Leben: Eine Besinnung 9783495994788, 9783495994771


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Einstimmung: Das Unvordenkliche
I. Grundlagen
1. Die einzige Gewissheit
2. Das reine Tun
3. Leben als Selbstaffektion
4. Was uns trägt
5. Das Gutsein des Lebens
6. Leben als Leiblichkeit
7. Endliches und unendliches Leben
II. Lebensweisen
8. Mitpathos und Begegnung
9. Welt und Leben
10. Fremdheit und Identität
11. Erotik und Liebe
12. Verzweiflung und Trauma
13. Vom Tode
14. Illusion und Selbstbezug
Ausblick: Leben und Zukunft
Literaturhinweise
Neuere Veröffentlichungen Rolf Kühns
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Leben: Eine Besinnung
 9783495994788, 9783495994771

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Rolf Kühn

Leben Eine Besinnung

2. Auflage

https://doi.org/10.5771/9783495994788 .

https://doi.org/10.5771/9783495994788 .

https://doi.org/10.5771/9783495994788 .

Rolf Kühn

Leben Eine Besinnung

Mit einer Zeichnung von August von Briesen 2., ergänzte und überarbeitete Neuauflage 2023

https://doi.org/10.5771/9783495994788 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99477-1 (Print) ISBN 978-3-495-99478-8 (ePDF)

2., ergänzte und überarbeitete Neuauflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495994788 .

Das Leben ist notwendig selig, denn es ist Seligkeit; der Gedanke eines unseligen Lebens hingegen enthält einen Widerspruch. J. G. Fichte, Anweisung zum seligen Leben (1806), 1. Vorlesung

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einstimmung: Das Unvordenkliche . . . . . . . . . . . .

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I.

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Die einzige Gewissheit . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Das reine Tun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

3. Leben als Selbstaffektion . . . . . . . . . . . . . . .

27

4. Was uns trägt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

5. Das Gutsein des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . .

37

6. Leben als Leiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

7. Endliches und unendliches Leben . . . . . . . . . .

49

II. Lebensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

8. Mitpathos und Begegnung . . . . . . . . . . . . . .

55

9. Welt und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

10. Fremdheit und Identität . . . . . . . . . . . . . . . .

67

11. Erotik und Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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12. Verzweiflung und Trauma . . . . . . . . . . . . . . .

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7 https://doi.org/10.5771/9783495994788 .

Inhaltsverzeichnis

13. Vom Tode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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14. Illusion und Selbstbezug . . . . . . . . . . . . . . .

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Ausblick: Leben und Zukunft . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Neuere Veröffentlichungen Rolf Kühns . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Die erste Auflage dieses Buches erschien 2004 im Verlag Karl Alber in Freiburg-im-Breisgau, eine Zweitauflage erfolgte 2012. Seitdem konnten die lebensphänomenologischen Analysen im Bereich der Narrativität, Psychoanlyse, Religion, Mystik und Postmoderne unter dem Gesichtspunkt des Zusammenhangs von Begehren, Könnens­ struktur und Lebensimmanenz noch vertieft werden. Daher ist diese Neuauflage, für die wir dem Alber und Nomos-Verlag in BadenBaden sehr danken, durch einen Ausblick ergänzt, um zu verdeutli­ chen, dass die unmittelbare Lebensaffektion allen spezifischen Tradi­ tionen vorausliegt. Da diese zunehmend an Einfluss verlieren, ergibt sich für die einzelne Subjektivität die Notwendigkeit, immer eindeu­ tiger aus dieser unmittelbaren Lebensselbstgebung heraus zu leben, die für jede Vorstellung ein Nicht-Wissen bedeutet. Dies war bereits die Anfangsintuition dieser Besinnung zur Originarität des Lebens, um in dieser Neuauflage ihre ganze Bedeutung für die Zukunft zu gewinnen. Der Text erfuhr nur eine geringfügige Überarbeitung, die Literaturverzeichnisse wurden aktualisiert. Freiburg-im-Breisgau Sommer 2023

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Einstimmung: Das Unvordenkliche

Die folgende Zeichnung drückt aus, was hinsichtlich des Lebens insgesamt gesagt werden kann. Dieses Gesamte ist das Leben als dessen Höhen und Tiefen, Stärken und Schwächen, Auseinander- und Ineinanderfließen, wie die Linien und Punkte auf dieser Zeichnung. Das eine Mal sind sie geballte Kraft, die sich im Zentrum verdichtet, in all ihrer Fülle aufbricht und herabstürzt. Das andere Mal sind es verhaltene Äußerungen, die sich wie im Hintergrund ducken und rückziehend über die Fläche verteilen; aber gerade so voller Anmut, als Kontrapunkte zum vollen Schwarz der kräftigen Linien auftretend. Dieses Bild als Symbol des Lebens erzählt kein einzelnes Leben, keine besondere Biographie, sondern die menschliche Möglichkeit des Lebens schlechthin als unser ständiges Geborenwerden im Leben. Sich darin wiederzuerkennen, dazu wollen die nachstehenden Kapitel einladen. Anstelle von vielen Beispielen sei als Veranschaulichung daher jeweils diese Zeichnung herangezogen, wenn etwas beim Lesen nach bildlicher Verdeutlichung ruft. Versetzen wir uns in die innere Kraft einer jeden Linie, in die Konzentration eines jeden Punktes, dann sind wir damit in eine Bewegung versenkt, welche die Selbstbewegung des Lebens ist, seine Energie anders gesagt. Die Sätze der folgenden Seiten sind von der reinen Innerlichkeit eines solchen Zentrums im Leben aus geschrie­ ben; in dem Wissen, dass jedes Leben es letztendlich nur mit dieser Geburtsstätte des Lebens in uns zu tun hat. Der ungarische Maler August von Briesen zeichnete diese Bilder vor einigen Jahren im unteren dunklen Teil eines Orchesterraumes. An den fünf Fingern beider Hände hatte er Farbstifte befestigt, und je nach dem Klang der Symphonien oder Concerti von Beethoven, Mozart, Brahms und Bach bewegten sich diese zwei lebendigen Malerhände auf einem großen weißen Blatt Papier. Was entstand, sind Symphonien in Linien und Punkten wie die beigefügte Illustration, wo nichts Bildhaftes mehr dargestellt wird, sondern das Sichtbare mit dem Hören und der leiblichen Bewegung der Hand selbst identisch ist. Abstrakte Malerei – und doch konkreter kaum möglich.

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Einstimmung: Das Unvordenkliche

August von Briesen Fünfte Zeichnung der Sechserfolge der Vierten Symphonie (Opus 98) von Johannes Brahms (Paris 1983, Bibliothèque Nationale)

Im eigentlichen Sinne wird hier nicht, wie man es immer wieder versucht hat, »Musik gemalt«. Was auf der weißen Grundfläche sichtbar wird, sind die abgründigen Tiefen des unsichtbaren Lebens in uns. Dessen innere Verwandlungen zu jedem Augenblick, um eine Komposition entstehen zu lassen, von der es vorher keine vorstellbare Idee gab. So hat auch das Leben kein Modell. Es gibt keine Archetypen in ihm, nach denen es sich richtet und wonach wir uns zu verhalten hätten, sei es im Erkennen oder Handeln. So wie die Linie unter dem unmittelbaren Ein-Druck des Gehörten als Berührung der tastenden oder sicher zustoßenden Hand auf dem Papier hervorbrach und in

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Einstimmung: Das Unvordenkliche

jeder Hinsicht einmalig und unnachahmbar ist, so sind auch wir in das Leben eingetaucht, um zu jedem Augenblick in solcher Ursprünglich­ keit aus ihm heraus zu leben. Die Kraft, die Energie, mit der die Hand sich bewegt, weil das Gehörte zur inneren Erregung, zum Erzittern wird, ist diese Urmächtigkeit des Lebens in uns. Im Leiden kann diese Urmächtigkeit zur reinen Unerträglichkeit werden: Alles andere, aber nicht dieses Leben!, sagt der ganze Leib, die ganze Seele. Das Dunkel des Orchesterraumes ist diese Unerträg­ lichkeit, die dennoch vom Freudigen der Musik nicht getrennt ist. Diese Freude ist ebenfalls das reine Leben. Die Linien und Punkte zeigen, dass zwischen Unerträglichkeit und freudiger Erfüllung eine unauflösbare Verbindung besteht. Im Hören wie im Malen offenbart sich ein Urwollen des Lebens, es selbst zu sein. Es will seine ihm je eigenen Bewegungslinien verfolgen, die es als Selbststeigerung – sich selbst als schön und gut – erfahren lassen. In unserer Existenz steht oft die geduldige Neukomposition des Lebens an, die Vergleichbares mit der Kunst hat. Macht letztere als Malerei hier das innere Leben sicht­ bar, so soll dieses Leben jede notwendige Verwandlung seinerseits vernehmbar machen. Jedoch vernehmbar nach den eigenen Gesetzen des Lebens, die nicht den anderen Dingen entlehnt werden können. Ist jede Linie eine einzigartige künstlerische Bewegung, so ist auch jedes Gefühl mein ganz einzigartiges Leben. Dies zu verstehen, will die folgende Meditation als Besinnung des Lebens anregen, in die jeder seine Linien einzeichnen kann. Wir folgen dabei ausschließlich der inneren Geschichte des subjektiven Lebens, von dem die je individuell biogra­ phische Ausprägung bei jedem Menschen dann eine vom Leben selbst gewollte konkrete Möglichkeit ist. Die unumstößliche Tatsache, dass ich durch mein Empfinden im Leben bin, ist identisch mit der ebenfalls unumstößlichen Tatsache, dass ich so bin, wie ich bin. Warum ich so sein kann, wie ich bin, und warum es keine Loslösung von diesem Ich geben kann, dies soll im folgenden genauer bedacht werden. Die einzige praktische Regel dabei ist, sich nur an seine Eindrücke und Gefühle zu halten, um zu deren Quelle vorzustoßen. Sie sind der reine Geschmack des Lebens selbst: dessen Urfreude zu sein; das reine Glück, das kostbarste aller Güter zu besitzen, nämlich empfinden zu können. Ohne dieses Empfinden wäre alles nur Tod für uns. Im Empfin­ den offenbart sich uns das Leben absolut. Wir brauchen nur auf diese affektiv innere Sprache zu achten, wenn alle anderen Worte

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Einstimmung: Das Unvordenkliche

ins Schweigen versunken sind. Was wir dann hören, ist das unvor­ stellbare Geräusch unserer ständigen Geburt im Leben. Und mit dieser Melodie lässt sich zu jedem Augenblick leben ... Es bedarf nicht mehr. Für andere Denkweisen ist der Mensch nur ein in die Welt Geworfener, der aus Freiheit seine Möglichkeiten als »Entschlossen­ heit zum Tode« ergreifen kann. Die Existenz bleibt sich so in gewisser Hinsicht stets fremd, was ein mutiges Ergreifen solchen Daseins nicht ausschließt, aber grundsätzlich weder das Glück noch die Freude des Lebens als innere Gewissheit beinhaltet. Ist jedoch für die alltägliche Existenz gerade das Tiefste des Menschseins gut genug, um den Anforderungen eines lebendigen Seins gerecht zu werden, so ist ein vertieftes Verstehen dieser Lebendigkeit selbst angezeigt. Denn es soll unser eigentliches Wesen vor jeder Einzelerfahrung erfassen, um es dann in der ganzen Fülle seiner konkreten Möglichkeiten leben zu lassen. Bedürfen wir nichts als des Lebens, um alles zu sein, so geht es um das Verstehen dieses Selbstverständlichsten des alltäglichen Lebens, in dem sich die höchste Realität vollzieht, so wie sie in jedem konkret gegeben ist. Eine Meditation zielt nicht in erster Linie auf Erkenntnis ab, sondern sie wendet sich dem zu, was ihr absolut vorausgeht. Dieses Vorausliegende des Lebens als Selbstgefühl in seiner alltäglichen Selbstverständlichkeit kann daher niemals zum Gegenstand einer Theorie werden. Denn in allem, was wir tun und denken, ist das Leben immer schon gegeben, was heißt, dass es durch keine Vor­ stellung einholbar ist, wie Michel Henry grundlegend gezeigt hat. Beinhaltet folglich eine solche Meditation hinsichtlich des Lebens ein Abrücken von allen empirischen Feststellungen und Meinungen bezüglich dieses Lebens, dann kann sie letztlich nur zur gelebten Einheit mit diesem selbst werden. Die Meditation muss in jenen Vollzug eintauchen, welcher das Leben jeweils ist, und zwar in seinen ausschließlich unmittelbaren Eindrücken und Gefühlen. Und zielt eine solche Besinnung auf keinerlei Theorie ab, so ist sie auch keiner bestimmten Disziplin mehr verpflichtet, sondern versucht, in allem Gelebten das Lebendige selbst zum Vibrieren zu bringen, so wie es sich seiner innersten Natur nach gibt. Tritt in diesem Sinne die Medi­ tation selbst als eine Praxis auf, so hat sie letztlich keinen anderen Gegenstand als diese Praxis des Lebens in seinem ursprünglichen Erscheinen selbst – das heißt dessen Sicherleiden und Sicherfreuen mit all ihren Möglichkeiten.

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I. Grundlagen

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1. Die einzige Gewissheit

Es gibt für uns Menschen nichts, was nicht erlebt wäre. Alles, was ist, muss von uns gelebt werden, um sein zu können. Damit ist das Leben die einzige Realität, die in jeder Hinsicht zählt. Wenn jeder Augenblick gelebt werden muss, um zu sein, dann ist er ebenfalls die einzige Gewissheit. Und zwar keine Gewissheit, die theoretisch erlernt oder bewiesen werden muss, sondern eine Gewissheit, die unmittelbar gefühlt wird. Das Gefühl, der Eindruck, die Empfindung ist der Name für das unmittelbare Leben, das ich bin. Es gibt kein Gefühl, das nicht »Ich« sagen würde, denn Gefühl gibt es nur als je mein Leben. Damit ist jeder Lebensaugenblick mein Leben, und es gibt kein Leben im allgemeinen, da ein solches ohne einzelne Gefühle wäre, was ein Widerspruch in sich ist. Wird mithin jeder Augenblick als Gefühl gelebt, so besitzt jeder Augenblick auch eine ebenso einmalige wie unendliche Kostbarkeit. Nietzsche nannte sie die Trunkenheit des Lebens, Fichte den Genuss oder die Seligkeit, Spinoza das Glück, das Neue Testament die Wahrheit. Es ist das Gefühl, unverlierbar im Leben zu sein, das Leben zu leben – die unhintergehbare Freude, stets lebendig zu sein. Die Freude tritt also nicht irgendwie und irgendwann durch rein äußere Umstände zum Leben hinzu. Vielmehr ist sie das Leben selbst, sein inneres Wesen. Im Leben zu sein heißt, für immer in der Freude des Lebens zu sein, es als Freude zu empfinden. In jedem Augenblick zu wissen, dass ich ein absolut Lebendiger bin: tue, was ich tue; denke, was ich denke; fühle, was ich fühle. Es ist ein Wissen, welches sich unmittelbar selbst weiß, ohne des Nachdenkens, ohne der Vermittlung irgendeines Gedankens zu bedürfen. Das Leben ist so ständiges Wissen um sich selbst im praktischen Vollzug. Das heißt, es weiß sich in allem als das Leben, welches es ist, und kann sich rein als solches entgegennehmen. Rein besagt hier, dass seine Freude absolute Selbstfreude über sich selbst ist. Was wir auf den folgenden Seiten daher meditieren werden, ist die Alltäglichkeit; jenes selbstverständliche Leben, von dem kein Augenblick weggedacht werden kann, weil wir sonst ins Nichts stürz­

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1. Die einzige Gewissheit

ten. Natürlich empfinden wir dies bei besonderen Anlässen stärker, in Augenblicken der Schönheit, der Freundschaft, der Liebe, des Gelingens. Dann wünschen wir wie Goethes Faust, dass ein solcher Augenblick nie verginge, womit aber überhaupt die eine Gewissheit aufleuchtet, dass prinzipiell jeder Augenblick Ewigkeitswert besitzt. Der Ewigkeitscharakter muss also nicht zur Gewissheit als Gedanke hinzutreten, sondern indem das Leben gelebt wird, ist es sich seiner selbst gewiß. Jeder trägt mithin den Schatz seines Lebens, seines ganzen Lebens, in sich selbst, und zwar nicht in einer unwirklichen Vergangenheit oder Zukunft, sonden im einmaligen Jetzt. Die bange Frage, ob wir uns ausschließlich darauf verlassen können, ist eigentlich schon beantwortet, denn das Leben selber kennt diese Frage ursprünglich gar nicht. Indem sich das Leben als jenes Leben gibt, welches ich bin, ist es bereits die »Antwort«, dass es jeden Augenblick gegeben sein wird, solange ich bin. Die Gewissheit des Lebens ist mithin nicht nur seine Freude, ständig es selbst zu sein, sondern sie ist auch die Unmöglichkeit, Nein sagen zu können. Das Leben ist die Unmöglichkeit, sich verweigern zu können; es ist die Verweigerung, sich zu verweigern. Daher ist auch jedes Gefühl so, wie es sich gibt. Leben als Gefühl ist die einzige Gabe in unserer Existenz, die von uns nie verweigert werden kann. Versuchen wir es dennoch, wie beispielsweise im äußersten Fall des Selbstmordes, so nehmen wir es auch dafür noch in Anspruch. Wir werden also in den folgenden, je kurzen Kapiteln von nicht mehr sprechen als von diesem Jetzt des Lebens, das alles ist: Gewiss­ heit, Freude, Vollzug, Selbstsein. Je Alles in dem Einen, das wir sind – in den Augenblicken, welche sich im Eindruck zusammenfügen, ohne dass wir sie erschaffen müßten. Man könnte von einer Perlenkette sprechen, bei der jede Perle eine unendliche Variation des Lebens darstellt, und wobei der Faden nochmals das Leben selbst ist, und keine irgendwie abstrakte Zeitdauer. Jeder Punkt enthält außerdem die gesamte Welt, denn wenn jeder Augenblick gelebt werden muss, um erlebt werden zu können, dann errichtet sich darin ebenfalls das Erleben der Welt mit ihrem Erscheinen für uns. Ist solches Erscheinen vom Erleben unabtrennbar, weil das Leben selbst letztlich den Grund des Erscheinens ausmacht, dann ist unser Erleben im unmittelbaren Augenblick das »Fleisch der Welt«. Wir beleben durch unsere sinnliche Wahrnehmung die Welt von der allernächsten Umgebung aus bis hin zu den entferntesten Sternen im All und verleihen allem eine Gestalt und Farbe. Die jeweilig sinnliche

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1. Die einzige Gewissheit

Form, die im Erleben als Eindruck und Gefühl gründet, ist dieses Fleisch der Welt – ihre innere Verlebendigung. Erscheint die Welt uns grau und monoton, dann deshalb, weil wir in gewisser Weise die Gefühle neutralisiert haben. Doch immer schon war die Kunst, aber auch die Religion und anderes kulturelles Menschheitswissen, das Aufbegehren gegen solche Verflachung der Realität. Die Komposition in Musik oder Malerei ist daher die Intensivierung der möglichen Wahrnehmungs- und Gefühlsnuancen, und damit ein anderes Hören wie Sehen, eine Welt in einem anderen Fleisch. Nichts anderes will letztlich auch diese Meditation. In diesem Sinne vollzieht sich eine solche Meditation im grund­ sätzlichen Bündnis mit dem Leben, mit dem, was nie verneint werden kann – gerade auch dann, wenn es sich selbst zu verneinen scheint, wie in Enttäuschung und Leiden. Wir möchten daher im weiteren entfal­ ten, warum sich unsere Meditation mit dieser Selbstverständlichkeit, die man im Alltag meist unausgesprochen lässt, auf das Leben stützen kann. Wir verfolgen anders gesagt eine Besinnung auf das Leben, ohne den Anspruch auf irgendeine Theorie zu stellen, sondern das Leben soll sich selbst so aussagen, wie es in jedem Lebendigen zu jedem Augenblick spricht. Solche Besinnung auf das Leben besagt daher hier, dass jeder in sich nachempfinden kann, was als »Leben« angesprochen wird. Er selbst, und kein anderer, ist der Maßstab dafür, was »Leben« ist. Damit verfolgen wir nichts anderes als den einzigen Anspruch, der zu Beginn aufgestellt wurde: Das Leben ist sich selbst die einzige Gewissheit, und dies nicht in einem gedanklich vorstellbaren Satz, sondern im Erleben dieser Gewissheit als dem jeweiligen Gefühl. Der Leser vermag daher an jeder Stelle in sich selbst zu überprü­ fen, ob das, was gesagt wird, als lebendiger Eindruck in ihm gegeben ist, wobei solche Gegebenheit die Gabe des Lebens selbst bildet. Das Einzige, was hier also zu Anfang vorausgesetzt wird, besteht darin zu erkennen, dass in der Tat jeder Augenblick vom Leben getragen wird, und von nichts anderem. Ist dies anerkannt, so kann die notwendige Umstellung des Denkens in einer solchen Meditation vollzogen werden: Das Leben ist nicht in der Welt, sondern die ganze Welt, einschließlich meiner selbst als sichtbarer Person, ist im Leben. Ist aber alles im Leben, dann muss letztlich auch alles von diesem her verstanden werden, oder besser gesagt: alles von ihm aus gelebt werden. Solche Praxis ist daher in der Besinnung darauf, was uns trägt – nämlich als Urerfahrung des Getragenseins selber – jene

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1. Die einzige Gewissheit

Energie oder Kraft, durch die alles ist, auch wenn dieses »Durch« selber niemals in einer Idee eingefangen zu werden vermag.

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2. Das reine Tun

»Es geht nicht mehr.« »Ich kann nicht.« »Alles ist so furchtbar!« Dies sind häufig Sätze, die in jeder Existenz fallen, sich möglicherweise wochenlang, manchmal sogar jahrelang wiederholen. Anstatt sich selbst im Leben zu erfahren, scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Alles ist wie erstarrt, gehemmt, getötet oder ausgeblutet. Und trotz­ dem erfährt man sich, das heißt sich selbst. Nur ist dieses Selbst eben nicht mehr das Bild der Vorstellung, welches ich bislang von mir gekannt habe. Was sich also geändert hat, ist die Vorstellung, nicht das Leben. Die Chance ist daher einmalig, wirklich zum Leben vorzustoßen, anstatt weiterhin in der Vorstellung zu verharren. Denn die Vor-stellung ist immer der Versuch, das Leben in eine äußere Idee zu verlegen, um es darin betrachten zu können. Es lässt sich aber niemals betrachten, sondern es ist nur zu leben, da es grundsätzlich unsichtbar ist. Da ich mithin im »Es geht nicht mehr« in der Vorstellung lebe, dass »ich nicht mehr kann«, lebe ich im Konflikt, denn das Leben lebt »sich« weiter. Und diese Erfahrung ist eine Gewalt, die wie die Freude zum Ursprünglichsten des Lebens gehört. Bevor wir später ausführlicher noch von dieser Gewalt als dem äußersten Erleiden des Lebens sprechen werden, gilt es hier nur anzumerken: auch die »Unmöglichkeit zu leben«, ist ein Gefühl, das als solches in seiner Unmittelbarkeit so absolut wie jedes andere Gefühl ist. Denn es erfährt sich als Gefühl, und dieses Sicherfahren des Gefühls ist genau seine Lebendigkeit, auch und gerade dann, wenn es sich als eine Unmöglichkeit in der Vorstellung erweist. Wir stoßen hier auf eine erste wichtige Konsequenz unserer Besinnung, nämlich deutlich Vor­ stellung und Gewissheit voneinander trennen zu müssen. Gewissheit gibt es nur im Leben und niemals in der Vorstellung. Gelingt daher die Trennung zwischen dem »Ich kann nicht mehr« als Vorstellung und der dennoch weiterhin gegebenen Gewissheit als Lebenseindruck, dann vollzieht sich hier von vornherein das Entscheidende unserer Meditation als Praxis.

