männliche‘ Identität unterstellt und reifiziert, noch – in der Absicht, problematisch gewordene Identitätsannahmen und Reifizierungen zu 203
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vermeiden – auf die Frage nach der Bedeutung von Geschlecht in der Perspektive individueller Subjektwerdung verzichtet. Mit diesem Verzicht würde nicht nur ein wichtiger Strang der Geschlechterforschung abgeschnitten, der die biographische Dimension des ‚Geschlecht-Werdens‘ und die psychische Dimension von vergeschlechtlichten Identitäten thematisiert. Mit der Aufgabe dieser Frage würde auch die im Format der Biographie präsentierte Selbst-Artikulationen empirischer Subjekte übergangen bzw. für wissenschaftlich irrelevant erklärt – und dies wiederum würde eine für die Konstitution der Geschlechterforschung wesentliche Verortung im Politischen aufgeben. Um einen nichtessentialistischen Zugang zu „Identität“ (bzw. zu dem mit dem kritisierten Identitätsbegriff gefassten Problem) zu suchen, wurde hier das Konzept der biographischen Konstruktion eingeführt. „Gerade weil Identität innerhalb und nicht außerhalb des Diskursiven konstruiert wird, müssen wir sie als an spezifischen historischen und institutionellen Orten, innerhalb spezifischer diskursiver Formationen und Praktiken wie auch durch spezifische Strategien hergestellt verstehen“ (Stuart Hall 2004b: 171).
Biographien sind ein spezifischer Ort und eine spezifische Praxis der Konstruktion von Identität, und sie rücken besonders die reflexiven Konstruktionsleistungen der empirischen Subjekte in den Blick. Mit biographischen Forschungsansätzen können diese Konstruktionsleistungen re-konstruiert und auf relevante Konstruktionskontexte hin analysiert werden. „Geschlecht“ ist dabei keine von vornherein dominant gesetzte Analyseperspektive, sondern wird – als integrierte Dimension biographischer Konstruktionsprozesse am konkreten Fall rekonstruiert. Geschlecht wird damit in seiner Verflochtenheit in die strukturierende und strukturierte biographische Struktur thematisiert. Damit verschiebt sich auch das Verhältnis von Repräsentation und Konstruktion. Im Unterschied zu den identitätspolitischen Repräsentationsansprüchen der frühen Frauenforschung ist – nach der „post-empiristischen Wende“ – Repräsentation als eine in bestimmten Kontexten konstruierte Relation zu denken, die im Forschungsprozess am konkreten Material re-konstruiert werden muss. Diese Re-Konstruktion setzt eine Explikation der Re-Konstruktionskategorien und -methoden voraus, die im Interpretationsprozess genutzt werden. Für diesen Zweck stellt das hier vorgeschlagene Text-Kontext-Modell einen metatheoretischen Reflexionsrahmen zur Verfügung.
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Die umstrittene erkenntnistheoretische Frage, ob Biographien bzw. biographische Dokumente überhaupt noch angemessen als Repräsentation einer außertextlichen Wirklichkeit behandelt werden können, lässt sich mit den Konzepten einer sozialkonstruktivistischen Biographieforschung bejahen – allerdings mit der Ergänzung, dass biographische Erzählungen als eine (Re-)Präsentationsform sozialer Wirklichkeit und zugleich als produktiver Bestandteil dieser Wirklichkeit betrachtet werden können, als ein Modus, durch den Individuen sich selbst und ihre Welt interpretieren und konstruieren. Diese doppelte Hypothese liegt als Prämisse zugrunde, wenn biographische Texte wissenschaftlich nicht nur als Texte, sondern auch als biographische Konstruktionen interpretiert werden.
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Pipilotti Rist. Die Küns tlerin als „Person“ 1 SABINE KAMPMANN
„Künstler“ ist einer der verzwicktesten Begriffe überhaupt. Denn „Künstler“ bezeichnet einen Menschen, den man nicht nur über sein eigenes Leben und dessen biographische und autobiographische Spiegelungen zu fassen versucht. Auch im von ihm geschaffenen Kunstwerk, so die gängige Auffassung, begegnen wir diesem Menschen. Überdies existiert eine umfangreiche Sammlung historischer Topoi und Klischees über die Figur des Künstlers. Diese finden zum Teil Eingang in zeitgenössische Künstlerbilder, zum anderen gehen aber auch immer neue Aspekte in die Produktion gegenwärtiger Künstleridentitäten ein. Ein solcher neuer Aspekt ist der Begriff des Post-Feminismus. Ende der 90er Jahre taucht er in der Diskussion als distanzierende Befragung und Weiterentwicklung eines wissenschaftlichen Feminismus auf. Und auch in der bildenden Kunst gibt es seit Mitte der 90er Jahre erstmals Künstlerinnen, die man Post-Feministinnen nennen könnte, da sie auf weibliche Vorbilder und deren „feministische Kunst“ der 70er Jahre zurückblicken können. Eine dieser Künstlerinnen ist die Schweizerin Pipilotti Rist, deren rasanter Aufstieg in der Kunstwelt Anfang der 90er Jahre begann. Die schillernden Charakterisierungen der Kunstkritik, wie „Elfe mit den Zauberbildern“ oder „Bildmagierin des Jetztgefühls (Mack 1999: 3), „Bildstörerin“ (Bonik 1999: 118) oder „Video-Gladiatorin der 90er Jahre (Pantellini 1998: 78) zeugen von der intensiven Beschäftigung mit ihrer Person. Und diese spitzt sich immer wieder auf die gleichen Fragen 1
Der Vortrag im Rahmen der Tagung „LebensBilder“ entstand zeitgleich zu meinem Text „Was heißt eigentlich Post-Feminismus? ‚Eine möglichst trittsichere und graziöse Flucht nach vorn‘ (Pipilotti Rist)“, in: Gender Studies und Systemtheorie. Studien zu einem Theorietransfer. Bielefeld: 2004, S. 179-206. Deshalb handelt es sich bei dem vorliegenden Aufsatz um eine geringfügig überarbeitete Version.
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zu: Ist Pipilotti Rist Feministin? Macht sie feministische Kunst? Oder ist das vielleicht Post-Feminismus? Mit dieser Fixierung auf Feminismus als Wesenszug der Künstlerin oder Inhalt der Kunst manövrieren sich Kunstwissenschaft und Geschlechterforschung jedoch in eine Sackgasse. Denn durch die zugrunde liegenden Annahmen eines einheitlichen Künstlersubjekts, eines eindeutig dechiffrierbaren künstlerischen Themas beziehungsweise einer allgemein gültigen Definition von Feminismus und Post-Feminismus entzieht sich der vielschichtige Produktionsprozess dieser Begriffe dem Blickfeld. Die so erzwungene EntwederOder-Entscheidung widerspricht zudem der erklärten Abneigung der Geschlechterforschung gegenüber Dichotomien, wie sie besonders in der Kritik an einer zwanghaften heterosexuellen Matrix (männlich/weiblich ohne etwas Drittes) zum Ausdruck kommt (vgl. Butler 1991). Um die verschiedenen Facetten der Künstlerfigur Pipilotti Rist betrachten zu können, soll deshalb Niklas Luhmanns Konzept der Form „Person“ verwendet werden (vgl. Luhmann 1995). Ergänzt wird dieses Konzept um die Grundperspektive auf eine funktional differenzierte Gesellschaft. Mit beiden gemeinsam wird es möglich, die Bildung der Künstlerfigur Pipilotti Rist im Prozess ihrer kommunikativen Konstruktion und in ihrer Abhängigkeit von den unterschiedlichen Funktionen in sozialen Systemen zu beobachten. Auch die verschiedenen begrifflichen Besetzungen von „Post-Feminismus“ werden dabei in ihrer Rolle bei der kommunikativen Entstehung der Figur Pipilotti Rist offenbar. Das Besondere an der Person Pipilotti Rist ist überdies, dass sie sich als Künstlerin auch im Kunstsystem bewegt, welches über eine lange Tradition künstlerischer Identitätsbildung mit sehr konkreten Rollenvorgaben verfügt. Wie stark die Rollenvorgabe „Künstler“ von der Kategorie des Geschlechts ausgeht, hat die kunsthistorische Geschlechterforschung in den vergangenen Jahren herausgearbeitet (vgl. Nochlin 1996; Parker/Pollock 1981; Wenk/Hoffmann-Curtius 1997). Ziel dieser Analyse ist es also, den Produktionsprozess der Person Pipilotti Rist in seiner Abhängigkeit von geschlechtsbestimmten Parametern zu beschreiben. Wie sich dies im Rahmen einer Diskussion um Post-Feminismus vollzieht, wird auch anhand ausgewählter Arbeiten untersucht.
Die Form „Person“ in der funktional differenzierten Gesellschaft „Doch selbst hinsichtlich der unscheinbarsten Dinge des Lebens sind wir nicht ein objektiv erfassbares Ganzes, das für alle gleich ist, so dass jeder nur davon Kenntnis zu nehmen braucht wie von einem Lastenheft oder einem Testament;
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als soziale Person sind wir eine geistige Schöpfung der anderen.“ (Proust 1999: 29)
Luhmanns Überlegungen zur Form „Person“ befinden sich jenseits der Vorstellung eines einheitlichen Subjekts und konzentrieren sich ganz auf die Ebene des Sozialen. Ähnlich wie bei Proust formuliert – und von ihm in den unterschiedlichen perspektivabhängigen Beschreibungen seines Protagonisten Swann vorgeführt – ist die „soziale Person“ eine „geistige Schöpfung der anderen“. Und Luhmann wird noch präziser: „Eine Person ist […] nicht einfach ein anderer Gegenstand als ein Mensch oder ein Individuum, sondern eine andere Form, mit der man Gegenstände wie menschliche Individuen beobachtet.“ (Luhmann 1995: 148)
Der Begriff der Form ist dabei anders als gewohnt zu denken. Und zwar „nicht als eine zeitresistente Struktur, sondern als ein […] zeitverbrauchende[r] Vollzug.“ (Krämer 1998: 560) Es gibt nichts, was an sich Form wäre, sondern dies ist immer an ein Medium gekoppelt und geht aus ihm hervor. Zugleich sind Formen zeitlich variabel, und auch die Seiten können getauscht werden: Was in dem einen Kontext Medium ist, so dass dessen einzelne Elemente lose gekoppelt sind, kann in einem anderen Zusammenhang zur Form werden, wobei sich die Verbindungen zwischen den einzelnen Elementen verdichten. Luhmanns Medium/Form-Begriff bezieht sich nicht nur auf die Form „Person“, sondern strukturiert viele verschiedene Kommunikationen. Ein Beispiel aus der Kunst soll den Gedanken verdeutlichen: Ein Künstler möchte ein Kunstwerk machen und dazu ausschließlich Produkte aus seinem Supermarkt um die Ecke verwenden. Schließlich entscheidet er sich für eine Dose Tomatensuppe der Firma Campbell und macht daraus ein Ready-Made. Der gesamte Inhalt des Supermarkts fungiert hier als Medium für die Produktion eines Kunstwerks, und durch die Auswahl der Suppendose und deren Exponierung als Kunstwerk bildet sich eine Form. Betrachten wir dieselbe Campbell’s-Dose jedoch aus der Perspektive eines Suppenfabrikanten, so handelt es sich bei der Dose im Supermarkt schon längst um Form: Aus allen möglichen Vorkommensweisen von Suppe – etwa im Kochtopf auf dem Herd, in dehydrierter Form in einer Tüte oder in einer Dose aller möglichen Marken – ist bereits eine ganz bestimmte, eben jene Campbell’s Tomatensuppe aus dem Medium „Suppen aller Art“ ausgewählt worden und wird dem Kunden angeboten. An diesem Beispiel wird überdies auch der Gedanke der funktionalen Differenzierung von Gesellschaft deutlich. Kunstsystem und Wirt215
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schaftssystem beispielsweise existieren nebeneinander, folgen jedoch unterschiedlichen Codes und beobachten somit die gleichen Objekte unter verschiedenen Parametern: interessantes Kunstobjekt auf der einen und Umsatz versprechendes Produkt auf der anderen Seite. Doch zunächst zurück zur Form „Person“. Während bisher ihre Variabilität und Perspektivabhängigkeit deutlich wurde, ist überdies ihre stabilisierende Funktion innerhalb der Gesellschaft zu betonen. Die Form „Person“ dient der Selbstorganisation des sozialen Systems und schränkt den Spielraum möglicher Verhaltensweisen ein, um so individuelles Verhalten erwartbar zu machen und Komplexität zu reduzieren 2 (Luhmann 1995: 132). So wird etwa der Künstler Markus Lüpertz häufig als „Künstlerfürst“ vorgestellt oder Joseph Beuys mit den Beinamen „Prophet“ oder „Magier“ versehen. Prophetische oder magische Züge werden dabei Beuys’ Kunst ebenso wie seinem Auftreten attestiert und auf diese Weise wird die Wiedererkennbarkeit von Kunst und Künstler sichergestellt. Dass die „Person“ Beuys innerhalb des Kunstsystems in plausibler Weise mit diesen aus dem Kontext der Religion entnommenen Attributen beschrieben wird, schließt allerdings nicht aus, dass sie noch weitere Facetten birgt: Als Teilnehmer am Religionssystem mag Beuys gläubiger Christ sein oder auch nicht, im Kontext der Politik ein Parteigründer (tatsächlich hat er Die Grünen mitbegründet) oder Vater im System der Familie. Festzuhalten bleibt, dass man sich mit der Form „Person“ auf der Ebene sozialer Systeme bewegt, die sich über Kommunikationen strukturieren. „Person“ ist ein kontextabhängiges, zeitlich variables, kommunikatives Konstrukt, das jedoch unverzichtbar ist, um individuelles Handeln – sowohl dasjenige anderer als auch das eigene – erwartbar zu machen. Doch das „stabile Erwartungsbündel“ (Weinbach 2003: 150) der Form „Person“ bleibt in einer solchen theoretischen Skizze farblos. Der Blick ist unbedingt auch auf die semantische Ebene zu richten. Was sind das für Erwartungen und Rollenverpflichtungen, die hier virulent werden? In Hinblick auf unser Thema ist es vor allem der Begriff „Künstler“, der eine Person wie Pipilotti Rist semantisch ausstattet, der Rollenmuster und Erwartungen an sie heranträgt und diese zugleich durch ihren kommunikativen Gebrauch verändert. Niklas Luhmann zufolge ist „Künstler“ weder physisches Substrat noch Leben oder Bewusstsein, sondern übernimmt „im Prozeß der Autopoiesis von Kunst eine Struk2
Des Weiteren dient die Form „Person“ der strukturellen Kopplung von Bewusstsein und Kommunikation, also der verschiedenen Systemtypen (psychischen und sozialen Systemen). Für eine detaillierte Darstellung dieses Zusammenhangs vergleiche Weinbach 2003.
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turfunktion.“ (Luhmann 1996: 87f.) Erwartungen werden damit gebündelt. Der „Verdichtungsbegriff Künstler“ ist, so Luhmann in einer anderen Formulierung, ein „Kondensat […] des Kommunikationssystems Kunst.“ (Ebd.) Zur konkreten Ausgestaltung der Semantik des Künstlerbegriffs und deren historischer Entwicklung macht Luhmann selbst in 3 seiner „Kunst der Gesellschaft“ nur wenige Andeutungen. In der kunsthistorischen Forschung und kunstwissenschaftlichen Geschlechterforschung liegen in Bezug auf diese Semantik jedoch weitreichende Ergebnisse vor, die später in einem kleinen Exkurs in den für Pipilotti Rist relevanten Aspekten vorgestellt werden sollen. Wie verhalten sich nun die Form „Person“ und der „Verdichtungsbegriff Künstler“ zur Vorstellung einer funktional differenzierten Gesellschaft, wie sie mit der Erwähnung der unterschiedlichen Systeme Kunst, Wirtschaft, Religion oder Politik bereits angeklungen ist? Luhmann geht aufgrund seiner zugrunde liegenden Beobachtertheorie davon aus, dass Gesellschaft nicht aus Individuen und deren Verhältnissen untereinander besteht, sondern aus Kommunikationen. Die Gesellschaft hat sich in verschiedene Teilsysteme ausdifferenziert, in denen Kommunikationen nach unterschiedlichen Vorgaben produziert werden. So existieren – um auf das Beispiel Joseph Beuys zurückzukommen – Kunstsystem und Politiksystem nebeneinander. Sie sind füreinander Umwelt. Während in der Politik die Kommunikationen gemäß dem Code Regierung/Opposition strukturiert sind und Parteien sowie Wählerstimmen von Interesse sind, folgt das Kunstsystem der Leitdifferenz interes4 sant/langweilig und interessiert sich auf der Ebene eines Programms beispielsweise für Kunst als Gegenentwurf zur herrschenden Gesell5 schaftsordnung. Mit dem Begriff des Programms ist ein weiteres Stichwort gefallen, das für Luhmanns Theorie sozialer Systeme und unsere Frage zentral ist. Während der Code der gesellschaftlichen Funktionssysteme stabil ist (etwa wahr/falsch für Wissenschaft oder Recht/Unrecht für das Rechtssystem), ist das Programm flexibel (Plumpe 1995: 38). Nach beiden, 3 4
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Dass etwa seit der Renaissance das Konzept für ein Kunstwerk vom Künstler selbst stammen und dieser der Urheber des Werks sein soll, ist dort zu lesen. Ebd., S. 417. Luhmanns eigener Vorschlag für den Code des Kunstsystems lautet „schön/hässlich“. Demgegenüber regen Gerhard Plumpe und Niels Werber, in erster Linie bezogen auf die Literatur als Teilsystem der Kunst, dazu an, die passendere Leitdifferenz „interessant/langweilig“ zu verwenden. (Plumpe 1995: 51ff.; Plumpe/Werber 1993: 9-43. Dies läuft auf eine Perspektive der „Polykontexturalität“ hinaus – ein wissenschaftlicher Blick, der Kommunikationen in ihrer Abhängigkeit von den verschiedenen Systemreferenzen beobachtet.
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Code und Programm, richtet sich die Kommunikation des jeweiligen Systems. Während der Code dabei grundsätzlich beim Kunstsystem nach dem Schema interessant/langweilig unterscheidet, obliegt es dem Programm, die jeweils historisch flexiblen Ausgestaltungen dessen, was denn als schön bzw. interessant wahrgenommen wird, zu beschreiben. Beispielsweise kann ein Programm des Kunstsystems das politische Engagement von Kunst schätzen und deshalb solche Kunstwerke als besonders interessant empfinden, die politische Themen aufgreifen. Für ein anderes Programm desselben Systems sind jedoch Autonomie und Selbstreferenz von Kunstwerken untrügliche Anzeichen von Qualität. Das heißt, so unterschiedliche Arbeiten wie die von Hans Haacke und Barnett Newman werden beide als interessant und somit als Kunst wahrgenommen, weil dieses Urteil aufgrund unterschiedlicher parallel existierender Programme zustande kommt. Neben diesen Programmen des Kunstsystems, mit denen die Kommunikation durch Kunst sich strukturiert und die Werke an vorhergehende anschließen, gilt der Programm-Begriff aber auch auf der Ebene des einzelnen Kunstwerks (Luhmann 1996: 328ff.). Laut Luhmann ist jedes Kunstwerk sein eigenes Programm, das sich durch das Sichtbarmachen des Unterschiedes von Werk und übergreifendem Programm als gelungen und neu erweist (Luhmann 1996: 328). Verbindungen bestehen zwischen den Metaprogrammierungen auf der Ebene des Kunstsystems als auch zwischen den Programmen der Einzelwerke. Was heißt das alles für die vermeintlich (post-)feministische Künstlerin Pipilotti Rist? Vor dem Hintergrund der hier skizzierten Theorie können wir die unterschiedlichen Perspektiven auf die Künstlerfigur Pipilotti Rist voneinander unterscheiden und in handhabbare Einzelfragen zerlegen. Zunächst wäre aus Perspektive des Kunstsystems in Hinblick auf Pipilotti Rists Werke zu fragen: Werden in den Kunstwerken geschlechtsspezifische Assoziationen geweckt oder feministische Inhalte transportiert? Welche Hinweise dafür gibt es? In welchem Verhältnis steht ein solches Programm ihrer Arbeiten zu Metaprogrammierungen des Kunstsystems? Alle diese Themen sind im Rahmen der Kunstkommunikation angesiedelt, die dem Code interessant/langweilig folgt. Wird die „Person“ Pipilotti Rist überdies im Kontext der Wissenschaft diskutiert, steht eine Plausibilisierung, warum sie denn gute und interessante Kunst macht und keine langweilige, im Vordergrund. Wahr/ falsch ist der zugehörige Code. Dabei wird die Identifikation Rists als (Post-)Feministin entsprechend der unterschiedlichen wissenschaftlichen Programme sehr verschieden gehandhabt: Während die eine wissenschaftliche Gruppierung nur auf die Qualität der Werke schaut und die Person der Künstlerin in dieses vermeintlich objektive Urteil nicht ein218
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zubeziehen sucht, ist die Künstlerfigur für eine andere Gruppierung gerade interessant. Kunstwissenschaftliche Geschlechterforschung fragt etwa danach, wie sich die Künstlerin mit ihren Arbeiten innerhalb der aktuellen Genderdebatte positioniert. Ist es vielleicht eine post-feministische Stellungnahme, die sie in ihren Arbeiten zum Ausdruck bringt? Eine andere Gewichtung setzt der Feminismus als soziale Bewegung und nimmt damit ebenfalls Anteil an der kommunikativen Konstruktion der Person Pipilotti Rist. Arbeitet Pipilotti Rist mit an einer Durchsetzung der gesellschaftlichen Gleichberechtigung der Frau? Aus dieser Perspektive ist ihre Kunst Mittel zum Zweck: Was zählt, ist der dahinter stehende „anständige“ Mensch mit den korrekten gesellschaftspolitischen Zielen. Diese Vorstellung eines mit Eigenschaften versehenen individuellen Menschen leitet auch die Kommunikationen im Kunstsystem, die über die Künstlerperson handeln. Ob Pipilotti Rist Künstlerin ist und wie sich ihre Identitätsbildung als Künstlerin und Frau vollzieht, wird unter anderem in Zusammenhang mit Authentizitätsfragen diskutiert, die in der Semantik der Künstlerfigur eine traditionsreiche Rolle spielen. Auch im ersten künstlerischen Beispiel markiert dieses authentische KünstlerSelbst eine zentrale rhetorische Figur. Die Kommunikationen über die Person Pipilotti Rist, in ihren An- und Abstoßungen zwischen Künstlersein, Frausein und (Post-)Feminismus sollen nun beobachtet werden.
Pipilotti Rist, Künstlerin Wände voller Handtaschen, Menstruationsblut, Büstenhalter oder der ins Bild gesetzte weibliche nackte Körper – die Indizien scheinen eindeutig zu sein, dass es in den Kunstwerken Pipilotti Rists um „Frauenthemen“ geht, was immer das sein mag. Anhand ihres Videos „Ever Is Over All“ aus dem Jahre 1997 soll dies erläutert werden (Abb. 1). Lächelnd und beschwingten Schrittes geht eine hübsche junge Frau in flatterndem hellblauen Sommerkleid und mit einem überdimensionierten Blütenstiel in der Hand an einer Reihe parkender Autos entlang. Und dann schlägt sie zu. Die offensichtliche Lust, mit der sie das Glas der Autoscheiben splittern sieht, und die Divergenz zwischen der Vorstellung eines nächtlichen Randalierers und der feengleichen Gestalt mit den roten Schuhen am helllichten Tag machen schmunzeln. Pipilotti Rists als „trittsicher“ und „graziös“ (Rist 1999: o.S.) beschriebenes Vorgehen scheint in dieser Arbeit visualisiert und wäre vielleicht noch um die Vokabel „schlagkräftig“ zu ergänzen. Aus Perspektive eines politisch motivierten Feminismus läge eine Deutung nahe,
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Abbildung 1: Pipilotti Rist: „Ever Is Over All“, 1997, Videoinstallation (6 Videostills)
die das Video als Ausdruck weiblicher Selbstermächtigung sieht, als – vielleicht etwas überzeichnend – radikales, schlagkräftiges Aufbegehren gegenüber patriarchalen Gesellschaftsstrukturen. Damit wäre der Fall klar. Die Künstlerin Pipilotti Rist würde mit ihrer Arbeit ein Beispiel, einen Denkanstoß geben, um das feministische Programm einer Umgestaltung der Gesellschaftsstrukturen zugunsten einer vollkommenen Gleichberechtigung der Frau voranzutreiben. Doch eine solche Eindeutigkeit wird durch den hohen Fiktionsgrad des Videos verhindert. Eine die Szenerie passierende Polizistin grüßt freundlich, der Schlagstock der Frau ist eine Blume, sie agiert nicht in Guerillamanier, sondern öffent220
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lich, und weder ein konkreter Grund noch eine extreme Wut sind als Auslöser ihrer Zerstörungslust auszumachen. Für die Untersuchungen einer kunstwissenschaftlichen Geschlechterforschung sind jedoch gerade diese irritierenden Aspekte ideale Interpretationsansätze. Die Blume als Schlaginstrument etwa könnte als Visualisierung und Ironisierung der Natur/Kultur-Dichotomie gelesen werden. Denn die Entdeckung, dass sich diese Differenz historisch herausgebildet und an die Geschlechter in der Zuordnung Mann/Kultur und Frau/ Natur angelagert hat, ist ein wichtiges Ergebnis der Geschlechterforschung. Demzufolge würde mit dem Blütenstiel als Symbol für Natur also gerade jenes Instrument zum Schlag erhoben, das bisher auch der Unterdrückung und dem Ausschluss von Frauen gedient hat. Durch die äußerst feminine Aufmachung der Darstellerin und die durch Tonspur, Farben und Licht als heiter charakterisierte Atmosphäre sind jedoch Kritik und ironisch-fröhliche Brechung dieses Frauenbildes gleichermaßen präsent. Für die Geschlechterforschung wäre Pipilotti Rists Video also Bestätigung und künstlerischer Spiegel ihrer aktuellen Forschungsdebat6 te über die geschlechtliche Codierung von Kultur und Gesellschaft. Das Programm des Kunstwerks würde mit dem Programm des wissenschaftlichen Forschungsansatzes kongruent gesetzt. Oder anders herum betrachtet: Es zeigt sich, dass die Wissenschaft nicht nur ein beobachtbares Funktionssystem darstellt, sondern dass dessen Kommunikationen auch zum Medium für die Produktion von Kunstwerken taugen. Rists Kunstwerk erzielt mit Hilfe geschlechtertheoretischer Kommunikationen Formgewinne, indem diese einen Kontextwechsel vollziehen und aus der Wissenschaft in die Kunst transferiert werden. Auch wenn wir bisher auf der Ebene des Werks verblieben sind – solche Werkdeutungen sind an der Konstruktion der Person Pipilotti Rist beteiligt. Denn der semantische Übertrag von Werk zu Leben hat Tradition. Und die Frage, ob es denn die Künstlerin selbst ist, die in ihrer Arbeit erscheint, ist für Kunstkritik und -wissenschaft von größtem Interesse. So meint etwa die Wissenschaftlerin Barbara Vinken, das Video „Ever Is Over All“ wäre weniger interessant, wenn es Pipilotti Rist selbst wäre, die darin agiert (Vinken 2002: 233). Ob sie es denn nun ist oder nicht, soll zunächst nicht verraten werden. Aber der Frage, warum die Qualität der Arbeit von der Präsenz der Künstlerin im Werk abhängen könnte, soll in einem Exkurs zum Thema Autorschaft nachgegangen werden. 6
Ähnlich liest beispielsweise die Geschlechterforscherin Elisabeth Bronfen Pipilotti Rists Video „(Entlastungen) Pipilottis Fehler“ als eine komplexe Antwort auf die psychoanalytische Hysterie-Debatte (Bronfen 2001).
