Leben als Symbol: Metaphysik einer Entwicklungslehre [2., Auflage Reprint 2019] 9783486755947, 9783486755930


214 12 14MB

German Pages 259 [264] Year 1929

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einteilung
Einführung
Entwicklungslehre
Natur und Menschenwesen
Anmerkungen
Recommend Papers

Leben als Symbol: Metaphysik einer Entwicklungslehre [2., Auflage Reprint 2019]
 9783486755947, 9783486755930

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Leben als Symbol Metaphysik

einer Entwicklungslehre

V v ll

Edgar Dacque Zweite unveränderte Auflage

München und Berlin 19 2 9

Druck und Verlag von R. Oldenbourg

Alle Rechte, einschließlich des LLbersetzungsrechtes, vorbehalten. Copyright 1928 by R. Oldenbourg, München und Berlin.

Vorwort Auch dieses Buch soll dem Ausbau uud der Vertiefung jener Ge­ danken dienen, die iu meinem früheren Werk „Urwelt, Sage «ad Mensch, heil" zuerst ausgesprochen wurden. Dort wagte ich den Versuch, die Naturforschung am Mythus und den Mythus au der Naturforschuag zu spiegeln. Doch konnte sich die Darstellung dieses Gedankens noch nicht überall von der Gebundenheit an eine mehr zeitlich,historische Bewertung des Mythischen fretmache» und blieb deshalb allzusehr in der Vorstellung befangen, es müsse sich das Mythische, ebenso wie der Ursprung der Sagen, irgendwo in grauer Vergangenheit festlegen uud nur dort allein lebendig finden lassen. Wohlwollende Kritik und eigenes Nachdenken haben mir unterdessen eine größere Klarheit über jenes Problem gegeben. Hier nun wird bas Mythische im Dasein und im Erleben der Natur unabhängig von der Zeitbedtngtheit zu fassen versucht. Während es in der vorgenannten Arbeit bloß tu meinem Vermögen lag, die beiden Pole der rationalen Naturforschuag und des Wissens um bas Mythische gegeneinander auftubiegen, glaube ich jetzt, die rationale Forschung selbst dem höheren Begriff des Mythischen ein, und uuterorbaeu zu können. Was damals mehr eia Wunsch blieb: durch die Wissenschaft unserer Lage hindurch zur Würdigung einer anderen Erkenutnisweise zu gelangen, soll hier unmittelbar gezeigt, nicht mehr nur programmatisch betont «erden. Cs wird eine innere Verbindung zwischen den beiden Weltanschauungen des Rationalen und des Mythischen gesucht, und diese liegt in der Herausarbeitung des Symbolischen. Da der ganze Zusammenhang von Mythus und Naturhistorie eben in diesem gründet, so drängte flch die Frage auf, ob nicht auch ein tieferes Verstehen der organischen Entwicklung im Symbolischen liege. Mit anderen Worten: ob nicht natmhistorische Erkenntnis überhaupt erst vollendet sei, wenn sie flch und die Erscheinung in ihrem inneren Sinn begreift? Das aber wäre schon mythisches Erleben, wenn auch anders geartet und anders gewonnen, als es die alten Mythen bieten; und jedenfalls wäre die für unser jetziges Wirkltchketlserlebea nicht mehr genügende realistische Entwicklungslehre ersetzbar durch eine Lehre über die innere Bedeutung der Formen. So konnte auch der Versuch

tu einer Erweiterung und Klarlegung des Wesens der Naturseele ge­ macht werben. Die Verbindung von Metaphysik «ud Naturhistorie, beide vereinigt im Bewußtsein tiefster jenseitiger Wirklichkeit, ist also auch hier wieder Ziel der Arbeit gewesen. Kanu mau als schulmäßiger Forscher und PHUosoph wohl den Standpunkt eiuuehmen,aus methodischen Gründen das Empirisch-Naturhistorische vom Jdeenhasten oder gar Religiösen t» trennen, so halte ich dies ganz und gar nicht für angebracht, wo es sich um des Menschen bange Wirklichkeitsfrage handelt. Dena abgesehen davon, daß es überhaupt feine Naturhistorie ohne Metaphysik gibt und daß sowohl das Intellektuelle wie das rein Stuueahafte ga»j diesseits jeder wahren Wirklichkeit bleibt, sind wir Meuschen selbst ununter­ brochenes Naturgeschehen und metaphysisches Geschehen in Einem, er­ leben Empirie und Idealität in Einem, sind Sinnenwesea und Jenseits­ kinder in Einem. Und da es nur darauf ankommen kann, für das Menschenleben, wie es wirklich ist, ju denken und zu schreiben, nicht für einen abstrakten wissenschaftlichen Menschen, der als solcher gar nicht existiert, so wird auch hier naturhistorische Gegenständlichkeit und mythisches Schauen wieder eng verbunden Hand in Hand gehen. Die Absicht der Darstellung liegt also nicht im Definieren und im Ab­ straktionsmäßigen, sondern in der unmittelbaren Spiegelung des äußeren nnb inneren Lebens, bas sich abstrakter Degriffsbllbung völlig entzieht und nur im lebendigen Bild gejeigt werden kann.

Solln bei München, Weihnacht 1927.

Inhalt Einführung Seite 1. Symbol, Allegorie, Sinnbild..........................................................................

5

2. Das Symbolische der Wissenschaft.............................................................

14

3. Naturhistorie und Mythus..........................................................................

26

Entwicklungslehre 1. Die organische Zweckmäßigkeit......................................................................

43

2. Die Idee der Urzeugung..............................................................................

55

3. Die Idee der Vervollkommnung.................................................................

66

4. Entwicklung und Stammbaum.....................................................................

77

5. Das Individuum als Symbol.....................................................................

91

6. Die Wandlung der Art...................................................................................

100

7. Typus und Urform.......................................................................................

110

8. Form und Verwandtschaft..............................................................................

120

9. Das Sterben und Kommen der Typen....................................................

137

Natur und Menschenwesen 1. Natur und Kunstwerk.......................................................................................

149

2. Der Tiermythus................................................................................................

156

3. Der Mensch als Urform..............................................................................

167

4. Totem als Symbol des Menschenwesens................................................

180

5. Dämonie der Naturentwicklung..................................................................

193

6. Dämonie der Menschenvatur............................................................................. 202 7. Naturgesetz und Menschenleben.........................................................................216

8. Das astrologische Symbol.................................................................................. 229

9. Urkunst und Urwissenschaft.................................................................................. 239 Anmerkungen..................................................................................................................251

»

»

»

Unser Wissen um das Leben ist vergleichbar einer dicht be­ wachsenen mächtigen Schutthalde im Hochgebirge, die sich vor den schroffen Wänden eines unersteiglichea Felsenberges hin­ lagert. Sie ist aufgehäuft in Jahrtavsenden aus unzähligen großen und kleinen Bruchstücken der Verwitterung, die bald einzeln, bald in größeren bergsturzartigen Massen von den Wänden herunter­ gingen. Noch jetzt fallen gar oft, besonders im Frühjahr nach den Frösten und Stürmen des Winters, Steinschntt und Stein­ stürze herab, zerschlagen nicht selten den Wald auf kürzere oder längere Strecken, oder werfen einzelne hochgewachsene Bäume um und bleiben liegen, um allgemach wieder vom Wald überwuchert, vom Moos überzogen zu werden. Die alten gestürzten Stämme verfaulen und werden zu Erde, auf der alles wieder wächst wie zuvor. Wenn wir auf der Halde in dem dichten Wald herumsteigen, sehen wir nicht den Felsenberg, der so mächtig und umfassend vor uns lag, als wir von Ferne hergewandert kamen, und den wir so unmittelbar zu ersteigen gedachten. Er ist jetzt, wo wir so ganz in der Nähe sind, vor dem Wald auf der Schutthalde wie ver­ schwunden, und wir meinen, schon auf ihm selber hinanzustetgen, während wir doch nur auf seinem Jahrtausende alten Schutt­ kegel sind, unter dem seine Wurzeln begraben liegen. Aber von Zeit zu Zeit, da wir keuchend hinansteigen, gibt es einen Durch­ blick nach oben, dort wo zuletzt ein Bergsturz die wlld durcheinander liegenden Bäume gefällt und eine kaum zu durchschreitende Lich­ tung geschaffen hat; Bergwand oder Gipfel treten auf einen Augenblick hervor, die wir sonst durch den Wald nur flüchtig hin­ durchschimmern sahen; und es erfüllt uns mit Gewißheit, daß wir dem Berg näher und näher gekommen sind. Jetzt sehen wir vor uns seine ganze, schroff emporsteigende Masse und die Mächtigkeit seines Umrisses. Wir bemerken, wie DacqrrL, Leben als Symbol.

i

seine Schichtung in mächtigen Strähnen auf- vnd abwärts streicht, aus der Liefe emporkommend, in Höhen fich verlierend, um wieder in Falten umbiegend herabzufinken. Wir sehen das Braun und Grau, die geröteten oder geschwärzten Ränder der Falten, aber wir können doch den Berg nicht greifen, und er bleibt uns in seiner unmittelbaren Nähe noch unnahbarer als zuvor. Und wieder um­ fängt uns, indem wir höhersteigen, der dunkle Wald. Hätten wir ihn nicht schon von Ferne in seinem Umriß und seinen seitlichen Abfällen erschaut, hätten wir nicht die unverbrüch­ liche Gewißheit seiner Wirklichkeit in uns milgetragen, so müßten wir jetzt auf unserem mühsamen Anstieg über die dichtbewaldete Halde verzweifeln, den Berg je ganz zu erreichen oder zu ersteigen und ihn zu erforschen. Aber wir wissen es ja, daß es über die Trümmer der Halde und durch den dichten Wald zu ihm hinanfühtt, und daß diese Trümmer Fleisch von seinem Fleisch, Bein von seinem Bein sind. Und während wir, auf Schritt und Tritt gehemmt, sie mühsam überklettern, «erden sie «ns auf einmal Zeugen des Berges selbst. Wir erkennen in den grauen und braunen und roten, den eckigen und spitzen, unsere Füße verwundenden Brocken alles das, woraus der Berg selbst besteht. Und da auf einmal beginnt das, was «ns eben noch von unserem Ziel abhielt, zu erzählen, und wir wissen, noch ehe wir die Bergwand selbst er­ reicht haben, schon viel von dem, woraus der Berg besteht und worum wir ausgezogen sind, ihn zu erforschen. Wir finden es schon in der Trümmerwelt seiner den Schritt und die freie Aus­ ficht auf das Ziel hemmenden, bewaldeten Schutthalde. So kündet diese uns manches Geheimnis vom Wesen des Berges, auch ohne daß wir ihn unmittelbar mit Händen greifen, ihn mit dem Auge fassen können. Cs wird uns das Schuttgewirr zum beredten Symbol des Berges; jedoch nur, well wir den Berg in seiner Ganzheit schon längst erschaut, seine Idee in «ns ge­ tragen haben, ehe wir ihn selbst erreichen. Sonst würden uns ja die vielen Steine nur schauerliche Trümmer bleiben.

Einführung

i. Symbol, Allegorie, Sinnbild. Es hat nie ein tiefgründigeres Wissen nnd Erkennen gegeben als das im Symbol, nnd niemals war es anders errangen als durch ein Erleben, worin das Gegenständliche, das Erscheinungshafte als lebendiges Gleichnis eines Unaussprechlichen gesehen ward. So ist uns das Symbol die wahre Form, worin wirkliches Wissen und Erkennen ausgesprochen zu werden vermag. Will man dem inneren Geschehen, dem eigentlichen Wert und Sinn, der wahren Wirklichkeit Ausdruck verleihen, so kann dies immer nur im Hinweisend-Bedeutenden, nicht im Rational-Definierenden liegen; sobald man definiert, tritt das Seelenhafte, das LebendigInnere zurück und Hülsen liegen da. Wie selten aber trifft man einen Forscher oder Künstler, der einfach und unmittelbar von innen heraus zeigt und fühlen läßt, wie das Dasein ist, das er erkennt und erlebt. Wie selten ist ein Werk des Geistes wahres Symbol. Stets scheint es, als müßten die Menschen alles aufbieten, um die innere Natur zurücktreten, die Seele schweigen zu lassen, um flch hinter die flchere Mauer einer Definition zu retten und den abwehrenden Zauber eines Begriffes an Stelle des Lebens zu rücken. Aber nicht kann das Innere mit rationalen Erklärungen, es kann nur im lebendigen „Bild" nahegebracht und angedeutet werden. Kann die wahre Innenwelt nur im BUd gezeigt werden, so ist das, was wir als Bild des Inneren erleben, Symbol; andern­ falls bleibt es nur Gegenstand. Auch die gesprochene und ge­ schriebene Rede mag so zum Symbol werden, wenn fle nicht definiert nnd damit der Seele den Zutritt verwehrt, sondern von innen geborenes, nach innen gewandtes „Wort" ist. Das rationale Sprechen im Gegensatz zum symbolischen „Sprechen" in jeder Form meint Bachofen, wenn er sagt: „Zu arm ist die menschliche

Sprache, vm die Fülle der Ahnungen, welche der Wechsel von Tod «nd Leben wachrust, und jene höheren Hoffnungen, die der Eingeweihte besitzt, in Worte zu kleiden. Nur das Symbol uud der sich ihm anschließende Mythus können diesem edleren Bedürfnisse genügen. Das Symbol erweckt Ahnung, die Sprache kann nur erklären. Das Symbol schlägt alle Saiten des menschlichen Geists

jugleich an; die Sprache ist genötigt, sich immer nur einem einzigen Gedanken hinzugeben. Bis in die geheimsten Tiefen der Seele

treibt das Symbol seine Wurzel; die Sprache berührt wie ein

leiser Windhauch die Oberfläche des Verständnisses. Jenes ist «ach innen, diese nach außen gerichtet. Nur dem Symbol gelingt es, das Verschiedenste zu einem einheitlichen Gesamteindruck zu

verbinden. Die Sprache reiht einzelnes aneinander und bringt immer nur stückweise zum Ausdruck, was, um allgewaltig zu ergreifen, notwendig mit einem Blicke der Seele vorgeführt werden muß. Worte machen das Unendliche endlich; Symbole entführen den Geist über die Grenzen der endlichen werdenden in das Reich der unendlichen seienden Welt. Sie erregen Ahnungen, sind Zeichen

des Unsagbaren, unerschöpflich wie dieses."

Genau dies ist der Unterschied zwischen Allegorie und Symbol. Bei der Allegorie muß konventionell etwas festgesetzt werden, damit es der Betrachter auf eine bestimmte Sache bezieht. Eine Allegorie muß bei Allen dieselbe gedankliche oder gegenständliche Vorstellung erwecken; sonst verfehlt sie ihren Zweck und sagt nichts mehr. Ein echtes Symbol dagegen hat seine eigene immanente

Lebendigkeit; denn es enthält Jenseitiges. Und dieses Jenseitige nun, das im Symbol da ist, durch dasselbe vermittelt und zum Schaven erweckt wird, braucht keineswegs für jeden dasselbe zu sagen. Wenn mein eigenes Leben Symbol einer bestimmten

inneren, im Wesen unwandelbaren Verfassung ist, wird es bei

den verschiedenen Menschen ganz Verschiedenes bedeuten und zum

inneren Schauen erwecken, wird ihnen ganz Verschiedenes sagen, wie es auch meiner eigenen empirischen Person zeitweise Ver­

schiedenes offenbart, da es ja in seinem Wesen jenseits dieser mit ihrem Bewußtsein gründet. Wenn die organischen Formen der Natur lebendiges Ausdruckssymbol einer transzendenten, vrbild-

hasten Wesenheit sind, werden sie verschiedenen Zeilen und Denar­ generationen Verschiedenes offenbaren. Die Allegorie kann nm ein Gegenständliches meinen und ausdrücken, das als solches für Alle dasselbe sein muß und dessen Sinn verschwindet, wenn man

ihn nicht bewußt kennt. Das Symbol aber erlaubt, wenn man sich hinein versenkt, immer tiefer und tiefer einzudringen, immer

Neues, Echtes herauszulesen, immer Höheres, immer Unaus­ sprechlicheres darin z« erleben, je nachdem wir selbst innerlich auf­

geschlossen sind, um zuletzt im schweigenden Schauen uns zu ver­ lieren. Oie Allegorie erschöpft sich als verständliches Produkt iu ihrer einmaligen Bezeichnung einer dem Wachstnn zugänglichen

Angelegenheit. Sie bedarf deS äußeren DUdes, der Nennung und Rede, des bewußt rationalen Gegenüber von Ich und ES, um etwas zu sein; ohne das ist sie völlig belanglos und uninteressant.

Das Symbol fordert innere Vereinigung, Versenkung. Allegorie ist, so gesehen, durchaus zu vergleichen dem Witz, dessen einmalige und intellektuell festgesetzte Beziehung der Worte auf etwas, das nicht in ihrem inneren Sinn liegt, ihn allein ermöglicht. Darum ist eS dumm, also intellektuell unhaltbar, wenn naive Maschen

bet einem Witz nach der Fortsetzung und Begründung fragen. Dagegen ist der Humor vergleichbar dem Symbol und ist selbst innerlich geborenes lebendiges Symbol eines «armen seelischen Zustandes.

Naive Menschen, die vor dem Witz scheitern, dürfen

den Humor ruhig «eiter befragen und «erden manche Weis, heit von ihm gewinnen. Symbolisch ist also ganz allgemein jenes Wissen, jener Daseins­ zustand, in dem das Sinnenhaft-Empirische lebendiger Ausdruck

des ihm Immanenten einer höheren Wirklichkeit ist. Ein Symbol ist für uns niemals ein von außen herangebrachtes Abblld von

etwas, das kausal, phänomenal und gegenständlich wäre. Es be­ zieht flch immer auf das diesen Kategorien Transzendente, auf das Unnennbare, Ungreifbare, Unbeschreibliche, was sich von innen her in ihm lebendig objektiviert. Es ist aus dem Innersten geschöpft und geschaffen, ist nur da für das Unaussprechliche.

Wir können den Unterschied von Allegorie nud Symbol auch noch an einem anderen Beispiel klar machen. Wenn es etwa

richtig wäre, daß das Zeichen der Fische in den Katakomben ans die Znsammenziehvng der Anfangsbnchstaben der griechischen Worte Jesous Christes theou yios soter — ichthys sich besiehe, so wäre es nichts als ein flaches Spiel, allegorische Benutzung, wie sie heute bei uns zur Bezeichnung von Unternehmungen oder Fabrikationstype» gang und gäbe geworden ist. Aber in Wirklichkeil war es die Andeutung eines tieferen Zusammenhanges von Weltepochea, in deren jeder ein Erlöser und Prophet aufersteht. Eine solche Weltepoche, der nun Jesus angehört, deren „König" er ist, wurde durch das astrologische Zeichen der Fische benannt, nicht well es ein ihm „geweihtes" Sternblld wäre, sondern weil das, was symbolisch die „Fischt als Tierkreiszeichen im Trans­ zendenten bedeuten, durch Jesus Christus lebendig geworden ist. Insofern nun der Mensch Jesus, der ans Kreuz geschlagen wurde, Träger und Verkünder des inneren Sinnes seiner Weltepoche und damll selbst lebendiges Symbol und Manifestation des sich darin enthüllenden Verhältnisses des Menschen zu seinem Schöpfer ist, kommt ihm das Fischzeichen zu. Und so mag die oben gegebene Wortreihe eher zu dem Zeichen als dieses zu ihr erfunden worden sein. Das Fischzeichen selbst mag danach, als das tiefere Ver­ ständnis dafür geschwunden war, freilich eine leere Allegorie ge­ worden sein, während die astrologische Fischwesenheit echtes Symbol war. Was aber heißt Sinnblld? Im Wesen des Wortes läge es, daß jedes Sinnblld eben kein verstandesmäßig von außen heran­ geholtes wäre, sondern ein „echtes" Sinnbild, das dann unserem Geist unmittelbares Symbol wäre. Es ist bezeichnend, daß wir alle unsere Sinnbilder, womit wir etwa den Staat meinen, wie Bavaria, Germania, auch mit lateinischen Worten benennen, woraus ohne weiteres erhellt, daß es unechte Sinnbllder, also höchstens und nur Allegorien sind. Wo aber das urwüchsige Sinnblld erscheint, da ist es kein mit fremden intellettualistischen Wortbildungen Bezeichnetes, sondern unmittelbar Erlebtes; da ist es der rauschende Wald des Germanen, das ruhelos wogende Meer des homerischen Griechen, der brennende Dornbusch auf dem Sinai. Hier hat sich noch nicht die rationale Spaltung in

Allegorie und Symbol volljogen, sondern beides besteht noch in einem, als wahres Sinn-Bild. Wenn wir daher von Symbol sprechen, meinen wir das wahre Sinablld und nicht die mehr oder minder geistvolle, aber blutleere Allegorie. Ein wahres Sinnbild oder ein wahres Symbol ist das durch unsere innere menschliche Dejogenheit zum All uns zugänglich Werdende, aus der Schöpferkraft Gestaltete, also alles Wahrhafte, Echte und Lebendige. Es ist Ausdruck der innere«, durchdringenden Wesenheit, die in ihrer fichtbaren oder fühlbaren Manifestation erahnt und schweigend erschaut, aber selbst nicht ausgesprochen, nicht dargestellt werden kann. Wird sie dies, so verflacht sie zur Allegorie oder wird Fratze. Das Symbol muß, um ein lebendiges echtes Sinnbild zu sein, in sich eine Wesenheit tragen, die auf den Wissenden ausströmt, immer mehr, immer Tieferes ausströmt, je mehr der innere Sinn des Schauenden sich öffnet. Darum sind echte Symbole wie lebende und leben­ spendende Wesen, die stets ihre Innenwelt in sich tragen und zuletzt, nicht immer zuerst schon, zu dem Urquell alles Daseins zurückführen müssen. Echtes Symbol bedeutet ein reines Oarstellea des Urquells. Das Dämonische nun ist das, was eben nicht Symbol des inneren Urquells sein will, sondern nur sein Leben aus ihm er­ borgt und das, wenn man es ganz durchschaut, in Nichts zergeht und dem Blick auf das Ewige weichen muß. Symbole des Dämonischen sind daher selbst wieder nur Zerrbilder oder Fratzen. Das Dämonische kann auch lieblich erscheinen und ist dennoch in seinem Wesen Fratze. Denn diese stellt lügnerisch das Urblld dar, nicht wahrhaftig, weil das Dämonische stets stch und seine Zwecke meint, nicht entsagend dem Ewigen dient, nicht dieses darstellen will. Freilich kann die Fratze auch in ihrer Lüge und ohne ihre Absicht der Idee der Wahrheit dienen, und zwar als Darstellung dessen, was wahre Idee des Urquells nicht ist und nicht sein kann. Symbol, Sinnblld verwirklicht immer wahrhaftig die ewige Idee; aber nicht im Sinn einer ihm beigelegten Idee, in welchem Fall es Allegorie wäre; sondern es ist selbstverwirklichte Idee, sei es durch die Natur, sei es durch das lebendige Schaffen des

Menschen. Es müßte also eine Natvrforschvng denkbar sein, deren axiomatische Grundlage nicht der Satz ist: Alle Erscheinungen müssen ans Bewegung von Stoffiellchen oder Energiequaaten jurückgeführt werden; sondern: Alle Erscheinungen müssen als lebendige Herausstellung und in solchem Sinn als lebendige Symbole der inneren Wirklichkeit begriffen oder erlebt «erden. Denn Natnrerscheinungen find alle jene im wachen Erkennen und Erleben uns bewußt werdenden Wesenheiten, die wir nicht selbst mechanisch geschaffen haben, sondern die ohne unser Zutun von innen entstehen und vergehen. Alle diese können io ihrer Abgegrenjtheit für uns Symbole eines höheren Ganzen werden. Oder umgekehrt: Alles, was Natur ist, d. h. was mit dem kausalen Oenkverstand nicht innerlich zu fassen ist und was wir deshalb als Ausdruck einer unfaßbaren Wirttichkeit transzendenter Art er­ leben müssen, um es zu verstehen, kann nur symbolisch sein, kann nur „bedeuten". Und diese Bedeutung ist von Epoche zu Epoche immer wieder zu suchen. Können wir die Natur wissend so erfassen, daß sie uns im ganzen wie im einzelnen Symbol würde; daß «ns das Äußere

als Gleichnis des Innerlich-Wirklichen darin erschiene; daß uns das Innere begegnete und mit unserem inneren Leben in leben­ diger Verbindung wäre? Das griechische Wort symbolon bedeutet das, was begegnet und was dadurch begegnet, daß es mit uns in innerer Verbin­ dung, in innerer „Verwandtschaft steht. Es ist nicht nur ein Begegnen schlechthin, sondern ein innerliches Begegnen. Und innerlich kann «ns nur begegnen, was uns „verwandt" ist, was wir in gewissem Sinn selbst in der Begegnung mtterzeugen. Es ist dieselbe Sicht, wie wir sie im griechischen Geist als Erleben des Tragischen, als Erleben der tragischen Schuld antreffen. Man denke an Ödipus. Gar nicht das, was äußerlich mit Wissen und

Wollen geschieht, ist das Schulderzeugende; sondern das, was jenseits des Bewußtseins, jenseits der empirischen Person mit ihr nnd in ihr „vor-weltlich" verbunden, ihr verwandt ist. Das Symbolon ist also ein Sein, das innerlich erlebt und nach außen zwangsläufig gelebt und erlebt wird. Darum sind Götter und

io

Dämonen nnd Tierwesen bei den Naturvölkern echte wirkliche Symbole, well innerlich-metaphysisch verbundene „Begegnungen". Das isi zugleich das wahre mythische Erleben nnd Schauen. Das Wirkliche isi — das liegt im Sinn des Worte- — immer ein Wirk­ sames in irgendeiner Form, die damit stets Symbol von ihm ist. Ein Symbol ist also das, worin ein Wirkliches und Wirksames verkörpert ist, das darin erscheint, sich objektiviert, und das nun von innen her als Objekt auch mit dem Menscheuwesen in meta­ physischer Verbindung und Verwandtschaft steht und ihm nur deshalb als Symbol begegnen kann. Symbole kann es daher nie für den naiven Realismus geben; für ihn gibt es nur Alle­ gorien oder abstrakte Begriffe. Das ist zugleich der avsschließeude Gegensatz zum Mythischen. DaS „Lebendige an sich", das Unaus­ sprechbare, das Unbeschreibliche, das Irrationale tritt uns also nur und immer entgegen in wahrhaftigen Begegnungen oder Symbolen. So ist es nun auch in aller Wissenschaft und Philosophie, die über das „Wirkliche" nachdenkt und es erforschen will. Ihr kann, wenn sie nicht „entwerten", sondern wahrhaft sehen will, das Gegenständliche und seine Erscheinung nur Symbol sein; Mittel, um jenes zeitraumlosen lebendigen „Jnnenraumes" gewahr zu «erden, aus dem und in dem alles sein Wesen hat. Als Gegen­ ständliches, Körperhaftes an sich ist eS ganz tot und leblos, ist es «nttvertet. Sein wahres Innenleben und damit alles wahre Innenleben kann «ns am durch unser Inneres begegnen. Also muß uns, damit wir znr Wahrheit der Erscheinung, des WeltdasetnS kommen, auch unser Innenleben zuerst und durch und durch bekannt nnd klar werden. Je mehr es das wird, nm so Tieferes, Entscheidendere-, innerlich Wirkliches «erden wir aus dem Äußeren ablesen. Das „Erkenne dich selbst" ist der Weg zum wahren Wissen um das Dasein. Hier liegt das seelisch-sittliche Problem der Forschung. Wahres Erkennen im Symbol ist keine reine Frage des Derstandesdenkens, sondern liegt im Innersten, Wahrhaftigsten des Menschen, des Denkers selbst. Lehrreich ist hierin das Verhältnis Schillers und Goethes. Schiller sah in der Kunst, wie Schlesinger in seiner „Geschichte

des Symbols" sagt, das Symbol des Jenseitigen. Goethe wollte anfänglich nichts vom Symbol im Dasein wissen. Er sah jwar im Gegenständlichen die Idee oder besser den Formtypvs, wurde aber erst durch Schiller bei den Gesprächen über die Urpflanze zum Bewußtsein dessen gebracht, daß er Idee und äußere Wirklichkeit zu unterscheiden habe. Obwohl sein Wirken und Schaffen, heißt es au der zitierten Stelle, unbewußt auf das Symbolische gerichtet war, bedurfte es doch erst dieser Belehrung, um ihn, der alles als Sinnenwahrheit sah, zur philosophisch-metaphysischen Anerken­ nung des Symbolischen zu bringen. „Schiller hatte von früher Jugend an die Welt als symbolische Veranschaulichung einer höheren Macht gesehen; sein Bestreben, den Freund zu dieser Auffassung zu bekehren, wurde ihm nicht leicht gemacht, da Goethes Wesen aus natürlichem Trieb stch fernhielt von einer außer ihm wirkenden Macht. Immer wieder hingeführt, nähert er stch bei­ nahe widerwillig, behutsam, vorflchtig dem Neuen; er beschleicht, wie es in der Jägersprache heißt, das WUd, und nach langem Zögern in einem glücklichen Augenblick kommt er zum Schuß, zum Kernschuß, und damit war seine Leidenschaft entfacht. Schiller hatte Goethe zum Symbol auf ästhetischem Gebiet hingewiesen; aber als Goethe die Daseinsberechtigung des Symbols über­ haupt erkannte, griff sein Geist weit über dieses und jenes Ein­ zelgebiet hinaus, bis Kunst, Naturbetrachtung, alle Wissenschaft ihm zu symbolischen Erscheinungen wurden." An dieser, wohl zu engbegrenzten historischen Darstellung, die noch ganz andere Tiefen zeigt, läßt stch der Unterschied eines Symbolischen im inneren lebendigen gegenüber einem Symbolischen im abstrahierenden äußerlichen Sinn treffend kenn­ zeichnen. Goethe war das wahrhaft lebendige Symbol nur fremd, solange er es als ein von außen Herangebrachtes verstand, als Mlegorie. Schillers llare, auf das Platonisch-Jenseitige gerichtete Idealität war von Anfang an näher daran, fand das Jdeenhafte aber nur im menschlichen Geist, insbesondere in der Kunst; die Natur gab ihm diese Sicht noch nicht. Hier faßte er nur allegorisch­ ästhetisch auf, wie es die „Götter Griechenlands" zeigen; wie auch sein reiner Geist, hinter dem das Gemeine wesenlos lag, stch der

furchtbaren symbolischen Wirklichkeit, die aus dem Dämonischen in Natur und Menschenleben fließt, nicht bewußt wurde oder sie höchstens von Ferne und historisch-dramatisch streifte. Wo er sie im Transzendenten fassen wollte, in der „Braut von Messina", wo er das dunkel-dämonisch Schicksalhafte der griechisch-heidnischen Tragödie ahnte und sich zum Vorbild nahm, ist es ihm in diesem inneren Sinn — ein herrliches Zeugnis für ihn — mißlungen, weil sein Wesen dort niemals lebte und erlebte. Ganz anders Goethe. Ihm lebte im Innern diese symbolisch­ schicksalhafte Dämonie, und er lebte sie selbst. Und da er sie spürte, so suchte er mit einem geradezu krampfhaft bewußten Wollen ihr zu entgehen und sie zur Allegorie werden zu lassen. Denn das Dämonische war ihm als Begegnung nur zu bekannt, als Äuße­ rung zuwider. Und doch, wo der Genius unbewußt und aus dem Innersten heraus, nicht aus klassischer Überlegung schaffen

mußte, da zitterte es aufs fürchterlichste durch. Zuerst im „Wer­ thes. Durch dieses Werk und durch es allein fand der Dämon Napoleon sich zu dem Dämon Goethe; der Staatsminister oder Naturforscher wäre ihm ganz gleichgültig geblieben. Sehen wir nur weiter in seine Werke. Wie vieles ist abgründig, düster sym­ bolisch. Der „Werthes vor allem; die gleichalte Faustkonzeption nicht weniger. Der „Gott und die Bajadere, die „Bram von Korinth", der „Schatzgräber, die „Wandelnde Glocke", der „Tür­ mer, der „Zauberlehrling", der „Erlkönig" oder „WUHelm Meister" und „Taffo". Wo bleibt da Gott-Natur, die sich offenbart? Es ist Dämon-Natur, fürchterlich lebendiges Symbol der Verdammnis. Aber wie geht der bewußte, klassisch sich vollendenwollende Goethe selbst dagegen an? Da er es nicht überwinden kann, entzieht er sich ihm, geht auf und davon, wie er sich im Leben stets dem über­ wältigend Dämonischen als Person entzogen hat; in der Liebe zu den Frauen und im französischen Feldzug, wo auf einmal die Fratze und nicht mehr das „Beruhigte" seine tätige Kampfkraft erfordette. Was kommt im „Schatzgräber bei der ganzen Be­ schwörung, die doch aus fürchterlichster Verworfenheit entsprungen sein müßte und ganz gewiß nur kein Sujet sein dürfte, heraus? Nicht das Zerrissenwerden durch den Teufel: nicht die Erlösung

durch den Strahl von oben und damit das innere Totgehen; nicht Wiedergeburt der Seele — nein, der Mensch wird wieder nach dem lustigen Belvedere geführt: „Tages Arbeit, abends Gäste, saure Wochen, frohe Feste, sei dein künftig Zauberwort." Fast ist es phllistrSs; es ist t«r Allegorie geworden oder zur Legende — Legende ist immer die ins Allegorisch-Harmlose gezogene Dämonie. Und „Tasso" ist zur Gesellschaftsallegorie geworden. So wußte er oder hätte er es wissen können vom Innersten her, was Symbol ist, und doch floh er es, well er dort, wo er es erlebte, selbst nicht erlöst, sondern dämonisch verbunden war. Bis Schiller kam und aus seiner reinen Höhe herab ihm zeigte, wie fich das Symbolische auch in ihm selbst rein darstellt. Und nun ahnt er es, es fällt vielleicht in diesem Augenblick seine Spannung in ihm ab; er sieht etwas Ungewußtes vor sich und erkennt, daß ihm das Symbol unerfreulich war, weil er das Dämonische, dem er erlag und das er deshalb immer zu fliehen suchte, allein darin sah oder zu sehen gefürchtet hatte. So wollte er es sich ehedem zur unverbindlichen Allegorie werden lassen, zum verstandesmäßig ge­ faßten Abzeichen, nur um sich nicht mit ihm befassen zu müssen. Als er den Sinn des Symbolischen erkannt, als er durchschaut hatte, daß das Leben selbst, seine eigene Person Symbol des Dämonischen oder Ewig-Helligen sein kann, und damit nun den Weg zur Befreiung sah, konnte ihm sein Leben ohne dämonisches Grausen selbst zum bejahenden Symbol werden. Da erst konnte sein Geist im Angesicht der Ewigkeit beruhigt das vollendetste Wort vom Diesseits und Jenseits prägen, das er zuletzt noch aussprach: „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis."

2. Das Symbolische der Wissenschaft. Wenn man die wissenschaftliche Forschung gern mit dem Bau eines Hauses vergleicht und sich vorstellt, daß Stein um Stein be­ hauen und eingefügt werde, wohl auch falsch behauene und falsch eingesetzte Steine dabei wieder entfernt und neu zugerichtet werden, so ist dies nur ein sehr bedingt und nur streckenweise richtiges Bild und wohl eine allzu enge Auffassung vom Wesen der Forschung.

Denn man kann jenes Hans nicht nach einem einmaligen vor, gefaßten Plan emporführen, sondern entdeckt bei jeglichem BeHanen und Einfügen eines Steines immer wieder, daß Plan und Sinn des Hausbaues neu erfaßt werden müssen. Seine Idee ist in jedem Augenblick neu ju erringen. Denn der Hausbau ist nicht etwas Rationales, sondern ein Mysterium mit Eigenleben. Während wir einen Stein noch behauen und einsetzen, kann es von ungefähr geschehen, daß durch die Berührung mit dem neuen Stein das Haus erjittert, ja gesprengt wird. Dann ellen Alle, die daran bauen, verwundert hinzu, sehen ihr bisheriges ruhiges ziel­ sicheres Tun gestört und erkennen alsbald, daß wieder ein neues Haus begonnen werden muß, oder daß mit dem neuen gefähr­ lichen Stein erst weitergebaut werden kann, wenn das Haus, dem neuen Erfordernis entsprechend, teilweise oder ganz abgetragen, oder mit neuen festeren und umfangreicheren Fundamenten unterbaut worden ist, die nun Schwereres und anders Ausbalanziertes tragen müssen. Wenn sich unter dem Bauen eine solche Epoche der Erschütte­ rung ankündigt, so geschieht es, wie einmal gesagt wurde, nicht einfach durch die fortgesetzte Häufung des Stoffes in den einzelnen Wissensgebieten, sondern es entzündet sich vielmehr an vorhande­ nen Tatsachen eine neue Problemstellung, wobei Dinge, die man vielleicht zuvor schon wußte, aber zur Seite liegen ließ, well sie unbedeutend erschienen, nun auf einmal in neuem Zusammen­ hang in den Brennpunkt des Interesses treten und damit auf ein­ mal etwas ganz anderes verraten: das nämlich, was jetzt eben von größtem Interesse ist. Sie „bedeuten" auf einmal etwas anderes; und nachdem sie vorher unbedeutend waren, sind sie jetzt bedeutende Tatsachen geworden und verhelfen zu neuem Wissen. Eine solche bisher unmaßgebende, jetzt bedeutend und brennend gewordene Frage ist die, was die von außen erfahrbaren Dinge innerlich be­ deuten, wie sie den „mystischen Jnnenraum" des Daseins spiegeln, inwiefern und wovon sie Symbole sind. Unsere vergangene Wissevschaftsepoche konnte mit diesem „Jnnenraum", wovon alle Naturform Symbol ist, nichts an­ fangen. Maa sah in dieser Frage eine philosophisch-spekulative

Zutat zu der Forschuug im Körperlich-Stoffhasten, wollte ihr aber keine Bedeutung für die Erkenntnis der Wahrheit zuschreiben; man sah solches Bemühen als einen zwecklosen Versuch an, als eine illusionäre Spiegelung der äußeren Wirklichkeit im reflektieren­ den Subjekt. Die „Wirklichkeit" aber war allein in die Außenwelt verlegt; das Sichbewegen und Aneinanderstoßen des Korpuskulären allein war Wirklichkeit, auch wenn dieses Korpuskuläre allenfalls Energie genannt wurde. Man sah nicht, daß alle Wissen­ schaft und Erkenntnis auf schon vorhergegangenem „unbewuß­ tem Wissen" um den Jnnenraum beruhte und nur insoweit Wissen­ schaft und Erkenntnis war, als sie durch das Äußere hindurch das Metaphysische sah und erlebte. Will man nun, nach Erschütterung des Hauses, die neue, sich uns aufdrängende Einstellung auf die Natur bezeichnen, so kann man fast sagen: Das, was der mechanistischen Forschungsepoche als Wirklichkeit erschien, beginnt jetzt Spiegelung zu werden; was ihr Spiegelung war, wird Wirklichkeit. Unsere neue Art Wissen­ schaft fängt dort erst an, wo Wissenschaft im gewöhnlichen Sina schon avfgehört hat zu fragen: „Was ist Wirklichkeit?" War zuvor das stoffhaft Greifbare und mechanistisch Erschließbare, das analytisch und synthetisch Erfaßbare die Wirklichkeit schlechthin, so wird es jetzt Ausdruck und Manifestation der anderen, der inneren Wirklichkeit, der wahren Ursache. Oder man kann etwa mit Dergson sagen: Das zwischen den Atomen, das zwischen den Quanten, das zwischen den Nektronen, das zwischen dem ana­ lytisch und synthetisch Erschlossenen Vorhandene, das was im Ge­ gensatz zum Korpuskulären das Kontinum ist, jener wahrhaft wirk­ liche Jnnenraum — das ist zu suchen und darzustellen. Und es ist, entgegen Kantischer Eingrenzung, zu erkennen, well es sich, durch die Naturformen von außen dargestellt, auch in unserem Inneren lebendig findet. Es ist deshalb nachgerade ein erkenntnistheoretischer Irrtum geworden, mit der bisher allein angewendeten äußerlichen ratio­ nalen, rein raumzeithaften Denkrichtung und Methode zu einer Erklärung der Naturformen vordringen zu wollen. Mehr und mehr verzichtet auch die Schulwissenschaft, zunächst noch gefühlsmäßig,

16

auf den Anspruch, wirklich zu erklären. Es wird ihr allmählich bewußt, daß ihre „Erklärung" stets äußere Beschreibung bleibt. Ein Mineraloge von Namen, dem das Rüstzeug seiner zwei­ hundert Jahre alten Wissenschaft zur Verfügung steht, hat aus­ gesprochen, er wisse heute weniger als je, was ein Kristall sei. Aus anderen Wissenschaften kann man Entsprechendes anführen. Wesen und Ursache der uns bekanntesten Dinge stnd uns trotz aller Forschung fremder als je. Die Abstammungs- oder Ent­ wicklungslehre wurde seinerzeit nicht zum wenigsten deshalb be­ grüßt, weil man glaubte, mit ihr die Formel gefunden zu haben, hinter die Ursache der organischen Formenblldung zu kommen. Jetzt aber ist die Biologie auf dem Weg, zu wissen, daß nichts von alledem, was wir Mechanik, Anatomie, Vererbungslehre, Stammesgeschichte nennen, uns irgend etwas „Ursächliches", d. h. etwas vom Wesen der Gestaltungen erfahren läßt. Es bereitet sich mit Macht jene geistige Einstellung vor oder bricht stch schon überzeugend Bahn, daß die rationale Analyse und Synthese zwar äußerliche Beziehungen, also Bedingungen, aber auch nur diese angibt, daß aber das wahre Ursächliche in einer ganz anderen Erkenntnissphäre liegt als dort, wo man mit rationalen Methoden allein arbeiten zu können meint. Eben dieses „Ursächliche" aber ist es, warum man überhaupt Wissenschaft im tieferen Sinn treibt; was man stets brauchte und doch nicht weiß. Seine Erkenntnis erst wäre „Erklärung". Es ist nicht erreichbar durch Häufen des Stoffes; es ist nicht erfaßbar durch Zerlegen des Geschehens in Stadien und abgegrenzte Teile; es ist nicht faßbar durch logische Analyse und Synthese; nicht faßbar in abgezogenen Begriffen, die alle für sich allein nur ein Wissen bleiben, das man nicht brauchen kann. Das innere Ursächliche, der „Jnnenraum des Daseins" mag dort betreten werden, wo man ihn in der Form und durch die Form als seinem Symbol erschaut, wo die Form selbst sym­ bolisch erlebt und gedeutet zu werden vermag. Das ist zugleich die älteste Art menschlichen Naturwissens, die wir kennen: die mythische, worin Wissenschaft und Religion eins waren. Wir könnten also etwa fragen: Was bedeutet die organische Form überhaupt inDacquL, Leben als Symbol.

2

r7

bezug auf die ganze Wirttichkeit, nicht nur für einen augenblicklich herrschenden Intellektualismus? Gelänge es, jene beiden PfeUer — den rational-abstrakten und den mythisch-seelenhaften — mit­ einander einzuwölben zu einem geschlossenen Bogen, so würden wir vielleicht wieder von der organischen Form jene Deutung nun auf höherer Stufe geben können, die nicht nur, wie etwa die jetzige wissenschaftliche Abstammungslehre, auf den äußerlichen, sondern auf den inneren tiefen geistig-ursachenhaften Zusammenhang, auf die innere lebendige Verwandtschaft und Gemeinschaft des ganzen Daseins und damit auch auf des Menschen wahren Ursprung selbst Hinweisen würde. Wir bekämen die Umrisse einer an das „Wirkliche" rührenden und dieses ausdeutenden Entwicklungs­ lehre und würden so durch eine Bereinigung von Wissenschaft und Mythus — beide gleich berechtigt im Denken — tiefer als bis jetzt den Sinn der organischen Form und ihres naturhasten Werdens verstehen. Seit dem Altertum können wir in der Ge­ schichte der Philosophie und Wissenschaft immer wieder den Ver­ such beobachten, eine Physik ohne Metaphysik zu gewinnen, also eine Lehre, welche die Erscheinung zum Ding an sich machen möchte. Aber alle solche Versuche setzen selbst schon metaphysisch voraus, was sie doch erst erweisen sollten: daß alle Erscheinungen, auch die seelisch-geistigen, physisch seien. Ganz recht, sagt Schopen­ hauer; nur vergessen sie immer wieder, daß alles Physische auch ein Metaphysisches ist. Denn die Qualität jedes Steines ist auch mechanisch-stoffhaft geheimnisvoll wie das Leben im Lebendigen. Überall stößt die physische Erklärung auf das Metaphysische, durch das sie eben wieder aufhört, Erklärung im Sinne der Wissenschaft zu sein, und immer wieder zum Geheimnis wird. Wir befinden uns mit unserer rationalen Forschung im Zustand eines unmathematisch und unkünsilerisch veranlagten Geistes, der meint, er würde eine Kugel begreifen, wenn er sie mit so vielen Radien durchfahre, bis schließlich ihr ganzer Jnnenraum so sehr davon durchzogen sei, daß gar kein Zwischenraum mehr zwischen den gezogenen Bahnen bliebe. So häuft er endlos Radien, zieht eine Erkenntnislinie um die andere; und doch bleiben alle Wege immer wieder nur einzelne Radien, auf denen er nie das Ganze i8

gewinnt. Er weiß nichts davon, daß er überhaupt keine Radien in der Kugel ziehen könnte, wenn er nicht die Kugel als Ganzes, das Wesen der Kugel erschaut hätte. Nun verhält er sich so, als ob er nicht wüßte, was das Wesen der Kugel ist, hat dies gewisser­ maßen vergessen und müht sich, durch gehäufte Radienziehung die Kugel zu erfassen. Der „künstlerische" Mensch aber kennt aus innerer Anschauung das Wesen der Kugel und hält es sich gegen­ wärtig. Daraus lernt er sofort, daß er schon mit einem einzigen Radius ihren Umfang und Inhalt ermessen kann. Er weiß, daß die mehrfache Radienziehung nur so Sinn und Bedeutung bekommt. Er kehrt sich vom ursprünglichen Erleben des Kugelwesens, mit dessen Sinn von Anfang an erfüllt, der Berechnung zu, und nun ist ihm die Kugel mit dem einen Radius als solche begreiflich ge­ worden. Das ist der Unterschied zwischen dem Rechner, der bloß Rechner ist, und dem Seher, der auch Rechner ist. Und dies ist die Zweiheit in jeglichem wissenschaftlichen Verfahren, das un­ unterbrochene Selbstbespiegelung des menschlichen Geistes er­ fordert und nicht bloß häufen darf. Mag dann jeder einen anderen Radius ziehen, von welcher Seite er gerade meint, dem Inhalt beizukommen; nur soll er nicht glauben, daß sich ohne Erschauen des Wesens vorher und immerzu, bloß durch angestrebte Häufung und räumliche oder zeitliche Ausfüllung mit Gegenständlichem, das Wissen um den „mystischen Jnnenraum", um das Wesen der Kugel sozusagen zwangsläufig einmal von selbst ergebe. Nicht Häufung und Aneinanderlegung, sondern innerer Zu­ sammenhang, Jnnenraum, Kontinuum. Dieses metaphysische Wissen um das Kontinuum ist es auch, was uns theoretisch etwa eine das Allgemeine, nicht nur das Organische umfassende Entwicklungslehre fordern läßt, wo alle Formgestaltung nur immerwährende Äußerung ein und des­ selben beharrenden Wesens, ein und derselben beharrenden Sub­ stanz von innen her ist und was zugleich ein grundlegendes Be­ denken gegen jede atomistische Physik bildet. Die angenommene endlose Wiederholung des Gleichen gibt es nicht. Nicht erst der moderne Naturphilosoph Bergson hat uns dies eindringlich zu machen gewußt, sondern schon vor hundert Jahren hat es I. F. 2

19

Fries ausgesprochen, daß die Atomistik sogar gegen unsere mathe­ matischen Anschauungen von der Stetigkeit verstoße, daß also die atomistische Physik geradezu das ausschließende Gegenteil des mathematischen Denkens ist, obwohl — ein sonderbares Para­ doxon — sie doch jene Wissenschaft ist, die sozusagen die exakt­ mathematische im strengsten Sinn zu sein meint und scheint. Und welche erkenntnistheoretische Perspektive erbssnet diese noch ganz unberücksichtigt gebliebene Überlegung etwa auf die Astronomie, die heute noch ein atomistisch gebautes Weltall ohne Kontinuität sieht und es so zu verstehen sucht! Immer, wenn wir im gewöhnlichen Sinn Wissenschaft treiben, verhalten wir uns mit Absicht so, als wüßten wir noch gar nichts Bindendes und Ganzes vom Dasein; als sei das, was wir un­ mittelbar wissen, erst noch rechnerisch durch den beobachtenden Wachverstand zu erwerben oder zu rechtfertigen. Wir enthalten uns darum auch aller Deutungen, und in diesem Sinn sprechen wir dann von voraussetzungsloser Forschung. Wir verhalten uns also methodisch so, als glaubten wir nicht an eine innere unmittelbare, sondern nur an eine äußere Beobachtung und eine durch äußere Begriffsbildung vermittelte Erkenntnis. Denn würden wir das Dasein unmittelbar zu erkennen fähig sein, so bliebe nichts mehr zu erklären. Und das würde dem eben hierin lebenden und sich seiner bewußt werdenden Intellekt grundsätzlich wider­ sprechen. Erkenntnis zu haben, ist jedoch Ziel und Zweck des menschlichen Denkens und Strebens. Die Methode kann daher nur Mittel zum Zweck, niemals Selbstzweck sein und kann als solches gewechselt werden. Wissenschaft im eigentlichen Sinn ist also nur Erkenntnis, soweit sie Deutung bringt; andernfalls ist sie Stoffhäufung. Sie ist nicht einmal Erkenntnis, wenn sie nur Begriffe bildet. Denn auch die Begriffe sind nur insoweit Erkenntnis, als dahinter die Wesenheit erschaut wird. Daran kann das, was Wissenschaft hervorbringt, seinem inneren Wert nach gemessen werden. Wir stellen also an die Wissenschaft, damit wir sie als eine solche be­ zeichnen können, die Forderung, daß sie uns den natürlich ge­ sammelten Wissensstoff, die Menge der äußeren Erfahrung zwar

zu Begriffen ordne, aber uns über die Begriffe hinaus erst ju Deutungen führe; daß sie uns das unmittelbar sinnenhafte Er­ fahren, das sie in Begriffe gekleidet hat, wieder durch die Begriffe hindurch zu einer wahren Erkenntnis gedeihen lasse. Das aber kann nur heißen: das Vergängliche werde zum Gleichnis. Und danach ist der innere Wett des Wissens zu beurteilen. Wahre Erkenntnis ist eben ein Erleben, durch das der innere Menschenwert wächst oder, was dasselbe ist: der Mensch zu sich selber, zu seiner wahren Idee oder Aufgabe kommt. Und dies weist ihn über seine Beschränktheit hinaus auf ein Jenseitiges, ein Ewiges. Cs ist ein Irrtum, zu glauben, man könne überhaupt wissenschaftlich beobachten und wissenschaftliche Begriffe bllden, ohne vorher schon jenes innere Erlebnis gehabt zu haben. Ehe der Menschengeist sich entschloß, Wissenschaft zu treiben, ehe es aus seinem unbewußten Inneren herausbrach, so sich zu sehen, daß er überhaupt zu einer wissenschaftlichen Fragestellung kam, hatte er unbewußt tiefe wahre Deutung von seiner Geschichte wie vom Leben des Einzelnen. Ja, wenn nicht unmittelbare Erkenntnis des Daseins in uns lebte, würden wir nie Mensch geworden sein, und nie wäre das Bedürfnis auch nach begrifflicher Wissenschaft aufgestiegen. Wäre nicht unmittelbare Erkenntnis von Anfang an da, so würde der Mensch gar keine Stellung zur Welt haben einnehmen können, die ihn endlich und nebenbei auch zu einer reflexionsmäßigen Wissenschaft und Phllosophie brachte. Noch weniger würde die Menschheit in Mythen und Religionen ein Wissen niedergelegt haben, das an Frische des Erlebens und dauernder Wahrhaftigkeit weit über alles hinausgeht, was die Wissenschaften der einzelnen Kulturen bis jetzt begrifflich fest­ legen konnten und erfunden haben — ein Wissen, das so sehr wirklicher Erkenntnis voll ist, daß wir gerade durch das Wieder­ erfassen des Deutend-Mythischen zu großen, von unserer ratio­ nalen Forschung uns versagt gebliebenen Erkenntnissen kommen können, wenn wir richtig in sie eindringen und sie zu verstehen beginnen. Die rationale Methode allein kann uns nicht die Erkenntnis des Daseins selber bringen, das uns in seinem Wesen eingeboren

und darum unserem Wesen unmittelbar zugängig ist. Entweder hat sie nur die technische Bedeutung, daß wir uns im äußeren, materiellen Dasein mit ihr zurechtfinden, uns Werkzeuge schaffen und damit äußerlich unsere Lage mehr oder weniger beherrschen oder zu beherrschen glauben; oder sie kann erkenntnistheoretisch nur die Aufgabe haben, vom sinnenhaft Wahrgenommeaen und in Begriffe Gekleideten durch diese Begriffe hindurch bewußt auf die jenseitige überrationale Wirklichkeit hinzudevten, somit die bewußte geistige Einengung zu schaffen, aus der erst jene Gesin­ nung, jene Einstellung kommt, in der wir das Äußere als Gleichnis

des Inneren erleben wollen. Nur so ist sie „bedeutsam", und sie ist Erkenntniswert nur insoweit, als sie uns auf das Symbolische des Daseins durch ihr Unvermögen, selber es zu erklären, mit Überzeugung hinweist. Die jetzt allgemein empfundene Leere der vergangenen Epoche der Naturphilosophie bestand nicht so sehr darin, daß sie in ihrer mechanistischen Denkweise Tatsachen zusammentrug und sie in einem oft scholastizistisch — nicht scholastisch — anmutenden Be­ griffssystem niederlegte, was immerhin in seiner Richtung gegen­ über früheren Zeiten vielfach ein Wiffensfortschritt war; sondern darin, daß man sich der metaphysischen Bedingtheit solcher und aller angeblich voraussetzungslosen Forschung und Begriffs­ bildung nicht bewußt blieb, daß man sich einem naiven Realismus hingab, und dies nicht bloß zu heuristischem Zweck, sondern als einer Gesamtweltanschauung, und diese nun sogar an Stelle des religiösen Erlebens treten lassen wollte. Damit aber erniedrigte man den Sinn der Wissenschaft, analog dem, was im ökonomi­ schen Teil des Volkslebens als Proletarisierung der Arbeit sich vollzog. Man suchte die bedingten wissenschaftlichen Wahrheiten zur Wahrheit schlechthin zu erheben und setzte so an Stelle des inneren Erkennens der Natur und des Daseins ein formales äußeres Wissen, ja einen Wissensbarbarismus, wie wohl keine Epoche zuvor. Man gewann so zwar äußere Tatsachenwerte und beherrschte, wie nie zuvor, technisch das Leben und die Natur; doch das wurde durch die falsche Auswertung und Einordnung in das Geistesleben zu Unwerten. Während man die naturhistorischen

Tatsachen und Begriffe als Wahrheit schlechthin handhabte und, statt sie für Scheidemünzen und bloße Anweisungen auf den Goldschatz zu nehmen, ste für den Sina und Wert des Lebens selbst nahm, schuf man eine große Inflation des Geistes. Man hatte vergessen, daß nur auf einem jenseitig gegründeten Boden alles Arbeiten und Erkenneawollen seelischen vnd sittlichen Wert und darum wahren Erkenntniswert erhält. Man verkannte das Hinweisende, das Symbolische alles äußeren Daseins und «ar hilflos preisgegeben dem Widerspruch zwischen einer mechanistischen Fiktion und einer doch immer wieder unbewußt metaphysisch ver­ ankerten Ausdrucksmöglichkeit. Darum sehen wir in der geistigen Struktur der eben verflossenen naturphllosophischen Epoche für den nach Erkenntnis ringenden Menschengeist einen immer un­ erträglicher werdenden Widerspruch klaffen, dessen Beseitigung die entscheidende Aufgabe der kommenden Forschungsepoche und gewiß kein leichter Kampf sein wird. Erkenntnis also kommt weder vom gehäuften Stoff, noch von einer „genügend" lange fortgesetzten äußeren Beobachtung, als vielmehr davon, daß wir an jene Stelle gelangen, wo schon die einzelne, uns zum Bewußtsein kommende Erscheinung den ganzen Schatz innerer Erkenntnis aufzuschließea vermag, damit wir von da aus durch das Äußere hindurch unmittelbar in das eigene

Jnnenwesen, das auch Jnnenwesen des Daseins ist, eindringen. Die Innenwelt als das wirkliche Dasein ist so durch uumittelbare Erkenntnis zugängig am einzelnen Ding. Die Wissenschaft soll äußeres Vielerlei ordnen; dazu dienen die Begriffe. Aber durch dieses Ordnen soll sie das Jnnenwissen erst zum Bewußtsein wecken und bewähren, nicht unterdrücken; nicht sich an seine Stelle setzen als Götzen; nicht glauben, sie schaffe Wissen und Erkenntnis schon von sich aus allein durch Begriffe. Sie soll Dienerin des Blickes auf das Ewige, nicht maßgebende Herrin sein; sonst verfehlt sie ihren Sinn ebenso, wie im Märchen die eitle Magd, die durch Anlegen eines schillernden Kleides glaubte, schon Königin zu sein. Meint sie nur sich, setzt sie ihr Häufen und Sammeln an Statt der Wahrheit, also ein sinnenhaftes Wissen um einzelnes Vielerlei an Statt Erkenntnis, so

ist sie bloß eitel oder schädlich. Verharrt sie aber bewußt in dem Als-ob-Denken, und weiß sie, daß ihre Begriffe nur den Sinn von hindeutenden Marken und Merkzeichen haben, nicht unmittel­ bare Erkenntnis selber sind, so kommt sie mit wahrer Bescheidung dazu, das Geschehen, das Ding als Symbol des einen Daseins zu lieben, und es uns zu innerer Erkenntnis gedeihen zu lassen. Daher ist wahre Wissenschaft und PHUosophie symbolisch gerichtet. Soweit uralte Philosophien und Mythen dies im vollsten Maße waren, stehen sie auch heute noch in ihrem Wert für die innere Erleuchtung des Menschengeistes fruchtbar da, erlauben tiefstes Eindringen in die Wirklichkeit; stehen sie grundsätzlich höher als eine nur technisch-intellektuale Wissenschaft, auch wenn wir mit dieser die größten äußeren Erfolge erringen. Hat es nun wahrhaft symbolisches, also wahrhaft mythisches Erkennen zu allen Zeiten in irgendeiner Form gegeben und sah man in der Wirklichkeit des äußeren Daseins immer wieder symbolisch etwas anderes, so schuf sich auch der Mensch jeweils immer andere Ausdrucksmittel der von ihm erkannten inneren Wirklichkeit. Solche Symbole brauchen nicht bloß Kunstwerke und religiöse Gegenstände im landläufigen Sinn zu sein, sondern es sind auch Philosophien und Wissenschaften; es sind auch die mensch­ lichen Gemeinschaftsbildungen, die Staaten oder Kulturen, die Religionsverbände und Kulte, in denen Symbole einer unnenn­ baren Wirklichkeit teils bewußt, teils unbewußt sich darstellen. Und zuletzt ist es mit der Natur und ihren Formen ebenso: auch sie mögen in ihrer historischen Folge und ihrer historischen Ver­ schiedenheit Symbole sein für eine übergeordnete Wirklichkeit, und die mag sich von Zeitalter zu Zeitalter nicht nur selber anders ausgedrückt, sondern sich auch dem Menschengeist in immer anderer Form dargestellt und zum Bewußtsein gebracht haben. Und jedes Sagen darüber ist Symbolik in irgendeiner Form, jedes Wissen darüber ist — Mythus. So ist vielleicht auch unsere rationale Wis­ senschaft selbst der Mythus vom Rationalen in der Natur, in der Welt. Denn wenn sie nicht einmal das wäre, so würde sie bloß „bedeutungslos" sein. Im Konkreten sich bewegend und daraus sinnenhaft einer

Wirklichkeit gegenüberstehend, die zunächst von außen her be­ gegnet, könnte zuletzt der daran genährte Wissenschaftstrieb selbst als geistige Erscheinung Symbol einer jenseitigen Geistigkeit sein, kraft deren und um deretwillen der Mensch den Wissenschafts­ trieb hat und in fich erlebt. So gesehen schließt wissenschaftliches Wollen und Streben jenseitig gerichtete Verbindlichkeit — Re­ ligion — ein. Und alles das, was eben durch unser Wissenschafts­ treiben hervorgebracht wird, etwa Newtonsche oder Goethesche Farbenwissenschaft, entwicklungsgeschichtliche Biologie oder Atom­ physik sind selbst schon als Denkgebäude Symbol jenseitiger Wirk­ lichkeiten, um die allein es geht. Könnten wir uns dessen dauernd bewußt bleiben, so wäre vielleicht alles gewonnen, worum unser Geist in Kunst und Wissenschaft ringt. Die Natur können wir nach verschiedenen Gesichtspuntten unserer Überlegung und unseres Formgefühls auffaffen und ge­ danklich darstellen. Zunächst, indem wir nach der äußeren Form­ einheit suchen. Wir verfahren morphologisch und stellen das Gleiche als gleich, das Ähnliche als verwandt, das Verschiedene als nicht

verwandt hin. Wir können es auch nach seinem Werden auffassen, indem wir durch Formenreihen uns ein AbbUd der Umwandlung machen. Geschieht dies mit organischen Formen nach einer be­ stimmt gegebenen zeitlichen Reihenfolge, so ist dies die Symbolik der Entwicklungsgeschichte, sei es individuelle, sei es die der Arten. Wir können auch nach einem bestimmten Formgefühl oder nach der Art und Weise, wie sich die Formen in der Natur aneinander­ reihen und auseinander hervorgehen, Grade der Vollkommenheit unterscheiden. Wir kommen so zu dem Begriff der Höherentwick­ lung oder, wenn wir größere oder geringere Vollkommenheit mit den Erfordernissen der Umwelt in Beziehung setzen, zu dem Begriff der organischen Zweckmäßigkeit und Harmonie. Wir können weiter die Gesetzmäßigkeiten des Formendaseins, die Gesetz­ mäßigkeiten der Wandlung feststellen und gelangen dann zu der Frage nach den blldenden Kräften. Wir können aber auch die Formen ästhetisch nehmen, wo sie dann unserem Lebensgefühl entsprechen oder ihm widersprechen. Damit gelangen wir in das nach gewöhnlichem Begriff nur Künstlerische der Naturauffassung

oder in das pathetische Bejahen oder Verneinen, während die zuerst genannten Betrachtungsarten für unsere derzeitige Auf­ fassung die eigentlich „wissenschaftlichen" zu sein scheinen. Je tiefer wir kommen, um so mehr «erden uns die Formen der Natur Rätsel und Geheimnisse; wir gelangen aus der befriedigten Be­ trachtung und dem Wissen zu einem nicht mehr nur verständlich logischen, sondern nun banger und banger werdenden Fragen und fangen an, Geheimnisse und Beziehungen zu ahnen, die «ns vor ganz andere Aspekte stellen als die einfach ästhetische oder wissenschaftliche Betrachtungsweise. Cs kommt das „Mythische" uns zum Bewußtsein. In alledem liegt schon ein teils bewußter, tells unbewußter Kampf, ein Wille zur Bestegung der „Welt­ angl, der sich nun abspielt als immer gewaltiger, immer tiefer, immer inniger werdendes geistiges Wollen und Ringen. Die Formen und Erscheinungen der Natur werden Symbol, werden lebendiger Ausdruck für übergeordnete Wesenheiten, die wir er­ greifen oder schauen wollen. Und zuletzt gelangt der Mensch durch alles hindurch zum Bewußtsein einer jenseitigen Ewigkeit, in der ruhend und erfüllt alles beschlossen liegt. Das, was wir hier geben, wird keine historische Darstellung sein, sondern es ist das, was durch alle Zeiten und Völker hindurch­ geht, durch jedes Einzelleben bald so, bald anders, bald in dieser, bald in anderer Reihenfolge, bald getrübt, bald geklärt, bald bewußt oder unbewußt, bald jubelnd, bald verzweifelt leidend, aber nie gelöst, und fich immer von neuem wechselnd wiederholend. Wir mögen stehen, wo wir wollen; wir mögen dies oder jenes bejahen oder verneinen: immer liegt im Untergrund die ganze große und furchtbare Frage des Daseins als des Symbols der Ewigkeit.

z. Naturhistorie und Mythus. In jedem Geschehen liegt grundsätzlich dreierlei vor: Trans­ zendentes, Seelisch-Lebendiges und Physisch-Kausales. Das, was in diesem Zusammenhang für das Bewußtsein des Menschen erscheint, ist Geschichte, d. h. wahres Geschehen, sei es Menschheits­ geschichte oder Naturgeschichte. Sie kann auf diesen drei Ebenen

erlebt werde«. Sieht man im Physisch-Kausalen oder im Seelisch-

Lebendigen das Transjeadente, so ist jedes Geschehen Symbol; oder es ist Mythus im engeren Sinn. Die Erzählung und Wiedergabe der „Geschichte" in Begriffen, Worten, Bildern und Kulten ist Kunst, Wissenschaft und Religion. Als Kronos von Zeus gestürzt ward,

geschah etwas im Dasein der Welt, was Ausdruck eines Trans­ zendenten war: ein Physisch-Kausales und ein Seelisch-LebendigeS. Das Bewußtsein und die Erzählung davon ist der Mythus vou

Kronos und Zeus. Als die Sintflut kam, geschah etwas in der

Welt als Ausdruck eines Transzendenten in denselben beiden Sphären: der des Physisch-Kausalen und der des Seelisch-Lebendigen. Das ist in der Erinnerung des Menschen der Mythus vom Zorn

Gottes im Zusammenhang mit der Verderbnis des Menschen und der Naturkatastrophe. Als Jesus in Nazareth geboren ward, geschah etwas in eben demselben Zusammenhang. Und so ist es mit allem Geschehen in Natur und Menschenwelt; sie stehen unter dem „Gesetz der inneren Entsprechungen".