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2. Das reine Tun

Wir können es auch so formulieren: Ist das Leben die Realität schlechthin, dann kann es Leben nur in dieser Absolutheit geben, und alles ist darauf auszurichten, an dieser Realität nicht vorbeizuzielen. Eine Vorstellung aber, zum Beispiel ein bisheriger Lebensplan als Beruf oder Beziehung, ist nicht das Sicherfahren des Lebens selbst schon, sondern eine gewisse Weise, es existentiell zu entwerfen. Ich sperre anders gesagt das Leben in einen bestimmten Horizont ein und verfüge so von außen, wie es sich darin zu zeigen habe, obwohl kein Horizont jemals das Leben selbst sein kann. Horizont ist immer Ausschnitt, Perspektive einer Meinung oder begrenzte Ziel­ absicht. Horizonte füllen sich mit Evidenz oder werden in ihrer mög­ lichen Erfüllung sowohl enttäuscht wie sogar ganz durchgestrichen, um anderen Horizonten Platz zu machen. Deshalb vermag Evidenz niemals Gewissheit zu sein, sondern sie ist immer nur relativ, wie die phänomenologischen Analysen Husserls deutlich zeigen. Diese Relativität einzuüben, macht den Inhalt der meisten Lebensanschau­ ungen heute aus, weil alle geschichtlichen Utopien und umfassenden Weltbilder dahingeschwunden sind. Aber »Anpassung« an Lebensun­ sicherheiten und das Lernen, mit ihnen distanziert umzugehen, hebt die Heftigkeit des Gefühls als reinen Affekt nicht auf, mit dem sich die Erfahrung des Lebens als Leben immer wieder gibt. Insofern bleibt bloße Sinnsuche in je veränderten Lebensabschnitten ein Irrgarten, in dem ich mich jeweils neu verfangen kann, wie Kafka wusste. Das »Ich kann nicht mehr«, einschließlich seiner Traumata, Ressentiments und Todeswünsche, ist daher in der Gewaltsamkeit seines Erlebens die Konfrontation mit der Nacktheit des Lebens. Denn hierin tritt es in seiner Wahrheit als reine Erfahrung auf. Die Chance, sich in solcher Erfahrung bis in die Gewissheit des Lebens selbst als ständiges Erfahrenkönnen hineinnehmen zu lassen, ist daher einzigartig und sollte nicht verspielt werden. Denn der zentrale Punkt wäre dann, sich prinzipiell in der inneren Praxis des Lebens selbst zu verankern, um nur noch von diesem Sichgeben des Lebens her zu leben. Ist das Erfahren aber die ständige Praxis des Lebens selbst, so ist das Leben in sich ein ständiges Tun – auch dort, wo ich ruhe oder meine, nichts mehr tun zu können. Wir stoßen damit folglich auf ein zweites wichtiges Ergebnis unserer Besinnung: Niemals ist dem Leben von außen her ein Sinn oder ein Wert überzustülpen. Mit anderen Worten eine Vorstellung, die ihm aus der Distanz heraus sagen will, was es als Leben zu tun und zu lassen habe. Wenn das

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2. Das reine Tun

»Leben« vorübergehend sagt, dass es »nicht mehr könne«, dann ist dieses Nicht-können gerade sein Können in einer anderen Weise. Diese Umstellung auf das »reine Tun des Lebens« ist daher kein bloßer Zusatz zu seiner inneren SelbstGewissheit, von der wir sprachen. Denn diese Gewissheit ist eben keine theoretische, sondern eine praktische Erfahrung des Lebens selbst. Ist diese Erfahrung ein Tun als innere Praxis des Lebens in seinem Verspüren, so ist das Leben immer »am Werk«. Es verändert sich ständig in seinen Eindrücken und Gefühlen, und diese Rhythmik der inneren Veränderungen ist eine erste Bündelung auf Gestaltungen hin, die dann als Lebensfor­ men wieder existentiell ergriffen werden können. Damit ist eine eigene innere Sprache des Gefühls angedeutet, die klarer ist als jedes Sprechen mit Worten und Begriffen, weil sich in diesen Gefühlen der Selbstvollzug des Lebens kundtut, in dem sich all unsere Vollzüge verwirklichen. Das reine Tun des Lebens ist also die Gewissheit, dass auch der nächste Augenblick noch im Leben vollzogen wird – selbst dann, wenn sich alles andere ändern sollte, wenn nichts in der Welt mehr meiner Erwartung entspräche. Um ein Beispiel zu geben, so weiß jeder, wie stark gerade Erwartungen mit Katastrophendenken besetzt sein können. Nicht nur zu sagen: »Ich kann jetzt nicht mehr«, sondern für die nächsten Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre das vorweggreifende Urteil zu fällen: »Das werde ich nicht überleben!« »Soweit reichen die Kräfte nicht!« Nehme ich hier den Blick allein auf den Augenblick zurück, schaue ich ausschließlich auf diesen Zeitpunkt des Jetzt, so scheint er lebbar. So wie in einem ganz und gar dunklen Tunnel ein kleiner Lichtpunkt oder bloß die Richtung nach vorne den Ausgang weist. Was schon für diese Zeitrücknahme sowie für die Möglichkeit des Tuns gilt, welches sich vor und hinter diesem Punkt als durchführbar erweist, so gering es auch sei – dies lässt sich noch einen Schritt tiefer vollziehen: In der Zeit, in der gerade kurzen Zeitspanne, die ich soeben als lebbar empfinde, realisiert sich das ganze Leben in seiner Fülle selbst, das heißt mit all seinen Möglichkeiten oder Potentialitäten. In diesem Fall dringe ich noch diesseits jeder Zeit auf das reine Leben vor, das sich selbst trägt; dem ich von außen weder etwas hinzufügen kann noch muss, damit es ist. Und in diesem Er-tragen des Lebens, soweit es sich selbst trägt, trägt es alles andere mit: die Zeit und die daraus entspringenden Vorhaben und Entwürfe. Insofern ich dieses Er-tragen aller Wirklichkeit durch das Leben sein reines Tun nennen kann, stoße ich im Zentrum selbst des »Ich kann nicht mehr«

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2. Das reine Tun

auf ein noch viel tieferes »Ich kann«, welches das Leben selbst ist. Die Befreiung von der Vorstellung des Nichtkönnens erlaubt daher den einmaligen »Sprung« in die absolute Gewissheit des Lebens, welche als praktischer Vollzug sein ununterbrochenes Können ist. Indem es lebt, ist es die Kraft oder die Energie, die jeder Augenblick als ein lebendiger in sich birgt, um zu sein. Dies einmal ganz tief zu ergreifen, bleibt die Chance jeder Grenzerfahrung, wo ich mit einer scheinbar unüberwindbaren Ohnmacht konfrontiert werde. Einmal von allem verlassen zu sein und alles verlassen zu müssen, ist die Weise der reinen Selbsterprobung des Lebens als der Mitte von allem. Da dies im Zusammenhang mit der eingangs genannten Freude des Lebens als seiner Selbstfreude zu sehen ist, befinden wir uns weit weg von jeder Verdrießlichkeit. Wir bedenken ein immanen­ tes Gesetz des Lebens, seine »innerliche Notwendigkeit«, wie der Maler Kandinsky sagte, das heißt seine langsame Verwandlung vom Schmerz zu einer neuen Erträglichkeit hin. Der Unterschied zur alltäglichen Beobachtung solcher Verwandlung beruht hier darin, dass wir erkennen, wie das Leben in seinem Wesen selbst an diese innerste Veränderung gebunden ist. Denn Leid und Freude sind die beiden Pole des Empfindens des Lebens überhaupt. Alle Eindrücke und Gefühle des Lebens, auch als vitale Lust und Unlust, ordnen sich um diese Grundpolarität herum an, die wir später auch als das Pathos des Lebens bedenken werden, mit anderen Worten als das innerste Gesetz seiner Affektivität. Im scheinbaren Nichtkönnen das unbesiegbare Können des Lebens als das Werk seiner affektiven Verwandlung zu ergreifen, ist mithin diesseits aller Vorstellungen unser Eingetauchtsein in das reine Leben. Wir sind als Lebendige immer schon in dieses Leben eingetaucht, und zwar auf eine so ursprüngliche Weise, dass wir im strengen Sinne nur im Leben – und nicht in der Welt – geboren wer­ den. Denn das Auf-die-Welt-kommen betrifft auch Steine und andere Dinge, welche keine lebendigen Wesen sind. Allerdings realisieren wir zumeist erst in der nackten Verzweiflung, in der alles beherrschenden Angst, in der nicht enden wollenden Enttäuschung, aber ebenso in der reinen Freude, im Glück des unverdienten Gelingens und Geliebt­ werdens, jenes Eingetauchtsein in das reine Empfinden, welches das Leben ausmacht. Sich so zu empfinden, ist die Quelle des reinen »Ich«, denn in der Bindung an seine Subjektivität besagt dieses Ich nichts anderes als grundsätzliches Empfindenkönnen. Und dieses reine

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2. Das reine Tun

Empfinden, das ich für immer bin, ist das Selbstempfinden des Lebens – ist sein subjektives Tun als innere Praxis, aus der alles entsteht.

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3. Leben als Selbstaffektion

Wir haben schon die wesentlichen Elemente in Händen, um das Leben, welches wir sind, in sich selbst zu bestimmen, und zwar nicht mehr von aussen her, wie es naturgemäß die Wissenschaften tun, etwa die Biologie oder Medizin. Bedenken wir, dass wir als Individuen, als ungeteilt Lebendige, zunächst nicht durch Ort und Zeit bestimmt werden, sondern durch unsere absolute Geburt im Leben, dann gibt es zwischen dem reinen Leben und uns eine Verbindung, die unsere Individualität selbst ausmacht. Wir sagten, dass sich die Gewissheit des Lebens, und zwar als SelbstGewissheit lebendigen Fühlens zu jedem Augenblick, von jener Evidenz der Vorstellung unterscheidet, die von den Perspektiven der Welt als »Horizont« abhängt. Sind wir zu jedem Augenblick Lebendige ohne irgendeine mögliche Trennung vom Leben, welches wir selbst sind, dann gibt es zwischen uns und solchem Leben niemals einen Abstand oder eine Kluft. Und da es andererseits Leben nur als individuelles Leben gibt, das heißt als sich stets selbst fühlendes, gibt es in solchem Leben auch niemals irgendeinen Spalt oder eine Differenz, worin es von sich selbst und von uns entfremdet wäre. Mit einem Begriff, der aus der philosophischen Tradition stammt, ist das rein innere Wesen des Lebens die Selbstaffektion. Sich stets als lebendig zu fühlen, setzt nämlich voraus, dass dieses Fühlen zuallererst sich selbst fühlt, so dass hierbei nichts Anderes oder Fremdes auftritt, um gefühlt zu werden. Inhalt wie Akt des Lebens als ein solches Sichempfinden, und zwar ohne Unterlass, wie wir sahen, ist das Empfinden selbst. Das Leben empfindet sich als Leben, so wie sich das Empfinden als Leben erfährt oder erprobt. Es gibt keinerlei andere Weise für das Leben zu sein, als sich zu verspüren, so dass Leben und Empfinden im Grunde dasselbe bedeuten. Wenn ich sage: »Ich spüre etwas Schmerzhaftes« und den Schmerz an meinem Körper zu lokalisieren versuche, dann muss sich vor dieser Feststel­ lung der Schmerz zunächst in sich selbst als Schmerz empfinden. Dieses konkrete Können des lebendigen In-sich-Empfindens ist die Selbstaffektion. Niemals könnte irgendetwas in der Welt mir sagen,

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3. Leben als Selbstaffektion

was ein Schmerz ist, da weder ein Stein noch der perfekteste Computer jemals das Empfinden in sich kennen werden. Nur was lebendig ist, kann empfinden. Daher vollzieht die Selbstaffektion eine grundsätzliche Zäsur zwischen Dingen und Men­ schen: zwischen der Weise, im selbstaffektiven Empfinden des Lebens sich zu erfahren oder als ein träger Körper des materiellen Universums in der sichtbaren Welt zu erscheinen. Dieser Punkt ist nicht nur entscheidend für das Verstehen alles Lebendigen, sondern er beinhal­ tet außerdem eine notwendige Richtigstellung der gewöhnlichen Selbstwahrnehmung. Je mehr unsere Umwelt vom technisch-wissen­ schaftlichen Erkennen als einzig »objektiver« Wahrheit geprägt ist, umso mehr sind wir selbst geneigt, uns als bloße Weltdinge zu verstehen und zu beurteilen. Wir suchen für alles kausale Erklärun­ gen, was immer stärker auch für die Humanwissenschaften wie etwa die Psychologie gilt. Sie wollen sich dem naturwissenschaftlichen Methodenideal annähern, um ihre »Effizienz« nachzuweisen, anstatt grundsätzlich zu verstehen, dass Leben nur selbstaffektiv erprobt werden kann. Unsere »absolute Geburt« im Leben, das heißt vor allen äußeren Lebensfeststellungen, ist diese reine Selbsterprobung des Affektiven, von der wir niemals getrennt sein können. Sie macht unsere Subjektivität als Empfindenmüssen schlechthin aus und bildet daher den letzten Grund jedes Wissens vom Leben, sofern dieses von der genannten Geburt im Leben abhängig ist. Wir bedenken hier weiterhin nichts anderes als den Jetztpunkt, in dem wir leben, um überhaupt im Dasein zu sein. Im jeweiligen Augenblick sind wir nicht nur ausschließlich vom Leben bestimmt, und zwar mit dessen unmittelbarer Gewissheit, Freude und Praxis, sondern in dieser reinen Lebensaffektion sind wir jeweils auch ein bestimmtes Selbst. Wir sind folglich niemals ein »Selbst« durch uns selber, sofern wir unter Selbst gewöhnlich die Vorstellung von unserer Identität als »Ich« verstehen. Ein gedachtes Selbst, vorgestellt in der inneren Wahrnehmung oder Reflexion, ist unwirklich, denn es hätte aus sich selber heraus keinerlei lebendige Beständigkeit, um überhaupt zu sein. Es käme, streng gesprochen, noch nicht einmal ins Leben. Denn jedes Vorstellen beinhaltet nur ein Bild vom Leben, nicht aber das Leben selbst, da dieses in seinem Wesen lebendige Selbstaffektion als Selbstzeugung ist. Auch die Einklammerung aller Ideen hinsichtlich des eigenen »Selbst« muss daher zumindest einmal grundlegend vollzogen werden, um sich der reinen Kontinuität der Lebensaffektion überlassen zu können. Diese ist kein Gefühlschaos

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des Sinnlichen, wie eine lange abendländische Denktradition lautet, sondern die einzige Realität, welche niemals fehlt und die wir sind, so dass uns hierbei in der Tat niemals etwas fehlt. Verstehen wir Person oder Persönlichkeit als zusammenfassen­ den Charakter all unserer subjektiven Leistungen, die wir denkend, fühlend und handelnd in unserem Wissen vollziehen, so ist auch diese Idee zunächst aufzugeben. Allein im ursprünglichsten Punkt, an der Stätte meiner absoluten Geburt, bin ich jenes wahre »Selbst«, in dem sich das Leben selber als Leben empfindet und sich dadurch als solches bestimmt. In diesem Selbst ist das Leben das »Ich-bin«, nämlich dieses je konkrete Gefühl, das sich so empfindet, und nicht anders, und daher von keinem Anderen an meiner Stelle jemals empfunden werden kann. Damit ist gerade eine Gemeinschaftlichkeit aller Lebendigen in deren einmaliger Lebensaffektion an diesem Punkt keineswegs ausgeschaltet. Aber es gilt auch hier zunächst vor allem zu verstehen, dass ich mich keinem Anderen aufdrängen kann, um ihm etwa einen Sinn oder ein Lebensgefühl aufzuzwingen. Die Einmaligkeit der Selbstaffektion begründet so eine absolute Würde der Individualität in jedem lebendigen Menschen. Kein äußeres Wer­ ten und Urteilen reicht daher jemals an dessen inneres, unaufgebbares sowie unverwechselbares Selbstsein heran. Von hierher rührt die kritische Überprüfung aller Meinungen hinsichtlich des Menschseins in unserer gesamten Besinnung, welche allein vom Ort des absoluten Eingetauchtseins ins Leben als Selbstaffektion aus sprechen will. Die genannte gleichzeitige Ur-Gemeinschaftlichkeit aller Leben­ digen am Ort meiner Geburt dürfte aber auch verständlich machen, dass das Selbsterleben des Gefühls auf diese Weise einen ganz neuen Boden des Austausches miteinander gefunden hat. Wenn nämlich keine vorgängige Theorie oder Meinung mehr »angewandt« wird, um den Anderen zu »verstehen«, sondern dieses Verstehen nur aus dem je absolut erscheinenden Gefühl selbst gewonnen wird, dann gibt es auch keine äußere Regel mehr für solche »Kommunikation«. Ihr einziger Bezug ist die Affektwirklichkeit als solche, das heißt das Leben der Selbstaffektion als reine Affektivität. Darin haben Urteile über Sollen und Nichtsollen, das heißt das Vorherrschen von Normen, zunächst keinen Platz mehr, und jedes äußere Wissen steht damit unter dem Vorzeichen einer notwendigen Einklammerung. Versteht sich jeder Austausch auf solche Weise, so gibt es hier kein anderes Gesetz mehr als das Gesetz des Lebens selbst, denn das Leben will leben und gebiert sich so zu jedem Augenblick als das Leben

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der Individuen. Und in diesem Sinne bedeutet Einklammerung die Zurücknahme von allem, was nicht unmittelbar das Leben selbst ist, auf diesen entscheidenden Punkt der Ichwerdung hin. Wir haben in der notwendigen Schlichtheit bisher ohne Zweifel schon einsichtig machen können, dass das Leben alles andere als die unablässige Monotonie des Selben ist. Genau betrachtet, gibt es nicht nur die Unendlichkeit der Gefühlsnuancen, für die kein äußeres Maß existiert, sondern die Geburt in der Selbstaffektion des Lebens erlaubt uns prinzipiell auch ein immer weiteres Eindringen in dieses Leben selbst – bis hin zu seinem ewigen Grund, ohne dass wir aufhörten, wir selbst zu bleiben. Die Achtung vor der absoluten Individualität des Einzelnen, welche nicht nur eine Frage der Toleranz, sondern eine Lebensgesetzlichkeit darstellt, ist daher mit der Unmöglichkeit gepaart, dass sich das einzelne Ich jemals in eine größere Totalität auf­ lösen könnte oder sollte. Wir wollen diese Frage hier weder politisch noch gesellschaftlich in ihrer Konsequenz weiterverfolgen, möchten aber darauf hinweisen, dass jedes Aufgehen in etwas »Größeres«, sei es als Gruppe, Volk usw., nochmals ein Empfinden dieses Aufgehens selbst voraussetzen würde. Wenn daher jeder Lebensaustausch an sich ein Bund mit dem Leben als »Geburt« des Einzelnen ist, dann bedeutet er dadurch einen unverbrüchlichen Pakt mit diesem je Einzelnen. Ein Messen an allgemeinen Regelhaftigkeiten, wo das Individuelle zumeist aus­ gelassen wird, findet somit an der Selbstaffektion seine gedankli­ che wie ethische Grenze. Den Einzelnen in der Selbsterprobung seines Lebens nicht ersetzen zu können, heißt daher zugleich, ihm auch jederzeit diese Selbsterprobung zuzutrauen, was oben genannte Gemeinschaftlichkeit und entsprechende Hilfen nicht ausschließt. Ist die Selbstaffektion zugleich die SelbstGewissheit des Lebens in seiner innersten Praxis der Gefühlsveränderungen, dann ruht in dieser sich selbst gewissen Praxis ein reines Lebenswissen, welches stets selbst weiß, wessen es bedarf, um zu leben. In diesem ursprünglichen Wissen wird jedes Bedürfen, jeder Wert erprobt, um dann Norm oder Ziel zu werden. Man kann nicht von außen auf dieses innerste Leben einwirken, wie wir sagten, da es niemals ein Gegenstand ist, sondern die reine Affektion zum Erleben von jedem Gegenstand und jeder Form.

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4. Was uns trägt

Wir erwähnten im vorherigen Kapitel schon den Grund des Lebens, in den letzteres mich hineinzieht, um mich dennoch gleichzeitig ganz bei mir selbst sein zu lassen. Wir machen daher einen weiteren Schritt, um diese ungeheuerliche Identität von Leben und Ich zu erfassen, ohne sie in solcher Verschmelzung miteinander zu vermi­ schen. Herrscht in der Selbstaffektion das Gesetz des Empfindens als Affektivität, so besagt dies, dass sich Empfinden und Empfundenes als Akt und Inhalt nicht gegenüberstehen, sondern einander als das Selbe durchdringen. Durchdringen kann sich nur, was eine Energie ist; eine Kraft, die Bewegung darstellt. Der Grund des Lebens ist deshalb kein starrer Boden, sondern eine Selbstbewegung, das absolute Können des Sichbewegens überhaupt, welches beispielsweise im Tanz oder Sport zu seiner Meisterschaft geführt wird. Jedes Empfinden, ob es bewusst wird oder nicht, ist bereits ein solches Sichbewegen. Affiziert sich nämlich das Leben selbst, so gibt es sich einerseits an sich selbst, so wie es sich andererseits selbst empfängt. Aber dies ist nicht so zu denken, als gäbe es zuerst das Leben und dann die innere Bewegung der Affektion, sondern in diesem Selbstaffizieren, das ich bin, wird das Leben als solches. Was wiederum nicht so aufzufassen ist, als gäbe es zuerst einen Beginn, aus dem heraus dieses Leben entstünde, und dann ein Ziel, auf das es sich zubewegte. Vielmehr sind Anfang und Ziel das Leben selbst in dieser Bewegung als Sichaffizieren. Das, was als Leben empfangen wird, gibt sich uneingeschränkt weiter, so wie sich die Freude als reine Freude weitergibt. Betrachtete ich den Lebensaugenblick, in dem ich jetzt existiere, auf äußere Weise, etwa als Entwicklung in der Zeit, so gäbe es hierbei ein Nichts, einen zeitlichen Zwischenraum oder eine inhaltliche Leere, über die sich das Leben unverständlicherweise errichtete. Dies kann aber gerade nicht eintreten, weil ich zu jedem Augenblick im wirklichsten Sinne bin – eben als dieser Lebendige hier und jetzt. Wer dies versteht, hat erfasst, warum die Meditation des Lebens ein Denken der Freude ist – und keineswegs des Nichts, wie in vielen zeitgenössischen Denkströmungen.

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4. Was uns trägt

Eine weitere wesenhafte Notwendigkeit innerhalb dieser affekti­ ven Selbstbewegung des Lebens ist daher, dass jeder Punkt dieser Bewegung das Leben in seiner Fülle ist, das heißt jeweils nichts anderes als das Leben selbst. Es tritt nichts »Anderes« hinzu, aber es wird auch nie etwas genommen. Und da es sich dabei stets um eine tatsächliche Selbstaffektion handelt, herrscht hier auch niemals eine Gleichgültigkeit, die das durchgehende Gesetz der Welt in ihrem Erscheinen ist, wie noch genauer zu zeigen sein wird. In der Welt gibt es nämlich kein wirkliches Sichberühren, sondern nur ein Nebenei­ nander ohne lebendige Nähe bis in die subatomare Teilbarkeit hinein. Spüren wir hierdurch die einmalige, einzigartige Dichte des Lebens? Sein ständig sich gebärendes, sich nicht beschränkendes Wesen, das mit nichts anderem verglichen werden kann und in diesem Sinne unsichtbar ist? Sind wir imstande, jeden äußeren Vergleich deshalb aufzugeben, um uns selbst von dieser einzigen Quelle her zu erfassen, das heißt zu empfinden, wer wir tatsächlich sind? Unsere Meditation will somit eine Anweisung sein, den nicht alltäglichen Mut zu fassen, alle Vormeinungen über das, was wir »sind«, aufzugeben, um sich ausschließlich diesem Grund des Lebens zu überlassen, der als meine eigene innere Lebensbewegung spricht. Denken wir an den Beginn zurück, so wird jetzt besser nachvollzieh­ bar, warum Freude und Leid die Grundpolarität des Lebens als dessen innerstes Gesetz sind, wie schon Spinoza sah. Die Freude als Sichge­ ben des Lebens muss empfangen werden, und dieses Sichempfangen des Lebens ist sein Sichertragen, sein Sich-selbst-Ertragen. Freude und Leid sind also letztlich keine einzelnen besonderen Gefühle, die hier und da zufällig aufträten, man wüßte nicht wie. Vielmehr sind Freude/Leid oder Seligkeit/Schmerz jeweils dasselbe Leben, seine innerste affektive »Materie« als Gefühl. Mit anderen Worten seine Selbstbewegung der sich gebenden und sich empfangenden Affektion als der reinen Selbstbewegung des Lebens. Hier berühren wir den eigentlichen Grund des Lebens, seinen Ursprung, der sich selbst hervorbringt, weshalb das Leben absolut ist und man infolgedessen auch von einem »göttlichen Leben« spre­ chen kann. Was uns trägt, in diesem Augenblick, ist der Grund des Lebens als dieses Leben selbst, in dem wir sind. Wir empfinden in unserem lebendigen Selbstempfinden das Leben als Freude dieses Empfindens und als Ertragen dieser Freude in ihrer Lebendigkeit, was unlösbar zusammengehört. Wir erleben und erproben dabei zugleich, dass wir dieses Leben nicht selber gesetzt haben. Denn auch

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in unseren Eltern oder Erzeugern bewirkte, tiefer gesehen, das Leben unsere Geburt – und es waren keineswegs die mehr oder weniger zufälligen geschichtlichen und biographischen Umstände. Sind nun Freude/Schmerz als Lebensgabe und Lebensempfang das Selbe, die Einheit des Sichempfindens, dann können wir dies mit einem Wort bezeichnen: Wir nennen es Pathos, wobei dieser Begriff bis zu den Griechen zurückreicht und in der Neuzeit besonders von Nietzsche, Kierkegaard und Michel Henry verwandt wurde, um das Wesen des subjektiven Lebens angemessen auszudrücken. Führen wir diesen Begriff des Pathos als Besinnungsmöglichkeit ein, welche die innere Wirklichkeit der Menschen bezeichnet, dann wird damit nichts »Pathologisches« ausgedrückt. Das Leben als solches kann nicht erkranken. Wir dringen vielmehr mit diesem Begriff des Pathos noch tiefer in den Grund des Lebens vor, um zu verstehen, dass unsere größte Ohnmacht zugleich unsere konkreteste Fülle ist. Reines Empfangen zu sein, nicht die Initiative zu unserer eigenen absoluten Geburt zu besitzen, bedeutet daher ohne jede mögliche Ausflucht, im Ursprung unserer selbst reine Passibilität zu sein: eine grundlegende Passivität, das Leben zu »erleiden«. Dies meint keine Abwesenheit von Bewegung, wie wir schon bemerkt haben, auch keinen psycholo­ gischen Zustand der Hemmung oder Verdrängung etwa. Vielmehr ist damit die unaufhebbare Tatsache bezeichnet, dass am Anfang unseres Lebens nicht wir selber im Sinne einer eigenbegründenden Tat stehen. Solche Passibilität wird vom modernen Denken in seiner Illusion, sich in allem selbst als Freiheit ergreifen zu können, zurückgedrängt und in der »Selbstverwirklichung« oder »Selbstbehauptung« vergessen. Bleibt das Handeln nur bei solcher Selbstverwirklichung oder bei ähnlichen Formen gegenwärtiger Individualisierung haften, wie etwa beim »flexiblen« Ausnutzen der gesellschaftlichen »Spielräume«, so befindet man sich letztlich in einem Scheindenken. Wir haben anfangs schon erwähnt, dass Existenzentwürfe wie -gestaltungen nur den relativen Evidenzcharakter der nie sicheren Sinnfindung betreffen können, nicht aber die Absolutheit unserer Lebensgeburt als empfin­ dender Subjektivität selbst. Jetzt lässt sich entschieden hinzufügen, dass die Selbstaffektion als Pathos dieser Subjektivität, das heißt unser inneres Selbsterproben in Freude und Leid, keine Endlichkeit im üblichen Sinne ist. Endlichkeit ist Denken des Individuums von Grenzen her, und zwar meist von existentiellen oder naturhaften Beschränkungen aus, sowie letztlich vom Tod her. Aber es wird dabei zumeist nicht bedacht, welches die Voraussetzungen solcher