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In der Kunstgeschichte ist das Leben eines bildenden Künstlers eng mit den von ihm produzierten Werken verknüpft. Diese fast schon naturalisierte Leben-Werk-Verbindung ist im Wesentlichen ein Produkt der Künstlerbiographik, die von zeitgenössischer Forschung mittlerweile als 7 ein literarisches und anekdotenreiches Genre aufgefasst wird. Bekanntester und einflussreichster Vertreter dieses Genres ist der Renaissancekünstler und Kunsttheoretiker Giorgio Vasari, der auch als der „Vater der Kunstgeschichte“ gilt. Seine im 16. Jahrhundert formulierten Lebensbeschreibungen von Künstlern prägen bis heute als strukturelle Muster die Kunstgeschichte (vgl. Vasari 1988). Dass etwa das Kunstwerk als subjektiver Ausdruck der Persönlichkeit des Künstlers aufgefasst wird, geht auf ihn zurück. Auch die Tradition, künstlerische Einflussverhältnisse in Form von Genealogien zu konstruieren, sie also nach dem Muster des Vater/Sohn- beziehungsweise Meister/Schüler-Verhältnisses zu beschreiben, hat dort ihre Ursprünge. Ein bis heute dominierendes Autorschaftsmodell versteht überdies den Künstler als ein exemplarisches Individuum – eine Vorstellung, die im Geniediskurs gipfelt. Der aus seinem Inneren heraus subjektiv-geistig schöpfende Künstler hat sich allerdings, wie feministische Kunsthistorikerinnen herausgearbeitet haben, am Beispiel des männlichen Subjekts entwickelt. Dies ist, neben dem historisch realen sozialen Ausschluss von Frauen aus dem Kunstbetrieb und der damit zusammenhängenden fehlenden „weiblichen Ahnenreihe“ (vgl. Nochlin 1996), ein Grund dafür, warum die Etablierung weiblicher Autorschaft ein Problem darstellt. Die Frau, so die feministische Forschung, ist dem Bedeutungsfeld Natur zugeordnet und in der Kunst als Muse oder Modell präsent. Der Mann hingegen wird als der Kultur angehörig verstanden und markiert als Künstler den produktiven Pol. Diese tradierte Rollenzuordnung zu überschreiten, fällt Künstlerinnen aber noch aus einem weiteren Grund schwer. Sie befinden sich im Status eines „double margin“ (Rubin Suleiman: 11f.). Was heißt das? Dem männlichen Künstler kommt seit der Renaissance ein Sonderstatus zu, der sich im Laufe der Geschichte in vielfältige Außenseiterrollen ausdifferenziert – vom Geisteskranken über den Verbrecher bis zum Eremiten, um nur einige zu nennen. Da Künstlerinnen aber bereits durch die Tatsache „Frau“ zu sein eine Außenseiterposition einnehmen, befinden sie sich als Künstlerin und Frau in einem Zustand doppelter Marginalisierung. Die Strategien der Selbstdarstellung oder Identitätsbildung müssen für Frauen also andere sein als diejenigen ihrer männlichen Kollegen. 7
Frühzeitig, nämlich bereits 1934, haben Ernst Kris und Otto Kurz in ihrem Buch Die Legende vom Künstler den genrehaften Charakter der Kunstgeschichtsschreibung betont (Kris/Kurz 1995).
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Warum wäre also, um auf die Meinung Barbara Vinkens zurückzukommen, das Video von Pipilotti Rist weniger interessant, wenn sie selbst die Frau im blauen Kleid wäre? Eine Antwort ist, dass der Verdichtungsbegriff „Künstler“ explizit die Rolle des gegen die Verhältnisse aufbegehrenden Außenseiters vorsieht und somit radikales Handeln wie dasjenige des Scheibeneinschlagens wenig überrascht. Freilich setzt man bei diesem Gedanken einen über das Kunstgeschehen informierten Betrachter voraus, der, dem Code des Kunstsystems folgend, solche radikalen Gesten als erwartbar und somit langweilig empfindet. Doch noch ein weiterer Grund mag zu Vinkens Urteil geführt haben. Denn parallel zu den skizzierten Entwicklungen einer feministischen Kunstgeschichte hat sich in den 60/70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine später so genannte „feministische Kunst“ oder „Frauenkunst“ etabliert. Sie markiert gesellschaftliche Missstände und Geschlechterdiskriminierung bei radikaler Konzentration auf den weiblichen Körper und dessen Repräsentation. Wie um sich der eigenen körperlichen Präsenz zu versichern und die Kategorie „Frau“ zu befragen, erheben viele Künstlerinnen ihren eigenen Körper zum Motiv und Thema ihrer Kunst und legen damit zugleich den Finger in die Wunde: die Reduzierung der Frau auf Körper und des Mannes auf Geist. Arbeiten von Gina Pane, VALIE EXPORT oder Marina Abramoviü wären als Beispiele für oft kämpferisch-strenge feministische Identitätsbefragungen dieser Zeit zu nennen. Wenn Rist also heute mit dem Körper in ihren Kunstwerken präsent ist, steht sie unweigerlich auch in dieser künstlerischen Tradition. Ihr Körper ist Medium zur Formierung des Kunstwerks. Und mit diesem Körper, der zugleich Körper der Künstlerin und Körper einer Frau ist, kommt eine Semantik mit ins Spiel, wie sie sich etwa angesichts feministischer Körperkunst entwickelt hat. Auch Barbara Vinken mag diese Kunstformen im Hinterkopf gehabt haben, die heute bereits als historisch und – ganz dem Imperativ der Innovation folgend – mitunter auch als überholt gelten. Dreißig Jahre später darf Pipilotti Rist nicht genauso arbeiten wie ihre Vorgängerinnen, sonst würde sie einem auf Innovation abgestellten Programm des Kunstsystems zufolge langweilige Kunst produzieren. Schaut man sich ihre Kunstwerke jedoch genauer an, sind die Differenzen in der Arbeitsweise leicht herauszuarbeiten. Weniger die eigene körperliche Identität, sondern die Befragung von Rollenklischees und Geschlechtermustern in einer lustvoll-sinnlichen Manier steht bei Rist im Mittelpunkt. Eigentlich besteht also kein Grund zur Besorgnis, mit explizit feministischen Positionen der 70er Jahre verwechselt zu werden. Umso mehr erstaunt Pipilotti Rists deutliche und wiederholte verbale Abgrenzung
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und Differenzierung. So formuliert sie in einem Interview im Rahmen eines Dokumentarfilmes: „Klar betrachte ich mich als Feministin. Jede gesunde normale Frau heutzutage muss das tun […] aber ich würde nie sagen, dass ich feministische Kunst mache, weil es das nicht gibt“ (It’s a she-thing 2000).
Und an anderer Stelle ist zu lesen: „Feministin sein heißt für mich, sich bewusst sein, dass wir Frauen eine ganz andere Geschichte haben als die Männer. Heißt, dass ich mich in meinem Leben – in meiner Kunst – um eine autonomere, weniger vom Gegengeschlecht her definierte Identität bemühe, wobei ich jedoch keine Anhängerin des weinerlichen feministischen Tons bin“ (Reich 1992: 23).
Rists eigener Beitrag an der verbalen Konstruktion der Person Pipilotti 8 Rist identifiziert sie zwar als Feministin, aber als eine, die anders ist als die anderen und auf keinen Fall „weinerlich“. Auch wird sie nicht müde, immer wieder zu betonen, dass sie deshalb oft die Darstellerin in ihren Videos ist, weil es schneller und billiger und ihr zudem peinlich sei, andere wegen Nacktaufnahmen zu fragen. Dass jedoch Rists Wunsch, lediglich „ein Prototyp von allen anderen Körpern“ (It’s a she-thing 2000) zu sein, nicht in Erfüllung geht, belegen die zahlreichen Hinweise in kunstkritischen Texten darauf, dass sie es selbst ist: „The video features the bikini-clad artist swimming in an intensely blue tropical realm“ (Ravenal 2002: 30) ist als erster Satz über ihr Video „Sip My Ocean“ zu lesen oder anderswo, wenn auch nicht den Tatsachen entsprechend, da sie keineswegs immer ihr eigenes Modell ist: „The artist is always the protoganist in her films.“ (Lux 1993: 92) Während diese Kritiker erfreut die Präsenz der Künstlerin im Werk registrieren, schlägt sich Rist, allerdings nur verbal, auf die Seite der Wissenschaftlerin Vinken: „Ich will explizit nicht als Pipilotti wahrgenommen werden, sonst verlieren die Filme an Reiz.“ (Babias 1998: o.S.)
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Pipilotti Rist ist übrigens seit 1986 der Künstlername der 1962 in Rheintal (Schweiz) geborenen Künstlerin Elisabeth Charlotte Rist, die damit ihrer Kindheitsheldin Pipi Langstrumpf, einer Romanfigur von Astrid Lindgren, Tribut zollt. Die durch diesen Namen geweckten Assoziationen lassen das Bild eines fröhlich-lauten, selbständig-starken und freiheitsliebenden Wildfangs in bunt zusammengewürfelter Kleidung vor dem geistigen Auge entstehen, der sich Konventionen widersetzt und über eine kindliche Begeisterungsfähigkeit verfügt.
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Was wir hier beobachten, ist eine feine Ausdifferenzierung der Programme. Wird die Präsenz der Künstlerin im Werk von der einen Gruppe als Verweis auf ein authentisches Künstler-Selbst goutiert, sieht die andere Gruppe genau diese Präsenz als qualitätsmindernden Umstand an. Dass der im Kunstsystem vorherrschende Zwang zur Innovation für einen solchen Perspektivwechsel verantwortlich sein kann, haben wir bereits gesehen. Doch noch ein anderer Einfluss ist zu bedenken: derjenige der feministischen Kunstgeschichte. Sie hat herausgearbeitet, wie die Vorstellung vom Künstler als genialem Schöpfersubjekt männlich codiert ist, wie die geschlechtsspezifische Rollenverteilung im Kunstsystem aussieht und warum weibliche Autorschaft also per se ein Problem darstellt. Spätestens vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse kann eine Künstlerin sich keineswegs mehr ohne Weiteres selbst ins Bild setzen. Der Künstlerin wird eine mehrfache Reflexion ihrer Arbeiten quasi aufgenötigt. Hatte bereits die historisch geprägte Kommunikationsstruktur des Kunstsystems, die stets die Frau als „Ausnahme“ vorsah, eine positive Setzung der eigenen Künstlerpersönlichkeit verhindert und die Künstlerinnen zu vermehrter Reflexion der eigenen Identität und Autorschaft veranlasst, ist es nun überdies die feministische Theorie selbst, die dies durch ihre mittlerweile verbreiteten Forschungsergebnisse einfordert. Doch jenseits solcher komplexen theoriegeleiteten Denkfiguren entsteht die Person Pipilotti Rist vor der Folie des Feminismus auch ganz handfest: in der Abgrenzung vom Klischee der Feministin als einer „unattraktiven, dominanten und humorlosen Frau.“ (Morgan 2002: 26) Auf visueller Ebene ist es Rists Erscheinungsbild und Auftreten – sowohl in den Medien als auch als Protagonistin ihrer Arbeiten –, das eine deutliche Stellungnahme abgibt. Die Fotocollage „Me As a Human Being“ aus dem Jahre 2000 gibt einen Überblick über Pipilotti Rists „Looks“ der letzten Jahre (Abb. 2). Rist hat 120 Porträtfotos gleichen Formats Bildkante an Bildkante symmetrisch zu einem Rechteck arrangiert, die, laut Bildtitel, sie selbst als Mensch zeigen. Die Verschiedenheit der Aufnahmen fasziniert und verblüfft: Die strahlendschöne, perfekt geschminkte und gut ausgeleuchtete Dame mit den blaugrauen Haaren soll die gleiche sein wie die junge Frau auf dem Schwarzweißfoto, die ungeschminkt und ungekämmt recht ernst und etwas müde in die Linse des Fotofix-Automaten blickt? Und diese ist wiederum mit jener Frau identisch, die, im John-Lennon-Look, unter einem dunkelbraunen Bubikopf durch eine blau getönte Brille schaut?
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Abbildung 2: Pipilotti Rist: „Me As a Human Being“, 2000, 120 Fotografien (Ausschnitt)
Die „schönen“ Porträtfotos sind deutlich in der Überzahl und legen nahe, dass nicht nur Rists Arbeiten fröhlich, bunt und sinnlich daherkommen, sondern auch die Künstlerin selbst nicht zur Fraktion der strengen und verbitterten Frauen mit lila Halstuch und Strickpullover gehört – um im Klischee zu bleiben. Post-Feminismus wäre auf dieser Ebene die Lust an Verkleidung und Stilwechsel, an bunt-leuchtenden Kleidungsstücken und wechselnden Haarfarben sowie ein offensives 226
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Präsentieren der eigenen Weiblichkeit und das Bekenntnis „schön“ sein zu wollen. Dass dieser Wunsch mit einer gehörigen Portion Selbstironie versehen ist, daran lassen auch andere Fotografien keinen Zweifel:
Abb.3 Pipilotti Rist: Selbstporträt (Fotografie)
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SABINE KAMPMANN 9 Ein gut ausgeleuchtetes „Star-Porträt“ (Abb. 3) der Künstlerin zeigt sie perfekt geschminkt mit großen blauen Augen – Ton in Ton mit den in die Stirn fallenden Pony-Fransen – in die Kamera blickend. Pipilotti Rist als strahlendes Cover-Girl – wäre da nicht dieses lächerliche Propellerhütchen aus Pappmaschee auf ihrem Kopf, auf dem in groben Pinselstrichen „Dernier cri“, der letzte Schrei, gemalt ist und das so mit Worten den modischen Gehalt dieses Accessoires zu beglaubigen versucht. Auf verbaler Ebene klingt diese Positionierung Pipilotti Rists wie folgt:
„Ich freue mich, dass ich eine Frau bin. […] Ich finde Geschlechterdifferenz supergut […] die ganze angewandte Frauenkultur, Schminken, Schmücken, Verhüllen […] Feminismus ist für mich ein Kampf um gleiche Rechte und gleiche Löhne“ (Babias 1998: o.S.).
Sie ist also Post-Feministin insofern, als sie sich von Erscheinungsbild und Auftreten der Klischee-Feministin deutlich abgrenzt, dabei aber zugleich Relevanz und Ziele eines gesellschaftspolitisch engagierten Feminismus unterstützt. Mit dieser Kommunikation des „Sowohl-alsauch“ hängt es zusammen, dass Rist sowohl in feministischen Kontexten als auch in der Welt der Mode und Popkultur Diskussionsgegenstand ist. Paradigmatisch hierfür ist die Tatsache, dass fast zeitgleich Beiträge über die Künstlerin in den Zeitschriften Emma und Vogue erschienen: 1998 ein großer Beitrag in der von Alice Schwarzer herausgegebenen feministischen Zeitschrift Emma und ein Jahr später in dem Mode- und Lifestyle-Hochglanzmagazin Vogue. Im System der Wissenschaft wird mitunter jene epistemologische Wende in der Geschlechterforschung mit Post-Feminismus belegt, die sich seit den 90er Jahren vollzieht: Nicht nur der Begriff der „Frau“ wird als Identitätskategorie und Sammelbegriff in Zweifel gezogen, auch der Vorstellung eines fixen biologischen Geschlechts und dem zuvor etablierten Sex-Gender-System wird nun misstraut (Waniek/Stoller 2001: 12). Die so genannte heterosexuelle Matrix „subversiv zu unterlaufen“ wird nun – spätestens nach Butlers Lob der Travestie – zur Königsdisziplin erhoben; auch in der Kunst. Pipilotti Rists Wandlungsfähigkeit liegt ganz auf dieser Linie – während ihrer Zeit als künstlerische Leiterin 9
Das Porträt ist unter anderem in Pipilotti Rists Künstlerbuch „Himalaya“ abgedruckt. Dort ist es kombiniert mit einem anderem Rist-Porträt, das sie unfrisiert und ungeschminkt zeigt, so dass der aus Frauenzeitschriften bekannte Stil des „Vorher-Nachher-Bildes“ assoziiert wird. Ausst.-Kat. Himalaya: Pipilotti Rist, 50 kg. Kunsthalle Zürich/Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris. Köln: Oktagon 1999, o. S.
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der Schweizer Expo favorisierte sie sogar ein absolut männliches Erscheinungsbild: mit kurzen braunen Haaren und in Helmut Lang-Anzügen. Während Rist also aus dieser Perspektive eine Post-Feministin par excellence ist, widerspricht jedoch ihre Äußerung „ich finde Geschlechterdifferenz supergut“ der Gleichheitsutopie, die auch einem wissenschaftlichen Post-Feminismus nach wie vor zugrunde liegt. Oder vielleicht doch nicht? Denn schließlich sagt sie dies als eine Person, die als Künstlerin Werke produziert, die diese Differenz humorvoll überzeichnen und subvertieren. Interessant ist nun, dass die Programme einer wissenschaftlichen Geschlechterforschung und des Kunstsystems Korrespondenzen eingehen. Die wissenschaftliche Kritik an einer stark abgrenzenden Frauenförderung und -forschung wird in Bezug auf die Kunst umformuliert zur Klage einer Selbst-Isolation der Frauen in der Kunst. Wenn feministische Kunst bedeutet, dass Frauen Kunst über Frauen für Frauen machen, dann wird zu Recht der Vorwurf einer Förderung von „Ausnahmen“ (die man ja nicht sein will) erhoben und die geringe Reichweite dieser Kunst wird kritisiert. Deshalb sind kunstwissenschaftliche und -kritische Texte bemüht, die Differenz der Arbeiten Pipilotti Rists zu einer derart sich selbst ghettoisierenden „Frauenkunst“ herauszustellen: Sie „thematisiere das eigene Frausein, ohne in der Schublade Frauenkunst zu landen“, verfolge „keine primär weibliche, sondern eine künstlerische Strategie“ (Doswald 1994: 32) und überhaupt würden ihre Arbeiten sowohl Männern als auch Frauen Identifikation ermöglichen (Ziegler 1998: 82). Ach ja, ist sie denn nun selbst das elfengleiche Geschöpf in dem Video „Ever Is Over All“? Wohl wissend um den personality appeal (Babias 1998: o.S.) des Künstlerkörpers im Werk, gibt uns Pipilotti Rist im Anhang eines ihrer Kataloge die Antwort (Abb. 4). Unter einer kleinen Abbildung zum Entstehungsprozess von „Ever Is Over All“ ist zu lesen: „l. to r., Silvana Ceschi, Pipilotti Rist“ – Rist ist also die dunkel gekleidete Person mit Mütze, Brille und Kamera auf der rechten Seite. Na, dann ist ja alles gut – auch das Video.
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Abbildung 4: Produktionsprozess von Pipilotti Rist: „Ever Is Over All“, 1997 in Zürich
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„…keine Selbstbespiegelung“. 1 Hannah Höchs visuelle Autobiographie Lebensbild ALMA-ELISA KITTNER
1. Leerstellen Lebensbild, der Titel dieser letzten großen Fotocollage von Hannah Höch ist programmatisch. In dem hochkomplexen Werk aus den Jahren 1972/73 hält Hannah Höch, die vor allem als Berliner Dadaistin bekannt ist, als 83-Jährige Rückschau auf ihr Leben und Werk (Abb. 1). Das Lebensbild ist meiner Ansicht nach als eine visuelle Autobiographie zu verstehen, in der Hannah Höch über das Medium Collage, das „graphein“, eine Spannung zwischen dem „Auto“, dem dargestellten Selbst der Künstlerin, und dem fluktuierenden „Bios“ der repräsentierten Lebensstationen entstehen lässt. Höch verhandelt dabei in äußerst vielschichtiger Weise die Kategorien des Privaten und Öffentlichen, von Realität und Fiktion, individueller und kollektiver Autorschaft, so dass ich an dieser Stelle nur ausgewählte Aspekte daraus zur Sprache bringen kann. Mit dem Topos des eigenen Lebens nimmt das Lebensbild eine Ausnahmestellung im Werk Hannah Höchs ein. Gerade in ihren Collagen und Montagen sind direkte Selbstdarstellungen von Höch äußerst selten. So lugt in der Montage Meine Haussprüche (1922) das fotografische Brustportrait der Künstlerin hinter dem Textfragment eines Goethezi
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In leichter Abwandlung einer unveröffentlichten Privatnotiz Hannah Höchs, Berlinische Galerie, BG HHC H 2234/79: „Ich hatte, bei diesem Original-Foto-Bild an Landschaft, Stilleben, Weltanschauliches [...] gedacht [...] in Zusammenarbeit mit einem Fotografen aber – nicht an eine Selbstbespiegelung.”
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Abbildung 1: Hannah Höch; Lebensbild, 1972/73, Fotocollage, 130 x 150 cm. © Sammlung Orgel-Köhne, Berlin
tats hervor. In der Collage Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands (1919/20) (Abb. 2) ist Hannah Höchs frei schwebender Kopf kaum sichtbar neben das Profil Raoul Hausmanns platziert. Anders im Lebensbild: Großformatige Portraits der Künstlerin verteilen sich als Leitmotiv über die ge2 samte Collage. Kleinkindportraits und Familienportraits, Doppelpor
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Höch bezeichnet das Lebensbild in ihrer Nummernliste zu den 103 Motivkomplexen als „Collage“. Nummernliste in dem Künstler-Archiv der Berlinischen Galerie, BG HHC H2235/79. Der Einfachheit halber übernehme ich den Begriff von Höch, weil es der kunsthistorischen Definition von Collage in Abgrenzung zur Montage bis heute an Trennschärfe fehlt. Eine Neudefinition würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. In einem Hannah Höch-Zitat aus dem unveröffentlichten Tonbandprotokoll von Liselotte und Armin Orgel-Köhne, das 1973 in mehreren Interviews zu der Collage Lebensbild entstanden ist, heißt es außerdem: „Da sind nur Collagen drin. [...] Fotografierte. [...] Hier wird nur Person Höch mit Collage. Das wird ein Collagebild – und alle Arbeiten, die hineinkommen, müssen Collage sein. [...].” Ich danke Liselotte und Armin Orgel-Köhne sehr herz-
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HANNAH HÖCHS VISUELLE AUTOBIOGRAPHIE „LEBENSBILD“
Abbildung 2: Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschland, 1919/29, Fotocollage 114 x 90 cm. © VG Bild-Kunst, Bonn 2005
traits mit ihren Lebenspartner/innen Raoul Hausmann oder Til Brugmann und Altersportraits fächern die verschiedensten Lebensalter und Lebensstationen der Künstlerin auf. Zum größten Teil stammen diese Fotos aus Höchs Privatbesitz; für die Collage Lebensbild wurden sie abfotografiert. Im linken oberen Viertel jedoch sind die Portraits weniger zahlreich, da Höch hier ihr Montagen- und Collagenwerk in Form von abfotografierten Zitaten darstellt. Es ist ein Querschnitt aus allen Arbeitsphasen von 1919 bis 1967, der als „Insel“ wie Margarete Jochimsen es nennt, „in einem Meer von Anspielungen auf Dinge und Ereignisse [liegt], die ihr wichtig waren“ (Jochimsen 1991: 170). So verknüpft Höch die Rückschau auf ihr Leben mit einer indirekten Retrospektive auf ihr Werk. Doch zeigt sie nicht nur ihre eigenen Arbeiten, sondern auch die Werke anderer Künstler/innen. Denn Höch stellt sich im Lebensbild lich für ihre stete Bereitschaft, mir notwendige Informationen zu dem Lebensbild zu geben und mir ihr unveröffentlichtes Privatarchiv zur Verfügung zu stellen.
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auch als Sammlerin dar. Das Element „Die kleine Galerie“ (Abb. 3) zeigt ihre Expressionismus- und Dada-Sammlung in ihrem Haus in Berlin/Heiligensee, in gerahmter Form an der Wand in ihrer Hängung nach 1945. Eine andere ihrer zahlreichen Sammlungen wird durch die Fotografien ihrer sogenannten „Raritätenstücke“ repräsentiert. In dem „Rarit”, ihrer privaten Wunderkammer, sammelte Höch alles , „[…] was sie interessierte, affizierte, inspirierte“, darunter Wertvolles und „Wertloses, Andenken, Objets trouvés, Mögliches und Unmögliches.“ (KellerWoelfle 1991: 288). Höch lässt sowohl diese Objekte als auch ihre biographischen Dokumente aus ihrem privaten Fotoarchiv abfotografieren und vergrößern und stellt diese Privatfotos in den öffentlichen Kontext einer Collage. Zusammen mit ihrem Collagen- und Montagenwerk und anderen Themenkreisen wie Technik, Natur oder historisch prägenden Ereignissen verdichtet sie diese vielfältigen Elemente zu einem „Lebenskosmos“ (Dech 1991: 41). Auf diese Weise entstehen 103 von ihr benannte Motivkomplexe, die sie in einer Liste nach ihrer eigenen Zähl3 weise nummeriert und genau bezeichnet. Das Lebensbild ist daher ein signifikantes Beispiel für eine künstlerische Selbstdarstellung über die Inszenierung autobiographisch konnotierter Selbstzeugnisse. Gleichzeitig ist es die komplexeste und größte, mit den Maßen 130 mal 150 Zentimetern eine geradezu monumentale Collage von Hannah Höch, die laut ihrer eigenen Aussage für den Museumsraum bestimmt 4 ist. Vergleichbar ist sie damit nur mit ihrer Epochalcollage Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands, die ihren Platz in der Neuen Nationalgalerie in Berlin hat. (Abb. 2) Eine der ersten und wenigen Annäherungen an das Lebensbild stammt von Jula Dech und schließt nicht zufällig an deren ausführliche Analyse von Schnitt mit dem Küchenmesser an (Dech 1989: 71-77). Etwas später stellt Dech zwischen den beiden großen Collagen explizit einen direkten „Vergleich […] von Unvergleichlichem“ an (Dech 1991: 28), auf den ich noch zurückkommen werde. Schnitt mit dem Küchenmesser, die Inkunabel des Dada, ist bis heute die bekannteste Arbeit von Hannah Höch. Mit ihr ist Höch als einzige Frau 1922 in der „Ersten Internationalen Dada-Messe“ vertreten (ebd.: 5); und mit ihr ist sie in den Kanon der Kunstgeschichte aufgenommen worden. Dies geschieht erst weit nach dem Zweiten Weltkrieg, den sie als sogenannte „entartete“ Künstlerin – als solche wird sie in Willrichs berüchtigter Schmähschrift „Säuberung des Kunsttempels“ 1937 ge
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Vgl. Anmerkung 2. Aus dem unveröffentlichen Tonbandprotokoll von Liselotte und Armin Orgel-Köhne,1973. Vgl. Anm. 1.