An anderer Stelle wird gezeigt, daß Organisches und An­ organisches nicht auseinander hervorgeht, auch nicht, daß das Anorganische die „Ursache" des Organischen ist, sondern „Leben"

ist die Grundtatsache des Daseins, möge es auftreten in jeder erdenklichen Form. Organisches Leben ist eine spezielle Form des allgemeinen „Lebens", ohne das gar nichts bestehen könnte. FreUich ist das, was uns erfahrungsgemäß als Anorganisches

gegeben ist, nicht lebendig im Sinne des Organischen und um­ gekehrt; man darf nicht den empirische» Begriff des einen in den

des anderen hinübergleiten lassen. Und darum hat es ebenso wenig Sinn, Organisches aus Anorganischem vorstellungsgemäß werden zu lassen wie umgekehrt. Beide sind, von einem höheren Gesichtspunkt aus, zwei Wesensseiten ein und desselben „kos­

mischen" Lebens, das in ihnen gleichzeitig sich darstellt.

Daher

kommt es, daß die organische Natur auf die anorganische Um­ welt ebenso eingestellt ist wie die anorganische auf die organische, und daß es eine einseitige Betrachtungsweise des Biologen ist,

nur immer zu fragen, wieso sich das Organismenleben der Um­ welt anpaffe und warum nicht diese ihm. Infolgedessen ist es nach

unserer üblichen Naturlehre auch gar nicht vorstellbar, daß etwa die kosmische Umwälzung der Sintflut in einem inneren Zu­ sammenhang mit dem Organismenwerden stehen könnte.

Und

dennoch sind es nur zwei Seilen derselben inneren Spannung

der Natur, die sich entlud.

Erst die Erkenntnis dieser beiden

Seiten ist ein Wissen um die „Geschichte", und diese Geschichte

ist Mythus, insofern sie Symbol des Jenseitigen ist. Die Sint­ flut war nun jenes kosmische Ereignis, das sich „am Himmel vnd auf der Erde" zutrug als Zerstörung und Brechung der in eine

übertriebene Einseitigkeit des eigenen Formwillens verstrickten

Natur- und Mevschenwelt. Und mit der hierdurch herbeigekom­

menen veränderten „Konstellation" des Kosmischen war auch seine Auswirkung als organische und unorganische Welt in neuer Form festgelegt. Es begann, wie der Mythus erzählt, eine andere Welt. Alles, was geschieht, weil es Manifestation des Jenseitigen ist,

ist „Wunder".

Denn alles fließt aus dem ewigen Schöpfertum

und dieses ist immer unergründlich neuschöpferisch. Von außen gesehen, kausal verstandhaft, ist es äußere Geschichte oder Ablauf;

von innen gesehen, als Symbol, ist es Mythus. So verläuft jedes „Wundes auch kausal-physisch, und dies erkannt und im Einzel­

fall festgestellt zu haben, ist kein Beweis gegen das Mythische im Geschehen und gegen das Wunder. Nicht schließt eines das andere aus; sondern in allem zusammen erst erfüllt sich der Sinn des Geschehens.

Rational-kausales Forschen und Denken entwertet

die Wirklichkeit, wenn es allein Wirklichkeit sehen und geben will, statt den Mythus als die Wahrheit der Geschichte zu sehen, und zu verstehen, daß die erkannte Wahrheit Mythus bleibt.

Wie verhält sich aber die Wirklichkeit des Diesseits zu einer jenseitigen Wirklichkeit?

Sind sie irgendwo oder überhaupt un­

abhängig voneinander zu denken?

Oder ist die Diesseitigkeit

allein wirklich im absoluten Sinn, die jenseitige eine reine Idee

des Menschen, der sich seinen Gott setzt, indem er sich selber spiegelt? Jenseitig heißt nicht unwirklich; sondern es heißt nur: dem logischen Verstand, dem kausal-rationalen Denken und der Wach­ vorstellung unzugänglich. Wäre jene Welt nur eine Illusion, ein

Gefühl, das der Mensch setzt und in das hinein er sich gefühlsmäßig

erweitert und vergrößert, so wäre sie ihm ja in seinem wachen Denken auch verständlich. Da sie dies nicht ist, sondern auf einem irrationalen inneren Erleben beruht, hat sie eben eine andere Realität wie die äußere Welt, die auf äußerem Erleben beruht. Aber sie unterscheiden sich noch in Einem. Sobald jene im inneren Leben ergriffene Welt, deren Gewißheit unmittelbar ist — unmittelbarer als die durch äußere Sinne wahrgenommene — vorgestellt werden soll, ist sie im Zustand und in der Form der Diesseitswelt. Daher die mißverstandene äußerliche Schllderung des „Himmels" in den verschiedenen Religionen. Kann also die jenseitige Welt nur innerlich erschaut werden, so wird sie im Denk­ verstand veräußerlicht erscheinen, und damit erweist sich die vor uns liegende veräußerlichte und mit dem Denkverstand wahr­ genommene Welt selbst als Vergegenständlichung der inneren, jenseitigen. Damit ist jede Diesseitigkeit Abbild oder Symbol. Wo also Diesseitswelt uns gegeben ist, sei es im Denken oder im sinnenhaften Sehen, ist sie notwendig Symbol eines über­ geordneten, in ihr sich spiegelnden Transzendenten, das so in allen möglichen Formen erscheint und in ihnen allen stets und unverbrüchlich gegenwärtig ist. Ohne dieses Transzendente be­ stünde überhaupt nichts, auch keine äußere Welt; weder in unserer Vorstellung, noch als Natur uns gegenüber. Woraus sich ergibt, daß jene höhere Wirklichkeit überhaupt die von uns überall erlebte Wirklichkeit selbst ist, das „Wirkliche" in allem Vorgestellten und Erlebten und gegenständlich Daseienden; womit dieses letztere eben immer und nur Symbol bleibt. Wie kann man also sagen, es schlössen sich Mythus und Geschichte, mythisches und geschicht­ liches Betrachten oder Erkennen der Wirklichkeit aus? Muß denn das Historisch-Rationale der unbedingte Gegensatz zum Mythischen sein, und zwar so sehr, daß jedes Feststellen der Vergangenheit an sich schon „Entwertung" des inneren Sinnes alles Geschehens wäre? Sind Rationales und Mythisches „zwei nebeneinander herlaufende Möglichkeiten" oder nur ein „prästabiliert harmonischer Ablauf von körperlichem und seelischem Geschehen"? Sie sind beide Einheit in dem höheren Begriff des Symbols. Für das göttererfüllte Altertum war der Sonnenball wirkliches 2Y

„biologisches Zentrum" des Helios, unbeschadet der Tatsache, daß der Soanenball auch damals physisch derselbe Körper war wie heute. Und deshalb kann auch in der hisiorischen Vergangenheit oder in der prähistorischen Urwelt der „Körper des Mythischen historisch gesucht «erden. Und wenn er gefunden ist, so ist damit nicht eine „Entwertung" des lebendig mythischen Sehens der Vergangenheit eingetreten, sondern dieses Sehen kann nun ganz unabhängig davon beginnen oder unterlassen werden. Es kommt nur auf den an, der die Geschichte erforscht. Wir können es an den Evangelien vergleichen. Die äußere Lebensgeschichte Jesu, die rational historische Seite seines Lebens, ist Entwertung des innerlich Bedeutsamen nur dort, wo es an Stelle des Wesentlichen, also des jenseitigen heilsgeschichtlichen Ereignisses, das sich im Jesus­ leben symbolisch erfüllt, gesetzt wird. Wenn also die Christenlehre bei der Unterweisung den Wert des Glaubens auf das äußerlich historische Geschehen vom ersten Tempelgang bis Golgatha legt, dann entwertet sie das lebendig Mythische und damit die lebendige Wahrheit. Wenn der Naturforscher die Knochen der fossilen vor­ weltlichen Formen nur anatomisch beschreibt, so entwertet er ihren lebendigen Sinn und ihre mythische Bedeutung. So auch der Geschichtsforscher, der seine empirischen Tatsachen feststellt — so­ lange es eben bei alledem sein Bewenden hat. Man nennt das ganz finngemäß knöchern, und wenn man dies alles nun an Stelle des Lebens und der Lebenswerte setzt, dann kommt es zu der Wissen­ schaftsbarbarei, wie sie unser verflossenes Jahrhundert auf den Gipfel getrieben hat. Man weiß, daß die Menschheit, lange ehe sie es in einzelnen Zeitaltern und Kulturen zu einer Naturwissenschaft oder zu einer abstrakten naturwissenschaftlichen Philosophie brachte, sehr lebendige auch das Alltagsleben durchdringende Gedanken über die Natur hatte, und daß sie in sehr entschiedenen seelischen Beziehungen zur untermenschlichen organischen und anorganischen Form stand. In Mythen, Märchen, Kulten und Zaubereien, sowie in Idolen — angefangen bei denen der Naturvölker bis hin zu den kulti­ vierten Ägyptern und Babyloniern, Chinesen und Inkas, bis zu den klassischen Bildwerken des Altertums und noch in den

gotischen Dom herein — fand dieses Wissen einen höchst ernsten symbolischen Ausdruck mit einer JntenjÜät des Wollens und Erlebens, die uns derzeit verschlossen ist oder wenigstens es zu sein scheint. Könnten wir in irgend etwas diese seelische Erlebnis­ welt wieder öffnen, so erführen wir die Deutung jener Mythen und Symbole, worin sich die Damaligen mit ihrer Natur, ihrer erlebten Formenwelt, ihrer Geschichte auseinandersetzten, die sie nicht wie wir, nur abstrakt wissenschaftlich sahen und Wiedergaben, sondern die sie intuitiv, also seelenhaft erlebten und symbolisch darstellten. Wir kämen so zu einer älteren und „primitiveren" Deutungsweise der organischen Natur zurück, die weder naiv reali­ stisch noch naiv idealistisch wäre und, da sie durch unsere empirisch­ kritische Forschungswelle hindurchgegangen und mit großem äußerem Wissensstoff erfüllt wäre, uns eine neue Ursprünglich­ keit des Naturerlebens brächte, die auch der Wissenschaft ein ver­ ändertes Gesicht geben müßte. Es fragt sich immer, was in allen Naturerlebnissen Wirklich­ keiten sind? Ist nur das wirklich, was wir greifen und denkend verstehen können? Gewiß nicht. Denn gerade die überwältigend­ sten Wirllichketten stehen ungreifbar und unverstanden da. Er­ lebten die früheren Menschen dämonische Tiergestalten oder für unser Denken phantasieübertriebene Naturwesen als Ausdruck einer für ihren Verstand unvollziehbaren jenseitigen Wirklichkeit, so sind diese ebenso objektiv „wirklich" und gegenständlich im buch­ stäblichen Sinn gewesen, wie uns jegliches Erleben einer greif­ baren oder ungreifbaren Wirklichkeit. Es ist möglich und wahr­ scheinlich, daß Zeitalter, die in der Luft Engel und Dämonen sahen, auch die Blumen auf dem Felde in anderer Wesenheit sahen und erlebten als wir; auch die Gebirgsfelsen und die Sterne und die Stürme; sonst würden sie alles dies nicht ebenso mit guten und bösen Gesichten, nicht mit Tiergestalten und Engelswesen belebt und dargestellt haben. Es war der Sinn ihrer Wirklichkeit. Und so wirklich waren ihnen diese Wesenheiten, wie uns die Elektrizität und Schwerkraft, die man auch noch nie anders sah als in Funken und Blitzen und fallenden Körpern oder sich be­ wegenden Planeten, und die doch Wirklichkeiten sind, ohne daß

wir sie greifen und denken können, mögen wir sie mechanisch ver­ werten und fesseln, wie wir wollen. Auch wird man sie später nicht mehr so wie heute sehen und verstehen, und doch sind es objektive Wirklichkeiten, mögen die Anschauungsformen auch wechseln. Auch wir haben, ebenso wie unsere Altvorderen, kein anderes Wissen davon als eine lebendige Empfindung. Es sind Symbole einer nicht weiter zu beredenden Jenseitigkeit. Und dies ist das „Problem der mythischen Realität, das sich aber keines­ wegs nur auf Vergangenes oder gar auf etwas aus der leeren Phantasie Geborenes und Jllusionshaftes erstreckt und bloß in Zeiten möglich war und in Denkweisen, die etwa noch nicht das Glück und die Erleuchtung einer aufklärenden rationalen Wissen­ schaft erlebt hatten; sondern diese mythische Realität steckt in unserem eigenen vermeintlichen Wissen und Deuten um die Natur nicht weniger darin. „Der mythische Bericht", sagt Unger, „ist nicht verständlich, wenn man ihn nicht als die Sprache einer anderen Wirklichkeit begreift. Eine andere Realität aber ist nicht verständlich, wenn es keine Verbindung von ihr zu der gegebenen Wirklichkeit gibt." Diese Verbindung aber liegt meines Erachtens nicht darin, daß wir das Frühere, das wir vornehmlich mythisch nennen, vor dem rationalen Wachverstand in Nichts auflösen, sondern darin, daß wir unser eigenes Denken, soweit es Wissen ist, selbst als eine Form des Mythischen begreifen lernen. Diese Vereinheitlichung aber liegt ganz und gar in der Erkenntnis des Symbolischen. Es ist eine falsche Voraussetzung, daß die Wirklichkeit, also auch die äußere Erscheinung der Natur dieselbe geblieben sei für die Menschen aller Zeiten, und daß es unbedingt feststellbare Formen der Natur gäbe. Es ändert sich für den Menschen die Wirklichkeit. Schon wenn wir die alten BUder etwa des Hoch­ gebirges sehen mit ihrem schreckhaften Aussehen, so war dies eben die dem damaligen Erleben entsprechende Form. Wenn die Schroffheit der Berge für unser Auge und auch objektiv nach der Winkelmaßzahl übertrieben erscheint, und wenn unsere alpinen Bilder in dieser Hinsicht naturgetreuer sind, so zeigt das nur, daß wir uns um ganz andere sinnenhafte Dinge in der Natur bemühen

als die Alten, denen das Erlebnis nnd damtt die reale Natur­ erscheinung eines Berges etwas anderes war als «ns. Menschen nach uns werden ihr Erlebnis der Berge in wieder andere Dar­ stellungsformen kleiden, wobei der objektiv richtige Geländewinkel vielleicht wiederum keine Rolle spielen und ihnen gegenstandslos für die Erscheinung sein wird. So auch mit den Tieren. Wenn uns etwa der Löwe in der Klause des heiligen Hieronymus Dürers ganz und gar naturungetreu vorkommt, so spricht er unmittelbar vortrefflich die Ruhe in der Seele des Menschen aus, in dessen Innerem das Tier jetzt schläft, auch wenn es mit ihm und in ihm lebt. Hier ist in der mildesten Form noch der Rest des Mythus der Verbundenheit von Tier und Mensch, von Tier- und Menschen­ seele berührt, der einmal in mythenbildender Zeit wirkliche Wissen­ schaft um das Dämonisch-Naturhaste war und als die „Zoologie" oder „Tierpsychologie" einer Zeit gelten muß, die vom Wesen des Tieres ebenfalls, und zwar überwältigende „empirische" Wirklich­ keitserkenntnis hatte. Vielleicht wird man unsere naturwissenschaftliche Literatur in künftigen Jahrhunderten noch bewundern und ihr mit Recht nachrühmen, ste habe es wie keine vor ihr verstanden, eine formale Wiedergabe der lebenden Naturgegenstände, der Tiere und Pflanzen zu liefern; aber man wird, weil man anderen Sinn in der Natur suchen und daher sehen wird, vielleicht auf diese Dar­ stellung gar keinen Wert mehr legen, gar nicht mehr etwas Wich­ tiges in ihr erblicken und statt dessen andere Wesensseiten wahr­ nehmen und dann diese zur Darstellung bringen, «ährend unsere Auffassung nicht mehr als „objekiv" empfunden wird, denn ste entspricht dann nicht mehr dem in Wirüichkeit und als Wirklich­ keit gesehenen Objett. In der Kunst begegnen wir solchem Wechsel des Wirttichkeitssehens immerfort, und was uns das letzte Jahr­ hundert bis zur Stunde alles darin bot, gibt uns einen Begriff, von dem, was wohl auch der Naturforschung bevorsteht. Will man also nicht nur vom Standpunkt des „Zoologen" aus die Welt und das Dasein erkennen, sondern von jenem Stand­ punkt aus, der sich bemüht, dem Sinn der Natur für jede Zeit gerecht zu werden, also auch den Mythus zu erleben, und mitzu-

erkennen, was frühere Epochen erkannt yaben, so wird man eben nicht den Maßstab moderner Schnlwissenschast aalegen dürfen, sondern wird versuchen müssen, mit einem wahrhaft historischen Gefühl dem nachzuspüren, was jede Epoche mit der Natur wollte und erlebte, wie und als was sie ihr ganz gegenständlich-wirklich erschien, was die Bedeutung ihrer Formen und ihrer wahren Verwandtschaft mit dem Menschen sei. Im Historischen liegt das Mythische stets offen da für den, der sehen kann. Das Leben und Geschehen und was es förderte, «ar allezeit gleich bedeutsam, weder hochwertiger noch minder­ wertiger als jetzt, wo wir es im Augenblick erleben, und es ist in seinen zurückgelasseven Formen als seinen Symbolen, seinen äußeren Symbolen auch immer wieder zu erfassen. Es mag Tat­ sache sein, daß des Lebens Formen und das Bewußtsein davon immer wieder anders und oft für unser jetziges Verstehen höchst fremdartig waren; aber in diesen Formen, in ihrem toten Rest und Dasein liegt doch der Abglanz jenes damaligen Lebens, jenes naturhaften oder menschlichen Innenlebens, das im tiefsten Grund mit dem unseren eines ist und dem »achzuspüren, es von innen her zu erfassen und in sich nachzuerschaffen, erst wirklich sinnvolle historische oder naturhistorische Forschung ist. Nicht alles, was geschieht oder geschah, erscheint uns frellich als bedeutsame Geschichte, als symbolwertige Sache im lebendig sich darstellenden Sinn; aber doch bloß deshalb nicht, weil wir als Geschichte immer das bezeichnen, was unserem in bestimmter Weise augenblicklich eingestellten Sinn den Gang zu einem Ziel und den Ausdruck für subjektive Verbundenheit bedeutet. Ver­ stünden wir von allem den inneren Sinn, so würden wir nach Geschichte im äußeren Sinn an sich gar nicht mehr fragen, weil letzten Endes alles auf dasselbe Eine hinweist, dem es entspringt. So ist es auch mit den Erscheinungen der Natur überhaupt, so mit der Entwicklungsgeschichte des Lebens im besonderen. Wir kommen an die Natur von außen her. Da müssen wir zunächst die Gestaltungen, wie sie uns unmittelbar gegeben sind, und den äußeren Ablauf des Geschehens beobachten. Aber was hülfe uns dieses äußere Wissen, das bestenfalls nur ein formal geordnetes

Registrieren wäre, wenn es nicht immerfort getragen wäre von der Frage nach dem Sinn, nach dem eigentlichen, dem inneren, dem wirklich wirkenden Zusammenhang, also nach den schaffende» Kräften, wofür alle äußere Erscheinung Ausdruck, Symbol ist? Im äußeren Ablaufeinen Sinn zu erfassen — das erst ist Kenntnis der darin sich auswirkenden „Geschichte". Tiefstes Wissen, tief­ stes Schauen ist deshalb uninteressiert im höheren Sinn an äußerer Geschichte als solcher, die nun, äußerlich betrachtet, wirklich eine Entwertung des wahren Lebendigen, also des nur mythisch darin Erkennbaren ist. Nun gibt es zweifellos Zeiten oder phllosophische und wissen­ schaftliche Bemühungen, welche die rein sinnenhafte, die gegen­ ständliche, die kausal erfahrbare Wirklichkeit als die schlechthin mögliche und einzige Form der Wirttichkeit und damit als etwas unabhängig vom erkennenden Subjekt und unabhängig von transzendenter Bedeutung Existierendes nahmen; die nicht die lebendige Innerlichkeit sahen oder sehen wollten, die sich darin unausgesetzt manifestiert und die erlebt wird als transzendente „Idee", deren Symbol die Erscheinungen erst sind. Und trotzdem landete man immer wieder, ohne es zu wissen und zu «ollen, am Gestade der Metaphysik. Denn es zeigte sich jedesmal, daß das Existente, in Telle und Atome aufgelöst und danach wieder aus den Tellen und Atomen aufgebaut, lediglich eine in die Denkform von Quantitäten, bewegten Körpern und Raumentfernungen übersetzte Systematisierung war und so zu einer Art allegoriehafter Symbolik wurde. Jedoch nun nicht einer Symbolik, die inneres Leben unmittelbar zum Ausdruck brachte, sondern larvenhaft war, also das Wahre zwar enthielt und im Sinn hatte, aber wollend verbarg. Eine echte Symbolik, die nicht verbirgt, sondern offenbart, ist jedoch nur möglich, wenn man das Innerlich, Lebendige in allem Dasein, auch dem stofflich anorganischen, erlebt und so erst aus der relativen zur unmittelbaren Wirklichkeit ge­ langt. Da alles nun derart „lebendig" ist, so muß notwendig jedes Bestreben, es zu erkennen, auch zuletzt zu wahrer Symbolik, also zum echten Mythus führen. Setzt man nun gewaltsam und fiktiv irgendein Dasein als ein schlechthin Lebloses, so kommt man

3

35

zu jener falschen, unmythischen Symbolik, als welche etwa die heutige Naturhisiorie erscheint. Es gibt aber in Wirklichkeit kein Stoffatom in jenem quantitativen und nur räumlichen Sinn endloser Wiederholung gleicher minimalster Stofflichkeit ohne Leben, sondern das gedachte und gesuchte Atom, der Baustein der Welt, muß immer Monade, d. i. kleinste ideale und reale Lebenseiaheit sein. Denn alles Dasein ist immer Neuschöpfvag in jedem Augenblick und alles untersteht dem Principium individuationis, selbst der „rohe Stoff". Während also die Jnnenschau und die vermittelst der Innen­ schau gewonnene Gewißheit — Jnnenschau ist nie persönliche Phantasie, sondern unabwendbare Gewißheit — im einzelnen Ding den unmittelbar lebendigen Ausdruck und damit stets das lebendig erschaffene Symbol mit seinem ihm immanenten Jen­ seitigen ergreift, ist die Symbolik der bloß rationalen, der kausal­ mechanischen und nur abstrahierenden Denkweise eine allegoriehafte, indem sie die aus dem Äußerlichen gewonnenen Begriffe,

nicht aber Einsichten an Stelle eines Erlebens setzt. Sie bleibt, um mit Schopenhauer zu reden, in dem Betrachten inhaltsleerer, also geradezu gespensterhafter Formen stecken, bleibt innerhalb der Sphäre jener Existenz, die keine immanente Bedeutung, keinen inneren Sinn hat und kennt. Macht man sich aber klar, daß „innerer Sinn" nichts anderes sagen will, als das wahre Werden und Sein verstehen, und macht man sich weiter Kar, daß Sinn und Bedeutung aller Wissenschaft doch zuletzt nur darin liegen kann, das innere Leben, die innere Verwandtschaft alles Daseins zu erfassen, dann darf man sagen, daß unsere Wissen­ schaft als solche bisher wesentlich „technische" Bedeutung hat, aber keine lebendige Erkenntnis der Wahrheit ist, sei das nun Naturwissenschaft und Medizin, Historie und Philologie oder Psychologie und Rechtskunde; daß ein Verharren in diesem Zustand mithin ein Zeichen seelischer Barbarei, nicht seelischer Kultur ist. Das aber bedeutet gewiß Entwertung des lebendigen Geschehens. Doch hatte dieses weltanschauliche Verhalten den ungeheueren Wert, über sich hinaus zu weisen und uns historisches und naturhistorisches Tatsachen- und Formenwissen zu bescheren, 36

wie es in solcher Breite wohl keine Epoche vor nns besaß. Tat­ sachen und Formen aber sind Symbole des Mythischen, wenn man eS zuletzt recht versteht. Das wird uns jetzt wieder bewußt. Und damit ist gesagt, daß das Mythische gerade wegen dieses au sich erdrückenden tötenden Formenwissens, auch wo es wirklich unserem Bewußtsein verloren ging, erst recht umfassender als je auferstehen kann. Denn es liegt ja unverändert im Wesen des Menschen, immer wieder dahin jurückzukehren, well er das Un­ aussprechbare nur im Symbol zu erleben vermag. So läßt sich nun im Nachfolgenden eine größere Freiheit von der geschichtlich zu eng begrenzten Vorstellung des mythischen Denkens und Erlebens gewinnen. Wir dürfen aufrecht erhalten, daß es zwar urgeschichtlich andere geistige und seelische Anstände einer anders gearteten Menschheit gab, wo das, was uns heute rational erscheint, wesentlich mythisch erschien; daß aber das mythische Sehen und Wissen dennoch immer ein unzeitliches ist, das in jeder Epoche da ist, aber in jeder Epoche mit Unterbrechung in immer neuen Formen wiederkehrt und nie aufgehört hat, sich immer wieder in neuem symbolischen Erkennen oder Gestalten kundzutun. Vielleicht ist das „Romantik"? Wenn man das Wort so in Anführungszeichen setzt, könnte der sattsam bekannte Dorwnrf des Nichtwissenschaftlichen, des nur Gefühlsmäßigen, womöglich des Schwärmerischen, also des innerlich Unechten darin liegen. Aber anch die nüchterne „Wissenschaft" ist ja nur ein bestimmtes, meta­ physisch gebundenes Weltbewnßtsein, ist ein gewisses mythisches Wollen und ein gewisser mythischer Glaube an eine den ganzen Menschen mit einschließende rationale Wirklichkeit. „Wenn der romantische Mensch", sagt Baeumler, „in die Zeitferne hinunter­ blickt, so betrachtet er nicht etwas ihm Fremdes wie ein BUd, sondern er lauscht dem Rauschen des eigenen Blutes, dem Tosen jenes gewaltigen Stromes, der ihn als eine kleine Welle selber mit fortträgt. Dieses Verhältnis zur Vergangenheit wird durch das Wort »Überlieferung' gekennzeichnet. Überlieferung, wie sie der romantische Mensch versteht, bedeutet nicht ein intellektuelles Weitergeben, sondern lebendigen Zusammenhang. Alle echte über-

lieferung bewegt sich in Symbolen... Der Geschichtschreiber der symbolischen Ävßernngen der Menschheit wird GeschichtsphUosoph

sein. Er wird nicht bemüht sein, «historische Tatsachen' festjnstellen, Einjelheiten anszngraben und chronologisch zu ordnen, Motivier rangen und Ursachenreihen zu entdecken, sondern er wird große symbolische Zusammenhänge auf Grund unscheinbarer Tatsachen der Überlieferung und mit Hilfe unverständlicher Mythen zu finden wissen, ... weil die Einheit des Lebens nur im Mythus erfaßt werden kann." Und diese Romantik wollen wir suchen und für sie sogar den Anspruch auf echte Wissenschaft erheben. Denn echte Wissenschaft kann nur symbolisch denken. Kann der Mensch in seinem ganzen Denken und Erleben, selbst in der scheinbar so objektiven modernen Wissenschaft dem Mythi­ schen gar nicht entgehen, so kann doch die Einstellung des „Willens zum Mythischen" eine verschiedene fein; im einen Fall bejahend, im anderen verneinend. Und nur dieser Wille, nicht die Aussagen über die Welt, macht die Wesensverschiedenheit der Epochen deS Geisteslebens aus. Gewiß war in keiner Zeit daS Erleben weniger vom „Willen zum Mythischen" beseelt als in unserer soeben ver, gangenen. Sie hatte, das kann man wohl kurz so sagen, den aus­ gesprochenen Willen, mit dem seelenhast-lebendigen Verhältnis des Menschen zur Natur, ja zu seinem eigenen Dasein möglichst gründlich aufzuräumen, um das Objektive an Stelle dessen zu setzen. Aber sie wußte nicht, daß dieses für sich allein weder existiert noch zu denken ist. Mythisch ist aber das innere Einheitserleben von Mensch und Objekt, was uns erst die wirkliche Welt aus­ macht. Und symbolisch ist es, wenn man dies zum Ausdruck zu bringen vermag. Wo nun dieses mythisch-symbolische Wissen und Handeln verblaßt, wo die Natur entgöttert, das Leben entseelt ist, da ist das Dasein dem Menschen nicht mehr bedeutsam, nicht mehr helliges Geheimnis, weil er es sich selbst nicht mehr ist. Wenn der „Turmbau von Babel an Stelle der Metaphysik" tritt, wenn an Stelle der Kultur das technische Können, an Stelle des Mythus die einseitig verstandesmäßige Philosophie, wenn die Instinkte zu rationalen Überlegungen werden, wenn das Erleben der Natur 38

sich wandelt zu Naturwissenschaften; wenn Dichtung und ge­ staltende Kunst ästhetisch werden, statt heroisch aus der Tiefe zu brechen und Religionen zu gebären — dann ist die Zeit angebrochen, wo der Wille zum Mythus erloschen ist und wo man glaubt, das Dasein sei mit den Mitteln des Wachverstandes zu erforschen und zu verwerfen oder zu rechtfertigen. Man erlebt es nicht mehr als Symbol des Ewigen, des Unbedingten. Heute nun wird das Gefühl lebendig, daß wir mit innerer Notwendigkeit zu einem neuen und doch im Wesen unveränderten Weltbild kommen, „in dem das äußere Geschehen als Abblld des wesentlich Wirklichen und Wirksamen erscheint. Wir kommen zu einem symbolhaften Auffassen des Geschehens um uns, in der Natur und unseres eigenen Daseins". Was aber lebendig wieder­ kommend gefühlt wird, muß noch lebendig sein. Dies allein schon zeigt uns, daß Mythisches nicht nur in grauer Vergangenheit, sondern stets lebendig gegenwärtig ist, wenn auch zeitweise verhüllt und verkannt. Findet sich auch eine bestimmte Form des mythi­ schen Erlebens nur ehemals und kann es, einem bestimmten Zeit­ geist und einer bestimmten Verfassung des Menschen angehörend, gewiß nicht wieder in derselben Weise belebt und erlebt werden, so kann man doch davon sagen. Man kann wissen, daß es viele Atten des einen inneren Erlebens gibt und in anderen Zeiten, bei anderen Völkern gewiß auch wieder geben wirb. Fragt man aber, worin alle Formen des Mythischen und damit des wahren geschichtlichen Sinnes beschlossen liegen, von wo sie innerlich ihren Ausgang nehmen, wo sie gemeinsam ihre nährende Wurzel haben und auf was sie letzten Endes alle zielen, so möchte ich antwotten: Mythisches Erleben bedeutet immer wieder symbolisches Erkennen oder, was dasselbe ist: Spiegelung des Daseins in seiner Etvigkeitsbedeutung.

Entwicklungslehre

i. Die organische Zweckmäßigkeit. Spricht man heute vom Sinn und Wesen der organischen Form, so muß man zuerst bei der schulmäßigen Naturforschung in die Lehre gehen. Denn wer wollte leugnen, daß gerade fle in den letzten zwei Jahrhunderten uns eine unübersehbare Fülle wundervoll geordneten und in Begriffe gekleideten Stoffes dar­ gebracht hat, der uns über die äußeren Zustände der Welt, über die Arten der Energien, über die Mannigfaltigkeit der Lebens, bedtngungen und die Vielgestaltigkeit der Lebewesen, worin sich die Gattungen und Typen dem verwunderten Auge darstellen, in einer Weise unterrichtet hat, wie es wohl keinem früheren Zeit­ alter zutell ward. Die Naturforschung hat es uns auch gegeben, in eine ungeheuere Zeitferne von Jahrmillionen zurückzublicken, in eine lange erdgeschichtliche Vergangenheit, in veränderte Natur, zustände, um im Zusammenhang damit dort abermals eines Reichtums an Lebensverhältnissev und Lebewesen gewahr zu werden, der unsere Vorstellung vom geophysischen und biologischen Reich mit immer weiterem Inhalt erfüllte und uns Gestaltungen Wiedererstehen ließ, für die wir unter den heutigen kein Beispiel haben. Die Frucht dieser Erkenntnis war die Lehre von der natürlichen Entwicklung der Formen, womit man nun endlich den Weg ge­ funden zu haben glaubte, die organischen Gestalten zu verstehen. Durch eingehende Vergleiche von Form zu Form, durch Dar­ stellung von Formumwandlungen in biologischen Reihen, durch Entdeckung von Übergangstypen, durch eine genaue zeitliche Sin, tellung des in Epochen der Erdgeschichte abgelaufenen Bildungs, ganges und durch eine bis ins einzelne gehende anatomische Untersuchung der Lebewesen und ihrer Funktionen hatte man diese Entwicklungsgeschichte bis zu einem solchen Grad von Wahr­ scheinlichkeit und teilweise mit solcher Anschaulichkeit dargetan.

daß es jetzt kaum möglich scheint, auch anderen Betrachtungsarten, anderen Deutungsmöglichkeiten wieder Gehör ju verschaffen. Doch eines ist auffallend: während wir solche Triumphe natur, geschichtlicher Wissensvermehrung durch eine stch immer mehr steigernde Kenntnis der äußeren Formen und FormbUdungsabläufe feierten, war der liefere Sinn der organischen Gestalt weniger als je Gegenstand des Nachdenkens; ja er verschwand schließlich hinter wesenlosen Abstraktionen, die man für die Wirk­ lichkeit nahm. In eine Begriffssprache, die der Forderung nach mechanistischer Auffassung und Darstellung des Lebens gerecht werden sollte, hat die eben vergangene Wiffeaschaftsepoche ihre Erkenntnisse und Erlebnisse gekleidet. Während man durch eine rein begrifflich rationale Auffassung das Leben seines wesentlichen Inhaltes entleerte, schuf man dennoch Worte wie Entwicklung, Typus, Urform, Anpassung, Vererbung, Art, Gattung, die den ganzen uralten Schatz metaphysischer Erkenntnis in sich trugen und ihn unversehrt bewahrten. Und während man sie für neue, nie dagewesene mechanistische Naturerkenntniffe hielt, erkannte man nicht, daß man aus der Metaphysik noch gar nicht heraus­ gekommen war, und daß uns trotz aller mechanistisch und ratio­ nal gerichteten Absicht ein unbewußtes, aber sinnvoll führendes Sprachgefühl von selbst metaphysisch denken und reden ließ. So erhielt und vermehrte sich jenes uralte Gut, verhüllt in einer „Tatsachenforschung", mit der man es aufgelöst zu haben glaubte. Man steht mit der neueren Naturwissenschaft daher vor der merkwürdigen Geisteserscheinung, daß eine Epoche mit vollem Bewußtsein und aller Macht versucht, die jenseitige Bedeutung der Naturbegebnisse zu beseitigen und damit gegen ihre Absicht alles dazu vorbereitet, gerade diese Anschauungsart von neuem zu bestätigen. So wurden die Begriffe des Lebens, während sie ent, seelt werden sollten, von einer anderen Seite her mit neuem Inhalt erfüllt, so daß wir es der soeben vollendeten, die Welt in einen Mechanismus aufzulösen trachtenden naturphllosophischen Epoche gerade wieder verdanken, daß wir sie selbst mit neuem Leben erfüllen und zu einer vertiefteren Auffassung des Natur-

geschehens, insbesondere der Bildung organischer Formen durch sie hindurch zurückkehren können. Das Wesen des Organismus als Naturgebilde ist, daß er biologisch zweckmäßig ist. Die Frage: Wie entsteht organisch-zweck­ mäßige Form? ist gleichbedeutend mit der Frage: Wie entsteht organische Form überhaupt und wie wandelt sie sich? Organis­ mus sein heißt also, naturhistorisch gesehen, sich in einer gegebenen oder sich verändernden Umwelt biologisch zweckmäßig verhalten, also auch biologisch zweckmäßig gestaltet sein und sich in jedem Augenblick durch Wandlung, durch Aufnahme von Stoffen aus dieser Umwelt und Abgabe an sie, durch Aufnahme von Reizen und deren Einwirkungen, durch dementsprechendes Reagieren sich als Individuum wie als Art gegenüber der Umwelt behaupten, seinen inneren lebendigen Zusammenhang wahren und sich durch stete zweckentsprechende Änderung und Wandlung immer wieder anpassen. Organische Form ist also in diesem Sinn unter allen Umständen immer biologisch zweckmäßige Form. Selbst wenn die Reaktion des Jndividualkörpers auf die Einflüsse und Erforder­ nisse der Umwelt nicht gelingt, so ist damit nicht die Zweckmäßig­ keit des Organischen aufgehoben, sondern es ist ihr nur eine Grenze gezogen, über die an der bestimmten Stelle das organische Gestalten nicht hinauskommt, unterliegt, krank wird oder zugrunde geht. Wie ist aber nun diese organische Zweckmäßigkeit zu ver­ stehen? Obgleich uns, sagt Kant in der „Kritik der Urteilskraft", die organischen Körper notwendigerweise so erscheinen, als wären sie einem vorausgenommenen Zweck gemäß organisiert, so be­ rechtigt uns dies doch nicht, es objektiv anzunehmen. Unser In­ tellekt kann sich die Entstehung von Zweckmäßigem nur als von außen geschehend, analog der menschlichen Zwecksetzung klar­ machen; dies genügt wohl zum Verständnis der Tatsache einer Übereinstimmung aller Teile analog der Maschine; aber keines­ wegs darf dies Erklärungsgrund werden. Denn so sehr Maschine nicht Organismus ist, ist auch menschlich gesetzte Zweckmäßigkeit nicht naturgeschaffene. Und ein anderer Philosoph, E. Hartmann, sagt: Bei der modernen Naturwissenschaft ist der Zweckbegriff mit Recht in Verruf geraten, weil er so oft als bequemes Aushilfs-

mittel der faulen Vernunft gedient hat, die sich das Suchen nach den wirkenden „Ursachen" damit ersparte; dann auch, well in dem bloß mit der Materie beschäftigten Teil der Naturforschung aller, dings Zwecke, als eine geistige Ursache, ausgeschlossen bleiben mußten. Daß die Zweckmäßigkeit als gegebene Tatsache besteht, ist ja nie angejweifelt worden, wenigstens nicht innerhalb der Naturwissenschaft selbst; aber es fragt sich nur, in welchem Sinn man sie auffaßt oder erklärt. Und wenn, so schließt er, einerseits ein so großer und ehrlicher Geist wie Spinoza den Zweck zu leugnen imstande ist; wenn dagegen selbst der Freigeist Voltaire die Zwecke aus der Natur nicht ganz wegzuleugnen wagte, so muß es doch ein eigen Ding damit sein. Sehen wir uns die organische Zweckmäßigkeit in ihren biologi­ schen Äußerungsformen an. Vollkommen zweckmäßig ist eine Form, die alles hat, was die Idee ihres Lebens in biologischer Hinsicht fordert. Die biologische Idee einer Naturform aber ge­ winnen wir einerseits aus der Betrachtung ihrer uns gegebenen gegenständlichen Wirklichkeit, andererseits aus einer Beziehung der­ selben auf die Lebenslage und die Lebenserfordernisse, wodurch die Form „angepaßt" erscheint. So verstehen wir den Löwen als Raubtier. Und danach können wir seinen Körperbau, seine Organe im einzelnen, und umgekehrt wieder seine Lebensbetätigung, den Gebrauch seiner Organe bewerten und verstehen. Es hat einmal ein Naturforscher das Löwenskelett ein auf Beine gestelltes Gebiß genannt. Biologisch mag dies eine kurze treffende Bezeichnung des Wesens eines Löwenskelettes und der darin liegenden Voll­ endung des Raubtierwesens sein. Wenn wir aus dieser Raubtier­ hastigkeit auch die Klauen, die Sprunggelenke, die Form der Zähne, die zu deren aller Betätigung entsprechend entwickelten Muskeln, daraus wieder die diesen Muskeln als Ansatz dienenden Übrigen Skeletteigentümlichkeiten ableiten, so kommen wir schließ­ lich zu tausend ineinander greifenden Zweckmäßigkeiten, deren Zusammenfassung und organische Einheit der Löwenkörper als Raubtierkörper ist. Dieses Jneinandergreifen und Bewahren der Einheit des biologisch Notwendigen, aus der heraus das Ganze besteht, dieser Zusammenhang zwischen Lebensweise, Lebens46

bestimmvng unt> Form — das ist es, was man die Zweckmäßig, keil, die biologische vollkommene Anpassvag, die Vollkommenheit der organischen Gestalt nennt. Der solcherart bestehende innere Zusammenhang der Telle des Organismus, die, obwohl Telle, dennoch immer miteinander ein untrennbares Ganjes bllden, ist aber nicht nur ein statisches Verhältnis, das einmal gegeben ist; sondern diese innere Ge­ bundenheit ermöglicht es, daß bei notwendig oder zufällig ein­ getretener Veränderung irgendeines Telles avch andere Telle fich ändern. Das Verhältnis ist also dynamisch; es bezieht sich nicht nur auf die starre Form, wie etwa die Zweckmäßigkeit eines Gebäudes; sondern es bezieht sich auch auf die Funktion. Ein Organismus ist eben daS, was stets funktioniert und stets sich ändert, um seine Form zu erhalten. Die Korrelation ist das, was einen Organismus zum Organismus macht. Dabei ergeben sich die wunderbarsten Beziehnngen, welche zeigen, daß auch daun noch in den Tellen Bezugsgefühl zum Ganzen herrscht, wenn die Telle verpflanzt werden. Allbekannt ist die Tatsache, daß nach schief gehellten Knochen­ brüchen sich die Bällchen der Knochenstruktur so vmordnen, wie es den nun einsetzenden andersartigen Zug- und Druckbean­ spruchungen gemäß ist. Entsprechend müssen sich auch die Muskeln umbllden, muß sich auch die Blutzufuhr und die Nervenbahn ändern. Das alles mag sich dann auch in mehr oder minder bemerklichen Veränderungen des Herzens, welches das Blut herbringt, dann des Rückenmarkes äußern, worin die Nerven wurzeln und woher die Bewegungen ihren Antrieb haben. Könn­ ten wir den Organismus solcherweise ins feinste hinein erfor­ schen, so würben wir merken, wie der schief gehellte Knochenbruch auch den ganzen Körper und alle seine Funktionen um irgend etwas, und zwar zweckvoll bezogen auf diesen schief gehellten Knochenbruch, verändert hat. Auch die Hormone sind solche korrelativ eingeordneten Stoffe, und sie verdanken entsprechenden Ausscheidungsvorgängen ihre Wirkung. So verbrauchen die Muskeln bei ihrer Bewegung Sauer­ stoff. Im Blut entsteht deshalb Kohlensäure, well stärkere Der,

brennnng einsetzt. Die Kohlensäure wirkt als Reiz auf das nervöse Atemzentrum im Rückenmark. Die Lunge hat die Aufgabe, die Kohlensäure abzustoßen. Da bei stärkerer Muskeltätigkeit die gewöhnliche Funktion der Lunge nicht alles bewältigt, wirkt der Kohleasäurereiz nun stimulierend auf das Rückenmark und steigert die Lungentätigkeit. Dieses Organ arbeitet nun stärker und kann infolgedessen mehr Kohlensäure abstoßen. Es wird mehr Sauer­ stoff als bisher ausgenommen, mehr Kohlensäure ausgeatmet, und dadurch kommt der Haushalt des Organismus alsbald wieder ins Gleichgewicht. Das alles ist eine Beschreibung, keine Erklärung. Denn erNärt wäre der Vorgang erst, wenn wir von innen her jene Lebendigkeit erfassen oder schauen könnten, unter deren Herrschaft eben die Bewegungs- und Stoffblldungen über­ haupt in einer Einheit zusammenarbeiten und die alles har­ monisch, nicht zufällig ablaufen läßt. Wir können auf einen Organismus auch abgetrennte Telle, sei es von anderen Organismen, sei es von ihm selbst, aufpflanzen. Die Pfropfung bei Pflanzen ist bekannt. Transplantationen von Fleischtellen an andere Stellen, um etwa Wunden zum Aus­ hellen zu bringen, sind gleicher Art. Aber stets ist Voraussetzung, daß das so Transplantierte auch mit dem Organismus zu einem lebendigen Ganzen verwächst, in innere Korrelation mit ihm tritt und so seine Lebendigkeit zum lebendigen Teil des anderen werden läßt; sonst fällt es ab ober fault. Ein anderes Beispiel. Normalerweise werden beim Säugetier zur Zeit der Schwangerschaft die Milchdrüsen entwickelt und füllen sich nach der Entbindung rasch mit Milch. Entfernt man zuvor eine Mllchdrüse operativ und bringt man sie an eine andere Körperstelle, wo man sie einwachsen läßt, so zeigt sie in der folgen­ den Schwangerschaft ebenfalls ein Wachstum und gibt nach der Entbindung gleichfalls Milch. Da alle Nerven- und Zuleitungs­ bahnen bei ihrer Wegnahme ebenfalls gelöst waren, so müssen es innere korrelative Beziehungen sein, durch welche sie sich an einer anderen Stelle dem Organismus wieder lebendig einfügen kann; ihre eigene Sekretion muß durch Hormone, die während der Schwangerschaft und Entbindung aktiv werden, bewirkt sein. 48

Man sieht daran, daß anch das einjelne Organ eine gewisse Selbständigkeit hat; es trägt sojusagen seine Aufgabe, sein Wesen, seine biologische Idee in sich und verwirklicht sie, wenn ihm die Bedingungen hierfür gegeben sind. Das ist die spezifische Wirkung der Organe. Das Auge etwa gibt Lichtempfindungen, wenn man es stößt. Reinke sagt einmal mir Recht: diese Zweckmäßigkeit ist etwas, was nicht von uns in das Organ hineingedichtet wird, sondern was unser Sinn aus ihm herausliest; denn ein Auge ist zum Sehen und für die Lichtaufnahme da, ein Ohr zum Hören und also eine Milchdrüse auch zum MUchgeben. Man hat anch beobachtet, daß Organe und Körperteile für einander bis zu einem gewissen Grad eintreten können. So lassen fich Gehirnoperationen machen, bei denen nach Entfernung eines bestimmten Gefühls­ oder Funktionszentrums allmählich deren Tätigkeit fich auf anderem Wege wieder einstellt, indem andere Gehirntelle fie übernehmen und ausbilden, in denen fie offenbar latent vorhan­ den ist. Also nicht nur die Form ist zweckmäßig, auch die Zusammen­ hänge find es. Beim gesunden Organismus sind alle Teile auf­ einander eingestellt. Gesundsein heißt eben dieses. Ändert stch irgend etwas, so tritt das Übrige erneut durch Umblldung gleich­ zeitig oder bald danach wieder in richtige Beziehung dazu. Das Wunderbare an allen korrelativen Umwandlungen, sagt Wolff, ist nicht so sehr die Tatsache, daß die Änderung der einen Eigen­ schaft die der anderen nach sich zieht, sondern daß auch diese sekundären Änderungen wieder statisch-dynamisch zweckentsprechend erscheinen. Jeder Organismus ist durch und durch sozusagen eine einzige Korrelation. Der innere lebendige Zusammenhang des Organismus bedingt es also, daß eine Umwandlung und Anpassung sich vollziehen kann. Korrelativ und also zweckmäßig ist die Verschiebung der Formblldung während jedes Individual­ lebens; korrelativ und also zweckmäßig ist jede Wandlung unter veränderten Einflüssen, ist jede Hellung nach einer Verletzung, wobei es im Wesen der Sache gleichgültig ist, ob dem Organismus die neu geforderte Anpassung gelingt oder nicht. Die Richtung, das Streben, das organische „Wollen" ist stets da, sonst wäre es kein

organischer Vorgang. Und das alles ist, von avßen besehen, Wandlung im Zusammenhang mit äußeren Lebensbedingungen. Auch das Werden eines Organismus in seiner Ontogenie ist ein stetes organisches Bllden und Wachsen in der Richtung auf die dcreinstige Betätigung des Organismus in der Außenwelt. Vielfach treten Organismen ins Leben, die noch keineswegs so ausgeblldet sind, um als fertige Tiere zu gelten. Dennoch sind sie auch dann schon funktionsfähig in ihrer Umwelt und auch hierfür durchaus geeignet, wie etwa das Kaulquappenstadium des Frosches, das eher einer Fischform zu vergleichen ist und alsbald Kiemen und Ruderschwanz verliert, um sich zu einem normalen vierbeinigen und luvgenatmenden Frosch umzubUden. Aller­ dings lebt auch der Frosch noch ebenso wie die Kaulquappe im Wasser, eigentlich unter genau den gleichen Lebensumständen; aber er kann auch aufs Land gehen und hat damit seinen Lebens­ bezirk erweitert. Es ist daher nicht unbedingt notwendig, mit der üblichen naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise jede äußere Formumwandlung als Anpassung an äußere Lebensverhältnisse oder sogar an geänderte Lebensverhältnisse, verursacht durch solche, zu deuten. Es ist vielmehr, wie wir gerade am Beispiel des Frosches sehen, auch so, daß der Organismus sich eigengesetzlich umwandelt und dann eben anders lebt. Können wir auch den umgewandelten Organismus wieder in bezug auf seine Lebensweise zweckmäßig finden, wie den erwachsenen Frosch, so ist diese Zweckmäßigkeit ersichtlich doch nicht nur als Neuanpassung zu beurteilen, sondern als eine Formbildung, die von sich aus geschieht und der ent­ sprechend nachher das Tier lebt. Neue Grundformen, neue Organisationsgrundlagen aber ent­ stehen nicht als äußere Anpassung eines schon Vorhandenen, nicht als äußere Summierung oder Verschiebung und äußere körperliche Veränderungen, sondern sind von innen her zu ver­ stehen als neuer Typus der Organisation, als neue Urform, als neue biologische Idee. Als solche sind sie außen in dem phy­ sischen Naturdasein in einer oder vielen Arten da, und diese Arten erst sind biologisch zu deuten als Anpassungen und Abwandlungen eines idealen und doch innerlich wirklichen Typus. Diese nun

füllen die leeren Lebensplätze aus, oder sie verdrängen andere, sie treten in den Kampf ums Dasein ein und unterliegen oder überflügeln die bisherigen oder die mit ihnen gleichzeitig neu erscheinenden und wandeln sich um in Anpassung an äußere Lebensbedingungen. Es gibt daher äußere und innere Zweckmäßigkeit der organi­ schen Form. Die innere Zweckmäßigkeit ist Typus, ist immanent dem Typus; sie liegt in ihm und er ist es selbst; sie ist sein Wesen. Es ist jene Zweckmäßigkeit der typenhaften Organisation, von der man nicht sagen kann, sie sei besser oder schlechter als eine andere, die uns niederer oder höher erscheint. Die äußere Zweck­ mäßigkeit dagegen ist jene, die sich als gegenständliche Ausbildung der wirklichen äußeren Naturform darstellt und nun biologisch beurteilt werden kann im Hinblick auf die äußeren Lebensverhält­ nisse, denen gegenüber ihr organischer Träger als besser oder weniger gut oder schlecht angepaßt und zum Kampf ums Dasein geeigneter oder ungeeigneter erscheint. Dieses letztere ist Zweck­ mäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit der organischen Gestalt in Be­ ziehung zur Umwelt. Und hierbei gibt es sowohl zweckmäßige wie weniger zweckmäßige, vielleicht sogar ausgesprochen unzweck­ mäßige Gestaltungen. Man spricht in der Paläontologie von „fehl­ geschlagenen Anpassungsbildungen", wenn sich mehrere Formen in der gleichen Richtung auf eine bestimmte Lebensweise und damit auf eine bestimmte Körperform in der Zeitenfolge dar­ stellen, von denen einzelne günstiger für das Anpassungsziel ent­ wickelt sind als andere, die nun im Kampf ums Dasein zurück­ bleiben, wobei das Passendste überlebt. Hier gilt im wahren Sinn das Darwinische Gesetz vom Überleben der günstigeren Form,

jedoch nicht in dem Sinn, daß durch „zufällige" Variation in unendlich langer Zeit das Bessere durch Häufung zustande kommt, sondern dadurch, daß neue Grundformen im Zeitstrom heraus­ treten und dann anderen über- oder unterlegen sind. Die äußere Zweckmäßigkeit mag nach der einen oder anderen naturwissenschaftlichen Theorie begriffen werden; aber das kann sich nur beziehen auf das Variieren innerhalb der Arten; dagegen nicht auf die Organisationsgrundlage, den inneren Typus. 4

5i

Daß etwa das heutige Pferd nur einen Huf hat, ist als biologische Anpassung an eine bestimmte Lebensweise darstellbar, auch wenn die Einhufigkeit sich spontan entwickelt haben sollte und erst auf Grund dieser Eigenschaft das einhufige Pferd so lebt, wie es lebt. Daß das erdgeschichtlich frühere Pferd einmal vier oder fünf Zehen hatte und Sohlengänger auf weichem Waldboden war, kann ebenso verstanden und dargestellt werden. Aber daß über­ haupt eine typenhafte Organisation da ist, auf Grund deren zuerst ein mehrzehiges sohlevgängerisches, sodann ein einhufig springen­ des Pferd möglich war und körperlich sich gestalten konnte — das eben ist der unnennbare, ungreifbare Typus, die innere zweck­ mäßige Wirklichkeit. Ermöglicht ist alles nur dadurch, daß eine innere Urblldekrast sich im Organismus manifestiert und vermöge der inneren Har­ monie nun äußerlich als geordnete Zweckmäßigkeit erscheint. Da wir aber kein einziges Organisches kennen, das nicht zugleich Indi­ viduum wäre oder wenigstens in der Anlage das Individuum zeigt, wie etwa die Stöcke der Staatsquallen und Hydrozoen, so ist jenes Urbildewesen schon in der alten Naturphilosophie als Principium individuationis bezeichnet worden. Es ist ein Ur­ phänomen, eine Qualitas occulta. Und eben vermöge dieses transzendenten Prinzips ist der Organismus stets ein individueller Organismus, ist er als Organismus zweckmäßig, kann er das Wesen seiner Gattung, seines Typus in einem sinnvollen Zu­ sammenhang mit einer Außenwelt darsiellen, kann er in einer den Erfordernissen des äußeren Lebens entsprechenden Form und Formwandlung immer wieder lebendig sich entwickelnde Idee sein. Es gibt also in den organischen Formen eine immanente, eine an sich bestehende Zweckmäßigkeit; das ist die innere „Form", die Idee. Die andere Art der Zweckmäßigkeit des Organischen ist jene, welche als Anpassungserscheinung, also Abwandlung in bezug auf die Umwelt, auf die Lebenserfordernisse, somit als äußere Form zu verstehen ist. Diese können wir in ihrem Werden entwicklvngsgeschichtlich durch Formenreihen, sei es nebeneinander bestehender Arten, sei es in der Geschichte aufeinander folgender Arten, veranschaulichen. Aber wir können es nicht veranschaulichen.

warum und wieso überhaupt eine Grundorganisation, eine ideale Urform von innerer Wirklichkeit als Lebenspotenj der Typen besteht und flch nun in abgewandelten konkreten Formen manifestiert. Auf ihr beruht es, daß überhaupt „Organismus" da ist. Es ist jene Zweckmäßigkeit, von der man nicht sagen kann, im einen Fall sei sie besser oder biologisch vortellhafter, im anderen Fall weniger gut; sondern der innere Typus, das lebendige Urblld ist an sich da, und das Besser oder Schlechter, das Primi­ tiver oder Spezialisierter kann sich nur auf die Abwandlung der Formen bereits gegebener Typen beziehen. Daß, wie gezeigt, das heutige Pferd nur einen Huf, also einen reduzierten und stell gestellten Fuß hat, wodurch es ein besserer Springer ist als sein ältester Vorläufer am Anfang der Tertiärzeit, der noch einen vierzehigen plantigraden Fuß hatte und eher für das Betreten des weichen Waldbodens als für das Springen im freien Gelände geeignet war, das läßt sich innerhalb des Typus als bessere oder geringere Anpassung, als zweckmäßiger oder unzweckmäßiger biologisch begreifen und so auch sinngemäß charakterisieren. Daß aber überhaupt eine Organisation da ist, die zuerst in Form eines vierzehigen, dann in anderen Gestalten und zuletzt als einzehiges springendes Pferd erscheint und sich umbilden, sich durch Jahr­ hunderttausende hindurch in immer andere Form gießen konnte; daß ein solcher Organisationsverlauf durch lange Abwandlungen hindurch korrelativ zusammenhält und in der steten Vielzahl der Gestaltungen dennoch Einheit ist, der eine innere bestimmende Formpotenz, ein lebendiges Urbild zugrunde liegt, das sich in allen den vielen wechselnden Gestalten manifestiert — das eben ist ein auf Äußeres Unbeziehbares, aus Äußerem nicht zu Ver­

stehendes, ist ungreifbar, ist Typus, ist Idee. Und diese innere Harmonie ist das, was sich als Prinzip der Organisauon dar­ stellt, was sich nun, gesehen in den konkreten Formen, als bio­ logische Zweckmäßigkeit erweist. So kündigt, um mit Schopenhauer zu reden, die ausnahmslose Zweckmäßigkeit, die offenkundige Absichtlichkeit in allen Teilen des tierischen Organismus zu deutlich an, daß hier nicht zufällig und planlos wirkende Naturkräfte, sondern ein „Wille" tätig

gewesen sei, als daß es je im Ernst hätte verkannt werden können. Nur setzte man den Willen nicht dahin, wo man ihn fand, sondern ließ ihn von Erkenntnis — analog dem menschlichen Denkverstand — abhängig sein. Infolgedessen schrieb man die Entstehung einer Tierform einem fremden Willen, statt ihr selber zu, und kam damit zu einem deistischen Zweckbegriff. Ebenso machte man es mit der Welt als Ganzem. Aber weder die Welt als Ganzes, noch die Organismen sind mit Hllfe des Intellektes, folglich nicht von außen gemacht, sondern von innen. Der Intellekt ist uns allein aus der höheren animalischen Natur bekannt, als ein durchaus sekundäres und untergeordnetes Prinzip, ein Produkt spätesten Ursprungs. Zweckmäßigkeit des Organischen ist gleichbedeutend mit Organismus überhaupt, und Organismus heißt objektivierter „Wille zum Dasein", also Symbol sein. Es fragt sich nun: Wer „will" in der Natur das Zweckmäßige? Ein bewußter Verstand, ein Intellekt, wie der unsere, nicht. Also etwa, um mit Hartmann zu reden: Das „Unbewußte". Das Unbewußte ist nicht das, was Bewußtsein verloren hat; sonst wäre es ausgelöschter Intellekt, also negativ bestimmt. Es ist aber ein Positives, ein wirklich Seiendes, Schaffendes. Es ist das, was seinem Wesen nach überhaupt grundsätzlich etwas anderes als Bewußtsein ist und von dem der Intellekt ebenso Zweckprodukt ist wie jeder Organismus überhaupt. Wir sagen also mit Bergson: Die uns zweckmäßig erscheinenden Natur­ objekte dürfen wir nicht wie nach Menschensinn entstanden deuten. Das Leben geht seinen Weg, der nicht als zweckgesetzt im Ver­ standessinn gelten kann; es ist nur so, als ob ein Zweck gesetzt wäre. Der in der Verwirklichung des Zweckmäßigen erscheinende kausale Ablauf ist nichts anderes als die Richtung des Geschehens selbst, das so abläuft oder sich darstellt, als ob es Zweck wäre. Das innere schaffende Wesen aber lebt in „erhabener Zwecklosigkeit. Indem wir nun das Verflossene des Ablaufes rückwärts betrachten und die Vergangenheit im Licht der Gegenwart sehen mit zurück­ gewandtem Blick, erscheint sie uns erst nachträglich in den Formen des Denkverstandes, mithin als Zweckmäßigkeit. Zweckmäßig­ keit ist, von innen gesehen, also Typus, Idee; von außen gesehen

Anpassung, also Organismus. Dieser ist daher lebendige Mani­ festation der ihm immanenten Idee, des ihm immanenten Typus, der in ihm symbolisch sich verwirklichenden Idee. Typus ist nicht Zweckmäßigkeit im äußeren Sinn, sondern es liegt in seinem Wesen, „sinnvoll an sich" zu sein. Das ist Schöpfertum. So ent­ steht natürlich-organische Zweckmäßigkeit nicht von außen — man mag es naturhistorisch noch so logisch darstellen —, sondern sie ist in jedem Augenblick neue Objektivierung der Idee, des im­ manenten Typus, also immer „Urzeugung".