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Horizontbeschränkungen sind, um das Individuum allein von dorther zu verstehen und damit in seinem Erfahren selbst zu beengen oder sogar zu reglementieren. Man braucht nur daran zu denken, wie leicht herrschende Weltanschauungen oder Weltbilder verinnerlicht und für das eigene Selbstverständnis übernommen werden, wie beispiels­ weise heute vor allem die naturwissenschaftliche Denkweise. Ist jedoch das Leben Selbstbewegung im absolut affektiven Sinne, dann gibt es weder eine Grenze, wo diese Affektion enden könnte, noch eine Grenze, an der sich das Leben überhaupt in sei­ nem Selbsterproben vermessen ließe. Diese Grenzenlosigkeit des inneren Lebens gehört zu allen großen Menschheitsahnungen, zu den Entdeckungen und abenteuerlichen Unternehmungen, bei denen die Umstände kaum zu zählen scheinen. Das heißt bei den großen Denkern, Heiligen, Propheten, Dichtern wie Forschern, aber auch bei den Millionenen von Individuen, die scheinbar namen- wie spu­ renlos ihre Existenz im Pathos ausgetragen haben. Mit all diesen Lebendigen bilden wir eine übergeschichtliche Gemeinschaft, weil uns keine Wahrnehmung oder bewusste Erinnerung direkt mehr mit ihnen verbindet. Es gibt nur ein »affektives Gedächtnis«, das sich etwa manifestieren kann, wenn wir auf die geduldige Arbeit von Generationen achten, durch die Landschaften wie Städte langsam ihre Gestalt gewannen. Die Unbegrenztheit des Empfindens ist dabei zugleich das innerste Merkmal der Freude. Diese ist unvergleichbar, weil sie aus dem Wesen des Lebens selbst hervorbricht, indem sie die Liebe des Lebens zu sich selbst in solcher Bewunderung bekundet. Die Ohnmacht des Lebens im reinen Ertragen desselben als sein Empfangen, welches ich bin, ist daher keine Grenze. Vielmehr ist sie die radikale Weise selbst, wie die Passibilität meiner Geburt im Leben alle Freude über die konkreten Möglichkeiten desselben in sich birgt – und zwar zu jedem Augenblick. Das Pathos als unsichtbarer Grund in seinen Möglichkeiten des Empfindens ist sozusagen die Spitze von dessen Ohnmacht in seiner reinen Passibilität, worin zugleich die Ausstattung mit der gesamten Kraft des Lebens gegeben ist. Diese nehme ich ungefragt bei jedem Tun geistiger wie leiblicher Art in Anspruch. Im Tun, in dessen unver­ lierbarem »Ich kann«, tauche ich in diese Nacht meiner Lebensgeburt ein und werde darin mit dem grundsätzlichen Vermögen des Lebens, in allem das Leben zu sein, selbst ausgestattet. Jede Kraft: zu gehen, zu greifen, zu lieben, zu arbeiten, zu ruhen usw., ergreift sich zunächst selbst in der reinen Passibilität jener Lebensgabe, um sich in diesem

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Er-tragen sodann zu entfalten: zu können, was sie jeweils kann. Diese Passibilität ist also kein apathischer Zustand, sondern der Grund selbst, der uns trägt. Und weil dieser Grund trägt, wird von daher auch meine Freiheit geboren: zu können, was ich tue, wann immer ich es benötige; den Blick schweifen zu lassen, so oft und wohin ich will; die Hände zu heben, was immer sie auch ergreifen wollen. In diesem Sinne ist die Wiederholung als Wiederholenkönnen meine Freiheit, denn das Leben ist zunächst in sich selbst Wiederholung, sofern es sich selbst – als sich selbst – weiterzeugt. Im Gegensatz zu jeder Theorie sowie auch ohne gedachte Ver­ mittlungen hält unsere Besinnung damit die äußersten Lebensbe­ kundungen zusammen, nämlich die tiefste Ohnmacht mit der größ­ ten Erfüllung in Freiheit. Dort, wo das Leben rein auf sich selbst lastet, im Affekt der Selbstaffektion, im Pathos reiner Lebensgabe ohne Ausflucht, dort wird in der Tat eine Energie geboren, welche man gemeinhin Trieb nennt. Dieser Trieb kommt aber aus keinem Unbewussten, sondern er beherbergt die Dichte des um sich selbst empfindenden Lebens, wo es ausschließlich es selbst ist, das heißt in der passiblen Ausgeliefertheit an sich selbst. Was trägt, ist daher kein Gegenstand, kein Hervorgebrachtes, keine Idee, sondern ein »Nichts« der Vorstellung, das Alles ist: eine Übermächtigkeit, die uns ursprunghaft nur in der Ohnmacht selbst gegeben ist. Wo wir rein empfangen, schulden wir nichts, sind wir frei; ist ein Leben in der reinen Hinnahme möglich, weil sich jede Rückerstattung erübrigt. Der lebendige Augenblick ist so ohne Existenzschuld, denn das Leben ist hier schon stets mehr, als was ihm jemals zurückgegeben werden kann. Die Passibilität als reine Gabe ist dieses »Mehr«, auf welches alle individuellen wie gesellschaftlichen Arbeiten zurückgreifen, denn sie erschaffen das Leben nicht, sondern manifestieren es konkret in seiner inneren Selbststeigerung.

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5. Das Gutsein des Lebens

Wenn das Leben in seiner Bewegung selbst Freude ist, identifiziert es sich mit dem Glück oder der Seligkeit. Diese treten ebenfalls nicht von außen zum Leben hinzu, sondern das Glück des Lebens besteht darin, nichts anderes als sich selbst zu kennen. In diesem Sinne genügt das Leben sich selbst; es ist autonom, so wie jeder Mensch als Individuum einmalig ist. »Das Leben ist gut« oder »Ich bin gut« ist dann kein Urteil über das Leben von außen her, irgendein Vermessen an Kriterien, die zu vergleichenden Umständen oder Situationen entsprächen. Gut ist das, was mit sich selbst in jeder Hinsicht identisch sein kann, und in diesem Sinne nichts anderes bedarf, um es selbst zu sein. Darin liegt das Glück des Gutseins, dass es aus seinem Wesen heraus gut ist, und dieses Wesen ist das Leben, sofern auch das Gutsein empfunden werden muss. »So wie du bist, bist du gut« heißt daher, dass die Quelle des Gutseins nicht anderswo als im lebendigen Empfinden zu suchen ist. Gutsein ist zunächst keine moralische Qualität, sondern eine seinsmäßige. Da die Selbstaffektion jeweils das Leben in seiner Verknüpfung von Freude/Leid ergreift, als Passibilität/Fülle, ist das, was hier geboren wird, in die Absolutheit des Lebens hineingenom­ men. Insofern kann ich sagen: auch ich bin das Leben, und das Gutsein, welches das Leben auszeichnet, ist gleichzeitig das meine. Die Selbstverständlichkeit dieses Sachverhalts leuchtet uns sofort ein, wenn wir daran denken, dass wir niemals einen leiblichen Vorgang in seiner gelungenen Ausführung in Frage stellen. Noch niemand hat sich wirklich darüber beklagt, dass er sieht oder zu gehen ver­ mag. Im Sehen und Gehen erscheint uns nicht nur das Gelingen derselben als selbstverständlich, sondern die Tatsache als solche, dass wir überhaupt sehen oder gehen können. Besser nicht geboren zu sein, wie Ödipus und Hiob klagten, aber auch schon das »Ägyptische Totenbuch«, ist zwar verständlich, verbirgt aber die Einmaligkeit des Glücks im Empfinden, das allein solches Sagen erlaubt. Übertragen wir diese Selbstverständlichkeit, weil das Leben in allen Punkten seines Seins und Wirkens das Leben ist, auf unsere

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5. Das Gutsein des Lebens

Geburt im Leben. Das Ich, welches hier vor aller Reflexion geboren wird, ist in diesem absoluten Anfang ein passives Mich, ein Ich im Akkusativ mit anderen Worten. Selbstaffektiv gesehen, ist dieses originäre Mich keine andere Selbstaffektion als die des Lebens, denn in der Weise, wie das Leben sich selbst empfängt, empfängt sich dieses Ich zunächst als Mich. Das Gutsein des Lebens in allem, was es lebt, geht also ohne irgendeine denkbare Unterbrechung in das »Mich« über. Diesen Übergang ohne Grenzziehung haben wir schon als die Selbstveränderung des Lebens angesprochen, in dem alles lebendig ist und bleibt. In dieser inneren Umwandlung gibt sich die Selbstbindung des Lebens an sich selbst als sein inneres Gutsein weiter und durchdringt uns bis in jedes Empfinden hinein. Bei einem Menschen diesen »Glauben« an sein Gutsein (wie­ der) zu wecken, wie es zum Beispiel bei Ängsten, Skrupeln und traumatischen Erscheinungen notwendig ist, heißt daher im Grunde nicht, nur eine andere Vorstellung in ihm zu erzeugen, sondern seine Realität von deren eigenstem Lebensursprung her anzusprechen. Dass dies von Einfühlung und dialogischer Aufmerksamkeit begleitet sein kann, versteht sich nicht nur von selbst. Vielmehr gründet eine solche Haltung grundsätzlich im bereits erwähnten Mit-Pathos als Gemeinschaftlichkeit aller Menschen ohne Unterschied in der einen Lebensrealität. Im Benennen oder Wecken des Gefühls für das Gutsein spreche ich also nicht irgendetwas »Liebenswürdiges« an, was deshalb nicht ausgeschlossen sein muss. Vielmehr findet die Begegnung auf der einzigen Ebene statt, wie sie vom Lebensgrund her denkbar ist. Weil wir leben, hat uns das Leben in diesem unseren Leben in der Tat immer schon bejaht, das heißt schlechthin gutgehei­ ßen, dass wir sind. Und diese Bejahung wird vom Leben nie mehr in Frage gestellt, nie mehr zurückgenommen werden – wie groß oder lächerlich auch unsere Versagen, Fehler oder Schuldhaftigkeiten sein können. Gerade dann zeigt sich das Gutsein des Lebens als dessen selbstaffektiver Grund ohne Einschränkung. Weil also dieser Augenblick jetzt ist, ich in ihm lebe, ist dieser Augenblick, sofern er nur ein lebendiger sein kann, ein guter, bzw. genauer gesagt: bin ich, als dieser Augenblick, gut, weil er ohne »mich« nicht wäre, was nichts mit Narzissmus oder Egozentrik zu tun hat. Wir übergehen an dieser Stelle mögliche Besinnungen zum Zeit­ verhältnis, welches etwa als Biographie berücksichtigt werden könnte. Ist nämlich einmal verstanden, was ein Augenblick ausschließlich als Geburt allein aus dem absoluten Leben heraus zu sein vermag,

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5. Das Gutsein des Lebens

dann verstärken möglicherweise zu viele Rückbetrachtungen der Vergangenheit eine fatale Sicht des eigenen Lebens. Wird Leben nicht auf Biographik oder Kindheitstraumata verkürzt, dann kann die genannte Erfahrung des Gutseins (des »Selbstwertes«) im Grunde an jedem Lebensaugenblick gewonnen werden. Dies mag zusätzlich auch einsichtig machen, warum unsere Meditation jeder theoretischen Konstruktion kritisch gegenübersteht. Denn aufgrund der bewusst­ seinsmäßigen Lückenhaftigkeit der Vergangenheits- oder Zukunfts­ horizonte können wir gar nicht anders, als diese selektiv wahrzuneh­ men. Das Leben ist aber noch in einem anderen Sinne gut. »Die Ros' ist ohn Warum, sie blühet, weil sie blühet«, sagt Angelus Silesius, »sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.« Die Rose ist ein Symbol für das Leben, und daher heißt dies hier, dass das Leben keine Sorgen kennt, denn es fragt niemals nach seinem Warum. Sagen wir alltagssprachlich deshalb einfach: »Das Leben muss gelebt werden«, dann stoßen wir mit dieser natürlichen Sprache spontan auf die innere Notwendigkeit als Wesen des Lebens, welche sein Selbstvergessen ist. Die Sorge spannt sich jeweils im Horizont der Zeit auf und weckt angstvolle oder hoffende Erwartung des Kommenden, ob unsere Absichten und Ziele gelingen mögen. In dieser Hinsicht ist jede Sorge um Dinge und Umstände grundsätzlich Selbstsorge, deren zentraler Bezugspol das Ich als Ego ist. Denn in diesem Ego laufen alle Intentionen und Akte wie in einem Ausgangspunkt zusammen. Selbstvergessen des Lebens als Abwesenheit von Sorge besagt daher nicht irgendeine Unbekümmertheit, die heute oft gepriesene Sponta­ neität oder Flexibilität, sondern eben jene Gutheit des lebendigen Selbstseins zu jedem Augenblick. Denn gleich wie es um die persön­ lich charakterlichen Eigenschaften steht, im reinen Lebensaugenblick tut sich keine Erwartung von etwas anderem als dem Leben auf. Im »Mich« der Lebensgeburt verschränken sich daher Gutsein und Selbstvergessen des Lebens miteinander, denn das reine Mich als Passibilität des absoluten Lebensempfangs ruht völlig in dieser Selbstvergessenheit des Lebens. Und weil das Leben in seinem Grund das Vergessen seiner selbst ist, sich niemals selbst zum distanzierten Thema macht, wird es vom Ego vergessen, welches sich dann in seinen Absichten für die Quelle aller Akte hält. Das Vergessen des ursprünglichen Mich anstelle des ichbewussten Ego ist also nur mög­ lich, weil dieses Vergessen im Vergessen des Lebens selbst wurzelt. Mit anderen Worten in seiner Unsichtbarkeit, sich als die absolute

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5. Das Gutsein des Lebens

Lebensgabe nirgendwo in der Welt als Gegenstand zum Vorschein bringen zu können. Die Unsichtbarkeit des reinen Lebens ist daher kein Mangel, sondern die Positivität des Lebens schlechthin. Nur so vermag seine Gegenwart gegeben zu sein, die sich nie aufdrängt, und gerade darin alles für uns existieren lässt, ohne ihm gegenüber gleichgültig zu sein. Die Klage, »vom Leben vergessen zu sein«, ist folglich umzukehren: Wir haben das Leben vergessen, welches sich gibt, ohne irgendetwas dafür einzufordern. »Vom Leben vergessen zu sein«, ist möglicherweise die beste Gelegenheit, unser Vergessen seines Vergessens nicht erneut zu vergessen, das heißt, zum Leben zurückzufinden, welches uns zu keinem Augenblick verlassen hat. Mündet so alles Sprechen von Vergessen- und Verlassensein in eine »Abwesenheit« ein, die erst die volle Anwesenheit ist, dann können wir hier dank der Besinnung hinsichtlich aller Sorgen und Absichten auf eine Fülle zu sprechen kommen, die von keinem äuße­ ren Vergessen mehr abhängig ist. Mit jedem Empfinden bekundet sich nämlich zugleich die immer konkrete Möglichkeit eines Tuns, welches auf dem Selbstvergessen des Lebens beruht. Denn das Empfinden kann ich nicht wollen; es ist immer selbstgegeben, und mit ihm die sich abzeichnenden Motivationen, die sich von der inneren Passibilität her als Trieb aufbauen, um im Handeln gebündelt zu werden. Beim Gutsein als Selbstvergessen des Lebens handelt es sich daher um kein theoretisches Gutsein, sondern um eine letzte praktische Qualität, die überhaupt erst zu handeln ermöglicht, noch besser gesagt: das Handeln selbst in sich birgt. Deshalb kann auch unser Vergessen des Lebens nur in der Praxis aufgehoben werden, da es sich hier selbst »in Erinnerung ruft«, sofern wir handeln müssen, um zu leben. Die Alltäglichkeit dieser Praxis wird von den Möglichkeiten des Empfindens selbst gebildet, welche das Handeln vorzeichnen. Und deshalb liegt im Übergang von dem einen Empfinden zum anderen auch die Chance, dass ich des Lebens »eingedenk« werde, wenn der reine Affekt hierbei zu mir spricht und mich nicht loszulassen scheint. Machen Passibilität, Selbstvergessen und Gutsein den Grund des Lebens aus, und zwar einschließlich seines Glücks und seiner Freude, dann kann zudem verstanden werden, dass ich in jeder »Schwäche« diesen Grund umso mehr berühre. Auf dem Höhepunkt der Verzweif­ lung, der Angst, der Schuld, tauche ich nämlich durch dieselben in den Grund hinab, der sich als unendliches Leben für mich darbietet, das heißt als ein von mir nicht auszuschöpfendes Leben. Denn in seinen konkreten Möglichkeiten ist dieses Leben immer größer als

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5. Das Gutsein des Lebens

die gerade von mir erblickten »Wirklichkeiten«. In der inneren Nacht des Pathos stoße ich, mit anderen Worten, in jenen Ab-grund vor, der mir zum Grund wird. Dies vermag kein Gedanke zu erfassen, sondern liegt ausschließlich im inneren Wesen des Gefühls. Dieses ist allein mit jenem Grund ursprünglich verbunden, weil das Empfinden als Leben nichts anderes als dieser Grund bereits ist – bzw. die innere Selbstbewegung dieses absoluten Grundes, wenn man die Gefühle insgesamt mit all ihren Verwandlungen nimmt. Dieses Absolute des Lebens ist nicht jenseits des Gefühls, nicht davor und nicht danach. Es ist dessen unauslotbare Tiefe, die rein affektive Wahrheit in der vorstellungslosen Nacht unseres empfindenden Fleisches, das frohlockt oder gemartert und bis zum Sterben zermalmt wird, ohne aufzuhören, lebendiges »Fleisch« zu sein.

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6. Leben als Leiblichkeit

Mit Fleisch bezeichnen wir daher unsere subjektive Leiblichkeit, sofern sie reine Affektivität ist. Die abgründige Frage, warum Leben nur in Verbindung mit einem je individuierten Leib auftritt, ist wohl die äußerste und damit schwierigste Frage unserer Besinnung. Deshalb betrifft sie zentral unser Geheimnis als Menschen selbst. Wir können hier für das allgemeine Verständnis voraussetzen, dass die sich selbst empfindende Leiblichkeit nicht der als ein Objekt in der Welt gesehene Körper ist, den wir wie jeden anderen Gegenstand nur von außen wahrnehmen. Es gehört hingegen zum Wesen unserer Leiblichkeit, dass wir sie unmittelbar in uns selbst erfahren, das heißt rein innerlich. In diesem Sinne »haben« wir keinen Leib, sondern sind wir unser Leib. Wir können uns unser Ich deshalb nicht losgelöst von der Weise vorstellen, wie es sich und die Welt empfindet, und diese Weise des Empfindens ist in letzter Hinsicht genau die affektive Leiblichkeit. Wir dürfen daher den Leib nicht ursprünglich als ein nur elementares Sinnvermögen verstehen, welches uns mit der Welt verbunden sein lässt. Diese Leibauffassung ist zweifelsohne schon ein gewaltiger Schritt über die objektivierende Körperauffassung mit ihrem Dualismus von Leib/Seele hinaus. Jedoch wird auch sie dem eigentlichen Wesen der Leiblichkeit als unserem empfindenden »Fleisch« noch nicht gerecht. Wenn diese Zusammenhänge auch komplex sind, so bleibt ein grundlegendes Verständnis allerdings für eine umfassende Lebensmeditation unverzichtbar. Wir können die Realität unseres Leibes als Fleisch auch so aus­ drücken, dass die Affektivität in letzter Instanz die lebendige »Mate­ rie« unserer Leiblichkeit ausmacht. Diese Affektivität als Ur-Leiblich­ keit – oder eben als »Fleisch« – ist prinzipielles Empfindenkönnen. Dieses Können zu empfinden, ist keine leere Möglichkeit, die uns neben anderen Vermögen außerdem zukäme, sondern sie ist unsere ursprünglichste Weise überhaupt, als Lebendige im Leben geboren zu werden. Ist die absolute Geburt im Leben als Selbstaffektion des Lebens in uns jene Materie, welche wir als radikal subjektives Emp­ finden jeweils sind, dann ist diese affektive Materie mit dem Pathos

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des Lebens identisch. Wir hatten Pathos das Grunderleben allen Empfindens als die Oszillation zwischen Freude/Schmerz genannt. Dieses ungeteilte Pathos als urleibliche Materie des Empfindens in dessen innerem Wesen ist genau unser Fleisch. Ist das Affiziertwerden mithin ein absolut lebendiges Empfindenkönnen, dann muss diese Möglichkeit im Leben selbst schon konkret gegeben sein. Man wüsste sonst nicht, woher sie käme, da sie nicht aus der Welt herrühren kann, die niemals empfindet. Diese innere konkrete oder materiale Weise, wie sich das Leben als Empfinden an sich selbst gibt, ist daher unsere Ur-Leiblichkeit als Fleisch. Der Leib ist also niemals etwas, das zum Leben auf irgendwie rätselhafte Weise hinzuträte oder sich ihm als eine träge, tote oder chemisch-physikalische Masse hinzufügte. Vielmehr herrscht zwischen Leben und Leib als Fleisch eine ursprüngliche Einheit. Diese nie abtrennbare Verbindung von Lebendigkeit und Fleisch macht in höchster Weise erst verständlich, warum der Affekt als Pathos des Lebens niemals unbewusst sein kann. Jedes Sprechen von Unbewusstheit ist ein Sprechen aus der Sicht möglicher Vorstell­ barkeit, in deren Bewußtheit alles eintreten soll. Der reine Affekt ist daher genauer gesehen die Unmittelbarkeit unserer leiblichen Fleischlichkeit, die nie irren und – in diesem Sinne – nicht »verdrängt« werden kann, um einen Ausdruck Freuds zu verwenden. Was ich als Affekt empfinde, könnte in dem Augenblick, in dem ich ihn empfinde, nicht anders sein, als wie ich ihn empfinde. In ihm spricht ausschließlich mein affektives Fleisch, ohne lügen zu können. Da das Verständnis vom Leib im somatischen oder existentiellen Sinne aber immer noch eine gewisse Distanzierung beinhaltet, nämlich als eines äußeren Bezugs, ist somit das Sprechen vom »Fleisch« hier die Anerkennung eines absoluten Phänomens: dass wir auf dem Grund unseres Lebens rein empfindende Passibilität sind. Das Fleisch ist die uranfängliche Weise, das Leben überhaupt zu erproben. Es ist – im Doppelsinne dieses Wortes – die Passion des Lebens, seine Liebe und sein Leiden. Die praktischen Konsequenzen hieraus sind gewaltig. Denn es geht dann nicht mehr nur um eine »Befreiung von Gefühlen«, um anderes Wahrnehmen von Körperverhalten oder Körpersprache im letzten, sondern um eine »Selbstannahme«, die mit der Annahme des Lebens eins ist. Das Leben zu leben, es zu bejahen, heißt die Weise seiner unauslöschbaren Konkretisierung in dieser meiner Leiblichkeit als empfindendem Fleisch anzuerkennen, ohne dass ich dazu jemals

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die Initiative ergriffen hätte. Da ich mich als empfindende Subjekti­ vität niemals von diesem abgründigen Empfindenkönnen trennen kann, vermag ich mich auch niemals von meinem Fleisch zu trennen. Zu sagen, es sei Leben, bedeutet daher, das Grundgeheimnis des Menschseins selbst zu leben: ein Wesen zu sein, für welches Hunger, Durst, Anstrengung, Freude, Glückseligkeit und Austausch die vor­ gezeichneten Weisen seines Fleisches selbst sind. Ihnen irgendwie entkommen zu wollen, sind die vielfältigen Formen der Selbstflucht, das heißt, sich nicht mehr fühlen – oder »ganz anders« fühlen – zu wollen. Lügt jedoch das Fleisch im tiefsten Empfinden seines Pathos nie, so lebe ich dadurch gerade in einer unmittelbaren Wahrheit mit rein innerer Gewissheit. Beispielhaft kann kurz angedeutet werden, wie sich das Pathos des Fleisches als ein ursprüngliches Bedürfen und Begehren in den tausendfachen Gefühlen dieser rein affektiven Lebensbekundung zu einer ersten Energie hin bündelt, welche ein Tun ahnungshaft vorzeichnet. So wird in der Angst jeweils ein Trieb der Bewegung geboren, der sich bis zu kreativen Schöpfungen hin entfalten kann, um der gebündelten Energie in der Angst eine Möglichkeit der »Befrei­ ung« zuzuweisen. Diese Vorzeichnung eines Tuns in der Bündelung zu einer Anstrengung hin impliziert die weitere Tatsache, dass jeder Affekt ein Steigerungsvermögen in sich birgt. Ist das Leben nämlich in jeder Hinsicht Selbstaffektion, dann will es sich nicht nur in allen Punkten seiner Bewegung wiederum ganz als das Leben erfahren, sondern es will sich auch stets als Freude seiner selbst und – in diesem Sinne – als Steigerung verspüren. Die Umwandlungen ineinander von Bedürfen, Begehren, Energie, Anstrengung, Handeln sind also als Bewegung des Affekts aus dem Pathos des Lebens heraus auf diese Freude hin angelegt – ein Todestrieb in solchem Leben ist ein Selbstwiderspruch. Jede Selbstzerstörung im Leben kann nicht aus einem in ihm abwesenden Tod erklärt werden, sondern nur durch jene innere Übermächtigkeit, die zu gewaltsam auf dem Leben lastet, so dass es sich scheinbar nicht mehr durch sich selbst zu ertragen und zu verändern vermag. In der religiösen Tradition ist das »Fleisch« oft zugleich der Ort der Verdammnis wie der Erlösung: zum Beispiel Fleisch der Sünde, Fleisch Christi und damit Fleisch der Auferstehung. Wir müssen die christlichen Glaubensinhalte hier nicht als solche über­ nehmen, können aber daran erkennen, welche Radikalität von Leben mit der Wirklichkeit unseres Fleisches letztlich anzudenken bleibt.