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Abbildung 3: Hannah Höch, Lebensbild, 1972/73, Fotocollage, 130 x 150 cm. © Sammlung Orgel-Köhne, Berlin. Detail: Die kleine Galerie
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nannt – in Berlin/Heiligensee überlebt, einem Ort am äußersten Nordrand Berlins, an den sie sich zurückzieht, um „möglichst nachhaltig vergessen zu werden“ (Ohff 1968: 8). Im Zuge der Renaissance des Dadaismus durch die Pop Art ist sie schließlich seit den 50er Jahren als Collagistin und Malerin nicht wiederentdeckt worden, wie Karoline Hille zu Recht bemerkt, sondern zum ersten Mal überhaupt wahrgenommen worden (Hille 2000: 13). Es folgt eine umfangreiche Ausstellungstätig6 keit mit retrospektiven Ausstellungen in New York, Paris und Berlin, 1968 erscheint eine erste Monographie von Heinz Ohff und schließlich wird ihr ein Jahr vor ihrem Tod, 1977, eine Ehrenprofessur an der Akademie der Künste in Berlin verliehen. So wird Hannah Höchs künstlerische Arbeit, wenn auch spät, noch zu ihren Lebzeiten gewürdigt. Dennoch werden Werk und Vita bis in die 80er Jahre hinein auf ihre relativ kurze, wenn auch prägende dadaistische Phase reduziert. Das entbehrt nicht der Ironie – wurde doch in dieser Zeit ihre Dazugehörigkeit zum Dadazirkel trotz ihrer umfangreichen, dadaistisch inspirierten und inspirierenden künstlerischen Produktion immer wieder radikal in 7 Frage gestellt, teils sogar bekämpft. Diese eindimensionale Wahrneh5 6
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Höchs Gemälde Journalisten wurde darin diffamiert. Die nationalsozialistische Hetzschrift befand sich in ihrer Bibliothek. Ein großer Teil des mehr als zehntausend Positionen umfassenden Archivbestandes der Nachkriegszeit bezieht sich laut Burmeister auf die große Ausstellungsaktivität Höchs mit insgesamt 149 Ausstellungen im In- und Ausland. Burmeister 2001: 16. Dies lag einerseits an ihrer äußerst problematischen Liebesbeziehung mit Raoul Hausmann, wie Höch deutlich in Ohffs Monografie beschreibt: „Meinen persönlichen Beziehungen zu den Berliner Dadaisten waren durch die Autorität Hausmanns Grenzen gesetzt [...]“. Ohff 1968: 25. Andererseits sprechen sich einige Mitglieder der Berliner Dadaisten gegen Höchs Beteiligung an der „Dada-Messe“ aus – wie gegen Kurt Schwitters‘ – weil ihren Collagen und Montagen weniger beißender Spott, sondern
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mung in Bezug auf ihr Werk liegt unter Anderem an der schon erwähnten Neurezeption des Dada in Europa und den USA; auch die Reduzierung ihrer Biographie auf die dadaistische Zeit hängt damit zusammen, dass sie als eine der wenigen Zeitzeuginnen des Dadaismus in Deutschland auftreten konnte. Die meisten der ehemaligen Dadaisten und Dadaistinnen waren in der Zeit des Nationalsozialismus geflüchtet wie ihr früherer Lebenspartner Raoul Hausmann, der in Frankreich lebte; andere wie Kurt Schwitters waren im Exil gestorben. Die Künstler/innen waren zerstreut, ihre Werke verschollen oder zerstört. Deshalb war es für die Neubewertung der dadaistischen Bewegung umso bedeutsamer, dass Höch als Besitzerin zahlreicher Dada-Arbeiten und -dokumente ihre Leihgaben für etliche Ausstellungen zur Verfügung stellen konnte: Denn den Nationalsozialismus und den Krieg überlebte nicht nur sie mit ihren Arbeiten, sondern auch ihre Privatsammlung aus Kunstwerken, Fotografien, Briefen und zahlreichen anderen Dokumenten ihrer Künstlerfreunde Schwitters, Arp, Hausmann, Friedlaender oder Segal, um nur eine kleine Auswahl zu nennen (Burmeister 2001: 18f.). Sie befindet sich heute als eines der größten Dada-Archive im Besitz der Berlinischen Galerie, die in langjähriger beharrlicher Erschließung den Höchschen Nachlass wissenschaftlich bearbeitet, kommentiert und in drei umfang8 reichen Bänden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Nur eines der zahlreichen, an dieser Stelle jedoch umso bedeutsameren Verdienste dieser Archiv-Edition besteht darin, das Lebensbild knapp dreißig Jahre nach seiner Entstehung 1972/73 zum ersten Mal als 9 Farbabbildung veröffentlicht zu haben. Bis dahin existierten nur wenige, teils angeschnittene Schwarz-Weiß-Abbildungen in völlig unzureichender Qualität, auf denen der farbliche Rhythmus des Untergrundes nicht sichtbar ist. Nichtsdestotrotz war das Lebensbild bisher in zahlreichen großen Ausstellungen zu sehen; doch hat dies kaum eine wissen10 schaftliche Resonanz nach sich gezogen. Bis heute hat die kunsthistolaut Hille vielmehr hintergründige, dabei nicht weniger kritische Ironie zu eigen ist. Hille 2000: 14, 166. In den 60er Jahren versucht Raoul Hausmann, der darauf bedacht ist, sich selbst als Erfinder der Fotomontage und Begründer von Dada zu glorifizieren, in geradezu beleidigenden Briefen an Hannah Höch, ihren Beitrag zu Dada als völlig unbedeutsam zu erklären. Fürlus 2001: 93ff. 8 Künstler-Archive der Berlinischen Galerie (Hg.): Hannah Höch. Eine Lebenscollage. Bd. 1 (1989): Berlin: Argon; Bd. 2 (1995): Berlin/OstfildernRuit: Hatje; Bd. 3 (2001): Berlin. 9 Künstler-Archive der Berlinischen Galerie 2001, Dritter Band. 10 So wurde es 1976 in Paris (Musée d’Art Moderne de la Ville) und Berlin (Neue Nationalgalerie) gezeigt, 1977 erneut in New York (Goethe-Institut), in einer Retrospektive und später in einer „Lebensbild“-Ausstellung in ihrer Heimatstadt Gotha im Schlossmuseum (1994 und 1998),
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rische Forschung das Lebensbild in geradezu verblüffend kontinuierlicher Weise vernachlässigt. Die feministische Kunstgeschichte indes hat seit den 80er Jahren zumindest die Reduzierung Hannah Höchs auf den Dadaismus korrigiert und ihr malerisches Werk sowie ihre Collagen nach 1945 in den Blick genommen. Einzelne Positionen wie die Eberhard Roters‘ versuchen, das Gesamtwerk Höchs in allgemeine Prinzipien zu fassen und nicht auf eine Zeitspanne zu reduzieren (Roters 1990: 175 ff.). Doch nur innerhalb weniger Aufsätze – wie von Margarete Jochimsen, Jula Dech und jüngst von Karoline Hille in dem dritten Teil der Archiv-Edition – wird das Lebensbild erwähnt und etwas eingehender analysiert (Dech 1989 und 1991; Jochimsen 1991; Hille 2001). Der Komplexität der Collage ist auch die feministische Kunstgeschichte bisher nicht gerecht geworden. Dementsprechend blieben die Versuche der Privatbesitzer/innen, das Lebensbild an ein Museum zu verkaufen und ihm damit nicht zuletzt einen öffentlichen Raum zu geben, bis heute erfolglos. Ohne die vielfachen Ursachen dafür an dieser Stelle klären zu wollen, liegt eine davon sicher in der wissenschaftlichen Leerstelle, die von den Kunsthistorikern und Kunsthistorikerinnen bis heute nicht gefüllt worden ist. Aus diesem Grund ist die Fotocollage Lebensbild, die in ihrem Format und ihrer Konzeption auf eine Öffentlichkeit zielt, eben dort schwer wahrnehmbar. Sowohl Ankaufs- und Abbildungspolitik als auch das Versäumnis der Kunstgeschichte generieren die Leerstelle. Dieser Aufsatz stellt den Beginn dar, eine Öffentlichkeit für die Fo11 tocollage Lebensbild herzustellen. Er sucht eine Lücke zu füllen und steht damit in der Tradition eines feministischen, wissenschaftskritischen Ansatzes, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die Ränder der Kunstgeschichte sichtbar werden zu lassen und damit eine Verschiebung von Zentrum und Peripherie in Gang zu setzen. Die Analyse selbst soll jedoch nicht dazu dienen, die kunsthistorischen Defizite in Bezug auf das Lebensbild mit Hilfe eines nachgetragenen Meisterdiskurses einzuholen. Vielmehr soll sie Hannah Höchs spezifische Strategie transparent werden lassen, mit der sie einerseits ein selbstbewusstes Autorschaftskonzept verfolgt und es andererseits ebenso stark destabilisiert. Beide Perspektiven von Zentrierung und Dezentrierung sind meiner Ansicht nach notwendig und schließen einander keinesfalls aus. Das Gegenteil ist der 1996/97 in einer Wanderausstellung in Minneapolis (Walker Art Center), New York (Museum of Modern Art) und Los Angeles (County Museum of Art) und zuletzt 2004 in Madrid (Museo de Arte Reina Sofía). 11 Ich verweise auf meine noch zu veröffentlichende Dissertation „Visuelle Autobiografien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager“, deren Grundlage die Analyse der Collage Lebensbild bildet.
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Fall: Ersteres, die Sichtbarkeit der Collage, ist die Bedingung für die Möglichkeit, das Zweitere zu tun.
2. Die Entstehung: Strategie der Zusammenarbeit Nicht nur durch sein Format und die Thematik, sondern auch durch seine Entstehungsweise und seine Materialien hebt sich das Lebensbild von allen anderen Collagen Hannah Höchs ab. Statt mit Reproduktionen aus Illustrierten und Zeitschriften arbeitet die Künstlerin hier mit schwarzweißen „Originalfotos“, wie sie die manuell hergestellten Abzüge auf 12 Fotopapier nennt. Die Möglichkeit zu einer Collage mit „Originalfotos“ erhält Hannah Höch durch die Zusammenarbeit mit dem Fotografenpaar Liselotte und Armin Orgel-Köhne. Sie liefern ihr die Reproduktionen, Ausschnitte, Vergrößerungen und Verkleinerungen, die sie braucht – denn erstmals benutzt die Künstlerin hier Fotografien, die sowohl aus ihrem Privatbesitz als auch aus anderen privaten Quellen stammen: Bilder von Freunden, Partnern, der Familie und Bilder vom Heiligenseer Haus und Garten, die die Orgel-Köhnes unter Höchs Regie herstellen, bilden die eine Seite des Materials; der andere Teil besteht aus Fotografien verschiedenster Collagen und Montagen aus Höchs reichhaltigem Werk. Die Portraits der Künstlerin aus der Entstehungszeit der Collage sind zum größten Teil anlässlich der Höch-Ausstellung 1971 in der Akademie der Künste entstanden und haben daher ursprüng13 lich eine eher repräsentative und dokumentatorische Funktion. Bei einer der nachfolgenden Begegnungen regten die Orgel-Köhnes die Künstlerin an, ein Selbstportrait in Collageform zu realisieren; das not14 wendige Fotomaterial, so ihr Angebot, würden sie liefern. Zu dieser Idee und der tatsächlich daraus resultierenden Zusammenarbeit äußert Höch in Privatnotizen zu einem geplanten Gespräch mit den Orgel-Köhnes:
12 Höch nennt in ihrem Exemplar der Erklärungen zu den einzelnen Motivkomplexen das Lebensbild eine „Collage mit Original-Fotos“. Berlinische Galerie, BG HHC H 2235/79. Vgl. Anmerkung 2. 13 Es handelt sich um die Ausstellung „Hannah Höch: Collagen aus den Jahren 1916-1971“ in der Akademie der Künste, Berlin, 25.5.-7.7.1971. 14 Johannes Freisel vom WDR beauftragte Liselotte und Armin OrgelKöhne, für ein Buchprojekt Aufnahmen von Hannah Höch zu machen. Aus dem unveröffentlichten Privatarchiv von Liselotte und Armin OrgelKöhne zur Entstehungsgeschichte der Collage.
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„Als Sie mir den Vorschlag machten doch mal eine Collage von den von Ihnen gemachten Fotos zu machen, […] – da war ich hocherfreut. Nicht weil ich darin eine Chance glaubte mich zu glorifizieren – im Gegenteil, es schränkte meine Freude wesentlich ein. Ich hatte, bei diesem Original-Foto-Bild an Landschaft, Stilleben, Weltanschauliches […] gedacht […] in Zusammenarbeit mit einem Fotografen aber – nicht an eine Selbstbespiegelung. Als Sie mir aber […] reiches Material schickten, ich hatte die Bitte an Sie gerichtet mir FotoAbfälle jeder Art mit beizulegen, war ich entzückt und wusste – nun kann ich mir doch noch den Wunsch erfüllen mit künstlerischem Maßstab – an eine Original Fotomontage [sic], oder Collage, heranzugehen, der Wunsch, der bis15 her immer am Fehlen eines Fotopartners gescheitert war.“
Doch nicht nur Höchs Idee einer Collage mit Originalfotos konnte sich in der Zusammenarbeit mit den Orgel-Köhnes erfüllen. Ein undatierter Entwurf, vermutlich aus den 20er Jahren, belegt, dass Höch schon sehr viel früher an ein Selbstportrait aus Fotografien dachte. Die kleinformatige Bleistiftzeichnung zeigt auf einem orthogonal strukturierten Liniengerüst eine konstruktivistisch stilisierte Kopfform mit den für Höch charakteristischen Stirnfransen. Darunter ist zu lesen: „Kopf gefüllt mit Fo16 tos, Person Höch, Hintergrund Collagen.“ Ein weiterer Entwurf reicht noch näher an das Lebensbild heran, denn ab Ende der 60er Jahre plant Höch eine Collage, die nahezu dasselbe Format wie das Lebensbild haben sollte: ein Querformat von 135 x 150 Zentimetern. In einer Mappe mit dem Titel „Vorbereitetes für neue grosse Collage“ ordnet und benennt Höch die Seiten eines „Life“-Magazins (von 1960) und mehreren Ausgaben der Zeitung „Die Welt“ (von 1969/1970) nach Schwerpunkten, die sie später im Lebensbild realisiert: „1 Alter Tod 2 Astronautik […] 7 Kunst […] 10 Mikrokosmos […] 12 Pflanzen Blumen […] 14 Politik 15 Religion […] 19 Technik 20 Tiere […] 22 Weltraum, Erde, 17 Mond […] Gesichtsteile, Augen, Münder“. Genau diese Themen verknüpft Höch mit ihrer Selbstdarstellung – vom Tod in den beiden Weltkriegen über die Mondlandung bis hin zur Entdeckung des Atoms reicht das Spektrum des „Weltanschaulichen“. Das Motiv „Person Höch“, der Gedanke einer Collage aus Fotografien und nicht aus Illustrierten, der Entwurf einer großformatigen Collage mit übergeifenden Themen: Im Lebensbild führt Höch 1972/73 diese Ideen zusammen. Um die Fotografien aus verschiedenen Zeiten und Quellen miteinander zu verbinden, beauftragt sie die Orgel-Köhnes mit den Reproduktio15 Unveröffentlichte Privatnotiz Hannah Höchs, Berlinische Galerie, BG HHC H 2234/79, vgl. Anm.1. 16 Der Entwurf befindet sich in der Berlinischen Galerie, Graphische Sammlung. (Ohne Titel, ohne Datum, Bleistift auf Pergament, 21,5 x 20,9 cm.) 17 Hannah-Höch Archiv, Berlinische Galerie, BG HHC G229/79
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nen der Privatfotos; außerdem fotografieren sie Stilleben aus ihrem „Rarit“. Das verwendete Fotomaterial erhält eine Einheitlichkeit, weil die Orgel-Köhnes die gesamten Fotografien auf dem gleichen warmtonigen Papier abziehen. Trotz der Heterogenität der Bilder entsteht auf diese Weise eine Homogenität der Oberfläche, die durch die Reproduktion in der hier gezeigten Abbildung noch verstärkt wird. Im Original sind die Schnittkanten der einzelnen Fotografien und Montagen jedoch deutlich sichtbar. In der Nummernliste zu dem Lebensbild bezeichnet Hannah Höch die vielfältigen Elemente: „Höch auf dem Dada-Ball 1921“, „Aus der Collage Strauß“ oder „An der Wildbahn 33“ (ihre Adresse in Berlin/Heiligensee) sind Benennungen, die auf den Dokumentationscharakter der Collage verweisen. Doch andere der 103 benannten Themenkomplexe lauten auch: „H.H.?“ (die Montage des Höch-Körpers mit einem Seehund-‚Gesicht‘ in der linken Hälfte), „H.H. sieht nun doppelt“ (der vieräugige Höch-Kopf, der aus dem Fernsterrahmen ragt) oder „H.H. auf dem Mond“ (eine Montage, die Höch neben Neil Armstrong 18 auf dem Mond zeigt ). Allein diese Benennungen verdeutlichen das Spannungsverhältnis im Lebensbild von Dokument und Montage, von Sachlichkeit und ironischer Selbstdistanz. Die eigene Vita als Fakt und Fiktion zu thematisieren ist eine Form künstlerischer Selbstdarstellung, die hauptsächlich in der Literatur existiert: Die Rede ist von der Autobiographie. In der Kunstgeschichte dagegen ist das klassische Genre der Selbstrepräsentation das Selbstportrait. Hannah Höchs Fotocollage Lebensbild, so werde ich nachfolgend zeigen, oszilliert zwischen beidem.
3. Das Lebensbild zwischen Selbstportrait u n d v i s u e l l e r Au t o b i o g r a p h i e Auf dem ersten Blick scheint das Lebensbild vom Horror Vacui geprägt zu sein – darin ist es wiederum vergleichbar mit der Collage Schnitt mit dem Küchenmesser. Die zunächst verwirrende Vielzahl heterogener Elemente scheint miteinander verkoppelt zu sein und gleichzeitig parataktisch nebeneinander zu stehen. Eine Ordnung ist zunächst nicht zu entdecken. Dennoch ist sowohl in der Anordnung als auch in der Form der Elemente selbst eine orthogonale Struktur des Bildes erkennbar. Die 18 Höch hatte den Orgel-Köhnes in Auftrag gegeben, NASA-Aufnahmen der Mondlandung zu besorgen und eine Fotografie, die sie durch eine Lupe schauend zeigt, hineinzumontieren. Diese fotografische Montage hat Höch wiederum durch eine hineinmontierte Doppelung zugespitzt.
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Schwarz-Weiß-Fotos sind häufig nicht angeschnitten, sondern wahren ihr quadratisches Format – zumindest wirkt es so. Sie werden teils von geometrischen Farbflächen hinterfangen, teils durch Farbstreifen und Farbquadrate voneinander abgegrenzt oder verbunden. Bei näherem Hinsehen schält sich aus der Komplexität und Heterogenität eine Komposition heraus. Horizontale und vertikale Grenzen bilden sich durch die Farbstreifen zwischen den Fotografien oder durch Fotoabschlüsse und -kanten, die auf einer Linie liegen. Auf diese Weise sondert eine fast durchgehende horizontale Linie das untere Viertel der Collage von ihrem oberen Teil ab. Eine leichte Entsprechung dazu befindet sich im oberen Teil: Hier beginnt eine horizontale Linie bei dem zitierten Bild Die Braut, läuft an dem Profil-Portrait der 42-jährigen Hannah Höch vorbei und endet an der oberen Kante des Kleinkindportraits (Abb. 4). Diese beiden Horizontalen werden links und rechts durch zwei Vertikalen verbunden, so dass sich ein Rechteck herauskristallisiert (Abb. 5). Man kann die rechte Schmalseite der Vertikale in einer erweiterten Form des Rechtecks mit dem Kinderfoto enden lassen oder aber nach links versetzen – diese auch kompositionelle Mehrdeutigkeit ist konstitutiv für die Collage Lebensbild. In der erweiterten Lesart des Rechtecks werden vier große Portraits Höchs miteinander verklammert: das mittige Portrait Hannah Höchs als alter Frau, darüber die reproduzierte Profilaufnahme, die Raoul Hausmann von ihr machte, rechts das Kleinkindporträt und darunter die 35jährige Künstlerin. Höch spielt hier möglicherweise auf das kunsthistorische Sujet der drei Lebensalter an. Zwischen diesen Portraits liegen wiederum vier ähnlich symmetrisch angeordnete Fotografien, die Hannah Höch als kleines Mädchen darstellen und sie daneben in einem Doppelportrait mit ihrer niederländischen Lebensgefährtin Til Brugman zeigen. Die kleinformatigen ausgeschnittenen Aufnahmen der Eltern und Geschwister verschleifen die beiden Komplexe miteinander. Links entstehen zwei ähnlich große Fotokomplexe. Die stark vergrößerte Fotografie neben dem mittigen Portrait Höchs als alter Frau zeigt die Künstlerin am See mit Raoul Hausmann, mit dem sie eine langjährige Liebesbeziehung verband. Darüber ist Höch in ihrem Heiligenseeer Garten zu sehen; in das Gartenelement integriert sie eine Fotografie ihres Vaters, in die sie sich wiederum als winzige Figur hineinmontiert. Unten, in einer Schwellensituation zum Rechteck gehörend und doch abgegrenzt, sehen wir kleinformatige Portraits der Freunde Hannah Höchs z.B. Kurt Schwitters und daneben einen kleinen Komplex mit Kurt Matthies, mit dem sie in den 40er Jahren verheiratet war.
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Abbildung 4: Hannah Höch, Lebensbild, 1972/73, Fotocollage, 130 x 150 cm. © Sammlung Orgel-Köhne, Berlin. Detail: Kleinkindportrait als Künstlerbildnis
Die Außenkanten des beschriebenen Rechtecks (Abb. 5) generieren eine Binnenstruktur innerhalb der Collage, einen bildlichen, zweidimensionalen Innenraum, der von dem außerhalb liegenden Teil der Collage gerahmt wird. Doch nicht nur diese kompositionelle Struktur bildet ein Außen und ein Innen: Die Fotografien innerhalb dieses Rechtecks stellen Menschen dar, zu denen Hannah Höch in enger privater Beziehung stand. Sie werden ausschließlich in dem Innenteil der Collage erinnert, während andere Elemente wie die Motivinsel ihres künstlerischen Werks außerhalb liegen. Im Außen des Rechtecks sind zudem die Darstellungen historischer Ereignisse wie die Mondlandung oder die zwei Weltkriege angesiedelt, aber auch Höchs dadaistische Puppen-Aktionen oder die Szenen mit den Orgel-Köhnes, die die Aufnahme- und Entstehungssituation der Collage Lebensbild zeigen. Hannah Höch konstruiert die Innen- und Außenräume der Collage analogisch zu den Kategorien des Öffentlichen und Privaten. Sie nimmt damit Kategorien auf, die konstitutiv für das Genre der Autobiographie sind – ist sie doch in erster Linie die Veröffentlichung des vermeintlich Privaten. Dass Höchs zurück gezogenes Leben in Haus und Garten in Heiligensee im unteren Teil
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Abbildung 5: Hannah Höch, Lebensbild, 1972/73, Fotocollage, 130 x 150 cm. © Sammlung Orgel-Köhne, Berlin. Hervorhebung: kompositionelles Binnendreieck
ebenfalls im Außen angesiedelt ist, stellt keinen Widerspruch dar. Die großarmigen Kakteen ragen im linken unteren Viertel empor; sie vergittern den Blick auf das Haus und verweisen darauf, dass das Haus den Orgel-Köhnes – und damit uns – fast nur in seiner Außenansicht zugänglich ist. Eine seiner zwei Innenansichten zeigt den Flur mit der Höchschen Sammlung. Die repräsentative Seite des Hauses wird begrenzt sichtbar und mit ihr die Objekte, die heute im Archiv der Berlinischen Galerie öffentlich zugänglich sind. Mit einem hineinmontierten Fragment aus der Collage Schnitt mit dem Küchenmesser integriert sich Höch in die Sammlung, und zwar mit dem auch im Original kaum zu erkennenden Ausschnitt, der ihr Portrait zeigt. Sie fügt damit sich und ihre eigene Arbeit in die Genealogie von Konstruktivismus und Dadaismus ein. Das Zitat bildet den Endpunkt einer komplexen Rahmenstaffelung, die von einem dargestellten Innenraum in einen Außenraum schwingt und umgekehrt (Abb. 3). Höchs überdimensionaler Kopf mit einem hin245
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einmontierten Augenpaar ragt aus einem Fenster und scheint den Rahmen zu sprengen. Er sitzt davor und dahinter, im Innen und Außen zugleich. Rechts daneben gibt ein Fensterrahmen gleicher Größe den Blick auf den Innenraum einer Küche frei. Die darin zu sehende Ganzfigur füllt den Rahmen aus und schafft durch diese Perspektive eine größere Distanz zu den Betrachtenden. Noch weiter rechts sehen wir eine Außenwand des Hauses, die sich mit dem Innenraum der „Kleinen Galerie“ im Hausflur verschleift. An dieser Innenwand werden gerahmte Bilder gezeigt, die durch die stark verkürzende Perspektive immer kleiner werden und in Richtung der winzigen Person im Türrahmen weisen. Es entsteht der Eindruck eines nach hinten fluchtenden Raumes, der einerseits die Distanz zu den Betrachtenden größer werden lässt und andererseits in einer leichten Krümmung nach oben auf das Binnenrechteck weist. Die Montage dieser räumlichen Bewegung nach Innen zielt in den kompositionellen und mit dem Privaten konnotierten Innenraum der Collage. Das Changieren zwischen Innen und Außen, privat und öffentlich kennzeichnet die Gattung des Selbstportraits aber auch die der Autobiographie. Bei beiden Formen der Selbstdarstellung ist der „externe Umweg zu sich“, wie Gottfried Boehm es für das Selbstportrait beschreibt, notwendig, da Künstler und Modell zusammenfallen, gleichzeitig Subjekt und Objekt des Blicks sind (Boehm 1985: 232). Die Selbstdistanzierung ist Voraussetzung für das Selbstportrait. Andererseits stellt diese Form der Selbstdarstellung per se eine Projektion des inneren Blicks auf sich in die Außenwelt dar. Diesen Prozess, das Eigene nur mit dem Blick des/der Anderen entwickeln zu können, reflektiert Hannah Höch in mehreren Szenen im Lebensbild, in der sie den Entstehungsprozess visuell erzählt und das Selbstportrait auf diese Weise in einen narrativen Kontext einbindet. Eine dieser Szenen variiert das Künstler-Modell-Motiv. In der oberen rechten Ecke der Collage ist zu sehen, wie Armin Orgel-Köhne die Künstlerin fotografiert. Hier ist das Andere die Kameralinse, die, nicht von Höch selbst bedient, im Grunde nur Portraits produziert. Erst mit der Montage und Kontextualisierung der Portraits durch die Künstlerin entsteht das Selbstportrait. Das beschriebene rechteckige Feld der Beziehungen zu nahen Menschen ist einer dieser Kontexte, durch die das Selbst entsteht. Aber auch das Collagen- und Montagenwerk verweist auf das Andere des Selbst, ebenso wie auf das veräußerte Selbst, das sich darin spiegelt. Denn die zitierten Collagen und Montagen Höchs fächern von der Braut über die Priesterin bis hin zu Das ewig Weibliche ein Rollenspektrum auf, das sie mit Höchs Identitäten im Binnenrechteck konfrontiert: Dort stellt sich Höch als Tochter, Schwester, Geliebte, 246
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als Partnerin in homo- und heterosexueller Konstellation, als Freundin und als Ehefrau dar. Was literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu weiblicher Autobiographik festgestellt haben (Friedman 1988: 35-44), gilt auch für die Fotocollage Lebensbild: Höch entwickelt ein dichtes Netz an interpersonellen Bezügen und verknüpft ihr individuelles Selbst mit kulturell geprägten kollektiven Identitäten. In der Strategie der Zusammenarbeit mit den Orgel-Köhnes verzichtet sie „auf ein geschlossenes Werk, das den Künstler als geschlossenes Porduktionssubjekt abbilden würde“ – laut Beat Wyss kennzeichnet dieser Verzicht die Kunst des ausgehenden 20. Jahrhunderts (Wyss 1992: 32). Höch entwirft sich als relationales Subjekt im sichtbarsten Sinne des Wortes. Dieses auf mehreren Ebenen dezentrierte Autorschaftsmodell konterkariert das traditionelle Autobiographie-Konzept eines Theoretikers wie Georges Gusdorf. Seine Sicht auf das literarische Genre rechnet mit einem sich als erzählenswürdig empfindenden Individuum, das die geschlossene „Einheit eines Lebens“ in einer „Gesamtskizze wiederherzustellen“ sucht (Gusdorf 1989: 130, 133) – ein hermeneutischer Ansatz, der sich letztlich aus Diltheys Theorie von Welt- und Selbstdeutung herleitet und erst ab Ende der 60er Jahre einer Revision unterzogen wird. Wenn sich bei Höch das Leben als ein fragmentiertes und das Individuum sich als ein interpersonelles und kontextuelles zeigt, so bedeutet dies jedoch nicht, dass die Künstlerin die fotografischen Dokumente, die andere von ihr geschaffen haben, unkommentiert nebeneinander stellt: Höch bleibt die blickführende Regisseurin. Ihr Portrait als Kleinkind (Abb. 4), ursprünglich eine wilhelminischrepräsentative Atelieraufnahme mit Pomp und Schleife, wird unter den Händen der Monteurin zu einem ironischen Selbstportrait der KleinkindKünstlerin. Sie montiert einen Pinsel, das klassische Attribut eines Künstler-Selbstportraits, in die Babyhand. In die Verlängerung der Pinselborsten setzt sie einen Ausschnitt aus der Collage Augenstrauß: eine groteske Akkumulation von Illustrierten-Augen. Die Verbindung von Pinsel- und Augenmotiv legt nahe: Schon früh wurde hier der Keim der späteren Künstlerin und Dada-Monteurin gelegt. Höch greift hier ein erzählerisches Muster auf, das Ernst Kris und Otto Kurz in ihrer einschlägigen Publikation über Künstlerlegenden offengelegt haben. Die Heroisierung des Künstlers in der Biographik läuft, so Kris und Kurz, über Legendenbildung mit immer gleichen Mustern seit Plinius über Vasari bis in die Moderne. Kindheit und Jugend des Künstlers sind dabei zentrale Punkte: Denn das dem Künstler in die Wiege gelegte Ingenium, so der Topos, drängt schon früh zur Entfaltung (Kris/Kurz 1934/1995: 23, 52ff.). Höch greift diesen Topos auf und inszeniert sich als Künstlerin über die Darstellung ihrer Collagen, über die Fokussierung von Auge 247
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und Hand und über traditionelle Künstlerattribute. Doch begegnet Höch der „Heroisierung des Künstlers in der Biographik“ (ebd.: 37) ironisch: Der Pinsel steckt in der Hand eines verdutzten Kleinkindes, das nicht recht weiß, wie ihm geschieht. Ähnlich entheroisierend verfährt Höch mit dem Topos des Künstlers als Seher und Prophet. Zwei vertikale Farbstreifen leiten den Blick zu dem zenralen, fast mittigen Porträt der Höch (Abb. 6). Ehrfurchtsgebietend und fast geschlechtslos wirkend blickt sie aus schwarzen Augenschlitzen von oben auf die Bildbetrachter/innen herab. Gleichzeitig entflattern ihrem Haupt jedoch verspielte Fotoschnipsel in Vogelform – die moderne montierte Form des Heiligen (Zeit-)Geistes? Sie leiten den Blick nach oben zu einem Portraitausschnitt, bei dem Hannah Höch wie in der christlichen Ikonographie des Gottesauges durch das Dreieck ihrer Finger blickt. In der obersten Partie der Collage, neben der Szene von Höchs montierter Mondlandung und den Friedhöfen der beiden Weltkriege liegend, scheint Höchs mahnender Blick, die Faszination und Gefahr menschlicher Schaffenskraft zu kommentieren. Inszeniert sich Höch hier ernsthaft als Schöpfergott? „Das kann doch alles nicht wahr sein“ kommentiert Karoline Hille treffend: Denn auch hier kippt das überstei19 gert Heroische ins Ironische (Hille 2001: 165). Doch letztlich entscheidbar ist es nicht, an welcher Stelle sich Höch auf ihrer Gratwanderung zwischen repräsentativer Selbstdarstellung und gleichzeitiger Selbstironisierung befindet. Es ist diese Unentscheidbarkeit und Mehrdeutigkeit, die das Lebensbild auszeichnet. Und so handelt es sich bei Höchs Kleinkind-Portrait nicht nur um ein ironisches Künstlerbildnis. Darüber hinaus stellt es eine klassisch autobiographische Inszenierung der Kindheit dar, in der Höch zudem an das kollektive Gedächtnis ihrer Generation anknüpft. Walter Benjamin, der im Jahr 1892 geboren wurde, drei Jahre später als Hannah Höch, schildert in seinem autobiographischen Fragment Berliner Kindheit um Neunzehnhundert Faszination und Schrecken des neuen Mediums Telefon. Um 1900 dringt es von außen in den Privatraum des Menschen ein und verändert ihn (Wagner-Egelhaaf 2000: 184). Auch Hannah Höch erinnert in dem Tonbandprotokoll zur Entstehung der Collage Lebensbild dieses Erlebnis; die bildliche Entsprechung liegt in der heute bizarr anmutenden Telefonapparatur direkt neben dem Ohr des Kleinkindes. In einer kritischen Reflexion des Mediums Fotografie schildert Benjamin weiterhin die Studioaufnahme als Kind wie eine Tortur. „Ich aber bin