2. Die Idee der Urzeugung. Wo hat das Leben seinen Anfang genommen? Was ist die irdische „Urform", wenn das naturhistorische Leben auf unserem Planeten überhaupt einheitlich ist? Wann und wie hat das Or­ ganische seinen ersten physisch gestalteten Körper zur Darstellung bringen können, und wann ist — das bedeutet dasselbe — das erste Individuum ins Leben getreten? Oder, um anders zu ftagen: Was ist, naturhistorisch gesehen, primitivstes Leben? Hat es irgend etwas mit einem „Übergang" von Anorganisch in Organisch zu tun?

Stellen wir uns ein primitivstes Lebewesen einmal vor und legen wir ihm nur das bei, was wir im allermindesten Sinn nach unserer Erfahrung ihm beilegen dürfen, um es gerade eben noch als Lebewesen und nicht mehr bloß als materiell-anorganisches Schleimklümpchen ansprechen zu dürfen, dann hätten wir das, was die Naturwissenschaft sich unter dem durch Urzeugung ent­ standenen ersten Lebewesen dachte und das sie sogar eine Zeitlang in gelatinösen Niederschlägen auf dem Meeresboden der Jetzt­ zeit noch vermutete. Ein solches Wesen müßte einen aus organi­ scher Substanz bestehenden Körper besitzen, der, sei er noch so form­ los, einen gewissen inneren, mehr oder weniger dumpf individuellen Zusammenhang haben muß, um sich als Lebewesen korrelativ in sich zu empfinden. Es muß auch die primitivsten Empfindungen zur Nahrungsaufnahme und was -amit zusammenhängt, haben, selbst wenn es die Nahrungsstoffe nur osmotisch aufnimmt oder dadurch, daß seine ungeformte Protoplasmamasse regellos ein

Nahrungskörperchen umschließt, verdaut und den Rest wieder abstößt. Es muß unbewußte Empfindung dafür haben, wann es Nahrung braucht und wann es genug hat. Es muß assimilieren und nicht nur quantitativ, wie ein Kristall oder ein chemischer Niederschlag, wachsen können. Sein Körper muß innerlich in Kor­ relation sein, womit aller Stoffwechsel, alle Formveränderung, jede innere und äußere Bewegung, sein ganzes Verhalten geregelt wird — kurz es muß ein Individuum sein. Es kommt dazu die Möglichkeit des wenn auch zufälligen Variierens der Form, was auch eine innerlich bestehende Korrelation voraussetzt; es kommt selbst bei einfachster Fortpflanzung durch Tellung eine erbmäßige Regenerationsfähigkeit beider Teile dazu, was alles schon einen organisch-lebendigen Apparat voraussetzt, also einen Organismus und keinen „nahezu anorganischen" Mechanismus. Es wäre die gesuchte Urform der Deszendenzlehre, gegenständlich genommen, unter allen Umständen ein vollständiger Organismus, wäre der Ausdruck dessen, was wir auch auf der höchsten Stufe des Organischen „Leben" nennen. Es wäre die Urform sogar schon ein spezialisiertes, angepaßtes Leben, wäre sie äußerlich auch von noch so primitiver Art, also etwa nur ern Schleimklümpchen ohne starren Formumriß gewesen. Und wir haben dabei noch nicht einmal gefragt, wie sich denn so ein primitives Wesen danach weiterentwickeln konnte, um im Verlauf der Zeit ein Wurm, ein Fisch, ein Säugetier, ein Mensch zu werden? Entweder steckte die Fähigkeit dazu von Anfang an schon in ihm und entwickelte sich mit innerer Notwendigkeit; oder es hat sich das von der Naturwissen­ schaft angenommene unglaubliche Wunder vollzogen, daß sich aus jener Urform durch den Zufall der äußeren Einflüsse im Darwinschen Sinn in Jahrmillionen ein Mollusk, ein Krebs und allerhand anderes gebildet habe. Auf jeden Fall hat man in der Urform ein bestimmtes Lebewesen mit festumschriebener Eniwicklungsbestimmtheit — und dann ist es eben kein „primitives" Lebewesen, in Anorganisches übergehend, gewesen. Wir kommen also mit solchem äußerlichen Suchen um keinen Schritt über das leere Gedankenspiel hinaus. Das Erscheine» der Urform ist, wie Schopenhauer sagt, eine Qualitas occulta,

56

ein Urphänomen, das zusammenfällt mit dem für das rationale Denken unergründlichen Wesen des Lebens selbst. War die Ur# form im Sinn des spekulierenden Deszendenztheoretikers ein neutrales Wesen, aus dem alles und nichts hätte werden können, ein Gefäß ohne Inhalt, der erst von außen sollte hineingefüllt werden, so müßte sie, well ohne Differenzierung und Anpassung, geradezu keine« Körper gehabt haben. Denn jeder organische Körper muß, um nur eine Stunde Bestand zu haben, schon irgendwie auf bestimmte Lebensverhältnisse hin spezialisiert, also in sich korrelativ sehr verwickelt und sinngemäß reaktionsfähig in vielerlei Hinsicht sein, somit eine Entwicklung schon hinter sich haben oder plötzlich durch ein Schöpfungsakt entstanden sein. Gibt man mit der Naturwissenschaft dieses letztere aber nicht zu, so bleibt nur das andere Gedankenwunder einer Urform, die speziali­ siert da ist, ohne Entwicklung, ohne Schöpfung. Man kommt also aus dem „Wunder", so oder so, nicht heraus, solange man naiv­ realistischer Naturforscher ist. Wenn man von der Unhaltbarkeit einer rein mechanistischen Auffassung der Lebensvorgänge, also auch des Urzeugungsproblems durchdrungen ist, aber doch nicht in den Kern des Ge­ schehens im Organischen, das sich stets als Körper und Seele zugleich darstellt, eingedrungen ist, so kommt es zu jener sowohl erkenntnistheoretisch wie auch empirisch unhaltbaren Vorstellung, daß es im Organischen auch noch andere, dem Anorganischen übergeordnete Dominantkräfte gäbe, die unter Beeindruckung, Lenkung und Leitung das Anorganische zu Organischem umschaffen. Es ist dies die vitalistische Lehre, die wesentlich so argumentiert: Weil die labllen chemischen Verbindungen, wie sie der lebende Organismus hat, nicht von selbst aus stabllen anorganischen entstehen und weil zu ihrer Konstituierung höchst verwickelte Be­ dingungen nötig sind, die sie auch vor dem sofortigen Zerfall schützen, so konnte auch keine mechanisch-chemische Zeugung des Lebens auf der Erde stattfinden, sondern es mußten noch andere Kräfte hinzutreten. Dies nun ist eine Zweckmäßigkeitslehre, gegen die sich nicht nur die mechanistisch eingestellte Biologie selber wehrt, sondern

auch jede Denk- und Forschungsrichtung, der es um das Wesen der Natur, insbesondere der organischen Natur zu tun ist. Denn die vitalistische Lehre ist selbst nur verhüllter wissenschaftlicher Materialismus, sagt diesem also nichts wesentlich Neues und setzt nur einen Deus ex machina in das Getriebe des organischen Geschehens ein. Denn es ist ja nicht so, daß irgendwo als eigene Welt ein Außenmechanisches existiert, das irgendwann einmal auf das vorhandene Körperliche wirkt; sondern das „Innere" und „Äußere" sind zwei in der Natur nie zu trennende Erscheinungs­

und Erlebensformen einer einheitlichen und als solche weder körperlich noch seelischen Wirklichkeit, von uns im Wachbewußtsein jedoch nur zweiseitig begriffen und erlebt. Zerfällt für unser reflektierendes Bewußtsein die Natur stets in diese Dualität des Erlebtwerdens, so darf man dem doch nicht dadurch Rechnung tragen, daß man es durch eine mechanistische Teleologie über­ brückt, wie es der Vitalismus tut; sondern man muß das Tiefere suchen und gelangt damit an das Gleichnishafte nicht nur des Daseins und seiner Formen, sondern auch des Erkennens, des Begrifflichen. Hat man aber erfaßt, daß alles Geschehen und alle greifbare Daseinsform, sei sie seelisch oder körperlich, organisch oder anorganisch, eben Ausdruck, Manifestation, Symbol ist einer Innenseite, einer einheitlichen Innenwelt, die sich für unseren Intellekt, also nach „außen", zweiseitig darstellt, so wird man auch die schaffenden Potenzen im Belebten nicht als etwas in einem bestimmten Augenblick Hinzugekommenes auffassen wollen. Körper und Seele, Stoff und Leben wirken nicht auf­ einander, weder mechanisch noch im Sinn einer vitalistischen Teleologie; ste sind auch nicht zwei Geschehnisse, die in ihrem Ablauf parellel gestellt sind; sondern sie sind zwei Erlebens­ seiten des Wachbewußtseins. Wenn man diese Erkenntnis ver­ dinglicht, statt zu wissen, daß wir nur übertragen reden können, so kommt es eben zu jener naiv realistischen Naturteleologie, die im Organischen Vitalismus heißt, und die wir verwerfen, nicht weil wir einer mechanistischen Naturlehre das Wort reden, son­ dern gerade, weil wir die Physis als Manifestation eines ihr im­ manenten Jenseitigen erkennen, das niemals als ein zweites Phy58

sisches hereinbricht, also weder mechanistisch noch vitalistisch erklärt «erden darf. Die Unmöglichkeit erkennend, irgendeine Dorstellungsbrücke vom Anorganischen jum Organischen unmittelbar ju schlagen und unzufrieden mit Formeln, die keinen lebendigen Inhalt haben, suchte nun Fechner die Schwierigkeit eines Urzeugungs­ problems, das vom Anorganischen geradewegs zum Organischen führen will, etwa folgendermaßen zu beseitigen. Einerlei, sagt er, ob man die ersten organischen Wesen allerniederster Art in Einzahl oder in Vielzahl, an einem Ort oder an vielen Orten entstanden denkt: keinesfalls darf man annehmen, es seien die Anlagen und Kombinationen des Stoffes, die zu ihnen führten, bezuglos im Erdball zuvor dagewesen und hätten sich ohne Abhängigkeits­ verhältnis zu ihm entwickelt. Denn wenn die Entwicklung dessen, was wir organisch nennen, jemals aus dem, was wir anorganisch

nennen, vor sich ging, so kann eine solche materielle Folgeerschei­ nung nur auf einer ebenso materiellen Vorstufe beruht haben. Es kann keine Frage sein, daß das erstmalige Erscheinen der organi­ schen Struktur und Bewegung im Erdstoss in einer vorausgehen­ den und zu ihr führenden Stoffkombination bedingt war; und so eben weiter, immer weiter rückwärts bis zur ersten Entstehung und Absonderung des Erdballs aus dem Ursonnenstoff und immer weiter zurück ins Endlos-Unendliche. Denn naturwissenschaftlich denken heißt, kein Zustand des Stoffes ist ohne vorausgehenden Zustand denkbar. Es kommt ja für den Naturforscher nichts aus dem Ungefähr. So mag die innere Notwendigkeit, die Schritt um Schritt zu Lebewesen der Erde führte, endlos unendlich schon in jedem nur denkbaren früheren und frühesten und immer noch früheren Zustand des Weltalls enthalten gewesen sein. Fechner wirft von seinem Standpunkt aus noch die Frage auf, ob denn diese gegenseitige Abdifferenzierung schon erloschen und heute keine Urzeugung mehr möglich sei? Ist die heutige Schöpfung schon die letzte, oder könnten Urformen immer noch hinzuentstehen? Fechner dachte noch im alten Sinn an Erdrevolutionen, wodurch epochenweise neue Universalblldungen von Leben nötig geworden wären. Aber abgesehen von dieser anfechtbaren Form seiner Vor-

sie klung, meint er wesentlich dies: Ist heute noch in der Erde ein Stoffzustaad vorhanden, der so beschaffen ist, daß er noch die Lebenspotevz mitenthält, also noch nicht in jenem abgespaltenen Sinn bloß anorganisch ist? Und er beantwortet die Frage folgen­ dermaßen: Das Erdinnere unter der festen Kruste ist heute noch in einem unfertigen Zustand. Es ist gutflüsstg und also ähnlich oder gleich dem Urzustand, den der Erdball einst auch äußerlich hatte, als von ihm organische Form noch nicht ausgeschieden war. So habe das Erdinnere noch einen Mutterstock von Stoffanord­ nungen, die bei einem künftigen Durchbruch durch die Schale die geeigneten Bedingungen zur Entwicklung organischer GebUde liefern könnten, womit Urzeugung noch einmal einträte. Mit dieser seiner Lehre hat Fechner eine lebendige Anschauung des Planeten und letztlich des Gesamtweltalls zu begründen ver­ sucht. Er ist in der Folgerichtigkeit, mit der er darin verfährt, vorblldlich. Aber man wird Fechner deshalb nicht folgen können, weil das in der Idee des Kosmisch-Lebendigen steckende meta­ physische Wesen nicht physisch formuliert werden darf. Es ist, um zuerst einmal wegzuräumen, entscheidend, zu wissen, daß die mechanistische Urzeugungslehre gegen Fechner nichts Ent­ scheidendes vorzubringen hatte, und daß seine Lehre den Vita­ lismus ebenso ausschließt, wie den bloßen Materialismus. Ob es beseelte Atome, wie bei Haeckel, oder energetische Potenzen oder dominante Kräfte, wie bei den Vitalisten, sind, welche die Bauelemente des Lebendigen sein oder sie zusammenfügen sollen: jedenfalls müssen alle Anschauungen zuletzt „das Lebendige" schon in den weder organisch noch anorganischen Urzustand mit hereinnehmen, wenn sie uns nicht leere Hülsen statt des Lebens geben wollen. Jedenfalls entspricht es einer rationalen natur­ historischen Auffassung besser. Organisches und Anorganisches im Erdkörper mit Fechner als zwei ursprünglich einheitliche, dann aneinander abdifferenzierte, jedoch nie absolut voneinander los­ gelöste Naturzustände aufzufassen und so das Leben dem kosmi­ schen Stoffe selbst a limine zuzuschreiben, als zu behaupten, es hätten sich aus dem anorganischen Stoffzustand einmal „zufällig" Lebewesen niederster Art entwickelt. Im übrigen ist beides —

diese letztere inhaltsleere und jene erstere philosophisch tiefere Lehre — Hylozoismus und geht auf die Lebensbeseelung des All unbedingt zurück. Wollen wir überhaupt naturwissenschaftlich zu einem Ziel in der Urzeugungsfrage kommen, dann legen wir alles von An­ fang an in den kosmischen und in den tellurisch geballten Stoff hinein und erklären damit das Organische nicht als eine einfache Linienverlängerung des Anorganischen, sondern als Differenzie­ rung des „Urstoffes" nach zwei Richtungen, die nie voneinander abfallen, sondern immer, trotz ihrer äußeren Zweiheit, innere Einheit bleiben, beide also Manifestation eines übergeordneten Einen und vorher unter anderer Daseinsform Gewesenen sind. Wir dürfen also naturwissenschaftlich mindestens sagen: Das Organische ist ebenso alt und ursprünglich wie der anorganische Stoffzustand der Erde. Als es noch keine individuelle Lebensform gab, war auch der anorganische Zustand in dem heute von uns erkennbaren Sinn als solcher noch nicht da, sondern ein anderer Gesamtzustand des Erdkörpers, ein anderer kosmischer Zustand, in dem alles anders konstituiert war als später und heute. Leben ist daher nicht auf der Grundlage des Anorganischen ent­ standen, sondern zu gleicher Zeit mit ihm, aus derselben Quelle mit ihm und als Gegenseite zu ihm. Wenn man es so zu Ende denkt, möchte Fechners Idee in der Grundanlage wohl das Bedeutendste sein, was im Zeitalter der Naturwissenschaft zur Urzeugungsfrage gesagt worden ist. Ist so von einer Urzeugung im Sinn des Übergangs der an­ organischen in organische Struktur weder materialistisch noch vitalistisch eine zureichende Vorstellung zu gewinnen und endet deshalb das ganze Urzeugungsproblem in Metaphysik, so nicht minder die Frage nach der Urform selbst. Zuerst, als man die Urform morphologisch zu konstruieren suchte, wie Goethe es mit der Urpflanze unternahm, mußte man beim rein Jdeenhaften bleiben. Goethe sah spät ein, daß man die Urform nicht in der Natur als gegenständliches Wesen würde finden können. Danach, als die realistische Abstammungslehre sie konstruieren wollte, trug man sich mit der Erwartung, sie vielleicht fossil als zeit-

lich ältestes Lebewesen in den Schichten der Erde zu entdecken. Alsbald mußte man erkennen, daß dies schon wegen der Unmög­ lichkeit fossiler Erhaltung eines solchen Urwesens, das ja wohl noch keine Hartteile besitzen durfte, nie gelingen würde. So kehrte man im darwinistischen Zeitalter wieder zur formalen Konstruk­ tion zurück, immer dabei den Begriff Urform zeitlich-gegenständ­ lich nehmend und als primitive individuelle Anfangsgestalt setzend. Man huldigte so einem uns heute geradezu kindlich vor­ kommenden naiven Realismus in einer Frage, die eben durch und durch metaphysisch ist. Don jeher war es eine, schon in alten Mythen lebendige Über­ zeugung, daß das Leben auf der Erde durch die Gewalten und Kräfte des Kosmos aus dem Schoß der Erde geweckt worden sei. In moderner Form hat dieser Mythus in der Naturwissen­ schaft des darwinistischen Zeitalters seine Auferstehung erlebt, wo nach Abkühlung der Erde aus anorganischer Materie in den Urmeeren die organische Substanz nach der chemischen Affinität der Stoffe von selbst sich geblldet haben sollte. Es lag dieser Idee die richtige Fragestellung zugrunde: Wie konnte sich auf der Erde das erste Leben regen? Das ganze vergangene naturwissenschaftliche Zeitalter war nun auf den Gedanken eingestellt, sowohl in der Erdgeschichte wie in der Biologie keine anderen Naturkräfte zuzu­ lassen als die, deren Wirken auch unmittelbar jetzt vor unseren Augen zu beobachten ist. Es war darum unlogisch, für die Entstehung des ersten Lebewesens auf der Erde hypothetisch ein Hervorgehen aus anorganischer Materie zu fordern. Demgegen­ über war es geradezu ein Rückschritt, dessen sich doch wohl nur Physiker, nicht Biologen schuldig machen konnten, wenn Helm­ holtz und Thomson an eine Keimübertragung durch Meteoriten zur Erde dachten. Später hat Arrhenius, ohne Beifall zu finden, diese Idee noch einmal aufgegriffen. Danach ermögliche die Leichtigkeit der Jnfusorienkeime, die vielleicht auch auf anderen Wellkörpern vorhanden seien, ihr Aufsteigen in höchste Luft­ schichten. Streifen Meteore vorbei, die dabei nicht glühend wer­ den, so möchten sie nicht selten solche Keime mitgerissen haben, die in deren Ritzen und Vertiefungen auch gegen die Kälte des Welt-

raums unbeeinflußt blieben und auf einem Nachbarstern, dessen Atmosphäre wieder nur gestreift wurde, abgeladen werden konnten, ju Boden sanken, um so Anlaß zur Entwicklung des Lebens dort zu sein, entsprechend also auch auf unserer Erde. Selbst wenn man diese erdacht günstigen Umstände bei der Masse der Meteore da und dort gelten lassen wollte, wäre doch zu bedenken, daß jeder Organismus auf seinen Atmosphärendruck eingestellt ist. Gelangt er aus diesem in den luftleeren Weltraum, so wird er durch seinen eigenen inneren Gegendruck zugrunde gehen. Aber selbst wenn auch dieser Einwand hinfällig wäre, würde uns jene Hypothese doch nur zeigen, wie stch das Leben von anderswoher auf unseren Planeten verpflanzte. Es wäre gewiß keine innerlich befriedigende Lösung der Frage, ob hier oder sonst irgendwo auch einmal Urzeugung stattfand, ein Problem, bei dem es stch doch wesentlich darum dreht, an dem uns allenfalls zugänglichen Paradigma der irdischen Urzeugung die Frage nach dem Wesen der lebendigen spontanen Formgestaltung und Form­ entstehung in der anorganischen Materie seiner Aufhellung zu­ zuführen, eine Frage, die plump naturwissenschaftlich gestellt, lautet: Ist einmal aus anorganischem Stoff Organisches ent­ standen oder ist vielleicht zu diesem Stoff und seinen inneren Kräften etwas hinzugebracht worden, was aus ihm Organisches gemacht hat? Die Urzeugungsfrage ist also identisch mit der im vorigen Kapitel erörterten Frage: Wie entsteht zweckmäßige Form? Denn wir sahen, daß dies heißt: Wie entsteht organische Form überhaupt? Und dort erkannten wir, daß sie Objektivierung des immanenten Typus, der immanenten Idee ist. Von diesem Ergebnis aus gesehen, und verglichen mit der Ergebnislosigkeit jener Vorstellung, daß sich die lebendige Form zufällig und nach den Gesetzen der chemischen Affinität irgendwann aus anorgani­ scher Materie gebildet habe, erscheinen uns nun erst die alten jonischen Naturphilosophen mit ihrer Beurteilung der Frage in einem hellen Licht. Wenn man ihre Lehre, so gut es uns möglich ist, verstehen will, muß man zuvor'bei Aristoteles, als dem Späteren und uns

6z

gedanklich Näherstehenden hereinsehen. Er war Materialist, je­ doch nur scheinbar, insofern er, wie Driesch sagt, die sinnenhaste Gegenständlichkeit, so, wie sie erfahren wird, als schlechthin wirk­ lich nimmt und keinen Unterschied der Qualitäten kennen will. Er ist aber Materialist in einem sozusagen umgewendeten Sinn. Denn er ist Panvilalist: er kennt die Kluft zwischen Mechanischem und Vitalem, zwischen Unbelebtem und Belebtem nicht. Aber nicht so, daß er im Sinn der Modernen Mechanistiker wäre, sondern deshalb, weil er in der Natur den Begriff des Mechanischen nicht kennt. Damit hat Driesch sehr fein den Unterschied in der Denk­ weise hervorgehoben, der zwischen dem aristotelisch-arabischmittelalterlichen Naturbetrachten und dem mit der Aufklärungszeit aufkommenden rational-mechanistischen besteht und eine völlige Wendung der Bewußtseinseinstellung bedeutet, vergleichbar jener, die uns heute wieder von der soeben verflossenen Denkepoche in der Naturforschung wegführt. In diesem, von Aristoteles aus gesehenen Sinn ist nun auch die Urzeugungslehre der alten Ionier zu verstehen. Bei ihnen ist eine alles in sich begreifende, das Anorganische wie das Organische in sich tragende Ursubstanz der Ausgang aller Weltblldung ge­ wesen. Indem die Erde entstand, hat das von ihr abgesetzte Wasser auch die ersten Tiere erzeugt. Oder die vier Grundelemente Wasser, Feuer, Luft und Erde, beherrscht von den Grundkräften Haß und Liebe, schufen das Weltall und die Erde. Je «eiter diese Ge­ staltung führte, um so mehr setzten sich die Stoffe gegeneinander ab und es entstand danach auch das pflanzenhafte, dann das tierische Leben aus ihnen. Empedokles meint, daß sich zuerst die einzelnen Organe bildeten, daraus die Körper; Anaximander da­ gegen läßt die Tiere mit einer Rinde versehen im Meer entstehen, von wo sie aufs Land stiegen und dort gemäß den anderen Lebens­ erfordernissen die Rinde abwarfen und sich umblldeten. In wirrem Spiel suchte der Kampf der Stoffe und Elemente das Brauchbare zu entwickeln, indem das Unbrauchbare und die Zerrgestalten von selbst als lebensunfähig nicht weiterkamen und zugrunde gingen. Wenn man diese Ideen nur ihrem äußeren, realistischen, also in einem unserer heutigen Wissenschaft entsprechenden Sinn 64

and Wortlaut betrachtet, so kommen sie «ns frellich naiv nad wissenschaftlich wertlos vor. Und tatsächlich findet man auch in keiner schulmäßigen Geschichte der Philosophie, noch weniger in einer solchen der Naturwissenschaft, die Erkenntnis, daß jene Denker nicht nur ein von innen her ganz anders erfühltes und erschautes Weltblld hatten, sondern mit ihren Gedanken auch ganz andere innere Verbundenheiten des Daseins und der Natur zum Ausdruck bringen wollten als spätere Naturwissenschaft. So war es nach der verständlichen Seite jenen Men vor allem um die Auseinanderlegung des sich in verschiedenen Vollkommenheits­ graden manifestierenden Logos der Gesamtnatur, nicht um eine paläontologisch-zoologische Konstruktion ältester „wirklicher" Lebe­ wesen zu tun. Aber man kann ihre Philosopheme, die wir gewiß noch nicht sinngemäß in unsere Sprache zu übersetzen verstehen, dennoch nicht aus einer Geschichte der wahren Naturwissenschaft in das der unbegründeten spekulativen Philosophie verweisen, weil auch wir, trotz unserer vermeintlich mechanistisch-realistischen Einstellung auf das konkret Physische, weder in der Urzeugungsund Entwicklungsfrage, noch in der sonstigen Naturlehre jemals über Metaphysik hinausgekommen sind und bei jedem Versuch, über sie hinauszukommen, mit Sicherheit immer wieder bei ihr landen. Beweist doch unsere ganze wissenschaftliche Forschung, daß die uns am besten gelungenen Begriffsbildungen und alle axiomatischen Grundlagen metaphysisch, also zuletzt symbolisch und nicht, wie wir vielfach glauben, „naturwissenschaftlich-physi­ kalisch" oder gar mechanistisch sind. Gerade bei den Ioniern muß deshalb ihre ganze Naturphilo­ sophie und Naturwissenschaft aus dem lebendigen Bewußtsein der wahren inneren Einheit alles Naturdaseins und aus der Idee des ewigen in sich ruhenden Kreislaufes verstanden werden. Der Be­ griff der Urzeugung bei ihnen ist viel tiefer, als daß er in der Frage enden könnte: wie sind aus anorganischer Materie organische Wesen entstanden? Sie kennen keinen Anfang in dem Sinn, daß etwas mechanisch geworden sei und daß nur dieses äußere Werden an sich Dasein habe; sondern ihr Weg führt unmittelbar zu „Platon dem Göttlichen", dem das Dasein Abbild der Urbllder Oacquö, Leben als Symbol.

5

65

wirb. Sie wußten von der unsterblichen Seele der Natur, die alle Formen in sich hegt und sie ju ihrer Zeit nach außen trägt. Sie wußten, und es war ihnen grundsätzlich selbstverständlich, daß alle Gestaltungen aus einer inneren zeitlosen Einheit fließen, als deren Manifestation sie erscheinen, nicht aber, daß eines das andere in einem mechanistischen Sinn durch Häufung und Bewegung hervorbrivgt. So sagt von ihnen Joel in seinem Werk über die „Entstehung der Naturphllosophie aus dem Geiste der Mystik": Ein Entstehen und Vergehen im unbedingten Sinn gibt es bei ihnen nicht; die Seelen, die Entelechien verschwinden nur in der Form, um in anderer Gestalt wiedergeboren zu werden. Es herrscht in der Natur ewiges Leben, und der ewig herrschende Kreislauf alles Daseins und Geschehens ist ihnen die Gottheit selbst. Es wäre ja vom methodischen Standpunkt zunächst nichts einzuwenden gewesen, wenn sich unsere Naturforschung vorgesetzt hätte, in den Schichten der Erde nach der ersten erkennbaren Lebensform zu suchen; und wenn sie diese aus natürlichen Gründen nicht fand, dann nach physiologischen Erkenntnissen ein Urlebewesev zu Hypostasieren. Das wäre ein Mittel gewesen, sich über die denkbar einfachsten Lebenszüge überhaupterkenntniskritisch klar zu werden; es hätte heuristischen Wert gehabt. Aber ein metaphyysisches Dogma zu setzen und Leben in seiner Entstehung nun mechanisch zu begreifen, mußte nicht nur unserem eingeborenen metaphysischen Bewußtsein zuviel werden, sondern würde auch den Spott jener Alten herausgefordert haben, die ganz anderes über des Lebens Ursprung und Unsterblichkeit wußten.

z. Die Idee der Vervollkommnung. Ein Organismus kann in bezug auf seine „Vollkommenheit" in verschiedener Weise beurteilt werden. Wenn wir ihn ästhetisch betrachten, so mag der bunte Schmetterling über der sonnigen Wiese uns um vieles vollkommener erscheinen als ein brauner organ- und formloser Wafferegel im Schlamm, oder eine ruppige Auster auf dem Meeresgrund. Wenn uns die VerschnSrkelung und Verzweigung eines vielästigen Hirschgeweihes als Ausdruck

der Kraft und Lebensfülle, oder die Mähne des Löwen als Aus­ druck einer gewissen sinnbildlichen Erhabenheit erscheint, so mögen wir diese Gestalten für vollendeter halten als einen Affen, der dagegen wie eine Fratze wirft und jenen gegenüber auch etwas Unentwickeltes, Steckengebliebenes, Heruntergekommenes ju haben scheint. Der Kelch einer sechsstrahligen Koralle mag uns kunst­ voller und daher höher entwickelt erscheinen als die einfache Höhlung einer Muschelschale. Und doch ist das alles kein Maßstab für einen Naturforscher, der fich bemüht, das Tier, den Organismus jv verstehen als ein stch in seiner Umwelt betätigendes, auf diese Umwelt lebendig eingestelltes, stets in Wechselwirkung mit ihr stehendes, von Minute zu Minute, wie von Jahrtausend zu Jahr­ tausend stch anpaffendes und nur im Zusammenhang damit auch naturhistorisch beurtellbares Wesen. Besieht man nun organische Formen in diesem letzteren Sinn, also vom Standpunkt ihres rein biologischen Verhaltens, so kann man zunächst von keiner sagen, sie sei höher oder niederer als eine andere. Denn jede füllt, für stch betrachtet, gleich gut und finn­ gemäß ihren Platz in der Natur aus. Eine Muschel, die auf dem Boden liegt und stch mit ihrem Fleischfuß streckenweise wegschiebt, oder halb im Sand steckt und nach Bedürfnis die Schale öffnet und schließt, wenn ihr durch die Wasserströmvng Nahrung zu­ getragen wird; welche Larven aussendet, damit diese anderswohin getragen werden und die absterbende Generation erneuern — sie ist mit ihrer Trägheit an ihre Lebensweise und ihren Lebensort ebensogut angepaßt wie ein Krebs, der stch mit seinen Schwimm­ füßen über den Meeresboden erhebt, seiner Beute nacheilt und seine Eier selber herumträgt, um ste da oder dort abzulegen. Der Fisch, der mit seiner Torpedogestalt durch das Wasser schießt, der zum Laichen ungeheuere Wanderzüge macht und aus dem Meer in Flußmündungen eindringt, ist ebenso vollkommen in seine Lebensumstände eingewoben, wie das Reh, das im Walde lebt und mit seinen feinen Hufen, seinem schmiegsamen Körper über den weichen Waldboden springt und durch alles Dickicht dringen kann, bergauf, bergab. Und sind ste alle nicht vollkommener in ihrem Element als der Mensch, wenn er so zu leben hätte?

5

67

Wenn wir es also biologisch nehmen, so können wir vom Staad, pnnkt der Anpaffungsftage aus von Vollkommenheit, von einem Höher oder Niederer vorerst nur in bezug auf bestimmte einseitige Lebensverhältnisse, auf bestimmte Erfordernisse der Umwelt sprechen. So gesehen dürfen wir empirisch naturhistorisch wohl sagen: der Fisch ist dem Leben im Wasser, wie er es führt, ideal angepaßt; aber nicht für das Leben im Wasser schlechthin, sondern für eine bestimmte Art Leben, das mit seiner Organi, sation gegeben ist. So ist er in bezug auf das Schnellschwimmen, auf die Ortsbewegung und die Freiheit der Bahndurchmessung vollendeter als die seßhafte Koralle oder die träge Muschel oder der mit einem großen Aufwand von Extremitäten und Anhängen schwimmende Krebs; er ist in diesem seinem Lebensmedium und seiner Lebensart vollkommener als der Vogel in der Luft, als der Mensch auf der festen Erde. Daß aber hier nur ein relatives Verhältnis vorliegt, zeigt die Betrachtung der Fisch, gestalt selbst. Denn auch innerhalb ihres Typus können wir je nach den Umweltverhältnissen, der Lebensweise und den Lebens, Notwendigkeiten Vollkommenheitsgrade unterscheiden. Da ist der mit schlanker Torpedogestalt und mit ein paar kleinen Flossen avsgestattete Fisch vollkommener für die Bewegung im Wasser ausgerüstet als die breite Scholle, die platt auf dem Boden liegt und nur durch einfache undulatorische Schläge des ganzen Körpers sich zeitweise auf, und niederbewegt. Aber wir können im abso, luten Sinn nicht sagen, der Torpedofisch sei höher oder voll, kommener organisiert und entwickelt als die breite Scholle. Und so sind wir nicht ins Reine gekommen über den Dollkommenheits, begriff, wenn wir streng naturhistorisch nur die Anpassung an die Lebensweise zum Maßstab nehmen. Eine andere Art, das Höher und Niederer, das Vollkommenere oder weniger Vollkommene der Natur aufzufassen, liegt in der Betrachtung der Gesamtorganisation, in ihrer typenhaften All, gemeinheit, also in der Betrachtung der Organzahl, der Organ, differenzierung und Organkombination im ganzen. Das, was wir niederste Tiere nennen, Protozoen und Infusorien etwa, sind nur einzellig. Es ist nicht ihre meistens mikroskopische Kleinheit

sondern eben der Mangel an jeglichen spezialisierten Organen, was uns bestimmt, in ihnen die niedersten, die entwicklungsge-

schichtlich einfachsten, die ursprünglichsten Lebewesen zu sehen, wenn sie auch allerlei Zellausstülpungen und Differenzierungen haben,

die sie unter ihresgleichen mannigfaltig und verschieden spezialisiert

erscheinen lassen.

Sie haben Anhänge wie Flimmern und Gei­

seln zur Fortbewegung; sie haben im Inneren Vakuolen, die der Verdauung, der Assimilation und Sekretion dienen; sie haben Pig­ mentflecke als Augen, sie haben Öffnungen als Mund und Abzugs­ kanal; sie haben sonst allerlei Zelldifferenzierungev. Aber das

alles bleibt innerhalb des Wesens der Einzelligkeit. Erst die Viel­

zeller, die Metazoen, deren Körper aus Zellhaufen hervorgehende

Gewebe und Organe besitzt — erst das ist die Grundlage zu jedem über das niedere Protozoenstadium hinausgehenden „höheren" Tierkörper, zu jeder höheren Organisation. Hier tritt dann die

Metamerie dazu, d. h. die rhythmisch gleichmäßige Vermehrung gleicher Körperabschnitte, wodurch beim Wurm und Krebs und

Insekt die Vielzahl gleicher, aber doch dann gegeneinander diffe­

renzierter Körperteile und Körperabschnitte entsteht, deren cha­ rakteristisches Anzeichen etwa die Wirbelsäule des Wirbeltieres ist, die sich streckenweise gleichartig verhält, aber in der Kopfregion

sich weitgehend abgeändert

hat. Hier kann

man von einem

Höher und Niederer reden, je nachdem eine Konzentration der Vieltelle eingetreten ist oder nicht. Der Regenwurm hat in jedem Abschnitt immer wieder eine Niere, ein Geschlechtsorgan usw.;

beim Krebs ist alles mehr verschmolzen zu einem einzigen Organ, aber mit vielen gleichen Abteilungen; beim Wirbeltier noch mehr, so daß die inneren Organe sich überhaupt nicht mehr

wiederholen mit Ausnahme der Wirbelkörper, die nun als An­ passung an ganz spezielle Zwecke erscheinen. So kommt Franz dazu, die körperlich-morphologische Vervoll­ kommnung als die mit der Entwicklung zumeist erfolgende Zu­

nahme der Differenzierung und Zentralisation zu bezeichnen.

Wo nur die erstere überwiege, da fehle es noch am Begriff des Vollkommnen; denn dazu gehöre auch Abnahme der Kompliziert­ heit. Der Goethe-Haeckelsche Gedanke, daß nur Differenzierung 69

und Zentralisation zu einer vollkommenen Gestalt führe, be­ stätige sich immer aufs neue. Dies bringe ein zunehmendes Über­ gewicht im Kampf ums Dasein mit sich, und darin bestehe der Inhalt des Vervollkommnungsgedankens. In diesem Sinn sei der Mensch deutlich das vollkommenste Wesen, und dieser natürliche Sachverhalt sei Grund für die Aufnahme des Vervollkommnungs­ gedankens in die biologische Wissenschaft. Ist die Biologie aber auch erfüllt vom natürlichen Entwick­ lungsgedanken, so ist doch kaum ein Gebiet erkenntnistheoretisch weniger geklärt wie dieses. Aus niederen Anfängen, so sagt man, sei das Leben auf der Erde entsprungen, habe sich zu immer höheren Formen entfaltet, um schließlich im Menschen, dem höchstentwickelten Geschöpf sich zu vollenden. Höher und niederer nennt man also Formen, die anatomisch oder nach der Zahl und Vollendung ihrer Organe oder in der Zusammenfassung und kör­ perlichen Geschlossenheit dem Menschen näher oder ferner stehen. Die Romantiker nahmen das Höher oder Niederer idealistisch; die Jetztbiologie aber glaubt, indem sie es genetisch zu fassen sucht, von der romantischen Vergangenheit abgerückt zu sein, doch hatte sie von ihr eigentlich Begriffe übernommen, die gar nicht für die neue Einstellung auf die Frage der Lebenseutwicklung innerlich geeignet und für ganz andere Denkzusammenhänge gegeprägt waren. Die neuere Entwicklungs- oder Abstammungs­ lehre bemißt somit einerseits die Entwicklungshöhe eines Lebe­ wesens oder einer Gattung, eines Typus nach der idealistischen Allgemeinidee des Höher und Niederer, nimmt aber anderer­ seits diese selben Begriffe für biologische Anpassung an die Außen­ welt, als eine mehr oder minder weitgehende Spezialisation oder Anpaßvng der Organe und Körperformen an bestimmte Lebens­ bedingungen. Es liegen somit zwei heterogene Denkelemente in der naturwissenschaftlichen Entwicklungslehre: ein idealistisches und ein realistisches, mit inadäquaten Begriffen, die wahllos herüber- und hinüberwechseln. Man sieht, daß die Frage nach dem Höher und Niederer in der neueren Biologie nicht mehr den geschlossenen Sinn der alten Naturphilosophie hat, nicht mehr schlechthin die Frage nach der

Idealität der Form bedeutet, sonderu auch die nach der biolo­ gisch-genetischen Bewertung. Damit ist Vervollkommnung gleich­ bedeutend einerseits mit bestmöglicher Anpassung, zugleich an­ dererseits ein zeitlich kausaler Prozeß zur Erreichung dieses Zie­ les von einer geringeren Dollkommenheitsstufe ans; also gleich­ bedeutend mit genetischer Entwicklung und Umwandlung im äußeren Sian, geworden und mit naturwissenschaftlicher Deszen­ denztheorie gleichgesetzt. Das Symbol der Vervollkommnungs­ oder Abstammungslehre wäre also der „Stammbaum, der aus niederen Anfängen entsprang und worin stch das Höhere mehr oder minder allmählich aus dem Niederen entwickelt hätte. Unter diesem Zeichen stellt man die Entfaltung der Lebewelt durch die erdgeschichtlichen Epochen hindurch so dar, als ob eine genetische Verzweigung, eine immer größere Mannigfaltigkeit zugleich mit zunehmender Entwickluagshöhe in den organischen Gestalten platzgegriffen hätte, um schließlich als die höchste Spitze, oder als eine der höchsten Spitzen — was ein prinzipieller, ebenfalls er# kenntnistheoretisch noch nicht beachteter Unterschied ist — den Menschen selbst hervorzutreiben. Kann man diese Art von genetisch zunehmender Vervoll­ kommnung durch die Erdzeitalter hin verfolgen, und wie? Cs gilt dabei, zunächst Entwicklungsreihen durch einige Zeitstufen der Erdgeschichte hindurch aufzuweisen, an denen man die zu­ nehmende Vervollkommnung eines Typus, aber auch den stamm­ baummäßigen, also den genetischen Zusammenhang erstchtlich machen könnte. Solche Entwicklungs- oder Formenreihen hat man auch mehrfach gewonnen, und ein Beispiel sei vorgeführt. Im Erdmittelalter gab es unter den höheren Meerestieren eine Fischgestalt, die Reptil «ar, vergleichsweise das, was jetzt unter den Säugetieren der Delphin ist. Diese Fischechse (Fig. i A) durchschnitt mit ihrem torpedoartigen Körper vorzüglich das Wasser; die Torpedoform des schnellschwimmenden Fisches ist sozusagen das ideale Vorbild hierzu: ein zwar in stch beweglicher, jedoch zugleich besonders auf geradlinige Haltung hin gebauter Körper, von einer Wirbelsäule durchzogen, auf deren Vorder­ ende der längliche, nach vorne spitz zulaufende Kopf mit kurzem 7i

erstem Halswirbel versteift saß, um so jene Haltung zu gewährleisten, die es dem Lier ermöglichte, mit Hllfe der schraubenartig wirkenden Schwanzfiosse und den als Ruderpaddeln eingerichteten Extremitäten flink die Wogen zu durchellen. Da es kein Fisch, sondern eine Echse «ar und daher an deren Grundorganisation gebunden blieb, hatte es keine Kiemen wie der Fisch, sondern 'eine Lunge, und mußte infolgedessen, gerade wie die jetzigen See­ säugetiere, seine Schnauze zum Luftholen immer wieder über Wasser bringen. Dem diente nun eine bestimmte Einrichtung des

Fig. i. Zwei Fischsaurier verschiedenen erdgeschichMchea Alter-. A Ichthyosaurus au- der Iura-est; B Cymbospondylus au- der vorau-gehende« Tria-zeU. Die jüngere Form A ist vollendeter und extremer entwickelt al- die frühere. Ideale Entwicklung-reihe, nicht Stamm­ reihe. (Au- O. Abel, Rekonstruktion vorzeitl. Wtrbelltere 1925.) Sehr start vertl.

Schwanzpropellers. In dessen unteren Abschnitt reicht die nach ab­ wärts geknickte Wirbelsäule hinein, und bietet diesem TeU eine Verstärkung, deren statische Wirkung beim Bewegen der Schwanz­ flosse dahin ging, daß der untere TeU unwillkürlich stärker geschlagen wurde als der obere. Demzufolge mußte der vordere TeU des Torpedokörpers von selbst nach oben gelenkt werden, so daß beim gewöhnlichen langsamen Schlagen der Schwanzflosse die Schnauze dauernd über Wasser blieb und es für das Tier hierzu keiner besonderen Anstrengung mehr bedurfte. Nur beim Raschschwimmen und Untertauchen, sowie beim Schwimmen unter Wasser wurden auch die Extremitäten stark in Tätigkeit gesetzt, ebenso zur Höhen,

und Tiefensteuerung, welcher der torpedofSrmige Körper rasch gehorchte. Die Auftechterhaltung der normalen Flankevlage aber war durch den floffenartige» Rückenaufsatz gewährleistet. Dieser „ideale Anpassungstypus" des Echsenkörpers an eine dem torpedoartigen Fisch entsprechende Lebensweise trat aber bei erdgeschichtlich früheren, echsenartigea schwimmenden Tieren nicht sogleich in solcher Vollendung auf. Sowohl Jugendstadien, wie auch ältere, in einer vorausgehenden geologischen Zeitepoche vorhandene ausgewachsene Formen zeigen weder die starke Abknickvng der Wirbelsäule noch auch, wie aus anatomischen Gründen zu schließen ist, die Entwicklung der Schwanzflosse in derart vollendeter Form. (Fig. i B.) Sprechen wir also bei der ersteren Form von einem idealen Anpassungstypus an bestimmte Lebenserfordernisse und bestimmte Lebensweisen, so kann man eine solche Reihe als Symbol der Umwandlung von einem be­ stimmten älteren Ausgangspunkt zu der vollendet zweckmäßigen Form ansehen. Es ist indessen nicht so, daß nun die andere Form weniger zweckmäßig gewesen wäre, weniger ihren biologischen Erfordernissen entsprochen hätte. Ebenso, wie die Kaulquappe nicht weniger vollendet als der Frosch ist, waren auch die Vor­ läufer der ideal entwickelten Ftschechse nicht weniger zweckmäßig und an ihre Lebensweise nicht weniger gut angepaßt. Zweckmäßig an stch ist also ein Organismus und die Form, die er darstellt, immer. Vollkommener in bezug auf ein ganz be­ stimmtes Lebenserfordernis mag allerdings eine Form gegen­ über einer anderen sein. Und das würde uns berechtigen, durch Aufzeigen solcher Reihen von einer zunehmenden Vervollkomm­ nung und damit von einer durch „Entwicklung" erreichten zweck­ mäßigeren Gestaltung gegenüber anderen, in dieser Hinficht weniger zweckmäßigen zu sprechen. Empirisch-naturhistorisch betrachtet, handelt es fich also zunächst um Reihen, deren Endglied eine möglichst voll­ kommene Anpassung an eine bestimmte Lebensweise und an ein bestimmtes Lebensmedium anzeigt, so daß wir fie gewissermaßen als höchste Anpassungsform in einer zunächst gedachten Entwick­ lung bezeichnen können. Aus der Anatomie einer solchen Form

«erben sich nun Anhaltspunkte gewinnen lassen, aus welcher Grundrichtung ihre Entwicklung kommt. Beispielsweise zeigt uns der heutige Walfisch den Säugetiercharakter, und auch aus seiner Ontogenie hat sich manches ergeben, was auf Herkunft von einem Landsäugetterstadium hinweist. Es ist daher unsere Aufgabe, die so theoretisch konstruierbare Entwicklungsreihe von einem Landsäugetier zu einem Wal an den fossil auftretenden Formen zu prüfen. Wir gehen zu diesem Zweck in richtiger Zeitfolge Stufe um Stufe rückwärts und entdecken mancherlei Formen, welche dem Walfisch gleichen oder ähnlich sind. Im allgemeinen werden die zeitlich noch näherstehenden den Walfischcharakter am deut­ lichsten zeigen; die früheren weniger. Und so läßt sich die Entwick­ lung rückwärts überleiten vielleicht zu Formen, denen der Laudtiercharakter noch deutlich anhaftet. Tatsächlich sind nun auch in der Alttertiärzeit Formen gefunden worden, die zwar schon im «eiteren Sinn als Wale angesprochen werden können, dennoch aber sich durch Eigenschaften auszeichnen, denen man eine „Her­ kunft" aus raubtierartigen Landformen klar ansteht. Daraufhin könnten wir hypothetisch aussprechen: Die Walgestalt leitet sich von älteren raubtierartigen Landtieren her. Wir nennen dem­ gemäß den Wal die ideale Anpaffungsform des Landsäuge­ tieres an das Schnellschwimmen im Wasser; jene beschriebene Fischechse die ideale Anpassungsform der Echse an das gleiche Lebenserfordernis. Wal und Fischechse sind in diesem Sinn„Konvergenzblldungen". Oft bietet die Natur aber auch eine solche Entwicklungsreihe, ohne daß sie sozusagen bis zum Ende gedieh. Es fehlt dann die Vollendung zum idealen Anpassungstypus. Die Reihe reißt vorher ab, das Ziel wurde nicht erreicht. Dann sind wir in der Lage, aus Erwägungen, die uns teils eine aufgestellte paläontologische Ent­ wicklungsreihe bietet, teils auch durch Konstruktion aus allgemein biologisch-anatomischen Überlegungen, eine ideale Anpassungs­ form dieser von der Natur nicht oder noch nicht zu Ende geführten Reihe zu entwerfen und davon zu sagen, die Entwicklung steuere auf dieses Ziel hin. Dies ist der eine Vervollkommnungsbegriff. Er bedeutet,

daß in Formenreihen eine ideale oder reale Entwicklung darstellbar ist, die sich als junehmende Anpassung an bestimmte Erforder­ nisse der Umwelt erweist. Nennt man dies Fortschritt, so ist Fort­ schritt ein einsettiges Spezialisieren und Höhertreiben der Entwick­ lung in bestimmter Richtung, auf Kosten anderer ursprünglich gegebener Möglichkeiten, also biologisch unter Umständen ein ebenso großer Nachtell, wie unter bestimmten eng umschriebenen Verhältnissen ein VorteU. Unter diesem Gestchtspuntt kann man auch von „fehlgeschlage­ nen Anpassungen" reden. Es kann nämlich ein und dieselbe Ziel­ strebigkeit in verschiedenen FormenbUdungen sich äußern, gewisser­ maßen auf verschiedenen Stammlinien dasselbe Ziel der Form­ bildung angestrebt werden. Aber nicht alle Bahnen nun, die auf jenes bestimmte Anpaffungsziel hinstreben, führen zu einem gleich guten, biologisch gleich nützlichen Ergebnis. Und so entstehen Gruppen, die untereinander zweckmäßiger oder weniger zweck­ mäßig sind, und von denen unter sonst gleichen Bedingungen diejenigen „Sieger im Kampf ums Dasein" bleiben, welche einem idealen Anpassungstypus am nächsten kommen. „Wenn wir sehen", sagt Abel, „daß bei einer an eine bestimmte Lebens­ weise angepaßten Form Einrichtungen ausgeblldet sind, welche das Leben des betreffenden Individuums und ... der Art ermöglichen, so wissen wir noch nicht, ob diese Anpassungen unbedingt weiter­ bildungsfähig sind oder nicht, d. h. ob sich die in bestimmter Weise angepaßte Art durch die Richtung ihrer Anpassung nicht den Weg zu weiterer Entwicklung und weiterer Anpassung abgeschnit­ ten hat. Darüber können nur Studien an fossilen Formen Aufklä­ rung bringen. Wenn wir feststellen können, daß verschiedene fossile Formenreihen sich in ihrer Anpassungsrichtung so verrannt haben, daß eine weitere Spezialisation unmöglich geworden ist, so würden ... wir von einem Fehlschlagen der Anpassung sprechen können." Solcher Beispiele gibt es unter den fossilen Formen mehrere. Kowalevsky hat seinerzeit auf die in der Tertiärzeit sich allgemein geltend machende Rückbildung der Seitenzehen in den verschiedensten, ursprünglich vier- und fünfzehigen Huftiergruppen aufmerksam gemacht und gezeigt, daß diejenigen unter ihnen,

bei denen die Seitevzehev als knotenförmige Gebllde unter die Fußwurzel gedrängt wurden, schon frühzeitig erloschen sind, «ährend jene Formen, bei denen die Zehen in der RückbUdung zur Seite gedrängt wurden und schwinden konnten, die günstiger an das Laufen und Springen angepaßten waren und bis jum heutigen Tag lebend erhalten blieben, während die ersteren schon bald in der Tertiärjeit ausstarben. Und dies zeigt, daß eine ein­ seitige Vervollkommnung entweder fehlgeschlagen oder sehr gut ge­ lungen sein kann. Hier gilt durchaus der Begriff der biologischen Zweckmäßigkeit, und insofern kann man auch bei einseitige Spe, zialistervng in einem relativen Sinn von Vervollkommnung reden. Aber alle derartig gewonnenen Reihen sind, wie man nun erkennt, keine wirklichen Stammreihen, sondern, wie Abel und Dollo sie nennen, nur „Anpassungsreihen". Sie sind Idealitäten, sie veranschaulichen einen idealen Entwicklungsgang, nicht eine wirkliche naturhistorische, stammbaummäßige Vervollkommnung. Die in solchen Reihen enthaltenen Formen sind nicht wirklich genetisch verbundene Glieder natürlicher Zeugungsreihen. Aller­ dings haben, vom Standpunkt des Deszendenztheoretikers aus betrachtet, solche Anpassungsreihen den Sinn, uns ein Bild zu geben, welche Formenstadien möglicherweise einmal genetischstammesgeschichtlich durchlaufen wurden, damit aus einer Gat­ tung eine andersartige werden konnte; und sie haben auch vor den rein konstruktiven Formenreihen der Zoologen den Vorzug, durch wirkliche Formen vnd in richtiger zeitlicher Reihenfolge belegt zu sein. Glaubt man also an eine äußerliche stammesgeschichtliche Entwicklung, wie sie die Deszendenztheorie annimmt, so kann man immerhin in solchen Formenreihen, wie gesagt, ein Symbol der Entwicklung sehen. Schließen sich die einzelnen Formstadien einer solchen Reihe zudem zeitlich genau aneinander und erweisen sich die einzelnen dazu verwendeten Wesen als ana­ tomisch geschlossene Weiterblldung untereinander, so ist damit ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit gewonnen, um die gedachte Entwicklung zu erweisen. Man spricht dann wohl auch von einer „Stufenreihe". Eine wahre Stammreihe aber wäre ein solches Entwicklungsbild nur dann, wenn jedes einzelne der dazu ver76

«endeten Reihenglieder realistisch in die nnmittelbare Stamm-ahn des Vorhergehenden gehörte oder wenn sie Arten repräsentierten, die wirklich einmal genetisch anseinander hervorgingen. Wir sehen also, daß die in der Natur gegenständlich gegebenen Formen als Ausdruck einer Idealität erscheinen, die wir im Sinne einer gedachten Vervollkommnung aneinander reihen und womit wir die Idee symbolisieren. Die Idee der Vervollkommnung aber nehmen wir entweder vom Menschen ab und sprechen dann von höheren oder niederen Typen; oder wir betrachten die Vervoll­ kommnung innerhalb eines Typus, und verstehen dann da­ runter Anpassung der Form an eine bestimmte Lebensweise, also nur einseitige Spejialisation. Im ersteren Fall ist Fortschritt eine Idealität in bezug auf den Menschen, wenn wir diesen als das höchste Geschöpf ansehen; im letzteren Fall dagegen ist Fort­ schritt eine einseitige Anpassung, die in bezug auf eine höchste Form geradezu eine Sackgasse bedeutet. Gibt es nun einen Stammbaum, in dem das Höhere gene­ tisch aus dem Niederen hervorgeht? Oder ist auch der Stamm­ baum vom niederen Tier zum Menschen selbst eine Idealität. Auf diese Gesamtfragestellung gibt die Betrachtung der paläontologi­ schen Tatsachen bestimmte Antwort.