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In ihm entscheidet sich alles; es ist das universale Kriterium aller Erscheinungen, weil das Leben in jedem Sinne unlösbar mit solchem Fleisch verknüpft ist. Wir sind noch lange nicht kulturell aus dem grie­ chisch abendländische Erbe herausgetreten, welches den Leib allein der Animalität und die Seele als Kontemplation der Gottheit bzw. der Vernunft zuordnete. Unsere modernen Objektivitätsphantasien und ‑praktiken sind in bestimmter Hinsicht eine Fortsetzung dieser idealistischen Sichtweise. Deshalb werden wir aufgrund dieser Einsei­ tigkeit einer reduzierten Körperwelt (der Menschen, Atome, Steine wie Sterne) heute in aller Heftigkeit mit diesem Fleisch konfroniert, wie beispielsweise in der Arbeitslosigkeit oder durch die Gewalt der Kriege. Wir werden mit dem Unsagbaren des affektiven Pathos des Leibes als einer Sprache konfrontiert, die nicht zu »entziffern« ist, sondern als reine Passibilität von etwas anderem kündet als nur von Verstehen und Beherrschen. Vielleicht sind Therapie und teilweise auch die Medizin noch letzte kulturelle Zufluchtsstätten dieses Fleisches, für sich selbst in seinem Leiden anerkannt zu werden. Denn Kunst wie Religion sind schon weitgehend im unmittelbar gesellschaftlichen Bewusstsein ausgeschieden worden, um dieses fleischliche Pathos angemessen darin aussagen zu können, wie es in bisherigen Kulturepochen weitgehend der Fall war. Wir mussten dies andeuten, um weiterführende Konsequenzen zu beleuchten. In der Tat können wir nicht nur sagen, dass wir in der Tiefe unseres Pathos den Grund des Lebens in seiner Absolutheit berühren. Wir können darüber hinaus sogar sagen, wenn wir es nicht mystifizieren, dass unser Fleisch in seiner rein affektiven Nacht ohne Vorstellung dieses Absolute selbst ist. Und die Folge hiervon ist gerade, dass wir uns selber niemals sehen, kein Bild jemals von uns besitzen werden, denn dieses Fleisch in der Abgründigkeit seines Empfindenkönnens ist ein unsichtbares Fleisch. Diese Unsichtbarkeit als originäre »Nacht« in allem Erscheinen ist kein Mangel, wie wir durch unsere gesamte Meditation hindurch betonen, etwa wegen der Perspektivenhaftigkeit oder Unaufmerksamkeit unseres Sehens. Vielmehr ist diese Unsichtbarkeit das Wesen unseres Fleisches selbst. Es kann nicht in die Welt eintreten, weil die Dinge der Welt niemals empfinden, von sich her kein Fleisch besitzen. Nur das Leben als Fleisch empfindet und bleibt daher für immer den Augen der Welt verborgen, die nur Gegen-stände kennen. Die tiefsten Leiden rühren deshalb daher, das Fleisch als Selbstempfinden des subjektiven Leibes

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mit Zwang sichtbar machen zu wollen, und dies nicht zu können, weil die Sichtbarkeit nicht zu seinem inneren Wesen gehört. Dieser Zwang kann sehr vielfältig sein: totale Lebensverplanung, Auslieferung an Fremdautoritäten, Sucht, Verwissenschaftlichung, mediale Verbildlichung, Glaubensersatz usw. Der Dichter Arthur Rimbaud, dem Rauschgift hingegeben, schrieb: »Die Leiber werden gerichtet werden«, und Friedrich Nietzsche: »Der Leib ist das Grab der Götter.« Man kann beide Sätze so auslegen, dass sich mit unserer Fleischlichkeit unser Geschick selbst entscheidet. Insofern ist das Denken vom Leibsein, sei es bewusst oder unbewusst, immer der eigentliche Prüfstein jeder Theorie. Denn vor der rein empfindenden Nacht des Fleisches als Pathos des Gefühls endet jede Theorie. Gerecht wird diesem Urphänomen des sinnenhaften Fleisches, seiner reinen Seligkeit und Passibilität, nur die entsprechende Wesenhaftigkeit des Lebens. Denn auch das Leben erlaubt keine Schau in sich hinein, sondern es kann nur praktisch erprobt werden, wie wir jetzt wissen. Dieser prinzipiellen Abgründigkeit nicht auszuweichen, besser noch gesagt: von dort her jeden leiblichen Augenblick zu leben, ist die hier versuchte Grundbesinnung. Sie berührt naturgemäß die Fundamente jedes Phänomens, indem sie mit dem Wortlosen in Leiden, Gestik und zwischenmenschlicher Kommunikation sehr schnell konfrontiert wird. Insofern überspitzen wir nicht, wenn wir sagen, dass das Geheimnis des Fleisches gerade die Kunst jeder Lebensführung her­ ausfordert.

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Aufgrund von Begegnungen, aus philosophischen wie religiösen Gründen können wir auch der Frage nicht ausweichen, ob das Leben, welches wir hier meditieren, nicht unendlich, vielleicht sogar göttlich sei. Aber aufgrund der Einklammerung jeder theoretischen Idee ist auch die Gottesidee nicht von vornherein für uns gegeben oder verneint. Unsere Besinnung folgt allein den inneren Notwendigkei­ ten des Lebens, welches zunächst nur die anfängliche Passibilität unseres jeweiligen Lebensempfangs beinhaltet. Und hierbei stießen wir schon auf ein Paradox, dass nämlich das Leben einerseits nicht von uns gesetzt wird und andererseits unsere Geburt im Leben dieselbe Affektion ist, mit der sich das absolute, ewige oder unendliche Leben selbstaffiziert. Meister Eckhart sagte in seinen berühmten Predigten, dass wir, sofern wir in Gott als dem Leben geboren sind, eigentlich ungeboren seien, denn Gott »gebiert sich als mich und mich als sich« (Pre­ digt 6). Solche Sätze kann man nicht einfach als »mystisch« für die Beschreibung des Lebensphänomens abweisen oder unbedacht mit unmittelbarem Enthusiasmus aufgreifen. Es gibt jedoch schlicht Erfahrungen auch von anderen Menschen, die in solchen oder ähn­ lichen Wendungen ausgedrückt wurden. Will man sie angemessen verstehen, so bedeutet dies, dass sich das Leben in ihnen als etwas »Absolutes« offenbart hat. Sie benötigen dann nichts anderes mehr als Referenz, um zu leben. Wir sind ebenfalls so weit auf den vorherigen Seiten vorgedrungen, dass unser Leib als der Ort und als die Weise erschien, wie sich uns das Leben in seiner Absolutheit als unser Fleisch offenbart. Das heißt, zwischen der Selbstoffenbarung des Lebens und uns gibt es keinerlei Fremdheit, keine Distanz – und in diesem Sinne kein glaubensmäßig aufzufassendes Geheimnis. Die Selbstaffektion des absoluten Lebens als die Selbstaffektion meines Ich/Mich im Leben ist in ihrer Identität die Offenbarung des Lebens in seiner Absolutheit. Als stets Lebendige hören wir in der unmittelbaren Gewissheit jedes Lebensvollzugs die Stimme des Lebens in uns. Denn wir können lange fragen und nachforschen, wer

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7. Endliches und unendliches Leben

oder was in uns eigentlich spricht: die Intuition, das Gewissen, das Überich oder Gott? All diese Deutungen sind schon überbestimmt angesichts der Tatsache, dass ich das Geräusch meiner Geburt im Leben unablässig in mir vernehmen kann, wie Michel Henry sagt. An dieses Offenbarungsgrundwort reicht kein Name und kein Begriff irgendeiner Sprache heran, vielleicht noch am ehesten das dichteri­ sche oder religiöse Sprechen in einem gewissen Sinne. Denn die eigentliche »Sprache« der Lebensoffenbarung ist, wie wir zuletzt gesehen haben, unser Fleisch selbst, sein Affekt als Pathos, worin sich unser Empfinden unabweisbar sagt. Seine Passibilität können wir zunächst als die Grenze unserer Endlichkeit im herkömmlichen Sinne betrachten, wonach wir von einer äußeren »Ursache« oder »Transzendenz« abhängen. Aber diese Betrachtungsweise ist eben solange willkürlich, wie wir nicht gleichzeitig erkennen, dass solche Passibilität des Empfindenkönnens unsere Ausstattung mit allen Vermögen beinhaltet, die das Leben überhaupt kennzeichnen. Kann sich das Leben in seinem Sichgeben niemals verweigern, so heißt dies nichts anderes, als dass es sich ganz geben muss, denn sonst wäre es nicht mehr dasselbe Leben. Diese Unmöglichkeit jeder anderen Möglichkeit ist nicht der Mangel einer Freiheit, sondern eine Übermächtigkeit, die in sich nicht erst mehr abwägen muss, was zu ihrem reinen Vollzug gehört. Und die Offenbarung des Lebens als eines absoluten und unendlichen Sichgebens besagt, dass wir solches Leben nicht in ein Jenseits zu verlegen haben, wo das Leben ein anderes wäre als das, was es jetzt ist. Vielmehr besagt diese unmittel­ bare Offenbarung, dass dieses Leben jetzt ganz das Leben ist – und in sich keine Begrenzung kennt. Wenn die Religion, wie etwa das Johannesevangelium als Grundtext des Christentums, diese Wahrheit ausgesprochen hat, nämlich im Sinne von »Wer glaubt, hat ewiges Leben« (Joh 6,34), dann drückt dieser Satz neben seiner gläubigen Überlieferung einen grundsätzlichen Sachverhalt aus, der als solcher bedacht werden muss, weil er einer absoluten Tatsächlichkeit des Lebens entspricht. Kein Individuum mehr von einer Grenze her zu sehen, sondern allein aus der Offenbarung des Lebens heraus, die es ist, bedeutet mithin unter anderem, dass sein Leben nicht nur gut ist, so wie dieses in seinem innersten Wesen gut ist, sondern dass es sich in diesem Offenbaren ganz offenbart. Es fehlt dem Leben nichts, um sich in jeder Situation als das volle Leben zu offenbaren, und deshalb hat jeder – kraft solch unmittelbar innerer Offenbarung – an der Wahrheit

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des Lebens selbst teil, das heißt an dessen Selbstaffektion als Pathos. Nehmen wir das zuvor Gesagte hinzu, so müssen wir jede Abstraktion solcher Offenbarung zurückweisen, etwa als das Denken von Sätzen oder als der Glaube von Inhalten. Die Offenbarung geschieht allein in der Praxis des Alltags, im Pathos des Fleisches, in der leiblichen Wahrheit jedes Augenblicks mit seinen unabweisbaren Eindrücken. Insofern ich diese Gabe des Lebens niemals verleugnen kann, weil sie die einzige unmögliche Leugnung oder Verdrängung ist, bildet diese Wahrheit der Offenbarung in meinem Fleisch eine ständige »Wahr­ heit«, die immer ein Vernehmen der Freude oder des Schmerzes ist. Sieht sich das Ich als »Mich«, ist es in jener Wahrheit, wo Leben und Fleisch sich ineinander und miteinander als das Absolute offenbaren: »Und das Wort ist Fleisch geworden«, wie nochmals dasselbe Johannesevangelium 1,14 sagt. Mit »Wort« ist hier das unbeschränkte Leben als Schöpfungsgrund gemeint, aus dem alles als uranfängliche Kraft hervorgeht. Und in diesem Sinne vollzieht sich auch in der Tiefe der subjektiven Praxis als innerer Kraft des Handelns eine Offenbarung des Könnens an sich selbst. Sie hat immer schon stattgefunden, bevor irgendeine Handlung im Äußeren für die eigene oder fremde Wahrnehmung sichtbar wird. Insofern lässt sich auch kürzer sagen, dass das Tun im Fleisch und aus dem Fleisch des lebendigen Leibes heraus die untrügliche Offenbarung des Lebens selbst ist. Im Tun entscheidet sich, was ich vermag und nicht vermag – bis hinein in die Schuld, wo ich tue, was ich nicht will, und dennoch in diesem Tun von einem Wollen des Lebens weiterhin getragen bin. Eine radikale Besinnung des Lebens muss bis in diese Selbstoffenbarung hinabreichen. Nichts darf ihr vom Leben fremd sein, abwegig erscheinen, was nicht heißt, alles zu entschuldigen. Denn auch die Frage des existentiellen Sinnes oder der verantwortlichen Weltgestaltung ist eine Weise des Lebens, sich zu manifestieren. Damit ist solche Besinnung nicht unbefragt Religion, was noch­ mals unterstrichen werden kann. Denn das religiöse Sprechen besitzt seine eigene, rein affektiv gelebte Gewissheit wie Lob und Bekenntnis oder auch Buße und Klage. Die Religion ist allerdings grundsätzlich die Weise, wie rein aus der Passibilität der Selbstmitteilung Gottes als Leben heraus gelebt werden kann, ohne irgendwelche Vorleistungen erbringen zu müssen. In dieser Hinsicht ist vorliegende Besinnung jene Einsicht, wie sich jedes Leben in der Unmittelbarkeit seiner »Äuße­ rung« sagen kann, ohne auf ein grundsätzliches Unverständnis zu

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stoßen, was die religiöse Erfahrung einschließt. Die weitere Frage, ob solche Besinnung in sich selbst eine Weise des »Heils« sei, besagt für den Augenblick nur, dass das Leben als reines Sichoffenbaren – einschließlich des Mitpathos der Gemeinschaftlichkeit – eben auch ein reines Hören auf dieses Sichoffenbaren beinhaltet. Akzeptiert man aufgrund einer solch theoriefreien Besinnung die Offenbarung eines unendlichen oder absoluten Lebens im Fleisch der Affektion, dann muss es folglich auch ein entsprechend vorurteilsloses Hören geben, denn Sprechen und Hören gehören immer zusammen, wie schon Pierre Maine de Biran sagte. Lebensoffenbarung heißt deshalb in die­ sem Zusammenhang, sich selbst dem Lebensgrund ganz auszusetzen, und zwar so, dass diese Wahrheit durch keine andere »Wahrheit« mehr vertreten werden muss. Somit benötigt sie letztlich kein Bild mehr, um die reine Unmittelbarkeit des Lebens als Affektion, Gefühl oder Eindruck zu sein. Werden daher die Affekte frei von Vorstellungen gesehen, dann kann man hierin eine Stimme der genannten »Offenbarung« erken­ nen. Berühren wir in unserer Besinnung mit dem Begriff der Selbstof­ fenbarung des Lebens eben noch andere Bereiche, wie gerade den der Religion und der Ethik, dann ist der Grund dafür die Abgrün­ digkeit der menschlichen Sinnlichkeit oder Affektivität selbst. Denn diese bildet den Ursprung allen Erscheinens, welcher durch kein objektives Element angemessen beschrieben oder in einem System wirklich dargestellt werden kann. Für unsere Besinnung gibt es daher keine theoretische Grenze, vor der sie einzuhalten hätte, denn eine Theorie kann und muss einen bestimmten Disziplinbereich immer durch solche Grenzziehung definieren. Unsere Meditation hält sich ausschließlich ans unmittelbar lebendige Erproben, und dieses ist in seiner Offenbarungsmächtigkeit grenzenlos, sofern als »Lebens­ phänomen« nichts davon ausgeschlossen ist – kein Leben, das sich prinzipiell empfindet, und erschiene es nach außen hin verrückt. Jedes gegenständlich ausgerichtete Denken vermag dem Ich/Mich kei­ nerlei lebendigen Ursprungsort zuzuweisen. Solche Abgründigkeit des Lebens, so ließe sich hier zusammenfassen, ist seine alltägliche Wirklichkeit. Wir haben deshalb mit dem Begriff der Offenbarung eine Wesensstruktur des Lebens bezeichnet und würden missver­ standen, wenn hier bestimmte Denkinhalte Eingang finden sollten. Diese offenbarende Struktur kann man die Urgestalt des Lebendigen nennen, an der jede besondere Lebensform Anteil hat. Wie weit ich sie daraufhin in der Existenz verstehe, sagt mir das Leben dann selber.

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II. Lebensweisen

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8. Mitpathos und Begegnung

Wir haben bedacht, dass es eine Ur-Gemeinschaftlichkeit gibt, die allem Wahrnehmen des Anderen vorausliegt. Dieser Ort des Mitpa­ thos ist meine Geburt im Leben als Eingetauchtsein in das absolute Leben. Als einzelner Zugang zu meinem Leben ist dieses selbstaffek­ tive Eingetauchtsein nicht der Zugang zum Leben für alle Individuen, welcher als Zugänglichkeit schlechthin nur das Leben in seiner abso­ luten Affektion selbst sein kann. Allerdings ist mein Zugang zum Leben, obwohl rein individuell bestimmt, nicht anders als der Zugang Anderer zum Leben. Die Vielzahl der Zugänge zum Leben in ihrer Selbstgegebenheit für alle heißt daher, dass ich den Zugang nicht von mir her setze. Und weil diese Zugänglichkeit für einen jeden reine Passibiliät ist, bedeutet jene Weise, die Selbstheit des Lebens je in solcher Form auszuschöpfen, nicht nur ein unendliches Leben diesseits aller Zeit. Vielmehr handelt es sich auch um ein unendliches Leben im Sinne unendlich vieler Individualitäten. So wie jedes Gefühl eine einzigartige Bestimmung meines absoluten Lebens ist, ebenso bedeutet auch jedes vergangene, gegenwärtige und noch kommende Individuum eine Selbstkonkretiserung des absoluten Lebens, welches sich nur auf diese Weise realisiert. Deshalb ist jedes einzelne Leben unbedingt anzunehmen, ohne andere Gründe vorweisen zu müssen als seine Geburt im Leben. Die ethisch-gentechnologischen Probleme werden diese Frage in Zukunft zuspitzen und vielleicht in ihrer vollen Berechtigung erkennen lassen, denn geklonte Gleichheit ist noch nicht ursprüngliche Lebensidentität. Da die genannte Ur-Gemeinschaftlichkeit mithin ein gemeinsam konkretes Wesen besitzt, nämlich das Pathos des Lebens, kann eine Begegnung nur als Mitpathos letztlich möglich sein, so wie eine solche Gemeinschaftlichkeit schon immer am Ort meiner Geburt als prinzipiellem Zugang zum Leben stattgefunden hat. An diesem Ort bewegt sich ausschließlich jeder Austausch untereinander, sofern jeder die eigene und »andere« Lebensselbstbewegung von dieser abgründigen Passibilität des Lebens her als Mitpathos vernimmt. Gelangen diese beiden Lebensbewegungen zum wahrnehmbaren

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8. Mitpathos und Begegnung

Austausch, dann gilt für diese Begegnung tiefer jedoch nur der dabei stattfindende affektive Austausch, welcher der rein inneren Gesetzlichkeit der Lebensveränderungen als Pathos in Freude und Schmerz folgt. Es findet dabei keinerlei Beurteilung und Orientierung im Sinne einer äußeren Normierung statt, um allein die immanent sich unablässig vollziehende Lebensgeburt rein von sich her zu einer »bewussten Geburt« werden zu lassen. Bewusst heißt hierbei nicht, sich sein Leben in irgendeinem Ablauf vorzustellen (obwohl dies existentiell nicht fehlen muss), sondern die ebenso umfassende wie ursprüngliche Verankerung jedes »Bewusstseins« in der Passibilität des Lebensempfangs zu realisieren. Aus ihm brechen dann ohne unser Zutun die Motivationen des Empfindens und Handelns hervor – so, wenn wir etwa sagen, dass das Schweigen zu uns spreche. Die »zweite Geburt« erweist sich dann als ein Hervorbrechen der je eigenen Subjektivität in ihrem Erproben und Verspüren, dem keinerlei Mißtrauen oder Ungewissheit mehr entgegengebracht wird. Es ist der Moment des originären »Ich kann«, weil in diesem inneren Vollzug das absolute Gegebensein des Soseins der Gefühle unmittel­ bar vernommen wird. Somit gibt es auch keine »negativen Gefühle« aufgrund irgendeiner theoretischen Klassifizierung derselben, die immer wieder versucht wurde. Jedes Gefühl beinhaltet zunächst ein Selbstgefühl, welches in sich seine volle Berechtigung hat. Und da es keine Heilung durch irgendwelche Erkennntis im Sinne einer »Bewusstwerdung« gibt, ist auch kein Selbsterkennen im psycho­ logischen Sinne angestrebt. Vielmehr handelt es sich darum, die Aufhebung der Illusion in Bezug auf jedes gedachte Selbst im Bereich der Vorstellung zu verwirklichen. Andere Menschen sagen an dieser Stelle oft: »Ich verspüre eine Kraft in mir. In mir sprudelt eine Quelle, die aus mir selbst kommt. Es gibt etwas wie einen Ursprung. Ich brau­ che in keiner Situation eine Rechtfertigung durch andere mehr ...« Diese Intuitionen sollten daher nicht zu vorschnell wieder durch Bilder oder objektive Sinnangebote verdeckt werden. Dass jeder Augenblick nur von dieser Gewissheit her gelebt wird, und zwar in einer Spannung, die bis hin zu Tränen wie Lachen gehen kann, deutet »Befreiung« an. Ob dies im Gesamtverlauf über längere Zeit im einzelnen schweigend, bei der Arbeit oder sonst wie ausgelöst wird, lässt sich nicht vorentscheiden. Ist prinzipiell jede sprachliche oder praktische Äußerung ein Vollzug im Lebenswissen, das heißt ein Tun des Lebens selber, dann kann jedes Element daraus auch zur Offenbarung dieses Lebens werden, anstatt auf bestimmte Anzeichen

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8. Mitpathos und Begegnung

warten zu müssen. Und da diese Offenbarung des Lebens nicht methodisch eingeübt werden kann, ist sie stets gegeben, indem sie geschieht. Löst man sich von einem vorgestellten Vollzug im Außen dabei, taucht man in dessen innere verlebendigende Kraft ein, bewegt man sich rein im Leben. Dazu können andere Menschen ermuntern, indem bei ihnen sichtbar wird, dass sie selbst auf äußere Sicherheiten verzichten, um allein in der Gewissheit des Lebens zu existieren, des­ sen einzige Stetigkeit der ununterbrochene Wandel des Affektiven ist. Das Vorübergehendste ist folglich gerade das Stärkste, das Flüchtigste das Tragende, denn wie gezeigt wurde, ist es das Einzige, was zu keinem Augenblick fehlt. Und mehr als diesen Augenblick besitzt, ursprünglich gesehen, niemand von uns im Austausch. Alles, was darüber hinausgeht, ist daher schon sekundär dem ursprünglichen Leben gegenüber. Imaginieren wir beispielsweise ein gerade geborenes Kind, so können wir sagen, dass es noch keinen Welthorizont ausgebildet hat. Das heißt, es besitzt noch keinen inneren Rahmen, um seine Erfahrungen überhaupt einzuordnen. Es »hat« an diesem Punkt im eigentlichen Sinne noch nicht einmal Erfahrung, sondern es ist reines Erfahrenkönnen als Affektion innerhalb des Sichempfindens des Lebenspathos. Es spürt Wärme, hört Laute, bemerkt rein sinn­ liche Zuwendungen der unterschiedlichsten Art, ohne für all dies überhaupt Wörter und Begriffe zu besitzen – und dennoch lebt es im Vollsinn des Wortes. Analog dazu zeigt sich die Situation eines jeden von uns im Pathos der reinen Ur-Kommunikation, aus der sich ebenfalls dann die Welt – innerhalb solchen Lebens – mit ihren Erscheinensgesetzen aufbaut. Für den Gang unserer Meditation betrachten wir hier noch nicht diese Welterrichtung, sondern nur den Austausch im Mitpathos auf seiner ursprünglichsten Stufe, ohne die Welt damit ausgeschaltet zu haben, wie wir von Anfang an betonten. Wir werden im nächsten Kapitel darauf zurückkommen. Dieses Eingetauchtsein in das reine Mitpathos könnte die Frage aufkommen lassen, ob unsere Besinnung nicht jeglicher ethischen Stellungnahme entbehrt. Übersetzt man Ethos mit »Aufenthalt«, wie es etwa der Philosoph Martin Heidegger mit guten Gründen tut, dann lässt sich bei solcher Übersetzung verstehen, dass nur eine Stätte des »Aufenthalts« letztlich in Frage kommt – nämlich die orginäre Stätte des Lebens als absolute Geburt unserer selbst. Darin einbeschlossen ist, dass sich das Leben in dieser Geburt unverbrüchlich an sich selbst als an das jeweilig geborene Ich bindet. Diese Bindung in

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ihrem reinen Selbstbezug ist stärker nicht denkbar, da dieses Leben sich niemals mehr davon distanzieren kann. In diesem Sinne liegt daher mit der Selbstbindung des Lebens an sich selber das stärkste Ethos vor, welches jeder normativen Ethik oder Moral mit entspre­ chenden Wertungen vorausgeht und diese erst begründet. Da das Mitpathos gleichursprünglich wie die absolute Subjektivität der ein­ zelnen Lebensgeburten ist, dürfte des weiteren auch einleuchten, dass in diesem Mitpathos keine Handlung möglich ist, die dem Anderen das abspricht, was ich selbst bin: nämlich eine absolute Individualität, über die ich keine irgendwie vernichtende Verfügungsgewalt besitze. Folglich sind Raub, Vergewaltigung, Mord sowie Gewalt jeglicher Art prinzipiell durch die Tatsache unserer Geburt im Leben selbst ethisch ausgeschaltet. Dass es diese Gewalt natürlich gibt und wir mit solchen Fragen alltäglich konfrontiert werden, führt auf die Betrachtung zurück, dass es eine Selbstzerstörung des Lebens gibt. Auch sie muss, wie jeder Leser jetzt nachvollziehen kann, allein aus der Lebensaffektion selbst heraus einsichtig gemacht werden. Das Leben kann in der Tat aufgrund der absoluten Selbstbindung an sich selber so schwer auf sich lasten, dass es unter sich selbst wie erdrückt erscheint. Dadurch entstehen Enttäu­ schung, Ärger, Langeweile, Ressentiment oder Gewalt, die dann zur »Krankheit des Lebens« werden, wie Nietzsche gesehen hat, und zwar weil das Leben sich nicht mehr selbststeigernd verwirklichen kann. Wird dieser Weg nicht schöpferisch oder kulturell als Verfeinerung des Gefühls, der Bewegung, des Wissens usw. mit der entsprechenden Anstrengung beschritten, die an sich aus dem Begehren als Bedürfen erfolgt, dann ergeben sich Gewalttätigkeit oder Selbstflucht als eine »Lösung«, welche sich unmittelbar im Inneren aufdrängt. Hier wäre eine weitere Besinnung notwendig, um zu zeigen, wie sich Leben indi­ viduell zu gesellschaftlichem Leben entfaltet, das heißt zu einer Weise der Gemeinschaftlichkeit, in der bestimmte Lebensformen grundsätz­ lich geachtet werden – etwa die Bildung von Paaren und Gruppen oder die Arbeitsorganisation als Produktion und Konsumtion. Diese sind kulturell vorgeformt, weil sie dem Wesen des Lebens als seiner Selbsterprobung auch in geschichtlicher Hinsicht selbst entsprechen. Fehlen sie als selbstgewisse Wege der Lebensvorzeichnung, dann können eigene neue Wege nicht immer so schnell gefunden werden, und dieser Mangel schlägt in Formen ethischer oder zivilisatorischer Rohheit um.

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8. Mitpathos und Begegnung

Man könnte diese Zusammenhänge unter dem Begriff des Heils weiter bedenken, um einen Bezug zwischen einem existierenden Lebenswissen und kulturell gesellschaftlichen Lebensformen zu ent­ decken. Wichtig ist jedoch nur, auch hier zu erkennen, dass eben­ falls in diesem Bereich von Ethos und Gesellschaftlichkeit letztlich keine abstrakte Allgemeinheit verbindlich ist, sondern die subjektiven Leistungen der Individuen allein, welche sich in ihren Synthesen miteinander verflechten. Insofern jeder Austausch in seinem Selbst­ verständnis ein originäres Bündnis mit dem Leben in seinem jeweili­ gen Pathos von Freude und Schmerz ist, können allgemeine Betrach­ tungen und Verfügungen hier nicht den Ort dieses Ursprünglichen einnehmen. Wenn eine Sache offensichtlich ethisch in sich verwerflich ist, weil sie im letzten das Leben aller untereinander verhindert, so bedeutet dies jedoch noch keinerlei definitives Werturteil über den entsprechenden Menschen. Er bleibt – wie jeder andere – im Vollsinn des Wortes der inneren Realität seines Pathos ausgesetzt und muss von daher verstanden werden, was sicher keine leichte Aufgabe bei Schwerstdelikten bildet. Aber gibt es für die Abgründigkeit des Pathos kein Maß, wie Kierkegaard sagt, dann hat sich jeder Austausch an dieser Abgründigkeit zu bewähren. Denn nur so vermag er die Sprache und die Zugänglichkeit des Lebens selbst zu sein. Hier findet somit Begegnung mit all ihren Stufungen statt, insofern sie den Platz für das rein innere Wesen des Lebens offenlassen.