19 Hille bezeichnet das Lebensbild weiterhin treffend als „Ironiefundus par excellence“. Hille 2001: 165.
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Abbildung 6: Hannah Höch, Lebensbild, 1972/73, Fotocollage, 130 x 150 cm. © Sammlung Orgel-Köhne, Berlin. Detail: zentrales Portrait von Hannah Höch
entstellt vor Ähnlichkeit mit allem, was hier um mich ist.“ (Benjamin 1934/1991: 261) Auch Höch erinnert die Situation und entstellt die Entstellung durch ihren montierenden Eingriff. Überdies verweist die Selbstdarstellung als Baby mit dem Pinsel in der Hand auf die Position der Erzählerin, die das Ende der Geschichte kennt. Hannah Höch greift aus ihrer allwissenden Position heraus die „teleologische Tendenz“ der Autobiographie auf (Aichinger 1989: 181). Vergleichbar mit der Künstlerlegendenbildung fangen viele Autobiographien mit der Erzählung der Kindheit an, bei der sich schon im Keim zeigen soll, was sich später in der Persönlichkeit entfaltet. Gegenläufig dazu liegt das Kindheitsmotiv bei Hannah Höch jedoch nicht im Zentrum des Bildes; es ist auch nicht nach einer gängigen Leserichtung links oben zu finden. Die Vorwegnahme des Zukünftigen sprengt die zeitliche Struktur der Fotografie auf. Darüber hinaus wendet sich die zu einem pseudorepräsentativen Künstlerportrait veränderte Fotografie nach außen zu den Rezipient/innen. Mit dem montierenden Eingriff wie überhaupt mit ihrer Deklination verschiedenster Formen von Montage und Collage in dem Lebensbild exponiert Höch ihre künstlerischen Fähigkeiten. Diese auf ein Publikum zielende Selbstdarstellung unterwandert daher die von mir gezeigte Polarität zwischen dem scheinbar Privaten des Rechtecks und der Rahmung durch das scheinbar Öffentliche. Die Darstellung des Privaten im Binnenrechteck zielt auf ein Außen, während 249
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einige Elemente außerhalb des Rechtecks eine Bewegung nach Innen vollziehen und den Blick der Rezipient/innen verweigern. „Viele Kritiker/innen sehen die Differenz zwischen öffentlichem und privatem Leben als konstitutiv für die Autobiographik von Frauen, da sie eine grundlegende Ausschließung vornimmt, indem sie das männliche autobiographische Ich dem öffentlichen Sektor, das weibliche dem Privaten zuordnet. […] Die Irritierung der männlich sanktionierten Differenz ‚öffentlich/privat‘ bildet also einen autobiographischen Impuls, der […] bevorzugt in Autobiographien weiblicher Provenienz zum Tragen kommt.“ (Wagner-Egelhaaf 2000: 96).
Höch setzt die Kategorien Öffentlich-Privat bewusst ein und löst sie im gleichen Schritt auf der bildlichen Ebene auf. Es ist eine durchgehende Struktur der Collage Lebensbild, dass Höch Setzungen konstruiert, die sie immer wieder subvertiert.
4. Selbstreflexionen Eine weitere Struktur verbindet Höchs Lebensbild mit der Autobiographik weiblicher Urheberschaft: Durch den in Frage gestellten Autorschaftsstatus reflektieren Frauen den Prozess des Schreibens mit. Eine Autorin muss sich laut Bettine Menke „als schreibende beschreiben“ und „von der Bedingung der Möglichkeit des Schreibens der Frau“ erzählen (Menke 1992: 454). Diese selbstreflexive Struktur in der Autobiographik von Frauen verbindet sich gleichzeitig mit der spezifischen Form des Genres am Ende des 20. Jahrhunderts, das seine Fiktionalität im Prozess des Erinnerns offenlegt. Denn in den 70er Jahren, in denen auch das Lebensbild entsteht, kündet eine Vielzahl autobiographisch motivierter Texte und Bilder von Frauen von der ‚neuen Subjektivität‘ (Wagner-Egelhaaf 2000: 190f.). Die Frauen erkämpfen sich, so Barbara Kosta, einen Status von Autor- und Künstlerschaft, der theoretisch bereits in die Krise geraten ist (Kosta 1994: 1ff.) Roland Barthes‘ Verkündigung vom „Tod des Autors“ und Michel Foucaults anschließend entwickeltes Konzept der „Autorfunktion“ bilden dafür die textuellen Markierungen (Barthes 1968, Foucault 1969). Als literarisches Medium der auktorialen Selbstvergewisserung wird aus diesem Grund auch das Genre der Autobiographie destabilisiert. Die Selbstbeschreibung und Selbstinszenierung als Autorin und Künstlerin kann deshalb nur auf der Folie eines krisenhaften Autor- und Autobiographiekonzepts entstehen (Wagner-Egelhaaf 2000: 98).
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In diesem spannungsreichen Feld von Selbstermächtigung und Destabilisierung, von Aneignung und Subversion bewegt sich auch Hannah Höchs Collage Lebensbild. In einer Zeit, in der das Autorschaftskonzept radikal in Frage gestellt wird, schafft Hannah Höch ihre einzige großangelegte Collage, in der sie sich als Autorin und Künstlerin selbst inszeniert. Gleichzeitig reflektiert sie die Krisenhaftigkeit des Autorbegriffs in der Konstruktion eines facettierten Ichs. Sie stellt sich als Sammlerin, Collagistin und Monteurin, aber auch in ihrer Rollenvielfalt als Tochter, Ehefrau oder Geliebte dar. Nichtsdestotrotz erhebt sie mit der Collage aus Privatfotografien Anspruch auf öffentliche Wahrnehmung. Dabei aktiviert sie ein traditionelles Autorschaftskonzept der Autobiographie: Denn in dem sogenannten „autobiographischen Pakt“ (Lejeune 1994: 27) mit den Betrachtenden konstruiert sie eine Einheit von Urheberschaft, dargestellter Protagonistin, dem im Titel genannten Namen und der Bezeichnung. Gleichzeitig bricht sie diese Einheit in einem fragmentierten Selbstentwurf auf. Sie spielt, wie ich gezeigt habe, mit dem repräsentativen Bild des Künstler-Heros und präsentiert sich als versierte ironische Montage-Künstlerin. Dabei destabilisiert sie die Vorstellung eines monolithischen Künstlerselbst und unterläuft die Kategorien des Innen und des Außen, des Privaten und des Öffentlichen. Wenn Jula Dech in ihrem direkten Vergleich der Montage Schnitt mit dem Küchenmesser mit der Collage Lebensbild nachzuweisen versucht, dass beide Arbeiten durch „Hannah Höchs Identität“ zusammengehalten werden (Dech 1991: 29), hat sie somit Recht und Unrecht zugleich: Denn eben diese Existenz von Identität stellt Höch im Lebensbild zur Disposition. Sie wird aufgefächert, fragmentiert, neu zusammen- und nebeneinander gesetzt. Das komplexe Netz von Mehrdeutigkeiten im Lebensbild lässt ebenso viele Lesarten wie Identitätsfacetten zu. Höch entwirft gerade kein Identitätszentrum – wenn überhaupt, dann ist es das plurale Selbst der dargestellten Künstlerin. Um die Konstruktion von Selbst, sei es durch das Medium Fotografie, sei es durch den Prozess von Erinnerung, kreisen mehrere Szenen im Lebensbild. Sie kreieren auf verschiedenen Ebenen eine selbstreflexive Struktur. So verweist beispielsweise der Motivkomplex der Aus- und Rückschau darauf, dass das Lebensbild ein Ergebnis der individuellen Rückschau ist; gleichzeitig stellt er diesen Prozess dar (Abb. 7). Wie durch eine Kristallkugel blickt Höch in dieser Szene durch das gläserne, gleichwohl undurchsichtige Ei, ein Sammlerstück aus ihrem ‚Raritätenschrank’. Darunter ist die gleiche Fotografie in einem vergößerten Ausschnitt zu sehen. Die Betrachter/innen scheinen nun selbst gefordert zu sein, durch das Sammlerstück zu schauen: durch das „Glasei 1894 von Tante J. in Weimar bekommen“ – so Höchs Bezeichnung in der Liste zu 251
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dem Lebensbild. In der Inszenierung dieses Blickgestus setzt Höch den Topos der rückschauenden und anschauenden Erinnerung um. Zwei Mal wiederholen die Figuren der Manichini den Gestus des Ausschau-Haltens von Hannah Höch am Gartentor. Wie in der verdoppelten Höch-Figur darüber steht sie auch hier auf der Schwelle ihres Hauses; ihre Position zwischen Innen und Außen, zwischen Helligkeit und Schwärze verweist auf die Konstruktion des Öffentlichen und Privaten, die Höch hier verhandelt. In einer weiteren Variation scheinen die Kategorien des Öffentlichen und des Privaten als Spiel zwischen Zeigen und Verbergen auf. Sehr deutlich wird dies in der Szene, in der Hannah Höch von Liselotte Orgel-Köhne fotografiert wird (Abb. 8). Die Fotografin schaut zwar durch die Kamera nach unten, hat jedoch Hannah Höch im Blick, da es sich um eine Mittelformat-Kamera handelt. Doch auch hier lösen sich die Blickpositionen auf: Das eigentliche Sujet Hannah Höch wendet den Betrachtenden den Rücken zu. Die fotografierte Fotografin verschwindet hinter ihrem Hut. Die Szene, die den fotografischen Blick auf Höch thematisiert, stellt ein doppeltes Verbergen dar: Höch bleibt eine Rückenfigur; und auch das Gesicht der Fotografin ist nicht sichtbar. Als Gegenstück dazu wird Höchs „Fotopartnerin“ direkt darüber in doppelter Form medaillonartig gerahmt und gezeigt. Unaufhörlich oszillieren die Positionen des Blickens und Angeblickt-Werden. „Wen kümmert’s, wer blickt?“ scheint die rhetorische Frage im Lebensbild zu sein. Die Struktur der Doppelung, so kann hier nur angedeutet werden, spielt nicht nur in den beiden letztgenannten Motivkomplexen eine wesentliche Rolle. Vielmehr durchzieht sie die gesamte Collage als übergreifende Struktur: Fast jede Fotografie und mit ihr jedes Motiv wird im Lebensbild entweder in einem anderen Ausschnitt oder einer anderen Proportionalität zweimal verwendet. Collagenausschnitte, Pflanzen und Tiere, Garten- und Hausbilder, Rarit-Gegenstände und auch Menschen treten bei genauem Hinsehen in doppelter Form auf. Fast immer zeigt dabei der eine Ausschnitt eine Sicht, die der andere verbirgt, und vice versa. Die Tradition des Doppelgängers als Todesahnung scheint hier von Höch spielerisch aufgenommen zu sein. Sie verbindet dieses Motiv mit der Strategie von Zeigen und Verbergen, dem Grundthema der Collage Lebensbild.
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Abbildung 7: Hannah Höch, Lebensbild, 1972/73, Fotocollage, 130 x 150 cm. © Sammlung Orgel-Köhne, Berlin. Detail: Blick durch das „Raritätenstück“ Glasei
5. Die Sammlungs-Sammlerin: dokumentieren, erzählen In Walter Benjamins Beschreibung seiner Kindheitsfotografie „Ich aber bin entstellt vor Ähnlichkeit mit allem, was hier um mich ist“ heißt es weiter: „Ich hauste so wie ein Weichtier in der Muschel haust im neunzehnten Jahrhundert, das nun hohl wie eine leere Muschel vor mir liegt. Ich halte sie ans Ohr.“ (Benjamin 1991: 261) Selbst wenn Höchs Behausung aus dem zwanzigsten Jahrhundert stammt: Wie ein Abdruck des ehemals gelebten Lebens versammelt das Lebensbild Spuren von Höchs „Lebenscollage“, wie die Berlinische Galerie ihre Archiv-Edition nennt. Wir halten sie ans Ohr und hören das Rauschen zweier Weltkriege und der Isolation der inneren Emigration, aber auch die Kopfsprünge Dadas, den Startschuss der Mondrakete und den grazilen Glastanz der RaritFigurinen. Die Doppelungen der Fotografien und der fotografierten Gegenstände im Lebensbild verweisen dabei gleichsam auf ihre ursprünglichen ‚Vorgänger‘, die sich heute als Dokumente, chronologisch geordnet, im Hannah-Höch-Archiv befinden. Doch in der Collage entwirft
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Abbildung 8: Hannah Höch, Lebensbild, 1972/73, Fotocollage, 130 x 150 cm. © Sammlung Orgel-Köhne, Berlin. Detail: Fotografierszene mit Liselotte Orgel-Köhne
Höch für sie eine andere Ordnung und Wertigkeit. So wird die in der Öffentlichkeit als bedeutsam wahrgenommene Kunstsammlung Höchs im Lebensbild zwar gezeigt, doch sind die Bilder selbst kaum erkennbar und verschwinden in der Türflucht. Demgegenüber erfahren die als banal geltenden „Minis“ aus dem Raritätenschrank durch das Blow-Up der Vergrößerung eine Überhöhung. Hier zeigt sich Höch als Hierachien umkehrende Sammlungs-Sammlerin, für die jahrzehntealte Telefonnotizen ebenso wichtig waren wie Ausstellungsrezensionen, Zahnbürsten oder eben autobiographisch aufgeladene Erinnerungsstücke aus dem „Mini-Museum” (vgl. Burmeister 2001: 12ff.). Insofern ist für Höch wie für Benjamin „Sammeln eine praktische Form des Erinnerns“ (Benjamin 1982: 271). Fast exzessiv hat Hannah Höch jede ihrer Lebensspuren bewahrt. Das lebendige Verhältnis Höchs zu ihren Dingen drückt sich in dem Lebensbild und ihren portraitartigen 20 Stilleben aus. Es ist das der Wohnenden und Sammelnden zu ihrem Besitz. „Der Wohnende hinterläßt überall Spuren um sich und drückt jedem Gegenstand den Stempel des Besitzes auf; in seinem Eigentum ist er daheim.“ (Weidmann 1992: 105) Dieser „identitätsstiftende […] Drang zum Sammeln und Bewahren“ führt Höch konsequenterweise dahin, ihre Lebensspuren in der Collage Lebensbild in einen quasi-öffent-
20 Vgl. Maurer 1991: 56. Maurer versteht Höchs Stilleben als eine Form des Portraits. Im Stilleben mit Glasei, das Maurer in dem Zusammenhang erwähnt, greift Höch schon 1922 das Motiv auf, das im Lebensbild so präsent ist.
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lichen Ort zu überführen (Burmeister 2001: 16). In Form einer „archivalischen Montage“ setzt Höch ihr Sammelverhalten bildlich um. Die „Collage als Archiv“ entsteht laut Buchloh in den 60er und 70er Jahren bei Gerhard Richter (Atlas 1971) oder Marcel Broodthaers (Section publicité 1969); sie verfährt eher dokumentarisch nach den Regeln von Verzeichnissen und Katalogen (Buchloh 1997: 54, 58). In dem Lebensbild schlägt sich Höchs Dokumentationswillen in den sammlerischen Strukturen der Collage nieder, die sich von dem dadaistischen Montageprinzip des Schocks und der Verzerrung abgrenzen. Das Prinzip der archivalischen Montage nehmen wenig später die Künstler/innen der vornehmlich französischen Bewegung der „Spurensicherung“ auf. Kinderandenken, Amateurfotos, Nachlässe – jegliche Formen des Autobiographischen werden etwa von Annette Messager, Christian Boltanski oder Jean LeGac mit dem Habitus des Authentischen und Dokumentarischen inszeniert. Hannah Höchs Form der Fiktionalisierung ist zwar nicht dem ‚Fake‘ von Authentizität verpflichtet, sondern arbeitet mit den avantgardistischen Prinzipien der ästhetischen Verfremdung. Doch auch sie setzt die sammlerische Dokumentation ein, um im Spiel mit Authentizität und Fiktion eine visuelle Autobiographie zu entwickeln. Höch entwirft ihr Selbst als Autobiographin und Sammlerin auf ein Publikum hin, denn beide, sowohl die Autobiographie als auch die Sammlung, rechnen mit einer potentiellen Öffentlichkeit. Daher gründet die „außerordentlich persönliche Note“, die Peter Krieger in einem Schreiben an die Orgel-Köhnes dem Lebensbild im Jahr 1980 attestiert und mit der er den Erwerb der Collage für die Neue Nationalgalerie ablehnt, gerade nicht in einer hermetisch privaten 21 Selbstbespiegelung. Sie kann und muss im Kontext zeitgenössischer und aktueller Diskurse gesehen werden, deren Existenz und Wertigkeit in dem Lebensbild bisher nicht erkannt worden ist. Die Bedeutung der Autobiographie in den 70er Jahren, die auch heute wieder zunimmt, ihre Verbindung mit der Bewegung der ‚Spurensicherung‘ und der Form der archivalischen Montage sind dabei wichtige Koordinaten. Eine Künstlerin wie Sophie Calle nimmt heute die Fährte der „Spurensicherung“ wieder auf und treibt in ihren Récits autobiographiques die Spirale von 22 Autobiographie und Fiktion noch weiter in die Höhe. Dabei bewegt sie sich im Kontext einer Strömung aktueller Kunst, die die Rolle des Do21 Peter Krieger, damaliger Kustos an der Neuen Nationalgalerie, am 29.12. 1980 in einem Brief an die Orgel-Köhnes. Aus dem unveröffentlichten Privatarchiv von Liselotte und Armin Orgel-Köhne. 22 In Calles Bild-Text-Installationen Récits autobiographiques werden Objekte zu beredten Zeugen scheinbar authentischer Lebensgeschichten. Zu Calles inszenierten Autobiographien vgl. auch Kittner 2004.
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kumentarischen medienkritisch in den Blick nimmt und deren immanente Fiktionalisierung offen legt. Im Gefolge untersucht nun auch die Wis23 senschaft verstärkt die Inszenierung von Authentizität. Diese gegenwärtige Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Dokumentation und Narration, von sammlerischem und künstlerischem Verhalten verleiht dem Lebensbild von Hannah Höch eine Aktualität, die über seinen historischen Kontext weit hinausweist. Heute ist die Zeit dafür gekommen, dies zu erkennen.
Literatur Aichinger, Ingrid (1970; 1989): „Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk“. In: Günter Niggl (Hg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt, S. 170-199. Barthes, Roland (2000): „Der Tod des Autors“ (engl. 1967; franz. 1968). In: Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/Simone Winko (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart, S. 185-193. Benjamin, Walter (1991 [1934]): „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“. In: Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Frankfurt a.M., S. 235-304; S. 964-986. Ders. (1982 [1940]): Das Passagen-Werk, Frankfurt a.M. Benstock, Shari (Hg.) (1988), The Private Self. Theory and Practice of Women’s Autobiographical Writings. Chapel Hill/London. Boehm, Gottfried (1985): Bildnis und Individuum. Über den Ursprung der Portraitmalerei in der italienischen Renaissance, München. Buchloh, Benjamin H.D. (1997): „‚Atlas‘. Warburgs Vorbild? Das Ende der Collage/Fotomontage im Nachkriegseuropa“. In: Ingrid Schaffner/Matthias Winzen (Hg.), Deep Storage. Arsenale der Erinnerung. Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst (Ausstellungskatalog), Haus der Kunst, München; Nationalgalerie SMPK, Berlin; Kunstmuseum Düsseldorf im Ehrenhof; Henry Art Gallery, Seattle; München/New York. Burmeister, Ralf (2001): „Hannah Höchs System der Erinnerung“. In: Berlinische Galerie (Hg.), Hannah Höch: Eine Lebenscollage, Archiv-Edition, Bd. III 1946-1978, Berlin, S. 12-35.
23 Stellvertretend verweise ich hier nur auf das Graduiertenkolleg in Hildesheim: „Authentizität als Darstellungsform“ und die Forschung von Erika Fischer-Lichte z.B.: Fischer-Lichte/Pflug 2000.
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HANNAH HÖCHS VISUELLE AUTOBIOGRAPHIE „LEBENSBILD“
Dech, Jula (1989): Hannah Höch. Schnitt mit dem Küchenmesser DADA – Spiegel einer Bierbauchkultur, Frankfurt a.M. Dies. (1991): „Balance und Spirale – Künstlerischer Ausdruck weiblicher Identität. Epochal-Montage/Lebens-Collage: Zwei Brennpunkte in Hannah Höchs Werk“. In: Jula Dech/Ellen Maurer (Hg.), Da-da zwischen Reden zu Hannah Höch, Berlin. Fischer-Lichte, Erika/Pflug, Isabel (2000): Inszenierung von Authentizität, Tübingen. Foucault, Michel (1969; 2000): „Was ist ein Autor?“. In: Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/Simone Winko (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart, S. 198-229. Fürlus, Eckhard: „Künstlerfreunde“. In: Berlinische Galerie (Hg.), Hannah Höch: Eine Lebenscollage. Archiv-Edition, Bd. III 1946-1978, Berlin, S. 78-121. Friedman, Susan Stanford (1988): „Women’s Autobiographical Selves. Theory and Practice“. In: Shari Benstock (Hg.), The Private Self. Theory and Practice of Women’s Autobiographical Writings. Chapel Hill/London. Gusdorf, Georges (1989): „Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie“. (franz. 1956) In: Günter Niggl (Hg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt, S. 121-147. Hannah Höch: Eine Lebenscollage (2001), Archiv-Edition, Berlinische Galerie (Hg.) Bd. III 1946-1978, Berlin: H. Heenemann GmbH & Co. Hille, Karoline (2000): Hannah Höch und Raoul Hausmann. Eine Berliner Dada-Geschichte, Berlin. Dies. (2001): „Ein Kaleidoskop der unbegrenzten Möglichkeiten. Zu Hannah Höchs Photomontagen nach 1945“. In: Berlinische Galerie (Hg.), Hannah Höch: Eine Lebenscollage, Archiv-Edition, Bd. III 1946-1978, Berlin, S. 154-199. Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martinez, Matias/Winko, Simone (Hg) (2000), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart. Jochimsen, Margarete (1991): „Das System hat Methode. Ansammlungen von Hannah Höch und Anna Oppermann.“ In: Jula Dech/Ellen Maurer (Hg.), Da-da zwischen Reden zu Hannah Höch. Berlin, S. 162-175. Keller-Woelfle, Eva (1991): „Aus dem ‚Rarit-Schrank‘ der Hannah Höch“. In: Jula Dech/Ellen Maurer (Hg.), Da-da zwischen Reden zu Hannah Höch. Berlin, S. 288.