4. Entwicklung'und Stammbaum. | Durchforscht man die erdgeschichtliche Dergangenhett und das Auftreten der Gattungen und Typen in richtiger zeitlicher Reihen­ folge, so ist es objektiv nicht wahr, was man immer wieder sagen hött und tellweise in Lehrbüchern und erst recht in populären Schriften behauptet findet, daß die verschiedenen Typen und Gattungen des Tier- und Pflanzenreiches so erschienen seien, wie es dem Schema des Stammbaumes entspricht, der nichts anderes ist als die ins Genetische umgelegte Linnssche Systematik. Don den Linneschen Systemgruppen und dem, was ihnen allmählich nach dem gleichen morphologischen Schema an fossilen Gruppen bei­ gefügt wurde, wissen wir aber nachgerade, daß es uneinheitliche Zusammenfassungen von Ähnlichkeiten sind, die bei Prüfung an

der strengen Zeitfolge ihrer Formen und nach den vergleichend anatomisch aufgestellten Formen- und Stufenreihen vielfach als ganz heterogen stch erweisen. Und dementsprechend fällt auch der im Sinn des Linnöschen Schemas angeordnete Stammbaum der Gruppen und Typen in sich zusammen. Denn wenn das Stammbaumbild, wie es schematisch heute noch die Vorstellung der Biologen aus darwinischer Zeit her be­ herrscht, mit seiner allmählichen Höherentwicklung und Mannig­ faltigkeitszunahme der organischen Formen der Naturwirklichkeit entspräche, so müßten wir, in den Zeitepochen rückwärts gehend, sowohl immer weniger Typen und Grundformen, als auch immer weniger voneinander unterscheidbare Formen an­ treffen. Die älteren Formen und Typen müßten einander ähn­ licher sein als die späteren. Dies ist entschieden nicht der Fall. Denn soweit auch unsere Erfahrung zurückreicht, begegnet uns immer sowohl eine sehr große Typenzahl von gleicher Organisationshöhe, wie auch die Tatsache, daß die einzelnen vorhandenen Typen einander nicht ähnlicher waren als spätere Typen unter­ einander. Stets hat sich das Leben in Charaktergestalten darge­ stellt, die ihren eigenen Wesenstypus zur Darstellung brachten. Mögen sich nun auch Gattungen unter gleichen Zeitbedingun­ gen so einander annähern, daß Übergangsformen von scheinbar genetisch verbindendem Charakter entstehen (vgl. Kap. 8), oder mögen späterhin einzelne Typen innerhalb ihrer Grundorgani­ sation mannigfaltiger, d. h. an Arten und Varianten oder, besser gesagt, an Spezialisation der Organe zahlreicher werden, so bleibt doch der Typus fest, und gewiß ist die Mannigfaltigkeit und allgemeine Organisationshöhe auch in früheren Zeiten inner­ halb der gegebenen Typen nicht geringer gewesen als heute. Wenn heute einzelne Gruppen mehr spezialisierte Formen auf­ weisen als früher, so geschah dies vielleicht wirklich durch die stammbaummäßige Verzweigung, jedoch nur innerhalb gewisser Formbahnen, obwohl der unmittelbare Beweis hierfür, wie nachher gezeigt wird, auch nicht zu erbringen ist. Jedenfalls gibt es dagegen auch andere Gruppen, die aus früher Zeit kommen und primitiv geblieben sind. Auch muß man bedenken, daß sich die

78

Spezialisation früher jewells auf andere Merkmale bezog, auf die wir jetzt teilweise nicht mehr achten, weil uns die jüngeren und die heute lebenden Formen in anderer Richtung ihre Spezialisation offenbaren, so daß sie uns in bezug auf heutige nicht speziali­ siert erscheinen; teils auch, daß unendlich viele spezialisierteArten im­ mer wieder rasch ausgestorben sind von Zeitstufe zu Zeitstufe. Fer­ ner liegt die scheinbare Zunahme der Mannigfaltigkeit oft auch daran, daß uns fossil niemals der frühere Reichtum ganz erhalten ist; immer wieder finden wir gelegentlich durch besonders glück­ liche Umstände Spuren und Vorkommen von Formen und ganzen Lebensgemeinschaften, die «ns plötzlich, wie durch einen schmalen Spalt, auf einen Augenblick in das Dunkel hineinsehen und einen damaligen Formenreichtum ahnen lassen, der dem heutigen wohl gleichkommt. Rechnet man dazu die spurlos ausgestorbenen und die in ihrer systematischen Stellung oft nicht zu bestimmenden fremdartigen früheren Typen, so dürfen wir gewiß nicht unbedingt sagen, daß früher zahlenmäßig und in ihrer gegenseitigen relativen Mannigfaltigkeit und Spezialisierung oder in ihrer Organisations­ höhe nur tieferstehende Typen dagewesen seien, wie es dem Stammbaumbild entspräche. Ost scheint es nur so, weil die früh­ eren Typen im allgemeinen schalenlos oder ohne festes Ske­ lett waren, was erst später allgemein wurde. Deshalb konn­ ten Formtypen, die zuerst Weichkörper allein hatten, noch nicht fossil erhalten bleiben, so daß allein schon aus diesem Grunde die schalentragenden Typen scheinbar allmählich zunehmen mußten. Aber alle haben auf anfänglich schon gegebenen oder angedeu­ teten differenten Formgrundlagen sich erbaut, so daß die Dermannigfaltigung nur innerhalb der Grundorganisation zu- und abnehmen konnte. Es waren also, im Resultat, nicht weniger Typen da; wohl aber waren andere da. Neue sind hinzugekommen, alte ausgestorben oder persistent geblieben von ältester Zeit her. Es scheint, daß nur ein einziger höherer Typ hinzukam: das Wirbeltier, und zwar das im Skelett verknöcherte Wirbeltier. Es ist jedoch schon derartig früh da, daß es höchst wahrscheinlich ist, es könnte im unverknöcher­ ten Skelettzustand schon ebenso lange existiert haben wie die

Type» der niederen Tiere. Aber unter diesen kommen keineswegs die zverst, welche wir für niederer organisiert ansehen, vnd dann die höheren unter ihnen; sondern gerade die höheren von ihnen sind vielfach früher da. Es ist also in jeder Hinsicht so, wie es der Stammbaum nicht wünscht. Wenn nun im Lauf der Erdepochen immer wieder andere Typen im Sinne des beigegebenen Schemas (Fig. 2) erscheinen, so bringen diese, für unseren Begriff oft höheren, oft auch niederen Organisationsstufen stets auch verän-

Fig.2. Schema der zeitlichen Aufeinanderfolge von Typen. Innerhalb der typenhaften Organtsatton-gruudlageu die Abwandlung der Formen nach verschiedener Richtung. Oie dicken LtutenstLmme bezeichnen die Idealität des TypuS, die feinen Äste die gegenständlichen Natur­ formen. Die Sefamteatwtcklung ist keine reallsttfch-stammbaummLßige, sondern eine durch den Pfeil angedeutete Idealität. (Ortgtaalfigur.)

derte Arten und Gattungen mit. Wenn wir es planmäßig ver­ folgen, so ist es so, wie Fechner einmal sagte: jedesmal, wenn ein neuer Typ erscheint, kommen mit ihm auch neue niedere Formen, deren Organisationshöhe schon da war und die nun im spejiellen doch neu sind. Wenn wir es, ohne stammesgeschichtlich etwas zu prätendieren, feststellen, so haben wir den Eindruck, das äußere Bild der Entwicklung sei so geartet, daß sich vorher vorhandene Organi­ sationshöhen teils fortsehen, sei es durch ihre alten Formen, sei es durch Herausstellung von neuen Formen und Arten, tells aussterben; daß ferner, sobald ein höherer Typ hinzukommt, auch

niedere neu hinzukommen, und daß die Haupttypen alle, oder höchst wahrscheinlich alle, schon vom Beginn des Erdaltertums au da waren, also seit jener Zeit, wo wir die ersten deutbaren und vollwertigen Organismenformen in der Vorzeit überhaupt finden. Der in der organischen Natur seit dem Erdaltertum erkennbare Fottschritt vom „Niederen" zum „Höheren" besieht also keines­ wegs in einer wirklich physiologisch-genetischen Entwicklung des einen Körpers aus dem anderen, sondern ist entweder über­ haupt eine Täuschung, die darauf beruht, daß uns nur verkaltte Körper und KörperteUe fossil überliefert werden können und daß die Verkalkung eine zunehmende Spezialisation innerhalb der gegebenen Typen ist, wodurch stets die soeben verkalken, als ob sie neu aufträten, erschienen; oder er besteht darin, daß wirklich ein einziger höherer Generaltyp, das Wirbeltier, zuletzt kam, aber innerhalb seiner auch wieder einzelne Formen selbständig, und der Fisch vielleicht nicht einmal zuerst; dann Amphib und Reptil, dann das beuteltierartige Säugetier, dann das plazentale und dann der Mensch. So bekommt nun das Wort Entwicklung einen bestimmten Sinn. Soweit es Vervollkommnung bedeuten soll, ist es keine endlose Weiterzeugung, sondern eine Idealität (Fig. 2); soweit aber Ent­ wicklung sich als Umwandlung und Spezialisierung innerhalb gegebener Typen darstellt, ist sie einseitige Spezialisierung in be­ stimmter Formrichtung, in immer einseitiger werdender Anpassung an ganz bestimmte Lebenserfordernisse. Das nun geht stets auf Kosten und unter Vernachlässigung anderer Möglichkeiten der Form­ bildung, die um deswillen unterdrückt werden und ausfallen. Die Spezialisierung aber kann von größtem biologischen Nutzen sein, solange die gegebenen Verhältnisse, auf die sie zugeschnitten ist, bestehen. Fallen diese weg, so kann gerade die glänzende An­ passung und Spezialisation verhängnisvoll werden. Das Aus­ sterben solcher Formzustände bei verändetten Lebensverhältnissen oder infolge verausgabter Lebenskraft, d. h. erschöpfter Formblldungsmöglichkeiten, lehrt die Geschichte des Lebens heute und in der Dorwelt auf Schritt und Tritt. Entwicklung in diesem Sinn kann also biologisch auch Abstieg sein. DacquL, Leben als Symbol.

6

0T

Wie könnte man nvn den stammbaummäßigen Verlauf, wenn er existierte, Nachweisen? Zunächst zweifellos so, daß man ein möglichst zahlreiches Material von Gattungen und Arten aus allen Schichten der Erdepochen zusammenbrächte, um es dann auch, tu der richtigen zeitlichen Reihenfolge und anatomisch genau unter, sucht und beschrieben, vor uns auszubreiten. Das ist reichlich im letzten Jahrhundert geschehen, so daß wir heute von vielen fossilen.

tzig. 3. Schema aufeinander folgender erdgeschichtltcher ZettflLchen A—D mit darin lebenden Arten (Punkte). I Verbindung angenommener Grundformen und Entwicklung von Unterarten in jedem Zelthortiont; II Verbindung gleicher Arten durch alle Stufen. I horizontale Entwich lang realistisch, vertikale idealistisch; II Parallelentwicklung und stellenweise Entwicklung ir selben Horizont.

besonders reichhaltigen Gruppen ein genügend vollständigVergleichsmaterial haben. Wenn sich nun die natürliche Entwici lung des Organismenreiches äußerlich Schritt um Schritt voll zogen hätte und eine stetige Differenzierung der Geschlechter aus­ einander siattgefunden hätte, so müßten wir durch das immer vollzähliger gewordene Fossilmaterial auch den Stammbaum wenigstens in einzelnen Linien und Ästen sich schließen sehen. Ur sprünglich erwartete man dies auch, aber es hat sich diese Ge

schloffenheit nirgends gezeigt. Wir sind deshalb genötigt, ähnlich wie die Erforscher der lebenden Formen, ans den fossilen Arten nvr ideale Formevreihen zusammenzustellen, die zunächst nvr „Stadien der Entwicklung" bedeuten, aber nicht die Entwicklungs­ bahn, nicht die genetische Artenfolge selbst darbieten. Doch haben diese Formenreihen den Vorzug vor den zoologischen, daß in ihnen nur Arten zur Anordnung verwendet werden, die wirklich gelebt haben, nicht hypothetisch gefordert sind, und daß diese Arten auch in einer zeitlich richtigen Reihenfolge erscheinen können. Wenn ferner die Idee der stetigen Vervollkommnung und der stammbaummäßigen Höherentwicklung den paläontologischen Tatsachen unbedingt angemessen wäre, so müßten wir überall dort, wo neue Grundorganisationen oder Unterabteilungen von Typen mit ihren veränderten Formen kommen, auch Übergangs­

formen oder Grundgestalten zu später verzweigten, später ge­ trennten Typen finden. Wir beobachten aber immer nvr ideell, nie unmittelbar, daß solche Typen oder Formgruppen sich am Ursprungspunkt derartig berühren, daß wir im Sinne eines Bau­ mes vom Auseinandertreten der Zweige reden dürften. Typen sind da, sind als solche ganz da, oder sie sind überhaupt nicht. Wenn sie zum erstenmal erscheinen, können sie zugleich in wenigen oder vielen Arten da sein; und stets sind sie in ihren wirklichen Formen von Anfang an spezialisiert, d. i. auf be­ stimmte Lebensweisen eingestellt, angepaßt. Sehr häufig beobachten wir auch, daß in dem Zeitpunkt, wo sie erscheinen, andere Typen in ihrer Formgestaltung sich ihnen nähern, daß Konvergenz­ formen oder formale Übergangsgestaltungen entstehen. Das

sind aber niemals echte genetische Ahnen später getrennter Grup, pen, sondern Parallelerscheinungen auf anderem Organisations­ boden. Da solches sich zu verschiedenen Zeiten vielfach wiederholt, stets unter Mitbringen anderer Gestaltungen, so habe ich dies das Gesetz der Zeitsignaturen genannt, dessen Wirksamkeit uns scheinbar stammbaummäßige Formzusammenläufe vorspiegelt, ohne daß im streng deszendenztheoretischen Sinn dies so wäre. Schließlich beobachten wir — und damit kommt der „Stamm­ baus bis zu einem gewissen Grade zu seinem Recht — inner-

8z

halb der Typen und Neuorganisationen mehr oder weniger deutliche, richtig stammbaummäßige Verzweigungen mit Formen­ reihen und wirklichen Übergangsformen. Es setzen, nachdem der Typus einmal da ist, allerhand Spezialisationsentwicklungen ein. Innerhalb der festgegebenen Typenbestimmtheit haben wir rich­ tige, aber enge und kurze Entwicklungsbahnen, die teilweise parallel nebeneinander herlaufen, teilweise auseinander hervorsprossen. Soweit güt nach dem objektiven Befund der Paläontologie die gewöhnliche Entwicklungslehre und das Stammbaumbild; aber weiter nicht. Die Entstehung der Organisation ist, wie wir uns schon bei der Zweckmäßigkeit der organischen Form über­ zeugten, ein innerer Vorgang, und es hat in diesem Zusammen­ hang keinen Sinn, formal darüber zu spekulieren, wie eine Organi­ sation aus einer anderen geworden sei. Denn das wäre eine leere Äußerlichkeit und nicht einmal so geistvoll wie der Ästhetizismus der Romantik, der auch von Entwicklung sprach. Ob nun alle Typen stets unter irgendeiner äußeren Form stets da waren und vielleicht für das Auge des Erdgeschichtsforschers bisher nur deshalb unsichtbar blieben, weil sie früher unverkalkte Skelette und Schalen hatten, also fossil kaum erhalten bleiben konnten; oder ob sie wirklich erst später teilweise entstanden und dann auf einmal fertig da waren, unbeschadet ihrer Weiterentwicklung und Umwandlung in einzelnen Speziallinien — jedenfalls ist der Vervollkommnungsstammbaum der Deszendenzlehre weder em­ pirisch gegeben, noch auch der wahrscheinliche richtige Ausdruck für den Weg, auf dem die zunehmende Vervollkommnung der Lebewelt auf den Menschen hin sich ereignete. Um nun zu wahren stammesgeschichtlichen Formenreihen zu kommen und damit die Entwicklungs- und Abstammungs­ lehre naturhistorisch wirklich zu erweisen und nicht nur in einer äußerlichen Symbolik der Entwicklung stecken zu bleiben, müßte es gelingen, im engsten Kreis einer natürlichen Gattung durch einige Zeitstufen hindurch die Umwandlung und damit die mor­ phologische Richtung der Formumbildung festzulegen. Zu diesem Zweck stellen wir uns einzelne übereinander gelagerte Flächen vor (Fig. 31), welche nacheinander folgende erdgeschichtliche Zeit-

84

stufen bedeuten sollen, in denen vielleicht jeweils die Formblldung einiger Organismentypen eine gewisse Stabilität ange­ nommen hatte. Die oberste Fläche sei die erdgeschichtliche Jetztzeit, deren Tier- und Pflanzenformen wir lebend vor uns haben. Alle Gattungen des Tier- und Pflanzenreiches stnd nun so auf­ gestellt worden, daß man zuerst diese lebenden der obersten Ebene, also die in Flächet nebeneinander bestehenden Arten formal zusammenfaßte. Wie man nun die Formenkreise und Artjusammenfassungen im obersten Plan A vollziehen kann, so kann man es für jede einzelne der vorhergehenden geologischen Stufen B, C gleichfalls tun. Auch da können wir in jedem Zeit­ horizont wieder Formenreihen und Formenkreise aufzeigen, gut oder weniger gut umgrenzte Gattungen mit vielen oder wenigen Arten, die stch nach ihrer Gestaltung sternförmig oder reihenförmig oder sonstwie anordnen lassen und auch wieder durch Formvarianten miteinander verbunden erscheinen. Die so gewonnenen Formenkreise in den einzelnen Zeit­ flächen besagen nun zunächst nichts anderes, als daß stch um einen willkürlich gesetzten Formenmittelpunkt oder Formenanfang herum andere „verwandte" Gestaltungen gruppieren lassen, die mehr oder weniger verschieden ausgeblldet stnd. Vielleicht läßt stch dabei auch noch nachweisen, daß die verschiedenen Varianten oder Unterarten bloß nach ihren Lebensbedingungen verschieden sind; und vielleicht läßt sich dann in der obersten Zeitfläche bei den Lebenden auch noch ein Züchtungsexperiment anstellen, aus dem sich ergibt, daß die eine Form tatsächlich generationsweise in die andere übergehen kann. Das würde nun erlauben, zu über­ legen, ob nur eine Form überhaupt im streng genetischen Sinn die Grund- und Ausgangsform sei, aus der sich etwa im Zu­ sammenhang mit wechselnden äußeren Bedingungen, oder sonst­ wie, die übrigen regelrecht „entwickelt" hätten. Hatten wir also zuerst nur eine rein formale Anordnung in jeder Zeitfläche gehabt, so würde sich nun gezeigt haben, daß solche Formenreihen im Horizont tatsächlich eine natürliche Entwicklungsreihe oder eine sternförmige Cntwicklungsausstrahlung von einer Grundform aus darstellten.

Run gehen wir weiter nach abwärts in eine erdgeschichtlich ältere Zeit B. Auch da finden wir schon allerlei Gattungen mit Formenreihev und Formenkreisen im Horizont. Die hier befind­ lichen Arten find aber alle mehr oder weniger verschieden von denen in A, einige mögen auch diesen letzteren gleich sein. Die Arte» in B mögen, ebenso wie jene in A, ihren gemeinsamen Zeugungs­ kreis haben. Wer nun erhebt sich noch eine weitere Frage: Wie verbinden wir die Arten im Stockwerk B mit denen im Stock­ werk A? Wir hatten bisher Formenreihen nur innerhalb jeder Fläche für fich hergestellt. Jetzt aber versuchen wir, Formenreihen von Horizont zu Horizont in der Zeitvertikalen herzustellea. Zu diesem Zweck verbinden wir zunächst ohne Besinnen die gleichen Formen aus A und B miteinander. Sodann verbinden wir die­ jenigen Formen von A nach B, die sich am ähnlichsten sind. Ebenso können wir auch mit allen Formen aus anderen Stockwerken C und D verfahren, und bekommen damit etwa ein BUd, wie es Fig. 311 zeigt. Sind nun diese so gewonnenen vertikalen und nicht mehr nur die horizontalen Formenreihen echte Stammreihen? Haben sich die entsprechend ihrer größten Ähnlichkeit verbundenen Formen wirklich im Sinn der Linienziehung in der Zeitvertikalen durch natürliche Zeugung auseinander entwickelt? Mit der Beantwortung dieser Frage treten nun große Schwie­ rigkeiten auf. Haben sich nämlich die einzelnen Arten in ein und demselben Zeithorizont auseinander entwickelt, wie wir es vorhin schllderten, und sind ebenso in verschiedenen Zeithorizonten die Formen auseinander entstanden, dann bedeuten die gleichen Formen in verschiedenen Zeithorizonten nicht eine unmittelbare genetische Fortsetzung, nicht ein unmittelbares Durchdauern der gleichen Form von Horizont zu Horizont, sondern es kann ein zweimaliges Entstehen derselben Form zu verschiedener Zeit be­ deuten. Nun können wir etwas gröber verfahren und sagen: die Grundart und damit die Erbpotenz zu vielen Arten hat sich irgendwie von Zeitstufe zu Zeitstufe jeweils fortgesetzt; und in jeder neuen Zeitstufe hat diese Erbpotenz wiederum viele phäno­ typische Spezialarten von sich aus je nach den Lebensbedingungen oder sonstwie hervortreten lassen, die allerdings in den ver-

schiedenen Zeitsiockwerkeu einander gleich oder sehr ähnlich «erden konnten. Es haben sich also nicht alle einzelnen Formen körperlich fortgepflavzt, sondern nur die eine oder andere, vielleicht nvr eine einzige, die sodann später wieder neue oder früher schon da­ gewesene Arten blldete. Wir brauchen also, wenn wir dies meinen, bei dem Verfolgen natürlicher genetischer Formenreiheo und damit echter Entwicklungsreihen von Zeithorizont zu Zeit­ horizont nicht allzusehr am einzelnen zu Neben, sondern dürfen jewells den Artcharakter als Ganzes, d.h. mehr typenhast nehmen. Damit aber ist man nun schon wieder in eine Abstraktion der Art geraten und fängt wieder an, statt wirklicher Zeugungsreihen, symbolische Formenreihen aufzustellen, welche eine Entwicklung ver­ anschaulichen, sie aber nicht selber sind. Und dies um so mehr, als sich jedesmal herausstellt, daß die Grundart, aus der man in jedem Zeithorizont die übrigen Arten ableiten soll und die man durchgehend durch einzelne Zeiten annimmt, stets durchaus zweifelhaft bleibt. Und wenn man sie „mit einiger Sicherheit" glaubt ausfindig gemacht zu haben, ist sie selbst wieder nach irgendeiner Richtung einseitig spezialisiert, so daß niemals eine Art den Anforderungen an eine ideale Grundform in der äußeren Wirk­ lichkeit entspricht. So besteht auch hierfür dieselbe Idealität wie für die „Urform" und die daraus abgeleitete „Entwicklung". Aber selbst, wenn man schematisch und summarisch verfährt und mehr den Begriff der Großart, den Typus als Ganzes ins Auge faßt und nicht jede Spezialabwandlung zu Gliedern einer Stamm­ reihe zu machen sucht, erscheinen trotzdem nicht von Horizont zu Horizont einfache Reihen, die uns nun eindeutig die Stamm­ linie offenbaren würden; sondern es erscheint ein sehr ver­ wickeltes Geknäule und es zeigen sich heterogene Formkomplexe. Da gibt es nämlich Formverzweigungen, Formüberschneidun­ gen, Formunterbrechungen; es gibt nicht nur so einfache Linien, wie sie Figur 3 II zeigt; es setzt oftmals eine einfachere Form zeitlich später ein als eine spezialistertere, so daß man jene nicht von dieser ableiten kann. Oder wir stellen aus den einzelnen Zeiten­ folgen die Arten einer Gruppe zusammen, um aus ihnen zunächst eine formale Entwicklungsreihe vom weniger Spezialisierten zum 87

Spezialisierten zu erhalten. Da ergeben sich nun in jeder Zeitsinfe eine oder mehrere Organisationsstufen von ganz verschiedener Entwicklungshöhe. Und außerdem kommt es vor, daß in einem etwas späteren Zeithorizont eine Form auftritt, die in einigen Merkmalen schon sehr weit vorgeschritten ist, in anderen Merkmalen aber wieder auffallend zurüäblieb, und womöglich sogar mehr als eine andere, ihr zeitlich schon vorausgehende Form. So ist also die in solchen Reihen verfolgte Umwandlung keine in allen Tellen und Organen der Einzelwesen gleichsinnige. Die im ganzen zunehmende Spezialisation oder Umwandlung ist in den einzelnen Stadien ungleichartig, ja in der Weiterbildung schlagen die einzelnen Formstadien Wege ein, die einander überkreuzen. Mit diesen Überkreuzungen in der Entwicklung hat es, wie gesagt, der Paläontologe ausnahmslos zu tun, wenn er Formenreihen und Stammreihen sucht. Niemals in der ganzen bisher erschlossenen Mannigfaltigkeit der Gattungen in den Zeitaltern ist eine folgende Form die in allen Teilen gleichsinnige Weiterbildung einer früheren, sobald man nicht willkürlich Reihen aufstellt, sondern sie aus der richtigen naturgegebenen zeitlichen Anordnung der Formen gewinnen will. Und dies ist doch methodisch das einzig Mögliche, um eine Entwicklung naturhistorisch zu erweisen. Man kann es auch so beschreiben: In jeder Formenreihe ist eine bestimmte Art in bestimmten Eigenschaften entwickelter oder spezialisierter als eine frühere, die man nach denselben Eigen­ schaften bewertet. Ordnet man die Reihe sodann nach anderen Eigen­ schaften an, so ist die zuerst spezialisierter erschienene Form nun­ mehr in diesem bestimmten Betracht weniger spezialisiert. Nach dem einen Teil der Eigenschaften ist also eine Form der „Vor­ fahre", nach einem anderen Teil der „Nachkomme" derselben anderen Art. Verfährt man dabei zugleich nach der richtigen Zeit­ folge, so löst sich alles in eigene engste Typenkreise auf, wie es in Fig. zII in den Flächen dargestellt ist. Reihen wir also streng nach der Zeitenfolge, wie die Natur uns die wirklichen Formen her­ bringt, alles aneinander und arbeiten wir nicht, wie die alte formalistische Deszendenzlehre, mit gedachten und konstruierten Arten und Entwicklungslinien, so ergeben sich ausnahmslos

immer wieder Entwicklungsunterbrechungen, Überkreuzungen der

Entwicklungsbahnen — und das ist der bündige Grund, weshalb wir in der Paläontologie noch nicht ein einziges Mal zu einer wirklich einwandfreien Stammreihe von Gattung zu Gattung gekommen stnd. Gerade das reicher und reicher werdende Fossil­ material hat die früher erhofften Stammlinien und Entwicklungs­ reihen entschwinden lassen. Wäre jene Erwartung auf einen äußeren Beweis für die naturhistorische Entwicklung berechtigt gewesen, so hätte sich doch irgendwo einmal eine wirkliche, echte Entwicklungs- und Stammbahn ohne Formüberkreuzungen er­ geben müssen. Aber gerade das weniger umfangreiche Material erlaubte früher einen Stammbaum anzunehmen; das reicher und reicher gewordene löste alles in eigene Typenkreise, in eigene Spezialstammlinien auf. Heute ist für unseren, in die Erdge­ schichte dringenden Blick das organische Reich kein Stammbaum mehr, sondern wieder ein unübersehbares dichtes Gebüsch ver­ schiedenartiger Gewächse geworden. Es zeigt sich daran, daß es eine stammbaummäßige, in gerader Formbilduvg verlaufende äußere Höherentwicklung des organischen Reiches nicht gibt, und daß es also auch keine stammesgeschichtlichen Formenreihen gibt, ebensowenig wie ein genetisch-stamm­ baummäßiges Hervorgehen des Höheren aus dem Niederen. Das in der äußeren Form sich darstellende Geschehen arbeitet gar nicht im Sinne einer formalen „Höherentwicklung", wie es die ganz in der Erbschaft des i8. Jahrhunderts und der idealisti­ schen Morphologie der Romantik steckengebliebene schulmäßige Abstammungs- und Entwicklungslehre noch bis zum heutigen Tag annimmt. Das innere Geschehen, das wir mit „Ent­ wicklung" bezeichnen, hat, um es bildlich auszudrücken, offen­ bar ganz andere Gesichtspuntte seines formblldenden Handelns als die, einen geschlossenen Formenstammbaum hervorzu­ bringen. Stellen wir trotzdem aus den wirklichen Arten äußere Ent­ wicklungsreihen zusammen, dazu auch noch unterstützt durch Erwägungen der vergleichenden Anatomie und Ontogenie der lebenden Arten, so kommen wir immerzu in das folgende 8y

Dilemma: Arbeiten wir zu fein, zu exakt, so stoßen wir, statt auf wirklich weiterführende Bahnen, stets auf vorübergehende, die gedachte Stammesgeschichte nicht wetterführende Spezialisationen; arbeiten wir summarischer, also grob und nicht exatt, d. h. ver­ binden wir nur die abstrahtetten Formbegriffe von Großarten oder Gattungen oder Typen, so haben wir keine wirkliche Genese vor uns, sondern nur Formenreihen, die wir nicht als Stamm­ reihen ansprechen dürfen. Hierin aber liegt der «ns von der Natur selbst gegebene Hinweis, daß flch die Gattungen und Typen des Lebensreiches nicht formal geschlossen im Sinn des Stammbaum, blldes entwickelt haben, sondern selbst nur herausgestellte Symbole von inneren Zuständen des „Organische» an sich" find. In keinem Fall also ist erwiesen, daß Höheres aus Niederem hervorging. Nur innerhalb einer Grundorganisation gibt es eine Abänderung und Spezialisierung oder ein Rückschlägen in Voriges.

Sehen wir daher jetzt den Entwicklungsbegriff wieder an, so ist im Stammbaumbild die Entwicklung eine unmittelbare Reali­ tät, ausgedrückt durch die physisch auseinander entspringenden Gattungen und Typen. Für uns aber ist Entwicklung gegeben durch das freie Nebeneinandersiehen verschiedener und scheinbar nacheinander kommender „höheres Typen, also eine Idealität, genau wie in der vordeszendenztheoretischen Naturphilosophie, jedoch mit ganz anderen metaphysischen und physischen Inhalten. Daraus aber geht das Symbolische aller in konkreten Formen erscheinenden Vervollkommnung hervor. Die Umformung zum Höheren ist ein Sinnblld des sich in immer anderem „Zeitgeist" nnd mit immer neuen „Motiven" darstellenden urblldhaften Lebens. Vervollkommnung und Entwicklung sind Idealitäten, auf deu Menschen bezogen, und die Erscheinung des Lebens­ reiches ist Ausdruck eines organischen Gesamtwesens, das sich ans innerer Einheit heraus ausspricht, jedoch nicht im Sinn fortlaufender äußerer Zeugung des einen aus dem anderen, sondern als urblldhaft bestimmte, stets schöpferisch neue Mani­ festation der Idee, als Symbol.

Das Individuum als Symbol. Sprechen wir von der Idee einer organischen Form, so ist damit nicht gemeint der Geist, der in ihrer individuellen Be, grenzung lebt, sondern der immanente, unseren Sinnen trans, zevdente Formtypvs, wovon die gegenständliche Natnrform nnter bestimmten äußeren Verhältnissen und mit einem bestimmten Material die unmittelbar gesetzte Objettivation ist. Daß eine organische Form überhanpt lebt — und jede organische Form ist nur als Einzelwesen, als Individuum da — ist deshalb ununterbrochenes Ringen und Kämpfen nm das Aussprechea des inneren Typus, der inneren Idee, des Urblldes. Aber nie erreicht das Individuum im äußeren Dasein die naturhafte Der, «trklichung der Idee; nie gelangt es zur „Vollendung. Jedes organische Wesen ist daher nur eine ganz bestimmte und be, schränkte Möglichkeit, die innere Formidee zum Ausdruck zu bringen. Daher auch die immer erneute Notwendigkeit, die In, dividuen ins Unbegrenzte zu vermehren. Und doch decken fle in ihrer Gesamtheit den Ausdruckswillen der Urform nie. Jede organische Formbtldung aber muß sich als Individuum äußern und kann sich nur in individueller Form darstellen. Anderes gibt es naturhistorisch nicht. Die Entwicklungstheorie nahm ursprünglich an, es würde sich durch möglichst zahlreich zusammengebrachtes, zeitlich wohl, geordnetes fossiles Artenmaterial aus den aufeinander folgenden erdgeschichtlichen Zeitaltern Entwickluvgsreihen aufstellen lassen, mit denen eine fortschreitende Umwandlung vnd somit eine Abstammungslinie der Arten sozusagen ad oculos demonstriert wäre. „Aneinanderreihung von Arten" konnte aber, natur, historisch genommen, nichts anderes heißen als Aneinander, reihung von Individuen, die man als Repräsentanten der Arten zu nehmen hätte. Denn die Arten sind ja in der Natur für den induktiv verfahrenden Forscher nichts Greifbares und Sichtbares, sondern stellen sich nur in den einzelnen konkreten Gestalten, somit nur in Individuen dar. Cntwicklungsreihen also, mit denen wir die natürlich,genetische Umwandlung und Abstammung

der Arten beweisen wollen, bleiben auf jeden Fall atomisierte Reihen, Perlenketten von repräsentativem Charakter. Selbst wenn wir jemals aus den Schichten der Dorwelt so viele Individuen fossil zusammenbrächten, daß in ihnen keine jeweils dagewesene „Art" fehlte, würde sich an dem übertragenen Charakter der solcherweise mit Individuen oder gar nur mit Artdefinitionen besetzten Entwicklungsreihen noch nichts geändert haben. Aber auch wenn wir vom Individuum absehen und — was jedoch schon bewußte Metaphysik und deshalb nicht mehr schulgerechte Naturwissenschaft ist — die naturhisiorische Gegebenheit von Arten im landläufigen Sinn anerkennen, so sind sie dennoch empirisch-äußerlich stets nur in Gestalt von Individuen da. Dieses Individuell-Reale ist nun in zweifacher Hinsicht ungeeignet, in seiner äußerlich-zeitlichen Aufeinanderfolge und Aneinander­ reihung den wahren Entwicklungsablauf des darin sich kundtuen­ den Lebensimpulses darzustellen. Der eine Grund liegt darin, daß die ausgewachsene Jndividualgestalt selbst wieder nur ein herausgegriffenes Teil des ganzen Individualwesens und seines natürlichen Lebenszustandes ist. Denn es gehören zum Individuum ja auch seine Jugend- und Embryonalzustände bis zum eben befruchteten Ei zurück. Man müßte sinngemäß also auch diese Formzustände mit in die Ent­ wicklungsreihen aufnehmen und sich dann fragen, welche von diesen temporären Gestaltungen nun eigentlich die „Art" und den jeweiligen stammesgeschichtlichen Entwicklungszustand der Art, zu der das Individuum gehört, typenmäßig ausspricht. Und dies um so mehr, als bei manchen Arten die Individuen in ihrem Embryonal- und Jugendzustand oft eine fortgeschrittenere Organi­ sation zeigen als im erwachsenen Zustand, wie auch umgekehrt durch embryonale Hemmungen gelegentlich Larvenzustände wie fertige Tiere geschlechtsreif werden können. Man kommt also mit dem Individuum in Verlegenheit der wahren Stammesgeschichte gegenüber. Denn während man die Individuen als Artvertreter Punkt um Punkt aneinander­ reihen will, zeigt sich, daß dieses atomistische Zusammensetzen der Entwicklungslinie es gar nicht mit Punkten, sondern mit

Formkomplexen zu tun hat, die eine mehrseitige Bedeutung haben. Dieser Schwierigkeit schien man zu entgehen dvrch die Annahme, daß möglicherweise die Entwicklungsstadien des Einzelindividuums selbst Hinweise ans die von der ganzen Gattung während der erdgeschichtlichen Zeitalter durchlaufenen Entwicklungsform seien. Es müsse also, wenn dies zuträfe, eine Aneinanderreihung wirk­ licher vorweltlicher Artindividuen, wie wir sie oben schilderten, dieselbe Formenkette ergeben wie die Verfolgung der individuellen Entwicklung eines jetzt lebenden Wesens derselben Gattung. Da dies nun keineswegs zutrifst und die erdgeschichtliche Arten­ folge sich mit der Individualentwicklung eines Jetztlebenden nicht oder nur sehr bedingt deckt — ein Parallelverlauf bzw. eine rasche, abgekürzte Wiederholung ist nicht zu erkennen, obwohl Formanklänge an frühere erdgeschichtliche Gattungszustände in jedem Jndividualwesen vorhanden sind — so klafft auch bei diesem Verfahren ein Widerspruch zwischen der Verwendung fossiler Indi­ viduen zu Entwicklungsreihen und den aus der Individualentwick­ lung abgeleiteten vermutlichen ehemaligen Entwicklungszuständen der stammesgeschichtlichen Gattung. Um so verwickelter, um so schwieriger zu beantworten ist die vorhin gestellte Frage, welche Entwicklungsstadien eines Individuums nun eigentlich für die Art oder Gattung wirklich repräsentativ sind. Zum zweiten ist das Individuum deshalb ungeeignet, als Figur in einer wahren stammesgeschichtlichen Entwicklungs­ bahn der Gattung zu dienen, weil es in seiner Ganzheit von der befruchteten Eizelle bis zum Tod des Ausgewachsenen gar nicht die Art selbst, sondern gewissermaßen eine Herausstellung, eine an bestimmte äußere Lebensumstände angepaßte ad boc-Gestaltung ist. Und zwar ist es dies schon vom denkbar frühesten Stadium ab, nämlich schon als Ei und Samen in getrennten Elternkörpern, wo es die Art schon potentiell als Ganzes enthält und nun vom Augenblick des selbständigen Entwicklungszustandes ab nur der Repräsentant der Art in ihrer Herausstellung ins KonkretPhysische ist, wobei die „Art" als solche immanent bleibt, aber im gegenständlichen Sinn selber nicht da ist. Man kann also sagen, ein Individuum ist in jedem Fall, und mindestens vom Augen-

blick der Befruchtung an ein Wechselwirkvngsprodukt von innerer Artbestimmtheit und Süßeren Lebensbedingungen und Lebens, erfordernissen. Was sich nun stammesgeschichtlich wirklich entwickelt hat, damit ein Individuum heutiger Art herauskommen könne und wovon die Individuen nun lebendiger Ausdruck sind, das ist weder das fertige noch das embryonale pflanzliche oder tierische Einzelwesen, noch auch die endlose Zeitkette von solchen, die man äußerlich rosenkranzförmig zu „Entwicklungsreihen" aneinanderfügt; sov, dern jedes nur denkbare und einmal gewesene oder seiende In, dividuum ist in jedem seiner Stadien und in jeder möglichen Form lediglich Ausdruck des Entwicklungsgrades und damit des Formschaffvngszustandes einer inneren, höheren, nichtindividuelleo Artenwirklichkeil, einer Entelechie. Wenn wir das Blld der Perlen, kette — jeder Vergleich hinkt — aufnehmen, so wären die in der Zeitenreihe aufeinander folgenden verschiedenartigen Gene, rationen der Individuen gewissermaßen die Perlen, deren Gestalt nun aus der innen durchziehenden Schnur in Wechselwirkung mit Umweltbedingungen immerzu hervorgeht, wobei die Schnur nirgends selbst wie ein Individuum aussieht oder ein solches ist, auch nicht die Summe aller wirklichen oder möglichen Individuen, sondern ein inneres lebendiges Kontinuum, von dessen „Eni, wicklungszustand" die Individuen allenfalls symbolisch Zeugnis ablegen, gespiegelt und ausgedrückt als materielle Organismen. Wir sagen also: Was man als stammesgeschichtliche Entwick, luag bezeichnet, das, wovon die Individuen in allen ihren Stadien

und Formmöglichkeiten stets spezialisiert,lebendiger Ausdruck sind, ist nicht selbst ein solches konkretes Einzelwesen, sondern eine höhere überindividuelle Wirklichkeit. Nicht die aneinander ge, reihten Individuen in ihrer zeitlichen Formgestaltung sind das, was die Entwicklung ausmacht; sondern diese Entwicklung ist eia metaphysisches Etwas, wovon die „wirklichen" Gestaltungen in ihrer erdgeschichtlichen Folge lebendig geschaffenes Symbol sind. Die Entwicklung selbst aber vollzieht sich in jenem von allen In, dividuen getragenen und in ihnen zur äußeren Erscheinung ge, brachten Lebenszustand, in jenem „Jnnenraum", der sie selbst

doch wieder in sich hegt vvd nährt, sie ermöglicht »nd bestimmt, vnd der doch selbst nie und nimmer die konkrete Form selber ist. Er ist mehr als die Gestalt. Wir wissen, daß die Individuen Potenzen der Gestaltung ent, halten, die sie einzeln gar nicht allein zum Ausdruck bringen kön, aen. So gibt es Muschelgehäuse ein und derselben natürlichen Art, bei der die Geschwister ein und derselben Generation Eigen, tümlichkeiten der Form verwirklichen, die sich in einem einzigen Körper gegenseitig ausschließen. So beispielsweise, wenn der Scha, lenrand des einen Gehäuses wellig, der des andereu vollständig glattrandig ist; beides zusammen ist an ein und demselben In, dividuum gar nicht zu verwirklichen, sondern dazu gehören mehrere. Im Raum, im Gegenständlichen schließen sich diese beiden Eigen, schäften einfach aus, und doch sind sie Ausdruck derselben „Art", der Artenentelechie. Und da sich die ganze Art in der empirisch beschränkten Zahl der Individuum nie zur vollen Entfaltung «nd Darstellung bringt, aber immerfort zu solcher herausdrängt, so sehen wir hier den inneren Grund zu der endlos sich erneuernden Geburt immer anderer Individuen und zu der endlosen Gene, rationenfolge — der „Wllle zum Dasein" der sich selbst bejahen, den, sich selbst wollenden Natur. Die Art kann also nicht die Form selbst sein, sondern nur die Potenz, unter gegebenen äußeren Bedingungen sich so oder so in Gestalt eines Individuums zu enthüllen. Jenes, die In, dividuen potentiell Enthaltende, sich in ihnen Manifestierende — wir können es als ein Metaphysisches mit unserem nach dem Satz vom Grunde verfahrenden Verstand nicht unmittelbar nennen und es als ein Ungegenständliches auch nicht beschreiben, sondern nur versinnbildlichen — das ist es, was sich entwickelt und innerlich Kontinuum ist. Es kann daher durch Entwicklungs, reihen gar nicht unmittelbar zur Anschauung gebracht, sondern nur sinnbildlich angedeutet werden. Es ist nicht das Körperhafte als solches, wie man es zur Darstellung von Entwicklungsliniev naturhistorisch verwendet; es ist weder das embryonale noch das herangereifte Individuum; es ist auch nicht die Gesamtheit der durch erdgeschichtliche Epochen einander erzeugenden und dabei

abändernden Individuen — sondern alles das ist nur seine lebendige Manifestation in einer Umwelt physischer Art, die ihrer­ seits auch wieder Manifestation in einem anderen Sinn ist. Die organische Manifestation jedoch ist als äußerer, jur Gestaltung eines Individuums führender oder darin sich für unseren be­ trachtenden Verstand objektivierender Lebensvorgang zugleich Ausdruck für die metaphysische Tatsache, daß eine innere, an sich körperlose, jedoch nicht wesenlose „Urform" Zustände lebt, die wir nach ihren äußeren Anzeichen — den Individuen — „Entwick­ lung" nennen. Wir haben stets ein Symbol für etwas an sich Ungreifbares, Uvsehbares, Unnennbares vor uns. Wie Gott dem Moses auf dem Sinai „wie" ein brennender Dornbusch er­ scheint, aber nicht der brennende Dornbusch selber ist, so haben wir auch in den zeitlich geordneten Individuen und ihren Reihen nicht die Entwicklung selbst, sondern eine symbolische, jedoch von innen heraus lebendig gestaltete Spiegelung des eigentlich „Wirk­ lichen" vor uns. Wollten wir nun, die Sache rein naturhistorisch-empirisch zu Ende denkend, uns dorthin begeben, wo sich „die Entwicklung" eigentlich vollzieht, so müßten wir zeitlich und körperlich vor das Individuum, vor die Eizelle, vor das Sperma kommen können; denn das alles ist ja schon „Herausstellung" in das äußere Leben, ist schon konkrete Form, ist schon körperhafte Objektivierung der „Urform". Dieser gesuchte innere Ausgangspunkt ist daher auch nicht schlechthin das schon vorausgehende Individuum, ist also auch nicht die ganze vorausgegangene Reihe der Individuen, auch nicht die naturwissenschaftlich gedachte zeitlich erste Lebens­ form, die ein formloser Urschleim gewesen wäre; sondern dieser gesuchte innere Ausgangspunkt ist selbst immer gegenwärtig, sei das Individuum im Zustand der Eizelle oder des erwachsenen Wesens. Er ist eben die in allen äußeren Formgestalten und Formwechsel und in allen erdenklichen Generationsfolgen der Individuen vorhandene, sich immer von neuem in ihnen dar­ tuende „Urform". Diese kann somit nirgends im Raum, nirgends in der Zeit, nirgends als Körpertum selber stehen. Es kann also das sich Entwickelnde auch nicht unmittelbar naturhistorisch96

empirisch gefaßt und gesehen werden, sondern nur in den For­ men als seinem Symbol. In einer kleinen, höchst inhaltsreichen Schrift des Anatomen Naef findet flch für jenen lebenerfüllten, lebengestalteadea und doch ungreifbaren „Jnnenraum", woraus alle organische Gestaltvng als dessen Manifestation entspringt und für dessen In­ stand die organischen Gestalten Symbol find, der realistische Aus­ druck „Keimbahn". Wie wissen heute, daß die ganze Keimsphäre geradezu eine eigene, vom Individuum getragene Körperlichkeit ist, welche sozusagen durch die Generationen hindurchgeht und die Erbmasse weitergibt, von der es sehr fraglich ist, ob ste über­ haupt durch das Individuum individuell beeinflußt werden kann. Das ist der große Streit um die Dererbungsmöglichkeit indi­ vidueller und individuell erworbener Eigenschaften. Bei Naef nun heißt es: „Der eigentliche Träger der organischen Geschichte, der die Generationen überdauert, die Kontinuität des Lebens garan­ tiert, ist also in der Keimbahnentwicklung verkörpert, aus der die höheren Individuen, wie die Schosse aus einem unterirdischen Wurzelstock periodisch austreiben, um, nachdem fle ihre Funktion erfüllt haben, wieder abznsterben. Dieses Bild gibt, wie kein anderes, das Verhältnis zwischen der endlosen Keimbahnentwick­ lung und der ephemeren der vielzelligen Individuen wieder. Es macht uns vor allem klar, daß das Wesen der Stammesentwick­ lung nicht, wie es gewöhnlich aufgefaßt wird, in der Aneinander­ reihung unzähliger Generationen von Tier- und Pflanzenindivi­ duen bestehen kann, sondern nur in der ununterbrochenen Fort­ dauer der Keimbahnentwicklung. Denn eine unterbrochene Ge­ schichte ist überhaupt keine Geschichte, und Phylogenese als wirk­ liche Geschichte könnte also nicht ohne weiteres durch eine Ahnen­ reihe dargestellt werden, auch nicht, wenn dieselbe richtig, ja sogar direkt beobachtet wäre. Die Glieder einer solchen Ahnenreihe sind ja nicht Stadien eines Vorganges, und der Werdegang, den sie vortäuschen, ist durchaus nur ein gedachter. Die idealistische Morphologie hatte also doppelt recht, die Beziehungen verwandter Formen zunächst als ideelle aufzufassen, denn sie bleiben das auch für uns." OaequL, Leben als Symbol.

7

97

Was unsere Auffassung von der hier herangejogeaen gründ, sächlich trennt, ist dies, daß hier die Keimbahn als etwas physiolo, gisch,körperlich Faßbares noch genommen wird. Zwar heißt es, die Ahneareihe werde zu einem Symbol der Stammesgeschichte, wenn wir jeden einzelnen Ahnen als die Folge eines Zustandes auffassen, auf dem die Keimbahnentwicklung im Moment seiner Erzeugung angekommen war; «nd die Ahnenreihe lasse flch nur aus einer Reihe aufeinander folgender Ontogenesen aufbauen, die fortschreitend abgeändert werden. Aber was ist denn „die Keimbahn"? Auch wenn ste vom frühesten Zustand eines jeden Individuums aus schon in eigenen Zellen abgespalten und für fich im Jndividualkörper entwickelt wird, so gilt doch auch für ste in bezug auf ihr Formwerden dasselbe, was wir oben für das Individuum ausführlich überhaupt zu sagen hatten. Unser Ge, währsmann versucht immer wieder als Naturforscher ste konkret zu bezeichnen und vergleicht sie bald mit einer zyklischen Bahn vom Ei zum geschlechtsreifen Tier «nd von diesem zum Ei, bald mit einem unter der Erde kriechenden Wurzelstock, der seine Triebe hervorschickt, was unserem Bild von der Perlenkette ent, spricht. Doch das alles sind eben nur übertragene Sprechweise« und körperhafte Als,ob,Bezeichnungen. Die gesuchte „Keimbahn" ist eben nichts Körperliches, sondern Potenz, Urbild, metaphysische Urform, die sich in Ontogenesen, in Individuen und Generatioos, reihen unter dem Bild der Formenwandlung und endlich über, Haupt in jedem physiologischen Vorgang manifestiert. Sie ist das innere Kontinuum, von dem Bergson sagt, daß alles körper, liche Betrachten und korpuskuläre Darstellen eben gerade das Wesen nicht sieht, nicht den „Elan vital“, nicht die innere lebendige Wirklichkeit. Diese innere lebendige Wirklichkeit objektiviert sich in den äußeren Individuen und ihren Generationsfolgen; und da sie sich nie ganz zum Ausdruck gebracht hat, ruft sie endlos neue Zeugungen heraus. Die gesuchte physiologische Keimbahn ist daher nichts anderes als die körperhaft ausgedrückte Umschreibung für das, wofür uns eben die Möglichkeit des Aussprechens wie der sinnlichen Anschau, ung grundsätzlich mangelt, ebenso, wie es auch in der Dererbungs, 98

lehre mit den Genen und Dienten, im Stoff mit den Molekülen, Atomen vnd Jonen ist, die — hätten wir auch das stärkste Mikro­ skop — immer ein Metaphystsches bleiben werden, dessen Kenn, zeichen es gerade ist, in seiner wesenhaften Wirklichkeit nicht dem flanenhaften Blick, nicht den Derstandeskategorien zugänglich zu sein und was daher mit der Sprache nicht unmittelbar, sondern nur symbolisch ausdrückbar ist, wie es stch selbst dem Denkverstand nur in Symbolen darstellt. So stnd und bleiben auch die Individuen, also die gegebenen organischen Gestaltungen, Symbolzeichen für den inneren lebendig,metaphysischen Zusam, menhang in den scheinbar körperlich sich erzeugenden, in Wirklich, keit jedoch stets schöpferisch von innen her manifestierten Einzel, wesen, die darum im wahrsten Sinn als originale „Geschöpfe" ihrer inneren Art, ihres Urbildes entstehen und von ihm lebendiges Zeugnis ablegen. Daher mag es kommen, daß auch in jedem Augenblick „neue Arten" entstehen könne». Was wir Vererbung von Individuum zu Individuum nennen, ist stets von neuem „gewollte" Manifestation des inneren Wirklichkeitszustandes, wie jedes scheinbar die Vererbung brechende plötzliche Neuentstehen von Arten, das sich in der erdgeschichtlichen Entwicklung der Typen immerfort zeigt. Das Individuum ist nicht selbst die Art; auch Tausende von Individuen nicht. Aber sie repräsentieren, wenn auch begrenzt und bedingt, die Art, und schon eines bedeutet sie. Wie sie die Art bedeuten, so bedeuten sie, aneinander gereiht, auch die Ent, Wicklung. Denn auch zu Entwicklungsreihen steht uns nichts anderes als Individuen zu Gebote, weil es die Art naturhast konkret nicht gibt. Sind also die Individuen Symbole der Ent, Wicklung, wie sie Symbole der Art sind, so können auch Formen, reihen, die man ans ihnen zusammenstellt, nicht die Entwicklung selbst zeigen, sondern diese nur symbolhaft andeuten. Das ist der Grund, weshalb es keine naturhaft äußerlichen Entwicklungsreihen im Sinn der bisherigen Abstammungslehre gibt. Also nicht die vielberufene „Lückenhaftigkeit des erdgeschichtlichen Beweis, Materials schließt eine unmittelbare Darstellung der organischen Entwicklung aus, sondern die grundsätzliche Unmöglichkeit,

7

99

die Entwicklung des Lebens anders denn als symbolisch durch Individuen wiederjvgeben.

6. Die Wandlung der Art. Als man in der darwinischen Deszendenzlehre unter „Ent, stehnng der Arten" dies verstand, daß fich auf Grund zufälligen Variierens und Überlebens der nützlichen Varianten im Kampf mit der Umwelt die Körperlichkeit der sich gegenseitig erzeugenden und fortpflanzenden Individuen ändere und diese Änderung sich

tellweise erblich fortsetze, prägte man den Satz, daß Arten konstant gewordene Varietäten, Varietäten in Bildung begriffene Arten seien. Es war dies eine epigenetische Auffassung der Umwandlung, die man streng genommen gar nicht Entwicklung nennen durste, weil sie den Organismus und die an ihm neu erscheinenden Merkmale als von außen herangekommen und zusammengesetzt betrachtete. Eine naturhistorische Entwicklungslehre im eigent­ lichen Sinn dagegen, wenn man sie einmal hypothetisch gelten lassen will, kann nur von Anfangs- und Urformen ausgehen, diesen potentiell alle Möglichkeiten späterer Formbildung und Formenmannigfaltigkeit zuschreiben und sie sich nun unter ent­ sprechenden äußeren Bedingungen allmählich „entwickeln" lassen. Im ersteren Fall, dem der epigenetischen Deszendenzlehre, hätte die Anfangsform nichts enthalten, als ihre eigene damalige äußere Formbestimmtheit; es wäre dann Zufall und unaussprechliches Wunder, daß sie jemals mehr geworden wäre. Im letzteren Fall dagegen haben wir eine Entwicklungslehre, die sich auf den einzigen Beweis stützen kann, den wir für sie haben: die Vererbung des Typus. Verfolge ich eine Art durch mehrere Gegenden und Lebens­ lagen, so finde ich sie etwa im Flachland anders aussehend als im Gebirge; auf Sandboden anders als auf Kalkboden; gehe ich von einer bestimmten Formdarstellung der Art aus, so erscheint sie mir in den anderen Gegenden „verändert". Ich finde die Ver­ änderung der Form in den Individuen repräsentiert und kann die Individuen zu Reihen anordnen, welche mir diese Veränderung darstellen. Verpflanze ich eine Gebirgsform in die Ebene, so

ioo

schlägt sie womöglich um io die Gestalt der in der Ebene ansässigen Form. Es kommen auch Standortsverschiedeuheiten vor, die, verpflanjt, nicht ««schlagen, weder individuell noch in Generationen. Das sind dann die konstanten Varietäten oder Arten. Maa kann aber gelegentlich experimentell beweisen, daß auch sie auseinander hervorgiagen; man hat das bei Pflanzen und Tieren oftmals und weitreichend beobachtet; man hat dabei auch das plötzliche Umspringen der Form in einer neuen Generation beobachtet; eS zeigten sich Umprägungen des Artcharatters, sowohl im Rück­ schlag, wie auch in neuer Richtung, die dauernd bleiben können und sich somit als neue Arten fortsetzen. Es entsteht ein anderes kon­ kretes Gestaltuagsbild der Art. So kann man auf den Geda«, ken kommen, daß „verwandte" Arten einmal durch Zeugung zugleich oder nacheinander auseinander hervorgingen, also etwa Katze, Leopard, Tiger. Das ist einer der Grundsteine der Abstammungslehre. Mit ihm hat unser zuvor formal gewonnener Artbegriff ein anderes Gesicht bekommen. Es zeigt sich, daß da nicht nur ein Formales zu finden ist, sondern daß in den eine Art repräsentierenden Individuen zweierlei steckt: die Fähigkeit, die Form an Nach, kommen weilerzugeben, und die Fähigkeit, selbst schon anders­ artig zu werden und auch andersartige Nachkommen hervorzubringen. Damit können wir aber ein Äußerlich-Formales und ein Innerlich-Wesenhaftes unterscheiden. Die äußere Art ist eine reine Abstraktion; die innere Art im wesentlichen Sinn ist jene formbildende Bestimmtheit, die in allen Individuen deutlich zum Ausdruck kommt, aber weder durch die Summe der Indi­ viduen bestimmt, noch dargesiellt ist. Schon das einzelne Indi­ viduum drückt diese innere Art aus und ist doch nicht die Art selbst, obwohl es deren Potenz in seiner „Erbmasse mit fich führt. Die innere Art, das lebendige Wesen bleibt dasselbe, auch wenn sich das äußere körperhafte Artbild ändert. Wenn also eine neue Abart oder Art, sei es eine konstante oder eine unter gegebenen Bedingungen zurückschlagende, zustande kommt, so heißt das, vorsichtig ausgedrückt, zunächst nicht: eine neue Art ist entstanden; sondern es heißt nur: die in der „Art" liegenIOI

den Fähigkeiten haben Gelegenheit bekommen, sich körperlich sichtbar zu manifesiieren. Im Organismus liegt die Fähigkeit, das zeitweise unsichtbar Bleibende zu geeigneter Zeit zu entwickeln, vielleicht dann, wenn neue Lebeusbedingungev eintreten, unter denen die latenten Fähigkeiten zur Formblldung sich entfalten können. Dies sieht dann wie eine „Neuerwerbung" von körperlichen Eigenschaften aus, während es in Wirklchkeit eine Manifestierung des innerlich Vorhandenen ist. Form, Organismus ist daher immer Spavnungszustand, und was sich davon entlädt, erscheint als körper­ liches Artbild in den Individuen. Das Individuum ist also, wie schon gezeigt, Symbol, in dem die Entelechie der Art be­ grenzten Ausdruck findet. „Arten" somit schlechthin durch die Körperlichkeit der Individuen charakterisieren zu wollen, ist erkenvtnistheoretisch ebenso unzureichend, wie etwa innere Ver­ wandtschaft von der körperlichen Gleichheit abhängig zu machen. Eine natürliche Art besteht aus einer Unzahl innerer Formpotenzea, Elemevtararten, die keineswegs an jedem Individuum alle verwirllicht sind, sondern dies nur unter bestimmten Umstän­ den jeweils sein können. Man sagt dann, der Phänotypus, d. i. die gesamte Körperlichkeit als solche, decke sich nicht mit dem Genotypus, d. h. mit der inneren, potentiellen erbmäßigen Formbildungsfähigkeit. Es gibt viele „verwandte" Arten und Artlinien, die in den geologischen Epochen nebeneinander hergehen; es gibt viele Parallelreihen des Ähnlichen und Variablen innerhalb engerer

Formenkreise. Alles das beweist, daß die in der äußeren Form gebundene und kundtuende Entelechie sich viele Ausdrucksformen zu schaffen sucht und diese festhält, solange sie ein geeigneter Aus, druck sind; oder sich gewisse Möglichkeiten schafft, von denen aus sie je nach dem kommenden Bedürfnis nun den einen oder anderen Weg der Formenumprägung einschlagen kann. Wenn dann der Augenblick gekommen ist, bricht das Neue explosiv hervor, die alte Formgebung zerreißt, es fällt das Bisherige zur Seite, und nun leben sich bisher gehemmte oder verhüllte oder nur schüchtern angedeutete Seiten in neuen Arten aus. So ist es

bis ins kleinste der Formgebung hinein, bis zur Varianten, bildvag inuerhalb von Arten: ein ewiges Drängen nach neuer veränderter Form, weil die Entelechie bei ihrer ganzen Span», kraft immerfort gehalten ist, stch den äußeren Erfordernissen anzv, passen, konstante Formen zu bilden, damit nichts der Dihaltung der Art Unzuträgliches von innen heraus geschehe; trotzdem aber immerzu den Drang hat, sich spontan nach außen in neuer Form zu geben, deshalb zahllose Generationen häuft, um immer wieder in jedem Augenblick bereit zu sein, neue Arten herauszusiellea. Eine naturhistorische Formprägung oder Formumprägung käme also, übertragen gesprochen, dadurch zustande, daß es der Entelechie gelingt, eine bestimmte, sonst gehemmte Seite ihrer Epannungszustände durch äußere Artentwicklung zur Geltung zu bringen und nun plötzlich aus einer bisherigen Generationen, folge einen ganz anderen Formtypus zu entwickeln, der, empirisch, naturhistorisch gesehen, unter Umständen als gar nicht „verwandt zu einer bisher bestehenden Artenfolge erscheint. Wenn nun die äußeren Bedingungen, unter welche eine Art gerät, oder wenn ein innerer entelechischer Formbildungsrhythmus die phänotypische Ausbildung bestimmter Merkmale, bestimmter Körperlichkeit erlaubt, so müssen eben deshalb auch unter be, stimmten inneren oder äußeren Umständen Eigenschaften, die sich entfalten könnten, unterdrückt werden; sie fallen aus zugunsten anderer dominanter Eigenschaften. Und auch damit hat stch die „Art", und zwar das körperhafte Artbild entsprechend jenen Umständen „geändert". Aber nicht ist aus Varietäten eine Art geworden, sondern die Art ist unverändert im Genotypus als ihrem metaphysischen Zentrum nach wie vor gleich vorhanden, weil dort der Potenz nach sozusagen alles friedlich beieinander wohnen kann, was sich als Ding mit anderen Dingen hart im Raum stößt. Es bleibt das bisherige körperhafte Artbild verhüllt, es bleibt vnstchtbar, es bleibt latent, und an Stelle bisheriger Körperform tritt eine andere, die entweder zuvor nicht da war, oder die lange nicht mehr da war. Und an Stelle dessen tritt aus bisheriger Verhüllung nun jene Formpotenz, mit welcher das neue Körperbild möglich wird. Stellt man sich diesen Prozeß als

i°3

einen großwelligen, innerlich oder änßerlich bedingten Rhythmus der Formblldung vor, so erscheint nicht nur im Zusammenhang mit äußeren oder inneren Bedingungen eine neue „Art", sondern es intermittieren auch ArtbUder längere oder kürzere Zeit. Das ist nun jene eigentümliche Erscheinung, ja fast darf man sagen das Gesetz der Jntermittenz von Formen, das wir in der Erdgeschichte häufig beobachten. Es verschwinden Arten für längere oder kürzere Zeit und treten auf einmal wieder hervor, und umgekehrt. Man hat dies sehr äußerlich dadurch erklären wollen, daß man annahm, man habe die betreffenden Arten in den Zwischenschichten noch nicht gefunden. Aber die Erscheinung ist teils zu regelmäßig und verrät zu deutlich den Rhythmus, teils liegt oft ein so reichliches Material auch aus den Zwischen­ schichten vor, daß es nicht am Zufall des Nichtfindens der verschwundenen Formen liegen kann, wenn diese in der Zwi­ schenzeit fehlen. Man kann über die Ursache dieser Erscheinung verschiedener Ansicht sein und sie zunächst aus der Einwirkung äußerer Bedin­ gungen erklären. Andere äußere Bedingungen äußern sich in an­ deren Schichtbildungen. Und so mag es geschehen, daß wir lange Zeit von Schicht zu Schicht eine „Art" fossil finden, die auf ein­ mal in einer folgenden Schicht verschwindet, um einer „neuen" Att Platz zu machen, die nun ihrerseits so lange anhält, bis wieder die alten Bedingungen einsetzen, womit auf einmal wieder die frühere Art erscheint. Denkt man sich diesen Prozeß mehrmals wiederholt, dann hat man eine Zeitfolge, repräsentiert durch Schichtungen, in denen intermittierend gleiche oder ähnliche For­ men austreten, die immer wieder dazwischen von andersartigen abgelöst werden. Es kann aber auch ein innerer, eigengesetzlicher Rhythmus der Formblldung vorliegen, wie es zuvor angegeutet wurde, wodurch sich periodisch das Attblld ändert. Die „Att" als inneres Wesen wäre also auch unter äußerlich verändetter Gestalt immer noch unverändert da, und es würde nur phönotypisch eine Jntermtttenz, ein scheinbares Auslöschen und ein Ersatz durch andere Formen stattfinden. Unterdessen mögen aber auch die wechselnden äußeren Einflüsse gewirtt und in der „Erbmasse" 104