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9. Welt und Leben

Wenn wir allein Lebendige im Leben sind, dann heißt dies nicht, die Welt wäre eine Irrealität. Nur ist sie nicht der letzte Grund des Erscheinens, sofern dieser in der reinen Subjektivität der sinnlichen Eindrücke ruht. Die Inhalte der Dinge und Situationen, welche wir wahrnehmen, werden durch diese Eindrücke hervorgebracht, wäh­ rend die Welt der zeitliche Raum ihrer projizierten Vorstellungen nach außen ist. Dabei ruht die Welt selbst letztlich als Ur-Bild dieses Vorstellungsraumes in unserer ursprünglichen Einbildungskraft. Ein Schmerz hingegen ist unmittelbar immer rein affektiv Schmerz in sich, bevor er im Körper lokalisiert bzw. ursächlich auf einen äußeren Anlass in der Welt zurückgeführt wird. In dieser Hinsicht sagten wir schon, dass wir durch unsere Sinnlichkeit der Welt ihr »Fleisch« verleihen, welches unser eigenes ist. Wir lesen oder interpretieren in der Welt, was zunächst impressional in uns selbst gegeben ist. Darauf beruht alles, was dem einzelnen Leben zu seiner Verwirklichung je wertvoll und nützlich dünkt. Auf der Ebene des reinen Eindrucks als Schmerz, Freude, Begeh­ ren und Anstrengung werden wir nicht in der Welt geboren, sondern das Leben geht dieser sichtbaren Geburt voraus und ist unsere eigent­ liche Urgeburt. Dass alltäglich zumeist die Erfüllung durch den Welt­ charakter im Vordergrund steht, um zu neuen Existenzperspektiven durch Wahrnehmungswandel zu gelangen, beruht auf der scheinba­ ren Vorrangigkeit der Vorstellung. Nur wissen wir durch unsere Besinnung schon, dass die Erfüllungen durch »Welt« nie zu einem Abschluss zu bringen sind. Wenn wir daher zunächst den Akzent auf die absolute Geburt im Leben legen mussten, dann deshalb, um der Illusion einer Erfüllung durch die Welt zu entgehen, ohne daraus eine Verneinung der Welt und der persönlichen Gestaltungsmöglichkeiten abzuleiten. Wir haben unmissverständlich auf die Praxis hingewiesen, auf das reine Tun, welches verständlich macht, dass die Welt mit ihren Inhalten in diesem Tun selbst ruht. Auf diese Weise ist der Welt erst ihre Wirklichkeit tatsächlich garantiert, was das Gegenteil ihrer Verneinung darstellt. Hält unsere Meditation klarsichtig die Extreme

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9. Welt und Leben

unseres abkünftigen Lebens zusammen, nämlich dessen Ohnmacht und Freiheit, so sind auch hier Welt und Leben in einer Einheit gegründet, anstatt letztlich auf unverständliche Weise nebeneinander zu existieren. Und gerade diese tiefere, lebendige Einheit steht bei vielen Menschen heute auf dem Spiel, wie man leicht erkennen wird. Nur sollte man sich aus Gründen der Klarsicht den letzten Nicht­ erfüllungscharakter der Welt in aller Deutlichkeit vor Augen stellen, um die Wahrheit und damit Wirklichkeit der menschlichen Situation nicht zu vergessen. Wenn die Dinge der Welt nur in einem Raum und in einer Zeit des Neben- und Nacheinander auftauchen und wieder verschwinden, dann ist die Welt der Ort der Indifferenz schlechthin. Im Raum und in der Zeit der Welt kann nämlich alles erscheinen, ohne untereinander irgendeinen Bezug zu besitzen. Der Stuhl steht neben dem Tisch, der Stein liegt am Weg, das Flugzeug fliegt über den Wolken, ohne dass sie sich einander »berührten«. Sie sind sich einander so fremd wie für uns das Schweigen der unendlichen Räume des Alls, die einen Blaise Pascal erschaudern ließen. Tritt ein Mensch sichtbar neben Tisch, Stuhl, Stein, Flugzeug usw., so tritt auch er – ausschließlich aus der Perspektive der Weltkörper betrachtet – neben die Dinge, ohne eine innere, lebendige Beziehung zu ihnen zu haben. Es sind gewiss Dinge seiner ihm zumeist vertrauten Umwelt, die er gebraucht und denen er dadurch Bedeutung und Sinnhaftigkeit verleiht. Aber im Innersten bleiben ihm die Dinge von ihnen selbst her gleichgültig, da sie im Grunde keinerlei Leben besitzen und bis in die Atome hinein teilbar sind, wie wir schon sagten. Neben dieser unendlichen Teilbarkeit, wonach sie in die Stummheit einer für uns kaum mehr denkbaren »Natur« zurückfallen, ist das Auftreten der Dinge in Raum und Zeit mit einem unmittelbaren Verschwinden für das Bewusstsein verbunden, sobald der wahrnehmende oder erinnernde Blick nicht mehr auf sie fällt. Aus der aktuellen Gegenwart sinken sie in die Gedächtnislatenz zurück, wo sie in ihrem Vergessen keinerlei unmittelbare Realität mehr besitzen. Im Unterschied zu dieser Indifferenz der Nichtverbundenheit untereinander sowie des Auftauchens und Verschwindens ist das Leben die absolute Selbstbindung an alles Lebendige, das in ihm zum Leben kommt. Wir werden in dieser Selbstaffektion geboren und ver­ bleiben darin, ohne dass wir dem Leben jemals fremd werden könnten. Daran wird sichtbar, was letztlich den Unterschied zwischen Welt und Leben ausmacht: Das Leben offenbart sich als »Mich«; sein Pathos ist ein wirkliches Sprechen, das mir im affektiven Erleben nie fehlt.

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9. Welt und Leben

Wenn in der Angst das geglaubte Sein der Welt stimmungsmäßig ganz dahinschwinden kann, weil die Angst mich völlig überwältigt, dann bedeutet dies, dass die Angst rein für sich – eben ohne die Welt – gegeben sein kann. Der reine Affekt erschließt daher als »Stimmung« oder »Befindlichkeit« im Sinne Heideggers nicht nur die Welt als unheimliche, bedrohliche oder fremde Welt. Vielmehr offenbart sich dieser Affekt zunächst in mir selbst als absolut lebendiges Gefühl. Wenn wir auf solche Weise auf die unumgängliche Wahrheit dieser unserer Grundverfasstheit aufmerksam werden, dann sind wir in jedem Erleben genau mit dieser Situation selbst konfrontiert: Wer bin ich eigentlich? Wo gehöre ich hin? Kann ich durch mich selbst beste­ hen? Gibt es einen Grund, eine Wahrheit, ein Ziel meines Lebens? Unsere Besinnung leugnet diese Fragen nicht. Sie möchte nur darauf verweisen, dass es schon eine prinzipielle Anwort der SelbstAffektion in der reinen Passibilität des Lebens vor allen kognitiven und existentiellen Antworten gibt. Bevor sich jemand mit all seinen ihm zur Verfügung stehenden Sinnen der Welt zuwendet, hat er die Möglichkeit, das originäre Selbstaffektion des Lebens als seine eigentliche Geburtsstätte in sich lebendig zu vernehmen. Wie immer die einzelnen Antworten in Bezug auf unser In-der-Welt-sein dann auch ausfallen mögen, um sehr oft bei der nächsten Gelegenheit wieder revidiert werden zu müssen, so bleibt durch das Vernehmen der Lebensgeburt in der Existenz ein Urgrund gegeben. Dieser kann nicht mehr in Frage gestellt werden, weil selbst eine solche Frage in ihrer konkreten Ermöglichung schon wieder aus dem Leben käme. Sofern ich bin, spricht dieser Grund in seiner rein affektiven Weise, und dadurch tauchen meine Lebenswurzeln in das Unendliche die­ ses Lebens selbst hinab, welches niemals gleichgültig ist. Vielmehr bejaht und liebt es mich im stärksten Sinne des Wortes und teilt mir ohne irgendeine Verweigerung seine Freude über sich selbst mit. Alle Fragen möglichen Weltverhaltens im Sinne des Einübens von Einstellungen, Motivationen, Entscheidungen und Gestaltungen sind auf diesem Hintergrund zu befragen. Und zwar dahingehend zu befragen, wie sie aus der reinen Lebendigkeit der Subjektivität her­ vorquellen, um diesem Leben sein Leben in dessen Selbstergreifung zu ermöglichen. In den jeweilig theoretischen Voraussetzungen einer Weltan­ schauung oder Wissenschaft fallen die Entscheidungen, wie Welt und Leben gesehen werden. Da es aber jeder Mensch wesenhaft zuallererst mit dem Leben als solchem zu tun hat, das er selbst ist

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(während er niemals die Welt im umfassenden Sinne sein kann), kommt es darauf an zu klären, wie nah er sich in Bezug auf das Leben entschieden hat. Dabei dürfte bisher deutlich geworden sein, dass das »Leben« keineswegs nur auf der Ebene der bloßen Feststel­ lung gesehen werden kann, wenn ihm der Grund allen Erscheinens zukommt. Die entsprechenden Entscheidungen der Theorien kehren im konkreten Alltag wieder, ohne sich oftmals zu fragen, ob sie dem absoluten Leben gegenüber gerecht werden – ja sogar gerecht werden können? So ergibt sich letztlich aus der Betrachtung des Verhältnisses von Leben/Welt ein Primat des einzelnen Lebendigen, und ein umfassendes Bedenken des Weltbezugs wird gleichwertig mit einem kritischen Selbstverständnis in Bezug auf die existentiell gelebten Horizonte. Angesichts der Absolutsetzung der Welt in allem »objektiven« Denken ist es infolgedessen fraglich, ob das kritische Selbst- und Weltverständnis ohne eine tiefgehende Klärung über­ haupt möglich ist, zu der wir hier einladen möchten. Dabei versucht unsere Meditation, diesen selbstkritischen Weg in Bezug auf Welt und Leben so weit wie möglich in der Zurücknahme von jeglichen Vorstellungen zu gehen. Es besteht dann begründete Hoffnung, mit Hilfe der Lebensrealität als (Mit‑)Pathos Wesentliches gesagt zu haben, so wie es in jedem Lebendigen immer wieder aufbricht. Kehren wir an unseren Beginn zurück, wo wir sagten, zur Prü­ fung der Phänomene genüge das Erleben jedes Einzelnen selbst, so kann jetzt von jedem Leser der Versuch unternommen werden, die Gesamtbewegung der bisher geschilderten Lebensbewegung in sich – und zwar ausschließlich in sich – wiederzuerkennen oder nicht. Es gibt dabei kein Kriterium von außen mehr, welches das Urteil richtig oder falsch sein ließe, weil es um reines Erleben als eigene Erprobung geht. Jeder ist sich letztlich selbst sein eigener Führer in die Unendlichkeit des Lebens hinein, auf dessen Grund er gezeugt wurde – dort, wo das Leben ihn in seiner Seligkeit umschlingt. Die »Aristokratie des Gefühls«, von der Nietzsche sprach, erlaubt es nicht, das Leben durch starres, bewegungsloses oder totes Weltsein zu ersetzen. Und bevor wir uns heute von Wissenschaften oder sonstigen Fremdinstanzen sagen lassen, wer wir sind (beispielsweise zufällig evolutionäre Pro­ dukte einer rätselhaft einmal explodierten Weltmaterie), horchen wir besser auf das rein innere »Wort des Lebens«, welches anders spricht. Wenn schließlich kein Name dieser Welt unser rein affektives Leben benennen kann, weil es als notwendig unsichtbares Leben in keinem Horizont von Welt erscheint, dann bleibt uns das reine

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Eingetauchtsein in dieses Leben, welches die Weise seiner originären Selbstaffektion ist – und nicht mehr. Es ist daher hier ein Sichüber­ lassen möglich, das keiner Begründung mehr bedarf, weil es sich selbst Grund ist. Blind kann es deshalb nicht sein, weil der innere Boden, auf dem solches Sichübereignen angezeigt werden kann, nicht selbsttrügerisch mit der Wirklichkeit umgeht, sondern diese gerade in ihren grundlegenden Erscheinensstrukturen ausgeleuchtet hat. Wäre das Leben blind, so wären auch wir für immer blind, und zwar ohne jede Möglichkeit, etwas daran ändern zu können. Denn selbst das Licht des Bewusstseins in der Vernunft bedarf noch eines inneren Feuers, um sich selbst zu entzünden. Dennoch ist das genannte Sich-Überlassen kein theoretischer Schluss, wonach das Leben dann doch wieder vom Denken abhängig wäre. Vielmehr ist es die radikal notwendige Umkehr der Prioritätenfolge Denken/Leben in Leben/Denken, wobei mit Denken hier alle Weisen der Vorstellung gemeint sind. Wenn man es so bezeichnen möchte, ist diese Umkehr ein »Sprung«, bei dem man im Springen selbst erkennt, dass ich schon immer in dem war, wohin mich dieser Sprung führt. In diesem scheinbaren Paradox zeigt sich das Selbstvergessen des Lebens und seine praktische Wiedererinnerung, so namenlos diese als meine Selbstaffektion auch auftreten mag.

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10. Fremdheit und Identität

Die vorangegangene Betrachtung über die Welt hat uns mit einer Wirklichkeit konfrontiert, in der Anderes als wir selbst gegeben zu sein scheint. Dieser Eindruck bleibt solange bestehen, wie wir uns in der Wahrnehmung bewegen, während das reine Leben prinzipiell kein Anderes kennt, insofern es alles verlebendigt, dem wir begegnen. Und beim Mitpathos wiesen wir schon darauf hin, dass es eine Urgemein­ schaftlichkeit gibt, welche alle Menschen umfasst, sofern sie im Leben geboren wurden und auch in Zukunft im Leben geboren sein werden. Hebt eine solche Urgemeinschaftlichkeit im Grunde alle Fremdheit zwischen uns Menschen auf, so scheint dem insbesondere die heutige Erfahrung an Interkulturalität zu widersprechen, sofern hier Grenzen in Sprache, Sitte und Glaubensweisen zwischen unterschiedlichen Völkern in den Mittelpunkt rücken. Aber es sind eben Fremdheiten oder Andersartigkeiten, welche der äußeren Wahrnehmung entspre­ chen und keine letzte Differenz zwischen den Menschen als solchen anzeigen müssen. Gibt es daher einen Weg, Gleichheit und Fremdheit miteinander in sich bestehen zu lassen? Diese Frage ist in zweierlei Hinsicht wichtig. Einerseits werden immer mehr Menschen aus anderen Ländern zu uns kommen, um Arbeit oder Asyl zu suchen. Und auf der anderen Seite wird die Identitätsproblematik bei den Einheimischen wachsen, je mehr in der Tat eigene Wertvorstellungen und Verhaltensweisen kulturell als zufällig oder relativ erscheinen. Diese Feststellung verknüpft sich mit der obigen Beobachtung hinsichtlich der Andersheit von Welt. Denn was wir normalerweise unsere Identität nennen, ist das Selbstbild, welches wir uns in der Vorstellung von uns selbst machen. Eine wirkliche Identität kann aber, wenn wir sie von der Selbstaffektion des Lebens her betrachten, nicht über die Selbstreflexion als Bild des Ichs garantiert sein, sondern sie muss tiefere Wurzeln besitzen. Insofern kann man sogar sagen, dass die multikulturellen Fremdheits­ erlebnisse vielleicht zu einer grundsätzlicheren Identitätsgründung hinführen werden, so wie andererseits eine neue Identitätssicht aus der reinen Erprobung des Lebens heraus auch die Fremdheit als

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10. Fremdheit und Identität

»Andersheit« aufhebt. Auf diese Weise könnte eine Pluralität des je Singulären in der Einheit des Lebens ihren Platz gewinnen. Hier verschränkt sich also unsere Besinnung mit der Kulturentwicklung, denn je mehr die Eigenheit aus der reinen Lebensaffektion heraus anerkannt wird, umso mehr werden auch die Schwierigkeiten in der Sichtweise »Anderer« verringert. Wir haben schon bei der Beschreibung des Mitpathos ausgeführt, dass dort, wo ich im Leben absolut geboren werde, auch alle anderen Menschen mit mir geboren werden. Denn keiner von uns ist die Zugänglichkeit zum Leben selbst, sondern allein das Leben gewährt diesen Zugang. Fragen wir uns an dieser Stelle, was wir bei einer Einklammerung aller sichtbaren Differenzen gemeinsam haben, dann ist es eben dieses Geborensein – und zwar nicht als eine bloß äußere Feststellung, sondern als je innere Gegebenheit von Bedürfen, Ver­ langen, Trieb usw. In der Tat können wir uns kein geborenes Leben vorstellen, welches nicht gleichzeitig diese Verwandlungen angesichts des Lebensnotwendigen und Lebenssteigernden wie Bewegung, Nah­ rung, Handeln usw. in sich trüge. Die Fremdheit vermag daher in einem strengen Sinne gar nicht aus dem Leben zu kommen, sondern hier herrscht eine Identität, welche für alle Menschen absolut in der Lebensabhängigkeit als solcher besteht. Wenn unsere Meditation bisher es nahelegte, sich selbst in einer Art »zweiten Geburt« aus­ schließlich von dieser abgründigen Lebensaffektion her zu erproben, so ist dies gleichzeitig auch die Weise, die absolute Andersheit des Anderen anzuerkennen. Denn so wie ich durch meine Passibilität in das absolute Leben eingetaucht bin, um als originäre Subjektivität darin geboren zu werden, so ist auch der »Andere« in seiner Geburt von dieser reinen Zugänglichkeit im Leben gezeugt, über die weder er noch ich verfügen. Das Paradox von Fremdheit/Identität löst sich daher durch diese gemeinsame Geburtsidentität auf, ohne die jeweiligen Individuen untereinander im geringsten zu vermischen, denn jeder ist gerade durch seine Geburt im Leben ein einmaliges Ich/Mich. Damit sind nicht nur die äußeren Unterschiede, sofern sie einer kulturellen Wer­ tung unterliegen sollten, prinzipiell außer Vollzug gesetzt, sondern die Andersartigkeit eines jeden ist auch viel größer, als sie jemals in der Wahrnehmung erscheinen kann. Denn die Unterschiedlichkeit in der jeweiligen Mich-Geburt beruht nicht mehr auf einem vergleichen­ den Blick der Hautfarbe und der Lebensgewohnheiten, sondern in der radikalsten Bestimmung, welche überhaupt denkbar ist – nämlich in

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seinem Sosein von der Absolutheit des Lebens für immer bestimmt zu sein. Und je mehr ich sozusagen in diese Absolutheit hineintauche, umso mehr bin ich mit mir identisch, was ebenso von allen anderen Individuen gilt. Wenn heute die Identitätsbildungen immer schwieriger zu wer­ den scheinen, dann beruht dies folglich darin, dass diese Identität jeweils nicht nur an einem bloßen Selbstbild der Ich-Reflexion gemes­ sen wird, sondern die Vorgaben dazu werden außerdem über ein weitgehend technisch-wissenschaftliches Weltbild geliefert. Da der Weltgedanke als Horizont aber unabschließbar bleibt, kann auch ein entsprechendes Selbstbild nicht zu einer relativen Endgültigkeit hinfinden, sondern muss immer wieder den äußeren Veränderungen angepaßt werden. Dies wird leicht einsichtig, wenn man einen solchen Sachverhalt mit früheren Epochen vergleicht. In ihnen gingen die Umwandlungen im Welt- und Gesellschaftsbild langsamer vor sich, und die kulturellen oder geistigen Identitäten waren daher auch weniger Schwankungen unterworfen, wie etwa in der Antike oder im Mittelalter. In den Human- wie Kulturwissenschaften, besonders in der Soziologie, Psychologie, Philosophie, hat man versucht, auf diese Mobilität der Identifizierungen mit einer »frei flottierenden Identität« zu antworten. Identitäten bildeten sich immer nur in bestimmten Kontexten aus, um so im Wechsel der Übereinstimmungen zwischen Ich und bestimmten Gruppen jeweils abgeändert zu werden. Nur setzt eine solche Sichtweise aber überhaupt eine verkürzte Auffassung des »Ichs« voraus, sofern es mehr oder weniger über Rollen oder Gruppenzugehörigkeit allein definiert ist, was aber unserem tieferen Verlangen nach einer wirklichen Einheit nicht entgegenkommen dürfte. Anstatt diese tiefere Ichidentität zu leugnen, lässt sich von der absoluten Lebensselbstaffektion her sagen, dass diese letztere situationsunabhängig ist. Hieraus ergibt sich, dass ich gar nicht zwang­ haft nach einer Identität suchen muss, weil diese tiefer gegründet ist als jedes Angebot an Selbstwahrnehmung, welche sich über eine Ent­ sprechung mit den herrschenden Weltbildern regelt. Rein im Leben gegründet zu sein, würde dann bedeuten, dass ich bereits eine absolute Identität aus meiner Lebensgeburt heraus besitze und gar nicht nach einer Entsprechung dieses »Ichs« mit einer immer nur ausschnitthaften Welt suchen muss. Vielmehr ergibt sich eine Freiheit dieses »Ich des Lebens« gegenüber den welthaft vermittelten Selbstbildern, die ich dann durchaus in der Schwebe halten kann, da mein Selbstverständnis

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10. Fremdheit und Identität

nicht länger von ihnen abhängig ist. Was jeder somit in Zukunft an flexibler Identität einzuüben vermag, ist damit gleichzeitig auch eine Befreiung von der fixierten Weltverhaftetheit, insofern die jeweilige Umwelt nicht mehr als ein letztes Maß der Integration erscheint, welche zur Angleichung zwingt. Wurde bisher oft geschichtlich argumentiert, die Kulturkonstanz beruhe darauf, dass sich jede Kultur an der eigenen Setzung einer »Realität« orientiere, wobei die konkreten Inhalte heute eben zu variierenden multiple realities geworden wären, so ist auch jedes Dass nicht die äußerste Tatsache unserer Existenz. Sie bliebe im übrigen rein formal, ohne etwas über den konkreten Inhalt der Welt aussagen zu können, was der Konkretheit des Individuums in seiner radikalen Sinnlichkeit widerspricht. Der Einzelne wäre letztlich nur einer anonymen Struktur ausgeliefert, ohne sich selbst in seiner unaufhebbaren Konkretheit verstehen zu können. Da seine Sinnlich­ keit jedoch seiner leiblichen Lebendigkeit entspricht, bleibt selbst die reine Tatsache, dass es eine Welt oder eine Realität gibt, an die konkrete Wahrnehmung wie Gestaltung derselben durch eine solche Sinnlichkeit gebunden. Das »Dass der Welt« gemäß dem transzendentalen Denken ist immer auch eine konkret empfundene Welt, ohne diese Konkretisierung als Bild festschreiben zu müssen. Wir sind uns durchaus bewusst, dass wir hier den Leser mit letzten phänomenologischen Aussagen konfrontieren. Aber Phänomene wie »Identitätsverlust« oder »Weltverständnis« nötigen dazu, insofern unser Erleben des Subjektiven selbst von solch äußersten Grenzen des Menschseins herrührt und von daher eine Antwort erfahren möchte. Dies kann nicht mit bloß konstruierten Theorieelementen erreicht werden, sondern verlangt eine absolute »Selbstgründung« des Einzelnen in sich selbst sowie durch sich selbst, was nur in einer originären Lebensaffektion gegeben ist. Zwischen Fremdheit und Identität vermittelt folglich eine Affekt­ wirklichkeit des Lebens, welche sowohl kulturbildend wie kulturre­ lativierend ist. Gegenüber den wissenschaftlich verordneten Reali­ tätsbildern heute wirkt sie auflockernd; sie ist Teil eines tieferen Kulturprozesses, in dem sie die berechnende Objektivierung der Wissenschaften unter- wie überschreitet. Innerhalb dieser weiter gedachten Kulturrealität selbst orientiert sich eine solche Affektwirk­ lichkeit mit ihrem Potential an lebendiger Selbstgewissheit auch nicht mehr an einer bloß psychologischen »Normalität«. Denn solange sich eine solche Affektivität im Austausch mit weitverzweigten Lebens­

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prozessen befindet, gehören auch die befremdenden »Ränder der Welt« noch zu dieser Lebenswirklichkeit und können sogar neue Impulse in eine solche Normalität hinein vermitteln. Man denke zum Beispiel nur an die Kunst, die oft als Vorreiterin für neue Weltbilder und Lebensformen aufgetreten ist. Wir wollen hier jedoch vor allem darauf hinweisen, dass die genannte »Multikulturalität« in jeder Hinsicht in der prinzipiellen Vielfalt der Individuen im Leben gegeben ist. Denn wenn diese einzelnen Individuen nicht nur eine abstrakt zahlenmäßige Pluralität bilden, sondern eine in ihrer Lebensgeburt bereits kulturell geprägte Realität dank Affektivität, Sinnlichkeit und Begehren, dann gehört eben diese Vielgestaltigkeit zur absoluten Selbstgebung des Lebens. Das Pathos als Selbstempfinden ist gerade auch die Unendlichkeit solch kultureller Ausprägung des Empfindens, so dass wir im Verhältnis von Fremdheit/Identität auf dieser Ebene nichts Chaotisches zu befürchten haben, da die kulturelle Pluralität ein Erscheinensgesetz des Lebens überhaupt darstellt.