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ALMA-ELISA KITTNER
Kosta, Barbara (1994): Recasting Autobiograpy. Womens‘ Counterfictions in Contemporary German Literature and Film, Ithaka/London: Cornell University Press. Kittner, Alma-Elisa (2004): „No Sex Last Night. Sophie Calle und Greg Shepard auf Anti-Hochzeitsreise“. In: Kristiane Hasselmann et al. (Hg.), Utopische Körper, München. Dies. (2005): Visuelle Autobiografien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager, unveröffentlichte Dissertation, Ruhr-Universität Bochum. Kris, Ernst/Kurz, Otto (1995): Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch (erste Ausgabe Wien 1934), Frankfurt a.M. Lejeune, Phillippe (1994): Der autobiographische Pakt, Frankfurt a.M. Menke, Bettine (1992): „Verstellt: Der Ort der ‚Frau‘ – Ein Nachwort“. In: Barbara Vinken (Hg.), Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika, Frankfurt a.M., S. 436-476. Niggl, Günter (Hg.) (1989), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt. Ohff, Heinz (1968): Hannah Höch, Berlin. Roters, Eberhard (1990): Fabricatio Nihili oder die Herstellung von Nichts, Berlin. Schaffner, Ingrid/Winzen, Matthias (Hg.) (1997), Deep Storage. Arsenale der Erinnerung. Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst, (Ausstellungskatalog) Haus der Kunst, München; Nationalgalerie SMPK, Berlin; Kunstmuseum Düsseldorf im Ehrenhof; Henry Art Gallery, Seattle; München/New York. Vinken, Barbara (Hg.) (1992): Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika, Frankfurt a.M. Wagner-Egelhaaf, Martina (2000): Autobiographie, Stuttgart. Weidmann, Heiner (1992): Flanerie, Sammlung, Spiel. Die Erinnerung des 19. Jahrhunderts bei Walter Benjamin, München. Willrich, Wolfgang (1937): Säuberung des Kunsttempels: eine kunstpolitische Kampfschrift zur Gesundung deutscher Kunst im Geiste nordischer Art, München/Berlin. Wyss, Beat (Hg.) (1992): Kunstszenen Heute. Ars Helvetica XII. Die visuelle Kultur der Schweiz heute, Disentis/Bern.
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Erfolg sichtbar machen – the making of „Wo ist Minerva“ REGINA HENZE
Vorbilder müssen nicht unnahbar sein LebensBilder sind VorBilder. Für viele Menschen waren persönliche Begegnungen oder die Beschäftigung mit interessanten Menschen prägend für ihren eigenen Lebensweg, Auslöser für ihre Berufswahl, Ansporn für die eigene Haltung. Junge Frauen brauchen weibliche Vorbilder. Weibliche Vorbilder sind in unserer Gesellschaft jedoch viel weniger sichtbar als männliche. In „Biografien zum Anfassen“ beispielgebend und erlebnishaft Vorbilder anzubieten und über Förderungsmöglichkeiten zu informieren – das waren die wesentlichen Beweggründe des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur, Mittel für eine Kommunikationsmaßnahme im Sinne der Frauenförderung bereitzustellen. Im Sommer 2002 machte sich eine interdisziplinäre Gruppe von sie1 ben Studierenden der HBK Braunschweig an die Arbeit, um im Auftrag des niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur Karrierewege von hervorragenden zeitgenössischen Frauenpersönlichkeiten in Wissenschaft und Kunst in Form einer Ausstellung darzustellen – eine in mehrfacher Hinsicht „politische“, emanzipatorische Aufgabe: Zum einen sollte jungen Frauen Mut gemacht werden, eigene Karriereziele beherzt und energisch zu verfolgen. Die Herausforderung bestand darin, eine Reihe ausgewählter Zeitgenossinnen mit ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern so interessant und lebensnah zu portraitieren, dass sie – bei aller individuellen Ausprägung – zu Identifikationsfiguren werden konnten, und dass sich vor allem junge Frauen im akademischen und künstlerischen Umfeld von diesen Porträts persönlich angesprochen und in ihren eigenen professionellen Zielen bestärkt fühlen. 259
REGINA HENZE
Zum anderen sollten auch die Förderleistungen des Landes Niedersachsen für akademische Karrieren von Frauen vorgestellt und mit Beispielen aus der Praxis anschaulich gemacht werden.
„Politikfaktor“ Design Dass der Auftrag zur Entwicklung einer solchen Ausstellung an eine Gestaltungshochschule ging, zeigt, dass es gerade bei Frauenthemen an der Zeit ist, die notorische „frauentypische“ Bescheidenheitshaltung abzuwerfen und selbstbewusst aufzutreten. Erwartungshaltungen aufbrechen, Klotzen statt Kleckern: Anerkennung und Respekt gewinnen durch eine ungewöhnliche und erlebnishafte Gestaltung statt der üblichen (und erwarteten) drögen Stellwände mit viel rezeptiver Information – das war die Maxime. Ein professioneller und repräsentativer Auftritt durch gutes Design sichert Frauenthemen mehr Aufmerksamkeit.
Abbildung 1: Logo der Ausstellung wo ist minerva. Gestaltung des Erscheinungsbildes: Stefanie Pille, Melissa Seelig
Unter dem Titel „Wo ist Minerva – Wegbeschreibungen erfolgreicher Frauen“ ist eine lebendige Wanderausstellung entstanden, die aus 13 individuell inszenierten Biographie-Stationen besteht. Dazu gehört natürlich auch die gesamte Begleitkommunikation – von der Einladungskarte bis zum ausführlichen Katalog. Das Projekt bot allen Beteiligten die Chance, diese komplexe, ganzheitliche Kommunikationsaufgabe von der ersten Idee über die Gestaltung aller Details zu entwickeln und sie dann bis zum fertigen „Produkt“ zu realisieren. Dabei galt es, die so unterschiedlichen Lebenswege mit einem gemeinsamen Leitmotiv zu ver260
ERFOLG SICHTBAR MACHEN – THE MAKING OF „W O IST MINERVA?“
knüpfen, eine „Geschichte zu erzählen“, die den Besuch der Ausstellung spannend und bereichernd macht und neue Perspektiven eröffnet.
W i e d i e Au s s t e l l u n g e n t s t a n d „Oh, das ist ja toll, dass Sie gekommen sind!“ Mit diesen Worten stürzte eine der Studentinnen am Eröffnungstag von „Wo ist Minerva “ im Landtag in Hannover freudesstrahlend auf eine der anwesenden „echten“ Minervas zu. Diese reagierte ob der unvermittelt vertraulichen Anrede doch erst etwas erstaunt und befremdet. In diesem Moment wurde der Studentin bewusst, dass sie sich vorher ja noch nie real begegnet waren. Durch die lange Beschäftigung mit den Lebensläufen und Bildern war sie völlig sicher, die Angesprochene schon lange persönlich zu kennen. In dieser kleinen Episode wird deutlich, wie sehr man sich im Verlauf der intensiven Beschäftigung mit einer Persönlichkeit identifiziert, so dass man sie im gedanklichen Raum leibhaftig vor sich sieht, ja sogar in einen inneren Dialog mit ihr tritt, sich in sie hineinversetzt – sicher für alle, die sich intensiv mit Biografien beschäftigen, ein nachvollziehbares Phänomen. Die Arbeit an der Ausstellung führte die Mitglieder der Arbeitsgruppe zu einem nachhaltigen Prozess der Auseinandersetzung mit „weiblichen Autoritäten“ und damit zugleich mit der eigenen Lebensperspektive. Im Umgang mit den „gestandenen Frauen“ aus einer anderen Generation und den von ihnen zur Verfügung gestellten Materialien und Informationen mussten die Studierenden – bei allem Respekt – eigene Vorurteile, Ängstlichkeit und Scheu überwinden, Mut für offene Fragen fassen und ungewöhnliche Umsetzungen und Interpretationen wagen. Weit über das Anliegen der Ausstellung hinaus entwickelte sich eine gegenseitige Wertschätzung. An der gemeinsamen Bemühung aller Beteiligten, den späteren Besucher/innen wertvolle Einsichten und Erkenntnisgewinn zu bieten, sind die „Macher/innen“ enorm gewachsen, und die Rückschau auf den eigenen Lebensweg war nachgerade auch für die vorgestellten Frauen bereichernd. Im Verlauf der Tagung wurden die unterschiedlichsten Darstellungen und Absichten von Biographien untersucht. Meistens liegen diese in Text- oder Werkform vor. Die Besonderheiten, die das Medium Ausstellung für die Darstellung von LebensBildern mit sich bringt, möchte ich Ihnen am Beispiel von „Wo ist Minerva – Wegbeschreibungen erfolgreicher Frauen“ vor Augen führen. Anders als in den meisten Biografie-Darstellungen, bei denen es sich entweder um die Betrachtung einer individuellen Persönlichkeit oder um 261
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Gemeinsamkeiten und Vergleichbarkeiten mehrerer Personen im gleichen Tätigkeitsbereich oder professionellen Umfeld handelt, galt es hier, die Vielfalt und Verschiedenheit von Frauenkarrieren aufzuzeigen, ein möglichst breites Spektrum an unterschiedlichen Professionen und Werdegängen zu entfalten – gemeinsame Nenner waren lediglich die fachliche Exzellenz und das Geschlecht. Was hat eine theoretische Physikerin mit einer Pflegewissenschaftlerin gemeinsam? Oder eine Komponistin mit einer Veterinärneurologin? Und gar eine Performancekünstlerin mit einer Juristin? Gibt es Gemeinsamkeiten in den Eigenschaften und Durchsetzungsstrategien, die zu Karriereerfolg führen? Lassen sich womöglich spezifische weibliche Komponenten aufzeigen? Das galt es herauszufinden und dafür einen „roten Faden“, eine ausstellungstaugliche „Klammer“ oder Leitmetapher zu entwickeln.
1. Die inhaltlichen Grundlagen Auswahl der Kandidatinnen Vorschläge für mögliche Kandidatinnen wurden von den Frauenbeauftragten der Hochschulen und Fachhochschulen erbeten. Diese wurden in Abstimmung mit dem Ministerium ausgewertet. Bestimmend für die Auswahl waren neben der fachlichen Exzellenz auch folgende Kriterien: • Es wurde angestrebt, • eine möglichst große Bandbreite an Berufsfeldern aufzunehmen, • möglichst viele niedersächsische Hoch- und Fachhochschulen einzubeziehen, • berufliches Weiterkommen durch die Teilnahme an niedersächsischen Förderprogrammen (Dorothea Erxleben, Maria GoeppertMeyer) vorzustellen. Letztendlich wurde aus der umfangreichen und interessanten Vorschlagsliste aus Platz- und Budgetgründen eine Auswahl von 13 Frauen 2 getroffen.
Themenerschließung, Materialsammlung, viele Fragen… Da sich das Team mit der Ausstellung auf Neuland begab und nicht an Beispielen orientieren konnte, musste es die Inhalte und Fragestellungen selbst erarbeiten. Das heißt, dass die Gruppe konsequent vom eigenen und dem Interesse und möglichen Blickwinkel der späteren Besucher ausging: Was kann an einem Lebensweg für mich und andere interessant 262
ERFOLG SICHTBAR MACHEN – THE MAKING OF „W O IST MINERVA?“
und „lehrreich“ sein? Was ist uns selbst wichtig? Was wollen wir über die Frauen wissen, welche Informationen über Fachliches und Privates brauchen wir? Gibt es bei aller Verschiedenheit doch Gemeinsames, Vergleichbares, und wie finden wir es heraus? Ausgehend von grundsätzlichen Fragen wie: • Wie sind die Frauen dorthin gekommen, wo sie jetzt sind (der Weg)? • Warum tun sie das, was sie tun („Talent“, Motivation, Engagement)? • Ist die Verzahnung von Privatleben und Beruf bei Frauen stärker als bei Männern (gender Differenzen)? wurde in intensiven Diskussionen ein Fragenkatalog entwickelt, den wir – zunächst schriftlich, dann auch in persönlichen Gesprächen und Inter3 views – allen Frauen mit Bitte um Beantwortung vorlegten.
Erste Kontakte und Kennenlernen In der persönlichen Kontaktaufnahme galt es, den „richtigen Ton“ zu finden: Kommunikation und Vertrauen aufzubauen – schließlich ging es nicht ohne Einsicht in und Fragen nach der Privatsphäre. Briefe schreiben, Telefonate führen, Misstrauen und Missverständnisse ausräumen bei den Frauen, Respekt vor Autoritäten bei den Studierenden abbauen. Diese mussten sich erstmal trauen, mit ihren Fragen und Anliegen an die „Fachfrauen“ und Koryphäen heranzutreten! Nach ersten Kontakten per email und Telefon war klar, dass man sich auch persönlich kennenlernen musste, wo immer möglich. Mit drei Frauen im Ausland konnten wir nur schriftlich kommunizieren; die anderen zehn haben wir alle persönlich aufgesucht, wir haben mit ihnen Gespräche geführt und versucht, die Einblicke in ihre Persönlichkeit in Videoaufzeichnungen und Fotoaufnahmen festzuhalten.
Materialsichtung und „Filterung“ Eine Fülle von Material und Infos kam zusammen: schriftliche Antworten auf den Fragenkatalog, Bilder und Publikationen, Videos, Fotos und Tonaufnahmen von den Interviews – für jede Frau entstand ein umfangreiches Dossier. Das alles musste gelesen, gesichtet, „gefiltert“ und schließlich redaktionell bearbeitet werden. Als Beispiel für die Vielfalt der persönlichen Statements bei ähnlichem Tenor finden Sie im Anhang eine Zusammenstellung der Antworten auf die Frage „Welche Eigen4 schaften halten Sie für Ihren Erfolg für wesentlich?“ Zwei diametral unterschiedliche Arten von Texten waren zu generieren: einmal die kurz und prägnant aufs Wesentliche fokussierten Texte 263
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für die Ausstellung, zum anderen ausführliche Essays als vertiefendes Material und Lesestoff für den Katalog. Für diese Aufgaben nahmen wir professionelle Hilfe durch eine externe Texterin in Anspruch.
2 . Au s s t e l l u n g s g r u n d l a g e n Parallel zur Arbeit an Inhalt und Materialien mussten sich die Studierenden mit den Besonderheiten des ganzheitlichen Mediums „Ausstellung“ vertraut machen. Wie wird aus unserem Thema eine Ausstellung?
inszenatorisch: Im Sinne des bekannten (angeblich chinesischen) Sprichwortes: „Ich höre – ich vergesse, ich sehe – ich erinnere mich, ich tue – ich verstehe“ spricht eine Ausstellung als physisch begehbarer „Erfahrungsraum“ alle Sinne an und bleibt dadurch besonders nachhaltig im Gedächtnis. Ausstellungsadäquat arbeiten – was heißt das? Die Gestalter/innen sollten: 1. eine Geschichte erzählen, 2. eine passende und interessante Metapher finden: als Leitmotiv, „roten Faden“ und übergreifende „Story“, 3. einen stimmigen Besuchsablauf = Dramaturgie und Inszenierung entwickeln, 4. Angebote für alle Sinne vorsehen, 5. Emotionen hervorrufen, 6. Neugier wecken, Spannung und Spielmöglichkeiten einbauen, 7. Kommunikation unter den Besuchern fördern, 8. und vor allem: wenig Text verwenden!! Wo immer man Informationen in anderer Form als Schriftform „rüberbringen“ kann, sollte man das nutzen.
inhaltlich: 1. Kondensieren: Aus der Fülle des Materials das Wesentliche herausfiltern, das zu der „Geschichte“ passt, die man erzählen will. Das Schwierigste: entscheiden, was man weglässt! 2. Ordnen: Eine erkennbare und plausible Struktur für die Darstellung der Inhalte entwickeln und trotzdem jeder Frau ihre individuelle charakteristische Sphäre belassen. 264
ERFOLG SICHTBAR MACHEN – THE MAKING OF „W O IST MINERVA?“
Abbildung 2: Besucherin bei der Eröffnung; Stand Prof. Dr. P.H. Friederike Prinzessin zu Sayn-WittgensteinHohenstein © Anke Erdmann
gestalterisch: 1. Ein prägnantes und charakteristisches Gesamt-Erscheinungsbild für die Ausstellung schaffen, das der Vielfalt des Materials einen Rahmen gibt. 2. Eine eigenständige und einheitliche Bildsprache entwickeln – z.B. in Großfoto/Porträt und Bildstrecken. (Es war schnell klar, dass wir keinesfalls mit dem Bildmaterial arbeiten konnten, das wir geschickt bekamen, sondern dass die Ausstellung eine gestalterische Qualität und eine einheitliche „Handschrift“ auch in der Bildsprache brauchte.) 3. „Auratische“ Objekte (Originale) einbauen. (Wir haben von jeder Fraue ein ihr wichtiges „Originalobjekt“ (ein charakteristisches Arbeitsgerät oder Kleidungsstück, eine Kladde, ein Notizbuch, einen Talisman…) erbeten.) pragmatisch/organisatorisch: 1. Anforderungen an eine Wanderausstellung berücksichtigen: leichter Transport, Auf- und Abbau „plug and play“, anpassbar an unterschiedliche Raum- und Lichtverhältnisse! 2. Planen, dass man mit möglichst wenig Wartung und Aufsicht auskommt. 265
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3. Konzeptentwicklung Die Jagd nach der „Titelstory“ Der schwierigste Prozess war die Ideenfindung mit dem Ziel der gemeinsamen Entscheidung: Welche Geschichte wollen wir erzählen, um für die 13 Biografien einen Rahmen zu schaffen? Ebenso wichtig wie diese übergreifende, überzeugende „Rahmenhandlung“ war es, einen spannenden Titel und/oder Slogan zu finden – er ist schließlich das erste Signal nach außen, der „Teaser“, der auf Plakatwänden oder in den Medien neugierig macht und Menschen zu dem Entschluss führt: „Das muss ich mir ansehen!“ Dutzende von Titeln wurden vorgeschlagen und wieder verworfen – zu krampfig, zu pädagogisch, zu englisch oder zu stark auf einen Aspekt fokussiert … In der ersten Brainstorming-Phase entwickelten wir drei verschiedene Story-Ansätze und Titel, die wir im Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur präsentierten und diskutierten.
„Um-Wege“ Dieses Leitmotiv visualisiert einen gerade verlaufenden (Lebens-)Weg mit Umwegen. Ein gerader Weg ist vorhersehbar, einfach und schnell. Umwege halten auf, können aber auch Neues eröffnen, Chancen bieten, weiterbringen und vorantreiben. Es sollte gezeigt werden, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, einen Lebensweg zu gehen. Besucher sollten in der Ausstellung ihren eigenen Weg suchen und bewusst die Entscheidungen treffen, vom gerade markierten Weg abzuweichen. Jeder Frau wurde in Form einer textilen Abgrenzung ein eigener Biografie-Raum zugeordnet, um eine konzentrierte und persönliche Darstellung zu ermöglichen. Dieser Ansatz wurde verworfen: Die Realisierung war nicht „wanderausstellungstauglich“, und das Titelmotiv „Umwege“ eher negativ besetzt.
„Walk! – don’t walk!” In diesem mehr provokativen Ansatz war der zentrale Gedanke das Überwinden von Hindernissen, das bewusste Überschreiten von (inneren und äußeren) Grenzen, auch die Selbstüberwindung, um voranzukommen. Hierfür müssen oft Gewohnheiten aufgegeben und Verhaltensmuster durchbrochen werden. Man muss sich gegen Vorschriften und Gebote durchsetzen, etwa auch Verbote übertreten. Dazu gehört, sich selbst 266
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Mut zu beweisen und sich über Schwierigkeiten hinwegzusetzen, um sich neue Sichtweisen erschließen zu können. Das passende Symbol ist das Verkehrssignal: „walk! – don’t walk!“ – natürlich in weiblicher Version als „Ampelweibchen“! Dieser Ansatz hat mir persönlich sehr gut gefallen; ich fand ihn mutig und besonders für eine junge Zielgruppe interessant. Er wurde aber als zu „trendy“ empfunden, etwas zu einseitig, und auch der englische Titel war nicht das richtige Signal.
„Stepping stones – denn der Weg ist ein Ziel“ „Stepping stones“ (Trittsteine) stellten die impulsgebenden Wendepunkte im Leben der Frauen in den Mittelpunkt. Sie sind als Anstöße für neue Sichtweisen, welche die Frauen auf ihrem Weg weitergebracht haben, oder für die Eröffnung von neuen Richtungen/Möglichkeiten, zu verstehen. Auch dieser Ansatz wurde verworfen, weil er im Gestaltungsentwurf zu stark an Raumanforderungen gebunden war und zudem auch wieder einen englischen Titel hatte. Das Moment der „Wendepunkte“, der entscheidenden „Knackpunkte“ oder plötzlichen Richtungsänderungen im Leben wurde aber als wichtige Grundlage für die nächste Iteration beibehalten. Der Blick in die Antike brachte schließlich den Durchbruch. Hier entdeckten wir die Göttin Minerva/Athene mit ihren vielfältigen Attributen weiblicher Stärke, Klugheit und Intuition – gepaart mit künstlerischer und handwerklicher Virtuosität. In der Gestalt der „Minerva“ vereinigte sich angenehmer Klang mit dem richtigen Leitbild – und ihre mythologische Bandbreite lieferte alle Ingredienzen für ein auf alle Biographien anwendbares „Storytelling“! Sie verkörperte die ideale Leitfigur, die in der Bandbreite ihrer Qualitäten und Begabungen stellvertretend für jede der 13 Persönlichkeiten stehen konnte. So fiel nach einer streckenweise auch frustrierenden Phase des Suchens und Diskutierens endlich die von der ganzen Gruppe einmütig und mit Überzeugung getroffene Entscheidung auf:
„Wo ist Minerva? – Wegbeschreibungen erfolgreicher Frauen“ Die Frageform weckt Aufmerksamkeit und Neugier und lässt sich auch für die Begleitkommunikation gut nutzen. Sie lässt vieles offen und kann als eine Anspielung auf „bis hier her und noch viel weiter“ verstanden werden, da die Frage nach dem „Wo“ Suchen sowie Weitersu267
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chen impliziert. Die Betonung auf Umwege (im Vergleich zu den geraden Wegen) wurde vermieden. In der Einleitung zur Ausstellung (Intro) oder am Ende der Ausstellung (Extro) sowie im Katalog wird Gestalt und Bedeutung der Minerva vorgestellt und thematisiert.
4 . G e s t a l t e r i s c h e Au s a r b e i t u n g Wie geht man auf die Suche nach Minerva? In der Ausarbeitung der Gesamtstory gab es wiederum viele Stufen von der Ideenfindung für jede einzelne Station bis zum maßstäblichen Modell. Auch hier musste wieder für viele mögliche Umsetzungsvorschläge eine Entscheidung gefällt werden. Zunächst wurden für die 13 modernen Minervas „Tore“ im Hain der Minerva gestaltet – quasi als „Durchgangsstationen“ mit den Assoziationenen: Initiation, neue Sphären betreten, hindurch- und weitergehen. Die Realisierung der Tore erwies sich jedoch als zu kompliziert, zu schwer, zu teuer … Der formale Durchbruch gelang mit dem sofort mit Mobilität und Flexibilität verbundenen Gestaltungsmotiv „Schrankkoffer“. Unterwegs sein auf der Suche nach Minerva; Stationen in Form übergroßer mobiler Koffer; jederzeit schnell zu Aufbruch und Weiterreise zu neuen Zielen und Herausforderungen bereit … Für die Gestaltung der Schrankkoffer wurde eine einheitliche Struktur festgelegt: 1. auf den Außenflächen: große, auffällige Kunstnamen als „Lockstoff“ (MachtWandlerin, LaborAmazone …); auf Fernwirkung zielende Großfotos mit Zitat; „Visitenkartenwand“ mit aktuellen Daten, Werkliste und Fotostrecke. 2. „Innenleben“: individuelle Inszenierungen der Persönlichkeit, möglichst mit interaktiven Elementen gewürzt. Hier sollten die wesentlichen fachlichen und persönlichen Meilensteine und/oder Richtungsänderungen anschaulich und „zum Anfassen“ dargestellt werden. Die Entwicklung der individuellen Inszenierungsideen ging nach dieser Systematik dann gut voran; es zeigte sich, dass die Schrankkoffer-Module viele „Spielmöglichkeiten“ in der Anordnung, des Öffnens, Aufstellens und Ausgestaltens zuließen. Bei einer weiteren Präsentation vor dem Auftraggeber Ministerium wurde dieses Konzept mit großer Einmütigkeit verabschiedet und zur Realisierung freigegeben.
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Abbildung 3: Station Univ-Prof. Dr. Melanie Luck von Claparède © Anke Erdmann
5. Realisierung, Produktion So stand Anfang März 2003 das Ausstellungssystem fest – nur noch drei Monate bis zur geplanten Eröffnung begann der Wettlauf mit der Zeit. Parallel und verzahnt miteinander wurden Grafiken und Texte weiterentwickelt, die Großfotos für den Druck vorbereitet, bemaßte Zeichnungen für die Koffer und alle konstruktiven Details angefertigt und natürlich für alles Kostenvoranschläge eingeholt, die sich im vorgegebenen Budgetrahmen bewegen mussten.
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Abbildung 4: Station Prof. Dr. Rose Baaba Folson, PhD © Anke Erdmann
In der jetzt sehr arbeitsteiligen Phase griffen viele Gewerke ineinander, man musste externe Produktionspartner zur Zusammenarbeit auswählen, genau ineinander greifende Zeitpläne erstellen und letzte Möglichkeiten für Schlusskorrekturen und Abnahmen einplanen. Auch die Werkstätten und Werkstattleiter der Hochschule wurden massiv in Anspruch genommen und haben das Projekt mit vollem Einsatz unterstützt. Gleichzeitig liefen Gestaltungsausarbeitung und Druck der Begleitkommunkation auf Hochtouren. Ist doch die beste Ausstellung „für die Katz“, wenn keiner hingeht, weil niemand davon weiß! Im MinervaErscheinungsbild entstanden ungewöhnliche und aufmerksamkeitsstarke Plakate, Einladungskarten und Flyer, und auch der umfangreiche Katalog wurde fast zur Eröffnung fertig!
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ERFOLG SICHTBAR MACHEN – THE MAKING OF „W O IST MINERVA?“
Der sehr enge Zeitplan ließ bis auf die Zwischenabnahmen beim Messebauer keinen Raum für einen Probeaufbau. So kam erst beim Aufbau vor Ort wenige Tage vor Eröffnung die „Stunde der Wahrheit“. Würde alles zeitgerecht klappen und funktionieren wie geplant?