Umlagerungen bewirtt haben, die nun dazu führen, daß bei Wiederkehr der älteren Bedingungen nicht mehr die früheren Eigenschaften heraustreten, sondern etwas ganz anderes zur Er, scheinung gelangt. In allen diesen Fällen reißt die Formenkette phänotypisch ab, und wir können mit dem vorhandenen Fossilmaterial, ob­ wohl es „vollständig" ist, keine geschlossene Reihe gewinnen. Man steht also, wie äußerlich es ist und wie wenig es den wahren Sinn der Sache trifft, den Artbegriff auf die körperliche Erschei­ nung als solche schlechthin zu gründen. Zeigen auch Züchtungsversuche und Erbuntersuchungen eine gewisse Formenbreite an und kann man dadurch gelegentlich Verhülltgebliebenes nach­ weisen, so ist doch für die tiefere Frage des Werdens von Arten im entwicklungsgeschichtlichen Sinn nichts damit gewonnen. Es bleiben die Individuen, und seien es noch so viele, die man von einer Art vor sich hat, doch zuletzt immer wie Probestücke, aber sie geben den inneren Typus der Art, ihren Genotypus, ihr Wesen, ihre Cntelechie, ihre lebendige Idee nicht anders als andeu­ tungsweise wieder. Das Leben ist für unseren, nur die äußeren Formen ver­ gleichenden und danach seine Begriffe bildenden Verstand so jenseitig, daß wir immer auf der Außenfläche, immer in einer Spiegelung des Daseins bleiben, wenn wir nicht symbolisch sehen können. Und darum fragen wir uns mit Recht, ob Gattungen und Atten, zu denen wir durch Abstrattion gelangten, überhaupt existieren oder, wenn doch, in welchem Sinn, auf welcher Ebene des Daseins? Man könnte auch fragen: was würde uns über­ haupt veranlassen, von solchen höheren Einheiten zu reden, wenn wir nicht unbewußt, fast möchte man sagen instinttiv schon die höhere lebendige, nicht abstratte Einheit im voraus ahnten oder erblickten und aus dieser Jnnenschau heraus nun mit äußeren Mitteln die lebenden Wesen eben in Arten und Gattungen ein­ teilten, von denen wir dann überzeugt find, daß sie in irgendeinem Sinn etwas Wirkliches sein müssen? Wir können zunächst äußerlich, empirisch festzustellen suchen, worin etwa diese Wirklichkeit besteht oder worin sie sich zum Aus-

druck bringt? Dor allem erleben wir immerzu, daß die Nach­ kommen der Individuen im wesentlichen den Eltern gleichen. Immer wieder entstehen gleichartige, wenn auch individuell stets etwas verschiedene Nachkommen. Aus einem Nußbaum wird unmittelbar kein Apfelbaum, und aus einer Katze geht kein Hund hervor. Jedes trägt seine Att mit sich herum, stets dieselbe Att, und vererbt sie auf seine Nachkommen; und ist das Individuum erloschen, so ist der innere Gehalt der Art in den mitlebenden oder folgenden oder früheren Individuen vorhanden. Das Indivi­ duum als gegebenes Konkretes trägt in sich also das dvrchdauernde und in jedem Individuum neu variiette Formpriuzip der „Art". Die schwierigste Frage bei der Wandlungslehre ist nun die: Ändert sich die innere Bestimmtheit, ändert sich das Wesen der Att, wenn sich die äußere Form ändett? Was ist denn geschehen, wenn die äußere Art sich wandelt? Hat sich die innere Art als jene Potenz zur Gestaltung in äußerer Vielheit und sich äußerlich selbst widersprechender Mannig­ faltigkeit mitgewandelt? Wenn wir ein Salzwasserkrebschen ins Süßwasser verpflanzen und bemerken, daß es dort die Gestalt einer bestimmten Süßwasserart annimmt, oder wenn wir an die sich wandelnden Pflanzen denken, die wir aus der einen Lebens­ lage in die andere hinüberbrachten; oder wenn Schmetterlinge, die man, statt sie im Kalten Überwindern zu lasse», ins Warme bringt, danach gewissen tropischen Schmetterlingen gleichen; oder wenn weiße Blüten bei bestimmter Ernährung zu roten Blüten «erden; wenn Frösche, die man mit Fleischnahrung aufzog, einen langen Darm bekommen — so ist die Atteigenschaft, wie Gold­ schmidt sagt, nicht eine bestimmte „Farbe", nicht „gestreift", nicht „tos', nicht „kurzdarmig", sondern die Fähigkeit, unter be­ stimmten Umständen so zu werden. Es steckt also in der „Art" potentiell die Möglichkeit zur Entfaltung „neuet", vorher noch nicht verwirklicht gewesener Formeigenschaften. Die „Att" heißt da nichts anderes als die Fähigkeit, unter bestimmten Bedin­ gungen eine bestimmte Form zu bilden. Man sieht, wie rasch die Würdignng der wirklichen Tatsachen auch selbst einen ganz anders eingestellten Forscher zu der unumwundenen metaphysischen

106

Ausdrucksweise treibt, wenn er sich noch so sehr bemüht, ihr avszuweichen. Es ist das, was wir eingangs schon sagten, daß man sich dieser Denk- und Sprechweise gar nicht entziehen kann und deshalb am besten mit ihr Ernst macht, statt durch Vorstellungen von Korpuskulärem immer wieder sich den Weg zur Sache zu verbauen. Wenn sich noch so viele äußere Arten jemals auseinander ab­ zweigten, so ist es dennoch möglich, ja nach unserer bisherigen Be­ trachtungsweise wahrscheinlich, daß sich damit im Wesen der Art und ihrer „Urform" gar nichts änderte. Es kann also auch sein, daß es äußere Artumwaudluugeu gibt, die nur als Antwort auf veränderte Lebensbedingvngen von dem im übrigen in seinen Potenzen innerlich unverwandelt gebliebenen Artwesen erfolgten; es kann aber auch sein, daß sich dieses Wesen selbst in sich so ändert, daß nun ganz unabhängig von der äußeren Welt sich eine neue Formgestaltung, rein von innen her, als Art konstituiert und in neuen, phänotypisch konstanten Arten in Erscheinung tritt. Eine Potenz, eine Kraft, eine innere Wirklichkeit, die etwas gestaltet, darf man sich aber nicht körperlich, wie das Gestaltete vorstellen wollen. Wir können eine solche innere Bestimmtheit erfühlen und im Konkreten auch erschauen und können uns die Potenz etwa an „Erbmasse gebunden denken, die von Gene­ ration zu Generation übertragen wird und von Individuum zu Individuum geht. Aber auch die Erbmasse ist nur Ausdruck der art­ gestaltenden Kraft, nicht diese schlechthin. Und so symbolisieren wir diese artgestaltende Kraft durch eine gewisse, der Substanz zugedichtete Struktur, müssen dies aber im Bewußtsein behalten, damit wir die Manifestation nicht für die Sache selbst nehmen. Hier stehen wir, wie bei jeder Begriffsbildung und bei jeder Be­ schreibung, stets an der Grenze naiv realistischn Formdenkens und metaphysischer Einsicht. So sehen wir bei allem äußeren Formenwechsel eine innere, sozusagen zielsichere Einheit, die vorhanden ist. Wie wäre sonst die weitgehende Metamorphose der Schmetterlinge oder Käfer zu verstehen, wo doch ein Organismus völlig aufgelöst und um­ geschmolzen wird. Dennoch bleibt er dasselbe Individuum und

io7

repräsentiert seine „Art" ans so entgegengesetzte, formverschiedene Weise innerhalb seines Eivzellebens, so daß wir gerader« sehen, wie in solchem Wechsel dennoch ein vvd dasselbe formgebevde innere Wesen bestehen bleibt. Und ist nicht im Grunde das ganze Leben des Einzelwesens dasselbe, trotz allen Stoffwechsels, der vauvterbrochen vor stch geht? Wie könnte sonst überhaupt eine Asstmllation von Nahrvngssioffen, eine Regeaeriervng des ver­ letzten Körpers von statten gehen, wenn nicht innere Form­ bestimmtheit da wäre, die ans dem Principium individuationis beruht, das als solches doch zugleich der „Art" Aus­ druck zu verschaffen sucht, die ihm eingeboren ist? In jedem Individuum steckt die Entelechie der „ganzen" Att. Diese kann stch in Generationen wie in Geschwistern immer anders, in immer neuen Formgestaltungen, d. h. in neuen empirisch naturhistorischea Varianten und Mutanten äußern. Daß es nicht immerfort geschieht, sondern anscheinend nur bei bestimmten „Gelegenheiten", das können wir als Ausdruck von Hemmungs­ zuständen oder Rhythmen des lebendigen Gestaltens bezeichnen, das stch immerfott in allen erdenklichen äußeren Gestaltungen Ausdruck verschaffen möchte. Es ist der Schopenhauersche trans­ zendente „Wille zum Dasein", der sich endlos objettiviert. Von hier aus werden wir nachher noch den inneren Sinn dieser organi­ schen Gestaltung zu erkennen haben. Das Leben ist Rhythmus, der sich in verschiedener Form­ gebung äußett. Er besteht, von außen gesehen, darin, daß sich ausschließende FormbUduagen nicht bloß mehrfach nebeneinander und miteinander, sondern abwechselnd auch miteinander mani­ festieren müssen. DaS zeigt sich im engsten Kreis beim „Wen­ deln" der Generationen, wobei Eigenschaften von Eltern sich nicht vvmittelbar auf die Kinder, sondern auf die Enkel erst über­ tragen. Oft verläuft dieser Eigenschaftswechsel in geradezu sche­ matischer Form. Sodann gibt es noch einen anderen Rhythmus, der darin begründet ist, daß oftmals Eigenschaften sich entwickeln müssen, die sich an ein «nd demselben Individuum, als einem Räumlich-Gegenständlichen, einfach ausschließen. So, wenn in dem vorhin erwähnten Beispiel Muschelschalen einen gefalteten

108

Schalenrand haben und es ebensogut eia Charakteristikum der Art sein kann, einen ungefalteten Schloßrand jv besitzen. So müssen eben viele Individuen entstehen, welche das eine oder daS andere und alle Übergänge zeigen; und wenn dies mit mendelistischer Regelmäßigkeit geschieht, so offenbart sich auch hier der Rhythmus und das beständige Urbild im Dielen. In noch größeren Jeitzwischenräumen erscheint dieser Rhythmus in den erdgeschichtlichen Perioden als Jntermittenz der Formenbildung. Da leben oft eine Zeit lang bestimmte spezielle Form­ gestaltungen eines umfassenden Genus; dann verschwinden fie radikal, um nach einigen Zeitstufeu oder nach überspringvng einer einzigen Zeitstufe, wieder zu erscheinen und dies womöglich noch einmal zu wiederholen. Don innen gesehen, kann man daS wiederum als Epannungszustand auffassen: die Entelechie ist nicht in der Lage, gleichzeitig diese Formen zu verwirklichen; so verwirklicht sie die eine und hält die andere in Bindung; und umgekehrt. Sie kann aber auch die bestehende Formgebung nach außen dauernd aufrecht erhalten und dann auf einmal in der Lage sein, eine neue zu geben, sei es unter Bestehenlassen der bisherigen, sei es unter Derschwindenlassen der früheren. Alles das also, was wir im tieferen Sinn „Arten" nennen, sind Hemmungen, Eingrenzungen, Rhythmen und Spannungen des ins Endlose zu schweifen trachtenden Wesens des Gesamt­ organischen. Und diese inneren Abgrenzungen sind die Entelechien der einzelnen äußeren naturhistorischen Arten und Typen.

Will man also die gesamte Entwicklungslehre tief fassen — und wer wollte das nicht? — so muß man nach diesem doppelten Sinn in der Artfrage forschen und darf nicht an der Außenseite der Erscheinung und bei den abstrakten Formalismen hängen bleiben. Oie metaphysische Seite des ganzen Problems ist ins Auge zu fassen. Die innere Art kommt in den naturhistorischen Individuen als ihrer Manifestation symbolisch zum Ausdruck; das Dergängliche ist Gleichnis. Und wir sehen, wie dieses Gleichnis auf ein Wirkliches hinweist, dessen Objektivierung es ist.

7. Typus und Urform. Betrachten wir unbefangen die organische Welt in allen ihren lebenden oder fossilen Erscheinungen, so können wir juvLchst auf dem Weg der Abstraktion verschiedene Grundtypen heraus­ heben, die wir etwa als Protozoen oder Einzellige, als Metazoev oder Vielzellige, und unter diesen weiter einteilend, als Würmer, Stachelhäuter, Weichtiere, Gliedertiere und Wirbeltiere bezeichnen. Diese Typen gehen durch viele oder alle uns bekannten erdgeschicht, lichev Lebensepochen in größter Formenmaanigfaltigkeit hindurch und erscheinen in immer wieder neuen Abwandlungen, ohne sich übrigens aus dem Kreis ihres Grundtypus jemals endgültig zu entfernen. Vergleichen wir nun innerhalb eines solchen Typus die Forme», so können wir abermals engere Kreise ziehen und Spezialtypen unterscheiden, die nun ihrerseits wieder in ver­ schiedenen gleichzeitigen oder aufeinander folgenden Graden der Abwandlung erscheinen. Das können wir fortsetzen, immer engere Kreise ziehend, und gelangen schließlich zu jenen eng­ begrenzten Formenkreisen, welche die Systematik Gattungen nennt, und von denen die Arten und Rassen wiederum engste Spezialabwandlungen sind. Es widerspricht diesem Gedanken­ gang nicht prinzipiell, wenn die Art- und Gattungsbegriffe etwa auf dem umgekehrten Weg gewonnen werden, d. h. wenn man von dem engsten Kreis und der konkreten Form, dem Individuum ausgehend, zur Aufstellung von Arten und Gattungen und weiter hinauf gelangt. Denn auch das Herabgehen von der um­ fassenderen Abstraktion der Typen zu der weniger umfassenden der Gattungen und Arten, die in solchem Betracht auch Typen sind, ist ja stets nur durch die Kenntnis des gegenständlichen Formen­ materials, also nur durch Kenntnis von Einzelindividuen möglich. Die ganze systemhafte Einteilung des uns von der Natur dargebotenen Formenreichtums beruht also zunächst auf einem äußerlichen, formal ordnenden Verfahren, ob wir nun die Typen weit oder eng fassen, ob wir von Grundformen oder Gattungen oder Arten reden. Wenn wir daher aus der Fülle der anschau­ lichen Formen, womit uns die organische Natur entgegentritt. HO

wie beschrieben, Arten und Gattnagen aussondern und sie je nach ihrer allgemeinen ober spejiellev Gestalt vnd Organbildvag von anderen Atten abgrenjen; wenn wir ans diese Weise alles Lebendige eivteilen und es aneinanderreihev, um so zuletzt alles wohlgeordnet vor uns zu sehen, so haben wir im Grunde doch nur mnemotechnisch Ordnung geschaffen. Und mit dieser Eia, teilung der organischen Natur in Atten oder größere Einheiten, wie Familien und Ordnnngen, sowie mit der Benennung und Abgrenzung von Gattungen als natürlicher Typen haben wir lediglich den dialettischen Att, und Gattungsbegriff in die Natur übettragen. Wir können nun, statt auf die bloße Form, auch auf das bio, logische Gestaltungsprinzip Arten, Gattungen, Typen aufstellea. So gibt es ttwa unter den höheren, für das Wasserleben organi, fierten Tieren nicht nur Fische, sondern auch Echsen und Säuge, tiere mannigfachster Art, welche alle mehr oder weniger irgendwie die Formgestaltung des eigentlichen Fischwirbeltieres zeigen, aber stets auf anderer Organisationsgrundlage. Wir können sprechen von der Gattung Fisch, der Gattung Echse, der Gattung Säugetier des Wasserwirbeltieres. Das Wasserwirbeltier wäre hier biologisch, nicht morphologisch als Grundtypus gedacht; der Fisch, die Fischechse, das fischartige Säugetier wären die kon, treten Abwandlungen davon. Ob man so oder so eintellt: die Frage ist, worin der wahre genetische, d. h. der innere Derwandt, schastszusammenhang, also das Wesen des Typus und seiner Abwandlungen besteht. Man nimmt vergleichend anatomisch an, daß der wahre Derwandtschaftszusammenhang der ist, daß die Fische aller Att, die Echsen aller Art, die Säugetiere aller Att einem engeren Zeugungskreis angehören, daß dagegen die Fischähnlichkeit einzelner von ihnen eine sekundäre Eigentümlich, feit, eine ihnen sozusagen übergeworfene Formbildung zur Fisch, gestalt bedeute, erworben durch Umbildung von anderen ursprüng­ licheren Formstadien her und in spezifischer biologischer Anpaßung an äußere Verhältnisse. Wir können aber, wie gezeigt, solange wir im Formalen bleiben, nicht die wirkliche Genese angeben, sondern müssen den Begriff

in

des Typus und der sonstigen systematische» Kategorien beliebig begründen und im einen Fall Grundform nennen, «as wir im anderen Abwandlung heißen. Tatsächlich geht auch in der bisherigen «iffenschastlichen Systematik bei der Aufstellung von angeblich natürlichen, d. h. stammesgeschichtlich wirklich zusam­ menhängenden Arten, Gattungen oder Typen das formal abstratte und das biologische Moment durcheinander, ohne daß beide von außen, d. h. auf empirischem Weg zu entwirren wären. Ist es somit, je nach dem eingenommenen Standpunkt, willkürlich, nach welchem Gefichtspuntt wir einen Typus, eine Gattung, eine Att aufstellen, so lange wir nicht im Einzelfall über die wahre Genesis aus der Urform unterrichtet sind, so würde dies anders, wenn wir über den wahren inneren genetischen stammesgeschichtlichen Zusammenhang Bescheid wüßten, in dem die Formen miteinander stehen. Das heißt: Wüßten wir, was das Innerlich-Grundlegende, das Lebendig-Typenhafte in ihnen ist, so wüßten wir auch, wie die einzelnen Formen stammes­ geschichtlich miteinander verwandt stnd, wenn sie auch in noch so verschiedenen Arten und Gattungen erschienen. Wir wüßten dann, «as bei ihnen bloß Abwandlung in bezug auf die äußeren Lebens­ möglichkeiten ist und was fest gegebene Grundorganisation, also wahrer Typus, wahre innere Formbestimmtheit, wahre „Ursache ihrer Organisation ist. Das ist Sinn und Ziel der Abstammungs­ lehre. Da wir aber zunächst noch in keinem einzigen gegenständ­ lichen Fall es wissen, und auch in dem obigen Beispiel wieder nicht wissen, ob nicht etwa der als „Grundform" angenommene Typus Wirbeltier selbst schon eine bestimmte äußere Formab­ wandlung in Anpassung an äußere Lebenserfordernisse ist, also von ursprünglich ganz heterogenen Anfängen ausging und heute nur ein vielen Grundformen übergezogener gemeinsamer biologischer „Anpassungstypus" ist, so kommen wir durch die bloß äußere Unterscheidung und Zusammenfassung körperlicher Merk­ male grundsätzlich nie zur wahren Genesis, also nie über formale Abstrattionen hinaus, sondern allegorisieren nur mit unseren Begriffsbildungen über die systematischen Atten, Gattungen und Typen die Natur, gelangen also zu keinem wirklichen Wissen

um den inneren lebendigen Zusammenhang der Formen. Es bleibt das alles auf dem Niveau einer formalen, gedächtnis­ fördernden Ordnung, und bedeutet an sich noch keine Erkenntnis des inneren Naturgeschehens, des organischen Zusammenhanges. So wird es uns mit einem äußerlich empirischen Verfahren nicht möglich, anzugeben, was ein „Typus", eine „Urform" ivirklich ist. Je nach dem empirischen Material, je nach dem Aus­ schnitt, den wir aus der Gesamtheit der Erscheinung, aus der Ge­ samtheit der Eigenschaften und speziellen Abwandlungen der For­ men nehmen, je nach der Richtung, in der wir die Form naturhisto­ risch- biologisch sehen, werden wir bald so, bald so, rein abstratt, die Art, die Gattung, den Typus abgrenzen. Damit ist er entseelt, seines inneren Lebens beraubt. Das aber ist mit allen empirisch wissenschaftlichen Begriffen und Anordnungen so, die stets auf einer äußerlich sinnenhaften Erfahrung und Materialbeobachtung beruhen. Nicht einmal scharf definieren können wir sie, auch wenn wir uns mit der Abstrattion genügen lassen wollten. Scharfes Definieren ist nur in der Welt des Logischen möglich, jeden Begriff scharf und eindeutig zu umreißen und von Grund aus etwas Bestimmtes mit ihm zu bezeichnen. So kann der Mathematiker sagen, was ein Dreieck, ein Kreis, eine Gerade ist; aber da bleibt es eben bei formalen Vorstellungen ohne inneren Lebensgehalt. Jedoch in der Natur treffen wir niemals auf Schemen, sondern stets auf Gegenstände und Erscheinungen, die stch nicht rein ab­ strakt definieren lassen. Hier versagt der naturhaften Wirklichkeit gegenüber jedes dialektische Verfahren, wie auch jede Berechnung und Logik. Und wenn wir dies alles dennoch anwenden, anzu­ wenden gezwungen sind, so kann es nur vorübergehend zur Ver­ ständigung und Andeutung des Wirklichen sein, ohne daß wir an die Wesensfülle und Tiefe des Wirklichen rühren oder gar sie aus­ schöpfen. Typus, Gattung, Art, insoweit sie sich auf Naturformen beziehen, lassen sich nicht definieren, sondern höchstens von Fall zu Fall konventionell gebrauchen, womit wir uns kurz über die Formenmannigfaltigkeit verständigen und durch diese Andeutung die Anderen auf eine bestimmte Sache Hinweisen. Dies ist auch die Art und Weise, wie man jedes in Worte und Sätze gekleiOacqus, Leben als Symbol.

8

IT2

dete Wissen, also jede Phllosophie wirken lassen mvß. Nur Mechanisches läßt sich beschreiben vvd logisch darstellev. Mechanisches aber gibt es nnr an einer einzigen Stelle des Weltalls: dort, wo der Mensch eine mechanische Vorstellung von einem Vorgang hat vnd danach ein Werkzeug, eine Maschine baut. Alles andere ist nichtmechanisch, ist Natur, daher im Jnversten lebendig, darum nie zu defiuieren oder vollgültig zu beschreiben. Das ist der Grvnd, weshalb keine aaturgeschichtliche „Tatsache" und kein naturgeschichtlicher Begriff anders als vorübergehend angedeutet und daher auch nur vorübergehend „richtig" sein kann. Sobald wir nna ans vielen gleichartigen konkreten Formen einen Typus ablesen wollen, beobachten wir immer, daß er ideale Form ist, während sich die konkreten Gestalten nur als seine Ab, Wandlungen in der physischen Natur darstellen. Damit zeigt sich ganz ungezwungen, daß hinter den konkreten Formen der Typus — nenne man ihn nun Art oder Gattung oder sonstwie — sozu­ sagen sich verbirgt und dem Zugriff immer entschwindet. Natur­ formen sind also nur repräsentativ etwas. Schopenhauer sagt einmal, daß dem Kind die Dinge so glän­ zend, die Natur so paradiesisch vorkomme, weil es in jedem Einzel­ ding die Idee der Gattung naiv erlebe. Dieser Glanz der inneren Wirklichkeit geht dem zum rationalen Denken gereiften Menschen völlig verloren, wenn er aus dem „Kindheitszustand" mit seiner lebendig seelenvollen Anschauung heraustritt und sich nun der reinen Abstraktion ergibt. Wo wir also in der Form die Idee erleben können, sind wir, wie das Kind, im Innern der Natur. Goethe «ar ein solches „Kind". Er hat mit seinem ideenhasten Schauen in den Formen der Natur den inneren lebendigen Ur­ typus gesehen; aber er wurde zum rationalen Denker in dem Augenblick, als er aus den gegenständlichen Formen, den Pflanzen, nun die Urpflanze gegenständlich bilden wollte. Und da er diese Urpflanze nun auch in der Natur suchte und sie zu finden hoffte, sagte ihm Schiller: Die Urpflanze ist eine Idee. Eine Idee kann aber niemals Abblld selber sein. So erkannte Goethe damals nicht das Symbolische seines Tuns, auch nicht dies, daß die Naturform selbst Symbol zu der ihr immanenten lebendigen “4

„Urform" sei. Wenn er also der Urpflaaze Wurjel, Stengel, Blatt auch nur andeutungsweise zuschrieb, so hatte das au sich keinen Sinn. Denn das Urblld im Innerlich-Lebendigen, die so erlebte Urform, hat dies nicht. Sinn bekommt eine solcheratt dargestellte Pflanze erst, wenn wir etwa die notwendige koukrtte Beziehung zur Umwelt hinzunehmen: für die Wurzel das Sichversenken im Boden und die Nahrungsaufnahme; für den Stengel das Empottragen der Blätter und Blüten, das Herauf­ leiten der Nahrung; für die Blätter das Atmen und die Blüten, bildung; für die Blüte das Fruchtschaffen. Aber das ist nicht Urblld, Urform, Urpflanze, sondern gegenständliche Naturform selbst in Einzelwesen. Die Urpflanze existiert nicht in der äußeren Natur, nicht als Abblld in solchem Sinn, sondern nur als lebendiges Jnnenwesen, als die der Pflanze immanente Wesenheit. Und solcherart gibt und gab es in der Außenwelt niemals gegenständ, liche Urform. Wo aber ist sie, und wo ist sie zu finden? Allgemein gesprochen: Sie ist die in allen Wesen immer und immer wieder in neuer Form daseiende innere formgebende Urbildekrast, die in allem evolutionären Formenwechsel als das Beständige und doch Ungreifbare, als eigentliche Wirllichkeit immerfort bleibt. Urform in solchem immer gegebenen wirklichkeitserfüllten Sinn, fern jeder äußeren Konstruktion, stellt sich während der Jahr, Millionen in den immer erneut erscheinenden formalen Typen und Gattungen dar. Wie wenig man bei Bestimmung des Typus an die Form selbst denken darf, wie wenig man dem Urblld selbst Form zu­ schreiben darf, erläutert folgendes Beispiel. Wenn wir das Wirbel­ tier als Typus nehmen, so werden wir seine Begabnng mit Stütz­ skelett, also mit Wirbelsäule, Extremitäten und einem die Sinnes­ organe tragenden Schädel gewiß für einen typenhaften Gruadzug ansehen. Doch gibt es auch „Wirbeltiers, d. h. Formen, die wir durch Entwicklungsvergleiche für solche erklären müssen, denen jedes Stützskelett, Extremitäten und der Schädel fehlen. Gne solche Gestalt liegt etwa in dem wurmförmigen Fischchen Branchiostoma vor. Auch das typische Wirbeltier geht vor unseren Augen immer wieder aus der befruchteten Einzelzelle hervor und 115

durch skelettlose Embryonalstadien verschiedenster Form hindurch. Der Typus liegt dennoch von allem Anfang an in ihm, und die Zelle ist so gut dessen Manifestation, wie das fertige ausgewach, feite Tier. So liegt der Typus „Wirbeltier" auch im Branche ostoma, einerlei ob dieses eine auf früher Entwicklungsstufe des Wirbeltieres stehengebliebene Hemmungsform oder eine Rück, blldungsform oder sonst etwa eine spezielle Anpassung des Wir, beltiertypus ist. Wie es hier für eine Einzelform aagedeutet wurde, so ist es auch mit den zeitlich aufeinander folgenden Formen eines Typus oder den Formenreihen, die wir bilden können. Da solche nicht immer in den morphologisch festgelegten, also abstrakten Doll, typus unmittelbar, d. h. dem Augenschein nach hineinpassen wol, len, hat v. Baer Übergangsformen angesetzt, die nun verschiedene Typeneigentümlichkeiten in sich vereinigen sollten. So nahm man vier Grundtypen des Tierreiches an: den der Strahlenförmigen, der Molluskenhaften oder Massigen, der in die Länge Gezogenen und den der Wirbeltiere. Zwischen diesen Grundplänen gebe es Mischungen. Es ist aber nicht „eine eigentümliche Verleugnung seines Prinzips", feste Typen aufzusuchen, wie D. Carus in seiner „Geschichte der Zoologie sagt, wenn v. Baer solche Übergangs, formen gelten läßt; sondern der Forscher hat eben den immer wieder zum Zerfließen verurteilten Versuch gemacht, die Bau, Pläne des Tierreiches morphologisch zu charakterisieren und so den inneren Typus, die „Urform" zu suchen. Er rührt an das eigentliche Problem, ohne es zu wissen, indem er einmal sagt, daß sich vier Typen in der Tierwelt „zu offenbaren scheinen"; womit er selbst, wenn auch mehr gefühlsmäßig als bewußt, dieses innere Erschauen des Nicht,Formseins angedeutet hat, dem er durch die morphologische Analyse nicht gerecht werden konnte. Er gibt damit unbewußt zu, daß hier eben doch kein morphologisches Problem äußerlich sinnenhafter Art vorliegt, so daß man, analog dem Mathematiker, den Typus mit bestimmter Formnennung fassen könnte, sondern daß es innere Gesialtungsprinzipien eines ande, rett als körperhaften Daseinszustandes sind, Realitäten, die sich eben darin „offenbaren". Immer wieder kommt also die For, n6

schung an jenes Unnennbare, jenes Unbeschreibliche, was wir zwar in Formen schaven, aber doch nicht als Form begreifen und nennen können. Es lassen sich aber, wie gezeigt, die vielen konkreten Gestalten — einerlei ob man ste in Arten, Gattungen, Rassen, Varietäten oder Typen zusammenfaßt — als Abwandlangen einer ihnen allen immanenten idealen Urform verstehen, nicht einer Urform im zeitlich-geologischen Sinn als einer ersten Gestalt, sondern im immanenten Sinn als eines stets gegenwär­ tigen Gestaltungsprinzips. Was zeigen uns also alle Versuche des Systematikers oder auch die des vergleichenden Morphologen, wenn er den Typus eines Formenkreises definieren will? Sie zeigen uns bloß das Ringen nach einer sprachlich wiederzugebenden Anschaulichkeit für eine Wesenhaftigkeit, die zwar erahnt, das will sagen: aus ihrer äußeren Manifestation innerlich erschaut, niemals aber definiert werden kann. Der Typus ist eben lebendige Idee, und dies nicht in einer bestimmten Formgebundenheit, sondern bald als reine Form, bald als Anpassung, bald als Wandlung und Veränderung erscheinend; stoffhaft zwar realisiert in den gegen­ ständlichen Formen, die wir je nach den herangebrachten oder aus ihnen abgelesenen Formideen gruppieren, einteilen, systematisch ordnen können, welche selbst nichts gegenständlich Gegebenes, nichts sinaenhaft Wahrnehmbares sind. Dem formal abstrakten Typus steht der innere lebendig gegenüber. Diesen nur meinen wir. „Hat man aber die Idee von diesem Typus gefaßt," sagt Goethe, „so wird man erst recht einsehen, wie unmöglich es sei, eine einzelne Gattung als Kanon aufzusiellen. Das Einzelne kann kein Muster vom Ganzen sein, und so dürfen wir das Muster für alle nicht im Einzelnen suchen." Aber wir haben vor uns nicht nur eine Jetztwelt, in der alles nebeneinander steht, sondern auch eine lebendige Folge organischer Formen, die wir erblicken, wenn wir aus unserer gegenwärtigen Zeitfläche heraustreten und in der Erdgeschichte nach rückwärts gehen in andere, tiefere Zeitflächen, zu immer wieder anderen Abwandlungen, die nun, je weiter wir zurück­ gehen, soviel neue und frühere Andeutungen des Typus daher-

ii7

bringen, daß wir schließlich die Grundform in allen erdenklichen Abwandlungen sehen. So wird gerade in diesem fluktuieren, den Formenwandel der ursprünglich nur willkürlich und abstrakt erfaßte Typus der feste Punkt in der Erscheinungen Flucht, und die jverst leere Abstraktion wird Hinweis auf eine den Wechsel durchdauernde innere lebendige Formbestimmtheit, woran flch die äußerlich stets veränderten Formen abwandeln, wovon ste stets neue Darstellungen im Hinblick auf verschiedene spezielle Lebensmöglichkeiten find. Damit ist aber erkannt und gesagt, daß jede Form lebendige Manifestation oder Symbol eines Ur, bildes unter bestimmten äußeren Erfordernissen ist. Es bekommt das Aufsuchen eines Formtypus auf einmal nicht mehr nur systematischen, sondern den tieferen Sinn, damit daß wir nicht das konkret Dastehende schlechthin, sondern etwas von ihm Be, deutetes, etwas bindend Durchdauerndes erkennen. Wenn wir die organischen Gestalten, d. h. die Vielzahl mehr oder weniger gleichartiger Individuen als stets erneut fich dar­ stellenden drängenden Ausdruck der beständigen und wesenhaften Urform nehmen, so dürfen wir im äußeren Sinn zwar von einer Entwicklung reden, müssen aber festhalten, daß es im inneren Sinn keine zeitliche Folge und kein Hinzukommen von etwas ist, das vorher nicht vorhanden wäre. Jedes Individuum ist vielmehr eine immer erneute lebendige Spiegelung der nicht zeitlichen Ur, form unter veränderten äußeren Bedingungen. Und das nennen wir Entwicklung im äußeren Sinn. Die äußeren Tatsachen voll, ziehen sich in jenem Zustand der Anschauung, den wir Raum und Körperlichkeit nennen. Das gegenständlich im Raum Erscheinende ist der Raum. Es hätte keinen Sinn, diese Raumrealität des Geschehens wegzuleugnen, auch wenn sie nur Anschauungsform unseres Geistes ist. Aber sie ist nicht die einzig mögliche Anschau, ungs, und Erlebensform des Wirklichen. Es wird dieses Raum, geschehen Ausdruck und Offenbarung für ein Jenseitiges. In der räumlich,körperhaften Dorstellungswelt allein verharrend, begibt mau sich der Möglichkeit, einen Sinn zu erfassen. Was wir also naturwissenschaftlich aussprechen, was wir mit Worten und verständlichen Begriffsbildungen bezeichnen, müßte

n8

eigentlich stets in Anführvngsjeichen gesetzt «erden, damit man nie nnd nimmer in Gefahr käme, dem irreleiteaden Gedanken j« verfallen, daß mit irgendeinem, der sichtbaren und vorstellbaren Körperlichkeit entlehnten Ausdruck wie Art, Entwicklung, Der, erbung, Anpassung, Keimbahn irgendwie die Sache selbst schon ergriffen wäre. Typus, Art, Gattung sind nur Abstraktionen, die auf ein „Ursprüngliches", auf ein Urbildungsprinjtp als leben, dige Dasetnskrast deuten, auf eine gegebene, aber nicht greifbare, nicht körperlich,räumliche Potenj der Gestaltung, wovon die kon, kreten Formen, die Individuen nun gewissermaßen die Medien sind, in denen sie sich immer erneut, immer anders werdend und doch den inneren Typus, das lebendige Jdeenbild wahrend und verwirklichend darstellt. Aber gerade der abstratte Begriff, den sich unser Verstand macht, deutet zugleich auf eine allen For, men zugrunde liegende Urbestimmtheit hin, und dieses ist die höhere Wirklichkeit, die wir auch in jedem Individuum hindurch, schimmern sehen. Die Formen sind in ihrer Folge ein Zeichen für das Urbild, so etwa wie das aus Buchstaben zusammen, gesetzte Wort Abzeichen ist für den lebendigen Sinn. Eines ohne das andere gibt es nicht. Wir können weder des Wissens um die äußere Gegebenheit entraten, noch diese allein als das Wirk, liche nehmen. Cs ist so, baß überhaupt dem Typus und ebensowenig der Gattung, der Art, wenn wir sie als innerliche formgestaltende ur, bildliche Wirklichkeit nehmen, Attribute der Form gar nicht bei, gelegt werden dürfen. Es ist inneres lebendiges Urbild, platonische Ideenwelt; um mit Schopenhauer zu reden: „Wille" zur Form­ gestaltung oder „Wille" in der Form, die dvrch viele, unendlich viele mögliche Formstadien sich objektiviert, lebend sich „entwickelt, und sowohl in jedem Stadium, wie auch am zeitlichen Anfang oder am zeitlichen Ende stets und in jedem Augenblick Manifesta­ tion ist, nie erschöpft, nie wiederholt, sondern ewig schöpferisch aev. Sogar im Mineral, im anorganischen Stoff, in der hypo­ thetischen Atomwelt ist es so. Alles ist Monade, ist in jedem Augen­ blick einmalig und einzig, hindeutend auf seine innere immanente Wesenheit; nichts Mechanisches, als welches nur menschltch-

iiy

rationales Denken irgend etwas nns erscheinen läßt. Womit die vergängliche Form in ihrem Sein und Werden stets Gleichnis, stets Symbol eines Unaussprechlichen ist.

8. Form und Verwandtschaft. Der Derwandtschaftsbegriff ist der Schwerpunkt der natür­ lichen Entwicklungslehre und der stammesgeschichtlichen Biologie. Er dreht stch um eine Fiktion, insoweit er sich auf die Annahme erstreckt, daß gleiche Form auch innere Verwandtschaft und des­ halb gleiche Abstammung bedeutet. Denn trifft dieses auch inner­ halb einer engen natürlichen Art zu, so darf es doch nicht unbe­ sehen auf die organische Formbildung im allgemeinen übertragen werden. Wollte man Antwort geben auf die Frage, was wahre Verwandtschaft unter den Organismen sei, so müßte man zu diesem Ende in jedem einzelnen Fall verfolgt haben, wie jede bestimmte Einzelgestalt wirklich genetisch, also von innen her ent­ standen ist. Die Beantwortung, was in einem vorliegenden Fall oder allgemein von den wirklichen Gestalten innerlich verwandt ist, also genetisch in einer Linie liegt oder ein und derselben Grund­ form zugehört, wäre nur zu erlangen, wenn wir die Genefis jeder Form von ihrem natürlichen Ursprung her verfolgen, wenn wir ste bis zu ihrer „Urform" zurückverfolgen könnten, um zu sehen, von woher sie ihre Gestaltung und wie sie dieselbe erlangte. Es ist also, mit anderen Worten, der Kernpunkt der Verwandtschaftsfrage, zu ergründen, was ursprünglicher Typus und was biologisch veranlaßte Abwandlung und Anpassung ist. Die stammesgeschichtliche Zusammengehörigkeit zweier Arten aber wird nach ihrer größeren oder geringeren anatomischen Ähnlichkeit, nach ihrer typevhaften Gleichheit bestimmt und die Formengleichheit für Verwandtschaft erklärt. So dreht man sich im Kreis und nennt verwandt, was formengleich ist, und setzt dies gleich einer einheitlichen Abstammung. Man könnte aber doch nur mit Sicherheit feststellen, ob Formengleichheit wahre innere Verwandtschaft ist, wenn man wüßte, was wirMch von­ einander abstammt.

Schon daß man, nm solche Erörterung im Sinne der Ab, stammungslehre ju machen, «ach der Ausgangs- und Urform zweier verschiedener Formen fragen muß, also nach dem Typus, dem sie angehören, beweist, wie sehr auch schon diese einfachste Frage der natürlichen Entwicklungslehre metaphysisch ist. Das wird noch klarer, wenn man in anderer Weise die Verwandtschaft zu umschreiben sucht, wobei man gleichfalls dem Sinn nach beim Begriff des Typus, des von innen her bestimmten Typus, der Grundorganisation zu beginnen hat. Maa bezeichnet in der Biologie als wahrhaft verwandt, d. i. als genetisch einheitlich, was homologen Körperbau hat. Homo­ log heißen Formen dann, wenn ihre einzelnen Körperteile und Körperregionen grundsätzlich miteinander korrespondieren. So sieht man den Wirbeltierkörper in allen seinen verschiedenen Abwandlungen als Amphib, als Reptil, als Säuger samt deren Modifikationen als homolog an, rechnet ihn daher genetisch zum selben Typus. Im einzelnen wären also die Extremitäten oder der Kopf oder die inneren Organe der Wirbeltiere homolog, d. h. gleicher Grundanlage, gleicher Grundorganisation zugehörig. Sämtliche Wirbeltiere müßten daher voneinander oder von einer gemeinsamen Grundform „abstammen". Nur analog gebaut sind dagegen etwa die Vögel und die fliegenden Jasetten. Deren Flügel sind analoge Organe, well die der Insekten auf der Grund­ lage einer ganz anderen Organisation aus Hornhautfalten des Panzers in seiner Erstanlage entstehen, die Vogelflügel dagegen Vorderextremitäten des Wirbeltierkörpers sind, an denen der Federnapparat aufgehängt ist. Diese beiden Arten von Organi­ sation sind also nach Auffassung der Deszendenzlehre heterogener Entstehung, die Organe und die Tiere nicht homolog, also auch nicht „verwandt"; es besteht nur bis zu einem gewissen Grad eine biologische Konvergenz der Form. Dagegen wäre der Flügel des Vogels homolog der Vorderextremität des Reptils und Säuge­ tieres. Der Vogel wäre also, da er auch sonst noch mit diesen Formen homologe Organe gemeinsam hat, mit ihnen „verwandt". Und danach eben unterscheidet man die „Stämme" der Tierwelt und sagt, eine neue Grundorganisation, ein neuer Typus sei

jener, dessen Organe nicht homolog, sondern nur analog zu deueu anderer Typen sind. Mer wir wissen gar nicht, wie es in Wirklichkeit mit dieser inneren Verwandtschaft oder wahren Homologie steht. Zunächst sind auch iunerhalb eines engeren Typvs die einzelnen Organe häufig so abgeändert und verschieden gestaltet, daß man ihre Homologie erst durch vergleichende embryologische Studien fest­ stellen mnß. So entspricht sich in den beifolgenden drei Extremitäten (Fig. 4) die Zahl und Anlage der Knochen nur bedingt. Geht man aber in die Embryonalentwicklung der Formen zurück, so erkennt man, daß sie nach dem einheitlichen Plan der gewöhn­ lichen Wirbeltierextremität angelegt sind. Hier ist also das Ver­ schiedenartige und im Endresultat nicht mehr Homologe dennoch innerlich genetisch vom selben Ausgangspunkt hergekommen, also trotz seiner beträchtlichen Verschiedenheit „verwandt. So bravcht nicht nur Formgleiches verwandt zu sein, sondern es kann auch Formverschiedenes verwandt sein, und es fragt sich nun, ob das Formverschiedene immer als verwandt erkennbar ist mit den Methoden der vergleichenden Anatomie, oder nicht. Die Abstammungslehre nimmt nun unbesehen an, daß auch das Allerverschiedenartigste an Typen irgendwo einmal einen „ge­ meinsamen Ursprvugspunkt" habe, oder daß die Grundorgani­ sation, der Typus, sich so verschieben könne, daß der eine aus dem anderen „hervorgehe". Sind nun Typen, die, wie die Deszendenzlehre annimmt, auseinander hervorgingen, aber danach nicht mehr homologe Formen haben, immer noch „verwandt? Und können überhaupt nichthomologe Typen auseinander hervorgegangen sein? Oder anders formuliert: Kann Homologie bestehen, wo die Formen nicht gleichartig im Anfang sind? Können durchaus ungleichartige Formen auseinander „entwickelt" werden, d. h. voneinander ab­ stammen? Die Abstammungslehre hat sich hierüber bisher grund­ sätzlich keine Rechenschaft gegeben. Das einzig Konsequente, was sie tun könnte, wäre, zu sagen, daß Verwandtschaft etwas ist, was auch einmal aufhören kann und nur eine gewisse Zeit über be­ steht. Denn ging das Urwirbeltier aus einem Urwurm hervor,

Fig. 4. Hiaterextremitäten A vom Raubtier, B vom Huftier, C vom Vogel. Darstellung der Homologie (fern Oberschenkel, tlb Unterschenkel, flb Wadenbein, fw Fußwurzel). Bet B die Fuß, ivurzel in die Länge gezogen und durch Kaochenver, schmelzuageu umgeLndert; bet C ist ein Mtttelfuß, kaochea mf entstanden, indem ein Teil der Fuß, wvrzel mit dem Unterschenkel verwachse« und das Gelenk verlegt worden ist. SS entsprechen sich also die Knochen in den drei Extremitäten A, B, C nicht unmittelbar, sondern stad nur in ihrer embryonal nachweisbaren Grundanlage homolog. (Original, flgur.) Alles verkl.

und ein Urmollusk auch aus einem anderen Urwurm, so sind sie entweder alle auf Grund des Wurmtypus „verwandt", vnd zwar auch heute noch, wo sie so verschieden und nicht homolog sind; oder diese Typen Wirbeltier, Mollusk, Wurm sind nicht ver­ wandt, und dann sind sie eben auch nicht auseinander „hervor­ gegangen". Also immer der in sich drehende Kreis, ohne Anfang und Ende. Selbst wenn man nun sich mehr eivschränkte — und damit wäre die Deszendenzlehre schon prinzipiell gefallen — und an­ nähme, daß nur innerhalb eines engeren und in sich streng homo­ logen Organisationstypus die Gattungen auf eine gemeinsame Ausgavgsform zurückgehen, bleibt auch dies noch zweifelhaft. In früheren Jahren, als man die Ontogenie der Formen noch kaum kannte, wußte man nicht, daß die Unterschiede, die zwischen den fertig entwickelten Formen der Gattungen und Arten innerhalb eines engeren Typus bestehen, in den individuellen Anfangs­ stadien nicht minder ausgeprägt sind als im erwachsenen Zustand. Als die Deszendenzlehre begründet wurde, konnte man den Hunde­ keimling noch kaum von dem des Schweines unterscheiden und diese nicht vom Affen- und Menschenkeimling. Heute, wo man dank unendlichen Fleißes und treuer Beobachtung auch hierin bis ins einzelne sehen kann, erscheinen die Unterschiede und die Eigentüm­ lichkeit jeder Art auch in den Anfangsstadien so durchgehend aus­ geprägt, daß man wieder vor der Frage in ihrer ganzen Größe steht: Stammen solche Arten überhaupt voneinander ab? Echte genetische Verwandtschaft, dies ist das exakte Resultat, kennt man also eigentlich nur bei Individuen, die sich generations­ weise erzeugen und zeugend vermischen. Und hier gilt ja im all­ gemeinen der Satz, daß das Verwandte auch formengleich ist. Dennoch ist auch für Individuen derselben Art die Gleichsetzung von Verwandtschaft und Formengleichheit nur bedingt. Denn abgesehen davon, daß auch in so engem Formenkreis die Individuen und Generationen oft stark voneinander verschieden sind, mehr nämlich als es dem exakt-morphologischen Artbegriff entspricht, erleidet auch hier die Gleichsetzung von Formidentität und Ver­ wandtschaft Schiffbruch, wenn man steht, daß körperlich höchst

verschiedenartige Wesen unmittelbar auseinander hervorgehen, die man, wäre das Auseinanderhervorgehen nicht beobachtet, gar nicht für blutsverwandt halten würde. Dies ist etwa der Fall bei Raupe und zugehörigem Schmetterling, bei Larve und Insekt, bei Qualle und Hydrozoenstock mit dem „Generationswechsel", wobei alternierend Formen entstehen, deren beide Stadien so verschieden voneinander sind oder eine so grundlegende Umschmel­ zung des Körpers innerhalb ein und desselben Individualitäts­ lebens bedeuten, daß man das Ausgangs- und Endprodukt zu verschiedenen, und nicht zu verwandten Gattungen stellen würde, wenn man den Wandlungsprozeß nicht vor Augen hätte. Wie nun in den soeben herangezogenen Beispielen aus allerengster innerer „Verwandtschaft" dennoch Verschiedenes hervor­ gehen kann und große Umwandlungen auf ein und derselben körperlichen Grundlage erscheinen, so ist auch das Umgekehrte möglich: daß aus verschiedenen körperlichen Grundlagen, also aus verschiedenen ursprünglichen Formgestaltungen Gleiches entspringt. Solches bietet die erdgeschichtliche Entwicklung des Lebens sehr deutlich. Da sehen wir in bestimmten Zeiten aus morphologisch verschiedenen Zeugungskreisen oder Stammlinien, wie man sie auch nennt, neue zusammengesetzte Floren- und Faunenkomplexe entstehen, die in ihrem Gesamthabitus, wie in der Ausbildung einzelner Organe und Körperteile oft erstaunliche Ähnlichkeiten

zeigen, so daß man ihre einzelnen Arten und Gattungen für genetisch zusammengehörig hält. Es bilden sich in verschiedenen entlegenen Gebieten der Erde die ortsständigen Tier- und Pflanzen­ gemeinschaften gleichsinnig um. Wenn nach dieser unabhängig gleichsinnigen Veränderung wiederum überall gleichartige Formen einer neuen Tier- und Pflanzenwelt leben, dann beruht diese weltweite Verbreitung des Gleichen nicht, wie man vielfach meinte, auf Wanderungen von Arten, die an einem bestimmten, eng begrenzten Platz entstanden waren, um sich von da aus überallhin zu verbreiten; sondern die gleichen neuen Formen kamen an vielen Stellen der Erde zu gleicher Zeit hervor, wie in einem Beet im Frühjahr gleichzeitig aus den schon vorher darin verteilten Zwie­ beln die jungen Gewächse emporsprießen.

Hier fragt es sich, ob dieses „Gleiche" auch innerlich, genetisch verwandt isi? Und man kann jvaächst vor antworten: Wahrhaft verwandt im Sinne des Deszeadenztheoretikers wären solche Parallelformen, wenn sie irgendwo in der Vergangenheit einmal ans der gleichen „Urform" hervorgegangen wären. Wir kommen also zv der Frage nach der einstämmigen oder vielstämmigen Ent­ stehung der gleichen organischen Form. Muß gleiche Form un­ bedingt stammesgeschichtlich aus ein und derselben körperlichen Grundform, von einer bestimmten erdgeschichtlich dagewesenen Art Herkommen, also „blutsverwandt sein, oder nicht? Wenn man von der Ein- und Mehrstämmigkeit, Monophylie und Polyphylie in der Entwicklung des Tier- und Pflanzenreiches oder bei einzelnen Formgruppen und Gattungen spricht, muß man sich darüber klar sein, daß ein Zweifel gar nicht entstehen könnte, ob Gruppen und Gattungen des Systems der Pflanzen und Tiere ein- oder mehrstämmiger Herkunft seien, wenn das sogenannte natürliche System auf eine sichere Genetik der Formen begründet werden könnte. Denn dann würde das, was bei verschiedener stammesgeschichtlicher Herkunft formengleich ist, niemals unter ein und dieselbe Gattung eingereiht worden sein. Erweisen sich also, wie es häufig vorkommt, bei genauerer Durchforschung Gat­ tungen und Gruppen des Systems von vielstämmiger Entstehung, so zeigt dies, daß man das Formgleiche zu Unrecht als ein gene­ tisch Verwandtes zusammengestellt hatte, daß also Formgleich­ heit nicht unbesehen gleichgesetzt werden darf mit Verwandtschaft im genetischen Sinn. Es ist noch denkbar, daß sich aus einer ursprünglich genetisch einheitlichen Art zu irgendeiner Zeit mehrere verschiedene Arten abgespalten haben; es ist hier gleichgültig, ob dies sprungweise oder allmählich geschah. Da gibt es nun mehrere Möglichkeiten. Wenn sich Formen nach ihrer Abspaltung voneinander weiter­ entwickeln, so kann sich daraus entweder ein Parallellaufen und gleichsinniges Abändern für alle Zeiten ergeben oder eine immer größere Formendivergenz. Und doch bleiben sie sinngemäß auch im letzteren Fall verwandt, auch wenn sie in ihrer Gestalt nach und nach noch so verschieden werden. Es könnte aber auch sein.

daß nach langer geologischer Zeit, wenn die Nachkommen solcher divergierenden, äußerlich nicht mehr ähnlichen Arten wiederum unter gleiche Lebeasverhältnisse geraten, plötzlich wieder am selben Ort oder an weltweit voneinander entfernten Stellen der Erde kraft der erbmäßtg fortbestehenden, wenn auch verdeckt gewesenen Verwandtschaft gleiche Formen hervorgeheo, die einander so ähnlich stnd, daß man sie wiederum zur selben natürlichen Gattung oder Art stellen müßte. Und so könnte plötzlich die „Verwandt, schäft" auch in der Form wieder erscheinen, während sie bis dahin unter verschiedenartiger äußerer Gestalt verhüllt lag. Was also hat der formale Derwandtschastsbegriff in der Dio, logie überhaupt noch für einen Sinn, wenn auch das Form, verschiedene noch verwandt ist? Ist Derwandtseia morphologisch neutral und mit dem Formbegriff nicht unbedingt zu fassen, so fällt damit auch die auf die Morphologie gegründete Entwick, lungs, und Abstammungslehre als Fiktion dahin. Denn wenn aus einer ursprünglich einheitlichen Art zwei neue hervorgeheu, die sich nun im Lauf der erdgeschichtlichen Zeit immer weiter voneinander entfernten, so wie es sich die gewöhnliche Stamm, baumlehre vorstellt, so bleiben sie dennoch im genetischen Sinn „verwandt, mag sich ihre Form noch so sehr voneinander ab­ differenzieren. Oder aber es zeigt diese Differenzierung umgekehrt, daß die ursprüngliche Art, von der sie ausgingen, selbst genetisch nicht einheitlich war, sonder« potentiell eine Vielheit der Form­ bildungsmöglichkeit enthielt, in diesem Sinn von Anfang an selbst schon mehrstämmiger „Entstehung" «ar und nur in ihren Vertretern eine äußere Gleichheit zur Schau trug, die sich alsdann aufspaltete und zur Formdivergenz der späteren, daraus resul­ tierenden Arten führte. In jedem Fall bekommt also die Idee der einheitlichen Herkunft oder der inneren Verwandtschaft des Formgleichen einen Stoß, oder man muß zugeben, daß auch das später Verschiedene trotz seiner Formverschiebenheit verwandt, also genetisch einheitlich ist. Man sieht daran, daß der ganze, mit dem Abstammungs- und Entwicklungsbegriff verquickte morphologische und genetische Verwandtschaftsbegriff eigentlich gar keinen be­ stimmten Sinn und Inhalt hat, well man nicht weiß, wo bei 127

der von der Desteadenjlehre angenommenen Divergent die „Der, wandtschaft" aufzuhören beginnt. Ein Beispiel, wodurch das Vorstehende veranschaulicht wird, und welches die ganze Verlegenheit zeigt, in die man durch die Begründung der biologischen Formeakunde auf eine Eutwicklungs- und Abstammungslehre mit jenem unzureichenden for­ mellen Derwaadtschaftsbegriff als Grundlage gerät, ist die seit der Tertiärepoche in mannigfaltigen Arten und Gattungen er­ schienene Gruppe der „Pferdereihe". Reiht man die enthaltenen Formen in ihrer zeitlichen Reihenfolge und vergleichend anatomisch aneinander, so kommt man zu dem Ergebnis, daß fich der Pferde­ typ auf mehreren getrennten, aber teilweise gleichstnnig umge­ formten „Stammlien" entwickelt haben muß. Und dies nicht nur in der Alten und Neuen Welt, sondern auf dem amerika­ nischen Kontinent in mindestens zwei eigenen Reihen, wozu noch eine pferdeartige Gestalt auf ganz anderer Organisations­ grundlage in Südamerika kommt. Jenes „Gleicht also, was fich gegen Ende der Tertiärepoche und heute mehrmals als „Pferd" darstellt, ist, wenn man es in frühere Formstadien rückwärts verfolgt, von mindestens vierzehigen und kleinwüchsigen Ahnen ausgegangen, die nun auch schon in älterer erdgeschichtlicher Zeit, wo man noch nicht vom „Pferd" im engeren Sina sprechen kann, gleichfalls verschiedenen, wohlgetrennten Gattungen zuge­ hörten. Es erweitert sich also die Frage dahin, ob auch jener Ur­ pferdetypus schon von mehreren getrennten Wurzeln herkam oder einmal aus einer wirklich einheitlichen und innerlich geschlossenen Art hervorgegangen ist? Im ersteren Fall hätten wir eine echte Mehrstämmigkeit derselben Endform; im letzteren Fall eine ein­ fache stammbaumartige Verzweigung, wie man fie in der Ab­ stammungslehre theoretisch für alles Formverwandte und Form­ gleiche fordert. Man müßte also weiter in die noch ältere Zeit einer Geschlechterfolge hinabsteigen, um dieses Entweder-Oder empirisch zu entscheiden. Das gelingt nicht, weil die wirklichen Formen fehlen, weil es Urformen nicht gibt, sondern immer nur einseitig Entwickeltes, womit ausnahmslos jede Reihe beginnt, und weil hypothetisch konstruierte Urformen nichts beweisen.

Nun ist man in der Biologie bzw. Paläontologie ftüher stets geneigt gewesen, ein solches Fehlen von wirklichen Ahnen in allen Gruppen des Tier- und Pflanzenreichs lediglich dem zufälligen Mangel an Material zuzuschreiben, und zu erklären, es liege das eben an den großen Zufälligkeiten der fossilen Erhaltung und an der doch noch verhältnismäßig geringen Durchforschung der Erdschichten, also an der „Lückenhaftigkeit der Überlieferung. Es herrschte also die Meinung, man werde schließlich bei immer reicher zuströmendem fossilem Material schon noch die gesuchten Stammbäume und Anfangsformen der Gruppen entdecken. Aber es ist gerade das Entscheidende, daß jedesmal derselbe Sachverhalt des Nichtwissens vorliegt, sobald wir nach den wirk­ lichen, nicht den hypothetischen Anfangsformen von Reihen und Typen suchen. Noch in keinem einzigen Fall, selbst nicht bei Gruppen, von denen ein ungemein reiches Material vorliegt, hat man etwas anderes als Spezialformen und mehrstämmige Reihen, entdeckt, nie aber eindeutige neutrale, bestimmte Ausgangsformen, woran sich eine stammbaummäßige Verzweigung von einer einzigen Wurzel her hätte erweisen lassen. Irgendwo müßte sich dies doch wenigstens ein einziges Mal gefunden haben, wenn überhaupt die morphologisch-anatomischen Entwicklungsreihen uns ein wahres Bild der inneren Verwandtschaft geben würden. Man wird also am Prinzip der Abstammungslehre irre, die mit ihren eigenen Methoden zu ausgesprochen entgegengesetztem Ergebnis führt, als sie es theoretisch stets fordert. Immer fehlen wirkliche, nicht hypothetische Ausgangsformen, von denen man sagen könnte, sie seien die echten Stammeltern und die anatomisch entsprechende Grundbildung für später nebeneinander erscheinende getrennte Gruppen oder Gattungen, so daß man wüßte, ob diese „verwandt", d. h. einheitlicher Herkunft sind oder nicht. Das aber heißt, wenn wir auf dem gegebenen Tatsachenboden bleiben und nicht die vorgefundenen Naturformen zugunsten einer dialektisch gewonnenen Artbildungs- und Verwandtschafts­ theorie vergewaltigen, nichts anderes als dies: Jeder Typus, jede Gattung im großen wie im kleinen ist eine eigene Linie, mithin ist das Formengleiche nicht unbedingt stammverwandt; verwandt OaequL, Leben att Symbol.