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11. Erotik und Liebe

Sofern die Erotik das älteste praktische Lebenswissen als Kulturwis­ sen in der Menschheitsgeschichte überhaupt mit darstellt, da wir uns ohne das erotische Element keine Paarbildung und somit keine Fortführung des Lebens vorstellen können, muss ihr Zusammenhang mit der reinen Lebensaffektion deutlich gesehen werden. Durch eine Flut von Publikationen und anderen medialen Darstellungen sind wir oft schon daran gewöhnt, Erotik, Sexualität und Liebe bloß als äußere Verhaltensweisen zu verstehen. Da man diese natürlich beobachten und nach Häufigkeit und anderen statistischen Kriterien klassifizieren kann, hat es sich vielfach eingebürgert, fast nur noch von Sex zu sprechen. Mit dieser verbreiteten Sprachregelung und Veräußerung in ausschließlich körperlich sichtbare Geschlechtsakte hinein wird ver­ gessen, dass es sich dabei um eines der größten inneren Lebens- bzw. Menschheitsgeheimnisse handelt. Denn das Leben offenbart sich hier selbstaffektiv in der Erotik nicht nur in seiner unaufhebbaren Ver­ bindung mit einem subjektiven Leib als absolut sinnlichem Fleisch. Vielmehr sind die besonderen Formen und Organe des geschlechtlich geprägten Leibes als Mann und Frau auch jeweils die Art und Weise, wie Angst und Freiheit zueinander finden, wenn man Kierkegaard wie Sartre hierin folgt. Mit dieser Angst ist keine einzelne Furcht vor einer bestimmten Form an Sexualität gemeint, sondern die Tatsache, dass sich ein absolut subjektives Ich ausschließlich in seinem Leib an den Anderen ohne Rückhalt ausliefert, um ihn oder sie dort zu erreichen, wo jedes Ich sich selbst gegeben ist, das heißt im reinen Pathos seiner Lebensaffektion. Kürzer gesagt, möchte sich hier Leben mit Leben in seiner größ­ ten Unmittelbarkeit und Tiefe individuell austauschen. Die Erotik ist daher jenes Liebesspiel, wo die zartesten wie gewaltig eruptiven Spuren der je eigenen und anderen Lust begehrt und verfolgt werden, um diese Lust letztlich dort zu erreichen, wo sie ihr Höchstmaß besitzt – nämlich in der Selbsttrunkenheit des Lebens mit seinen »erogenen Zonen«. Mit meinem ganz und gar subjektiven Leib als einem insge­ samt sensuellen soll folglich der andere Leib dort erreicht werden, wo

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11. Erotik und Liebe

dieser – ebenfalls als ein unverwechselbares Sich – in der passiblen Selbstumschlingung des Lebens geboren wird. Kann dies gelingen? – so lautet die ebenso bange wie freudige Frage der Erotik, die in ihrem Spiel die Wiederholung ihrer Gesten schon eingezeichnet trägt, weil es eben nicht möglich ist, den Anderen wirklich dort zu berühren, wo er sich selbst als Lebendiger in seiner geschlechtlichen Konkretheit gegeben ist. Weil dies nicht möglich ist, aber immer wieder versucht wird, entsteht aus der Wiederholung der Liebesakte oft die Tragik der Beziehung oder die bloße Zurschaustellung der Sexualität. Zumal weil sich die Öffentlichkeit der medialen Darstellung schon längst des erotischen Leibes bemächtigt hat, um aus ihm einen rein funktionalen Körper des Geschlechtlichen zu machen, der nach einer weitgehend direkten Befriedigung sucht. In dieser Hinsicht lässt sich daher mit den französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty und Georges Bataille sagen, dass die Menschen gegenwärtig dabei sind, das letzte »Geheimnis« zu verspielen, sofern über Eros und Liebe noch eine Erfahrung des Absoluten des Lebens oder des Sakralen überhaupt möglich scheint. Damit wird zunächst einmal deutlich, dass die Erotik in den Bereich einer Beziehung gehört, die personal durch ein fundamenta­ les Ich-Du-Verhältnis geprägt ist. Bezeichnen wir dieses »Du« als ein absolut aus dem Leben geborenes Ich, welches in die originäre Passibilität seines Lebens eingetaucht ist, dann kann an sich diese IchDu-Beziehung niemals zu einem Ich-Es-Verhältnis werden, worin unsere Bezüge zu Dingen und Sachverhalten bestehen. Dies lässt sich zusammen für eine an der Person wie an der Lebensaffektion orientierte Besinnung fruchtbar machen. Denn der Übergang von der Erotik zur Liebe besteht genau darin, dass mit der Liebe zusätzlich eine Zuwendung zum Anderen hin gegeben ist, die über die unmittelbare Sexualität hinausreicht. Dadurch wird in das erotische Verhältnis ein Moment der Dauer eingeführt, wo der Andere in seiner Gesamtheit als eine zu liebende Person wahrgenommen wird. Wenn mithin die Erotik in ihrer sexuellen Vereinigung letztlich den Anderen nie ganz dort zu erreichen vermag, wo männliche wie weibliche Lust hervorbricht, dann vermag die Liebe hingegen jene Weise zu sein, wo diese Unmöglichkeit auf einer höheren Ebene ihre Versöhnung findet. Dies bedeutet, bei Beziehungsfragen einsichtig machen zu können, dass über die reine Erotik hinaus die letzte bindende Zustimmung des Anderen nicht erzwungen werden kann. Vielmehr müssen zusätz­ liche Dimensionen gemeinsam erschlossen werden, welche die ganze

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11. Erotik und Liebe

Vielfalt des Anderen in seiner Lebensverwirklichung einschließen. Wo dies nicht möglich erscheint, bleibt die Dauer der Beziehung eine relative und unterliegt damit einer ehrlichen gegenseitigen Prüfung eines jeden Paares. Wenn mithin das Wissen um Erotik, Lust und Sexualität letztlich nicht von außen bezogen werden kann, das heißt durch soziologische oder psychologische Interpretationen sexueller Trieb- und Verhal­ tensweisen, dann deshalb, weil jeder schon immer das praktische Wissen um seinen erotischen wie geschlechtlichen Leib zutiefst in sich trägt. Einen einzigen Liebesakt in seinem Wesen ganz durchlebt zu haben, bedeutet infolgedessen, das innere Lebenswissen als Wirklich­ keit des Sensuellen wie Geistigen erprobt zu haben. Dieses Wissen durch objektive Bestimmungen wissenschaftlich »aufgeklärter« Sexu­ alkunde oder »freizügiger« Pornographie ersetzen zu wollen, führt zur Verbergung dessen, was es für den Menschen ausmacht, radikal leiblich als absolut subjektives Fleisch zu existieren – nämlich sich in dieser unhintergehbaren Konkretheit »äußern« zu müssen. Bei dieser Äußerung bleiben in der Tat alle Möglichkeiten der Nichtentspre­ chung zwischen Sichöffnen und Hingabe bei beiden Partnern gegeben, so dass die Frage gegenseitiger Durchdringung oder Verschmelzung keiner Maßangabe des Graduellen unterliegen kann, sondern im jeweiligen Tun das Wesen von Erotik und Liebe selbst umschließt. Und wenn der Schein der Lust im Sinne einer letzten orgastischen Erfüllung – und zwar aufgrund der Angst des Enttäuschtwerdens – aufrechterhalten werden kann, so liegt dies an der Doppelheit des leiblichen Erscheinens selbst. Auf der einen Seite ist unser Leib ein Körper in der sichtbaren Welt, und auf der anderen Seite ist er als absolut subjektive Leiblichkeit mit dem rein innerlichen Leib als Fleisch identisch. Diese Kluft vermag letztlich für die Wahrnehmung nicht gefüllt zu werden, weshalb in dieser »Nacht der Liebenden« nach einem Ausdruck Henrys die Ent-Täuschungen immer möglich bleiben. Die Erotik bleibt daher aber gerade auch die große Chance, sich der Endlichkeit der rein körperhaften oder sichtbaren Äußerung bewusst zu werden und sie nicht um die zusätzlichen Weisen der leiblich-geistigen Möglichkeiten im Sinne umfassender Liebe zu ver­ kürzen. Nicht nur in diesem Bereich hat unsere Meditation also die Mög­ lichkeit, Selbstwert und Gefühl mittels der lebendigen Sinnlichkeit zu jenen Wirklichkeiten hin zu führen, welche der reinen Erprobung des Lebens wesentlich sind. Aber die Erotik ist ein bevorzugter Bereich,

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11. Erotik und Liebe

weil hier die Subjektivität als Sensualität unmittelbar auf die innersten Bedingungen ihrer selbst stößt und diese nicht mehr ausschließlich zu ihrer eigenen Initiative machen kann. Denn es gibt in der Beziehung zum Gegenüber, zum anderen Du, eine grundlegende Passibilität, die ich geschehen lassen muss, so wie ich die Lebensgeburt radikal in mir geschehen lassen muss. Dass Liebe, Zeugung und Lebensgeburt in diesem Sich-Ausliefern an den Anderen so eng beieinander liegen, ist dann kein Zufall mehr. Will ich nämlich in meinem Begehren den Ort erreichen, an dem der Andere seine Lust aus der Passibilität seines eigenen lebendigen Leibes entgegennimmt, dann stoße ich an eine prinzipielle Ohnmacht der Erotik, an jener Stelle das absolute Sich des Anderen durch mein begehrendes Ich zu besetzen. Das Begehren bleibt so ein unendliches und führt die Wiederholung aus diesem Grunde notwendigerweise bei sich, wie wir schon sagten. Dass auf der anderen Seite die höchste Lust als Seligkeit des Lebens gerade im erotischen Bereich gegeben sein kann, versteht sich von selbst: Denn je mehr ich mich bei der anderen begehrten Person jener Selbstumschlingung nähere, worin sich das Leben in der Trunkenheit seiner selbst umgreift, umso mehr berühre ich das Absolute dieser Selbstfreude des Lebens in seinem Sich-Selbst-Ergreifen. Passibilität und Ekstase, Ohnmacht und Freude im geschilderten Sinne liegen so nahe beieinander und vermitteln die Einmaligkeit des dynamischen Geschehens der sexuellen Liebe in ihrer Erotik. Der Einzelne kann daher in diesem Bereich einen wichtigen Gradmesser für das Lebensgefühl in seiner tatsächlichen Affektion überhaupt ausmachen, ohne die Sexualität damit zum letzten Wert zu erheben, wie es eine zu leicht verallgemeinerte Libidotheorie Freuds heute glauben machen will. Die Sublimierung ist daher nicht immer nur ein Verdrängungsmechanismus frustrierter Liebe, sondern diese Liebe kann auch Ausdruck für andere Lebensbereiche sein, in denen sich die Selbststeigerung des Lebens ebenfalls in ihrem Höchstmaß vollzieht. Nämlich in der Hingabe an Andere als Selbstlosigkeit bzw. in der Hingabe an Schöpfertum und neuen Einsichten, um mit solchem Begehren prinzipiell Neues wie Faszinierendes für alle zu erschließen. Nach Platon begleitet der Eros alle Tätigkeiten, und für Aristoteles gehört die Lust bereits zur geringsten unserer Wahrnehmungen, so dass in diesem erweiterten Sinne die Identität von Erotik und Leben ermessen werden kann, welche in der absoluten Selbstbindung des Lebens an sich selbst als Selbstliebe oder Selbstfreude ruht. Dies innerhalb der sexuellen Erotik als Austausch zu vollziehen, gehört

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11. Erotik und Liebe

zum umfassenden Lebenswissen unseres Liebenkönnens überhaupt, von dem keiner dem Wesen seines Lebens gemäß ausgeschlossen ist.

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12. Verzweiflung und Trauma

In der Verzweiflung, welche die Grundform jeder leidenden Erpro­ bung von der Traurigkeit bis hin zum Traumatisiertsein ausmacht, ist allerdings die Erfahrung gegeben, nicht mehr lieben zu können und – zumeist damit verbunden – auch nicht mehr geliebt zu werden. Wir müssen daher unbedingt ein solches Phänomen aus den letzten Struk­ turen des Lebens selbst heraus verstehen, wenn wir die Berechtigung unseres bisherigen Sprechens von der Selbstfreude und Selbstliebe des Lebens nicht verlieren wollen. In der radikalen Selbstaffektion des Lebens, welche jedes Individuum ist, nimmt sich das Leben jeweils als sich selbst entgegen und gibt sich in solch passivem Empfangen in der Freude über sich selbst weiter. Dadurch war es uns möglich, wiederholt zu sagen, dass Leben sei in seiner inneren Gestalt gleichursprünglich durch Leiden und Freude geprägt. Diese beiden Befindlichkeiten sind als Grundstimmungen voneinander untrenn­ bar, so dass die gesamte menschliche Existenz davon geformt ist. All unsere Handlungen sind in der Tat davon bestimmt, dass sie dem Leiden oder dem Schmerz entfliehen wollen, um erneut die Lust und das Glück zu empfinden. Es gibt daher eine Grundspannung in jedem Bedürfen, da es an seine entsprechende Erfüllung gebunden ist, und genau diese Spannung macht das originäre Begehren aus. Allerdings dürfen wir diese Spannung zwischen Freude und Leid sowie zwischen Leid und Freude nicht als eine Trennung innerhalb des Lebens als solchem betrachten, und auch nicht als eine gegenseitige Ergänzung oder Hinzufügung etwa. Es gilt vielmehr grundsätzlich, jenen notwendigen inneren Übergang zu verstehen, welcher ohne Unterbrechung zwischen den beiden genannten Grundstimmungen als ihre Oszillation stattfindet. Wenn ein Glück innerlich in Unglück und Schmerz umschlägt, so sprechen wir dabei häufig von Depression und suchen Gründe und Motive für eine solche Veränderung. Aber diese Veränderung hat sich nur ereignen können, weil die Affektivität eine solch untilg­ bare Traurigkeit oder Melancholie von Natur aus in sich trug. Das Prinzip jedes Leidens ist nämlich jene radikale Passibilität, in der sich

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12. Verzweiflung und Trauma

das Leben in seiner Selbstaffektion entgegennimmt, um in solchem Ertragen oder Erleiden das Leben selbst zu sein, welches sich in seinem Selbstergreifen zugleich seiner selbst erfreut. Dieses Erleiden ist deshalb – ebensowenig wie jene Selbstfreude des Lebens – ein einzelnes Gefühl, sondern es ist jene Uraffektivität, von der aus jedes besondere Schmerz- und Freudegefühl überhaupt erst möglich ist. In dieser affektiven Grundwirklichkeit kann das entstehen, was wir gemeinhin Depression nennen, und nur aus dieser Grundgestalt des Übergangs heraus vermag sie auch wieder überwunden zu werden. Betrachten wir daher dieses eigentlichste aller Gesetze des inneren Lebens näher, so stoßen wir dabei genau auf die Verzweiflung als den Grund jeder Depression sowie jedes Traumas. Denn es handelt sich jeweils um eine Extremerfahrung, welche das Ich in seiner lebendigen Identität betrifft. Jedes Selbst ist in Wirklichkeit nichts anderes als ein Bezug zu sich, welcher niemals in der Außenheit der Welt möglich ist. Was ein solches Sich auf sich selbst bezogen sein lässt, ist die Unmittel­ barkeit des Lebens in seinem Pathos, das heißt genau die originäre Verknüpfung des Leidens des Lebens mit seiner Freude als sein SichSelbst-Ertragen und sein Sich-Selbst-Ergreifen in ein und derselben Selbstumschlingung. Wo mein Sich in einem solchen Pathos gezeugt wird, vermag es sich aufgrund dieser radikalen Lebensgeburt nicht mehr von dem Gewicht einer solch absoluten Passibilität zu befreien. Allerdings wächst in einem verzweifelten Ich jenes Wollen, diesem unerträglichen Leid zu entkommen, je unerträglicher es als Erprobung wird. Dieser Fluchtversuch wäre aber dann damit identisch, sich selbst entkommen zu wollen – kein Sich mehr sein zu müssen; keine Subjektivität mehr in ihrem unaufhebbaren Empfindenmüssen. Da diese Loslösung vom Wesen seiner selbst nicht möglich ist, bricht hier die größte Verzweiflung hervor, die es überhaupt geben kann, nämlich sich von sich selbst lösen zu wollen – und genau dies nicht zu können! Die äußerste Verzweiflung als Trauma und Depression, oder beides oft zusammen, wird folglich gerade in dem geboren, was der Grund aller Erfahrung als Erprobung ist: in der radikalen Innerlichkeit des Lebens von dessen reiner Affektivität allein her zu leben, sie absolut in sich zu tragen. Diese Verzweiflung, sich von sich selbst lösen zu wollen, findet daher die Unmöglichkeit einer solchen Abtrennung genau im Wesen des Lebens selber vor, welches in seiner Selbstaffektion für immer an sich selbst gebunden ist. Dieser gewaltige »Widerspruch«, welcher durch nichts Äußeres oder Welthaftes gelöst werden kann,

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ist der tiefe Widerspruch der Verzweiflung, ihre »tödliche Krankheit«: sterben zu wollen und es nicht zu können, weil solches Sterben einen Widerspruch zum Leben selbst bildet. Daraus ergibt sich daher ein Gefühl »ewigen Sterbens«, welches mehr oder weniger stark jedes verzweifelnde Leid ergreift. Dieser Widerspruch ist dem Denken nicht zugänglich und kann nur als Grenzgefühl unserer Existenz selber gelebt werden, wo das Leben wie ein Feuer aufgrund seines Pathos in uns brennt. Aber in dem Maße, wie das Ich seine Ohnmacht erfährt, sich nicht selbst von innen her zerstören zu können, wird auch die reine Erprobung jener unbesiegbaren Lebensmacht umso mächtiger, welche das Ich – scheinbar gegen es selbst – in sein Sich hineinwirft, um es leben zu lassen. Sogar im Selbstmord als Zerstörung von außen wird diese Macht noch in Anspruch genommen, sofern er als Akt in einem sub­ jektiven Tun ausgeführt werden muss, wie wir schon einmal sagten. Durch das Leiden hindurch offenbart sich folglich ein Leben, welches mächtiger als alle Verzweiflung ist. Auf dem Grund der Verzweiflung manifestiert sich in der Tat das Absolute des Lebens, ob man es religiös versteht oder nicht. Dieser Grund ist jener Grund, worin sich das Leben konkret verdichtet, um durch sich selbst sein eigenes absolutes Erscheinen zu sein. Und wenn wir schon andeuteten, dass Depression und Trauma von hier aus auch wieder ihre »Heilung« erfahren, so beruht dies auf der Tatsache, dass eben kein Gefühl in sich blockiert bleibt. Sofern es im Leben geboren wird, das heißt, durch das Leben in sein eigenes affektives Fleisch als Pathos gelangt, gibt es eine innere »Geschichte« jedes Gefühls. Es ist die Geschichte des absoluten Lebens in seinen stetigen Übergängen selbst, mit anderen Worten die Verwandlung des Leidens in die Freude des Lebens. Wenn wir also spontan sagen, Krisen seien notwendig, um im Leben zu wachsen, dann geht es im Inneren des Lebens genau um diese »Dialektik« als ein scheinbares Paradox. Eine solche hier betrachtete Dialektik lässt verstehen, warum eine Heilung immer möglich bleibt. Denn bewusst oder unbewusst, methodisch oder intuitiv, basiert letztere auf der Selbstbewegung des Lebens in dessen stetem Übergang von Leid/Freude, wodurch wir in solcher Selbstgebung des Lebens an uns selbst gegeben werden. Weil wir unablässig auf diese Weise im Leben selbst geboren werden, vermag mithin jede affektive Fixierung in sich selbst auch wieder gelöst zu werden. Fügen wir hier eine Bemerkung über das Trauma an, weil es in unserem Jahrhundert aufgrund der vielfältigen geschichtlichen, poli­

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tischen und gesellschaftlichen Situationen mit ihrer brutalsten Gewalt die Einschränkung auf den rein kindlichen Traumatismus übersteigt und allgemein nach einer adäquaten Antwort ruft. Im Anschluss an das soeben Gesagte kann festgehalten werden, dass das Ich im Trauma gegen sein eigenes Wollen zutiefst die Bedingung der reinen Subjektivität als Pathos erleidet. In Verschärfung der Depression aber dergestalt, dass hier eine absolute Problematik von Vergessen und Erinnerung gegeben ist: Ein Sinn des Geschehenen vermag nicht mehr eingeholt zu werden, weil das Vergessen das Ich affektiv so ausgeklammert hält, dass es sich nicht anders denn als »Vergessen« erinnern kann. Das KZ-Syndrom, auch Jahrzehnte später noch, lässt kein Ich mehr zu, welches diese unermessliche Grausamkeit in ein Bild der Er-innerung zu bringen vermöchte. Und so ist das Ich auf sich selbst in seinem Vergessen zurückgeworfen, ohne Antwort, worum es leidet. Es gibt hier sozusagen einen ständigen Sinnhinweis durch das affektive Symptom, aber die Bedeutung entzieht sich immer wieder in eine absolute Passibiliät hinein. Durch diesen Entzug wird gerade die Unterscheidung zwischen dem Realen und dem Symbolischen (Sinn) aufgehoben, und das Ich verschwindet in gewisser Weise, weil es sich einem völlig kontextun­ abhängigen Phänomen (des Vergangenen ohne Erinnerung) gegen­ über befindet. Solch unerträgliche Vorstellung aus der eigenen Bio­ graphie, oder sozial die Unmöglichkeit einer Beziehung zu Anderen, bedeutet für die Subjektivität jenes »Wider-willen«, worin hierbei die Bedingung als Subjekvität zu leben ist. Der Traumatisierte steht also ebenfalls im reinen Pathos des Lebens, und gerade seine Verzweiflung hat keinerlei Namen, so dass von einer der tiefsten Erfahrungen des menschlichen Pathos gesprochen werden kann. Wenn nämlich das Leben in seinem innersten Wesen Selbstvergessen ist, das heißt, nicht selbst Gegenstand eines einzelnen Wissens oder Wollens sein kann, weil es nie wie ein Gegenstand zu sich distanziert ist, so gilt gerade vom Trauma diese paradoxe Erfahrung: »Ich kann nicht vergessen, denn das Vergessen vergisst mich mit sich.« Diese doppelte Unmöglichkeit, welche das Vergessen im Vergessen wiederkehren lässt, weil das Nicht-Vergessen-Können durch das Versagen der Erin­ nerung bestimmt ist, macht die rein affektive Logik der traumatischen Situation aus. Nämlich als Ausstoßung, Verwerfung oder Opferung leben zu müssen, deren »Sinn« allein durch eine fremde Besetzung mittels geschriebener, dokumentierter oder erzählter Geschichte von außen ersatzweise erfolgt. Die Verzweiflung hat hier, wie gesagt, letzt­

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lich jedoch keinerlei im Welthorizont maßgeblichen Namen mehr, sondern sie ist mit dem Wesen des Lebens selbst identisch, welches sich prinzipiell durch kein äußeres Bild darzustellen vermag. Wird auch dieses tiefste Gesetz des Lebens berücksichtigt, so ergibt sich ebenfalls hier Hoffnung auf »Heil«, weil das Leben rein affektiv immer um sich weiß und in solchem Selbstvergessen keines anderen Wissens mehr bedarf, um zu leben. Denn auch dieser Übergang von Bild/ Bildlosigkeit ist im rein inneren Wesen des Lebens vorgezeichnet wie der Übergang von Leid/Freude. Beide Notwendigkeiten berühren sich in ein und demselben Pathos, welches als unsere wichtigste Bestimmung erprobt werden kann, um sich jeweils dann im Übergang zu lösen. Versuchen wir solches Leid in dieser Hinsicht noch genauer zu verstehen, so lässt sich ein Zusammenhang mit dem schon zuvor betrachteten Problem der Identitätskrise aufweisen. Denn in Depres­ sion und Trauma geht es letztlich gerade nicht um das Verschwinden einer fehlenden Identität, sondern um deren Akzentuierung. Die Ver­ zweiflung ist nämlich nicht nur eine Verzweiflung des Ichs, das heißt eine ihm bloß momentan zukommende Qualität, sondern es handelt sich um eine grundsätzliche Verzweiflung des Ichs hinsichtlich seiner selbst. Wenn daher heute oft gesagt wird, die Identität des Ichs sei in solch traumatisierenden Situationen zerstört, so entspricht dies nicht genau dem Sachverhalt des inneren Pathos. Denn das »Ich« kann sich gerade nicht aus der individuierenden Lebensaffektion herauslösen und erfährt sich deshalb als ein leidendes Ich in der ganzen Schärfe sei­ ner absoluten Subjektivität. Gerade weil man ausschließlich auf sich selbst zurückgeworfen ist, verzweifelt man an sich selbst, da auch die Welterfahrung in ihrer empfundenen Abwesenheit von »Sinn« ganz auf dieses Sich in seiner Verzweiflung zurückbezogen bleibt. Wenn mich aber Leben wie Welt zusammen verzweifeln lassen, dann steht das absolute Selbstverhältnis als Empfindenkönnen im Mittelpunkt, da es den Grund allen Erscheinens überhaupt beinhaltet. Das Sich erfährt in dieser Unerträglichkeit des Leidens die radikale Passibilität des Lebens, ohne sie irgendwie in einem Bild noch überwinden zu können, wie wir schon sagten. Dieser zumeist ungedachte Widerspruch in der Verzweiflung des Ichs verweist an die Identitätsproblematik des Ichs als fragliches »Selbstverhältnis« außerhalb des rein passiblen Lebens zurück. Wenn Kierkegaard nämlich bemerkt, »das Selbst des Menschen [sei] ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und, indem es sich zu sich

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selbst verhält, sich zu einem Anderen verhält«, dann ist in einem solchen Bezug gerade das »Andere« mitgegeben. Dieses Andere als die Mächtigkeit des Lebens, wie es für Depression, Trauma oder auch den Tod zu verstehen gilt, ist kein Anderes außerhalb der Selbstiden­ tität, sondern macht deren selbstaffektive Lebenserprobung als solche aus. Deshalb bleibt auch mit Kierkegaard noch weiter zu bedenken: »Indem sich das Selbst zu sich selbst verhält und indem es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzt«, wie es in seinem Werk »Die Krankheit zum Tode« heißt. Die Auflösung der Verzweiflung an Welt und Leben erfolgt mithin durch die leben­ dige Transparenz der Ichidentität. In der rein affektiven Erprobung seiner Selbstheit erfährt das verzweifelte Ich auf dem Grund seiner Unmöglichkeit, sich selbst in der reinen Passibilität gründen zu können, die absolute Mächtigkeit, welche diese Passibilität gegeben sein lässt – mit dieser selbst als Passibilität für mich identisch ist. Mit anderen Worten wird aus dem Selbstverhältnis des Ichs in der reinen Selbstoffenbarung des Lebens als Mächtigkeit meiner Geburt ein Mich: das bereits erwähnte Ich im Akkusativ, welcher nichts anderes als den rein pathischen Selbstvollzug des Lebens in der Weise des mir gegebenen »Mich« besagt. Die Verzweiflung besitzt somit ihren Höhepunkt in ihrer bodenlosen Tiefe selbst, sich nämlich nicht mehr vom reinen Leben getrennt zu wissen, wobei dieses »Wissen« kein abstrakter Gedanke ist, sondern eben reines Erproben. Auf solchem Hintergrund wird Kierkegaards hier angeführte Analyse insgesamt verständlich, dass es das »größte Unglück« wäre, diese Krankheit in ihrer Verzweiflung »niemals gehabt zu haben«.