Abbildung 5: Univ.-Prof. Dr. Karin Wilhelm © Anke Erdmann
6 . E r ö f f n u n g u n d W e i t e r r e i s e d e r Au s s t e l l u n g Zur Eröffnung am 5. Juni 2003 im Landtag in Hannover stand alles picobello da, die Macher/innen waren erschöpft, aber zufrieden. Als dann die Eröffnungsgäste, unter ihnen der Minister für Wissenschaft und Kul271
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tur, der Landtagspräsident und viele der „echten“ Minerven, hoch beeindruckt und froh in der Ausstellung zirkulierten, wussten alle: Aufwand und Einsatz haben sich gelohnt, die Ausstellung wird ihre Wirkung entfalten. Nach drei erfolgreichen und gut besuchten Wochen wurde die Ausstellung inzwischen an vielen anderen niedersächsischen Hochschulorten gezeigt – so in Oldenburg, Braunschweig, Lüneburg, Göttingen, Wolfenbüttel, Hildesheim und noch mal Hannover. Trotz der – gegenüber einer konventionellen „Stellwand-Ausstellung“ – aufwändigeren Vor- und Nachbereitung wurde sie gerne gebucht und gezeigt. Sie „stellt etwas dar“, und man kann sich damit präsentieren. Und sicherlich bleibt sie allen, die sie gesehen haben, intensiver in Erinnerung als ein gesehenes Bild oder ein gelesener Text.
An m e r k u n g e n 1
Die Arbeitsgruppe der HBK: Studierende: Anke Erdmann, Britta Freise, Maren Meßmer, Stefanie Pille, Ute Sauvigny, Melissa Seelig, Michael Seifert Projektleitung: Prof. Regina Henze, Dipl. Des. Isabell Bischoff
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Die dreizehn „Minerven“: Prof. Marina Abramovic (GrenzGängerin) Hochschule für Bildende Künste, Braunschweig Prof. Marina Blagojevic (MachtWandlerin) Belgrad Prof. Dr. Christa Cremer-Renz (KopfWäscherin) Fachhochschule Nordostniedersachsen, Lüneburg Prof. Rose Baaba Folson (EthnoAkrobatin) Ontario Institute for Studies in Education, University of Toronto Prof. Dr. Anne Friedrichs (ParagraphenFee) Fachhochschule Oldenburg/Ostfriesland/Wilhelmshaven Prof. Dr. Melanie Luck von Claparède (KunstPredigerin) Fachhochschule Oldenburg/Ostfriesland/Wilhelmshaven, Oldenburg Dr. Namrata Pathak (RegenFängerin) Action for Food Production (AFPRO), New Delhi Tatjana Prelevic (KlangReiterin) Hannover Prof. Dr. Friederike Prinzessin zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein (LebensPatin), Fachhochschule Osnabrück Prof. Dr. Andrea Tipold (LaborAmazone)
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ERFOLG SICHTBAR MACHEN – THE MAKING OF „W O IST MINERVA?“
Tierärztliche Hochschule Hannover Prof. Dr. Ing. Babette Tonn (EisenDompteuse) Technische Universität Clausthal Prof. Dr. Karin Wilhelm (StadtStreiterin) Technische Universität Braunschweig Prof. Dr. Annette Zippelius (DenkSportlerin) Universität Göttingen 3 Die Fragen: 1. Welches waren die besonderen Wendepunkte oder „Knackpunkte“ in Ihrem Leben, und was hatten sie zur Folge? 2. Gab es „Umwege“ oder „Richtungsänderungen“ in Ihrem Lebensweg? 3. Was oder wer motiviert/inspiriert Sie? 4. Wo sind Sie jetzt? Wollten Sie dort hin? (Wenn Sie noch einmal von vorne beginnen könnten: Was würden Sie anders machen?) 5. Was wollen Sie (noch) erreichen? 6. Welche Rolle spielten Auslandsaufenthalte/der Wechsel von Orten? 7. Welche Eigenschaften halten Sie für Ihren Erfolg für wesentlich? 8. Empfinden Sie sich als Frau in einer Männerwelt? 9. Welche Faktoren waren für Ihren Erfolg ausschlaggebend? 10. Können Sie Ihre Forschungen/Leistungen allgemeinverständlich kurz umreißen? 4
EigenSinn – Wie erfolgreiche Frauen ihre Ziele erreichen (Antworten auf die Frage: Welche Eigenschaften halten Sie für Ihren Erfolg für wesentlich?): 1. Die Wahrheit sagen – egal, wie schmerzhaft das sein kann. 2. Niemals ein „nein“ als Antwort hinnehmen 3. Kreativität, kritischer Geist, Kühnheit und Eigenverantwotlichkeit („ziviler Ungehorsam“), aber auch Intuition 4. Sachkompetenz, Arbeitsfreude, Fleiß, Engagement, Kreativität, Intuition, Emphathie 5. Ermutigung und Unterstützung: das Glück, viele Unterstützerinnen und Unterstützer zur rechten Zeit im Leben zu finden 6. Die Fähigkeit, Menschen unvoreingenommen und ohne Vorurteile wahrzunehmen, Ausdauer und Selbstvertrauen 7. Mut, Ausdauer, Unabhängigkeit – und Herzenswärme 8. Spaß am Lernen, gesundes Selbstvertrauen 9. In wichtigen Phasen des Lebens Menschen finden, die einen unterstützen und fördern 10. Zuverlässigkeit, Erstklassigkeit, Integrität, Begeisterung – Sich-ganzEinbringen 11. Gründliches Fachwissen, Kompetenz, Überzeugungskraft und Begeisterungsfähigkeit 12. Ausdauer, Nicht aufgeben, Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit, Pünktlichkeit und Bereitschaft, andere zu unterstützen 13. Ursprünglichkeit; Authentizität; Ehrlichkeit 273
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14. Ausdauer, Risikobereitschaft, kritisches Hinterfragen, den Mut zu haben, einen unbequemen und unsicheren Weg zu gehen 15. Durchhaltevermögen, inneres Gleichgewicht, Toleranz, Aufgeschlossenheit 16. Chancen als solche erkennen und nutzen 17. Zuverlässigkeit, Geradlinigkeit, Offenheit, das Vermögen zuhören und verhandeln zu können 18. Freunde und Beziehungen, die mir geholfen haben, meine Ideen und Ziele umzusetzen 19. Neugier; Mut zum Widerspruch; Beharrungsvermögen; Lust an den Themen, mit denen man sich befasst; Aufmerksamkeit gegenüber anderen Meinungen und die Erkenntnis, dass man nicht allein im Besitz der Wahrheit ist, sondern nur ein Teil dessen und schließlich: Freude am Gespräch mit den Studierenden, d.h. offensive Auseinandersetzung mit Jüngeren, dergleichen und Kollegialität mit den KollegInnen. 20. Dickköpfigkeit, „Sturheit“ 21. „Ich weiß genau, was ich will.“
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LebensBilder als Beispiel interdisziplinärer Herausforderungen STEPHANIE ZUBER
Die Tagung LebensBilder beschäftigte sich mit einem Gegenstand, der ein wesentlicher Ausgangspunkt feministischer Wissenschaft war und der heute – nach mehr als 30 Jahren der Weiterentwicklung, Neugestaltung und disziplinenspezifischen Differenzierung – einen nach wie vor bedeutenden Stellenwert innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung innehat: Biographien von Frauen. Die Zugänge zum Thema während der Tagung stammten aus den Kultur-, Sozial-, Geistes-, Kunstund Naturwissenschaften. Zudem wurden künstlerische Arbeiten zu Biographien integriert. Die konsequente (und reflektierte) Einbeziehung derart unterschiedlicher Zugangsweisen hatte zwei Gründe: Der erste Grund liegt im Topos selbst. Viele Disziplinen widmen sich seit einigen Jahrzehnten Biographien und biographischem Material; sie greifen hierbei jedoch sehr unterschiedliche methodische und methodologische Ansätze auf. Wird das Thema ‚LebensBilder‘ fokussiert, drängt es sich folglich auf, offen für differierende Bearbeitungsansätze zu sein. Der zweite Grund ist der, dass das Thema gewählt wurde, weil es auf so unterschiedliche Weise in vielen Fächern aufgegriffen wurde und somit ein – wenn auch thematisch nur vage umrissener – Gegenstand interdisziplinärer Betrachtung ist. Dies entspricht dem Selbstverständnis der Gender Studies als interbzw. transdisziplinärem Feld und somit auch dem Veranstalter der Ta1 gung selbst, dem Braunschweiger Zentrum für Gender Studies.
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Wie in vielen Einrichtungen der Frauen- und Geschlechterforschung kooperieren im Braunschweiger Zentrum für Gender Studies mehrere Hochschulen – Technische Universität Braunschweig, Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel und Hochschule für Bildende Künste Braun-
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Entsprechend den Intentionen führte die ‚Ungenauigkeit‘ des Themas zu einer Fülle sehr heterogener Beiträge. Der Spannungsbogen zwischen Rekonstruktion, Illustration bis hin zum Umgang mit Konstruktionen (auto-)biographischen Materials sowie die Verflechtungen individueller Biographien mit vergesellschafteten Lebensverläufen war somit sehr weit gefasst. Während etwa der musikwissenschaftliche Beitrag von Erika FunkHennigs die Einzel-Biographie von Ethel Smyth rekonstruierte und akustisch erlebbar machte, schloss Renate Tobies anhand einer vergleichenden Analyse von mehr als 300 Biographien von Mathematikerinnen auf die Geschlechterverhältnisse innerhalb der Mathematik und veranschaulichte die Verquickung von individuellen Lebenswegen und kollektiven Mustern in Berufsbiographien. Ebenfalls rekonstruktiv arbeitete Bettina Wahrig indem sie aufzeigte und analysierte, wie Ärzte und Apotheker vermittels Selbstpräsentation ihre Biographien konstruierten, die u.a. den moralischen und standesgemäßen Vorstellungen des Geschlechterverhältnisses im 18. Jahrhundert entsprachen. Bettina Gockel fokussierte mit ihrem Vortrag zu Künstlerpathographien ein besonderes Genre der Dokumentation individueller Lebensgeschichten, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts seine größte Verbreitung fand. Von anderer Art war der Beitrag Bettina Dausiens. Nach Jahren der Arbeit mit der in den Sozialwissenschaften verbreiteten Methode der Biographieforschung rückte sie die Frage nach der generellen Aussagefähigkeit und nach der Zulässigkeit der (Auto-)Biographie als Beschreibungs- und Analysekategorie in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Regina Henze gab Einblick in den planerischen und gestalterischen Prozess der Sichtbarmachung von Biographien in der Ausstellung „wo ist minerva“. Über die interdisziplinären Zugänge hinaus präsentierten Sabine Ritterbusch und Heidi Kommerell in ihrem musikalischen Beitrag Fanny Hensel-Mendelssohn und weitere Komponistinnen in Lied und Wort. Die Liste der Unterschiede zwischen den Beiträgen ließe sich fortsetzen. Der Vorwurf der Beliebigkeit drängt sich auf. Macht es Sinn, auf einer Tagung derart heterogene Vorträge zu einem vage gefassten Thema zu versammeln? Wo liegt der Gewinn einer so verstandenen Interdisziplinarität? Zur Beantwortung dieser Fragen werden wissenschaftssoziologische Überlegungen zu Interdisziplinarität herangezogen (Teilkapitel 1) und es wird die besondere Beziehung der Frauen- und Geschlechterforschung zur Interdisziplinarität thematisiert (Teilkapitel 2). Zwei besondere Aspekte der Heterogenität von Beiträgen während der schweig – mit einem entsprechend breiten Kanon wissenschaftlicher und künstlerischer Disziplinen.
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LebensBilder – Einbeziehung von Natur- und Technikwissenschaften sowie Einbeziehung künstlerischer Zugänge zum Thema – werden hervorgehoben (Teilkapitel 3). Einige konkreter Beispiele veranschaulichen den interdisziplinären Dialog während der Tagung. Daran anknüpfend lassen sich vor dem Hintergrund der vorgenommenen Kontextualisierung von Interdisziplinarität Überlegungen ableiten, warum die Tagung von den Besucher/innen, Referentinnen und Veranstalterinnen bezogen (nicht nur) auf den Austausch zwischen den Disziplinen als sehr gelungen bewertet wurde (Teilkapitel 4). Der Aufsatz schließt mit einem Fazit zu den interdisziplinären Herausforderungen, die die Tagung darstellte (Teilkapitel 5).
1. Interdisziplinarität Die Tagung LebensBilder folgte dem Postulat der Interdisziplinarität und somit einer Forderung, die zwar weit verbreitet ist, hinsichtlich der Umsetzbarkeit jedoch zunehmend kritisch betrachtet wird. Dabei ist die 2 Diskussion um Multi-, Trans- und Interdisziplinarität keinesfalls neu. Bereits in den 60er Jahren gab es eine verstärkte Forderung nach Interdisziplinarität; zu nennen ist hier insbesondere Helmut Schelsky, auf dessen 1963 erschienene Schrift „Einsamkeit und Freiheit“ Teile des Diskurses zurückzuführen sind (vgl. Lübbe 1987). Ausgangspunkt war die der Organisation Wissenschaft immanente Logik, die eine Differenzierung des Wissenschaftssystems bis hin zu einer „Atomisierung der Fächer“ (Mittelstraß 1987: 152) bedingt. Evident ist hierbei, dass die gebildeten Fächer und Disziplinen keiner naturgegebenen Ordnung entsprechen, sondern etwas „durch die Wissenschaftsgeschichte Gegebe2
Die Begriffe Trans-, Multi- und Interdisziplinarität (mitunter auch Intradisziplinarität) werden sehr unterschiedlich definiert. So führt etwa Knapp (1995) für die Interdisziplinarität innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung die Zusammenarbeit akademisch-institutionalisierter und außeruniversitärer Frauenbewegungen an; eine Lesart, die sich nicht allgemein wieder finden lässt. In diesem Beitrag wird den wissenschaftssoziologisch verbreiteten Definitionen gefolgt, nach denen Multidisziplinarität idealtypisch die additive Zusammenarbeit abgegrenzter Disziplinen mit festen Zuständigkeitsbereichen meint, Interdisziplinarität die gemeinsame Arbeit verschiedener Disziplinen, wobei stärker aufeinander Bezug genommen wird und Transdisziplinarität eine Zusammenarbeit verschiedener Akteure innerhalb und außerhalb der Wissenschaft, die zu einer Auflösung der Disziplinen- und Wissenschaftsgrenzen führt (vgl. etwa Blättel-Mink/Kastenholz 2000: 112ff.). Im allgemeinen (wissenschaftlichen) Sprachgebrauch werden die Begriffe häufig synonym verwendet. Eine strenge Differenzierung ist im Rahmen dieses Beitrags nicht notwendig.
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nes“ (ebd.: 153; vgl. auch Liesenfeld 1993: 258) sind. Die (Aus-)Differenzierung impliziert dabei Folgeprobleme: Von dem Verständnis ausgehend, dass Wissenschaft sich (auch) gesellschaftlicher Probleme annehmen muss, zeigte sich die Hinderlichkeit „disziplinärer Engführungen“ bei der Erarbeitung von Lösungen, weil diese sich keiner disziplinären Einteilung unterwerfen (Mittelstraß 1987: 154f.). Dabei ist, so die damalige Argumentation, eine disziplinäre Verankerung jedoch Voraussetzung jeder fachübergeifenden – interdisziplinären – Auseinandersetzung und diese zieht idealiter einen disziplinären Fortschritt nach sich, da sie, „rechtverstanden, auch der Rückgewinnung wissenschaftlicher Wahrnehmungsfähigkeiten“ dient (ebd.: 155). Es geht hierbei u.a. darum, die Grenzen der (eigenen) disziplinären Zuständigkeiten besser zu erkennen (Weingart 1987: 165). Eine so verstandene Interdisziplinarität ist also mehr als die Summe ihrer beteiligten Disziplinen, mehr als eine additive Zusammenführung mehrerer disziplinärer Bearbeitungen eines Problems. Doch bereits zwei Dekaden nach den so begründeten Forderungen der 1960er Jahre nach mehr Interdisziplinarität zeigte sich Enttäuschung: Anlässlich der Rückschau auf fast 20 Jahre Arbeit der ersten in Deutschland fest institutionalisierten Form interdisziplinärer Arbeit, dem Zent4 rum für interdisziplinäre Forschung (ZIF) an der Universität Bielefeld, wird konstatiert, der Begriff Interdisziplinarität habe an Glanz verloren und eigne sich „heute wohl etwas weniger gut als vor ein bis zwei Jahrzehnten zur Legitimierung von Projektanträgen bei Stiftungen und dergleichen“ (Kocka 1987: 8). Auch Weingart (1987: 159) führt in gleichem Zusammenhang aus: „Kürzlich nahm die OECD die Gelegenheit zu einem ‚Interdisciplinary – Revisited‘ wahr und stellte resigniert fest, dass heute, eineinhalb Jahrzehnte später, das Konzept der Interdisziplinarität offenbar an Momentum verloren und auch nur sehr begrenzte Auswirkungen gehabt habe.“
Beide Äußerungen erscheinen nun, nachdem erneut fast 20 Jahre verstrichen sind, obsolet. Schließlich war und ist die Forderung nach Inter-, Trans- oder Multidisziplinarität allgegenwärtig – allgegenwärtig seitens der Wissenschaftspolitik, aber auch seitens der Wissenschaft selbst. Die Motive und Motivallianzen haben sich hierbei jedoch verschoben. Damals und heute galt bzw. gilt mangelnde Passfähigkeit von wissen3
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Dabei sind Disziplinen keine vollkommen abgeschlossenen, oder auch nur klar abgrenzbaren Einheiten. Das Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZIF) geht auf die Initiative Schelskys zurück.
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schaftlichen Disziplinen gegenüber gesellschaftlichen Fragestellungen als ein Beweggrund. Während jedoch in den frühen Diskussionen Interdisziplinarität auf der Basis fest verankerter Disziplinen als eine Strategie gesehen wurde, komplexen Fragestellungen zu begegnen, so gehen die Vorstellungen heute bis hin zur Forderung nach einer nahezu vollständig von Disziplinen losgelösten Erzeugung wissenschaftlichen Wissens. Als gänzlich andersartig, durch die Anwendungen in temporären, hybriden ‚Settings‘ jenseits von Disziplinen organisiert und in steter Wechselwirkung mit Öffentlichkeit, Politik und Wirtschaft wird etwa die sog. „Mode-2-Wissenschaft“ (Gibbons et al. 1994; vgl. auch Nowotny et al. 2004) beschrieben, deren Zukunft bereits begonnen habe. Im gleichen Maße, wie diese Vorstellungen – insbesondere durch Vertreter/innen der Wissenschaftspolitik – aufgegriffen werden, gibt es jedoch seitens der Wissenschaftsforschung Vorbehalte gegenüber der Stichhaltigkeit solcher Beschreibungen (vgl. Krücken 2003: 239f.; Weingart 1997). Andere Überlegungen explizieren, warum hybride ‚Settings‘ gerade zu einer Stärkung disziplinärer Strukturen führen können (vgl. van den Daele/Krohn 1998: 857ff.). Ob Inter- bzw. Transdisziplinarität als hybrider Strukturrahmen oder als temporäre Zusammenkunft fest verankerter Disziplinen zu sehen ist, scheint derzeit Ansichtssache oder aber noch nicht entschieden. Und tatsächlich erweist sich heute der Begriff der Interdisziplinarität als sehr variabel. Von denen, die ihn nutzen, wird er flexibel mit sehr verschiedenen Bedeutungen versehen. Hark (2003: 77) führt dies darauf zurück, dass „diese Unklarheit für manche der beteiligten Akteur/innen von ungeheurem strategischen Vorteil“ ist. Mit einem strategischen Einsatz des Begriffs ist der Hinweis auf ein hinzugekommenes Motiv für Interdisziplinarität gegeben. Heutige Diskussionen um Interdisziplinarität sind latent – z.T. auch akut – durch Ressourcenfragen gekennzeichnet (ebd: 76ff.; Hark 2004). Interdisziplinäre ‚Settings‘ sind aufgrund ihrer nur vagen und temporären Institutionalisierung meist schlecht mit Ressourcen ausgestattet, obwohl ihnen ein enormes Innovationspotenzial zugesprochen wird. Dies ist möglich, da von der primären Einbindung und Absicherung der Beteiligten in Disziplinen profitiert werden kann. Und da, so Hark (2003: 81, Fehler im Original), bereits entschieden scheint, „dass die Spiritus recti der Universität der Zukunft nicht Wilhelm von Humboldt, sondern Bill Gates und Hasso Plattner sein werden“, ist die erhoffte Kostenneutralität durchaus erwünscht und kalkuliert. Rückblickend wurde in den 1960 Jahren die Ressourcenfrage noch optimistischer thematisiert. Um eine produktive interdisziplinäre Zusammenarbeit zu ermöglichen, schlug Schelsky vor, die beteiligten Wis279
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senschaftler/innen von anderen Pflichten zu befreien und ihnen innerhalb von gut ausgestatteten Forschungsgruppen weitgehende Freiheiten einzuräumen (Kocka 1991: 134). Eine Forderung, die angesichts der 5 derzeitigen Bedingungen an Hochschulen utopisch erscheint. Zusammenfassend lassen sich in der allgemeinen Diskussion von den 1960er Jahren bis heute drei Beweggründe für interdisziplinäres Arbeiten ausmachen: Erstens sind komplexe Fragestellungen häufig nicht in einzelnen, separierten Disziplinen bearbeitbar. Zweitens – und dies setzt ein Wissenschaftsverständnis voraus, das im Gegensatz zur Wissenschaftspolitik innerhalb der Wissenschaft keine uneingeschränkte Zustimmung findet – ist die Wissenschaft verpflichtet, sich eben solchen komplexen, gesellschaftlichen Fragestellungen zu widmen. Und drittens wird Interdisziplinarität mit Kostenaspekten verknüpft. Wie Inter-, Multi- oder Transdiziplinarität mit der Organisation ‚althergebrachter‘ Wissenschaft interagieren oder ob trans- bzw. interdisziplinäre Strukturen unsere heutige Wissenschaft ablösen, wird unterschiedlich gesehen. Vom ‚Mainstream‘ wissenschaftssoziologischer und wissenschaftstheoretischer Ansätze überwiegend unbeachtet, wurden in der Frauenund Geschlechterforschung der vergangenen 20 Jahre extensive Erfahrungen mit Interdisziplinarität gesammelt, die seit kurzer Zeit auch einer kritischen Reflexion unterzogen werden.
2. Gender Studies und Interdisziplinarität Der überwiegende Teil der in Form von Projekten, Studiengängen oder Zentren institutionalisierten Frauen- und Geschlechterforschung charak6 terisiert sich selbst als inter- oder transdisziplinär. Für von Braun und Stephan (2000: 12) gilt gar bei der Beschreibung von Gender Studies: „Die Querverbindungen zwischen den einzelnen Disziplinen stellen das eigentliche ‚Fach‘ dar.“ Die Interdisziplinarität der Gender Studies ist dabei keine neue Entwicklung. Geschlecht oder Gender erwies sich mit dem Aufkommen der Frauen- und Geschlechterforschung sehr schnell als ein bisher negierter Aspekt, der der Integration in disziplinäre Bearbeitungen bedurfte. Aber es zeigte sich auch, dass das Phänomen Geschlecht und seine strukturellen Ausprägungen größer sind als eine Disziplin und komplexe Beziehungen 5 6
Diese Forderungen konnten auch im ZIF nur teilweise umgesetzt werden (vgl. Kocka 1987: 1991). Für eine aktuelle Übersicht der Zentren und Studiengänge vgl. Mischau/ Oechsle (2003) oder Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin (2003).
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zwischen verschiedenen Facetten von Geschlecht bestehen, die durch nur disziplinäre Bearbeitung nicht hinreichend analysiert werden kön7 nen. Wie auch die im vorangegangenen Teilkapitel beschriebene allgemeine Forderung nach Interdisziplinarität, gründet sich also innerhalb der seit den 1980er Jahren verstärkt aufkommenden Geschlechterforschung Interdisziplinarität darauf, dass disziplinäre Beschreibungen des Handlungsgegenstands von Natur aus häufig nur unzureichende Perspektiven erfassen. Einher geht dies, wie ebenfalls für die allgemeine Motivlage in Teilkapitel 1 ausgeführt, mit einem bestimmten Wissenschaftsverständnis: Wissenschaft ist verpflichtet, zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beizutragen. Für die feministische Wissenschaft – mit ihren Querverbindungen zur Frauenbewegung – ist dies eindeutig verbunden mit dem Ziel des Abbaus von geschlechtersegregierten Machtverhältnissen und der Herstellung von Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern. Zwar haben sich Begriffe und Schwerpunkte mitunter gewandelt, doch ein solches Grundverständnis von Wissenschaft ist der Frauen- und Geschlechterforschung nach wie vor immanent. Somit bedingt sich auch eine Zusammenarbeit über Fächergrenzen hinweg: Sollen die Geschlechterverhältnisse adäquat beschrieben und dahingehend analysiert werden, dass auch ihre Veränderung möglich wird, so übersteigt dies die Möglichkeiten disziplinärer Methoden- und 8 Begriffsgerüste. Als Beispiel für ein solches kritisches Wissenschaftsverständnis und so begründete Interdisziplinarität sei hier die Internationale Frauenuniversität „Technik und Kultur“ (ifu) angeführt. Die ifu bot im Sommer 2000 für 100 Tage etwa 700 Frauen aus über 100 Ländern ein postgraduales Studienangebot und orientierte sich dabei an selbstgesetzten Leitideen: International und interdisziplinär sollten globale gesellschaftliche Probleme bearbeitet werden und dabei „die Wechselwirkung zwischen der Wissenschaftsentwicklung und den gesellschaftlichen Veränderungen in den Mittelpunkt der Analysen“ rücken (Neusel 2000: 35). Eine konsequente Einbeziehung der Gender-Perspektive zählte ebenfalls zu den Leitideen. Die Grundstruktur der ifu bildeten daher nicht Diszipli7
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Verbindend kam hinzu, dass sich Geschlechterforscher/innen innerhalb der unterschiedlichen Disziplinen mit ähnlichen Widerständen konfrontiert sahen; „Mann“ sperrte sich gegen ein Hinterfragen des etablierten Wissenskanons, der eigenen Forschungsmethoden und -methodologien. Diese gemeinsame Ausgangslage verband über die Fächergrenzen hinweg. Dies korrespondiert mit der durch feministischen Empirismus und neuere standpunkttheoretische Ansätze geforderten Pluralität der Perspektiven im Forschungsprozess (vgl. Palm 2004: 56ff.).