9

I2Y

sind nur die Generationen innerhalb eng begrenzter, „natürlicher Arten". Man kann aus alledem sehen, daß Gleichheit der Form keine innere genetische Verwandtschaft sein muß, und daß umgekehrt genetische Verwandtschaft, falls es so etwas gibt, aus morphologischer Gleichheit nicht unbedingt beweisbar ist. Dies wird weiterhin begründet durch eine andere lebensgeschichtliche Erscheinung. Es treten in der erdgeschichtlichen Folge des Organismen reiches bei den verschiedensten Gruppen und Gattungen eines Tierstammes — das Wort Tierstamm hier im systematischen Sinn gemeint — immerfort gewisse Zeitmerkmale auf, die dann wieder verschwinden oder späterhin nur bestehen bleiben bei Gat­ tungen, die stch von einer solchen bestimmten Zeit her fortsetzen. Diese Zeitmerkmale können in gewissen Gleichheiten der allge­ meinen Körperform, sie können auch in der Ausbildung bestimmter Organe oder Einzelheiten des Körperbaues bestehen. So gibt es nach Mitte des Erdaltertums das habituelle Merkmal, daß eine große Zahl Landtiere verschiedener Familien Lurch- und Molch­ gestalt annehmen; am Ende des Erdaltertums kommt die Zeit, wo eine gewisse Zahl Landtiere mit Säugetiermerkmalen und Säugetierhabitus erscheint; im Erdmittelalter kommt das Zeit­ merkmal des Beuteltierkörpers; in der Erdneuzeit das des plazen­ talen Säugetierkörpers. Don einzelnen Organen entwickelt sich im früheren Teil des Erdaltertums die Fischschwanzflosse so, daß die Wirbelsäule nach aufwärts gekrümmt ist und in den oberen Flügel eintritt, während der untere Flügel klein ist oder bei gleicher Größe nichts von der Wirbelsäule in sich trägt; später, im Erd­ mittelalter, endet die Wirbelsäule horizontal und die Schwanz­ flosse setzt sich an ihre Spitze symmetrisch an. Zur gleichen Zeit hatten die Fische knorpeliges Skelett; gegen Ende des Erdmittel­ alters bekommen sie ein knöchernes. Die Schuppenbildung der Haut ist damals zuerst sehr dick, schmelzartig; später «erden die Schuppen andersartig. Ein charakteristisches Organ für die Vier­ füßler ist in dem letzten Teil des Erdaltertums das Scheitelauge; im Erdmittelalter neu hinzukommende Formen haben es nicht mehr, nämlich die Säugetiere. Die Zahnstruktur einiger Fische

und Amphibien ist in einer Endphase des Erdaltertums vnb am Beginn des Erdmittelalters in bestimmter Weise labyrinthisch ausgebildet; später in anderer Form. Bei den Schnecken des Erdaltertums ist in früherer Zeit eine bestimmte Art der Ver­ zierung des Gehäuses ausgebildet; dann wieder eine andere. Die Gehäuse der Schalenkephalopoden haben im Erdaltertum einen einfach geknickten Dau der inneren Kammerscheidewände; am Beginn des Erdmittelalters einen etwas mehr gefalteten; sodann einen sehr komplizierten. Die Einzelkelche der Korallen haben im Erdaltertum innerlich bilateral-symmetrischen Bau, der auf dem Prinzip der vierzähligen Anordnung der inneren Fächer beruht; im Erdmittelalter tritt die radiale Symmetrie mit Sechszähligkeit auf. Es ist keineswegs nur eine einzige solche Form­ eigentümlichkeit, die zu jeder bestimmten Zeit entsteht, sondern es sind viele, vielleicht unzählige, und jede erstreckt sich auf eine mehr oder weniger begrenzte Zahl von Tieren; nur sind einzelne solcher Eigentümlichkeiten besonders hervorstechend und fallen deshalb auf, so daß man die Zeit nicht nur, wie es gewöhnlich in der Erd­ geschichtsforschung geschieht, nach Gattungen und Arten, sondern allgemein nach Zeitmerkmalen bezeichnen kann. Und was in einer späteren Zeit noch die für frühere Zeit charakteristischen Formenmerkmale an sich trägt, gehört seiner Entstehung, seinem erstmaligen Auftreten nach in jene frühere Zeit, auch wenn man dort zufällig gerade diese Art noch nicht entdeckt hat. Mit solchen Zeitmerkmalen behaftet erscheinen Gattungen, die man nach ihrer sonstigen Organisation verschiedenen Einzel­ stämmen und getrennten genetischen Kreisen zugewiesen hat, nun auf einmal in großer Formengleichheit. Das täuscht dann Übergangsformen vor (Fig. 5), Übergangsformen, die dies rein äußerlich formell auch sind, die man aber nun irrtümlicherweise für stammesgeschichtliche Ausgangsformen und Wurzeln später getrennter Reihen im stammbaummäßigen Sinn angesehen hat. Und dieser Eindruck wird noch weiter verstärkt durch die wichtige Tatsache, daß jedesmal zugleich mit oder alsbald nach einer solchen Zeit­ formenbildung, die über einen Teil der schon dagewesenen Grund­ formen ergeht, nun auch ein neuer, bisher nicht dagewesener

9*

131

Typ erscheint, der nun seinerseits das eigentliche, vollendete Pa, radtgma jener mehr oder weniger bei anderen Type» sich geltend machenden Zeitsignatur ist. So kommt, als die Landtiere teilweise Sängermerk, male annehmen, alsbald das „echte" Säugetier; als die Landtiere Vogel, Merkmale annehmen und viele zu Flugformen werden, alsbald der „echte" Vogel, und so noch anderes mehr. Aber trotzdem bleiben jene Form, annäherungen des Dagewesenen an den kommenden neuen „echten" Typ nur formale Annäherungen, es sind nur formale „Übergangsformen", aber

nicht genetische Stamm, und Aus, gangsformen zum Neuen. Denn jedes, mal haben sich bei tiefer dringender anatomischer Kenntnis und bei reich, sicher werdendem fossilem Vergleichs, material alle solche durch die Zeit, formenbildung entwickelten Mischtypen stets als so spezialisiert herausgestellt, sind sie so sehr auf eigener Formen, grundlage entwickelt, daß man sie aus der theoretisch gedachten geradlinigen Stammbahn herausnehmen und für einseitig spezialisierte „Sack, gaffen der Entwicklung" ansehen mußte, oder, wie man sich auch ausdrückte, für blind endigende Seitenzweige der Gesamtentwick, lung — man bemerkt wieder das Idealbild —, weshalb sie als wirkliche Glieder der angenommenen fortlaufenden Entwicklungs, kette ausgeschaltet werden mußten. Dabei verstehen wir mit der bisherigen Deszendenzlehre, die so argumentiert und so sich selbst aufhebt, unter „Entwicklung" den Weg, der von einer wirk, sichen, nicht hypothetischen Form zu einer anderen oder mehreren anderen wirklichen, erdgeschichtlich dagewesenen oder noch da, seienden Formen führen sollte. Es wird also das Heterogene so

Fig. $. Schema der Entstehung ton Übergangs formen zwischen zwei Typen A und B, durch Am Näherung und Formübe.schnetdung einzelner Arten. Innerhalb der Typen Parallelentwtcklung und ge, ringe Verzweigung der Formen. An den Punkten der FormannLhe, rung entstehen in jedem Typus Gestalten, die so ähnlich oder gleich sind, daß sie wie einheitliche gene, tische übergangSso men (schraffier) auSsehen, von denen her sich die Typen A und B „entwickelt" zu haben scheinen, i u. 2 aifclnan'er folgende Zeitstufen. (Ortginalflgur.)

gleichartig, so formverwandt, daß man es für eine genetische ®n# heil an sieht. Man kann also diese Art Formbildvng vergleichsweise als eine Funktion der Zeit auffassen, als Manifestierung eines lebendig gestaltenden „Zeitgeistes", der eine „Verwandtschaft" jur gleichen FormbUdung mit sich brächte, die dominant wird über zuvor gegebene typenhafte Verschiedenheit, ein Vorgang, der einer größeren übergeordneten Welle im Rhythmus des organischen Werdens und Wachsens entspricht, die ihrerseits die kleineren Wellen, die man Gattungen nennt, enthält. Hier hat, bildlich gesprochen, ein gemeinsamer Zeitgeist der Formgebung das im kleinwelligen Rhythmus heterogen Erscheinende auf einen größe­ ren gemeinsamen Nenner gebracht, so daß man von einer um­ fassenderen, und vorher vor lauter kleinwelligen Rhythmen ver­ hüllt gebliebenen Verwandtschaft und ihrer Äußerung sprechen kann. Das ist aber grundsätzlich eine tiefere und weitergreifende Entstehung von Gleichem oder Ähnlichem und geschieht auf Grund einer umfassenderen Verwandtschaft, als sie in der Deszendenz­ lehre bei der Frage nach der Entstehung neuer Arten oder gar in der Vererbungslehre bei der Mutation und dem Mendeln von Arten bemerkt worden ist. Es lassen sich daher die beschriebenen Formannäherungen, die oft bis zur Formengleichheit, ja zur Formüberschneidung gehen können und solcherweise gedachte Übergangsgattungen Hervor­

rufen bzw. vortäuschen, stets nur scheinbar für eine stammbaum­ mäßige Auffassung der Formbildung ausdeutcn; in Wirklichkeit nicht. Man kann sich den darin liegenden Irrtum, das Form­ verwandte für wirklich genetisch verwandt zu erklären, sehr gut durch beifolgendes Schema veranschaulichen (Fig. 6). Die dick ausgezogenen Linien sind die aus den Formüberschneidungen unter gleicher Zeitsignatur angenommenen Ausgangspunkte für neue Gattungen und Typen. Diese stellte man nun in ihrer zeit­ lich richtigen Reihenfolge übereinander und dachte sich theoretisch hinzu, es würden sich bei reicherem Material nun alle notwen­ digen Zwischenglieder in wirklichen fossilen Arten noch finden, die sich dann zwischen diese ebenfalls wirklichen Formen im Sinne

der gestrichelten Linien einfügen müßten, um uns so endlich bei reicher und reicher werdendem Material wenigstens streckenweise den wahren natürlichen „Stammbaum" zu liefern. Man sieht an diesem Schema die grundlegende Täuschung der bis­ herigen Deszendenztheorie. Denn nie­ mals noch haben sich, wie erwähnt, solche Reihen ergeben, und gerade das immer reicher zu strömende Material hat uns gerade gezeigt, daß jene Über­ gangskomplexe nicht genetische, sondern nur formale sind und daß sich durch die zunehmende Zahl und Kenntnis der fossilen Arten erst recht alles in eigene engste Typen- und Artkreise auflöst. Man sieht also aus einem Vergleich des Zustandekommens der Figuren 50.6 die grundsätzliche Irrigkeit des Stamm­ Fig. 6. Schema der auf falsch« Dor, aussetzung beruhenden Stamm, baumbildes und damit des genetischen baumtdee. i—6 erdgeschichtllche Verwandtschaftsbegriffes. Zeitalter. Oie dicken Punkte mit den Pfeilen sind sog. Übergangs, Mit anderen Worten: Die Stamm­ formen (nach Fig. 5, S. 132), die man für genetische Ausgangspunkte baumlehre hat sich nicht bewährt, so­ zu getrennten Typen hielt und deren D«btndung zu einem natürlichen bald man die wirkliche, nicht eine hypo­ Stammbaum (gestrichelt) man er, thetisch konstruierte Lebewelt besser und wartete. (Originalflgur.) besser erkannte. Der ganze Stamm­ baum ist eine Idealität, darauf beruhend, daß man formverwandt für innerlich genetisch verwandt und für ein Merkmal der „Ent­ wicklung auseinander nahm. In Wirklichkeit verläuft die Gestaltung der Formen in einer gleichsinnigen Entwicklung, je­ doch niemals in einer stammbaummäßigen Hervorsprießung des einen aus dem anderen, außer innerhalb eng begrenzter Arten, wie es uns die Vererbungslehre zeigt. Wie wäre es also, wenn man den irrtümlichen Verwandtschaftsbegriff der Deszendenz­ lehre und den auf ihm ruhenden ebenso irrtümlichen Begriff der unbegrenzten Umwandlung und Verzweigung als etwas Fiktives fallen ließe, weil er herübergeholt ist aus Denkvorstellungen und

Lebensjonen, wo er etwas anderes besagt vnd wo allein er nnr Sinn hat? Wenn man erkennte, daß „innere Verwandtschaft" etwas ganj anderes ist als Formgleichheil und Formähnlichkeit im anatomischen Sinn vnd dennoch auch in solcher sich aus, drücken kann, aber nicht muß? Daß innere Verwandtschaft gar keine körperlich genetische zu sein braucht vnd gar nicht im physio, logischen Sinn Blvtsverwandtschaft sein muß? Es bleibt nur die Wahl: entweder diesen Schritt erkenntnistheoretisch zu tun und Verwandtschaft für eine nicht mit gleicher körperlicher Form, bildung unbedingt zusammenfallende innere Potenz zu nehmen und damit auf die bisherige, rein auf das Äußerlich,Gestalt, liche gegründete Entwicklungslehre zu verzichten; oder an dieser mit ihrem äußerlichen Kriterium für Verwandtschaft festzuhalten und stch damit zu einer ewigen Unfruchtbarkeit zu verurteilen in der Erkenntnis des wahren Entstehens der Formen von innen her als stete Neuprägung aus dem Urbild. Was ist es aber, wenn die gleiche Form, die körperliche Bil, düng, nicht mehr unbedingt auf Blutsverwandtschaft im natur, historischen Sinn deutet, und wenn umgekehrt Verwandtschaft da ist, auch wo ste in der Körperhafiigkeit formal nicht besteht? Dann muß Verwandtschaft ein innerer Spannungszustand sein, der zwischen Wesen besteht, die in einem polaren Verhältnis zueinander stehen und so stch in ihrer Erscheinung gegenseitig bedingen, ohne daß die Erscheinung beider nach außen unbedingt gleichförmig oder gleichzeitig wäre. Wir nennen ste „polare Verwandtschaft". Wir kommen hiermit an das in der Paläonto, logte viel diskutierte und dunkle Problem des ersten Erscheinens und des Aussterbens von Formen und Typen. Das Leben hat eine in breitem Strom stch vollziehende gleichsinnige und rhyt, mische, oft auch intermittierende Umwandlung, und das deutet auf einen inneren Zusammenhang, auf eine stch komplementär äußernde Verwandtschaft, eine Verbundenheit aller Formen, die stch bei einzelnen in Formgleichheit, bei anderen in komplemen, tätet Formverschiedenheit, sei es gleichzeitig, sei es periodisch äußert. Die Formverwandtschaft von Vertretern einer Art, von Eltern, Kindern und deren Nachkommen ist nur ein ganz

spejieller Fall solcher Verwandtschaft, der sich aber auch hier keineswegs in unbedingter Formgleichheit äußert, wie die Dererbungszüchtungen beweisen, wo geverationenlang gewisse Eigen­ schaften im äußeren, im phänotypischen Formenbild verschwin­ den können, um endlich wieder einmal unter günstigen Bedin­ gungen oder nach einem inneren Rhythmus aufzutauchen. Es zeigt sich schon in solchem morphologisch eng umschriebenen Kreis das Nichtzusammenfallen des inneren Derwandtschaftsmit dem äußeren Formbegriff. Innere Verwandtschaft nun könnte für eine dem naiv naturwissenschaftlichen Sinn allein als solche schlechthin wirkliche Außenwelt überhaupt nicht existieren; da gäbe es nur Körper an Körper, ob groß oder unendlich klein; es gäbe nur mechanischen Stoß, nur ein mechanisches Nach­ einander, Nebeneinander, Gegeneinander. Und damit begibt man sich des Begriffs eines inneren Zusammenhanges. Erst in jenem „Jnnenraum" gesehen, in dem das Sichtbare Gleich­ nis ist, besteht wahre Verwandtschaft, wahre Verbundenheit der Dinge miteinander. Deshalb kann die Vielheit der äußeren Erscheinungen, also auch der Individuen, und Arten, ebenso wie die Formentwicklung erst dort in ihrem eigentlichen Zusam­ menhang verstanden werden. Es muß eine innere Verbundenheit bestehen, ungreifbar, un­ körperlich, die sich in verschiedenster Form und an verschiedenen Raumstellen gleichzeitig oder zu verschiedener Zeit gellend machen und entweder gleiche oder komplementäre Gestaltungen schcffen kann, welch' letztere sich typenhaft durchaus unterscheiden und doch sich entweder in ihrem Kommen und Verschwinden gegenseitig bedingen, oder sich in gleichen Zeitmerkmalen auf verschiedener mor­ phologischer Organisationsgrundlage zu erkennen geben. Auch das vielumstrittene Problem der mimetischen Nachahmung von Tier zu Tier cder von Tier zu Pflanze und Gegenstand, das sich, wie die neuen Forschungen zeigen, nicht mehr im darwinischen Sinn der biologischen Nutzmäßigkeit erklären läßt, könnte von hier aus gleichfalls eine Beleuchtung von innen her erfahren. Es bestehen jedenfalls in der Entwicklung der Organismen und Typen bet äußerer Formverschiedenheit innere Gemeinsamkeiten und Der,

136

wandtschasten, die auf ganj andere Zusammenhänge deuten als auf den der linearen körperlichen Abstammung voneinander.

9. Das Sterben und Kommen der Typen. Aussterben von Typen oder Gattungen kann zweierlei heißen: 1. wirkliches Aussterben ohne genetische Fortsetzung; 2. stammesgeschichlliche Umwandlung der Form von innen heraus, wo­ durch die vorhergehende Form verschwindet und wie ausgestorben erscheint. Es ist klar, daß dieses letztere kein wirkliches Aus­ sterben, sondern Ausdruck für höchste biologische Gesundheit und Lebenskraft ist. Es gibt aber auch ein scheinbares Aussterben. Wenn etwa schalentragende Meerestiere von einer gewissen erd­ geschichtlichen Zeitphase ab diese Schalen zurückbildeten und dann, wie gewisse Schnecken und einige andere Meerestiere, schalenlos wurden, so konnten sie von diesem Augenblick an nicht mehr fossil in den Schichtungen erhalten bleiben, weil ja meistens nur Hartteile mineralisiert und als Versteinerungen überliefett werden. So sind möglicherweise die heutigen nackten, schalenlosen Land­ schnecken oder gewisse marine Kraken die Nachkommen ehemals schalentragender Gattungen, deren Gehäuse wir etwa in erdmittel­ alterlichen Schichtungen vor uns haben, ohne zu wissen, ob sie verwandelt in den jetzigen Nacktschnccken und Nackikephalopoden weiterleben. In tertiärzeitlichen Schichtungen kann man aber keine fossilen Nacktschrecken finden; und so erscheinen dort solche alten Schalentragenden ausgestorben, obwohl sie vielleicht als Schalenlose weiterlebtcn. Hier aber wollen wir nur vom wirk­ lichen echten Aussterben reden. Äußere Gründe des Aussterbens lassen sich mehrere aufzählen. Zuerst glaubte man, daß große Katastrophen die Erde von Epoche zu Epoche betroffen hätten und alles Leben ausgelöscht hätten, worauf es neu erschaffen worden sei. Aber so radikal ist wohl kaum der Wechsel der Tier- und Pflanzenwelten jemals gewesen. Denn selbst der Begründer der Kataflrophentheorie, Cuvier, ging nicht so weit, sondern nahm nur an, daß sich trotz der großen Umwälzungen an manchen Stellen der Erdoberfläche das Tier-

tittb Pflanzenleben aufrechterhielt und daß nach der Katastrophe von da aus wieder die Erdoberfläche neu besiedelt worden sei. An eine beschränkte Umwandlung der Arten glaubte man auch vor Darwin schon; kannte man doch die geographischen Abarten der Gattungen des Tier- und Pflanzenreichs. Unserem derzeitigen wissenschaftlichen Urteil entspricht es, anzunehmen, daß oftmals Gattungen oder Typen schon vor Ein­ tritt einer umfangreicheren regionalen Katastrophe nur an einem beschränkten Lebensraum lebten und dann durch Zerstörung desselben zum völligen Erlöschen kamen. Dies aber würde zur Voraussetzung haben, daß der Typus, die Gattungen vor­ her schon aus anderen Gründen in ihrem Bestand so reduziert waren, daß sie zuletzt auf ihrem engen Raum einem äußeren Unglücksfall unterlagen. So sind häufig größere Kontinental­ flächen durch hereinbrechende Meere in geologisch kurzer Zeit überschwemmt worden, und in den nordamerikanischen tertiär­ zeitlichen Schichtungen haben wir teilweise das Ergebnis aus­ gedehnter und mehrmals wiederholter vulkanischer Ausbrüche mit ungeheueren Aschenregen, welche ganze Tiergemeinschaften erdrückten. Dennoch ist nirgends in der Erdgeschichte ein Fall bekannt, daß solche Katastrophen sich über die ganze Erde erstreck­ ten. Es bleiben immer freie Plätze übrig, es lebten die meisten aussterbenden Typen auch in anderen Ländern oder weltweit verbreitet, und starben aus, ohne von Katastrophen betroffen zu sein, ohne ersichtlichen äußeren mechanischen Grund. Und auch für die Meerestiere gilt das gleiche wie für die Land- und Lufttiere. Alle jene Erklärungen beseitigen also nicht die Tatsache, daß auch ohnedies das Aussterben von Typen und das gleichzeitige Er­ scheinen von neuen ein erdgeschichtliches Fattum ist, das den Eindruck einer einheitlichen inneren Ursache macht. Das Problem wird durch Annahme äußerer Katastrophen nicht gelöst, sondern mit Scheinerklärungen erledigt. Ein wesentliches Moment beim Aussterben von Gruppen finden wir in einer oftmals höchst einseitigen, übertriebenen Spezialisierung der Form, die so weit geht, daß beim Auftreten neuer verändetter Lebensbedingungen die Gattungen, die Typen

138

nicht mehr durch Umwandlung und Neuanpassung diesen €r# fordernissen zu entsprechen vermögen. Wenigstens kann man es so ausdrücken, denn Tatsache ist, daß immer die mit größten Formausschlägen oder in extremster Spezialisierung endigenden Formenreihen, also die mit übertriebener Spejialisation auch am raschesten ausstarben. Sehr oft aber geschah dies auch ohne jeden ersichtlichen Zusammenhang mit äußeren Veränderungen und auch ohne ersichtlichen Wechsel der spezifischen Lebensbedingungen. Jene aber, die sich langsam und mit geringen, gemessenen Formen­ ausschlägen umwandelten, behielten durch lange Epochen hindurch die Kraft zu gleichmäßiger Fortdauer. Und wenn sie überhaupt bis zum heutigen Tag ausstarben, dann geschah es nur ganz allmählich und unter stetiger Abnahme ihrer Zahl und ihres Lebensraumes. Dieses Aussterben von Formen und Formen­ reihen — und auch jenes ohne ersichtliche äußere Gründe — macht nun ganz den Eindruck eines Vorganges von innen her. Es ist, als ob die erlöschende Formspannung, in lebendiger Analogie zum Gesetz des Alterns der Individuen, selbst das Aussterben mit stch bringe, so daß die sehr rasch und sehr mannigfaltig und extrem ihre Formen fertig entwickelnden Typen eben schneller und unvermittelter erlöschen mußten, als die mit einer gewissen inneren Geschlossenheit und Unwandelbarkeit dastehenden Typen. Es gibt dann aber noch eine, gewissermaßen in der Mitte zwischen einem wirklichen und jenem nur scheinbaren evolutionisti­ schen Aussterben stehende Erscheinung. Es sei noch einmal daran errinnert, daß sich in der Erdgeschichte oft längere Zeit hindurch dieselbe Form, derselbe Spezialtyp in mehr oder weniger starker Umwandlung verfolgen läßt, bis er plötzlich verschwindet und nach einiger Zeit wieder in der alten Gestalt oder auch etwas abgeändert wieder hervorkommt. Solches kann stch auch mehrmals wiederholen. Es ist dies das Gesetz des Jntermittierens (S. 103), für das gleichfalls kein ersichtlicher äußerer Grund angegeben werden kann und das sich, wie gezeigt, mit einem sehr großwelligen Rhythmus der Formgebung vergleichen läßt, analog dem, was in allerengstem Bildungsraum auch beim Abwechseln der Eigen­ schaften in Generationsfolgen ein und derselben Art sich bemerk-

bar macht. Jntermtttieren nun Typen mit einzelne« ihrer charak­ teristischen Formbildungen in längeren Phasen der erdgeschicht­ lichen Zeit, so macht dies den Eindruck des Aussterbens oder des plötzlichen Wiederkommens, während dennoch die Bildung spotenz sich in den verwandten Gestalten weitererbt. Wo man also wirklich in das Wesen des Aussierbens der Formen und Typen eindringt, wird man immer auf innere, tiefer verankerte biologische Gründe, nicht auf äußere Mechanismen hingewiesen. Weshalb Formen, Typen in der Erdgeschichte zu bestimmten Zeitpunkten aussterben, darüber hat man fich in der Paläontologie viele Gedanken gemacht und hat, wie stets, nach den äußerlich­ kausalen Abläufen dabei gefragt und erkannt, daß es sowohl biologische wie auch plysiologische Gründe sein mögen, die aber freilich, wie immer, nur den äußeren Mechanismus uns zeigen und für Ursachen genommen werden, während sie doch sozusagen nur Vollzugsorgane für innere Zusammenhänge sind, für ein symbolisches Geschehen, das wir nicht gut treffender als mit innerem Derwandtschaftszusammenhang, mit Lebensrhythmus und -Polarität bezeichnen können. Diese polare Verwandtschaft und gegenseitige Bedingtheit in der Formgebung und Forment­ stehung kommt nun naturhistorisch nicht nur in der im vorigen Abschnitt besprochenen gleichzeitigen Umwandlung ganzer Tier- und Pflanzengemeinschaften über die Erde hin zum Aus­ druck; auch nicht nur in der Zeitformenbildung bei morphologisch heterogenen Gruppen, nicht nur im rhythmischen Jntermittieren, sondern auch im Aussterben von alten und im gleichzeitigen Entstehen von neuen Typen. Auch hier muß eine innere Gemein­ schaft, eine Verwandtschaft bestehen, ohne daß sie sich in gleicher Form äußert. Es ist ein Kommen und Gehen der Typen und Gattungen kraft eines inneren polaren Verhältnisses der Form­ bildung ohne Formgleichheit. So treten in der Erdgeschichte gleichzeitig mit den Blütenpflanzen die Schmetterlinge und honig­ saugenden Formen auf; mit bestimmten riffbauenden älteren Koral­ len verschwinden die an ihren Riffen hausenden und mit ihnen in Lebensgemeinschaft wohnenden Stachelhäuter und Krebse, wie sie auch mit ihnen gekommen waren und wie mit den neuen 140

Korallenformen des Erdmittelalters auch neue Typen der genannlen Mitlebenden zusammen erscheinen. Das Geheimnis des Sterbens und des Neuerscheinens von Typen in der organischen Natur liegt beschlossen in der inneren Verwandtschaft alles Seienden. Ist das Dasein innerlich Einheit, so muß auch jedes Einzelne, das uns als solches erscheint, in einem innerlichen Zusammenhang als Funttion des Ganzen, als lebendiges Symbol verstanden werde» können. Es steht nun bei allen erwähnten Fällen dem Aussterben der Einen auch das Kommen der Anderen gegenüber. Niemals hat es in der Geschichte des Lebens solche Lücken und Leeren gegeben, daß wir uns nicht die Erde mit gleichviel Typen und Gattungen und Arten bevölkert denken dürften. Wenn es nachgerade anders wird, so liegt dies am Eingreifen des Menschen. Es drängt sich daher der Eindruck auf, daß das Neuerscheinen, besonders das un# vermittelte Neuerscheinen von Typen in einem inneren Zusammen­ hang mit dem Erlöschen der alten, überlebten stünde. Man hatte hierfür eine Theorie in der Darwinschen Lehre vom Kampf ums Dasein, wo eine Form die andere verdrängen, das Passend^ überleben und so allmählich das Floren- und Faunenbild während erdgeschichtlicher Zeit stch verschieben, verändern, umwandeln sollte. Wenn aber dieser Gedanke zutreffend den Sachverhalt wiedergäbe, so müßten wir in der Erdgeschichte diese Umwandlung des Einen aus dem Anderen auch einigermaßen beobachten können. Doch ist dies, wie schon vorher gezeigt, nicht der Fall. Hätten stch nämlich die neuen Typen, die wir in der Dorwelt immer wieder erscheinen sehen, wenn alte ausstarben, allmählich auseinander entwickelt, dann müßten wir irgendwo sehen, daß aus Arten alter Typen Arten neuer Typen entsprangen. Aber nicht ein Fall aus der Vorweltkunde ist mir bekannt, wo solches geschah. Zwar nähern sich die Formen oft während gewisser Zeiten einander derart an, daß sie geradezu auseinander hervorzugehen scheinen; aber das führt nie zur unmittelbaren Zeugung eines neuen Typus aus dem bereits vorhandenen. Was es damit für eine Bewandtnis hat, ist oben (Kap. 4) gezeigt. Auf dem Weg der äußerlichen Umwandlung, der Genese im Sinne der Deszendenz,

141

theorie, verändern sich innerhalb enger Grenzen die einzelnen Arten; aber es entstehen nicht neue Organisationen, nicht neue Typen. Sie müssen erst da sein, um in den Kampf ums Dasein eintreten und in der natürlichen Auslese als das Bessere sich be­ währen oder als Minderwertigeres untergehen zu können. Immer kommt das Andere, das Neue „anderswoher. Doch woher es kommt, das ist eben das ungelöste Rätsel des innerlich korrespon­ dierenden Aussterbens und Neukommens von Typen. Das, was wir früher (S. 135) „polare Verwandtschaft" nannten und als inneren Spannungszustand zwischen Wesen verschiedener Gestaltung bezeichneten, wodurch sie sich irgendwie in der Außen­ welt gleichsinnig oder korrelativ verhalten und womit wohl auch mimetische Gestaltungen oder gegenseitig wirkende, „fremddienliche" Zweckmäßigkeit heterogener Typen oder Gattungen zustande kommt — das mag hier der angemessene, wenn auch nur andeu­ tende Ausdruck sein, um jenen inneren Zusammenhang erkennen zu lassen, der im Kommen und Sterben heterogener Typen besteht. Es gilt nach dieser Verbindung zu suchen. Es gibt in der Erdgeschichte Perioden der Lebensgestaltung, in denen Neues geprägt wurde und das Vorhandene auffallend zu­ rücktrat und aussiarb. Es sind andere Perioden da, in denen sich Vorhandenes äußerlich reich entfalten konnte. Ersichtlich steht, mehr als irgend etwas anderes, das Klima und der Klima­ wechsel auf der ganzen Erde, nicht nur der regionale, mit solchen universellen und grundlegenden Lebensumprägungen im Zusam­ menhang. Das Dorweltklima zeigt einen großzügigen und perio­ disch erscheinenden Wechsel extremer, teilweise in ausgedehnten Eisbedeckungen gipfelnder Veränderungen, die mit gemäßigten, ja warmen Zeiten über die ganze Erde hin abwechselten. Stets ist dies auch begleitet von gänzlich veränderter Verteilung der Länder und Meere, auch von anderen Landkonfigurationen, von der Auffaltung von Gebirgen und deren Wiederverschwinden, und wahrscheinlich auch von wechselnden Wassermengen in den Ozeanen. Dieses irgendwie in einem großen gemeinsamen Ursachenkomplex verbundene Werden der Erdoberfläche, wie des Klimas und des Lebensreiches gilt es nun, in seiner gegenseitigen

Beziehung zu verstehen. Sind bestimmte Typen des Organismen^ reiches einmal vorhanden und ändern sich die Umweltverhältnisse, so prägen sich entweder neue Arten aus oder es waudera die Tier- und Pflanzeagemeinschasten anderswohin, was besagt, daß durch die stete Vermehrung der Individuen eben allmählich oder rasch andere Regionen besiedelt werden, die vorher für sie unzugänglich oder unter ganz anderen Bedingungen auch von anderen Arten und Formen und anderen Vergesellschaftungen der lebenden Welt besiedelt waren. Neue Organisationen, neue Typen aber entwickelten sich nicht infolge und in einer unmittel­ baren kausalen äußeren Abhängigkeit von den tellurischen Zustands­ änderungen, sondern stehen, gleich diesen, unter einem weiteren, tieferen Einfluß, aus dem sich beides gemeinsam ergibt und das sich in geophysischer Hinsicht als Wandlung der Oberfläche und des Klimas, in biologischer Hinsicht als durchgreifende Änderung der

Lebensformen, als ein Kommen neuer und ein Aussterben älterer Typen kundtut. Man hat nun vergeblich versucht, die großen Veränderungen der Erdoberfläche und des Klimas auf rein innerirdische Ursachen zurückzuführen. Man hat sich damit immerzu in solchen Wider­ sprüchen befunden, die Tatsachen gruppieren sich so gegen­ sätzlich zueinander, daß alle diese Schwierigkeiten nur mit einer allgemeinen Zurückführung aller dieser durchgreifenden Erschei­ nungen auf kosmische Zustände und Einflüsse zu einer gewissen Klarheit und Widerspruchslosigkeit der Tatsachenkomplexe ge­ langen. Geben sich also die äußeren irdischen Verhältnisse als kosmisch bedingt und verursacht, und sehen wir mit diesen Ver­ änderungen auch den Wechsel des Lebens und seiner Typen zu­ sammentreffen, ohne daß es möglich wäre, diesen unmittelbar auf jenes als seine Ursache zurückzuführen, so heißt das nichts anderes als dies: Auch die Lebensumprägung muß kosmisch bedingt sein. Wenn also heute wieder die uralte Überzeugung wach wird, daß das Leben auf der Erde kosmisch verflochten sei, so haben wir in den vorurteilsfrei betrachteten erdgeschichtlichen Entwicklungserscheinungen eine starke Andeutung für die natur­ historische Richtigkeit einer solchen Ansicht. Wenn wir auch nicht

M3

oberflächlich von „Einwirkungen" der „Sterne^' reden wollen, was ja ganj und gar nichtssagend wäre, und wenn wir uns auf jeden Fall vor dem Gedanken hüten wollen, das Sichtbar,Kosmische schaffe als Ursache im äußerlich physischen Sinn die Organismen und gestalte ihre Form, so können wir es doch auf Grund der tatsächlichen Ergebnisse der Paläontologie unbedingt aussprechen, daß statt des bisherigen Satzes: das Leben wandle sich infolge der Wandlungen der Erdoberfläche um, der andere zu stehen hat: Heides wandelt sich als gleichzeitig und gleichsinnig aufeinander «ingestellt, in einem größeren kosmischen Zusammenhang um, so daß nicht das eine die äußerliche „Ursache" des anderen ist. Man darf also nicht mehr fragen, inwiefern die äußeren irdischen Verhältnisse den Anlaß zur Entstehung neuer Form, Prägungen des Lebens bilden; sondern man muß es so ansehen, daß sich beides aus einer gemeinsamen Grundursache regelt, die sich nun nach der inneren Gemeinsamkeit und „Verwandt, schäft" des Geschehens, gleichzeitig sowohl in der physikalischen Gestaltung der irdischen Umwelt, als auch in organischer Typen, Prägung kundgibt. Und dadurch nun erscheint beides entsprechend aufeinander eingestellt. Schopenhauer hat den tiefgründigen, ihm selbst nur naturphilosophisch, aber noch nicht naturhistorisch verständlichen Satz gesprochen, die äußere Natur stelle sich ebenso auf die Organismen ein, wie diese auf die äußere Natur. Der Deszendenztheoretiker gewöhnlichen Stlls kann damit nichts an, fangen; denn er hegt immer nur in einseitiger Richtung die Dor, stellung, daß sich das Leben wegen der äußeren Bedingungs, Änderungen umwandle. Er weiß aus der täglichen oder experi, mentellen Erfahrung, daß sich Varianten und Mutanten des Körpers einstellen, wenn man innerhalb gewisser Grenzen die einzelnen Organismen unter veränderte Bedingungen bringt. Aber dabei springt an Formänderung immer nur das heraus, was an sich schon latent in der Art enthalten ist. Die ganze große Um, Prägung und das Erscheinen von wesentlich Neuem, wie es uns die Zeiträume der Erdgeschichte bieten, wird davon nicht berührt. Cs kann in keiner Weise die Entstehung des Typenhaften aus äußeren Ursachen dargetan werden.

Sobald wir nun den Erdkörper als einen Gesamtorganismus in einem allgemein lebendigen, nicht bloß in Gestalt der Tiere und Pflanzen lebendigen Sinn, setzen und die Zusammenhänge der Lebens- und Erdentwicklung Überblicken und durchdringen, wer­ den wir dazu geführt, beides verankert zu denken in einem über­ geordneten Gemeinsamen. Und dieses Gemeinsame ist eben „das Kosmische", von dem sowohl die Gestaltung der Erdober­ fläche und des Klimas, wie die Gestaltung, Stellung und Ver­ änderung der Gestirne und kosmischen Stoffe, wie die Prägung des Lebens die verschiedenen Äußerungsformen stnd. Wir verstehen dann, weshalb alle diese Erscheinungen miteinander stch voll­ ziehen und doch die eine nicht schlechthin die Ursache oder Folge der anderen ist. Der äußere Ursachenbegriff ist durch den inneren zu ersetzen. Das Geschehen ist Manifestation, nicht Mchanismus. Und vielleicht hat die Evolution der organischen Typen so ihre kosmische Entsprechung. Die Entstehung und Prägung von Typen und die hiermit eng verbundene Umwandlung und das Aussterben hängt also mit einem kosmischen Wechsel, einem kosmischen Rhythmus, einer kosmischen Polarität zusammen. Anders ausgedrückt: man kann die Gestaltung der irdischen Natur, die Lebensformenbildung und die kosmische Welt in einer höheren Einheit aufeinander beziehen und so auch die eine zum Ausdruck, zur „Funktion" der anderen machen. Man verstand bisher in der Biologie viel zu einseitig die Wandlung vorhandener Formen als mechanische Anpassung an die Umwelt. Man verstand nicht die Möglichkeit eines inneren Zusammenhanges von Umweltgestaltung und Organismen­ werden; man verstand nicht, daß ein innerer Zusammenhang zwischen Sterben und Aufkommen von Neuem bestehen muß; man verstand nicht, daß der Kosmos wirMch von innen her Einheit ist und daß deshalb alles Einzelgeschehen symbolische Be­ deutung aufs Ganze hat. So deutet die äußere Natur in ihrer Vielgestaltigkeit und in ihren verschiedenen Zuständen, die wir organisch, anorganisch, tellurisch und kosmisch nennen, auf einen inneren Zustand der „Verwandtschaft", die wir erblicken, wenn

wir nicht an der allzu eng begrenzten Vorstellung festhalten, die Verwandtschaft bestehe nur in einer Gleichheit äußerer Form oder der „Erbfaktoren", während doch die äußere Form, ob so, ob so, stets symbolisch die innere Verwandtschaft zu Anderem zum Ausdruck bringt. So hat auch der Organismus kosmisch-symboli­ sche Bedeutung. Steht nun auch das Kommen und Sterben von Typen mit tellurischen und kosmischen Wandlungen oder Span­ nungen und deren Lösung im Zusammenhang, was durch empirische Forschung wohl ermittelt werden kann, und scheint es so, als ob hier zwar ein Einfluß des einen auf das andere im äußerlichen Sinn zu sehen ist, so wissen wir doch, daß der äußere Ablauf, das äußere Ereignis in seiner Gestaltung ein Sinnbild des inneren Geschehens, des inneren Zusammenhanges ist und aus ihm bestimmt wird.

Natur und Menschenwesen

i. Natur und Kunstwerk. Die Erfassung und Darstellung des Jdeeahast-Wirklichen in ssnnenhafter Form ist künstlerisches Tun, ist Kunst. Die andere Geistestätigkeit, die im Sinnenhaften fiehenbleibt und dieses in seinem zeitlich-räumlichen Ablauf und Nebeneinander ordnet, ist empirische Wissenschaft. Und doch ist beides untrennbar. Dena jeder Mensch geht mit seinem Denken, Fühlen und Forschen ein in die ganze Geistigkeit. Er selbst ist ein Ganzes, und nur im reflektierenden, im erkenntnistheoretischen Prüfen sucht er diese verschiedenen Seiten des Geisteslebens zu trennen und sie einzeln zu betrachten oder zu betätigen, um sich Rechenschaft über ihr Wesen geben zu können; wie der Anatom, der einen Organismus nach seinen Teilen betrachtet, ohne damit die innere Einheit des Ganzen vergessen zu dürfen, ohne welche auch die Teile und ihre Betrachtung keinen Sinn hätten. Denn ein Körper ist von innen her geschaffen, und auch in seinen Teilen drückt sich das Ganze aus, wie jene nur im Ganzen lebensfähig und tätig sein können. Will man aber das Ganze erfassen — und nur das ist der Sinn des Strebens nach Erkenntnis des Einzelteiles —so geht dies nicht nur auf dem Weg des Trennens und Wiederverbindens, sondern nur durch das gleichzeitige innere Erleben und Erschauen des Ganzen. „Das Ganze" aber heißt nichts anderes als: der innere Sinn. Und so ist ein Erkennen nur möglich, wenn im Gegenständlichen der Sinn erfaßt wird, wenn also das Gegen­ ständliche zum Symbol eines inneren Sinnes, einer inneren lebendigen Wirllichkeit wird. Diese nun zu sehen, zu fühlen, zu wissen, denkend zu umfassen oder darzustellen: das ist Kunst im weitesten und tiefsten Sinn. Nennt man also „Wissenschaft" jenes verständliche Vergleichen der Dinge und Erscheinungen miteinander, jenes Trennen und Verbinden der Teile, so ist „Kunst" das Erfassen der inneren Einheit, des inneren Lebens, des inneren Sinnes aller Erscheinung.

Erkenntnis haben, heißt, jum Sinn der Dinge Vordringen, ju ihrer Ursache. Zur wahren Erkenntnis, jur wahren Erklär rung für die Dinge, zur wahren Ursache würden wir dann gelang gen, wenn wir alles äußerliche in Beziehung-Setzen über­ wunden hätten und unmittelbar den inneren Sinn und Zusammen­ hang begreifen könnten; unmittelbar erschauen könnten, woraus etwas geschieht. Wie aber und als was würden uns die Natur, formen erscheinen, wenn wir solches erreicht hätten? Sie würden dann nicht mehr an sich dastehen, sondern ihr inneres Gesicht, ihre Bedeutung uns zeigen. Sie würden uns nicht mehr schlecht, hin als Wirklichkeit erscheinen, sondern zugleich als lebendige Symbole einer ihnen immanenten Wirklichkeit; platonisch: eines ihnen immanenten lebendigen Urbildes, einer Idee. Das Ziel jeder Kunst und jeder Wissenschaft, der es um Er, kenntnis, nicht nur um materielle Beherrschung der Erscheinungen und des Lebens zu tun ist, hat das Ziel, die Wirklichkeit darzu, stellen nach ihrer Idee, ihrem Wesen. Umgekehrt: die Darstellung des Jdeenhaft-Wirklichen im äußeren Bild oder in der Sprache — das ist wahre Kunst, wahre Wissenschaft. Darum ist es wahres Ziel der Erkenntnis, im Gegenständlichen ein Symbol zu sehen. Und indem echte Kunst und echte Wissenschaft gleicherweise dies erstreben, dringen sie vor zum Schauen des Urbildes der Dinge, zur Erkenntnis der wahren Ur-Sache. So ist Sinndeutung ein „Erleben" der wahren Ur-Sache der Erscheinungen. Und eben das, was wir daran er-leben, ist für uns der Sinn und damit erst die Tatsache. Die Erscheinungen sind also Symbole, an denen wir ein von innen her Wirkendes und deshalb Wirk-liches erleben. Daraus aber ergibt sich, daß bei verschiedener geistig-seelischer Grundeinstellung dieselben äußeren Tatsachen einen anderen Sinn, eine andere Wirklichkeit bekommen; daß also dieselben äußeren Tatsachen eben andere Tatsachen mit anderer Bedeutung werden können. Und so mag es kommen, daß dem Einen etwas „bedeutend" erscheint, was dem Anderen, der andere innere Zu­ sammenhänge weiß und einen anderen Sinn des Lebens kennt, höchst „unbedeutend" vorkommt. Heute wird viel vom neuen 150

Wirklichkeitsbild gesprochen, das sich anbahnt. Das heißt nicht, daß ein Baum kein Baum mehr ist und ein Berg kein Berg mehr; sondern daß wir erneut nach dem Sinn des Daseins fragen, daß uns eine andere Bedeutung des Daseins aufgeht und daß uns deshalb zwischen den äußeren Erscheinungen Beziehungen zum Bewußtsein kommen und in ihrer Bedeutung aufgehen, die wir vorher nicht kannten und sahen oder vergessen hatten. Unter dieser Voraussetzung könnten wir die Formen der Kunst und die der Natur zu betrachten versuchen, um zu ergründen, wie beide das Dasein offenbaren; also gewissermaßen nicht, was sie in ihrem Eigendasein und Eigenwerden sind, sondern was sie in ihrem „beredten Schweigen" sind, auf was sie deuten, was sie be-deuten. Da aber die Naturformen nicht so wie das, was die Kunst schafft, von uns selbst und unter Beteiligung unseres denkerischen Bewußtseins ausgegangen und geschaffen sind — in einem letzten tieferen Sinn sind sie es auch — so wird die Er, kenntnis von deren Bedeutung ungleich größeren Schwierig, ketten begegnen. Wenn die Tiere etwas Kunstähnliches schaffen, etwa Spinne, Ameise, Vogel, so dürfen wir dies ein naturhastes Wirken nennen, nicht im menschlichen Sinn „Kunst". Denn wir wissen, daß es nichts mit dem gemein hat, was der Mensch als Kunstschöpfungea hervorbringt und was er dabei erlebt. Wir sehen deutlich, daß es ein unbewußtes organisches Bilden ist, das bei dem Kunsttrieb der Tiere aus dem Instinkt fließt und nicht mit der willensmäßigen Geistigkeit etwas zu tun hat, aus der wir etwas schaffen. Wenn es unserem Kunstschaffen zu vergleichen wäre, so müßten es die höchsten Tiere am meisten haben. Aber gerade die uns anatomisch und in ihrer Gehirnentwicklung am nächsten stehenden Tiere schaffen unter allen Wesen des Tierreichs am allerwenigsten „Kunstwerke"; das Höchste, was da erreicht wird, sind Bauten wie die des Fuchses und Bibers. Und gerade von diesen wissen wir genau, daß ihr Entstehen auf instinktivem Tun beruht, nicht auf einer geistigen Tätigkeit wie die, welche unser Kunstgestalten hervorbringt und lenkt. Wir unterscheiden also nach diesem Gesichtspunkt Gestaltungen

151

wie sie der Mensch hervorbringt von andersartigen Gestaltungen wie sie die untermenschliche Natur hergibt; andere aber kennen wir überhaupt nicht. Naiver Realismus wäre es, die Gestaltung der Welt, analog dem Tun des Künstlers, der äußeren Tätigkeit eines Schöpfers, der von außen heranträte, zuzuschreiben. Aber selbst bei den Formen der Kunst, die wir doch schaffen oder ju schaffen glauben, dürfen wir uns nicht einbilden, sie restlos ju verstehen; wir dürfen uns nicht einbilden, daß uns der Sinn der Kunstformen etwa durchaus jvgänglich wäre. Er ist es so viel und so wenig wie jener der Naturformen. Nicht einmal für die Kuastformen, die einer selbst geschaffen hat, trifft dies für ihn selber zu. Was verstehen wir von einer Dichtung wie dem „Faust" oder von den Götterbildern Babylons oder wilder Völker? Es ist nicht nur der andere Zeitgeist, Dolksgeist, Rassegeist, die ganz andere Mentalität, die jenen Völkern und Epochen eigen war und die uns daher verhindern würde, in die Schöpfungen ihrer Kunst einzudringen und damit das innere Schauen, aus dem ihre Werke entsprangen, nachzuerleben, in unserem Innern nachzuerschaffen; sondern es ist wohl grundsätzlich unmöglich für unser Wachsein überhaupt, irgendein Kunstwerk im Innersten seines Daseins zu erfassen, auch jenes nicht, das wir selbst geschaffen haben. Im „Faust" steht mehr als Goethe wußte. Denn jedes wahrhafte Kunstwerk ist ja von seinem Erschaffer innerlich in Sphären empfangen, die sein ichbeschränktes Wachbewußtsein als solches gar nicht zu be­ treten vermag. So ist das Innerste, Beste, Höchste in jeglichem Kunstwerk dem, der es schuf, ebenso jenseitig, wie der Jnnensinn jeder naturgeschaffenen Form. Ist der Künstler doch nur Gefäß, Werkzeug, aus dem sich das Kunstwerk, aus unbekannten Tiefen quellend, ergießt. Was tut nun der Mensch, wenn er Formen schafft, also in jenem Sinn Kunst treibt? Man könnte trivial sagen, er bilde mit seinem Geist, danach mit seiner Hand, seinem Pinsel, seinem Meißel die Natur nach. Freilich, solche „Kunst" gibt es auch; und es hat Zeiten gegeben, wo man allen Ernstes glaubte, der Mensch ahme, wenn er künstlerisch irgendeine Form, einen Ausschnitt aus dem Dasein darstelle, bewußt oder unbewußt die Natur nach. Ein

Zeitalter, wie das zu Grabe getragene, forderte wohl von der blldenden vad darstellenden Kunst obendrein, daß ste möglichst „getreu" die Natur nachahme. Was heißt aber, die Natur nachahmen? Bei einer Plastik könnte man es stch am ehesten noch denken; also etwa daß ste den menschlichen Körper in seinen Proportionen und anatomischen Verhältnissen «iedergäbe, nachahme. Aber ist denn der Körper nur Körper im trivialen Sinn? Ein anatomisches Modell erscheint uns auf den ersten Blick ganz leblos und tot, es erscheint nns eben als „Kunstprodukt", nicht als Natur, und ist doch höchst naturgetreu. Warum aber erscheinen uns solche naturgetreuen „Plastiken" tot und warum die Plastiken echter Künstler eben nicht tot, sondern lebensvoll, seelenhaft — also gerade so, wie das Leben nicht bloß seiner Form nach, sondern „wirklich" ist? Nun, weil Idee darin liegt, lebendige Idee, transzendente Wirklichkeit. „Die vollkommenen Formen, welche die Plastik hervorbringt, stnd die objektiv dargestellten Urbilder der organischen Natur selbst", sagt Schelling. Ohne „Idee", d. h. ohne Jenseitigkeit gibt es gar keine wahre Naturdarstellung. Und naturwahr find Kunstwerke erst dann, wenn ste dieses Jenseitige der Form uns vermitteln; wenn ste eben nicht den mechanisch-anatomischen Abklatsch geben, der als solcher ja bloß intellektuell der Form entspricht; sondern wenn ste in ihrer Form irgendwie Symbol stnd. Idee der Form und Material gehen innerlich Hand in Hand. Denn auch im Material selbst klingt ein Jdeevhaftes, ein Jenseiti­ ges, durch oder vielmehr, es liegt bestimmt und lebendig in ihm. Auch das Material ist Symbol. So muß dessen Wahl ebenso aus dem Tiefsten und intuitiv geschehen, wenn anders nicht Kitsch entstehen soll. Die Gestalt, in Bronze gegossen, gibt für unser Emp­ finden unmittelbar die aus dem Leben genommene festgehaltene Gestalt oder ihre Züge wieder. Bronze ist die erstarrte Flüssigkeit. Marmor aber als starrer Stein muß uns statuenhaftes, unver­ ändert ideenhaftes Leben geben. Meißelt man Gestalten in den Stein hinein, nicht heraus, dann gibt man das zauberische Ge­ heimnis des Daseins in „Schrift" wieder, aber in einem tieferen Sinn als das, was wir heute intellektuell mit einer Inschrift

vollen. Das Holz, als das lebendig gewachsene Material, dessen Wesen vnnnterbrochenes Werden ist, gibt auch dieses Werden wieder. Gestalten in Holz blicken wir erwartungsvoll an, weil sie «ns im nächsten Augenblick noch etwas sagen und ihre Mienen verändern werden, weil sie «ns erschrecken werden durch ihre 95e# tvegung oder durch ein Lispeln, oder weil sie lachen und laufen werden, oder sich neigend uns segnen wollen. Und einholzgeschnitzter Erlöser stirbt noch in dieser Stunde. Man sieht, was es mit der Nachahmung der Natur in der Kunst auf sich hat. Man sieht aber damit auch an der echten, unmittelbar aus reinem innersten Gefühl und Schauen hervor­ tretenden Kunst, daß sie gar nicht die Natur als Körper schlechthin meint und daß darum die Natur auch nicht bloßer Körper sein kann; sonst wäre sie mit der körperlichen Formwiedergabe er­ schöpft. Der dem Körperhaften allein angemessene Intellekt und die so gegebene Darstellung der Natur kann also nicht Führer zu wahrer Naturerkenntnis sein; sonst müßte eine technisch und mechanistisch hergebrachte Wiedergabe der Naturerscheinungen sie erschöpfend uns nahegebracht haben. Es gibt ein technisch-mecha­ nisches Können; und es gibt ein seelenvolles inneres Können — «nd das sowohl in Kunst wie in Wissenschaft! Wir kommen so, von der Erkenntnis des Wesens der Kunst mit einer neuen größeren Forderung an die Wissenschaft selbst heran, eine Forderung, die sich aufs deutlichste daraus ergibt, daß wir gerade an der Wiedergabe der Natur durch die Kunst sehen, was die Wissenschaft bisher gab und noch nicht geben kann. Sie gebe das Urbild, die innere lebendige Idee wieder. Bewies uns gerade das Gegenüberhalten eines anatomischen Modells und eines vielleicht denselben Gegenstand darstellenden Kunstwerkes — ich erinnere an das Wesen des Stillebens — daß Natur und Formen der Natur nicht im Körperhaften erschöpft sind, so ist auch zu ihrer wahrhaftigen Darstellung und Vermittelung außer bloßem Abklatsch noch etwas nötig, nämlich lebendige Jnnenschau. Darum eben zeigt uns das wahre Kunstwerk, was uns die Wissen­ schaft nicht weniger zu zeigen hätte: daß das Wesen der Natur in ihrer äußeren Form doch innere Idee, seelenhaste Form ist.

Das gilt ebenso für den Kristall, den Stein und den Weltkörper. Die find nicht weniger lebendiges Symbol, als es die orga, nische Form und das Kunstwerk ist. Der Geist der Kunst wird so von selbst, ohne es ausdrücklich zu suchen, Lehrmeister und Weg­ weiser für eine neue vertiefte Wissenschaft. Hier vergeht die für eine einseitig-realistische Wirklichkeitsauffassung bisher angemessen scheinende und dennoch nicht halt­ bare Grenzziehung zwischen beiden Sphären menschlicher Geistes­ betätigung, zwischen künstlerisch-intuitivem und wissenschaftlich­ rationalem Erkenntnisgebiet. Auch die Wissenschaft entwertet das Dasein und wird für die wahre Bildung des Geschlechts irre­ führend, wenn sie grundsätzlich die äußere Darstellung, also die technische „Nachahmung" der Dinge, des Daseins, der Geschichte, der Natur, der Kunst für das Wesentliche ausgibt und dieses „Totc" nun dem Menschen für Dasein hinreicht. Darum ist ja auch ohne Sinndeutung etwa alle beschreibende Naturdarstellung, wenn sie als solche Selbstzweck wird, leere ästhetische Lust. Auch der Naturforscher, der Geschichtsforscher, der Sprachenforscher, sie alle müssen den Sinn des „Künstlers" haben, wenn wir unter Künstler den Menschen mit Jnnenschau und Jnnenerfahrung verstehen und noch ganz absehen von der tieferen Mission, die in alledem liegt. Auch ihm muß stets und überall die materielle Gestaltung der Form erscheinen als ein Vergängliches, das Gleichnis ist. Und das ist ein mythisches Wissen und Erleben.

Die Kunst sucht, sofern sie echte tiefe Kunst ist, das Symbolische der Form, das Symbolische des Daseins, selbst wo sie Indivi­ duelles darstellt. Denn auch das Individuum ist in einem höheren Sinn Symbol, nicht nur in der Kunst, sondern wie wir sahen, in der Natur. Die Kunst läßt, wo ihr das gelingt, das wahre Wesen, die Idee, das platonische Urbild schauen oder ahnen. Wäre die Wissenschaft in der Lage, es ihr nachzutun — und das kann nur der letzte Sinn der Wissenschaft sein — so wäre sie zur letzten „Ursache" jeder Form gelangt, zu ihrer letzten Frage, auf die es nur eine lebendige Antwort gibt.

2. Der Tiermythus. Um die Erkenntnis der lebendigen Form hat die Menschheit von jeher schwer gerungen; ja dieses Problem hat zuweilen im Mittelpunkt alles religiösen und philosophischen Interesses ge­ standen. Der Mensch kämpft darum wie um die Erkenntnis seiner selbst. Denn die Frage nach dem Wesen des Menschen ist zugleich die Frage nach dem Wesen der organischen Form, des Tieres wie der Pflanze. Wir fühlen, daß zwischen beide« ein inniger jenseitiger und nicht nur ein äußerlich naturgeschichtlicher Zusam­ menhang besteht, daß aber zugleich auch ein ungeheures trennen­ des, ja schmerzvolles Geheimnis zwischen Menschen- und Tierseele aufgerichtet ist. Dieser Gegensatz wie diese Polarität ist es, was den Mythus, die Sage, das Märchen, die Tierfabel und Tiersymbolik, die Biologie und die Abstammungslehre hervorgerufen hat.

Alle diese Geistesspiegelungen entspringen und dienen dem ungelösten Rätsel sowohl des Zusammenhanges wie der Trenvung von Mensch und Tier, von Mensch und untermensch­ lichem lebenden Wesen. So steht die Frage nach jener geheimnis­ schweren Verflechtung im Mittelpunkt aller Naturforschung, aller Natursage, alles Naturzaubers, soweit wir die Geistesgeschichte zurückverfolgen mögen, und sie steht auch im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Forschung unseres Zeitalters. Das letzte Jahr­ hundert bis heute hat ja einen geradezu beispiellosen geistigen Kampf erlebt um die Frage nach dem naturhistorischen Zusammen­ hang des Tierreichs und des Menschengeschlechts. Und bis zur Stunde hat angestrengteste, mit allen Mitteln des Verstandes be triebene Forscherarbeit kein eindeutiges Ergebnis darin zu ge­ winnen vermocht. Fremder als je stehen wir sogar dem äußeren naturgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Mensch und Tier gegenüber, trotz aller Entdeckungen und Beschreibungen. Ja es scheint, als ob in älteren, naturhafteren Zeiten diese Frage der inneren und äußeren Beziehung zwischen Mensch und Tier, wenn auch gleich brennend in allen Epochen, doch in ihrem Sinn tiefer, in ihrer Beantwortung klarer erfaßt gewesen sei, als in unseren Tagen.