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13. Vom Tode

Wir wollen im Anschluss hieran versuchen, die bisherige Besinnung des Lebens auch für den Tod fruchtbar zu machen. An einem alten Menschen, der sein Leben mit Ruhe und Würde lebt, ist manchmal erfahrbar, Selbstwert nicht nur aus einer Leistung, einer Fähigkeit oder einem Verdienst abzuleiten, sondern allein aus dem eigenen Leben, welches in ein umfassend tragendes »Sein« als Bezug einge­ bettet ist. Und so kann Sterben offensichtlich ein Zu-Grunde-Gehen umfassen, welches den Sterbenden jenen Lebensgrund finden lässt, der ihm in seiner Unsichtbarkeit durch sein ganzes Leben hindurch nie gefehlt hat, auch wenn er verborgen blieb, wie es dem Leben in seiner selbstaffektiven Absolutheit eigen ist. Es gibt daher grundsätz­ lich zwei Weisen, auf den Tod zu schauen, nämlich von der Welt her oder vom Leben aus. Blicke ich nämlich in einer Vorahnung meines Todes auf denselben im Sinne einer bloßen Beendigung meines Lebens in der Welt, so bedeutet mir der Tod in der Tat das Wegbrechen aller denkbaren Horizonte als Erfahrungsmöglichkeiten. Das »Ende des Lebens« ist dann ein Ende meiner Existenz in dieser Welt überhaupt, die über den Raum und die Zeit sichtbarer und antizipierbarer Virtualitäten hinaus keine weiteren Perspektiven einer Voll-Endung mehr zulässt als dieses Absterben aller Perspektiven, in denen ich mein Leben unter diesem Gesichtspunkt sonst noch weiterführen könnte. Es ist kein Weiterführen mehr möglich, weil jetzt menschliche Endlichkeit nicht nur eine vorübergehende Grenze wie in den Erfahrungen des Leids bedeutet – sondern der Tod ist das Ende solcher Endlichkeit als deren Ende schlechthin. Klammern wir hier alle Jenseitshoffnungen als Vorstellungen ein, die in sich selbst keine Gewissheit bieten, dieses Ende als absolute Grenze von mir aus zu überwinden, so kann sich ein irgendwie gedachter Selbstbezug über den Tod hinaus nicht mehr gründen: Der Tod wird so zur Auflösung jeder Identität, die ich bisher erfahren oder denken konnte, um nur noch den »Bezug« zu einem Nichts zuzulassen, in dem sich jeder Bezug als solcher selbst aufhebt.

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13. Vom Tode

Ergreift jemand diese letzte »Möglichkeit« als die äußerste Mög­ lichkeit seiner Freiheit im Tod, so kann dies eine entschlossene Lebenshaltung bis ins Sterben hinein bedeuten, wie Heidegger und Camus verdeutlicht haben. Aber wenn wir den »Tod« vom absoluten Leben her sehen, das heißt nicht mehr von der Welt und ihren Horizonten aus, dann bleibt zwar unsere Endlichkeit weiterhin gege­ ben, aber sie ist nicht notwendigerweise mit dem Denken eines »Endes« identisch. Denn das Leben lässt sich niemals zugleich als Tod denken, insofern dies ein Widerspruch wäre, der im inneren Wesen des Lebens nicht gegeben ist. In bezug auf mein »Ich« als lebendige Identität bedeutet dies mit derselben Konsequenz, dass mein Ich ganz vom Leben getragen wird – und daher zu jedem Augenblick im stärksten Sinne dieses Wortes ist. Die Selbstaffektion dieses Ichs besagt, dass jeder Lebendige als ein absolut individuiertes Sich im Leben ohne Unterbrechung gezeugt wird, oder im Bild gesprochen, welches diesen letzten Grund impliziert: Ich erprobe in mir das ständige Hervorbrechen einer Quelle, die ich nicht selbst bin, um genau auf diese Weise im Leben zu sein – und zwar mit all seinen potentiellen Entwicklungen wie Veränderungsweisen. Damit gewinnt auch die Idee der Endlichkeit in unserer Betrach­ tung eine andere Bedeutung, die es zugleich erlaubt, den »Tod« selbst vom Grund des Lebens her zu denken. Indem ich nämlich zu jedem Augenblick die Erprobung meiner selbst als einer Lebendigkeit mache, deren Quelle nicht in mir selbst ruht, mache ich gleichzeitig die Erfahrung, dass ich jederzeit »sterben« kann: Meine Existenz als Leben hängt wie in der Verzweiflung allein von jener Mächtigkeit ab, die mir in diesem Augenblick das Leben in seiner Selbstgebung gewährt. Deshalb ließe sich sagen, dass die Idee des Todes in diesem Fall eine Projektion meiner selbst in die sterbliche Zukunft hinein ist, sofern ich nicht den Grund meines Lebens in mir selbst als meine eigenen Verfügbarkeit besitze. Wie wir oben schon sagten, muss dies allerdings nicht rein negativ verstanden werden, denn dieses Geborenwerden in der Übermächtigkeit des Lebens beinhaltet gerade, dass ich in dem Augenblick, in dem ich diesen Gedanken des Todes denke, zugleich absolut vom Leben affiziert werde – so wie in jedem anderen Augenblick. Aber zusammen mit dieser Grunderfahrung des Lebens in mir kann eben zugleich der Gedanke auftreten, dass sich diese Selbstgebung des Lebens als Grund meines Ichs in mir nicht mehr ereignen könnte, was die Angst vor dem Tode ausmacht.

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13. Vom Tode

Nehmen wir den weiterhin grundlegenden Sachverhalt hinzu, dass sich dieser abgründige Zusammenhang von der Überfülle des Lebens und dem »Gedanken des Todes« als inneres Pathos vollzieht, und keineswegs in einer objektiven Welt mehr (denn ich fühle, dass ich nicht mehr sein könnte), dann berühren wir damit die Sphäre der unsichtbaren Innerlichkeit des Lebens. Diese unterliegt nicht mehr den Weltkategorien oder der Vorstellung, was konkret besagt, dass der Tod eben keineswegs die Rückkehr in ein anonymes Sein oder Nichts darstellen kann, so wie es etwa die Theorien der Bioevolution oder die physikalisch-chemischen Annahmen eines Zerfalls von allem Körper­ haften in Moleküle und Atome heute zu denken geben wollen. Mit diesen Ansichten ist keinerlei Antwort in Bezug auf das Wesen des Todes gegeben, denn das Leben vermag gerade niemals eine anonyme Größe im Sinne irgendeines Dings zu sein, da es in seiner inneren Wirklichkeit rein selbstaffektive Intensität bedeutet. In der Welt bleibt gewiss durch das Sterben nur ein Leichnam zurück, und damit ist ohne Zweifel die prinzipielle Aufhebung aller weltlichen Möglichkeiten gegeben. Aber jedes Denken des Todes unter dieser Voraussetzung hängt allein von den Kategorien der Vorstellung ab: der Leichnam impliziert die Raumanschauung, so wie die Antizipation meines Sterbens die Zeit voraussetzt. In beiden Fällen handelt es sich dann jedoch um begriffliche Unbestimmtheiten, denn das Leben kann gerade nicht durch Raum und Zeit bestimmt werden, ebensowenig wie es etwa durch die Idee einer Fortdauer der »Seele« definiert zu werden vermag, weil auch diese die Zeit bedingt. Und um irgendeine »Unterbrechung« durch den Tod zu denken, müsste ebenfalls eine objektive Zeit gedacht werden, worin sich diese Unterbrechung – oder ein »Weiterleben« – ereignete. Mit diesen Schwierigkeiten, den Tod als Phänomen der Welt oder des bloßen Daseins zu verstehen, kommen wir auf die Grundfrage unserer Besinnung zurück: Was ist ein Bezug als Selbstverhältnis in Leid und Tod? Wir glauben einsichtig gemacht zu haben, dass alle rein empirischen Fragestellungen stets ein absolutes Leben voraussetzen, welches mit meinem eigentlichen Ich identisch ist. Diese Identität erprobt sich ausschließlich als Innerlichkeit, das heißt, sie ist kein Gegenstand des Begreifens, sondern viel entscheidender eine stän­ dig pathische Selbstgewissheit, die es erlaubt, das Leben in seiner Intensität als Steigerung zu erleben. Anstatt das Leben daher vor einen objektivierenden Blick zu zerren, um es mit unzutreffenden Weltvorstellungen zu versehen, bietet unsere Identität als Praxis der

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13. Vom Tode

reinen Lebenserpobung die Möglichkeit, das Leben gemäß seiner eigenen Natur in all unseren Erfahrungen wachsen zu lassen. Das Selbstverhältnis des Ichs beruht dann darin, dass ich die Erprobung des Lebens in der Selbsterprobung des Lebens als solcher mache, ohne an irgendeine affektive Grenze zu stoßen. Daraus ergeben sich – wie schon für das tiefe Leid und dessen Verzweiflung – zwei Konsequenzen in Bezug auf Endlichkeit und Tod. Nämlich Je mehr sich diese Endlichkeit als »Mich« der Passibilität erprobt, desto stärker ist gleichzeitig auch die Erprobung des absolu­ ten Lebens, welches sich in dieser Passibilität ohne Rückzug mitteilt. Die Endlichkeit ist dann keine transzendente Grenze mehr, sondern die Bedingung selbst, um dieses rein inneren Lebens teilhaftig zu sein, ohne damit irgendeine eigene Vergöttlichung anzustreben. Solange diese gegenseitige Selbsterprobung von Mich und absolutem Leben gegeben ist, hat auch die Idee des Todes keinen Bestand, denn solange sich das Leben in sich selbst gibt, schließt es jede Kluft eines Nichts in sich aus. Ist aber die Vergöttlichung ausgeschaltet, so ist auch die Ano­ nymisierung meines Lebens ausgeschaltet, mit anderen Worten die herkömmliche Trennung in ein universelles und individuelles Leben, welches etwa nur als Gattung weiterlebe. Ist aber solches Trennen aufgehoben, dann ist auch jede Zeit aufgehoben, wodurch das Leben ein »ewiges Jetzt« ist, wie unter anderem Meister Eckhart sagt. Und wird das Leben nicht mehr in irgendeiner Dauer gedacht und erprobt, dann gibt es auch keinerlei Grund mehr, solcher Selbsterprobung von Leben und Ich irgendein »Ende« zu setzen. Als rein innerer Selbstbe­ zug ist diese gegenseitige Erprobung das Wesen des Pathos selbst, so dass das Leben und das »Ich« nicht auseinanderfallen können, weil das Pathos das ewige Leben des Lebens selbst bleibt, in dem ich »bin«. Von hier aus erhalten mithin die Grundwirklichkeiten wie »Identität« und »Bezug« ihre äußerste Geltung. Denn was in allen Verwandlungen und Steigerungen des Lebens erprobt wird, ist jene zeitlos ewige Geschichte, wie das Absolute des Lebens in mir ankünftig wird, und ich in ihm. Mit anderen Worten, wie sich das Leben mir gibt, indem ich mir selbst gegeben werde, und zwar auch in der ursprünglichen Gemeinschaftlichkeit mit allen anderen Lebendigen in diesem Leben, wie wir gesehen haben. Verzweiflung wie Heilung, aber auch der Tod, sprechen daher im Grunde niemals von etwas anderem als von dieser unsichtbaren und schweigsamen Grundgegebenheit unserer lebendigen Existenz außerhalb des Zeitlichen.

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14. Illusion und Selbstbezug

Die Gewalt des Todes ist folglich eine Gewalt für das Ich in seiner Illusion, aus sich selbst heraus leben zu wollen. Aber diese letzte Zerstörung durch eine Gewalt von außen führt abgründigerweise an eine noch ursprünglichere Gewalt heran, nämlich ein Mich in reiner Passibilität zu sein. Dass letztere dann zugleich der Erprobung der Übermächtigkeit des Lebens in uns entspricht, ist eine Gewissheit, die nicht mehr der Welt enstammt, sondern das Zeugnis des unzer­ störbar absoluten Lebens selbst bekundet. Ist nämlich der Tod die Offenbarung unseres eigentlichen Selbstverhältnisses als eines nicht von uns selber gegründeten Bezugs, dann kann der Tod als NichtLeben dieser letzten Wirklichkeit nichts hinzufügen, was nicht schon zeitlos gegeben wäre. Die Gewalt der zuvor betrachteten Verzweiflung entspricht daher dem Grade wie der Natur unserer Illusion einer Selbstgründung in deren Unmöglichkeit, sich selber innerhalb eines bloß egohaften Denkens aufzuheben. Solange sich nämlich das Ich noch als das mögliche Ich solcher Aufhebung denkt, entspricht es gerade nicht jenem »Ich«, welches in der Lebensselbstaffektion und im Tod rein passibles Mich ist. Ein solch absolut ursprüngliches Mich aber nicht denken, sondern nur erleben oder erproben zu können, heißt dann nichts anderes, als dass die Offenbarungsmächtigkeit des Lebens nicht in einem solchen Ich selbst liegen kann. Stirbt dieses Ich der Selbstillusion, um der reinen Selbsterprobung des Mich Platz zu machen, so ist die Verzweiflung – aus der Sicht solchen Ichs – naturge­ mäß unaufhebbar. Denn das Wegbrechen der Horizontmöglichkeiten garantiert ihm keinerlei Dasein mehr, um weiter zu existieren, und es kann auch im reinen Mich keinen Grund für seine Existenz finden, weil dieses Mich der rein inneren Geburt wesenhaft unsichtbar ist – und somit für das Denken oder Wollen eines Ichs der Vorstellung unerreichbar bleibt. Die Identität meines eigentlichen Wesens mit dem rein passiblen Mich vermag dann nicht »erkannt« zu werden, sondern sie ist nur dem Wahrheitszeugnis eines Todes zu entnehmen, der in seinem Vollzug zugleich als absolute Verlebendigung gelebt wird. Verliefe nämlich

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14. Illusion und Selbstbezug

diese lebendige Identität über das Ich der Vorstellung, so gäbe es niemals eine Gewissheit, ob an die Stelle eines solchen Ich tatsächlich das reine Mich der Passibilität tritt. Der Tod als Gewalt von außen, um die innere »Gewalt« der absoluten Lebensselbstaffektion erproben zu lassen, ist somit eine Weise der Aufhebung, welche die notwendige Einklammerung der Vorstellungen bereits in der Verzweiflung von Leid und Trauma bis zu ihrem tatsächlichen Höhepunkt treibt. Denn die Meinung von einem selbstverfügten Ursprung vermag sich erst dann wirklich als Illusion zu durchschauen, wenn sie als eine solche Selbstmeinung nicht mehr existieren kann, das heißt, wenn das illusionäre Ich als Träger solcher Vorstellung nicht mehr gegeben ist. Die Schwierigkeit, diesen Übergang von Ich/Mich bzw. von Tod/ Leben mit dem Denken fassen zu wollen, beruht demzufolge darin, dass die Aufhebung der Selbstillusion des Ichs nicht das Leben des Individuums an sich unterbrechen kann. Geschähe dies, so gäbe es keine Wesensidentität zwischen dem Ich und dem Mich mehr. Bliebe dieselbe hingegen nur in der Evidenz des Vorstellungs-Ichs gegeben, dann entflieht dem Individuum die ursprüngliche Gewissheit des reinen Lebens als passiblem Mich. Folglich ist der reine Selbstbezug jener, worin Tod wie Leben zugleich als Selbstgebung des absoluten Lebens auftreten können. Damit ist der Realität des Todes im Sterben nicht ihre unaus­ weichliche Tatsächlichkeit genommen, weil eine jede Beschönigung derselben die Möglichkeit des Durchbrechens der genannten Illusion selbst aufhöbe. Aber auf der anderen Seite ist das Ich der Vorstellung auch nicht der letzte Maßstab für das Todeserleben in seiner inneren Erfahrung als Passibilität selbst. Wäre das Ich allein dieser Maßstab, so könnte niemals die reine Gegebenheit des Mich als lebendige Selbsterprobung in Erscheinung treten, nämlich nichts von sich selbst her zu besitzen. Dieses Nichts ist daher identisch mit unserer absolu­ ten Geburt im Leben. Und wenn wir sagten, dass die Idee des Todes gerade angesichts der ständig notwendigen Unmittelbarkeit solchen Lebens auftreten kann, weil wir ohne sie ins Nichts stürzten, so ist das Sterben die Präsenz dieses Nichts für das Ich, ohne das Nichts für das Mich zu sein, welches nur als originäre Lebenszeugung gegeben ist. Die ebenfalls schon genannte Transparenz der ursprüngli­ chen Lebensbezüglichkeit in der Ab-gründigkeit von Verzweiflung, Trauma und Tod ist dann nichts anderes als das Sichoffenbaren dieses Lebens als der einzigen Realität selbst. Denn es handelt sich jetzt nicht mehr um eine Transparenz des Sehens, sondern um eine solche

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14. Illusion und Selbstbezug

der reinen Erprobung – und zwar dort, wo sich die Passibilität in ihrem affektiven Fleisch ohne mögliche Selbstillusion enthüllt. Ist das, was sie mitteilt, diese Passibilität als Lebensmöglichkeit schlechthin, dann ist diese Mitteilung als Offenbarung auch die Wirklichkeit jener Passibilität in ihrer äußersten Ermöglichung als solcher, das heißt im absoluten oder göttlichen Leben. Die Transparenz als Übergang von Ich/Mich erscheint dann nicht mehr als unlösbarer Widerspruch, sondern als die uns gegebene Möglichkeit selbst, der lebendigen Offenbarung teilhaftig zu werden. Mit anderen Worten, die Einheit von Offenbarung und Leben tatsächlich zu leben, und so nichts anderes als die individuierende Weise ihrer Selbsterprobung zu sein. Was das alltäglichste, geringste Bedürfen in seiner affektiven Trans­ parenz von Begehren/Erfüllung ankündigt, findet mithin in jener letzten Gewissheit der Offenbarung seine Vollendung, woraufhin es schon immer angelegt war: nämlich allein des Lebens zu bedürfen, um fleischliches Bedürfen zu sein. Reines Mich in Verzweiflung und Tod zu sein, heißt daher letztlich, radikal zu erfahren, dass wir solch absolutes Bedürfen in unserem innersten Wesen selbst sind. In diesem Sinn vermag dann auch jeder Augenblick, so wie er als Lebensübereignung gelebt wird, ebenfalls als Todeserprobung gelebt zu werden, nämlich als Aufhebung jener Grundillusion, ein Ich mit all den Vermögen des Lebens ausschließlich durch uns selbst zu sein. Somit bleibt unsere Meditation eine Besinnung der Freude und kein Denken des Todes, um diesen einzuüben, wie etwa Platon sagte. Diese Freude ist gebunden an das Wesen des Lebens, es selbst zu sein und durch nichts zerstört werden zu können, weil sonst unfasslich bliebe, warum überhaupt »etwas« ist anstelle von Nichtsein. Indem ich lebe, ist diese Frage beantwortet, denn ich kann nicht davon absehen, dass mir diese Lebendigkeit alles gibt, was ich in jedem Augenblick zu erfahren vermag. Die Meditation als Vollzug solchen Erfahrens ist Freude über dieses Gegebensein, weil ich ihm im Erleben als Erfahrung selbst erprobend zustimme – was auch immer der einzelne Inhalt sein mag. Wenn somit die Freude des Lebens über sich selbst in jedem Erfahren als dessen Erproben ruht, dann ist kein Augenblick oder Vollzug von solcher Freude getrennt. Die Meditation des Lebens setzt also nichts, was nicht schon wäre, sondern sie bietet nur die Möglichkeit, dass die Selbstverständlichkeit solcher Freude aus ihrem alltäglichen Vergessen heraustritt, um die unablässige Eigengewissheit des Lebens in seinem Vollzug oder seiner Erprobung zu werden. Vielleicht erschließt sich mit solchem Blick zurück auf die

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14. Illusion und Selbstbezug

Zeichnung zu Beginn dieses Buches deren ganze Verheißung als Sym­ bol unseres einmaligen Lebendigseins im Sinne ununterbrochenen Verspürens seiner selbst in allem, was sich ereignet.

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Ausblick: Leben und Zukunft

Wenn alle Symbolsysteme, Traditionen und Metaphern bereits eine unvordenklich affektive Erprobung voraussetzen, die mit unserer originären Leiblichkeit als radikaler Subjektivität identisch ist, dann kann keine einzelne Disziplin mehr den Anspruch auf eine letztgültige Wahrheitsaussage erheben. Damit steht nicht nur jeglicher Traditio­ nalismus zur Debatte, wie unsere Meditation abschließend bedenken will, sondern alle Wissens- und Lebensformen bleiben zu hinterfra­ gen, insofern es um eine unmittelbar passible Erscheinensgegeben­ heit als Selbsterscheinen des Lebens geht. Ob die Tradition dabei nur als geschichtliches Faktum gedacht wird oder basierend auf Vor­ sehungsglauben, ist letztlich nicht das Entscheidende, insoweit jeder Traditionsbildung eine selbstaffektive Ermöglichung als Sinnstiftung vorausliegt. Zu befragen sind daher die möglichen Verbindungen zwischen verschiedenen Disziplinen in Bezug auf originäre Gege­ benheiten sowie deren Hinterschreiten auf eine Selbstgegebenheit hin, die keiner gesonderten Disziplin mehr unterliegt. Im Bereich menschlicher Erkenntnis und Praxis knüpfen wir dabei insbesondere an Erfahrungsweisen wie Religion, Mystik, Ästhetik und Therapie an, da sie Kriterien an die Hand geben, die jedes theoretische Wahr­ heitswissen letztlich aufheben, um den rein affektiven Vollzug eines ursprünglichen »Ich kann« geschehen zu lassen. Dieses Können ist kein Wissen im Sinne einer Intentionalität mehr, wodurch es in seiner originären Ermöglichung jenes thematische Nicht-Wissen bildet, welches für uns unabdingbar ist, um überhaupt empfinden, denken und handeln zu können. Dadurch gibt es keine Trennung mehr zwischen subjektivem Vollzug und Erprobung, sondern nur deren Einheit als Originarität des Wirklichen, welches sich für das Vorstellungsdenken als ein Nicht-Wissen darbietet. Wir haben durchgehend die Ab-gründigkeit unseres Fleisches aufgezeigt, welches niemals in ein reflexives Bewusstsein aufgehen wird, aber dennoch originär gegeben sein muss, damit überhaupt Erscheinen stattfindet. Wo immer daher Disziplinen ein Erstes oder Letztes setzen, beispielsweise »Unbewusstes« oder »absolutes Wis­

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Ausblick: Leben und Zukunft

sen« wie bei Freud und Hegel, wird eine methodische Vorentschei­ dung hypostasiert, um der Aporie des Erkennens durch Regression oder Dialektik zu entkommen. Aber unser Denken ist nicht des­ halb unvollkommen, weil es zu wenig introspektiv, aufmerksam oder rational wäre, sondern weil es prinzipiell ein je intentionales »Bewusstsein von etwas« ist, dessen Struktur es nicht durch sich selbst entkommen kann. Das lebensweltliche Bewusstsein solcher Konstitution führt daher zur Traditionsbildung von Sinn, der immer schon eine genetische Begriffsbildung bedeutet, womit die originäre Selbstaffektion vergessen wurde. Daher bildet jede Tradition eine Bewegung in einem Begriffszirkel, der auf die lebendige Selbstaffek­ tion hin zu hinterschreiten bleibt, um die ursprüngliche Einheit von Nicht-Wissen/Begehren erproben zu können. Das originäre Nicht-Wissen ist dabei keiner sukzessiven Reduk­ tion oder asketischen Abtötung geschuldet, sondern bildet eine unmittelbare Positivität des rein phänomenologischen Lebens, wel­ ches wir ständig als Potentialität unseres Könnens in jedem Vollzug ohne mögliche Sinn-Totalisierung in Anspruch nehmen. Sähen wir bloß vorstellungsmäßig ein Etwas im Rahmen eines vorgegeben Allgemeinen, so vermöchten wir gar nicht zu handeln, das heißt von der inneren Selbstbewegung des sich selbst begehrenden Lebens ohne Distanz affiziert zu sein. Auch Wissen im pragmatisch vorwis­ senschaftlichen Sinne sowie als konsensuell begründete Wissenschaft findet daher stets bereits in einer Differenz oder Situation statt. Des­ halb folgen gerade Ästhetik und Mystik zunächst nicht einer Lehre oder Tradition, sondern übereignen sich der subjektiven Abgründig­ keit von Begehren, Tun und Augenblick, um in sich auf diese Weise dem Immemoriablen als gewährter Präsenz stattzugeben. Da heute das gesellschaftliche Postulat umfassender Versprachlichung wie Ver­ bildlichung als medial-digitaler Objektivierung allgegenwärtig ist und beansprucht, den alleinigen Wahrheitszugang zur Wirklichkeit zu bilden, schreibt sich unsere Besinnung in das genannte Nicht-Wis­ sen als Bildlosigkeit ein, das heißt in eine andere Phänomenalität als das Sichtbare jeglicher Objektivität. Niemand hat in der Tat jemals das apriorische Leben gesehen, mithin gleichfalls nicht jene Immanenz des lebendigen Leibes, wel­ cher uns originär die Einheit wie Unmittelbarkeit unseres Lebens empfinden lässt. Dadurch ist der Mensch als solcher ein ursprüng­ liches Nicht-Wissen in Bezug auf sich selbst und alle Anderen, dem die verschiedenen Disziplinen abhelfen wollen, weil sie in eine

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lebensweltliche Logik der Besorgung und Versicherung gegenseitiger Interessen eingebettet sind. Davon einen Schritt zurückzutreten, war stets der Versuch eines Ursprungsdenkens, welches nicht als Wissen im Sinne eines Kalküls verrechnet werden kann. Folglich sollte auch kein Individuum in der Gesellschaft allein über seine sichtbaren Leistungen sozial oder moralisch vermessen werden, was einer unmittelbaren Konsequenz der Wahrheit originärer Ipseität jeder Person entspricht und daher mit dem Nicht-Wissen dieser verlebendigenden Vorgängigkeit korreliert. Mystiker wie Künstler berichten daher übereinstimmend, dass sie nicht beschreiben können, was sie als Gotteinung bzw. Inspiration erfahren, da dies sich in einer unmittelbaren Empfänglichkeit vollziehe, für deren Verständnis letztlich keine welthaften Kategorien mehr zur Verfügung stehen. Da die Phänomenologie ihrerseits eine Frage der reduktiven Einstellung ist, beginnt sie ebenfalls in ihrer Forderung nach Voraussetzungslo­ sigkeit mit einer Einklammerung von allen vorgegebenen Objekten und Traditionen, um sich ausschließlich der Selbstgebung des Erschei­ nens in dessen absoluter Phänomenalisierung zuzuwenden. Damit ist ihrerseits eine Offenheit als Empfänglichkeit gegenüber jedem Wirklichen angezeigt, wie dies rein praktisch in Mystik, Religion, Ethik, Therapie und Ästhetik originär zum Vollzug wird. Dadurch ist ein weites Feld von theoretischen wie alltäglichen Verflechtungen angezeigt, die hier für die Besinnung des disziplinären Nicht-Wissens bedacht werden können. Als reine Empfänglichkeit, Potentialität oder Selbstaffektion ist das Nicht-Wissen die grundle­ gende Originarität als lebendige Präsenz schlechthin, Dies haben alle Traditionen und Disziplinen letztlich zu berücksichtigen, um die Wahrheit des Lebens nicht ideologisch zu vereinnahmen, welche in keine von ihnen jemals aufgehen wird. Auch wissenschaftstheoreti­ sche Erklärungen erkennen dies zumindest indirekt an, sofern sie als Minimalvoraussetzung für die Wissenschaftsbildung entweder eine anthropologische Disposition »kreativen Schaffens« zugestehen oder das grundlegende Vermögen des Menschen, überhaupt »Unter­ scheidungen treffen zu können«, die dann über die Kennzeichnung von Merkmalen zu Prädikationen führen. In der konstruktiven Wis­ senschaftstheorie wird außerdem ein Rückbezug auf Leben, Welt und Sprache im Sinne eines »im großen und ganzen erfolgreichen Handelns des Menschen« anerkannt, das die »Unhintergehbarkeit des Lebens« einschließt. Dies lässt sich insgesamt nach Michel Henry als transzendentale Leistungen eines unmittelbar subjektiven »Lebens­