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nen, sondern sechs so genannte Projektbereiche: Arbeit, Information, Körper, Migration, Stadt und Wasser. Durch die angestrebte Interdisziplinarität sollten sich „neue Dimensionen eröffnen“, die Auswahl der Themen schloss dabei an „aktuelle, gesellschaftliche, ökologische und kulturelle Diskussionen“ an (ebd: 36 bzw. 38). Bezug genommen wurde auf Themen verschiedener Weltkonferenzen der letzten Jahre, etwa die UN-Frauenkonferenz in Peking 1995 oder die Habitat II in Istanbul 1996 (Neusel 1997: 72). In einem ähnlich ausgerichteten kritischen Wissenschaftsverständnis wird auch für die Arbeit des Projektzentrums Gender Studies an der Universität Wien betont: „Die vielfältigen Methoden und Zugangsweisen der feministischen Theorie und Gender Studies sowie der feministischen Cultural Studies machen deutlich, dass die daraus resultierenden inter- und transdisziplinären Synergieeffekte einen veränderten Blick auf angestammte Wissenstraditionen ermöglichen.“ (Moser et al. 2000: 13)
Neben dem frühen Austausch über die Disziplinengrenzen hinweg, wie er heute neben der ifu oder dem eben genannten Projektzentrum Gender Studies auch zahlreichen weiteren Projekten der Geschlechterforschung zu eigen ist, hat parallel jedoch auch eine fundierte Entwicklung genderspezifischer Ansätze innerhalb einzelner Disziplinen stattgefunden. Überwiegend scheint in der aktuellen Frauen- und Geschlechterforschung – selbst in solchen Projekten, die sich temporär in nicht-disziplinären Strukturen organisieren, wie etwa der ifu – ein interdisziplinärer Austausch oder transdisziplinäre Arbeit auf der Basis disziplinärer Kontexte angestrebt. Eine interdisziplinäre Beschäftigung mit Frauen- und Geschlechterforschung bedingt zum einen disziplinäre Kompetenzen, eine umfangreiche Wissensaneignung in anderen Disziplinen und die Bereitschaft zum Querdenken (vgl. Teilkapitel 1). Dies verlangt viel von allen Beteiligten, zumal hiermit meist einhergeht, dass die Beteiligten sich „innerhalb der einzelnen Disziplinen ‚fremd‘ fühlen“ (von Braun/ Stephan 2000: 15). Mittlerweile gibt es Erfahrungen eines reflektierten Umgangs mit der Herausforderung durch Interdisziplinarität. Unter dem Titel „Interdisziplinarität lehren“ führte Karin Hausen während einer Tagung aus, dass die Studienangebote des Berliner Zentrums für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung, dessen Leiterin sie bis 2003 war, oft ein additives Angebot darstellten und eine interdisziplinäre Verknüpfung zwischen den verschiedenen Strängen durch die Studierenden
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LEBENSBILDER ALS BEISPIEL INTERDISZIPLINÄRER HERAUSFORDERUNGEN 9 selbst hergestellt werden müssen. Hieran sei noch zu arbeiten. Gute Erfahrungen hingegen wurden gemacht mit Veranstaltungen, die von zwei Wissenschaftler/innen aus unterschiedlichen Disziplinen vorbereitet und durchgeführt wurden. „Team-Teaching“ hat sich hier als eine – wenn auch in der Vorbereitung zum Teil sehr zeitaufwändige – Möglichkeit guter Lehrpraxis erwiesen. Auch für die ifu wurde reflektiert, inwiefern diese ihrem Anspruch auf Interdisziplinarität gerecht wurde. Etwa die Hälfte der jeweils in interdisziplinären ‚Settings‘ zusammengebrachten Teilnehmerinnen gab an, hieraus einen hohen wissenschaftlichen Ertrag für ihr Studium gezogen zu haben (vgl. Maiworm/Teichler 2002: 75), wobei eine diesbezügliche Evaluation auch zeigte, dass die „Diskrepanz zwischen dem interdisziplinär konzipierten Curriculum und den disziplinär ausgebildeten Teilnehmerinnen […] sich als besonderes Problem“ erwies (MetzGöckel 2002: 113). Becker (2003: 120) spricht in einem eher subjektiven Rückblick auf ihre Arbeit als Professorin im Projektbereich Stadt von einem wahrgenommenen „‚Zwang‘ zur Interdisziplinarität“ der „die Dozentinnen vor die schier unlösbare Aufgabe“ gestellt habe, ein Lehrangebot zu entwickeln und zu vermitteln, welches
„sowohl für Teilnehmerinnen, denen die Grundbegriffe des jeweiligen Faches fremd waren, verständlich als auch für […] Spezialistinnen aus dem eigenen Fach interessant sein sollte“.
Als Problem erwies sich hierbei die relativ kurze Dauer der interdisziplinären Zusammenarbeit während der ifu. Interdisziplinarität ist nicht einfach, aber dennoch gewinnbringend für die Beteiligten, so lautet überwiegend das Fazit der erwähnten Projekte/Institutionen und auch verschiedener Tagungen, die hinsichtlich des Jubiläums verschiedener Zentren der Geschlechterforschung in den vergangenen Jahren stattfanden und dabei ihre Position zwischen den 10 Disziplinen zum Thema machten. Karin Hausen hielt ihren Vortrag „Interdisziplinarität Lehren – eine Gradwanderung der Frauen- und Geschlechterforschung mit Risiken und verlockenden Aussichten“ während der Tagung „Wechselwirkungen, Risiken und Nebenwirkungen. Frauen- und Geschlechterforschung im Kontext von Disziplinen und Netzwerken“ am 08./09. Mai 2003 in Bielefeld. 10 Ausdrücklich erwähnt seien hier zwei Tagungen: Einmal „Wechselwirkungen, Risiken und Nebenwirkungen. Frauen- und Geschlechterforschung im Kontext von Disziplinen und Netzwerken“ am 08./09. Mai 2003 in Bielefeld anlässlich des 20-jährigen Bestehens des Interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Geschlechterforschung der Universität Bielefeld und „Quer denken? Strukturen verändern. Gender Studies zwi-
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Aber der in Teilen sehr anspruchsvolle und mühsame Weg der interdisziplinären Frauen- und Geschlechterforschung ist nicht allein dem hehren Ziel einer kritischen Wissenschaft verpflichtet, die sich in umfassender Weise gesellschaftlicher Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern annimmt. Eine Institutionalisierung der interdisziplinären Frauen- und Geschlechterforschung erfolgte auch, um auf diese Weise eine Absicherung der Ressourcen zu gewährleisten. Knapp (hier nach Hark 2003: 82) benennt dies als „Notwehrmaßnahme […] damit Frauenforschung nicht aus den lean universities der Zukunft verschwindet“. Angesichts der aktuellen Umstrukturierungen im deutschen Hochschulwesen, die mit enormen finanziellen Restriktionen verbunden sind, erweist sich die Interdisziplinarität in zweifacher Hinsicht als Problem: Zum einen zeigt sich, dass die Einführung gestufter Studiengänge disziplinäre Engführungen impliziert, die eine curriculare Einbindung und 11 strukturelle Absicherung der Geschlechterforschung gefährdet. Zum anderen ist das Einlassen auf den strukturell relativ unsicheren Bereich der Geschlechterforschung häufig verbunden mit dem Zurückstellen von Möglichkeiten im eigenen Fach zu wirken und dort Reputation zu erlangen – etwas, was die Beteiligten bei zunehmendem Konkurrenzkampf im Wissenschaftsbereich stärker abwägen werden müssen.
3. Von der Radioaktivitätsforschung bis zur bildenden Kunst Als „interdisziplinär“ ausgewiesene Projekte und Institutionen vereinen oft einen begrenzten Ausschnitt von Fächern miteinander, die auf ähnliche oder zumindest näher beieinander liegende Methoden und Methodologien zurückgreifen. So beteiligen sich an vielen der mittlerweile zahlreichen Zentren für inter- oder transdisziplinäre Geschlechterforschung zumeist verschiedene Disziplinen der Sozialwissenschaften oder Sozial-, 12 Geistes- und Kulturwissenschaften. Die Tagung LebensBilder versuchte, diese ‚eingeschränkte’ interdisziplinäre Ausrichtung in zweierlei Hinsicht zu erweitern: zum einen durch den Einbezug von Technik- und Naschen Disziplinen“ am 31.10.2003 in Bremen zum fünfjährigen Bestehen des Zentrums für feministische Studien. 11 Diese Schwierigkeit wurde während der Arbeitstagung „Geschlechterstudien im deutschsprachigen Raum – Weiterentwicklung in Zeiten der Umstrukturierung von Hochschulen“ am 2./3. Juli 2004 in Bremen fast einvernehmlich beschrieben. Vgl. Zuber (2005) 12 Dies zeigt etwa der Überblick, der zusammengestellt wurde vom Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin (2003).
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turwissenschaften und zum anderen durch die Hinzunahme künstlerischer Auseinandersetzungen mit dem Thema ‚LebensBilder‘. Beide Erweiterungen werden hier kurz kontextualisiert.
Einbezug von Technik- und Naturwissenschaften Geschlechterforschung in den Technik- und Naturwissenschaften ist bisher in Deutschland (und auch darüber hinaus) nicht besonders stark verankert. Zwar wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Projekte, insbesondere Mentoring-Programme, entwickelt, die Geschlechterthemen und Technik-/Naturwissenschaften im Sinne einer Frauenförderung miteinander verbinden; eine inhaltlich forschende Perspektive ist jedoch 13 nur rudimentär entwickelt. Mit wenigen Ausnahmen beschränken Studiengänge und Zentren ihre Interdisziplinarität auf ein bestimmtes ‚Setting‘ an Disziplinen aus den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften. Selbst die ifu wies trotz einer systematischen Betonung der „Technik“ im eigenen Namen diesen Einschlag auf (vgl. Lasch 2002: 33f., 42). Zurückzuführen ist die Ablehnung einer Integration von Geschlechterforschung u.a. auf das Objektivitätspostulat dieser Fächer. Da die Naturwissenschaften gerade qua Kontextungebundenheit ihre Autorität gegenüber anderen Disziplinen legitimieren, wird eine Abhängigkeit der Forschungsinhalte und -prozesse vom Geschlecht der Forschenden und von einer vergeschlechtlichten Gesellschaftsordnung – wie etwa der feministische Empirismus oder neuere Standpunkttheorien sie offen legen und einfordern – negiert (vgl. Schinzel 2004: 31; Palm 2004: 55ff.). Konnten bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts naturwissenschaftliche Theorien noch relativ problemlos mit philosophischen Überlegungen verbunden und bezüglich ihrer Kontexte verhandelt werden, so kam es mit der ‚Atomisierung der Fächer‘ zur einer „Ausgliederung der Wissenschaftsforschung in die Sozial- und Kulturwissenschaften“ (ebd.: 51). Dies zeigt sich heute darin, dass sich Gender Studies in Natur- und Technikwissenschaften eine Brücke bauen müssen, die für kultur- und sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung nicht notwendig ist: Während Gender Studies innerhalb der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften (wenn auch häufig in kritischer Distanz) auf eigene disziplinäre Methoden und Methodologien zurückgreifen können, zeigt sich für 13 Für grundlegende Texte der Frauen- und Geschlechterforschung innerhalb natur- und technikwissenschaftlicher siehe Lederman/Bartsch (Hg.) (2001). Für einzelne Beiträge zu diesem Bereich im deutschsprachigen Raum vgl. bspw. Epp (Hg.) (2002), Palm (2003, 2004) sowie die Zeitschrift „Koryphäe. Medium für feministische Naturwissenschaft und Technik“.
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die Natur- und Technikwissenschaften ein anderer Zugang: Geschlecht ist – wenn auch verwoben mit biologischen und zunehmend biologisierten Aspekten – zunächst ein Begriff der Sozial- und/oder Kulturwissenschaften; wie Becker-Schmidt (2002: 36) es benennt: „Er ist geschichts- und kulturgebunden, er ist ein sprachliches Konstrukt, er gibt in einer soziologischen Perspektive die Position von Frauen und Männern in der Gesellschaft an, er verweist unter politischen Gesichtspunkten auf Machtgefälle zwischen den Genus-Gruppen und hat viele sozialpsychologische Implikationen.“
Die Öffnung der Wissenschaftskultur der Natur- und Technikwissenschaften für ‚fachfremde‘ Ansätze, Methoden, Methodologien und Handlungsgegenstände bedeutet also, eine (Selbst-)Verunsicherung, der zunächst mit Abwehr zu begegnen versucht wird (vgl. auch Palm 2003). Beispiele für eine Integration von Ansätzen der Geschlechterforschung in Technik- und Naturwissenschaften verweisen darauf, dass es sich hierbei um einen mehrschichtigen Prozess handeln muss. So konstatiert etwa Schinzel (2004: 32f.) exemplarisch für die Informatik: „Das so beschriebende ‚Gendering‘ durch informationstechnische Produkte muss sowohl im Konstruktionsprozess, wie auch bei der Anwendung und schließlich bei der Endnutzung aufgeschlüsselt (dekonstruiert) werden durch Entwicklung gendersensitiver informationstechnischer Produkte und Systeme konstruktiv gewendet werden. Die dekonstruktivistischen Ansätze der GenderForschung können so einen kritischen Beitrag zur Sichtbarmachung und Auflösung starrer Dichotomien oder Technikgestaltung sowie zur konstruktiven Umsetzung des so Erforschten leisten.“
Möglicherweise erschwert in Bezug auf Technik zudem das dekonstruktive Grundverständnis der Geschlechterforschung bei einem gleichzeitig gestalterisch-konstruktiven Selbstverständnis ingenieurwissenschaftli14 cher Fächer die Kommunikation. In anderer Weise lässt sich jedoch ein wachsendes Interesse an solchen ‚Grenzüberschreitungen‘ feststellen: Die Initiativen und Projekte, die eine Integration von Gender Studies in die Natur- und Technikwissenschaften beabsichtigen, konstatieren mittlerweile eine gestiegene Bereitschaft der Geistes- und Sozialwissenschaften, sich auf natur- und 14 Hierauf wiesen Ines Weller und Ulrike Teubner in einer Diskussion während des Symposiums „Geschlechterforschung in Natur- und Technikwissenschaften – Strategien zur Institutionalisierung“ im Februar 2005 am Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der Universität Oldenburg hin.
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technikwissenschaftliche Themen einzulassen – in entgegengesetzter 15 Richtung greifen jedoch nach wie vor starke Vorbehalte. Das Braunschweiger Zentrum für Gender Studies, Veranstalter der Tagung LebensBilder, ist angesiedelt an drei Hochschulen, von denen zwei eine stark technisch-naturwissenschaftliche Ausrichtung besitzen. Das Zentrum hat sich vorgenommen, diesem Umstand Rechnung zu tragen und u.a. Geschlechterforschung in die ‚harten‘ Fächer zu bringen. Aufgrund der beschriebenen Schwierigkeiten ist dies eine besondere Herausforderung und es wird (zunächst) versucht, dieser durch die Verankerung von ‚Schnittstellenthemen‘ zu begegnen; Themen, die Anknüpfungspunkte sowohl für Natur- und Technikwissenschaften, als auch Sozial- und Geisteswissenschaften zulassen. Als solches lassen sich die Tagungbeiträge von Renate Tobies, Beate Ceranski, Bettina Wahrig und Anke te Heesen verstehen, die anknüpften an die Bereiche 16 Mathematik, Pharmazie/Medizin und Radioaktivitätsforschung. Inwieweit diese Herangehensweise langfristig tatsächlich dazu führt, dass solche Themen als Bestandteil der Technik- und Naturwissenschaften gesehen werden und somit zu einer Veränderung der disziplinären Selbstwahrnehmung führen, ist nach wie vor fraglich – aber das Vorgehen erweist sich als fruchtbar, um Kooperationspartner/innen innerhalb der vermeintlich „harten“ Fächer zu gewinnen.
Einbezug der Kunst Mit der Einbeziehung künstlerischer Zugangsweisen zu ‚LebensBildern‘ hat die Tagung einen aktuellen Trend zur geplanten Grenzüberschreitung aufgegriffen, der dahin geht, wissenschaftliche und künstlerische Bearbeitungen eines Themas miteinander zu verbinden. Ausstellungen wie Unter der Haut – Transformationen des Biologischen in der Zeitgenössischen Kunst im Duisburger Wilhelm Lehmbruck Museum 2001, die Blutbilder der Kölner Künstlerin Bettina Pousttchi oder die in Kooperation mit dem Forschungszentrum Jülich entstandene und im Deutschen Museum Bonn über mehrere Jahre gezeigte Ausstellungsreihe Art & Brain sind nur einige Beispiele für diesen Trend. Dabei knüpfen sowohl Orte der Kunst als auch solche der Wissen(schaft)svermittlung an 15 Dies war der Tenor zahlreicher Beiträge während der Tagung „Gender
Studies und Naturwissenschaften – Eine Bestandsaufnahme von Initiativen und Aktivitäten an Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz“ veranstaltet durch das Projekt „Degendering Science“ an der Universität Hamburg am 25./26. Juni 2004. 16 Der geplante Vortrag von Anke te Heesen „Zusammengeklebt – Papierpersona. Zur Konstruktion von Albert Einstein“ musste kurzfristig leider entfallen.
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den Trend an. Für ersteres ist die documenta 11 in Kassel 2002 ein Beispiel, für letztere die durch das Künstlergespann Via Lewandowsky und Durs Grünbein in Szene gesetzte Ausstellung Kosmos im Kopf: Gehirn und Denken, die 2000 im Deutschen Hygienemuseum Dresden gezeigt wurde. Eine verstärkte Thematisierung der Verbindung von Kunst und Wis17 senschaft ist ab etwa Mitte der 90er Jahre zu verzeichnen. Dabei wird eine lange Tradition der Komplementarität von Wissenschaft und Kunst beziehungsweise ein gemeinsamer Ursprung beider Unternehmungen oder zumindest eine gemeinsame Stoßrichtung ausgewiesen, die häufig bis in die Renaissance, manchmal systematischer bis in die Antike zu18 rückverfolgt wird. Die Motive für die Verbindung sind dabei höchst unterschiedlich. Einerseits wird konstatiert, dass die Wissenschaft ihr OrientierungsMonopol verloren habe und nur mehr eine unter anderen Wahrheiten produziere (z.B. Welsch 1986: 128); eine „öffentliche und zugängliche und weniger als Monopol einer wissenschaftlichen Priesterschaft betriebene Naturwissenschaft“ wird mitunter seitens der beteiligten Wissenschaftler/innen gefordert (hier Scheldrake nach Fricke 1999: 44). Dieser Gedanke lässt sich verbinden mit der bereits beschrieben Absage der feministischen Wissenschaftskritik und Geschlechterforschung an ‚All19 Erklärungsansprüche‘ der Wissenschaft. Seitens der Kunst wird zum Teil jedoch gerade auf die Dominanz von Wissenschaft in unserer Gesellschaft verwiesen, aufgrund derer die Kunst sich mit Wissenschaft auseinandersetzen müsse (z.B. ebenfalls 20 Welsch 1986: 127; Ecker 1999: 59). 17 Die Biennale 1986 in Venedig stand zwar bereits unter dem Leitthema
Wissenschaft und Kunst, danach wurde der Topos jedoch zunächst nicht nachhaltig verfolgt. Für aktuellere Thematisierungen siehe auch die als CD-Rom erschienene Dokumentation des Symposiums Kunst als Wissenschaft – Wissenschaft als Kunst anlässlich des Wissenschaftssommers Berlin 2001. 18 Vgl. hierfür etwa Goehler/Bauer 2000: 165; Trummer 1997: 99; Welsch 1986; Feyerabend 1984 oder Budde 1996. Mit ähnlicher Intention lässt sich auch das Begriffspaar Kunst und Technik beschreiben; vgl. hierfür Holländer 2002. 19 In ähnlicher Weise begründete sich auch während der Internationalen Frauenuniversität „Technik und Kultur“ die Leitidee, Kunst konsequent in die Wissensproduktion einzubeziehen (vgl. Loreck 2002). 20 Für die Wissenschaft ergibt sich ein weiterer (vermeintlicher) Anknüpfungspunkt an die in diesem Fall bildenden Künste: Die Darstellbarkeit ihrer Arbeit hat sich grundlegend verändert. Lyotard (1990: 80) spricht von einer „Immatériaux“, womit er das Verschwinden der Materie aus den Naturwissenschaften bezeichnet. Wissenschaftler/innen arbeiten intern bereits zunehmend mit Abbildungen und Modellen, die erheblicher visueller
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Beide Motive sind aber für die LebensBilder nachrangig, vor allem ging es hier um einen weiteren, eng mit der Interdisziplinarität verknüpften Aspekt: Wissenschaftliche Innovationen ergeben sich häufig dort, wo das Denken etablierte Bahnen verlässt und neue Sichtweisen erprobt 21 werden. Wissenschaftler/innen erhoffen sich also mitunter Anregungen „im Austausch mit Konzeptionen des Kunstfeldes […] eine Veränderung der Bereitschaft für gerichtetes Wahrnehmen“ (Trummer 1997: 103). Feyerabend (1984: 8) geht so weit, eine strikte Trennung von Wissenschaft und Kunst, zwischen denen dann womöglich nur eine kleine Schnittmenge bestehe, abzulehnen; er konstatiert vielmehr: „künstlerische Verfahren kommen überall in den Wissenschaften vor und besonders dort, wo neue und überraschende Entdeckungen gemacht werden“. Ähnlich hat das „Wissens-Delphi“, eine Befragung unter 500 Expert/innen zur Zukunft der Wissensgesellschaft, eine zunehmende Bedeutung von Interdisziplinarität prognostiziert, die u.a. damit verbunden sei, dass „auch das Wechselspiel zwischen inhaltlich eher entfernt liegenden Disziplinen (z.B. Kunst und Physik, Philosophie und Biologie) immer mehr zur Quelle für Kreativität“ wird (Stock et al. 1998: 184). Die Nebeneinanderstellung von künstlerischen und wissenschaftlichen Arbeiten zu einem Thema, so also der Grundgedanke, kann für die Wissenschaft als auch für die Kunst neue Perspektiven, Einsichten und Erkenntnisse ergeben. In diesem Sinne waren die künstlerischen Beiträge der Tagung – dies war die Präsentation von Lynn Hershmans Film „Conceiving Ada“, der musikalische Abend „Sonntags bei Fanny Mendelssohn“ mit Sabine Ritterbusch (Sopran) und Heidi Kommerell (Klavier) und im weiteren Sinne die Ausstellung „wo ist minerva Wegbe-
Übersetzungsleistungen bedürfen, so ist beispielsweise die vermutete Doppel-Helix Struktur der DNA ein dahingehendes Modell. Eine solche Wissenschaft extern darzustellen und zu vermitteln bedarf ebenso und noch verstärkt visueller Modelle – und die diesbezügliche Arbeit wird mitunter Künstler/innen zugesprochen. Diese verweigern sich allerdings einer rein instrumentellen Rolle (vgl. z.B. Obrist 1999: 48ff.). Eine mögliche Instrumentalisierung von Kunst durch die Wissenschaft birgt somit ein hohes Konfliktpotential für den in den letzten Jahren forcierten Dialog beider Unternehmungen (vgl. Knaup 2002). Auch erfolgt eine Instrumentalisierung z.T. dann, wenn wissenschaftliche Arbeiten, Projekte etc. Kunst lediglich miteinbeziehen, um von der ‚Aura der Kunst‘ zu profitieren, da es der Wissenschaft selbst mitunter an Ausstrahlungskraft mangelt (ebd.). Für die Betrachtung der Tagung LebensBilder lassen sich diese Aspekte jedoch vernachlässigen. 21 Diese Überlegungen sind nicht ganz neu. Sie decken sich mit Ansätzen und Überlegungen, die Fleck (1994 [1935]) bereits in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts formulierte.
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schreibungen erfolgreicher Frauen“ – mehr als ein unterhaltendes Begleitprogramm. Wie aber gestaltete sich das Zusammenspiel von Beiträgen, die diese enorme interdisziplinäre Heterogenität von Zugängen abdeckten, während der Tagung LebensBilder?
4. LebensBilder – Beispiele der interdisziplinären Tagung Die Tagung LebensBilder wurde von allen Beteiligten – Teilnehmer/innen, Referentinnen und Veranstalterinnen – als sehr gelungen und insbesondere im interdisziplinären Dialog äußerst produktiv wahrgenommen. Im Folgenden wird anhand von drei Beispielen aufgezeigt, wie die im Sinne der vorangegangenen Teilkapitel verstandene Interdisziplinarität sich konkret gestaltete und inwiefern hierdurch zur Produktivität der Tagung beigetragen wurde.
Der Habitus der Pharmazeuten In ihrem Vortrag „Zwischen Bildungsroman und Schöpfungsphantasie“ gab Bettina Wahrig (vgl. Beitrag in diesem Band) zahlreiche Beispiele dafür, wie Ärzte und Apotheker im 18. Jahrhundert dargestellt wurden bzw. sie sich selbst dargestellt haben, inwiefern mit Hilfe dieser Darstellungen individuelles Leben mit idealtypischen Professionsbeschreibungen verwoben wurde und wie diese Idealtypen sich im Laufe eines Jahrhunderts gewandelt haben. Wahrig verwandte in Zusammenhang mit der Herausbildung idealtypischer Apotheker und Ärzte – und mit der parallel verlaufenden Zuschreibung, dass diese eben nicht weiblich sein können – den Begriff des Habitus. In der anschließenden Diskussion war eine der ersten Fragen die nach der Begriffsgenauigkeit. Bourdieu meine mit Habitus etwas anderes, so der eindringliche Einwand mehrerer Soziologinnen gegenüber der Wissenschaftshistorikerin. Alternativen wurden vorgeschlagen; ob nicht der Begriff der Profession oder des Berufsethos hier besser anzuwenden sei. Wahrig führte aus, warum sie diese Alternativbegriffe, die durchaus bei der Vorbereitung ihres Vortrags Berücksichtigung fanden, für ihre spezielle Betrachtung verworfen hatte. Und sie explizierte noch einmal die von ihr eingesetzte Bedeutung des Begriffs Habitus. Die ‚Nicht-Passgenauigkeit‘ anderer Begriffe und die schlüssige Neu-Definition führten dazu, dass letztendlich auch von den anwesenden Sozialwissenschaftlerinnen konstatiert wurde, dass eine andere 290
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Verwendung des bisher an Bourdieu gebundenen Habitus-Begriffs nicht nur denkbar sei, sondern auch eine produktive Herausforderung darstellen könne. Außerdem führte dieser interdisziplinäre Austausch während der LebensBilder dazu, dass Wahrig in ihrer schriftlichen Ausarbeitung des Vortrags zu einer differenzierteren Verwendung des HabitusBegriffs gelangte.
Conceiving Ada – Leidenschaftliche Berechnung Der Spielfilm „Conceiving Ada“ der Künstlerin und Filmemacherin Lynn Hershman Leeson der am zweiten Tagungsabend präsentiert wurde, stellt eine künstlerische Annäherung an das Leben von Ada Byron King, Gräfin von Lovelace (1815-1852) dar. Wie in Teilkapitel 3 dargelegt, war dies nicht lediglich als Begleitprogramm gedacht, sondern diente einer Erweiterung der Zugangsweisen zum Tagungsthema. Analog zu der doppelten Struktur einer DNS-Spirale verbindet Hershman Leeson in ihrem Film „Conceiving Ada – Leidenschaftliche Berechnung“ (USA/Deutschland/Frankreich 1997), das Leben zweier Frauen: Zum einen (die fiktive) Emmy Coer, als Wissenschaftlerin spezialisiert auf die Erforschung künstlichen Lebens, und zum anderen Ada Lovelace, die sich bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Computersprachen und deren zukünftigem Einsatz in vielen Lebensbereichen beschäftigte. In den vergangenen Jahren hat innerhalb der Informatik- und Technikgeschichte eine intensive Auseinandersetzung mit Ada Lovelace, der „Mutter der Programmierer“, stattgefunden, die als Indikator dafür zu sehen ist, dass der ‚jungen‘ Disziplin Informatik daran gelegen ist, ihre eigene Geschichte zu schreiben und diese u.a. in Biographien Einzelner – in diesem Fall Ada Lovelace – festzuschreiben. Dass mit Ada Lovelace eine Frau zu den „Ur-Gestalten“ der Informatik gerechnet wird, hat die (z.T. bereits selbstreflexiv wahrgenommene) Mythenbildung noch verstärkt, da die Disziplin sich seit Mitte der 70er Jahre mehr und mehr 22 als ‚männliche‘ formierte. Hershman Leesons künstlerischer Annäherung an das Leben der Gräfin Lovelace ist in Kritiken häufig begegnet worden mit der Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Darstellung, sowohl in Bezug auf das Leben der Ada Lovelace als auch hinsichtlich der Darstellung ihrer wissenschaftlichen Leistungen. Inwieweit ‚Wahrheit‘ und ‚exakte Darstel22 Für die Auseinandersetzung mit Ada Lovelace siehe beispielsweise Stein
(1999), Wolley (2000) oder Plant (1998). Für die Entwicklung der Informatik zu einer „männlichen Disziplin“ siehe zusammenfassend Teubner (1997).