156

Es ist aber eine nicht wegzvleugnende geistesgeschichtliche Tat, fache, daß der Mensch nicht nur in früheren Zeiten, sondern bis zum heutigen Tag die Eigenschaften und Regungen seiner Seele in Tiergestalte» oder in tierhasten Phantaste, und Zerrbildern ausjudrücken strebe. Die Drachen und Lindwürmer spielen in den Sagen die größte Rolle, der Ibis- vnd Elefantenkult stnd Äuße­ rungen religiöser Ideen bei hochentwickelten Völkern; das Symbol des Kampfes zwischen St. Georg und dem Drachen geht mit ganzem Ernst und voller Weihe bis in unseren Gottesdienst hinein, und die Sphinx ist nicht nur für die Alten ein mythisch­ religiöses Symbol gewesen, sondern auch für uns in ihrer wesen­ haften Bedeutung noch ein ebenso großes Rätsel. In unserem Alltag stnd der Mut des Löwen, die Dummheit des Esels, die Listigkeit der Schlange, die Sanftmut der Taube letzte, heute schon trivial gewordene Allegoristerungen von seelischen Eigenschaften, die der Mensch von stch aus ehemals auf bestimmte Tiere übertrug, die ihm wohl kaum bewußt, sondern gefühls- und instinttmäßig Anlaß gegeben haben, ihnen gerade diese Eigen­ schaften als für ihr Wesen bestimmend zvzuschreiben. Aber der­ artige Eigenschaftsübertragungen und -spiegelungen brauchen, wie es scheint, nicht einmal empirisch richtig zu sein, so daß nun der Löwe wirklich im Sinn eines menschlichen Kämpfers mutig, die Schlange wirklich im Sinn eines menschlichen Betrügers listig wäre. Es scheint vielmehr zu genügen, daß im Gehaben oder in der Physiognomie des tierischen Widerspiels etwas liegt und Ausdruck findet, was unserem menschlichen Gebaren oder Mienen­ spiel analog ist, wenn wir uns in jenen mentalen Zuständen be­ finden, die wir nur analogiehaft auf jene Tiere übertragen und sie somit aus ihnen herauslesen, um ihnen nun die gemeinten und bei uns selbst erlebten seelischen Eigenschaften beizulegen und sie so zum Symbol oder zum allegorischen Spiegelbild unseres Selbst zu machen. Ich fasse in diese» Worten mit Absicht die Frage so äußerlich wie möglich, um nicht von Anfang an zuviel zu behaupten, und versuche, an der Oberfläche zu bleiben, um nach deren Durchfahren erst in die tieferen Schichtungen jener Beziehung zwischen Mensch

iS?

und Tierbild hinabzugehen. So sei darauf hingewiesen, daß die Allegorisierungen oft mehr zufällig und gewiß nicht aus irgend­ einem tieferen Erleben heraus geschaffen wurden. Es ist bei­ spielsweise eine von jedem nichtsentimentalen Dogelbeobachter leicht feststellbare Tatsache, daß die Taube, so wenig wie alle anderen Vögel, große und kleine, sanft, gutmütig und harmlos, sondern daß sie auch mit ihresgleichen geerköpfig, unduldsam, neidisch ist, soweit sie in ihren Lebensäußerungen und individu­ ellen Betätigungen ohne die überlagernden, zu gemeinsamem Handeln zwingenden Gattungsinstinkte sich selbst überlassen ist. Es gilt daher, zunächst einmal für die einfachsten Fälle der allegorischen Vergleiche zwischen Menschen- und Tierseele festzu­ halten, daß nicht unbedingt ein objektiv psychischer oder intellek­ tueller Tatsachenbestand, d. h. nicht die Gleichheit von seelischen oder mentalen Regungen und Zuständen Anlaß zur Spiegelung der Menschenseele im Tier oder in tierischen Zerrgestaltcn entscheidend gewesen sein wird, sondern daß es ganz andere Momente aufzu­ decken gilt, will man in die jetzt äußerlich gewordene, ehemals zweifellos sehr tiefgründige Beziehung eindringen. Besonders deutlich wird dies an der Gestalt des Fuchses, der schon in uralten Sagen und weniger alten Fabeln als schlau und gerissen gilt, während man zugleich den rothaarigen Menschen eben die Eigenschaft zugeschrieben hat. Es stammt dies wohl aus der Zeit, als unsere Rassen noch rein waren und damit die Rothaarigkeit ein Zeichen zu Unrecht geschehener Vermischung und damit falscher seelischer Eigenschaften innerhalb des unvermischten Volksganzen war. In dem angezogenen Beispiel liefert also die Rothaarigkeit das äußere Tertium comparationis zwischen Fuchs und Mensch; die äußere Erscheinung ist also erfahrungsgemäß das Anzeichen für unerfreuliche Schlauheit oder Verschmitztheit beider. Daraus geht immerhin hervor, daß die sagen- und fabelbildende Volks­ seele irgendeine bewußte oder unbewußte Erfahrung haben mußte, von der aus sie die Haarfarbe als Symptom für seelische und Charaktereigenschaften jeweils nehmen konnte. Wir treffen somit auch bei der äußerlichsten Auffassung der Frage doch wieder auf die Anschauung, daß die Naturerscheinung Symbol für einen inneren

158

Zustand ist; und wir sehen ferner, daß die Gemeinsamkeit des Symptoms auch als Gemeinsamkeit des Innenlebens aufgefaßt wird. Können wir in jenen einfachen Dergleichen, wie wir ste heute, mehr in Redensarten als mit irgendeinem Natur- oder Seelen­ erlebnis verbunden, anwenden, ein vollkommenes Verflachen des uralten Mythus von Mensch und Tier sehen, so ist demgegenüber die Tierfabel, wie ste uns das Spätmittelalter, aber auch Äsop in Griechenland und in anderer Form die ersten christlichen Jahrhunderte in dem merkwürdigen Tierbuch „Physiologus" schon bescherten, eine wesentlich vertieftere Form, in der die Beziehung zwischen Mensch und Tierseele erscheint. Sie wurzelt in echten Sagen. Alles echt Sagenhafte, wie alles Mythische, das am An­ fang der Kulturen und Völker, wie am Anfang der Menschheit selber steht, endet erfahrungsgemäß zuletzt in Fabeln und Alle­ gorien oder Legenden und wird damit aus einem religiösen und naturhaften Erleben zu einem ästhetischen Motiv. Damit ist aber gesagt, daß nicht nur unsere heutigen, uns überlieferten MenschTierbeziehungen verflacht sind, sondern daß auch die Tierfabel unserer Kulturen flch schon weit entfernt hat vom seelischen Ur­ sprungspunkt, wo die Verwandtschaft von Mensch und Tier naturhaft in ihrer ganzen magischen und mythischen Tiefe und Ver­ bundenheit geschaut war; daß stch uns selbst in den ältesten Fabeln noch nicht die Gewalt des geheimen Zusammenhanges zwischen beiden Lebenskreisen auftut, weil wir auch damit zunächst nur spätzeitliche Überbleibsel in der Hand halten und noch tiefer in die Vergangenheit werden hinabsteigen müssen. Tun wir dies, so ver­ schwinden hinter uns mit den einzelnen Kulturen auch diese Er­ scheinungen und ihre religiös-magischen Lebensgeister, und wir gelangen, tastend und in Dunkel eingehüllt, an die Urwelt der Sagen und Mythen und echten Märchen, und mit ihnen an Zeitepochen, deren Tore mit schweren Riegeln verschlossen sind und kaum durch einen Spalt einen unbestimmten Durchblick gestatten, wo wir aber einen Lebensraum erspähen, für dessen Aufhellung wohl erst kommende Zeiten reif sein werden. J.nes innere Gemeinsame zwischen Menschenseele und Tier 159

oder Tiergestalt tritt uns nun beim Naturmenschen und beim Unzivllifierten und im gewöhnlichen Sinn Kulturlosen schon in ernstester, das Dasein wie den religiösen Kult entscheidend in Anspruch nehmender Gestalt entgegen. Hier spielt das Tier und die tierisch-menschliche Zerrgestalt eine solche Rolle, daß sich alle Fabelei unserer Jahrhundette nicht damit messen kann. Eng verbunden mit dem, was wir hochmütig Aberglauben nennen, «ng verbunden mit Zauberei, Beschwörung und OpferbrLuchen, ist hier eine so dämonisch-schreckhafte Verbundenheit des Außenund Innenlebens mit dem Tierhasten da, daß wir ganz andere Wege zu ihrem Verstehen werden einschlagen müssen, als es jene oberflächlichen Überlegungen sind, mit denen wir den Fabeln «nd Allegorien unserer Dichtungswelt allenfalls noch gerecht werden könnten. Am tiefsten ist die Beziehung des Menschen zum Tier im Märchen, soweit es Naturmythus ist, gefaßt, die so gar nichts Allegoriehaftes an sich tragen, wie größtenteils die späte Fabel, sondern die von einer unmittelbaren Wahrhaftigkeit sind und uns an die Seele greifen, und von denen wir, unserem empirischen Verstand zum Trotz, innerlich ganz bestimmt fühlen und wissen, wie „wahr" sie sind. Die Tierverbundenheit des Menschen liegt offen da, und zwar gerade in ihrer dämonischen Seite. Da ist der Königssohn, der in einen Bären verwandelt wird oder in die Froschgestalt, bis ihn die Liebe erlöst. Der Fürst wird wochenweise in einen Wal verwandelt. Der Fisch antwortet dem Fischer am Meeresstrand, der ihn gefangen hat und doch leben ließ und ihn danach ost um Rat fragen darf. Welche lebendig bedeutsame innere Verbindung! Innigste Verknüpfung, stete Möglichkeit des gegenseitigen Verstehens und inneren Begegnens besteht. Ebenso mit der pflanzenhaften Natur. Da rankt sich der Rosen­ stock mit unendlichem Dickicht um das verwunschene Schloß, in dem die Braut schläft; Gärten werden geschaffen, Tiere sprechen darin, alles wird gebannt und wieder zu neuem Leben erweckt. Aber in aller Mannigfaltigkeit der Bilder und der Verwandlungen tritt stets das Eine unverkennbar und unveränderlich hervor: immer kann der Mensch in das Tier oder die Pflanze verwandelt 160

werden, immer versteht auch der Mensch die Sprache des Tieres und dieses ihn; nie aber gelingt es dem Tier, Mensch zu werden. Die Wandlung geht immer vom Mensch zum Tier. Dieses hat nicht die Eatelechie des Menschen in sich, wohl aber der Mensch die des Tieres, und so gelingt dem Tier auch nicht die mensch, liche Gestalt. Wohl aber wird umgekehrt der Mensch durch bösen Zauber leicht zum Tier, lebt dem Naturdämonischen. Doch nie wird er es im Wesen selbst, wirklich und endgültig; es ist immer nur Maske, es wird ihm nur die Gestalt davon über, getan. Der Zauber kann immer wieder abgetan, der Bann gebro, chen «erden, weil der Mensch im Innersten Mensch ist und bleibt. Cs gibt Sagen, in denen Menschen wirklich zu Tieren «erden und dies bleiben. Da ist es aber gerade nicht eine „Verzauberung", wie stets im Märchen, sondern eine naturhast vor sich gehende Wandlung, aus dem Menschen selbst kommend, nicht bloß ihm durch Bannung übergeworfen. Und davon gibt es keine Erlösung. Geht man dem Motiv nach, das im ersten Fall dem Märchen von der Verzauberung zugrundeliegt, im anderen Fall der natur, historischen Sage von der Verwandlung und wirklichen Umbildung in ein Tier, so ist es dort entweder ein unverschuldeter Fehltritt oder eine äußere Übertretung eines Gebotes; hier dagegen ein tief sittlicher Fehler, eine die Seele des Menschenwesens im tiefsten Mark treffende Sünde, welche den endgültigen Fall in das natur, hafte Tierreich unwiderbringlich bewirtt. So im Mythus von der Paradiesaustreibung oder in alten Sagen, welche die sexuelle natur, hafte Vereinigung des Menschen mit dem Tier andeuten, durch die der Mensch oder dessen Nachkommen zu Tieren werden. Cs ist also wiederum tiefes Wissen um die Frage von Schuld und Er, lösung, welche nicht nur den aus «nerkenntlicher Ferne zu uns drin, genden Mythus und das Märchen beschäftigt, sondern was auch in sehr naturgeschichtlich anmutenden Sagen lebt und uns die Frage nahelegt, ob da nicht eine „Zoologie vor uns steht, die mancherlei von einer „Entwicklungsgeschichte" wußte, die «ns verhüllt ist. Denn nicht nur beim „Wilden", sondern gerade bei Kultur, Völkern ersten Ranges, etwa den Babyloniern, Persern, Ägyptern, OacquL, Leben als Symbol.

II

i6i

Azteken und Chinesen stehen und standen jene für uns schon rätsel, haft gewordenen seelisch-religiösen Mensch-Tierbeziehungen auf einer so ausgeprägten und bestimmt umrissenen Höhe der Ge­ staltung, daß sie auch für die rationalistische und diesen allertiefsten geschichtlichen Fragen gegenüber so völlig verständnislos gewordene moderne Wissenschaft angefangen haben, ein höchst ervsteö Problem zu werden. Mindestens billigt man ihnen jetzt den Wert symbolischer Darstellungen und verhüllter priesterlicher Weis­ heiten und religiöser Daseinsinhalte zu, und kann sie um so weniger als blinden Aberglauben abtun, als man doch daneben schon eine Profankultur erblickt, deren technische wie wissenschaft­ liche Leistungen sogar dem überheblichen Wesen des modernen Westens Respekt abnötigen. Hier stehen wir bereits vor einem Geheimnis des Denkens und vielleicht wirklichen Wissens, dessen Kern und Wesen unserem verständlichen Durchfahren zunächst völlig entrückt bleibt oder vielleicht bloß fremd geworden ist, und am Ende auf irgendeinem anderen Weg wieder erweckt oder wenigstens geahnt und umschrieben werden könnte. Wir wissen heute noch nichts Sicheres über den Kern jener Tier­ symbolik, die sich bei den unkultivierten Völkern in ihren tierischen Götzenbildern, bei den Hochkultivierten in ihrem Ibis- und Drachenkult, in ihren Sphinxen und Menschengestalten mit Tier­ köpfen, im Dämonenzusiand des germanischen Werwolfes u. dgl. geäußert haben. Das aber wissen oder ahnen wir schon, daß sie einen geheimen Lebensinhalt und eine metaphysische Realität hatten und teilweise vielleicht noch in Resten haben, für die das Wort „Aberglaube" nur eine Unfähigkeitserklärung unserer eige­ nen Wissenschaft bedeutet. Mythen und Sagen über Naturvorgänge sind freilich Spiege­ lungen des Menschengeistes. Doch das Merkwürdige ist, daß etwa in den Mythen und Sagen urweltlicher Geschöpfe uns auch vielfach Gestalten entgegentreten, wie sie die Dorweltnatur uns bietet. Und mit dieser Tatsache taucht zugleich ein großes, in seiner ganzen Tiefe vielleicht den Kern der menschlichen Daseinsfrage treffendes Problem der Urgeschichte auf. Sind jene Ideen und Bilder der Drachen und Lindwürmer, der Tierleiber mit Menschenköpfen,

16a

der Menschenleiber mit Tiergliedern alle entstanden ans einer schöpferischen Phantafie? Oder sind es Spiegelungen seelischer Zusammenhänge des Menschen mit der Natur? Oder nur Ab, bilder und Derjerrungen eines unverstandenen Naturerlebnisses? Oder sind es nur dichterische und künstlerische Allegorien? Um das letztere nur jv sein, müßten sie für die Menschen, die sie schufen und besaßen, nur bloßer Schmuck gewesen sein, bloßes »Kunstgewerbe". Aber wir wissen, daß sie Zauberei und dämoni, schen Götzenkult bedeuten; daß sie die allerernsteste Angelegenheit des Lebens waren und mit ihm in unmittelbar lebendigem Zu, sammenhang standen;'daß sie mit dem Totenkult und der Seelen, frage eng verbunden waren; daß sie zu Blutopfern und Ekstase führten. Es muß ihnen also eine gewaltige Wirklichkeit inne, gewohnt haben oder sie müssen lebendig wirksame Symbole für eine solche gewesen sein. Mag es äußerlich „Geschichte der Kunst" fein, der religiösen Kunst, was sie uns erzählen, so ist es doch eben zugleich Mythus, d. i. innere Lebeaswirklichkeit, deren Wesen in der Natur wie im Menschengeist gleicherweise vorhanden ist. Es war oder ist Wirklichkeit, die Anlaß zum mythischen Gestalten gab. ES muß also „Bedeutendes" gewesen sein. Wir können um so weniger über die alten Tierkulte und Tier, gestalten als leere oder hypnotisch gepeitschte Seelenäußerungen oder Sinnesverwirrungen spotten, als wir ja in unserem eigenen Kulturmittelalter ganz dasselbe wieder erscheinen sehen. In der romantisch,gotischen Zeit wimmeln die Kirchen und Dome, die hei, ligen Lehr, und Legendenbücher gerade von jenen tierischen und tierisch,menschlichen Zerrgestalten. Die Kirchen und Dome, die frommen Bücher und Dichtungen sind aber doch gerade das, was jene Menschen am bittersten ernst genommen haben. Der Bau eines Domes war im Frühmittelalter und auch in der noch uaverwelkten gotischen Zeit wahrhaftig alles eher als ein Bau, unternehmen zur Verschönerung der Stadt; er war innerste Angelegenheit des von seinem Verhältnis zu Zeit und Ewigkeit aufs tiefste ergriffenen, vom unerlösten Dasein der Seele bis ins Mark hinein erschütterten Menschen. Man braucht nur daran zu denken, in welchem inneren Zustand das Jahr 1000 erwartet «•

163

wurde. Damals schlug sich der germanische Mensch mit den Teufeln und Dämonen in der Natur wie in seiner Brust täglich und stünd, lich herum; damals waren in christlicher überkleidung noch die

altgermanischen Sagen und Naturgesichte höchst lebendig, welche das «llde Heer durch die Lüste eUen und den treuen Eckart darunter wachen sahen. Was an den Dompfellern und Kapitälen an Tier, spuk in Stein gemeißelt wurde, war Widerspiel wirklichen natur, sichtigen und religiösen Erlebens, dessen letzter Ausklang Luthers Tintenfaßwurf nach dem Teufel und dessen geistig,seelische über, Windung sein Besinnen auf das Evangelium war. Auch wenn im christlichen Dom die Apostel mit Tierköpfen' erscheinen können, so ist das nicht leere Phantasie gewesen oder künstlerisches Formen, spiel, sondern furchtbarste Bindung an das Naturdämonische mit seiner ganzen schrecklichen WirNichkeit und Wirksamkeit. Wir machen uns heute wohl kaum eine Vorstellung davon, was auch in unserem Mittelalter da wirklich lebte und vorging. Die „Heid, ntsche" Verweltlichung einer Barockkirche, wie etwa der des baye, rischen Klosters Weltenburg, wo oben aus der Himmelsrampe schließlich noch der lachende Bourgeois herunterschavt, ist dem, gegenüber bloß kindlich lustig und liegt innerlich in einer ganz, ganz anderen Sphäre, vielleicht in der der gewollten Maske. Es wäre eine Aufgabe für sich, auf neuer Grundlage zu verglei, chen, in welcher Weise die Menschen die Frage nach dem Tier gestellt und beantwortet haben, mit welchen Mitteln sie ihr beizukommen suchten, soweit es überhaupt denkbar ist, in den Geist vergangener Zeiten eiazudringen. Das aber wissen wir bestimmt: nie hat dieses Grundproblem menschlichen Bangens und Fragens etwa nur den Charakter eines akademischen Themas gehabt; immer und immer wieder war es bis ins Mark religiös, griff es bedeutsam ins Leben ein und wuchs aus ihm heraus. Ja an der Art, wie es gestellt, wie es erfühlt, wie es behandelt wurde, spiegelt sich geradezu der Geist der Zeiten selber; auch der unseren. Immer war die Frage religiös gebunden, immer erwuchs sie aus der nach Er, lösung ringenden Menschenseele. Daran mögen wir erkennen, daß auch ihre Beantwortung religiösen Sinn haben wird. Wer etwa meinen sollte, der Kampf um die Abstammung des Menschen

164

vom Tier in unserer eben verflossenen wissenschaftlichen Epoche sei ein Kampf wissenschaftlicher Meinungen schlechthin gewesen, der weiß nichts von jener tiefen Erschütterung unseres religiösen und kulturellen Lebens, nichts von der Glut des Suchens und Wollens, des Fragens und Bejahens und Verneinens, wovon dieser Kampf begleitet, wovon er veranlaßt und wofür er seelisch-geistiger Ausdruck war. Menschenseele und Tierseele in ihrer Verknüpfung oder in ihrem ausschließenden Gegensatz — das war immer religiöser Mythus -unt) ist es heute noch, wo wir ihn Natur­ wissenschaft nennen. Als Mythus allein noch die Form des Denkens war, «ar Tiermythus und Tierkult die Darstellung dessen, was der Mensch von seinem liefen Zusammenhang mit dem Tier in ihm und außer ihm wußte. Wo der Mythus heute noch lebt oder im religiösen Kult seine Formen noch weitergegeben «erden, ist das Tier Totem. Wo der Mensch ju einer geistigen Religion aufstieg, «ar seine Stellung jum Tier in den Glaubens- und Erkenntnis­ grund mit eingeschlossen. Aber auch wo Wissenschaft und Philo­ sophie im jonischen oder späteuropäischen Sinn erblühten, ist das innere und äußere Verhältnis von Mensch zu Tier, von Tier zu Mensch stets Gegenstand des Bemühens gewesen, und Wissen, schäft «ar in keinem Zeitalter etwas anderes als Teil der gesamten Religionssymbolik. Im weitesten Sinn aber ist Wissenschaft daS Bemühen um Aufklärung der Beziehung des Menschen zu den Naturgewalten, des Menschen zu den Sternen, zum Tier und der Pflanze. Sie ist stets oder soll sein ein Mittel zum Bannen des der innersten Menschenseele entgegengesetzten Dämonischen der Natur, ein Weg zur Befreiung aus der „Weltangst". Und eben das ist unsere Naturwissenschaft. Die Att, wie wir dieseDämonische durch Aussprechen seines Wesens herbeiziehen oder bannen, ist wieder eine bestimmte Att der Zauberei, sei es nun die Anwendung empittsch gefesselter technischer Kräfte oder durch eine andere Att der Cmpitte ermöglichte Entdeckungen und kulti, sches Herbeirufen von Göttern, also Beschwörungszauber, oder zu, letzt philosophische und naturwissenschaftliche Ursachenforschung. Auch wir verhütten in einem Mythus, sofern wir nie etwa-

165

anderes zu erkennen und auszusprechen vermögen, als was wir in unserem Wesen erleben und spiegeln. Darum ist aller religiöse Kult und alle Wissenschaft Symbolik. Auch das Tier ist, wenn wir etwas von ihm sagen oder seine Beziehung zu uns feststellen, stets symbolisch erlebt, sei es in Fabeln oder Märchen, in Götzen, bildern und Skulpturen oder in Kulten und Abstammung-, lehren. Das Tier erscheint uns immer als die Spiegelung unseres Wesens. Die Pflanze und das Mineral ebenso, jedoch diese nur für das Vegetative oder Statische unseres Organismus; das Tier aber für das bewußt oder unbewußt Seelische. Der Kosmos aber umschließt alles, durchdringt alles und ist die lebendige Eia, heit von allem. Daher der Mensch stch auch im Kosmos gespiegelt findet, wie er ihn in sich spiegelt und erkennt: der Mikrokosmos im Makrokosmos. Das All wird im Menschen seiner bewußt und die Teile und Einzelerscheinungen des Alls ebenso. Darauf gründet das stets und nur Mythische, das stets und nur Religiöse aller Naturerkenntnis. Das wäre die innere Begründung echter Bio, logie, echter Lebenskunde und echten Wissens um den Kosmos. Es ist auch die Begründung wahrer mythischer Geschichte. Das ganze wissenschaftliche Forschen und Denken ist daher zuletzt Seelen, künde in einem ganz umfassenden, nichts mehr ausschließenden Sinn. Ein tieferes Verständnis für das Verhältnis von Mensch und Natur und so auch ein Verständnis für das, was von je die Mythen und Sagen, die Fabeln und Kulte und Zaubereien und Naturwissenschaften suchten und zum Ausdruck brachten, ist darum dort zu finden, wo wir die innere Beziehung des Menschen zum Naturdasein, insbesondere zum Tier in allen den verschiedenen Ausdrucksformen symbolisch erfassen und verstehen lernen. Dazu gehört als naturhistorische Grundlage die Überzeugung, daß Tier und Mensch als Naturerscheinung ein zusammenhängendes Ganzes find. In welcher Weise fie dies sind, wird zu begründen sein. ES gehört aber weiterhin dazu das Vermögen, in den eigenen Tiefen des Menschseins jenen inneren Zusammenhang zu er, schauen, ohne den es kein wirklich lebendiges, kein brauchbares Wissen um die Natur gibt. Wer sich vor eiuer erlebten Metä,

Physik scheut und sie im Leeren erstickt, wird ebenso, wie gegenüber allen Lebensfragen, auch in den naturhistorischev und mythischen ein Bettler bleiben und nur ein armseliges Mahl sich und andere» bereiten.

z. Der Mensch als Urform. In meinem früheren Buch „Urwelt, Sage und Menschheit* versuchte ich darzulegen, daß, entgegen der bisherigen Abstam, mungslehre, der Mensch nicht ein letzter äußerster Zweig des Stamm, baumes sein könne. Im wesentlichen deshalb nicht, «eil es an flch eia erkenntnistheoretischer Widersinn ist, etwas Höheres aus einem Niederen abzuleiten, wenn eben nicht das Höhere potentiell schon in dem Niederen enthalten ist, so daß die „primitive" Form nur Verhüllung und noch nicht allseitig ausgeprägter Ausdruck des Höheren ist. Wohl aber kann die höhere Form das Niedere ent# halten, zu ihm herabsteigen, es aus sich entlassen oder sich in solches mehrfach zerlegen. Der zweite Grund «ar der, daß tatsächlich kein bisher bekannt gewordener lebender oder fossiler Typ — ich tebe nicht von hypo, thetischen Formen — so geartet wäre, daß er in Hinsicht auf de» Menschen der naturgeschichtliche Stammvater sein könnte. Den« entweder sind die dem Menschen anatomisch nahestehenden Formen, wie die höchsten Arten der Simiiden und Hominiden, weit mehr spezialisiert, einseitiger entwickelt als die Menschenform selbst; oder die übrigen Tierformen stehen von Anfang an typen, haft schon auf einer tieferen Stufe der idealen Entwicklung und sind so sehr seitwärts vom Weg zum Menschen abgegangen, daß man sie nicht als genetische Vorläufer desselben wird ansprechen «ollen. Daß sich die alte Abstammungslehre beide Tatsachen nicht bizur letzten Entscheidung klargemacht hat, verhinderte sie, zu er, kennen, daß sie trotz der naturhistorischen Entwicklungslehre de» Menschen zum idealen, wie zum evolutionären Mittelpunkt ihres Stammbaumes machte, obwohl sie ihn doch gerade durch ihre Lehre aus der zentralen Stellung verdrängt und als eine letzte, mehr oder minder zufällige Verästelung des Tierreiches erwiesen zu 167

habe» glaubte, dieses selbst aber von „primitiven Formen" aus­ gehen ließ. Es «ar im Gründe wieder der Streit um die „Utfotm", sei es die Urform des ganjea Lebensreiches, sei es die Urform des Menschen. Spricht man von einer solchen, so denkt der Naturforscher an eine erste irdische Lebensform, unentwickelt und primitiv gestaltet. Aber waS heißt unentwickelt, primitiv? Woher nehmen wir die Berechtigung zu solchen Ausdrücken und was können wir damit meinen? Primitiv sein, heißt: alles Spätere nur der Anlage und Eatwicklungsmöglichkeit nach in sich enthalte«. Wenn das, was primitiv ist, nichts von Entwicklungsmöglichkeit enthielte, so wäre es nicht primitiv, und auch nicht unentwickelt, sondern tot, d. h. ohne Lebensbedeutung. Dies gehört also notwendig daju; vom Mineral können wir nicht sagen, daß es primitiv oder entwickelt sei. Es ist auch irreführend, wenn man primitiv mit unbestimmt oder ungeordnet etwa gleichsetzt. Nur insofern kann im Naturhistori­ schen primitiv auch unbestimmt heißen, als die fest bestimmten Anlagen und Potenzen in ihrer konkreten späteren Entwicklung von erst noch eintretenden unbekannten Bedingungen abhängen. Aber seiner Anlage nach ist ein primitives Wesen niemals un, bestimmt, sondern sehr bestimmt; denn es liegt schon das ganze Spätere notwendig in ihm. Oder anders ausgedrückt: Das Primitive ist, in der Denkform von Raum, Zeit und Materie gesehen, die einzig mögliche Form des ersten Stch-Offenbarens der En, telechie. Den besten Vergleich haben wir in der individuellen Ent­ wicklung des Lebewesens. ES gibt verschiedene Gebiete, auf denen wir dem Begriff deS Primitiven begegnen. Zunächst im Ästhetischen, wo wir nach

der äußeren Gestaltung, wie fle unser Auge und unser Form, gefühl auffaßt, etwas entwickelt oder unentwickelt, primitiv oder fortgeschritten nennen. Die unserem Auge einfach erscheinende Form ist unS primitiv. So ist eS in der bildenden Kunst eine archaische oder romanische Reiterfigur, im Gegensatz zur Reiter, figur der Renaissance, oder Barockzeit. Man hat irrtümlich ge, meint, die Primitivität der archaischen oder romanischen Figuren beruhe auf einem technischen Nichtgestaltenkönnen der natur, r-8

wahren Gestalt; aber man ist von solcher Wertvng zvrückge,

kommen und weiß, daß in diesen Formen ein anderer Ausdrucks, «ille vorliegt, daß hier etwas anderes dargestellt werden will als eine im äußerlich vaturhasten Sinn formangeglichene Wiedergabe.

Es ist eine andere Innerlichkeit, die sich hier Ausdruck verschafft. Nicht anders ist es mit den sonstigen Knlturformen; und so ist es auch in der Natur. Die primitiven Formen bedeuten eine andere

Einstellung auf bas Leben von innen her, von feiten der Entelechie. Und Tatsache dabei ist, daß die primitiveren den vollendeteren

teitlich vorausgehen und daß wir das Primitivsein nur am Späteren, nicht aber im Absoluten messen können. Ohne deshalb über den inneren Sinn des Primitiv, und Dollendetseins mehr jv sagen, dürfen wir jedenfalls naturhistorisch und historisch fest, stellen, daß ein zeitlicher Ablauf und ein geordnet sich kundgebenber Zeitgeist mit im Spiele ist. Wir dürfen also sagen, daß Primitiv, sein das ist: in der Form ««spezialisiert und naiv,unmittelbar

sein, seine Entelechie ohne Umschweif, der Idee am unmittelbarsten angemessen zum Ausdruck bringen,

und doch alle Potenzen

zu einer späteren weitläufigen Entwicklung in sich tragen. Mer ganz unbedingt scheint das nicht richtig zu sein, wenn wir sehen, daß auf ein zeitlich Späteres vnd schon Entwickelteres ost wieder ein Primitives folgt. Wir kennen es aus dem Ent,

«tckluagSgang natürlicher Gattungen und Typen; wir kennen es auch aus der Kultur, und Kunstgeschichte. In der letzteren ist diesePrimitive, das zuletzt wiederkehrt, nicht mehr unbewußt, nicht mehr der unmittelbare Ausdruck eines inneren Lebensgefühls, sondern etwas Bewußtgewordenes. In der Natur aber unterscheidet es

sich vom Ursprünglich,Primitiven dadurch, daß es nichts mehr an Entwicklungspotenzen enthält, sondern sie so erschöpft hat, baß

nichts mehr Nachkommen kann, also die gestaltende Lebenskraft im Erlöschen ist. Daraus ergibt sich, daß die Primitivität der

Form eine doppelte sein kann: einmal die ursprüngliche, be, ginnende; sodann aber eine als Ergebnis einer Abwandlung und

voravsgegavgenen Differenzierung, auS der alle Potenzen hierzu abgelegt und schon verwirlltcht worden sind und sich auf eigener Dahn entfaltet haben.

Wir sehen nun an dem Menschen eine Menge primitiver Merkmale; seine Gestalt ist in vielem primitiv. Ist diese Primi, tivität die ursprüngliche, oder ist es die nach einem langen Ent, wicklungsweg leergewordene? Diese Frage erkenntnistheoretisch klarzustellen, daran dachte man in der deszendenztheoretischen Literatur bisher nicht, sondern gebrauchte den Ausdruck primitiv und entwickelt auch bei der Frage nach der Abstammung des Menschen in verschiedenem Sinn. Es sollte eben die Primitiv, form auch eine Neutralform sein, die nichts weiter in sich getra, gen hätte, keine «eitere „Bestimmung" gehabt haben sollte, als jene ganz unlebendige: ein Zufallsergebnis der Natur gewesen zu sein, das durch Millionen anderer nachfolgender Zufälligkeiten eqdlich auch einmal Mensch geworden wäre. Mit dieser metaphy, fischen und doch leeren, inhaltslosen Vorstellung, die einer De, -riffsverzerrung gleicht, geben wir uns nicht ab. Wir wollen aur zu entscheiden suchen, inwieweit der Mensch naturhistorisch primitiv ist, nach der einen oder anderen der oben gegebenen Erklärungen. Wenn die Höherentwicklung des Tierreiches darin bestand, daß fich die morphologischen Typen immer mehr dem Menschen annäherten, bis dieser in seiner reinsten Gestalt, eben der unseren, endlich hervortritt; und wenn keine der wirklich vorhanden ge, wesenen morphologischen Typen uns erlaubt, real stamme-, geschichtlich diesen Menschentypus aus ihnen abzuleiten, weil jede von ihnen entweder einseitiger differenziert erscheint oder über­ haupt schon früher vom idealen Stammbaum abgeirrt war und sozusagen auf dem Weg zum Menschen sich seitwärts in eine Sack, gast« verirrt hatte, so heißt das, stammbaummäßig,naturhistorisch ausgedrückt, nichts anderes als: Keine wirküche Protozoe, keine wirkliche Cölenterate, kein wirkliches Echinoderm, Mollusken, tier, Wurm, Krebs, Fisch, Amphib, Reptil, Säugetier der Plazental, »der.Eplazentalreihe war der reale Stammvater der Menschen, gestalt, sondern sie alle sind seitwärts gehende Zweige und Äste

des Gefamtstammbaumes, der selbst aber zu seinem Höchsten, pun Müschen führt. Der „Mnsch" ist somit gegenüber allen wirklich bekannten jetzigen und vorweltlichen Typen der zentrale i?o

„Stamm". Oder man kann sagen, ohne zunächst noch spezielle Abstammungsvorsiellungen damit ju verbinden: Alle bekannten, also nicht wesenlos konstruierten Tiertypen sind Ableger des zentralen Menschenstammes und AbbUder bestimmter Lebenspo, tenjen in ihm; oder: die Abstam, muag des Menschen vom Tier ist eine Umkehrung des wahren vaturhistorischen, wie des ideev, haften Sachverhaltes. Wenn man also mit der schul, mäßigen Entwicklungslehre im Prinzip an der stammesgeschicht, lichen Gemeinschaft des Menschen mit den wirklichen Tieren irgend, wie festhält — und das muß man unseres Erachtens wohl — so kann das beiderseitige Verhältnis nur so sein, daß das Tier in seiner Vielheit und Mannigfaltigkeit ytg.7. Schematische Darstellung der Sat, Wicklung des Tierreichs als Abspaltung den Menschenstamm auseinander, aus dem idealen Menschenstamm. Außer, des Steife* die naturhtstorlfchen Type» gelegt zeigt; daß also die stamm, halb verschiedener Zeitalter mit der dazu gehSrtzen Measchenform Mx M' etc. Oben der Jttzt, baumhafte Wurzel, daß die „Ur, weltMeasch mit seinen seitlichen Ableger» form" des Tierreiches der Mensch (Menschenaffe, Dtluvialmeasch). Die Ent, Wicklung innerhalb des Greises ist eine Jdea, als Idee ist, und daß alles, was lttät. (Originalfigur.) wir alsEntwicklung desTierreiches — vielleicht mit tieferer Einsicht, die uns noch nicht zu Gebote steht, auch des Pflanzenreiches — im Lauf der geologischen Epochen kennen und real als äußere Erscheinung vor uns sehen, der Aus, druck jenes Geschehens ist, aus dem zu irgendeiner Zeit die Men, schengestalt in der naturhasten Form, wie wir sie heute kennen, hervorging. Immer mehr des Tierhaften legte sich vom Gesamt, stammbaum des Menschen ab. Er faltete sich auseinander als organisches Reich. Oder besser gesagt: er vereinfachte und klärtz sich in bezug auf das schließlich Meuschenhafte einer Ratur, form.

Nicht aus irgendeiner realen Tierform ging der Mensch hervor; sondern die Potenz Mensch, die Entelechie Mensch als Höchstes vnd alles Enthaltende entließ aus stch immer mehr des Tierischen, das nun in den Zeitfolgev der Erd- und Lebensgeschichte als alle die einseitig abgezweigtea und spezialisierten Tiertypen des Ge­ samtstammbaumes — als echtes Symbol des Gesamtmenschseins — erscheint. So muß zuletzt auch das Affenhafte daraus sich abgetrennt haben und von der Bahn zur reineren Menschenform abgewichen sein. Der „Mensch" aber mag schon seit alten Zeiten in vielfach veränderter Gestalt als organische Form, seinen Typus immer wieder erneut darstellend, als Manifestation dieser fort­ schreitenden „Ent-wicklung" selbst erschienen sein. Man muß eben auch den physischen Menschen selbst als Ausdruck der natur­ historischen Allgemeinentwicklung mit hereinnehmen. Denn ebenso, wie es bei keinem Tiertypus eine Urform in idealer Gestalt in der physischen Natur selbst gibt, sondern nur angepaßte Spezial­ formen von mehr oder weniger «eit gediehener Spezialisation, so «ar natürlich auch der physische Mensch nie „Urform", sondern stets spezialisierte Form und dies wohl in mannigfaltiger Gestalt «ährend der Epochen seiner äußeren Entwicklung (Fig. 7). Je nachdem nun die verschiedenen Tiertypen morphologisch näher oder entfernter zum Mensche» stehen, je nachdem sie früher oder später in der Erdgeschichte austraten, sind sie auch früher oder später aus seinem Stamm, dem „Urstamm" entlassen worden; zuletzt wohl Formen wie der Gorilla und dann der Gszeitmevsch vnd der Avstralneger. Damit war der Mensch zu dem geworden, «aS wir heute als seine höchste Form vor uns sehen. Und diese Form zeigt morphologisch eine so auffallende Primitivität ihres all, gemein anatomischen Baues, daß man sie physisch am ehesten an allerälteste erdgeschichtliche Stadien des Landtieres «»schließen möchte, wenn man überhaupt an dem bisher geübten beszendenztheoretischen Stammbaumschema festhalten will. Es ist bet dieser Idee, daß das Tierreich den Menschen vnd seine Entwicklvng spiegele, vor allem festzvhalten, daß nicht die einfache Morphologie der Gattungen vnd Typen es ist, die uns etwa die ehemalige Form des Menschen unmittelbar als solche

vor Augen stellen würde; es ist nicht so, als ob der Mensch einmal in der Urjeit der Erde eine morphologische Summe etwa von Protozoe, von CSlenterate, von Mollusk, von Wurm, von Krebs, von Msch usw. gewesen sei, was nun im Lauf der erdgeschichtlicheu Zeit alles sich von ihm abgespalten hätte, so daß er schließlich übrig, geblieben wäre wie eine Art Verdünnung der „Erbmasse", die vielleicht von Anfang an darin gesteckt hätte. Das wäre eine reichlich oberflächliche Auffassung. Denn das Werden des Lebendi, gen als Manifestation des Urbildes ist kein quantitativer Prozeß, das Werden des Menschen keine Subtraktion, so wenig wie eine Addition, sondern eine Auswirkung von urblldhasten Potenzen, die trotz ihres Heravstretens in die naturhistorische Sichtbarkeit auch jetzt noch latent im Menschenwesen ruhen, obwohl sie sich um ihn her manifestiert haben. Es wurde oben (Kap. i) schon dargelegt, baß die morpholo, gische Körpergestalt der Arten, die sich in Individuen äußert, stets und in jedem Augenblick des körperlichen Daseins Anpassung an äußere Lebenserfordernisse ist, also etwas ganz anderes, als was in der lebendigen Formpotenz des Urbildes, der Urbllbekrast vorhanden ist. Hatte also in dieser „der Mensch" einmal irgend etwas Krebshastes oder Skorptonhaftes oder AmphibtenhasteS in sich, so war das nicht die morphologische Krebsgestalt, nicht die morphologische Skorpiongestalt, wie sie «ns in den Erdzeit, altern als ein vom Menschen isolierter Tiertypus entgegentritt, sondern es waren innere Eigentümlichkeiten und Potenzen, die sich dann im physisch stammesgeschichtlichen Vorgang und Form, «erden erst als Krebs, als Koralle, als Amphibium uff. dar, stellten. Es können also die in der Erdgeschichte wirklich zu er, blickenden, sinnenhast wahrzunehmenden Tiertypen nicht un, mittelbar Telle oder Körperorgane eines fabelhaften Urmenschen, tieres sein, sondern es sind Symbole für sein Werden und für das, was er abspaltete aus seinem transzendenten Wesen und was sich als Naturform aus jener Gesamtentelechie im Hinblick auf äußere Lebensbedingungen verwirklichte. So mag es auch mit den einzelnen Organen sein, die wir im Tierreich entwickelt finden. Wie man die Tierformev, ohne Rück,

sicht auf ihre zeitliche Folge rein anatomisch vergleichen kann, also etwa die Nervenbildung oder die Schädelbildung oder die Extremitätenbildung durch Vergleich einzelner Gattungen des Tierreiches darstellen und auch in diesem Sinn von einer „Ent, Wicklung", die dann eine rein formale und keine genetische ist, spricht, so kann man auch die „Entwicklung" der Organe verfolgen und aus ihnen ablesen, was an Sinnenhaftigkeit dem „Menschen" eingeboren ist und was das Tierreich auseinandergelegt zeigt im Lauf der erdgeschichtlichen Evolution, was also der Mensch po, tentiell besitzt. Die in diesen Organen sich kundtuende „Sinnlich, keit" muß also des Menschen potentielles, jetzt vielleicht latentes, in seiner körperlichen Naturgeschichte aber da und dort aktiviert hervortretendes Besitztum sein und gewesen sein. Der Mensch ist potentiell die durchgehende innere ideale und doch „wirkliche" Urform. Das Tierreich zeigt auseinander gelegt und spezialisiert, in eigener Richtung übertrieben, was der Mensch als Ganzes potentiell ist, soweit er Natur ist. In aller Entwicklung liegt der Mensch. Die Entwicklung des Tierreiches ist in ihrer naturhistorischen Tatsache das Symbol des Menschen als Natur. Damit beantwortet sich nun die oben gestellte Frage nach der Primitivität des Menschen und ihrer inhaltlichen Bedeutung dahin: der Mensch erscheint deshalb in einer primitiven Gestalt, well er alles das neben sich verwirklicht hat, was er potentiell einmal besaß und was sich neben ihm nun in tierischen Formen entfaltet und in eigenem Sinn weiter entwickelt oder, besser gesagt, einseitig weiter entwickelt, spezialisiert hat. Neuerdings hat sich nun die Überzeugung, daß der menschliche Körper in vielem eine auffallende Primitivität hat, zu der Erkennt, nis verdichtet, daß der Mensch nicht stammbaummäßig an hoch, entwickelte oder besser gesagt einseitig differenzierte Säugetier, typen des letzten erdgeschichtlichen Hauptzeitalters, der Tertiär, epoche, angeschlossen werden kann. Seine Primitivität könnte es gestatten, ihn bis in sehr alte Zeiten des Landtierwerdens überhaupt zurückzuführen. Nach einer anderen Auffassung soll sie auf einer Entwicklungshemmung embryonaler Formzustäude beruhen. Insbesondere Bolk vertritt die Lehre, daß die primitiven

anatomischen Züge auf Hemmungserscheinungen zurückgehen, wodurch, ähnlich wie bei anderen Gattungen des Tierreichs, sozvsagen embryonische Gestalten heranwachsen und geschlechtsreif werden können, ohne ihre frühen Körpermerkmale im übrigen aufzugeben. „Die Entwicklungslinie der Hominiden," sagt er, „unterlag nun einem hemmenden Einfluß, eine Hemmung, die für gewisse körperliche Eigenschaften einen maximalen Grad er, reicht hat. Das Maximum von Hemmung ist ... Unterdrückung der Entstehung einer Eigenschaft." Das ist eine Umschreibung dafür, daß beim Menschen viele Eigenschaften in der Entwicklung ausfallen, deren andere ihm näherstehende Säugetiere teilhaftig sind, und daß eben deshalb seine Gestalt primitiv erscheint, ohne daß man berechtigt wäre, sie an die zeitlich weit voraus­ gehenden primitiven Landtierformen ihrer Entstehung nach entwicklungsgefchichtlich aazvgliedern. Wir wollen hier den an anderer Stelle schon erörterten Fragen­ komplex über das geologische Alter des Menschen als äußerer Naturform und andere dahin gehörige morphologische Probleme nicht wieder aufnehmen; aber es sei gegenüber dieser interessanten Auffassung Volks auf eines hingewiesen, was unsere eigene Auf­ fassung von der hohen Ursprünglichkeit der Menschengestalt stützt. Wenn diese doch unbestritten das höchststehende Geschöpf bedeutet, in dem die Entwicklung der organischen Natur am weite­ sten gediehen ist und wenn sogar ihre „embryonische" Form, womit sie nach der obigen Theorie vor uns steht, ein höchstentwickeltes Geschöpf zeigt, so kann das sinngemäß doch nichts anderes heißen, als daß schon in seinem niedersten Formstadium der Mensch eben Mensch ist und dies so sehr, daß sogar die embryonische Gestalt, als» sein Urzustand, als fertiges Wesen herausgestellt, auch das höchste Geschöpf zeigt. Es ist also diese Auffassung wiederum nichts anderes als eine Umschreibung der Tatsache des Urformhaften im Men­ schen, das dennoch zugleich ein Hochstehendes ist. Volk selbst betont, daß der Mensch in dieser seiner gehemmten Verfassung eine Anzahl Eigenschaften latent in sich habe, die gegebenenfalls heraustreten könnten; so, daß ihm auch eine Anzahl pithekoider Eigenschaften innewohnen. Es wäre danach

denkbar, daß der Mensch, «ie er jetzt eben ist, bei Eatfaltnng solcher Eigenschaften affenhaste Gestalt in einseitiger Spezialisation ent, wickeln würde. Das wäre ein Abstieg, in unserer Denkweise zu­ gleich eine erneute Abspaltung von Tierischem. Es ist in solchem Zusammenhang aber auch nicht undenkbar, daß eine künftige naturhistorische Höherentwicklung der Menschenform eben darin bestünde, daß wir, «ie wir eben sind, „zurückgelaffen" werden und dann, wie früher der Australier und der Eiszeitmensch, als tierhafiere Gestalt neben jenem zukünftigen, noch mehr tier­ befreiteren Wesen erscheinen könnten. Doch soll diesen Zukunfts­ spekulationen kein anderer Wert zugebilligt werden, als den, das Dorhergesagte anschaulicher zu machen. Es ist der Menschenaffe bereits jenseits des Menschen gestellt,

wenn wir eine naturhistorisch,anatomische Reihe etwa vom Säugetier zum Menschen annehmen wollten. Der Menschenaffe schiebt sich nicht zwischen den Menschen und etwaige frühere tierisch aussehende Menschenformen, sondern er steht über den Menschen hinaus seitwärts. Die Menschenaffen sind einseitig über, spezialisiert. Nimmt man also die hypothetische ältere stammes, geschichtliche Form des Menschen vergleichsweise aus seiner eigenen Embryonalform ab, so war jene gewiß alles andere eher als affenhaft. Aber sie war auch nicht säugetierhaft oder sonstwie vierfüßlerhaft, sondern ein Eigentyp: der Vierhänder. Auf keinen Fall «ar der Mensch je ein Vierfüßler; das beweist seine Anatomie und seine Embryonalform, wenn man ihr überhaupt als stammesgeschichtliches Dokument einen Wert zuschreiben will. Volk sagt, der Dollmensch sei eine embryonal gehemmte und als Embryo ausgewachsene Form. Die Hemmung ermögliche es, daß er sich in einer bestimmten Richtung spezifisch entwickle: im Ausbau der Schädelkapsel, des Gehirns. Dieses allein wachse sehr lange Zeit und langsam, in einer Weise, wie es bei Tieren un­ erhört wäre. Daher auch die lange unbeholfene Jugendzeit des Menschen. Und doch geht es nicht an, den Menschen hinsichtlich seines Gesichtsbaues nun auch embryonal gehemmt anzusehen. Denn die embryonalen Augen stehen seitwärts. Don da an treten sie beim Säugetier noch mehr auseinander, aber beim erwachsenen 176

Menschen stehen sie enger beisammen; und beim erwachsenen Menschenaffen sind sie noch enger beisammen als beim Menschen. Das beweist wiederum, daß über den Affen kein Weg von einem hypothetischen Säugetier-Urahnen zum Menschen gehen kann. Selbst wenn also der Mensch die Verwirklichung einer Hem­ mung und Auswachsung seiner eigenen embryonalen Zustände wäre, so wären diese embryonalen Zustände nicht von tieri­ scher, sondern von spezifisch menschlicher Art gewesen. Es bleibt daher mindestens die Notwendigkeit bestehen, den Menschen als eigenen Hauptstamm den Säugetieren und damit allen Vier­ füßlern gegenüberzustellen, aber gewiß nicht umgekehrt; d.h. die ihm am nächsten kommenden Säugetiere haben fich wohl, wenn man überhaupt naturhistorisch-entwicklungsgeschichtlich denkt, von ihm abgezweigt, nicht er sich von ihnen. Aber indem sie sich ab­ zweigten — und wir lassen dies für das ganze Tierreich gelten — betonte der Ursiamm seine eigene spezifische Potenz in immer reinerer Form, kam immer mehr in die Lage, seine eigene Urform naturhistorisch unmittelbarer auszudrücken. Oben sagten wir: primitiv sei das, was am unmittelbarsten und ohne Weitschweifig, keit seine „Urform", seine Formidee zur Darstellung zu bringen wisse. Darum erscheint uns der Mensch jetzt „embryonal" und „primitiv". Das alles heißt nicht, daß nun einwandfrei bewiesen sei, baß diese Auffassung des „Stammbaumes" die einzig mögliche sein müsse. Nach den Erfahrungen, die wir mit allen wissenschaft­ lichen Ergebnissen und allen Ergebnissen des reinen Denkens über­ haupt machen, ist auch das nur der augenblickliche Ausdruck für die gegebenen oder bekannten Tatsachen der vergleichenden Ana­ tomie und Paläontologie. Und eben darum darf man sagen: Wenn überhaupt die Entwicklung des menschlichen Körpers irgendwie naturhaft mit der Tierwelt zusammenhängt — mag der Mensch im übrigen sein was er will in geistiger Hinsicht — dann entspricht die Lehre, daß die Tierwelt auch naturhistorisch der auseinandergelegte und jeweils einseitig ausentwickelte Men­ schenstamm sei, besser den Tatsachen der vergleichenden Anatomie und Paläontologie als die bisherige Stammbaumlehre, wonach

der Mevsch ein später und, da er nicht im Vorhergehenden ent# hatten «ar, auch zufällig gewordener Zweig, eine Art Zufalls­ ergebnis der Entwicklung sei. Das sieht nun so aus, als ob damit etwas grundlegend Neves im Forschungsgebiet der biologischen Abstammungslehre vorge­ tragen wäre. Doch ist dies nicht so. Denn die ganze bisherige Abstammungslehre hat dem Sinn nach eben dasselbe gemeint, ohne es sich erkenntnismäßig klargemacht zu haben. Sie hat gesagt, der Mensch habe, ehe er Mensch wurde, viele Formznstände durchlaufen bis hinab zum einzelligen Tier ältester Epochen. Damit hat sie gesagt: der Menschensiamm geht bis ans das „Urtier" zu­ rück. Sie hat «eiter zugegeben, daß kein heutiges Säugetier, kein heutiger Fisch oder Wurm irgendwie der Stammvater des Men­ schen sein könne, sondern „frühere". Nun kennen wir aber keine Form der Vorwett, die so geartet ist, daß man sie als den Stamm­ vater des Menschen ansprechen dürfte; alle, soweit sie wirklich anatomisch genügend vorliegen, sind einseitiger spezialisiert in irgendeiner Hinsicht; sie sind alle, auf die hypothetische Menschen­ stammbahn projiziert, Seitenwege, Speziallinien, Sackgassen der Entwicklung vom Menschen weg. Was also bleibt vom wirMchen „Stammbaum"? Die sichtbaren Formen, soweit man sie kennt, sind alle vom Menschenweg abgegangen, und die tierischen Ahnen des Menschen existieren bis jetzt in der Paläontologie nicht in Form wirklicher Tiergestalten, sondern nur in Fittionen. Es müssen also die Ahnen des Menschen erst noch gefunden werden oder ideale Formen sein. So und nicht anders ist der Sinn und die augenblickliche Enderkenntnis der schulmäßigen Abstammungs­ lehre. Läßt sie uns also völlig über die Herkunft des Menschen im Stich, so bekommt sie Sinn, wenn wir eben das Tierreich als vom Menschen her kommend, als vom Menschen wegprojiziert nehmen, oder das Tierreich den auseinandergelegten Menschen nennen (Fig. 7). Man könnte nun naturhisiorisch fragen: Wann lebte eine physisch-organische Gestalt, so beschaffen, daß sie alles noch poten­ tiell enthielt; oder: wann lebte eine Gestalt, die uns zum erstenmal so erscheint, daß wir sie Mensch nennen würden? Beides könne» 178

wir als Naturforscher nicht beantworten. Denn weder wissen wir irgend etwas über eine zeitliche Ur- und Anfangsform über­ haupt, noch haben wir naturhistorische Formen, die wir als Menschenurform ansprechen könnten. Der Eiszeitmensch ist diese Urform nicht, wenngleich er die ältesten fossilen Skelette zum Thema Mensch geliefert hat. Einen kleinen Affenkiefer, den Schlosser aus den Tertiärschichten Ägyptens beschreibt und den er als Ahnen sämtlicher Simiiden und Hominiden bezeichnet, wird erst noch auf seine Ergänzung durch Schädel und übriges Skelett warten müssen. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß er stch als einseitig spezialisierte Form herausstellen wird, wie es ausnahmslos mit jeder wirklich bekannten und nicht konstruierten Vorfahrenform gewesen ist. Alle Tiere, die wir kennen, auch die ältesten Landtiere, an deren anatomische Merkmale viele Eigen­ tümlichkeiten des Menschen erinnern, sind schon einseitig abge­ zweigte Formen, und der Ahne des Landtieres ist darunter ebenso­ wenig zu finden wie der Ahne des Menschen. Nun darf das alles nicht so verstanden werden, als ob der Mensch in seiner anatomischen Gestalt, wie er sie heute zeigt, schon in ältester erdgeschichtlicher Zeit dagestanden haben wird. Zwar sind wir der Meinung, daß er als irgendwie geartetes „Menschen­ wesen" mit anderen körperlichen Ggenschaften, zum Teil mit anderen Organen und geistig seelischen Besitztümern, die gleich­ falls jetzt latent, „okkult" sein mögen, sehr alt ist und weit in die uns bekannten Zeilen der Erdgeschichte zurückreicht, unendlich viel weiter, als es die bisherige Abstammungslehre wahrhaben will; jedoch ist «ns die physisch sichtbare Evolution des Einzel­ wesens nicht schlechthin die Wirklichkeit, in der etwas da ist. Nehmen wir das ganze naturhistorische organische Reich als Manifestation jener Uridee, die sozusagen den Menschen will, so ist dieses selbst mit Einschluß der etwa früher schon physisch vorhanden gewesenen Menschenarten und des heutigen Menschen eine bald mehr, bald weniger eingeschränkte Offenbarung, ein lebendiges Symbol des Menschenwerdens der Idee «ach und zugleich in Wirklichkeit. Und diese reine lebendig-wirksame Idee manifestiert stch im Lauf der Erdgeschichte immer spezifisch „menschlicher", so daß zuletzt die 12

179

Menschenform am reinsten erscheint. Und je mehr dies zustande kommt, um so mehr ist das abgespaltene, das daneben manifestierte Tierhafte selbst menschenähnlicher gewesen, und zwar im Sinn der Jetztwelt,Menschenform. Und das gilt für diese selbst als physischen Organismus. Je früher diese Abspaltung aber geschah, um so «eiter von der höheren Menschenform entfernt, d. h. um so „niederes erscheinen die Tierformen. Darum ist es ganz folge, gerecht, wenn wir in den ältesten, uns derzeit zugänglichen erd, geschichtlichen Epochen die niederen Formen antreffen und wenn nach und nach immer höhere austauchen, bis zuletzt die reine Menschenform in unserem Sina erscheint, so wie wir sie «ns derzeit als Menschenform auch nur vorstellen können. So mag es auch begreiflich sein, weshalb wir bei den früher gegebenen schematischen Figuren (Kap. 4) sagen durften, die Entwicklung stelle sich, im Gegensatz zu dem ursprünglich ge, forderten realistisch,genetischen „Stammbaum", vielmehr durch die im ganzen zunehmende höhere Folge der Typen als Idealität dar. Der „Mensch" als lebendige ewige Idee ist also die Urform und damit zugleich die innere lebendig wesenhafte und wirkliche Ursache der äußerlich sichtbaren Evolution des organischen Reiches. Diese lebendige innere Ur,Sache ist das, wovon die äußere Ent, Wicklung Symbol ist. Wenn wir daher im tiefen platonischen Geist die Idee anzuschauen fähig sind, so heißt das, die wahre Ursache des organischen Entwicklungsprozesses erkennen. Das Tierhafte ist also, zusammen mit der Evolution des Menschen, seelisch und physisch Symbol des ideenhaften Menschwerdens selbst, und eS zeigt uns so auch die naturdämonischen Spannungszustände, die das Menschenwesen auf seinem Entwicklungsweg abgelegt hat. Hier blicken wir vom naturhistorischen Grund und Boden aus auf die älteste Religiosität: den Tierkultus.