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wissens« zusammenfassen. Denn auch vorwissenschaftliche Kulturen konnten den Existenz- und Weltbezug angemessen bewältigen und brachten zum Beispiel große ästhetische Werke hervor, die wir heute noch bewundern. Denn das »immer schon Gekonnte« als praktisch bewährte Handlungsweisen impliziert für die Entwicklung von Wissenschaft und Technik nicht nur bewährtes Können von kontinuierlichen Lebens- oder Alltagsoperationen. Darüber hinaus ist eine Pragmatik impliziert, welche an eine originäre Erfahrung gebunden bleibt, über die Menschen im Sinne der Realität nicht beliebig verfügen können und welche mithin Grenzen für die logische Objektivierung beinhal­ tet. Traditionen, Religionen wie Wissensentwürfe und Ethiken sind demzufolge ein Echo auf jene Antworten, die lebendige Individuen aller Generationen auf diese selbstaffektive Abgründigkeit hin gege­ ben haben. Dadurch bleibt Geschichte vernehmbar als Leben des Lebens, ohne in Symbolik, Gesetz und Institutionen erstarren zu müssen. Denn diese können nur einen je momentanen Anspruch auf Wahrheit erheben, in der diese kontinuierliche Selbstaffektion als unsichtbare Selbsterprobung der Ipseitäten nachklingt. Auf diese Weise ist uns dann im Grunde kein menschliches Tun als Austausch oder Kommunikation fremd, auch wenn die subjektiv vollzogene Immanenz zu ihrer Herausbildung im Nicht-Wissen zumeist verdun­ kelt oder vergessen ist. Denn bereits jede Frage ist ein Verlassen des Nicht-Wissens, welches unmittelbar lebendige Gewissheit ist, ohne den Horizont einer welthaften Antwort zu eröffnen, in der nur das Spiel der Vor­ stellungen mit ihrem dergestalt vorgezeichneten Ruin stattfinden kann. Danach tritt die Praxis nicht einfach als Ersatz an die Stelle der Repräsentation, Symbole, Texte und Rhetoriken, sondern ergreift in denselben jenes ursprüngliche Begehren, das sich darin wortlos bekundet. Nicht um deutend als Sinn entziffert zu werden, sondern um es als subjektive Abgründigkeit zu erproben. Letztere ist die unendliche Vertiefung eines Empfinden-Könnens mit allen leiblichgeistigen Verfeinerungen, die an kein existentielles Ende zu bringen sind. Dies ist ein zentraler Aspekt des Nicht-Wissens des Lebens, der dem abgründigen Schweigen seine Berechtigung lässt, wie man es zum Beispiel bei Buddha oder Christus in entscheidenden Situationen ihres Lebens beobachten kann. Eine Besinnung, welche sich dieser ebenso einfachen wie unendlichen Bewegung des lebendigen NichtWissens anvertraut, folgt keiner Logik der Argumentation oder Über­

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zeugung mehr. Vielmehr eröffnet sie die Möglichkeit für jeden, seine eigene Ab-gründigkeit als unaufhebbare Subjektivität dergestalt zu erproben, dass eine Gewissheit des Lebens präsent wird, die durch nichts Äußeres mehr in Frage gestellt ist. Mit anderen Worten kein Wissen mehr benötigt, um jene originäre Selbstbejahung des Lebens zu empfinden, die prinzipiell in keinem Augenblick fehlt und in den tiefen Erfahrungen von Dankbarkeit, Liebe und Freude besonders gegenwärtig werden kann. Dieses rein innere Voranschreiten von Immanenz zu Immanenz als nie mangelnder lebendigen Gewissheit der Selbstgebung des Lebens kann man daher dessen sich ständig affektiv offenbarendes Wort nennen. Nicht als Antwort auf eine Frage, sondern als Geräusch unserer permanent empfangenen Geburt in ihm, wodurch das Nicht-Wissen des Lebens seinen ständigen Reichtum bildet, der uns nie fehlen wird, solange wir im Leben sind. Das Hören und Annehmen einer geschichtlichen Offenbarung bzw. Lehre entspricht auf diesem Hintergrund einem Glauben, der strukturell noch in den Bereich des Intentionalen gehört, so wie auch das philosophische Erkennen seinerseits ein intentionales Erkennt­ nisziel besitzt. Die rein immanente Offenbarung im Wort des Lebens kennt jedoch weder einen Glauben noch ein solches Wissensziel, da im Sich-Offenbaren des Lebens Akt und Gehalt desselben jeweils zusammenfallen, um selbstaffektive Einheit wie Unmittelbarkeit in einem zu sein. Insofern vollzieht sich unsere Abschlussbesinnung zum Nicht-Wissen sowie zum Leben als Zukunft ohne jede inhaltliche Berücksichtigung geschichtlich geoffenbarter oder verneinter Wahr­ heiten. Dies schließt ein reduktives Verhältnis zu jeder Schrift ein, welche die verschiedenen Traditionen begründet oder deren Doktrin darstellt. Denn es geht zuletzt darum, in allen Sätzen von Überliefe­ rungen ein Begehrens zu vernehmen, das vor jeder Sprache als Affekt in diese eingeschrieben ist. Als Potentialität ist solches Nicht-Wissen im Sinne der Unmittelbarkeit des Lebenss dann zugleich Freiheit, denn es ist Offenheit gegenüber jeglichem Sein ohne weitere Bedin­ gung, so dass sich sagen lässt, ein solches Nicht-Wissen eröffne stän­ dig das Sein, anstatt es in fixierte Sinnvorgaben einzuschließen, die permanent revidiert werden müssen. Aber auch zu solch existentieller Revision bietet das Leben ständig die Kraft, denn als Nicht-Wissen im Augenblick reiner Möglichkeit der Freiheit ist es identisch mit der originären Ermöglichung jeglichen Tuns durch das Leben schlechthin. Dass die abgründige Subjektivität ihre Affektabilität als von ihr unabtrennbare singuläre Konkretion aufkündigen möchte, zeigt

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sich jedoch nicht nur in Verzweiflung und Leid, sondern ist in jeder Lehre gegeben, die ein Allgemeines über das Singuläre stellt, welches ohne mögliche Aufhebung im Sich-Erleiden des Lebens verwurzelt bleibt. Gleichfalls ist dieses Nicht-Wissen keineswegs mit irgendeiner Form von Negativität zu verwechseln. Wir haben demgegenüber in den vorangegangenen Kapiteln unterstrichen, dass vom Leben als Selbstgegebenheit subjektiv nie abstrahiert werden kann, da es stets schon gegeben ist, so dass das originäre Nicht-Wissen eine unmittelbare Fülle bleibt. Diese Aufhebung der Negativität in all ihren Formen kennt die Wahrheitserprobung nicht erst als dialektisches Ziel, denn letzteres ist als lebendige Originarität schon von Anfang an mitgegeben. Deshalb ist auch die ererbte antik-mittelalterliche via negativa, affirmativa und eminentiae beispielsweise einzuklammern, sofern die Metapher solchen »Weges« in Bezug auf die Unmittelbar­ keit des Lebens selbst unangemessen bleibt. Das Leben gibt sich stets als eine immanente Selbstbewegung ohne Abstand zu sich selbst, so dass es für das Nicht-Wissen ein Begehren diesseits jedweden intentionalen Wollens darstellt – mithin eine »Anstrengung ohne Anstrengung«, wie schon Maine de Biran festhielt. Das Nicht-Wissen bedeutet trotzdem weder eine Vernichtung von partikulären Erkenntnisdisziplinen noch eine besondere spiritu­ elle Erfahrung. Die Abwesenheit objekthaften Wissens stellt nämlich keine Auflösung des Selbst dar, sondern dessen nicht mehr gegebene Identifikation mit irgendeinem aussagbaren Inhalt, welcher in die Verweisungskette von Welt, Sinn oder Bedeutungen eintreten würde, um Erfahrung zu symbolisieren. Daher nannten wir solche Erfahrung ohne Objekt – und dies ohne Anspruch auf irgendeine Mystik, Lehre oder Tradition – durchgehend eine reine Erprobung, insoweit diese sich von jeder intentionalen Konstitution als Sinntranszendenz löst. Der entsprechende Begriff épreuve im Altfranzösischen meint seit dem 13. Jahrhundert nicht nur jegliche Art von Prüfung, Heimsuchung und Widerfahrnis, sondern die dichteste Manifestation von Wirklichem überhaupt, die von Simone Weil unter anderem als »Berührung« (contact) verstanden wurde. In solch unmittelbarer Realitätserfahrung wird unsere originäre Sinnlichkeit zur ausschließlichen Modalität des Zusammenfalls von Begehren/Wirklichkeit diesseits der Dimensio­ nen von Raum und Zeit. Dadurch bleibt dem Ich durch die Abwesenheit aller Sinn-Iden­ tifikationen nur noch die Möglichkeit einer nicht-wissenden inneren Bezüglichkeit, welche nicht mehr zum Projekt eines umfassenden

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oder spezifischen Wissens gerinnt. Mit anderen Worten handelt es sich um jene öfters angeführte Selbstaffektion, die als rein immanen­ ter Bezug im unmittelbaren Leben erprobt wird, ohne noch irgendeine Art von Distanz dazu einnehmen zu können. Sich dieser originären Proto-Relation meditativ anzunähern heißt nicht, solche Besinnung wiederum als besondere Disziplin oder Methode zu bevorzugen, sondern nur deren inhärente Wachsamkeit zu nutzen, um nicht erneut letzten subtilen Identifikationstendenzen anheim zu fallen. Der Hinweis auf Rimbaud oder Kafka zuvor zeigte zudem, dass ebenfalls die Literatur – stellvertretend für alle Ästhetik – eine solche Annäherung erlauben kann, so wie es gleichfalls Buddhismus, Johan­ nes-Evangelium und analytische Kur etwa leisten können. Der Dialog mit all diesen unterschiedlichen Erfahrungsformen als Erprobung kann jedoch nur gelingen, falls die reduktive Bereitschaft gegeben ist, keine ihrer Affirmationen oder Negationen mehr anstelle des Wirklichen im Nicht-Wissen walten zu lassen, da sonst erneut das gesamte Bedeutungsgewicht der Traditionen mit ihren rhetorischen­ Verführungen und Verdunklungen ins Spiel käme. Ist jede Frage nach letztem Warum und Wozu dergestalt verlas­ sen, so erübrigt sich dadurch auch jede entsprechende Antwort, die sich nur im traditionellen Horizont von Repräsentation und Symbo­ lik entfalten könnte, um erneut Begehren/Diskurs miteinander in Verbindung zu bringen. Insofern hatten die wenigen Hinweise zur Kur/Therapie in unserer Besinnung nur die Funktion, das originäre Nicht-Wissen mit keinerlei Erkenntnis-Heil mehr zu verbinden, welches ein Anderes dieses Nicht-Wissens selbst wäre, anstatt die Unbegrenztheit des Wirklichen als solchem gelten zu lassen. Mithin als ein rein affektives Ist, insofern unsere immanente Lebensempfäng­ nis als erwähnte »Anstrengung ohne Anstrengung« jenes Können des absolut subjektiven Lebens bildet, welches sich als immer schon gegebene Gewohnheit der Zugänglichkeit zum Wirklichem in all daraufhin erfahrbaren Dimensionen erweist. Das heißt in deren lebendiger Unendlichkeit originärer Potentialität, welcher das NichtWissen kein selbstverfügtes Maß des Möglichen mehr vorzeichnet, ohne andererseits die Negativität zu hypostasieren. Denn das Gefühl der Zugänglichkeit zum Wirklichen als ständig affektiv-leiblich gege­ bener Möglichkeit beinhaltet insofern eine originär ontologische Gewohnheit, als dieser Zugang im unmittelbaren Gefühl des »Ich kann« selbst gegeben ist. Es bedarf dazu keinerlei Vorstellung, so

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dass Nicht-Wissen, Wirkliches und Können im originären Affekt der Ipseität als nie zerstörter Möglichkeit zusammenfallen. Darin ist die originäre Selbstgegebenheit des Absoluten des Lebens als einer unmittelaren Inkarnation unserer subjektiven Leib­ lichkeit als Fleisch verwirklicht, in dessen »Nacht« als Tiefe des Fleisches das Nicht-Wissen im Sinne der Selbstoffenbarung dieses absoluten Lebens ruht. Auf diese Weise fallen lebendiges Können, Gefühl des Wirklichen und affektive Erprobung unseres je subjektiven »Ich kann« zusammen, um die Eröffnung jeglichen Seins zu bilden, wie wir schon sagten. Dadurch ereignet sich das Begehren vor jeder Sprache sowie über diese hinaus, und zwar in der Abwesenheit eines erfüllenden Objekts. Natürlich hat es immer schon geschichtliche Vorformen solchen Nicht-Wissens gegeben: das sokratische »Ich weiß, dass ich nichts weiß«; das apophatische Nicht-Wissen bei Dionysos Areopagita und Meister Eckhart sowie die Auflösung allen genetischen Wissens durch die subjektive »Tathandlung des Ichs« bei Fichte. Aber mit dem Zusammenfall von Begehren/Leiblichkeit als dem originären Fleisch ist der Schritt zurück hinter jegliche Tradition und Bedeutung vollzogen, da nur auf diese Weise die Abhängig­ keit von ebenfalls traditionell vorgezeichneten Problematisierungen verlassen wird. Denn was ist unser Fleisch einschließlich des so genannten »Unbewussten« der Romantik und Tiefenpsychologie? Eine ebenso ursprünglich wie unmittelbar sich-gebende Wirklichkeit, die jedem Erfassen durch einen Denk- oder Willensakt entzogen ist und uns allein am Ende bleiben wird, wenn sich die anderen Dinge nach und nach unserer Verfügung entziehen. Somit ist das Nicht-Wissen schließlich alles andere als Skepsis, Agnostizismus oder Indifferenz, sondern vielmehr die höchste wie direkte Bejahung, die dem radikal individuierten Leben überhaupt innewohnt. Jedes Etwas als Verheißung an das Bedürfen, begehrend erfüllt zu werden, ist ein Köder, um die einzig lebendige Gewissheit als Nicht-Wissen zu verlassen und den Einflüsterungen jeglicher Objektivierung zu folgen und darin seine Wahrheit als einem in »Anderswo« zu suchen. Daher ist mit dem reinen Bedürfen des Lebens als dessen permanentem Selbstbedürfen der Umsturz jeder Tradition durchgeführt, insoweit sie sich über einen Mythos bzw. eine ratio oder einen Logos versteht. Denn es gibt keine Äußerung von Tradition, sei es im Bereich des Ökonomisch-Gesellschaftlichen wie in der darauf aufbauenden lebensweltlichen Praxis, die sich nicht auf diesen selbstaffektiven Anfangspunkt jeder geschichtlichen Entwick­

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lung zurückführen ließe. Folglich wurzeln im originären Bedürfen gleichfalls alle Einzeldisziplinen, sofern sie dasselbe über das Begeh­ ren zu einer Objektwahl führen möchten, worin Erkenntnisinteressen und Werte als Ziele angestrebt werden. Stets werden darin Stärke und Schwachheit des subjektiven Lebens als ein defizitäres Bedürfen verhandelt, das sich erfüllen oder aufgehoben werden soll. Dieses je traditionell gebundene Wissen wird etwa in der Therapie/Kur wie Mystik suspendiert, um dem Begehren wieder in seinem rein anfänglichen Status zu begegnen, der im Nicht-Wissen des Ichs um dieses bis dahin von ihm verkannte Begehren ruht. Dieser Weg erlaubt es, jeweils ein strukturelles Vergessen offen zu legen, welches symptomatisch für das Herausbilden jeglicher Tradition oder Diszi­ plin ist, um dementsprechend auf den allgemeinen Anspruch von Wissen überhaupt übertragen werden zu können. Unsere Meditation könnte daher jeden dazu anleiten, das je eigene »unendliche Objekt« zu überprüfen. Allerdings ist dabei die zu durchquerende Erprobung nicht als ein fertiges Modell vorgegeben, sondern als eine unauslot­ bare Ab-gründigkeit, die allein der inneren Wahrheit der jeweils eigenen Singularität entspricht. Theorien von »Lebensformen«, wie sie sich unter anderem bei Ludwig Wittgenstein finden, stellen eine andere geschichtlich pragmatische Weise der Tradition als eingeübten Habitus für subjek­ tiv-kulturelle Verhaltensweisen dar. Natürlich entlässt das originär phänomenologische Leben all diese Formen aus sich, in denen weltan­ schaulich die Individuen eine modellartige Vorprägung ihres eigenen Lebensentwurfs erblicken können, um ihm beruflich, existentiell oder gesellschaftlich zu folgen. Aber eine solche Lebensform unterliegt nicht nur dem je geschichtlichen Wandel, der ihre unaufhebbare Zeitgebundenheit offen legt, sondern vor allem auch vergessen lassen kann, dass dem originären Leben keine spezifische Form eigen ist, um sich darin jemals zu erfüllen. Insofern gehört gleichfalls eine Lebensform in den Bereich eines Ideals, von dem rein theoretisch angenommen wird, es würde dem Wesen des Lebens entsprechen. Wenn heute zudem solche Lebensformen zumeist zerbrechen, weil sie dem Druck der gesellschaftlichen Umstände ausgeliefert sind, dann entspricht dies nicht nur der immer schneller sich vollziehenden technisch-wissenschaftlichen Entwicklung, sondern tiefer gesehen der immanenten Gegebenheit des Lebens selbst, welches für seine innere Selbstverwirklichung kein äußerlich vorgegebenes Modell kennt. Auch das Aufsuchen von scheinbar bewährten Vollzugsformen

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des Lebens reicht mithin nicht an jene Ab-gründigkeit heran, die eine permanente Selbstgegebenheit des Lebens als Originarität darstellt, welche sich nur durch die Erprobung der je eigenen Ipseität in ihrer selbstaffektiven Wirklichkeit erfüllen lässt. Mithin stößt Zivilisation als traditionelle Verhaltensgewohnheit gegenwärtig immer mehr an ihre intern vorgezeichnete Grenze, um kulturell neu bestimmt werden zu müssen. Wie dergestalt in Zukunft der rein immanente Lebensvoll­ zug zu einer ihm entsprechenden »Lebensform« werden kann, ist dann eine Frage radikaler Singularität diesseits der Repräsentation von Modellen, die den Individuen Erfüllung verheißen. Wenn daher unsere originäre Verlebendigung vollzogen wird, ohne noch irgendwie auf traditionell gesicherte Lebensformen zurückgreifen zu können, dann ergibt sich daraus die aktuelle kultu­ relle Problematik, ob alles Tun und Denken der bloßen Beliebigkeit bzw. einer rein angepassten Normalität anheim gegeben ist, die wiederum ihre eigenen Spannungen bergen – Ängste, Ambivalenzen, Identitätsbrüche etc. Wie im einzelnen hierzu auch die zukünftigen gesellschaftlichen Hilfestellungen in pädagogischer wie therapeuti­ scher Hinsicht aussehen mögen, es wird keine Antwort mehr geben, welche die Fundierung der eigenen Subjektivität in der reinen Ipseität des Lebens ersetzen kann. Das heißt, die Auflösung traditionellen Wissens mit seinen allgemeinen Denk- und Daseinsformen wird reli­ giös, ethisch wie zivilisatorisch an die Unaufhebbarkeit des radikalen Nicht-Wissens heranführen, das bisher von lebensweltlichen Vorga­ ben überdeckt wurde. Sicherlich kann dieser Prozess sich noch lange hinziehen, indem er immer wieder andere versuchte Teilantworten hervorbringt, die aber tendenziell in ihrer Unangemessenheit bereits von jedem mehr oder weniger angezweifelt werden. Würden die Individuen daher jeweils – ohne weitere universal auftretende Lehren oder Ideologien – in der originären Wahrheitszugänglichkeit durch ihr abgründiges Empfinden-Können subjektiv wie kulturell gestärkt, dann ergäbe sich zum ersten Mal eine Epoche, die auf keinen Glauben an eine allgemein oder autoritär vorgegebene Wahrheit mehr zurück­ greifen könnte. Es wäre eine andere Art von Geschichte, in welcher die Ursprünglichkeit des Lebens in jedem rein in Erscheinung treten könnte, so dass dann auch keine endlose Diskussion um allgemeine Wert- wie Wahrheitsansprüche mehr notwendig wäre. Denn eine unmittelbare Würde des Individuums schließt grundsätzlich aus, was irgendeiner Gewalt gleicht, die stets eine innere Selbstverneinung des Einzelnen anstrebt.

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Dies bedeutet keine Prophezeiung oder Utopie, sondern viel­ mehr handelt es sich um jene nicht umgehbare Wirklichkeitsfrage, auf welche Weise sich das originäre Leben als seine eigene imma­ nente Selbstoffenbarung manifestieren kann, wenn das Äußere ihm konstitutiv keine Möglichkeit mehr dazu bietet. Entweder bleibt es dann durch die Transzendenz der Welthaftigkeit für immer von sich getrennt, oder letztere hebt sich als reiner Prozess der Objektivierung selbst auf, wenn deren Formen als ideologische Lebensantworten durchschritten sind. Dies nicht als eine Erfahrungsdialektik im hegel­ schen Sinne, sondern als je unmittelbarer Zusammenfall von Leben/ Erscheinen als reiner Subjektivität selbst, die als Verwirklichung ihres immanenten Begehrens keine phantasmatischen Objekte mehr benötigt, um diesen Zusammenfall zu suggerieren. Unsere Hinweise auf individuelle wie kulturelle Lebenssteigerung kreisten um diesen Punkt, da ihr Verständnis als je augenblickliche Neuschöpfung aus der reinen Kraft des kreativen Nicht-Wissens heraus geschieht, um Situa­ tion und Können miteinander zu vereinen, ohne länger einen äußeren Beweis für die Aktualität lebendiger Potentialität zu verlangen. Insofern jedes Individuum dazu von seiner originären Geburt im Leben her in der Lage ist, würde dies das Ende von imperativen Tra­ ditionen und Lehren beinhalten, ohne ein Ende der Geschichte postu­ lieren zu müssen. Denn ein Leben aus der Unmittelbarkeit des Lebens allein heraus ist nichts anderes als dieses Leben selbst, das heißt des­ sen immanenter Selbstvollzug, ohne noch nach einer anderen Wahr­ heit oder Offenbarungsweise Ausschau halten zu müssen. Denn wenn die Erklärungen vom notwendigen Ende aller Erklärungen genau so vergeblich sind wie jeder Satz, der die Wahrheit diskursiv fassen will, dann kann der Übergang zum Nicht-Wissen nicht dem Denken zufallen. Auf diese Unmöglichkeit des Denkens als Wissen sollten alle vorherigen Hinweise aus den unterschiedlichen Erfahrungsbereichen hinlenken, um jede Tradition mit dem Schweigen zu konfrontieren, worin das Nicht-Wissen sich zu ereignen vermag, ohne vom origi­ nären Leben getrennt zu sein, sofern es dieses selbst manifestiert. Eine Beschränkung auf bestimmte Lebensäußerungen bliebe dabei eine Abhängigkeit des originären Nicht-Wissens von Ereignissen oder Haltungen, für deren Differenz wiederum ein Wissen eingesetzt würde. Die Negativität allein ist jedoch noch keine unmittelbare Präsenz lebendigen Nicht-Wissens, sondern eine noch aufzuhebende Form angesichts der Tendenz des Ichs, sich aller Erscheinungen über das Bewusstsein zu vergewissern. Daher entspricht dem Nicht-Wis­

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sen diesseits jeder Tradition und Disziplin nur die Abwesenheit jeder besonderen wie allgemeinen Form, ohne solche Abwesenheit zum Gegenstand eines Wollens zu machen. Der Sprung in die tödliche Angst als Vernichtetwerden durch den Tod bleibt demzufolge nur dann noch ein Vollzug des lebendigen »Ich kann«, wie schon die Meditation über das Sterben zeigte, wenn dieses sich dem Ursprung desselben als Nicht-Wissen des Lebens anvertraut. Mit anderen Worten seine originäre Bindung an das absolute Leben in keinerlei Weise als einen Selbstbesitz versteht, dessen Repräsentation vor dem Tod nicht standhielte. Die Integration des Nicht-Wissens des Todes in das Nicht-Wissen des Lebens hinein überlässt daher dem letzteren die Weise seiner ursprünglichen Beja­ hung, welche im Tod nicht verloren gehen kann, sofern sich das Ster­ ben im Empfinden-Können des Lebens selbst noch vollzieht. Dieser Augenblick wäre dann jene reine Präsenz des Wirklichen, die keinerlei Trübung durch irgendein diskursives Element mehr unterliegt und daher notwendigerweise von jeder Kultur als Religion, Ritus oder Kunst symbolisch antizipiert wurde. Sich diesem Augenblick ohne solche Vorprägungen zu überlassen, gehört deshalb als reduktive Weise zu einer Zukunft, die ohne tragende Lebensformen sein wird. Heute haben sich innerhalb unserer Kultur die Lebenswissenschaften oder auch Sterbehilfe solcher Gewissheit substituiert, aber sie werden gleichfalls das fundamentale Nicht-Wissen in Leben und Tod als unsere immanente Wirklichkeit nicht aufheben können und den zukünftigen Blick für solches Schweigen frei zu geben haben – wie jede andere Tradition oder Disziplin.

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Anschrift des Verfassers: Heuweilerweg 19, D-79194 Gundelfingen Email: [email protected]

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