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lung‘ jedoch passende Konstrukte sind, um dem künstlerischen, von Hershman Leeson entworfenen LebensBild gerecht zu werden, ist fraglich und warf im Sinne der Tagung einmal mehr die Frage nach der Vielfältigkeit zulässiger ‚LebensBilder‘ und ihrer (wissenschaftlichen) Aussagekraft auf.
Hanna Höchs „Lebensbild“ als visuelle Autobiographie Der Vortrag von Alma-Elisa Kittner über Hanna Höchs Fotocollage „Lebensbild“ bildete in unbeabsichtigter Weise eine Art Meta-Kommentar zu allen anderen Beiträgen. In vielfältiger und verdichteter Weise wurden hier Fragen aufgeworfen, denen eine zentrale Bedeutung für die Tagung zukam. Kittner ging auf die Vielschichtigkeit der gestalterischen und inhaltlichen Ebenen der Fotocollage Höchs ein (vgl. Beitrag in diesem Band). Höch fertigte, so Kittner, die Collage als visuelle Autobiographie an, in der sie ihr – bereits fortgeschrittenes – Leben und Schaffen aufgreift und reflektiert. Die Kunstwissenschaftlerin Kittner machte dabei auf zahlreiche Details aufmerksam, in denen Hanna Höchs Autobiographie sich den Selbstverständlichkeiten, mit denen wir (Auto-)Biographien im sozialwissenschaftlichen Kontext betrachten, entzieht. Illustrativ seien hier zwei dieser selten thematisierten Selbstverständlichkeiten genannt: Erstens beginnt Höchs „Lebensbild“ – folgt man der westlichen „Lesart“ eines Bildes von links oben nach rechts unten – mit Symbolen des Todes. Es folgt dann keine umgekehrt chronologische Abfolge, sondern die Einteilung der Collage in gestalterische und inhaltliche Segmente. Die Collage entzieht sich somit der uns vertrauten Chronologie. Zweitens machte Kittner darauf aufmerksam, dass Höch ein Bild, das sie als Kleinkind zeigt, mit Insignien ihrer späteren Arbeit versehen hat: Das Kind ist in der Collage mit einem Pinsel und einem Fragment eines Werks Hanna Höchs ausgestattet. Das Kleinkind Hanna Höch ist für die/den Betrachter/in nicht mehr ohne den Kontext des Wirkens Hanna Höchs als Künstlerin zu sehen. Beide Aspekte sind von übergeordneter Bedeutung für die wissenschaftliche Betrachtung von ‚LebensBildern‘, wie sie aus verschiedenen Disziplinen während der Tagung vorgenommen wurde. In der Regel werden Lebensläufe unhinterfragt anhand ihrer zeitlichen Abfolge strukturiert. Wir konstruieren und rekonstruieren ‚LebensBilder‘ anhand von biographischen, autobiographischen und zeitgeschichtlichen Materialien, die dieser zeitlichen Logik untergeordnet werden. Was aber würde passieren, wenn die Darstellung, wie bei Hanna Höchs „Lebensbild“, einer
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anderen Struktur folgt? Kommen wir zu abweichenden Aussagen und welche Strukturen sind hier überhaupt denkbar? Ebenfalls mit Analogien zu zahlreichen Beiträgen der Tagung versehen ist der zweite von Kittner hervorgehobene Aspekt. Die (wissenschaftliche) Auseinandersetzung mit ‚LebensBildern‘ erfolgt fast ausnahmslos vor dem Hintergrund, dass der/die Betrachter/in weiß, was aus den Betrachteten geworden ist: Mathematikerinnen, Musikerinnen, Sozialarbeiterinnen, Professorinnen usw. Die ‚LebensBilder‘ erschließen sich uns nicht unvoreingenommen. Das Kleinkind ist immer die spätere Künstlerin. Wie ist dieses Wissen mit unserer Betrachtung verwoben und wo schränkt es uns ggf. ein? Diese so aufgeworfenen Fragen können und sollen jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass ihre Beantwortung nun zwingend erforderlich sei, um angemessen mit biographischem Material arbeiten zu können. Häufig wäre ihre Beantwortung wahrscheinlich von keinerlei Gewinn. Doch ein wiederkehrendes Thema der Tagung LebensBilder war die Frage nach den verwendeten Materialien und warum diese oder jene Texte/Textarten relevant erschienen. Daran schloss sich die Frage nach ihren Aussagefähigkeiten an. Was für Vertreter/innen der einen Disziplin selbstverständlich war, erschien den anderen mitunter suspekt, zumindest aber einer Nachfrage wert. Der Vortrag zu Hanna Höchs „Lebensbild“ und das Aufzeigen der zahlreichen möglichen Perspektiven auf die eine Hanna Höch (hier durch Hanna Höch selbst und Alma-Elisa Kittner) schärften das Bewusstsein dafür, dass bei der Betrachtung von ‚LebensBildern‘ und der weiteren wissenschaftlichen Arbeit nichts selbstverständlich sein sollte und alles auch anders sein könnte.
Was zum Gelingen der Interdisziplinarität beitrug Abschließend sollen noch einmal einige Punkte benannt werden, die sich hinsichtlich der Umsetzung der angestrebten Interdisziplinarität der Tagung als förderlich erwiesen. Interdisziplinarität, wie sie in diesem Artikel aufgezeigt und reflektiert wurde, stellt sich nicht automatisch durch die Kombination mehrerer disziplinärer Zugänge zu einem Thema ein. Ein Umstand, der zum Gelingen der Tagung hinsichtlich der Interdisziplinarität beitrug war der, dass Wissenschaftlerinnen aus drei Hochschulen mit unterschiedlichen disziplinären Hintergründen ihre Interessen bereits von Planungsbeginn an intensiv in die Ausgestaltung der Tagung einbrachten. Hinzu kam die eingangs beschriebene Anschlussfähigkeit des gewählten, weit gefassten Themas in sehr vielen Fächern.
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Ebenfalls förderlich für das Gelingen war, dass es sich um eine Tagung handelte, d.h. die Beteiligten sich relativ ‚gefahrlos‘ in diesen interdisziplinären Zusammenhang begeben konnten. Gemeinsame Ergebnisse, dauerhaft zu etablierende Strukturen etc., wie sie für viele interdisziplinäre Projekte und Zentren zur Existenzsicherung notwendig sind, waren nicht erforderlich. Die Kurzfristigkeit des ‚Settings‘ erschien hier als Vorteil. Ein sehr wesentlicher Aspekt für die positive Resonanz auf die Interdisziplinarität war jedoch die Bereitschaft der Beteiligten, sich hierauf einzulassen und ihre Neugier auf Anregungen aus sehr anderen Bereichen. Ein weiterer wesentlicher Aspekt waren zudem die für Nachfragen und die Vermittlung zwischen den Disziplinen eingeplanten und rege genutzten Zeitspannen nach jedem Beitrag. Trotz eines sehr vollen Tagungsprogramms schienen die Unterschiedlichkeit der Beiträge – unterschiedlich in Hinblick auf ihre Zugangsweisen und unterschiedlich in Hinblick auf ihre Präsentationsformen – und die teilweise Öffnung der Tagung für ein weiteres Publikum für eine Abwechslung zu sorgen, die sich positiv auf das Tagungsklima 23 auswirkte.
5. Fazit der interdisziplinären Herausforderung Die Tagung LebensBilder im Januar 2004 war eines der ersten konkreten Projekte des Braunschweiger Zentrums für Gender Studies, das erst ein Dreiviertel Jahr zuvor seinen Betrieb aufgenommen hatte. Die positive Resonanz aller Beteiligten auf die Tagung, die unter anderem in Form des hier vorliegenden Buches sichtbar wird, ist ein gutes erstes Ergebnis der Zusammenarbeit dreier Hochschulen. Die interdisziplinäre Herausforderung der Tagung stand im Kontext bereits gesammelter – positiver und negativer – Erfahrungen mit Interdisziplinarität seitens der Geschlechterforschung. Sie wurde gut bewältigt und der in der Selbstbeschreibung des Zentrums stets avisierte „Brückenschlag zwischen Geistes-, Sozial-, Kultur,- Natur- und Technikwissenschaften“ konnte umgesetzt werden. Als vorteilhaft erwies sich hierbei die nur lose Kopplung der einzelnen Beiträge unter dem vage gefassten bzw. weit ausgelegten Begriff von ‚LebensBildern‘. Im Sinne der Tagung ging dieses Konzept auf, ließen sich Alle auf die Andersartigkeit der Beiträge und die zahlreichen 23 Zum musikalischen Liederabend und zur Filmvorführung war ein breites Publikum unabhängig vom sonstigen Tagungsbesuch geladen.
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Nachfragen zur interdisziplinären Verständigung ein und nahmen etliche, z.T. unerwartete Anregungen für ihre eigene Arbeit mit. Im Kleinen brachte die Tagung somit die positiven und wissenschaftskritischen Effekte, die von interdisziplinärer Zusammenarbeit gewünscht werden. Dass für die alltägliche und dauerhafte Arbeit des Braunschweiger Zentrums für Gender Studies andere Konzepte gefunden und erprobt werden müssen, steht dabei außer Frage. Projekte und lose interdisziplinäre Verbindungen können jedoch ein Standbein der produktiven und lustvollen gemeinsamen Arbeit stellen. Was weiterhin in die Arbeit des Zentrums eingehen wird, ist der Versuch, Natur- und Technikwissenschaften über ‚Schnittstellenthemen‘ 24 einzubinden. Zudem ist die gestiegene Bereitschaft sozial-, kultur- und geistwissenschaftlicher Gender Studies, sich auf Natur- und Technikwissenschaften einzulassen, bereits als Teilerfolg zu werten.
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24 Mit der Maria-Goeppert-Mayer-Gastprofessur für Geschlechterforschung
von Peter Döge setzt das Braunschweiger Zentrum für Gender Studies derzeit diese Bemühungen fort. Der Politologe Döge setzt an der Schnittstelle von Politik- und Technikwissenschaften Impulse für eine Verankerung der Geschlechterforschung in den Natur- und Technikwissenschaften. Im Wintersemester 2005/2006 wird zudem Prof. Dr. Margaret Grieco das Thema „Gender, Transport and Society“ in Braunschweig ebenfalls im Rahmen einer Maria-Goeppert-Mayer-Gastprofessur einbringen.
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Autorinnen
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Dr. Beate Ceranski Studium der Physik, Mathematik, Evangelischen Theologie und Pädagogik an der (Rheinischen Friedrich-Wilhelms-)Universität Bonn. Aufbaustudium und Promotion am Institut für Geschichte der Naturwissenschaften, Universität Hamburg. Dissertation über Europas erste Professorin: Physikerin Laura Bassi (1711-1778) in Bologna. Zur Zeit Assistentin an der Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften und Technik des Historischen Instituts der Universität Stuttgart. Aktuelles Projekt (= Habilprojekt): Geschichte der Radioaktivitätsforschung bis 1914. Sonstige Interessengebiete: wissenschafts- und technikhistorische Geschlechterforschung; Geschichte der Physik; Entstehung neuer wissenschaftlicher Disziplinen. PD Dr. phil. Bettina Dausien Jg. 1957, Diplom-Psychologin und Sozialwissenschaftlerin. 1986 bis 1993 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsschwerpunkt „Ar301
AUTORINNEN
beit und Bildung“ an der Universität Bremen. 1994/95 Aus-landsaufenthalt (Dänemark), 1995 Promotion mit einer empirischen Arbeit über „Biographie und Geschlecht“ an der Universität Bremen. 1996 bis 2003 wissenschaftliche Assistentin an der Fakultät für Pädagogik der Universität Bielefeld, Habilitation 2003 im Fach Erziehungswissenschaft (Thema der Habilitationsschrift: „Sozialisation – Geschlecht – Biographie. Theoretische und methodologische Untersuchung eines Zusammenhangs“). Im Sommersemester 2000 Fellowship an der „Graduate School in Lifelong Learning“ an der Universität Roskilde (Dänemark). Seit März 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bielefeld. Aktuelle Projekte: Entwicklung und Erprobung eines Fortbildungskonzepts für „Pädagogische Biographiearbeit“, „Forschendes Lernen im erziehungswissenschaftlichen Studium“. Gründungsmitglied und externes Mitglied im Sprechergremium des Instituts für angewandte Biographie- und Lebensweltforschung (IBL), Universität Bremen, und des Interuniversitären Netzwerks Biographieund Lebensweltforschung (www.inbl.de). Seit 1999 Mitglied im Vorstand der Sektion Biographieforschung in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Sozialisation; Bildung im Lebenslauf; „lifelong learning“; Theorien und Methoden der Biographieforschung; Geschlechterforschung; qualitative Methoden/Methodologien, Konzepte forschenden Lernens.
Prof. Dr. Erika Funk-Hennigs Professorin an der TU Braunschweig seit 1993. Arbeitsschwerpunkte: Die Rolle der Frau in der Musik; Musik und Faschismus; Mediendidaktik; Geschichte der Musikpädagogik (Jugendmusikbewegung). Dr. phil. Ute Frietsch Ute Frietsch, promovierte an der Freien Universität Berlin und an der Université de Paris VIII in Philosophie. Aktuelles Forschungsprojekt zu: Geschlechter-Reflexionen in der europäischen Naturphilosophie des 16. Jahrhunderts: Paracelsus. Veröffentlichungen u.a.: Paracelsus, Theophrast (auch: Philippus, Aureolus) Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus. In: Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler. Hg. von Dieter Hoffmann, Hubert Laitko, Staffan Müller-Wille. Band 3. (Spektrum Akademischer Verlag) Heidelberg 2004. Michel Foucaults Einführung in die Anthropologie Kants. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Band 11, Heft 2, 2002. Matrix. Entstehung und Beginn des Lebens. Philosophisch-wissenschaftshistorische Interventionen (zus. 302
AUTORINNEN
mit Stefanie Wenner). In: Potsdamer Studien zur Frauen- und Geschlechterforschung. Heft 2002. Die Abwesenheit des Weiblichen. Epistemologie und Geschlecht von Michel Foucault zu Evelyn Fox Keller. (Campus) Frankfurt/New York 2002.
Dr. Bettina Gockel Studierte von 1986 bis 1996 Kunstgeschichte, Neuere Deutsche Literatur und Theaterwissenschaft in München und Hamburg; 1992 Magister in Kunstgeschichte am Kunsthistorischen Seminar der Universität Hamburg; 1996 Doktor der Philosophie in Hamburg, Thema: „Kunst und Politik der Farbe. Gainsboroughs Portraitmalerei“; 1996-1998 Wissenschaftliche Volontärin an den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und Lehrauftrag am Kunsthistorischen Institut; seit 1998 bis heute Wissenschaftliche Assistentin am Kunsthistorischen Institut der Universität Tübingen; dabei von 2002 bis Juli 2003 Research Scholar am MaxPlanck Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Bettina Gockel konzipierte und organisierte als Wissenschaftliche Volontärin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin Konferenzen zu kunstund naturwissenschaftsgeschichtlichen Themen sowie Ausstellungen. Forschungsschwerpunkte sind: Kunst und Kultur der Aufklärung; Geschichte und Bedeutung von Bildmaterialien und künstlerischen Praktiken; Geschichte des Künstlers Ausgewählte Publikationen: „Kunst und Politik der Farbe“, Berlin: Gebr. Mann 1999; „Natur der Wahrnehmung – Wahrnehmung der Natur. Sehen und Sichtweisen um 1800“, hg. v. Gabriele Dürbeck, Bettina Gockel et.al., Dresden: Verlag der Kunst, 2001; „Kein Röntgenbild des Surrealismus“. „La Révolution Surrealiste“, in: Kunstchronik, Heft 9/10, 2002, S.465-473; „Experimentalisierung des Lebens in Kunst und Kultur. Zur Jubiläumstagung – 100 Jahre Monte Verità“, in: Kunstchronik, Heft 6, 2002, S.265 -271 Prof. Regina Henze Dipl.-Designerin (HfG Offenbach), Dipl.-Pädagogin (J. W. GoetheUniversität, Frankfurt am Main). Seit 2002 lehrt sie an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig im Bereich Kommunikationsdesign den Schwerpunkt Dreidimensionales Gestalten/Ausstellungsdesign. Von 1975-1982 war sie Mitbegründerin und Partnerin von Atelier Markgraph, Frankfurt. Seit 1982 ist sie selbständig mit dem Büro Regina Henze Kommunikationsdesign. Schwerpunkte der gestalterischen Arbeit waren zunächst Informationsdesign, Erscheinungsbild/Corporate Identity (z.B. Jahresberichte WWF Deutschland, Imagekampagne „Hessen – hier ist die Zukunft“) sowie Visualisierung technisch-wissen303
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schaftlicher Zusammenhänge (u.a. für Commodore, LEICA, BMW RollsRoyce AeroEngines). Ab 1991 spezialisierte sie sich auf Ausstellungskonzeption und -gestaltung, Themeninszenierungen und Multimedia-Projekte und arbeitete mit namhaften Agenturen zusammen (u.a. Messeauftritte „Stern für Kids“, Mercedes Benz AG). Von 1998 bis 2002 war sie als Konzeptionerin und Projektleiterin für Bellprat Associates, CH-Winterthur (u.a. Wettbewerb UNIversum Bremen, Masterkonzept Wolfsburg Science Center, Besucherzentrum Paul Scherer Institut). 2003 Gründung der Partnerschaft (GbR) „echo – Kommuniaktion im Raum“ mit zwei Architektinnen. Regina Henze ist Gründungsmitglied im Designerinnen Forum, Mitglied in ECSITE (European Collaborative for Science, Industry and Technology Exhibitions) und in IIID (Internationales Institut für Informationsdesign). Sie hat einen Sohn und lebt in Bad Homburg.
Dr. des. Sabine Kampmann Kunstwissenschaftlerin; seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig; Studium der Kunstgeschichte, Philosophie, Germanistik und Psychologie an der RuhrUniversität Bochum und der Università di Pisa; 2005 Promotion, Dissertation über das Thema „Künstler sein. Systemtheoretische Beobachtungen von Autorschaft“; Forschungsschwerpunkte: Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, Kunsttheorie und Wissenschaftstheorie, Memoria-Konzepte in Theorie und künstlerischer Praxis; Gender Studies, Autorschaftsforschung und aktuell zum Tier in der Gegenwartskunst. Zuletzt erschienen: Gender Studies und Systemtheorie. Studien zu einem Theorietransfer. Hg. v. Sabine Kampmann, Alexandra Karentzos, Thomas Küpper. Bielefeld 2004; Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst. Hg. v. Martin Hellmold, Sabine Kampmann, Ralph Lindner, Katharina Sykora. München 2003 und darin: Der Künstler als Staffelläufer. Über die Autorfigur Markus Lüpertz im Spannungsfeld von Tradition und Innovation, S. 43–66; Gender Identity and Authorship. Eva & Adele – just about „Over the Boundaries of Gender (in englischer, deutscher und schwedischer Sprache). In: Eva & Adele. Day by Day – Painting. Ausst.-Kat. The Nordic Watercolour Museum, Skärhamn, Schweden. Ostfildern 2004, S. 14-62; Bilde, Künstler, rede nicht! Künstler im Interview und Interview-Künstler. In: Das Schreiben der Bilder. Texte der Meisterschülerinnen und Meisterschüler 2004. Essays über Künstlertexte. Hg. v. Michael Glasmeier, Matthias Langer, Agnes Prus. Köln 2004, S. 149-155.
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Alma-Elisa Kittner Alma-Elisa Kittner, geb. 1971, ist Kunsthistorikerin und arbeitet zur Zeit als Postdoktorandin am Graduiertenkolleg „Körper-Inszenierungen“ an der Freien Universität Berlin. Sie arbeitete u.a. im Museum Villa Stuck, am Schreibzentrum der Ruhr-Universität Bochum, als Redakteurin der Kunstzeitschrift „k+m“ und konzipierte mit dem Graduiertenkolleg den Kongress „Utopische Körper“ an der Volksbühne Berlin. Sie promovierte 2005 über „Visuelle Autobiografien. Sammeln als Selbstentwurf bei Hannah Höch, Sophie Calle und Annette Messager“. Dr. Claudia Schünemann Claudia Schünemann (geb. 1960) ist Assessorin des Höheren Lehramts und Diplom-Sozialpädagogin. Mehrjährige Dozententätigkeit in der Erwachsenenbildung; Durchführung eines AGIP-Forschungsprojekt an der FH Braunschweig/Wolfenbüttel; nebenberufliches Promotionsstudium an der Universität Hannover. Derzeit Leiterin der Kooperationsstelle Hochschulen-Gewerkschaften an der TU Braunschweig, selbständiger Coach, Trainerin und Moderatorin. Arbeitsschwerpunkte: Biographie- und Frauenforschung, Personalentwicklung, Gender Mainstreaming PD Dr Renate Tobies Renate Tobies ist Mitarbeiterin des Fraunhofer-Institut für Technound Wirtschaftsmathematik in Kaiserslautern, im WS 2005/06 zugleich Gastprofessorin für Frauen- und Genderforschung am FB Mathematik der Technischen Universität Kaiserslautern. Im WS 2003/2004 und im SS 2005 war sie als Gastprofessorin im Rahmen des Maria-GoeppertMayer-Programms an der Technischen Universität Braunschweig (Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften). Renate Tobies studierte Mathematik, Chemie, Physik, Pädagogik und Psychologie. Sie ist für Geschichte der Mathematik und Naturwissenschaften habilitiert, publizierte fünf Bücher und mehr als 100 Aufsätze. Aus einem Forschungsprojekt des Landes Rheinland-Pfalz entstand das Buch „Aller Männerkultur zum Trotz“: Frauen in Mathematik und Naturwissenschaften (Campus 1997); aus einem von der Volkswagenstiftung geförderten Projekt: Traumjob Mathematik. Berufswege von Frauen und Männern in der Mathematik (mit Andrea Abele und Helmut Neunzert, Birkhäuser 2004). Sie lehrte außerdem an den Universitäten Göttingen, Leipzig, Linz und Oldenburg, hatte die Sofja-Kowalewskaja-Gastprofessur in Kaiserslautern (SS 1993) und die erste Frauen-Gastprofessur an der Technisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Johannes-Kepler-Uni305
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versität Linz (SS 2001) inne; Managing Editor der Internationalen Zeitschrift für Geschichte und Ethik der Naturwissenschaften, Technik und Medizin (Birkhäuser, Basel).
Prof. Dr. Bettina Wahrig Bettina Wahrig, geb. 1956, Studium der Medizin und Philosophie, Promotion in Medizingeschichte 1984 mit einer Arbeit über den Psychiater Wilhelm Griesinger im Spannungsfeld zwischen Physiologie und Philosophie, von 1985-1997 am Institut für Medizin- und Wissenschafts-geschichte, dort Forschungen zur Experimentalgeschichte im 19. Jahrhundert, Metapherntheorie am Beispiel der Staats-OrganismusMetaphorik bei Thomas Hobbes und Geschichte der Geburtshilfe in Lübeck, seit 1997 Professorin für Geschichte der Naturwissenschaften mit Schwerpunkt Pharmaziegeschichte, Technische Universität Braunschweig, derzeitige Forschungsschwerpunkte: Verteilung von Wissen und Macht im Medizinalwesen 1750-1850 unter besonderer Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse; Pharmazie, Medizin und Öffentlichkeit, Toxikologie zwischen Literatur, medizinischer Polizei und experimenteller Physiologie. Herausgeberin (zusammen mit Werner Sohn) von: Zwischen Aufklärung, Policey und Verwaltung. Zur Genese des Medizinalwesens 1750-1850. Wolfenbütteler Forschungen (Band 102). Wiesbaden 2003 Stephanie Zuber Stephanie Zuber ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Braunschweiger Zentrums für Gender Studies. Nach einer handwerklichtechnischen Ausbildung studierte sie Soziologie mit den Schwerpunkten Wissenschaftssoziologie und Frauenforschung an der Universität Bielefeld und arbeitete bei der Internationalen Frauenuniversität „Technik + Kultur“ in Hannover. Zudem unterstützte sie im Wintersemester 2002/ 2003 die Erstellung eines Online-Seminars im Rahmen von VINGS – Virtual International Gender Studies.
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Gender Studies bei transcript:
Annette Runte Über die Grenze Zur Kulturpoetik der Geschlechter in Literatur und Kunst April 2006, ca. 350 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-422-0
Sabine Brombach, Bettina Wahrig (Hg.) LebensBilder Leben und Subjektivität in neueren Ansätzen der Gender Studies Januar 2006, 308 Seiten, kart., zahl. z.T. farbige Abb., 26,80 €, ISBN: 3-89942-334-8
Lutz Hieber, Paula-Irene Villa (Hg.) Images von Gewicht Zur sexuellen Identität in der Postmoderne
Heike Hartung (Hg.) Alter und Geschlecht Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s
April 2006, ca. 150 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN: 3-89942-504-9
September 2005, 286 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-349-6
Walburga Hülk, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hg.) (Post-)Gender Choreographien / Schnitte
Marcus Termeer Verkörperungen des Waldes Eine Körper-, Geschlechterund Herrschaftsgeschichte
März 2006, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,00 €, ISBN: 3-89942-277-5
Stefanie Richter Essstörung Eine fallrekonstruktive Studie anhand erzählter Lebensgeschichten betroffener Frauen Februar 2006, ca. 450 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN: 3-89942-464-6
Juli 2005, 644 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 3-89942-388-7
Jürgen Budde Männlichkeit und gymnasialer Alltag Doing Gender im heutigen Bildungssystem März 2005, 268 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-324-0
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Gender Studies bei transcript: Brigitte Hipfl, Elisabeth Klaus, Uta Scheer (Hg.) Identitätsräume Nation, Körper und Geschlecht in den Medien. Eine Topografie 2004, 372 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-194-9
Birgit Richard Sheroes Genderspiele im virtuellen Raum 2004, 124 Seiten, kart., 15,00 €, ISBN: 3-89942-231-7
Sabine Kampmann, Alexandra Karentzos, Thomas Küpper (Hg.) Gender Studies und Systemtheorie Studien zu einem Theorietransfer
Andrea Lauser »Ein guter Mann ist harte Arbeit« Eine ethnographische Studie zu philippinischen Heiratsmigrantinnen 2004, 340 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-218-X
Irina Yurkova Der Alltag der Transformation Kleinunternehmerinnen in Usbekistan 2004, 212 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-219-8
2004, 212 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 3-89942-197-3
Bettina Heintz, Martina Merz, Christina Schumacher Wissenschaft, die Grenzen schafft Geschlechterkonstellationen im disziplinären Vergleich 2004, 320 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-196-5
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de