4. Totem als Symbol des Menschenwesens. Wenn der Mensch als Idee der Wesensmittelpunkt der Natur, zunächst der unmittelbar untermenschlichen Natur ist, so muß das Tier ihn irgendwie symbolisch darstellen. Das ist eine uralte Über,

So

zeugung, fast möchte man sagen ein vnverrückbarer Glaubens, satz, der, wie gezeigt, auch in moderner Form in der biologischen Abstammungslehre wiederkehrt. Ist der Weg der naturhaften Entwicklung des Menschen aber der Weg durch das ihm inne­ wohnende Tierische hindurch zur reineren Höhe des Menschseins, wie wir es verstehen, so ist das Tierische, das er in der Geschichte seiner „Entwicklung" zurückließ, eben das, was er auf dem Weg zum irdischen Dollmenschen abstreifen mußte, also das Naturhaft, Dämonische. Das ist der letzte Sinn der Tiersymbolik und zugleich der mythisch,lebendige Sinn der Entwicklungsgeschichte der organi, schen Natur, die eine Entwicklungsgeschichte des Menschen als Idee ist. Und bei dieser seiner Entwicklung erscheint notwendig in ihm und neben ihm das Tier. Er strömt „Tier" aus. Das Tier wird zum lebendig mitgesetzten Symbol der jenseitigen Bedeutung des Menschen. Deshalb erscheint neben ihm nicht nur das natur, hafte Tier, sondern es erscheint in diesem auch das ideenhafte Tier, der Tiergott. Es erscheinen die tierhaften Götter, denen gegenüber es nun gilt, sie durch magisch,naturhafte Wissenschaft, durch magische Kulte und Opfer von sich fernzuhalten, sie abzu, wehren, zu beherrschen, zu bannen, weil ja der Mensch sich von ihnen wegfinden, sich von ihnen befreien soll. Eben diese Möglich, keit zur Befreiung bietet der bannende Kult, das scheinbare Dienen, das doch in Wirklichkeit nicht ein Dienen, sondern ein Abwehren ist. Naturkult, Tierkult, tierischer Götzendienst bedeutet also lebendige religiöse Symbolik des Wissens um den Zusammenhang von Mensch und Natur, von Mensch und Tier. Solange nun der Mensch sich selbst vollenden will, sei es un, bewußt als metaphysische Potenz, sei es bewußt als Einzelwesen, ist damit auch immer die Erscheinung der menschlichen Gegen, feite, die Tierverflochtenheit und Tierbildung da und hat dämoni, schen Sinn, auch wenn zuletzt beides auf höherer geistiger Stufe nur noch in Gefühlen und Legenden und nicht mehr in mythischer Wirklichkeitsschau erlebt wird (Kap. 2). Die Entwicklungsgeschichte des Menschen als Natur ist, von innen und außen gesehen, die Ge, schichte der Abspaltung des Tieres aus ihm; ist die Manifestierung

181

seines Dämonischen als Tier neben ihm, im denkbar weitesten, tiefsten transjendenten, wie im unmittelbar naturhaftev Sinn. Im Totemismus nun wird nicht nur eine dämonische und symbolische Zerrgestalt, ein Tiergott mit Menschenfratze oder ein Menschengestalt mit Tierfratze verehrt und mit allen Mitteln der dämonischen Zänkerei zu bannen gesucht, sondern es ist auf der anderen Seite eine gewisse stille Reinheit und Klarheit da, nicht mehr nur der verzerrte dämonisch ekstatische Kult. Das Tier selbst wird geschont, hellig gehalten, geliebt, nicht nur abgewehrt. Sein Wesen wird nicht verabscheut und gebannt, wie der Götze mit der Tierfratze, sondern bejaht und als Eigenes, innerlich Verwandtes gehegt. Und wenn auch im engen Zusammenhang damit Kult und Götzendienst, Zauberei und ekstatisches Tun da ist, so geht doch im eigentlichen Totemleben eine, wie wir sagten, gewisse Beruhigung mit hindurch. Es ist nicht mehr nur eine dämonische halluzinative, sondern eine sehr gegenständliche, man möchte sagen naturhistorische Realität. In seinem naturhaften Wesen ist reiner Totemismus wohl noch kaum irgendwie verstanden, und jedenfalls ist es für uns heutige Menschen, die wir keine echte innere seelen- und naturhafte Beziehung zum Tier mehr haben, kaum möglich, lebendig das Geheimnis vor uns zu sehen, das in dem früheren Tierkult hochstehender Völker oder auch nur in dem Totemismus niederer Völker lebt. Nehmen wir die Werke der Gelehtten zur Hand, um uns über den Sinn dieser Dinge zu unterrichten, so werden wir immer nur hingewiesen auf wenig befriedigende allegorische Anspielungen und Deutungen oder auf Halluzinationen der Furcht und des Unwissens. So sagt eine vielgelesene „Völkerkunde" bei der Beschreibung des Totemismus: „Der Schamane geht mit den Tieren um wie mit seinesgleichen, setzt stch ein künstliches Hirsch­ geweih auf, trinkt Hundeblut aus hohler Tierfigur... Bezeichnen­ derweise find Tier- und Pflanzensagen ein Hauptteil der Literatur primitiver Völker. Tiere finden sogar eine Stelle am Grunde der Genealogien der Stämme und Häutliuge... Den menschen­ fressenden Raubtieren fühlen sich menschenfressende Wllde ver­ wandt. Der Schonung dieser Tiere mag dann eine andere Wendung

gegeben werden; so wenn der Matabeleköaig Lobengula Krokodile zu töten bei Todesstrafe verbietet: mit dem toten Krokodll könnte verderblicher Zauber geübt werden." Das ist so ziemlich alles, was man zu sagen hat. Neuerdings ist man allen diesen Lebenserscheinungen gegen­ über verständiger geworden. Man kennt die Welt des Unterbewuß­ ten, man hat in die psychologischen Zusammenhänge von Traum und Wirklichkeit Einblicke getan und ist wenigstens überzeugt, daß die Seele des „Wilden" in einem ungeheueren Maß von diesen seinen Lebensformen ergriffen war. Selbst wenn „tmt" die Phantasie da wäre, die in den Tieren allerhand sähe, so wäre dieses phan­ tastische Sehen gar nicht möglich, und wäre nicht verbindlich, hätte keine seelische Kraftwirkung, wenn der Mensch nicht das Gleiche im Gleichen, nämlich sich selbst im Tier erkennen würde, und zwar „erkennen" nicht im blutleer-intellektuellen Sinn, sondern in jenem uralten Sinn, der das „Erkennen" als den Sündenfall im Paradies versteht. Das Erkennen, womit der paradieshafte Zustand gebrochen ist, darin Mensch und Natur Eins vnd Gott „gehorsam" war, — dieses Con-noscere heißt „zusammen gebären", und jener innere Augenblick ist also auch die Geburtsstunde des dämonisch religiösen Wissens, wo der Mensch das Tier, das Tier mit einer aus dem Inneren geborenen Sym­ bolik als das ihm von innen her Zugeordnete, das mit ihm „Verwandte", mit ihm „Verwundene", also den dämonische« und zu bannenden Götzen erlebt und kultisch zu ihm steht. Es ist also jene Beziehung zum Tier zwar, wie Danzel meint, eine Projektion der Menschenseele in die Tierseele hinein; aber dieses Wort klingt noch allzusehr an den Begriff der illusionären Spiegelung an, als daß es genügen könnte, die Sache zu be­ zeichnen; vielmehr ist diese Projettion oder umgekehrt das Heraus­ lesen nur möglich, weil im Tier etwas lebt und erlebt wird, das nun dem Menschen kraft der inneren Verwandtschaft des Schauen­ den mit dem Geschauten auch von innen her „begegnet", so be­ gegnet wie wir es schon (@.5 ff.) beim Wesen des Symbols erörterten. Und eben aus dieser inneren lebendigen mystischen Ver­ wandtschaft heraus ist dem natursichtigen Menschen das Tier nicht

183

nur lebendiges Symbol, sondern auch eigenes Innenleben gewesen. Was kann es also sein, daß bestimmte Tiere bewußt oder unbewußt dem einen und anderen Volk oder Stamm heilig waren? In ältester Zeit mag es unmittelbar von den Dorweltmenschen von Angestcht zu Angesicht erlebt worden sein, daß Tierformcn sich abspalteten. Manche alte Sage deutet darauf. Aber für die Reste des Totemismus, wie wir ihn überhaupt nur geschichtlich noch kennen, mag eine Art Hellgestcht für die Stellung der Menschengruppen zu bestimmten Tieren entscheidend gewesen sein. Das Bedeutendste zu diesem mythischen Realismus haben wohl Goldberg und im Anschluß an ihn Unger und Caspary gesagt, was ich hier in einigen kurzen Strichen wiedergebe. Das Totem hat drei Wesenselemente: den Gott des Volkes oder der Gruppe, den Stammvater und eine Tiergattung. Eine „Abstammungsbeziehung" also ist hierin die entscheidende Wirk­ lichkeit. Aber nicht der Mensch als Gesamttypus stammt vom Totemtier ab, sondern für jede Menschengruppe besteht eine be­ sondere Abstammungsbeziehung. Die Abstammungsbeziehung nun ist nicht schlechthin naturalistisch, etwa im Sinne der Deszendenz­ lehre zu verstehen. Die als Totem erklärte Tiergattung —es kann gelegentlich sogar eine Pflanze sein — ist nicht zeitlich naturhistorisch früher dagewesen als die zugehörige Menschengruppe, so daß diese etwa im darwinistischen Sinn von dem Tier herkomme; sondern beide kommen von ein und demselben Stammvater, von ein und demselben „biologischen Zentrum" her, dem Totem oder dem „großen Tier". Dabei darf man die menschlichen Grup­ penorganismen nicht nach der äußeren Körperform, der SchädelbUdung, also nicht anatomisch-morphologisch begreifen wollen. Sondern der menschliche Organismus als innere Einheit, als Idee enthält potentiell alle jene biologischen „Fähigkeiten", die das Tier auseinandergelegt zeigt. Jede Gruppe der Menschen eine andere Eigenschaft in besonderer Weise oder in besonderem Maße. So ist das „empirische Paradigma" der heterogenen Menschengruppen nicht der Mensch selbst, sondern das Tier, die Tiergattung. Die Menschengruppen sind also nicht wie Einzel184

wesen, wie Weißer oder Neger, voneinander zn unterscheiden, sondern so wie etwa der Skorpion vom Pferd. Jede dieser Tier, formen als Typus ist auf eine bestimmte biologische Fähigkeit eingestellt, repräsentiert fie sozusagen rein; diese bestimmt ihren Habitus als Gattung, so, wie es der Mensch selbst nie erreicht; denn dazu ist er zu universell. In der Menschheit sind die großen Heterogenitäten seelischer Art mit einer absoluten Gleichförmig, feit der Körperlichkeit verbunden; daher gelingt es auf keine Weise, den Menschenkörper als den Ausdruck irgendeiner seelischen Potenz zu begreifen. Und das heißt: Soll das Wesen von Men, schengruppen überhaupt begreifbar sein, so sind die Gruppen nicht als durch Körpermerkmale bestimmte Unterabteilungen der natürlichen Menschheit zu nehmen, sondern jede Gruppe ist, um lebendig anschaulich zu werden, einer ihr immanenten über, geordneten Realität zuzuweisen, worin ihre seelischen, also auch kulturellen Merkmale mit ihrem physiologischen Dasein so ver, bunden erscheinen, daß deren Trennung der Zerstörung eines Gesamtorganismus in seiner inneren Einheit gleichkäme. Denn jeder Organismus hat sein lebendiges Zentrum, seine Entelechie, die ihn eben zum Organismus macht; sonst bleibt er ein leeres, nichtssagendes Begreifungsprinzip. Ist man so dazu genötigt, weil die grundverschiedenen seelischen Menschengruppen körperlich gleich sind, zu den heterogenen inneren Eigenschaften und Fähigkeiten sich die angemessene Körperlich, seit zu suchen, so wird man empirisch auf das Tier verwiesen. Die unbefangene Erörterung des wissenschaftlichen Problems der menschlichen Gruppenbildungen muß also zum selben Ergebnis kommen, wie es der Totemismus seit uralter Zeit unmittelbar ausdrückte. „Alle Menschengruppen sind überempirischen Größen zuzuordnen, die sich voneinander prinzipiell und sirukturell so unterscheiden wie die Tiergattungen. Vermittelst dieser Verbin, düng und in ihr sind biologische Wirkungen möglich, die die biologischen Wirkungen des Einzelnen übersieigen — also für deren Niveau .übernatürlich' sind." „Diese Verbindung und diese Beziehung zum Zentrum des Gruppenorganismus stellt sich für jeden einzelnen als .Abstammung' dar, ... da dieses Zentrum 185

realiter .früher' ist als der Einzelne." Totem ist also „das selb­ ständig und in eigener Sphäre existierende Zentrum des realen Gruppenorganismus, in dem die Einzelnen sich realiter, d. h. mit biologischem Zwang wie Organe zueinander verhalten — eine Selbständigkeit, die notwendig Wirkungen hervorbringen muß, die das Einzelnenniveau prinzipiell übersteigen. Das Wesen des Totem aber — dessen Existenz ja nicht in der Empirik liegt — ans seinen empirischen Wirkungen bestimmt, ist als das .voll­ kommene Tier' aufzufassen, d. h. als dasjenige biologische Prinzip, als dessen Ausdruck jedes Tier gestaltmäßig zu begreifen ist." Es ist der Totemismus im weitesten und tiefsten Sinn, den er je gehabt haben mag, der unverkennbare Ausdruck und die unmittelbar dem Menschen naturflchtig gegebene Gewißheit des dämonisch-natürlichen Derwandtschafts- und Abstammungs­ verhältnisses seiner selbst, soweit er Natur ist, und des Tieres, die beide im Augenblick der Abspaltung voneinander denselben Ur­ vater haben. Jede Erkenntnis, jede Religion, die diesen dämonischnaturhaften Bann, unter dem Mensch und Tier, wie geschildert, gemeinsam stehen, nun nicht kultiviert, sondern in seinem tieferen paradiesverlorenen Zusammenhang durchdringt und von innen her überwindet, ist Erlösungsreligion in irgendeiner Form, oder ein Weg zum Christus. Goldberg zeigt nun in großartiger Weise, wie die ganze Geschichte des Pentateuch sozusagen ein einziger großer Kampf gegen alles totemistische Heidentum auch in Israel selbst ist. Es ist, wie wir darüber hinausgehend sagen möchten, der große Wahrheitsmythus, der für uns nun den lebendigen Sinn hat, den seelisch-geistigen Boden für das Kommen des Erlösers in irdischer Gestalt zu bereiten; der also, modern gesprochen, die seelischen Dispositionen zum historischen Ereignis des Jesus von Nazareth schuf, der uns die Erlösung brachte. Nun aber die große Frage: wie hat der „primitive" Mensch das entdeckt? Wie kommt es, daß er auf empirisch reale Wirkungen nichtempirischer Gegebenheiten stößt, auf die wir im ganzen Umkreis unserer wissenschaftlichen Erfahrung nicht stoßen und vielleicht nicht stoßen können? Und hier ist eine Klippe für die Wissen­ schaft.

i86

Dasjenige, sagt Laspary an der bezeichneten Stelle weiter, wodurch die Wirklichkeit der Urzeitmevschen sich von jener der Kulturmeuschheit unterscheidet, das sind die Menschen selbst in ihren biologischen Qualitäten. „Es muß biologisch eineu Unter, schied machen, ob man jur Generation der Ursprungsjeit gehört oder deren später Nachkomme ist... Wenn der Mensch der Ursprungs, zeit objektiv kein anderer war als der jetzige, der beliebig an irgend, einen früheren Punkt der biologischen Abstammungsreihe gesetzt werden könnte, dann wäre eine so prinzipielle psychische Differenz, wie sie das gleich ernsthafte Für,wahr,Halten zweier ganz ent, gegengesetzter Realitäten bedeutet, auf keine Weise ableitbar, am wenigsten aber aus dem Begriff der Urzeit." Dena, so sagt er weiter: „es ist keine .Entwicklungsstufe', sondern ein Gegensatz, wenn ich gestern die Existenz des Totemgottes für real hielt, heute aber nicht." Jenes frühe Bewußtsein ist nicht deshalb ein „primitives", weil es an Tatsachen glaubte, die es nicht gibt, sondern weil es die Naturgesetze und Naturwirkungen anders sah als wir. Es mag immerhin gellen, daß die Naturerklärungen der Primitiven, soweit sie dem reflektierenden Denkprozeß unter, liegen, gegenüber unseren vnzureichend sind; aber die Tatsachen, kenntnis ist es nicht. Denn auch beim Primitiven werden die Tatsachen der Natur genau mit demselben Realitätsstnn und der, selben Genauigkeit unterschieden, wie von unserem Wissenschaft, lichen Denken. Mangelhafte Kenntnis der Außenwelt kann uns also die totemistische Weltbetrachtung nicht erklären, weil gerade die feine Naturbeobachtung und die Feststellung der Qualitäten in den Dingen charakteristisch für die totemistische Wirklichkeits, Verfassung sind. Das Individuum der Ursprungszeit ist also definiert „als dasjenige, dem seine Entelechie Bewußtseinsinhalt ist; das späte Individuum als das, dessen festgelegte Daseins, form die Entelechie ist". Es gibt also in der Urzeit eine Gruppe von Erfahrungsinhalten biologischer Art, die es heute nicht mehr gibt: es sind die der Ab, stammungsbeziehungen im inneren entelechischen Sinn einerseits und die der Realität der Gruppe als eines den Einzelnen überge, ordneten selbständigen Organismus andererseits.

Wir müssen uns mit diesen kurzen, mit unseren Gedanken, gängen verwobenen Hinweisen und Auszügen aus der neuen, auf Goldbergs tiefschürfende Forschungen und Gesichte zurück, gehenden Lehre über die Verwandtschaft von Mensch und Tier, die in uraltem Kult ihren lebendigen Ausdruck fand, begnügen. Auch auf die mythisch,magische Realität und die naturhafte wie seelenhafte Wirkung des Kultes und seiner Zauberei einzugehen, liegt hier nicht in der Richtung unseres Zieles. Es ist aber über, raschend — und das war zu zeigen — wie sich diese und unsere Theorie über den Zusammenhang von Mensch und Tier im Wesen treffen, indem sie beide, von ganz verschiedenen Seiten herkommend, eine biologische Wirklichkeit erkennen, die den Totemismus aus der ihm angedichteten Sphäre des stupiden Aberglaubens in die der natur, und seelenhaften, der symbolisch gespiegelten trans, zendenten Wirklichkeit des Menschenlebens erhebt. Damit aber sind wir noch nicht am Ende unserer Frage ange, langt. Denn noch sind wir uns nicht über den inneren Weg klar, den das Forschen und Erkennen des Menschen einschlagen mußte, um eine Realität zu sehen, deren empirischer Ausdruck zwar das Tier ist, dessen innerer Zusammenhang mit dem Menschen aber doch irgendwie erkannt werden mußte, auf eine Weise, die unserem spätzeitlichen Naturerkennen verschlossen ist. Danzel hat einmal ausgeführt, daß in autosuggestiven oder in ekstatischen Zuständen der Mensch Tiervisionen haben kann, die in bestimmter Abhängigkeit von den einzelnen Körperorganen stehen. In den Organen des Menschen, die zusammen als Einheit seinen ganzen Körper bilden, drücken sich aber die ehemaligen Zu, stände seiner natürlichen Entwicklung aus, als die wir die Ab, trennung des Tieres erkannt haben. Werden jene unter bestimmten Zuständen, die einer anderen Sphäre als dem gewöhnlichen Gefühl und Bewußtsein angehören, gereizt, so mögen sie Bilder von Formzuständen ursprünglicher Entwicklung visionär Hervorrufen, die nun dem Jndividualbewußtsein wieder unter tierhafter Gestalt erscheinen und so den religiösen oder ekstatatischen Magiern Natur, gottheiten und Beziehungen zu Tieren offenbaren, die zu Hin, «eisen für den totemistischen Zusammenhang werden. Götter werden

i88

entdeckt, sagt Goldberg-Unger, wie wir heute Natnrkräste ent, decken und sie uns dienstbar machen, nämlich als nicht greifbare und doch wirkliche Kräfte. Schon in meinem früheren Werk: „Urwelt, Sage und Mensch, heil" habe ich gegenüber der Annahme, daß die alten Drachen, Vorstellungen und Tiersymbole „leere Phantasieprodukte" seien, darauf hingewiesen, daß zwar die gewöhnliche Phantasie nach äußeren Erlebnissen und Gegenständen neue Gestalten schaffen oder Zerrbilder anderer Art gebären könne; es drücken sich da oft Formgefühle verworrenster Herkunft aus. Aber doch sei es ganj fraglich, und unwahrscheinlich, ob sie ohne „Tradition" so lebens, wahre Tiere hätten bilden können, wie sie uns in den Sagen er, scheinen und auch tatsächlich fossil vorliegen und zum Teil auch naturhistorisch nicht unwahrscheinlich sind. Denn aus dem Leeren werde die Phantasie kaum etwas schöpfen. Wolle man trotzdem die Entstehung der Drachen, und Lindwurmsagen einer spät, zeitlichen Phantasietätigkeit zuschreiben, so wurzele diese doch, wie der Menschenkörper selbst, in der Urzeit und ist von dorther mit lebendiger Erbschaft an Körper und Seele begabt. Er hat, ebenso wie die bewußt,unbewußten Gattungsinstintte, auch ein Gattungs, gedächtnis, das in ekstatischen oder somnambulen Zuständen er, schüttert, aus seiner Bindung gelöst werde und in das Individual, bewußtsein Reflexe werfen kann. So können durch innere An, schauung naturhafte Bilder erweckt werden aus früher Urzeit, die, wenn auch noch so verzerrt und mit Gegenwartseindrücken durchsetzt, dennoch in ihrem Kern und Wesen Anlaß zu einem gewiß nicht „wissenschaftlich" errungenen und doch durchaus echten Wissen werden und so eine urweltliche oder kosmisch verewigte Wahrheit und Wesenhaftigkeit in sich tragen, weil sie aus Zeit, tiefen und Naturverbundenheiten des Menschen stammen, die nicht mehr gleichzeitig mit dem Schauenden sind und deshalb mythisch oder halluzinativ erscheinen. Das ist der Sinn und die Lebendigkeit der „Tradition", die eben nicht eine Wortüberliefe, rung, sondern eine wahre überpersönliche „Erinnerung" ist. In solcher Überlegung scheint mir der Schlüssel auch für das zu liegen, was Danzel im Zusammenhang mit der oben schon be, 189

rührten Tatsache der Visionen bei Organreizungen „Bildsichtigkeit" nennt vnd was «eit tiefer verankert ist als in der Außenfläche einer Psychologie im jetztzeitlichen Sinn. Wie aber kommt, so ist weiter zu ftagen, diese Wieder­ erweckung des generellen Urgedächtnisses mit der „Reizbarkeit" einzelner Organe zusammen? Da muß man die allgemeine Bil­ dungsweise der organischen Natur ansehen. Die Reproduktiv­ kraft einer Eizelle, aus der später das Individuum vnd damit das GestaltnngsbUd der Art wird, das immer wieder von Generation z« Generation hergestellt wird, kann man eine mnemische nennen und sie vergleichsweise auffassen als einen an die „Erbmasse" ge­ bundenen und daraus sich betätigenden Gedächtnisprozeß im metaphysischen überindividuellen Sinn. Man kann sich die Re­ produktion aus dem Ei in den Keimling und schließlich in das ge­ schlechtsreife und wiederum fortpflanzungsfähige Wesen als Ergebnis des sein Formenbild, sein Urbild dauernd durch alle Geschlechterfolgen hindurch bewahrenden und wiederbringenden körperlosen Entelechiepotentials nehmen. Diese formerhaltende und formschaffende Potenz liegt nun nicht etwa im Gehirn der Organismen — niedere Tiere und die Anfangsstadien der höheren haben überhaupt kein Gehirn — sondern es liegt in der Gesamtheit der Körperzellen und Organe, die untereinander in lebendiger Korrelation stehen und eben deshalb das sind, was wir einen Orga­ nismus im Gegensatz zu einem Aggregat nennen. Darin wurzelt auch die Regenerationsfähigkeit mancher Tiere, wie der Seesterne oder Würmer, die nach Verlust großer Körperteile das Verloren­ gegangene wieder Herstellen, ja aus dem abgespaltenen Teil selbst wieder den übrigen Körper wachsen lassen können. Auch kaun man die ersten Zellkomplexe eines Froschembryos in zwei Hälften trennen; dann wächst jedes Teil nicht zu einem halben Frosch, sondern zu einem halb so großen ganzen Frosch aus. Nach diesen Beispielen ist es offenbar, daß das formgebende Gedächtnisbild des Typus auch — man kann in allen diesen Dingen nur über­ tragen reden — in einzelnen Körperorganen, ja nur Körperzellen als ganze Potenz lebt. Wenn nun frühere Entwicklungsstadien vom naturhistorischen Measchentyp durchlaufen wurden, bei denen

190

entweder der Mensch selbst in tierhaften Zuständen verharrte, wie es die bisherige Deszendenzlehre meint oder von flch Tier, Haftes abspaltete, das also in seiner Formpotenj liegt, so müssen in der „Erbmasse" des Organismus, wie in seinen Teilen mit mnemischer Latenz noch tierische „Reminiszenzen" gebunden liegen, die nun aus dem physiopsychologischen Unbewußten deS Organismus vermöge des inneren Lebens und der inneren Ver­ bundenheit aller Organe als spezifiische mnemische Reize ins Gehirn gelangen, flch dort in bewußt werdende Dorstellungsbilder organischer Formzustände umsetzen und so nicht nur tierhafte Zerrbilder und tierische Gestalten, sondern auch noch stammesgeschichtliche nächstverbundene Tiertypen ahnen und mit einer gewissen, in die Vergangenheit blickenden Hellsichtigkeit schauen lassen. Diese nun wirklich innerlich lebendig begründete „Bildflchtigkeit" führt dann den Schauenden dazu, entweder solche „Phantastegestalten" als Götzenbilder darzustellen oder flch in der Natur nach deren Korrelaten umzusehen, sie dann etwa in einem weißen Elefanten oder einem anderen Tier zu erblicken und dieses für Totem zu erklären, wobei im naturhaften Zustand des Ur­ menschen zugleich das magische Wissen um die Zauberwirkung des Kultes irgendwie mit gegeben war. Wenn also, wie ich es ausführlich zu begründen versucht habe, der Mensch das stammesgeschichtliche Urbild und Zentrum der lebenden Natur ist; wenn das Tierreich, wie es die Alten schon wußten, der auseinandergelegte Mensch ist, was wir nun ganz realistisch nehmen dürfen, so ist damit die sichere Grundlage für allen Totemismus und Tierkult gegeben und von der naturgeschicht­ lichen Seite her begründet. Es trägt sein Organismus, seine Erb­ masse, seine Keimbahn, oder wie man es nennen will, die alten Entwicklungsstadien und tierhaften Formbildungskräfte potentiell noch in flch. Das kann im ekstatischen oder natursichtigen Zustand des primitiven Homo divinans ins Jndividualbewußtsein ge­ rückt werden und in alter Zeit noch mehr gerückt worden sein. So stellen die Tiere oder tierische Phantasiegestalten das im Menschenwesen mit Enthaltene und von ihm früher einmal Abgespalteue oder in Zukunft noch Abzuspaltende symbolisch­ er

wirklich dar. Es wird ihm also, religiös gesehen, auch klar, worin geradezu der Vollzug seiner ihn vom Tierischen befreienden Ent/ Wicklung zum Vollmenschen liegt, ideell und stammesgeschichtlich. Da der Gegenstand aller Religionen eben die Gebundenheit des Menschen an die Natur, insbesondere an die tierische Natur, und die Erlösung von ihr ist, so sind die auf die beschriebene Weise visionär erkannten tierischen und tierhaften Wesenheiten zugleich Grundlage und lebendiges Symbol der Naturreligioven. Wenn wir also nicht nur bei niederen Völkern, sondern auch in hohen Kulturen die tierhaften Idole und Tiergötter erblicken, so erblicken wir zugleich das, was mnemisch unbewußt in unserer eigenen Naturseele ruht und was durch lebendige Jnnenschav in der Der, gangenheit als „mythische Realität erkannt worden war. Nach dieser Betrachtung wäre somit der Totemismus im weitesten Sinn die unmittelbar naturstchtige und dvrch Innen, schau unbewußt erlangte und dämonisch wirksam gewordene Er, kenntnis der inneren und äußeren evolutionistischen Verwandt, schäft von Menschenwesen und Tierwesen; also ein sicheres Wissen um die Menschenwerdung und das Menschendasein selbst. Damit wäre das Tier lebendiges Symbol der ihm immanenten Eigen, schäften des Menschen. Das Tier begegnet dem Menschen inner, lich und äußerlich als Symbol einer jenseitigen Wirklichkeit und er steht seine innere Verbindung, seine Verwandtschaft mit ihm. Es steht also, wie Unger sagt, das Tier hier „in der Tat machtmäßig höher, sofern sein Prinzip betrachtet wird und nicht seine empirische Existenz. Dies ist die Realität des Totemismus". Die moderne Abstammungslehre ist, wenn man es so sieht, erneute Bestätigung totemistischen Naturwissens, gesehen durch unser jetziges Denkmittel, den Intellekt, jedoch unbewußt ruhend auf dem Untergrundsgefühl des inneren Zusammenhanges, also der wahren Verwandtschaft. Auch die moderne Naturforschung hat durch die Vorstellung der Genese das Tier vermenschlicht und den Mensch vertierhaftet. Wäre also, wie es unsere Jntellektual, forschung meint, die Grundlage des Totemismus und des Tier, kultes der alten Kulturvölker, also die ganze lebendige Symbolik darin, nur leerer hohler Aberglaube, so wäre es die moderne

Biologie, soweit sie auf der Idee des uatürlichen Zusammen­ hanges von Mensch und Tier beruht, ebenso sehr, ja sogar in einem viel beschämenderen Sinn, insofern sie das alles verävßerlicht hat und in naivem Realismus des inneren Sinnes ihrer Erkenntnis entbehrt.

5. Dämonie der Naturentwicklung. Was ist das Dämonische, und wie stellt es sich dar als Natur? Es sind, sagt Tillich, „jene zerstörerischen Elemente, welche die organische Form zerbrechen und doch selbst Elemente des Organi­ schen sind; aber sie treten so auf, daß sie den in der Natur vorge­ bildeten organischen Zusammenhang radikal vergewaltigen". Das Dämonische ist „die Einheit von formschöpferischer und form­ zerbrechender Kraft"; es „enthält in sich Gestaltzerstörung, die nicht von außen kommt, nicht auf Mangel und Unmächtigkeit beruht, sondern aus dem Grunde der Gestalt selbst stammt, der organischen wie der geistigen". Es offenbart uns das Dämonische solcherweise, „daß die Tiefe der Dinge, ihr Seinsgrund, zugleich ihr Abgrund ifT. Ich kann Tillich nicht zustimmen, wenn er sagt: „Dämonie ist gestaltwidriges Hervorbrechen des schöpferischen Grundes in den Dingen"; und wenn er damit meint, daß der schöpferische Urgrund selbst das Dämonische damit bejahe und sich als solcher darin gäbe. Denn der Urgrund, das Schöpferische ist heilig, ist immer reine Idee; es wird nur dämonisch, wenn die lebendige Form, die darin metaphysische Freiheit besitzt, statt rein die Idee darzustellen, sie für ihr Eigenleben ichsüchtig vergewaltigt und sie damit in ihrem lebendigen Ausdruck zum Dämon, zur Fratze macht, wenn dabei auch äußerlich die Form unverzerrt bleibt oder zu bleiben scheint. Wenn wir gemeinhin von dämonisch reden, verstehen wir einen inneren Zustand darunter, der äußerlich symbolisch in gesteigerter, übertriebener, schließlich die sinnvoll naturhaften Grenzen zerreißen­ der Art und so in ausgesprochen Fratzenhaftem zum Ausdruck kommt. Aber selbst die äußerlich scheinbar unverzerrte Form ist schon Fratze, sobald sie, statt Ausdruck der reinen Idee zu sein und

ihr darin gewissermaßen zu „dienen", sich sucht, sich selbst will und meint, und so nach einem inneren Drang sich selbst immer mehr steigert und übertreibt. Ja sie kann den Eindruck von Schön­ heit und Gemessenheit machen, was doch bloß „Haltung" ist, um dahinter nnr sich zu wollen, sich zu steigern, sich im Eigen-Sina zu vollenden, das reine Symbol des Ewigen nachahmend und doch auf „Täuschung" berechnet sein; um dann schließlich, wenn der rechte Augenblick gekommen ist, die Bindung fallen zu lassen und auszubrechen. Sie benützt „zweckvoll" die Kraft des ihr innewohnenden Ewigen, aus der doch alles selber nur ist und sein Leben und Dasein empfängt. Das Urblld, wie es der Schöpfer will — wenn man so sagen darf — ist immer rein und heilig. Und für uns ist es rein und heilig, wenn es uns erscheint als innerlich angeschaute, unbedingte, unverzerrte Idee des Schöpfertums. Dämonisch ist Wesen und Form dann, wenn es sich abschnürt in ichsüchtigem Selbstdasein; sei das nun in scheinbarer Ruhe oder in ausbrechender und überschäumender Leidenschaft. Es ist Schleier, den es bildet und um das Ewige wirft. Aber dies nicht, um es dienend zu verhüllen, sondern um sich dessen Leben zu seinem Eigeuzweck, zu seiner Eigenvollendung zu erborgen. Das ist die physische Natur, es ist die „Vertreibung aus dem Paradies", der dämonische Sündenfall im weitesten und stets sich wiederholenden Sinn. Das Paradies — das ist jener Zustand, wo die reinen Urbilder der Dinge und Wesen da sind als Gottes Werk und als solches „gehörsam" gegen Gott; wo sie in Gott Eins sind; wo der Löwe beim Lamm ruht; wo die reinen Urbilder im Schöpferdasein lebendig und friedvoll miteinander sind; wo kein abgegrenztes Einzelwesen, keine Einzelform begehrlich sich selber nur sucht und das ewige Leben für sich selbst ver­ gewaltigen will. Die physisch gegebene Natur nun ist die Ver­ treibung aus dem Paradies, ist der „Sündenfall", ist das leben­ dige Symbol des der Einzelform geopferten inneren Daseins des reinen Urbildes. Und so ist die äußere Natur — auch das Menschenleben als Natur — dämonisch durch und durch. Denn immer meint alles und jedes, bewußt und unbewußt, sich selbst. Alle Form, die lebend sich

entwickelt — und im Kosmos ist alles lebendige Entwicklung — kann man daher nehmen als „Wille" jur dämonischen Selbst­ verwirklichung. In allem abgegrevzten Naturdasein steckt so der Dämon. Er ist der „Mantel", den das Leben in seinen Einzelformen stch selbst überwirft; ist die vom Ewigen, vom wahren letzten Leben abtrennende Schale, die nun jenes Leben absaugt, für sich nimmt, um sich darjustellen, statt die reine Idee ju leben. So ist dort, wo die aus dem lebendigen Schöpfertum fließende Lebenskraft, statt ihm lebendiges Symbol ju schaffen, in die sich selber meinende Form gebannt wird, der Dämon lebendig. Er liebt die Form nicht als Abbild des ewigen Schöpfergedankens, sondern er liebt sie nur und bindet sich darin, um sie danach, sich selber betonend, wieder zu sprengen. Das ist das Bild der Natur, auch des Menschen als Natur: ewige Bindung in Form und ewige Sprengung der Form. Dämon ist das, was aus der gestillten inneren Lebenskraft sich absondert, um diese für seine Erscheinung allein zu vergewaltigen, statt dem Ewigen dienende Symbole zu schaffen. Ist alle „gewollte" Form somit Abfall vom Dienst am Ewigen, ein Heraustreten aus der wahren Wesenhaftigkeit des Schöpfers, so ist sie damit zugleich qualvolle Eingrenzung des Dämonischen in sich selbst, weil es nicht Überquellen darf; sonst würde es sich seine eigene Manifestation zerstören. Denn es will sich mani­ festieren. Die Form ist ihm die zu seiner Selbstverwirklichung notwendige Bindung, die es doch haßt und deshalb immerfort sprengen möchte und auch immer wieder sprengt, um sich endlos neu als „Wille zum Dasein" zu manifestieren. Es muß ruhelos neue Form ergreifen, neue Form schaffen, muß sich entwickeln ins Endlose. Auch der Geist, wenn er so sich selbst bejaht und entwickelt, ist Dämonie. Setzt er stch Gott gleich oder setzt er sich wie Gott und mit Gott ins Regiment, so ist er höchste dämonische Geistig­ keit. Und das mag im lebendigen Kosmos in vielerlei Form leben und ist vielleicht nicht nur an den Menschen und die uns bekannte Natur im engeren Sinn gebunden. So muß das Dämonische seiner Natur nach, um zu erscheinen, sich abgrenzen, stch binden. Es darf nicht durchscheinend werden für 13

195

den „heiligen Jnnenraum"; es muß Schleier bleiben. Und doch ist ihm diese Bindung seinem Wesen nach unerträglich. Ist diese Qual nicht Zustand der Verdammnis, stets neue Vertreibung aus dem „Paradies"? Richtiges Bild der Verdammnis und eben diese selbst? Auf diesem metaphysischen Sinn und Zustand beruht die Gestaltung der Natur und des Menschenlebens, soweit es Natur ist. Die Überwindung dieses unseligen, mit sich selbst endlos ent-

tweiten Zustandes und dieses ewigen Sichdrehens und Begehrens zu sich selbst und doch gegen sich selbst — die Überwindung dieses Zustandes wäre wahre Gotteskindschaft, wäre das mythische Paradies, wäre Leben als Symbol des Ewig-Heiligen, wäre Rückkehr zur Heimat. So gesehen ist alles äußere Leben und jedes Innenleben dämonisch, sobald es sich und insoweit es sich selbst meint, seine Einzelform sucht und will, sich vollenden und entwickeln will, statt einzig und allein lebendiges Symbol vor Gott dem Ewigen zu sein. Darin ist es abwegig, dämonisch und letztlich unwirklich. So kann man alle Natur auffassen als „Wille zur dämonischen Selbstverwirklichung". Das, was Schopenhauers Philosophie als den Willen zum Dasein mit seinem ganzen immanenten und transzendenten Elend uns gibt, ist einzig und allein dieser Wille zur eigenen Form. Schopenhauers Philosophie ist geradezu die Philosophie der Natur des Dämonischen. Denn auch seine Er­ lösungslehre ist ein umgekehrter dämonischer Prozeß. Er sieht nicht, daß auch dieses buddhisch-intellektuelle Sich-selbst-Vollenden und Sich-selbst-Verneinen immer noch bewußtes Bejahen des Bestehens der eigenen Form und des Willens zu sich selber ist. Darüber hinaus führt und darüber steht das Evangelium von der Erlösung durch den „Tod des Gottessohnes". Die sichtbare Natur ist der Unseligkeitszusiand, entsprungen aus jener inneren Verkettung. Dafür ist sie Ausdruck; das ist ihr Sinn. Der Sinn des physischen Daseins des Menschen ist Heraus­ schleuderung aus jener Seligkeit; ist Bannung in die Bewußt­ heit; in die Vielheit; in die Daseinsform von Raum und Zeit; in das Gegenüber; in den Zustand von Subjekt und Objekt. Das alles ist Dämonie. Nach außen tritt dies als immer erneute, zeitlich

196

bedingte und räumlich verteilte sichtbare Gestaltung hervor. Der Mensch muß unterscheiden zwischen Außen und Innen, zwischen Seele und Körper. Es ist die „Entzweiung". Seitdem ringt als fichtbar physische Schöpfung das Beruhigte mit dem Sichwollen; das in Gott Ruhende mit dem Entbundenen; das Ewige mit dem zeitlich Endlosen. So im Menschen; so in der Natur. Und dessen Aufnahme- und Detätigungsorgane sind Sinne und Intellekt. Wenn wir also über den Sinn der Urform der Ansicht waren, daß die gesamte Herausstellung des natürlichen Organismen­ reiches zuletzt eine Darstellung des Menschen als Idee ist, so muß, weil das Ziel des Menschenlebens die Rückkehr zur reinen inneren Idee des Menschen selbst ist, die in der Naturgeschichte vollzogene Abspaltung des Tierischen zugleich die immer weiter fortgesetzte Abspaltung der dämonischen Potenzen von ihm sein. Dieses Dä­ monische, in den Formen der physischen Natur lebendig, schlägt auch naturgesetzlich seine eigenen Entwicklungswege ein, sucht seine Form um ihrer selbst willen zu erweitern, emporzutreiben, zu vermannigfaltigen. Es ist symbolisch eben das, was wir in den erdgeschichtlichen Epochen als Entwicklung des organischen Reiches vor uns haben. Zugleich muß es von ursprünglich einfacheren Formen zu immer einseitiger spezialisierten führen, ja es muß zu Übertreibungen, zur Sprengung und Erschöpfung

der Form von innen her kommen. Das ist vielleicht der innere Grvnd, weshalb die Formenreihen der einzelnen Typen mit „primitiven" Arten beginnen und in extrem spezialisierten endi­ gen, während der Mensch immer einfacher wird und zuletzt am klarsten als Mensch heraustritt. Ist solcherweise, wie schon gezeigt, die Entstehung der Typen in der organischen Natur ein Symbol des Menschwerdens, zeigt die organische Natur auseinandergelegt die inneren Potenzen des Menschenstammes als Gesamtnatur, so ist die spezifische Entwick­ lung der Typen selbst in immer wieder neu abgewandelten, weiter differenzierten und spezialisierten Arten und Gattungen Symbol des Einschlagens eigener Entwicklungswege, die wir nun als Ausdruck der sich selbst bejahenden Naturdämonie an­ sehen müssen.

Man könnte also den Versuch wagen, die historische Entwicklung der Formgebung auf dieses Prinzip hin anzusprechen, so etwa, wie man die Entwicklungsgeschichte der Menschen und Völker oder einzelner Heroen betrachten könnte. Es handelt stch dabei nicht mehr um eine morphologische Systematik, sondern um eine physiognomische Morpholagie der Evolution der organischen Welt durch erdgeschichtliche Zeiten, wenngleich es, ehe eine solche Wissen­ schaft grundlegend ausgebaut ist, nur bei einem tastende» Versuch bleiben kann. Bei den organischen Formen kennen wir nicht, wie beim Menschen, unmittelbar das aus dem seelischen Erlebnis stch Ge­ staltende, sondern müssen, soweit wir nicht hellseherisch oder bedeutsam-traumhaft in die Natur schauen, durch erfühlte Ana­ logien die gesuchten Bedeutungen erschließen. Aber doch bietet uns die naturhistorische Entwicklung des Lebens auf Schritt und Tritt Belege für die so geartete Entwicklung und Wandlung innerhalb der Typen. Stets am Anfang primitivere Formen, meistens körperlich von kleinerem Habitus als ihre späteren Abkömm­ linge, die immer mehr sich in Formenreihen spalten, spezialisieren, die Form aus archäischem Zustand in einen immer einseitigeren überführen, ja bizarr werden und dann gewöhnlich aussterben. Zugleich breiten sie sich damit unter Anpassung und einseitiger Einstellung auf ganz bestimmte Lebensarten in immer weitere Lebensräume aus, nicht nur im Sinn der bloß flächenhaft größeren Verteilung, sondern auch durch Eindringen in die verschieden­ artigsten Lebensbedingungen innerhalb desselben Lebensraumes. Waren sie zuerst Bodentiere des Meeres, so entfalten sie sich auch noch zu Schwimmtieren, ja sie steigen aufs Land. Landtiere, die zuerst ein Vierfüßlerleben führten, wandeln sich auch zu Luft­ bewohnern um, einige von ihnen paffen sich auch dem Leben im Meere an. Die Mollusken, die Krebse, die Reptilien, die Säuge­ tiere bieten zahlreiche derartige Beispiele, wenn wir die Folge der Formen in den Erdzeitaltern überblicken. Indessen geschieht das alles, wie schon früher (S. 77 ff.) geschildert, innerhalb des Typus einer Grundorganisation, und in dieser Richtung gilt auch ganz zweifellos die Abstammungs- und Verzweigungslehre, wie 198

sie bisher aufgefaßt wurde, währeud die Herkunft des Typus, der iunereu Urform rätselhaft bleibt und nua nicht als einfach stammbaumartige Derjweiguug und des übergehens aus dem einen in das andere verstanden «erden kann, sondern nur als unmittelbare Objettivierung des „Lebendigen an sich". Wenn wir das Dämonische zu charatterifleren suchen als Formgebundea, heil, die sich jur Überbetonung des eigenen Wesens selber bindet, um eben der Eigenbetonung wegen sich wieder zu sprengen, ja extrem zu verzerren und daran zugrunde zu gehen, so ist uns in jenen häuserhohen reptil- und schlangen- und drachenhasten Wesen der Dorwett das Hypertroph-Naturhafte der Dämonie in der äußeren Form besonders anschaulich vor Augen gestellt, ganz zu schweigen von den unzähligen analogen Fällen, wo es sich nicht gerade um Riesenformen handelt. (Dgl. S. 138/39.) Der Eindruck dieser, die eigentlichen Lebensmöglichkeiten stets wieder in Frage stellenden, die Grenzgebundenheit des inneren Typus immer wieder zu durchbrechen trachtenden Verfassung der sich selbst überlassenen Natur kommt auch in anderen Entwick­ lungserscheinungen der Lebensgeschichte noch zum Ausdruck. So gibt es eine Größenzunahme der Formen in den einzelnen Sippen und Spezialtypenkreisen, deratt, daß im allgemeinen am Beginn der Entwicklungsbahnen die Gestalten Kein sind, dann größer werden, um endlich am Höhepuntt der Differenzierung in Riesen­ formen zu enden. Auch das ist eine ungeheure Übertreibung der Form, bei der geradezu das Individuum als solches in stärkstem Maße selbstbetont erscheint, gewissermaßen zu Ungunsten der Att, zu der es gehört. Denn wenn man bedentt, daß die Att als solche dann am besten gedeiht, am ununterbrochensten und in steter Verjüngung sich manifestieren kann, wenn die Individuen mög­ lichst kurzlebig und daher innerhalb ihres Zeit- und Lebensraumes möglichst zahlreich sind, so sind die Riesenformen eben jenes Stadium der Attentwicklung, «0 dies am wenigsten mehr möglich ist. Denn es ist eine Erfahrungstatsache, daß die Riesenformen vergleichsweise ein sehr hohes individuelles Alter erreichen, wie sie auch wegen des Nahrungs- und Raumbedürfnisses, selbst wenn sie in Herden auftreten, nicht so zahlreich sein können, wie kleine

Formen ihrer Art. Daß diese Tendenz zur Größenznnahme auch einzelne Organe betrifft, ist nur ein Spezialfall davon und be­ stätigt zugleich den erwähnten Drang, ins Bizarre auszuschlagen. Und gerade solchen, den Charakter des Dämonischen am offen­ kundigsten enthüllenden Erscheinungen gegenüber hat die doch so unmetaphysisch sich gebärdende Schulwissenschaft selbst sogar nichts anderes gewußt, als von „Übertreibungen" der Natur, analog dem physikalischen „Gesetz der Trägheit" zu sprechen, wonach ein in bestimmter Entwicklungsrichtung befangenes Organ in seiner Gestaltung nicht rechtzeitig Halt mache und so die nützlich sich entwickelnde Eigenschaft blind in ihr Gegenteil verkehre. Wenn also die Biologie solche „offenkundigen Unzweckmäßig­ keiten" in der Entwicklung lebender Wesen ganz richtig als solche erkannte, so ist das nicht, wie man gemeint hat, ein Beweis­ mittel gegen den letzthin schöpferisch bestimmten inneren Sinn der Natur, sondern ist ein Beweis mehr dafür, daß die Natur überall selbstbejahend und doch bis zur Selbstvernichtung heillos dem dämonischen Gestaltungsprinzip ausgeliefert ist. Ist nun der Mensch, wie gezeigt, jene zentrale Wesenheit, durch die und um derentwillen aus der inneren transzendenten, die Ideen ihrer Form rein darstellenden Natur die äußere, die entzweite, die „schuldige" ward, so ist die Außenseite dieses tief innerlichen, sich naturhistorisch manifestierenden und täglich noch fortwirkenden Vorganges eben die Erscheinung der physischen Natur, wie wir sie seit ältester Zeit bis zur Stunde sehen, an die wir innerlich verhaftet sind. So ist auch die „Entwicklung" mit ihrer sich selbst suchenden Formgestaltung, Formbindung und Formerweiterung echtester symbolischer Ausdruck für das Dä­ monische im Naturdasein, als immerwährende „Straft für die Gottabwendigkeit, den mythisch-wirklichen Sündenfall aus dem Paradies. Und so sind die Formen der Natur — auch der unterorganischen Natur zuletzt, insofern sie eine latente innere Lebendigkeit haben — Zeugen und Ausdruck der Dämonie, be­ gründet in einem inneren transzendenten Schuldverhältnis, unter dem sie lebend frohnen. Nur der „Typus an sich" ist reine Idee. Aber der Mensch ist eben darum auch jenes Wesen, das nun

bewußt den Weg 'von der Dämonie weg, also den der „Natur"

entgegengerichteten Weg einjuschlagen hat und einschlagen kann. Insofern ist der Sinn seiner Evolution das Gegenteil der tierischen Evolution. Er soll innerlich aus der vollen dämonischen in die immer reiner die Idee des Göttlichen darstellende Form des Daseins übergehen. Das aber muß sich im Äußeren als einem Symbol spiegeln. So mag es kommen, daß die jüngste erdgeschicht­ liche Menschenform naturhaft primitiver ist, d. h. dem Idealbild des Menschen näher kommt als alles, was um sie herum vorzeitlich bestand und was vermutlich auch ihr selbst als Menschen­ form noch vorausging. Das Tierreich schlägt in seiner Evolution immerfort von neuem den Weg aus dem Primitiven und der dem idealen Typus sich annähernden Formgestaltung nach der Überspezialisation ein; der Mensch umgekehrt. Denn immer mehr stößt er das Dämonische in seinem Wesen als Tierisches ab. Und dies sowohl in der transzendenten Idee, wie in ihrem Symbol, der naturhistorischen Entwicklung seiner Gestalt. Darum mögen älteste Menschenformen auch bizarr gewesen sein, und der heutige Mensch ist „primitiv" (S. 174 ff.). Der Menschenstamm entließ immer mehr Tierhaftes aus sich, je jetztmenschlicher er sich selber in der Natur darstellte; darum sind die höheren Tiere der letztverflossenen erdgeschichtlichen Zeit uns Jetztmenschen ähnlicher als die früheren; zuletzt ist der Diluvialmensch und der Australnegertypus hinter dem Vollmenschen zurück­ geblieben. Es könnte also sein, daß ein künftig noch entwickelterer Menschentyp eben darin seine „Entwicklung" sähe, daß er neben sich als tierhaftere Form zurückläßt, was wir jetzt sind. Der er­ träumte „Übermensch" gewinnt damit naturhistorisches Gewicht.

Der spätere, uns als geringeren Menschentyp zurücklassende Voll­ mensch wäre aber dann nicht quantitativ mehr als wir, sondern in gewissem Sinn weniger: er hätte auch unser Tierhaftes noch ganz oder zum Teil hinter sich abgestreift und zurückgelassen. Aber er wäre innerlich mehr, denn er wäre der reinen Idee des Menschen noch näher gekommen; er wäre ein noch vollendeteres Symbol der „Urform". Das Suchen nach einem Wissen um die Jenseitigkeit des organi-

schen Daseins ruht daher nicht ans dem romantischen Glauben an die Harmonie aller Natur, wie sie sich uns von außen darstellt und uns selbst als Naturwesen mit einschließt und die wir als durch und durch dem Dämonischen verfallen wissen. Nicht Gott-Natur predigen wir, sondern Dämon-Natur als Abfall von Gott und Unerlöstheit. Immer ist sie mit sich im Widerstreit, immer herrscht der Kampf ums Dasein. Aber die Formen schafft nicht der Kampf ums Dasein, sondern die Formen entstehen und haben in sich den Sinn des Dämonischen. Und daraus entsteht der Kampf ums Dasein als Ansdruck der unparadisischen entzweiten Natur, deren Kern und Wesen die Idee des Menschen ist. Die Sagen und Mythen sind voll dieser Erkenntnis. Wir brauchen nur an Homers Odyssee zu erinnern, die geradezu ein Mythus dieses Kampfes des Tieres im Menschen, des Menschen als Idee mit dem Menschen als Natur ist; von den Mythen der Natur- und UrvSlker ganz zu schweigen.

6. Dämonie der Menschennatur. Wir können weder als Philosophen noch als Naturforscher sagen, welche inneren Zusammenhänge es sind, aus denen Gott die Welt erschuf. Aber wir können wissen, welchen Sinn das Menschsein hat, weil wir imstande sind, in unserem eigenen Inneren Umschau zu halten und in der Erkenntnis unser selbst zu erfahren, von welcher Art wir sind und in welchen inneren Zusammenhängen wir zur Welt, zum Dasein stehen. Aus uns selber erfahren wir es. Der Mensch allein hat die Bewußtheit seiner ewigen Idee, und damit die des Dämonischen, dem er als Natur verfallen ist. Das Tier repräsentiert in der Idee, — auch in Kunst und Wissen­ schaft, soweit sie religiös gerichtet ist — das Dämonische; der Mensch in der Idee das Heilige. Wo das Menschenbild dämonisch erscheint, wissen wir, daß es hier nicht seiner ewigen Bestimmung dient. Darum ist das trieb­ hafte Naturleben das Gemäße für das Tier; für den Menschen nicht. Das ist die Unerlöstheit der Kreatur, die mit uns nach Be­ freiung „seufzt". Und das der Grund, weshalb die Erlösungs­ religion nichts mehr vom Tier als Ziel und Zweck der Religiosität

weiß. Muß also bas Tier, wollen wir es in seinem innerlich wirk, lichea Wesen erfassen, uns zum Symbol der Entwicklung des Menschen als Natur werden, zum Symbol des Dämonischen, so muß der Mensch selbst uns Symbol des Heiligen, seines Ursprungs werden. Erst wo des Menschen Sein nur das ewige Sein sucht, in sich einströmen läßt und ihm zum Symbol wird, das Dämonisch,Naturhafte von ihm abfällt — das ist der Christus gegenüber dem Adam — fällt auch das „$iet" von ihm weg, inner, sich und äußerlich als Natur. Die Welt, das Dasein, wie es uns gegeben ist und wie es mit keiner Ästhetik und billigen Romantik,

die sich über das Nur,Tragische hinwegschwingt, in seiner ganzen geschichtlichen und mythischen Wirklichkeit beseitigt werden kann, ist der uvparadiestsche Zustand des aus seiner eigentlichen, Gott zugewendeten und in Gott ruhenden Bestimmung gerissenen Menschenurbildes. Wir wissen das Dasein als Symbol innerster Zusammenhänge; und um die Erkenntnis dieser Zusammen, hänge, wie um den entsprechenden Ausdruck hierfür geht aller geistiger und weltlicher Kampf der Menschheit, zu allen Zeiten ihrer Geschichte. Dem dient, bewußt oder unbewußt, auch alles Gemeinschaftsleben, alle Staatenbildung, alles Suchen, Ringen und Forschen, alle Wissenschaft und Kunst. Es ist der Kampf des Menschen als Idee mit dem Menschen als Natur. Darin er­ leben wir symbolisch das wahre Dasein; darin ringen wir sym, bolisch um unsere wahre Bestimmung. Und Zweck des Menschen, lebens ist, wenn man so sagen darf, ist die „Verwirklichung" der reinen heiligen Idee des Daseins, zu dem wir gehören, die in uns liegt und in uns sich darstellen will. Sie ist uns eingeboren; und wenn auch nicht jedem Einzelnen oder jeder Epoche gleich bewußt, so doch zuletzt innerste Erkenntnis des Menschen über, Haupt. Don zweierlei Urgrund her steht der Mensch, wie er ist, dem Dämonischen offen und unterliegt ihm. Einmal dadurch, daß er als „Natur" unter der Erbsünde gegen Gott im weitesten allgemeinsten Sinn geboren ist und sich als Einzelindividuum in ihr vorfindet. Dom „unschuldigen" Menschen, auch vom un, schuldigen Kind kann ja nur in einem relativen und sentimentalen

Sinn die Rede sein; was wir beim Kind unschuldig nennen, ist nur, daß es der generellen Schuld gegenüber, die es mit in sich trägt, noch individuell unbewußt bleibt. Insofern gibt es auch erwachsene unschuldige Kinder, und vielleicht findet sich die Unschuld noch am reinsten in dem Menschen, der durch alle Nöten des Lebens, des Geistes und der Seele hindurchgegangen ist und nun Gott offen steht. Das mag die Idee des Heiligen sein. Aber es gibt den Heiligen nur in der Idee, nicht in der empirischen Person, die höchstenfalls mit ihrem Wesen und Sinnen Hindeutung, Symbol der Idee sein mag. Der andere Grundquell, von dem her der Mensch dem Dämonischen offen steht und ihm an sich unterliegt, ist, daß er als „Natur" in Begehren, Trieb, Leidenschaft lebt, wie jede geprägte Form, die lebend sich entwickelt; wovon die negative Seite Trägheit des Geistes und Herzens ist. Dies alles weckt in ihm und nährt immerfort das in ihm Dämonische, weckt es in seinem Leben, in seiner Seele und seinem Geist, wodurch er selbst es in der Welt und als Welt in immer erneuerter Form zur Gestaltung bringt. In altmythischer, eng naturverbundener Zeit geschah dies unmittelbar naturhaft; in jüngeren Zeiten intellektuell. Wenn dieses Gestalten des Dämonischen mit natursichtiger Kraft und Fähigkeit geschah, war es Zaubern in seiner echtesten lebendigsten Form; wenn es heute intellektuell geschieht, ist es das, was wir gedankenlos und in eitler Selbstbespiegelung Fortschritt und Aufstieg der Menschheit nennen, und seien es auch herrliche geistige Errungenschaften. Geschieht es in niedriger gemeiner Absicht, dann ist es teuflisch; geschieht es in uns wider den Willen und das bessere innere Wesen, dann ist es Besessenheit, naturhafte oder kultivierte. Die Dämonie wird nur dort zur persönlichen Schuld, wo sie bewußt oder gewollt wird; sie ist generelle Schuld oder Erbsünde, wo sie unbewußt und angeboren, also bloß Natur ist. In dieser Lage befindet sich das Tier; in einer Mischung von beidem der Mensch. „Schuld" ist sie in jedem Fall, und so wurzelt unser Geborenwerden, wie alle „Natur", in jenseitiger Schuld. Der Sündenfall vollzieht sich immer neu. Darum sind dort, wo der „Erlöses noch nicht er­ schienen ist, wo er nicht lebt, die Gottesbegriffe und die Götter-

symbole die des Dämonischen. Und dies gewiß nicht nur bei den „Heiden". Es entspricht die innere Wirklichkeit, die dargestellt wird, der Seele des Schanenden, sei es eines Einzelnen oder eines Volkes. Das Innere des Daseins erscheint so, wie des Menschen Seele selber ist. Was bedeutet, daß wir zu kämpfen haben gegen uns selbst, ohne Unterlaß. Andernfalls ist es immer die Form um ihrer selbst willen oder um ihrer magischen Wirkung willen, die wir anbeten, der wir Kult darbringen. Kult aber in jeder Form, in der er auftritt, und sei diese auch die geistig feinste, heißt immer: Zauberei. Damit ist noch nicht gesagt, daß er schlechthin verwerflich sei. Er kann eben durch das Symbolische auf das Ewige und die schweigende Anbetung Hinweisen. Aber doch ist jedes Symbol, um seiner selbst willen gesetzt, Dämon. Ist es nur ein mit dem gewöhnlichen Wachverstand geschaffenes Abbild, so ist es, ebenso wie eine blutleere Wissenschaft oder eine blutleer gegebene und genommene religiöse Lehre, ein toter oder schlafender Dämon. Wacht dieser auf, erfüllt er sich mit Leben, reißt er das Leben, das immer jenseitiges Leben ist, an sich, nährt er sich damit und meint und will er sich, liebt er seine Form um ihrer selbst willen — und das alles vollzieht sich im Begehren des Menschen selbst, bewußt und unbewußt — dann ist es ein lebendiger Dämon, ist Götzendienst. Wenn sich das Dämonische rein triebhaft, naturhaft verhält und so auswirkt, ist es „Tier", untermenschliche Natur, auch im Menschen. Wenn es sich mit dem Intellekt paart, ist es „Teufel" und sei er es auch in angenehmster, ja licht­ bringender Gestalt, als erkennender aufklärender Lucifer. Alles Dasein nun, das wir als Naturdasein kennen, auch unser eigenes, soweit der Mensch Natur ist, ist überhaupt nur solches ichliebendes, ichbegrenztes Dasein. Jede Kunst, jede Wissen­ schaft, jede Religion und alles, was wir denken, wollen und schaffen, kann ebenso naturhaft, dämonisch, abwegig, gottabfällig sein. Das ist die grundsätzliche Heillosigkeit alles Daseins als „Welt", die mit sich und aus sich nie zur Erlösung gelangt. Darum heißt es aus dem Munde des Erlösers: Lasse die Welt und dich selbst, der du Welt bist; diene dem Ewigen in deinem Verhalten, deinem

Schaffen und Tun; sammle dir nicht Schätze „ans Erden". Das ist der Geist der Bergpredigt. Wer könnte ihn erfüllen? Grundsätzlich ist alles Dasein als Form und Natur dem Hell abgewandt. Und doch ist jenes der Weg jvm wahren Leben aus der selbstwollende» Abschnürung heraus zur „Freiheit der Kinder Gottes". Darum war es symbolisch eine hohe Weishell, als die Gesetzestafeln vom Sinai verkündeten: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen." Alles, was über diese Haltung der Seele hinausgeht, und sei es geistig noch so bedeutend und für das Gefühl noch so hehr oder lieblich, kann Dämonie sein. Auch Wundmale der Betenden können das Ergebnis lieblich-dämo­ nischen Schmerzensreichtums und unheiliger Selbsterhebung sein. So ist des Menschen Leben ein steter Kampf zwischen dem Begehen und Neuverwirklichen der Schuld und einem Gewissens­ kampf gegen die Schuld, bewußt und unbewußt. Der Mensch bejaht die Dämonie durch sein Naturdasein, hilft ihr zur äußeren Betätigung; und verneint die Dämonie, sei es durch den Kampf des Michael mit dem Drachen, sei es durch stilles Sich-Lassen^ Versenken und Anbetung Gottes in tiefster geistlicher Armut in stch selbst. Wahres Leben ist fürchterlichster Kampf gegen stch selbst. Denn immer sucht das Ich seine Form und liebt fie. Und immer wieder bleiben wir mit unserem endlichen Menschenwesen, mit unserem Erkennen und Schaffen im Diesseits, bleiben wir in die Natur verstrickt. Noch sehen wir „nur in einem dunkeln Spiegel, nicht aber von Angesicht zu Angesicht". Und alles noch so erhabene Menschengefühl, meint immer wieder sich, erweitert sich und kann nicht zu der stehenden Selbstvergessenheit im reinen anbetenden Schauen gelangen, wo es Symbol des Ewigen würde. Darum birgt es eine große Gefahr, selber sich vollenden zu wollen. Denn auch der Teufel war, wie die Sage erzählt, ein gottzugewandter Engel, ehe er auf sich schaute und sich vollenden wollte. Da stürzte er in den Abgrund und riß den Menschen nach. So birgt es eine große Gefahr, aus sich selbst, aus eigener ichbetonter Kraft vollendet sein zu wollen. Nach außen in sitt­ licher Hinsicht erzeugt es Eitelkeit, oder Pharisäertum, oder Starr­ heit, oder engstirnigen Fanatismus und Menschenfeindschaft.

Dennder Mensch kann grundsätzlich nie die Dämonie der Natur von sich aus überwinden; er muß harren der Erlösung. In seiner dem Jenseitigen jugewandten „Haftung" aber läßt er Gott in sich einströmen, wenn er sich selbst gelassen hat. Da kommt ihm das Licht. Doch er wird nicht Gott. Wollte er das sein, wollte er in diesem schauenden heiligen Augenblick, statt sterbend das höchste Leben ju empfangen, sich selbst ju Gott werden lassen, sich selber Erkenntnis schaffen, neigte er sich nur mit einer Keinen Bewe­ gung dahin, statt avbetend und empfangend in Demut ju stehen — so ist er wieder dem dämonischen Geist verfallen, dessen Ver­ lockung ihn aus dem Paradiese stößt. Schmal ist der Weg, der jum Leben führt. Wo wir hineingreifen ins Leben, stehen die Formen der Dämonie da. Es wäre eine verlockende Aufgabe, die Staaten, die Religionen, die Gesellschaft, die Wissenschaft, die Philosophie, die Kunst so anzusehen, und auch einzelne Menschen, seien es Heroen oder Philister, so zu betrachten; die verhaltene, die tätige, träge, ausbrechende sich selbst vernichtende Dämonie da zu sehen. Denken wir an den straffen Staat, regiert von einer sich wissen­ den Willenskraft, sei es Einzelner, sei es ganzer Schichten. Im ge­ gebenen Augenblick tritt er hervor, nachdem alles auf diesen Augenblick der Kraftentfaltung vorbereitet war. Eines Reiches Zweck ist, sich zu vergrößern, sagt der Dämon Friedrichs des Großen. Wo dies gemessen geschieht, ist es naturhaft „gesund". Wo es aber weder verhalten ist, noch auch planlos sich immerzu dem und jenem anheimgibt, sondern schäumend überschlägt, da kann es seine ihm naturgemäße Form so sprengen, daß es daran zu­ grunde geht. Ein Bild davon ist das Frankreich Napoleons des Ersten, und dort lebt in der Volksseele dieser dämonische Wille heute noch. Träge Dämonie aber ist es, die Form festzuhalten, um sie nicht mehr sprengen und erweitern zu müssen. Das ist die Philistrosität im Moralischen; oder die Verknöcherung der Glau­ bensgemeinschaften im Religiösen. Man kann alles dieses nun gegenüberstellen der Idee, seine Aufgabe im Angesicht der Ewig­ keit und um der reinen Idee des Menschen willen zu erfüllen. So gibt es auch eine wahre und besonnene Friedensliebe; und 207

eine träge dämonische. Letztere heißt, da sie intellektuell und unhei, lig ist: Pazifismus. Entspringt sie aus der Tiefe der Seele und meint sie wirklich die ewige Idee der Menschheit, dann ist es Frie­ dens- und Menschenliebe. Sobald wir eine intellektuelle, gekünstelte Wortblldung gebrauchen müssen, die wir ans den alten Sprachen herüberbastardieren, steht es jedesmal für unsere deutsche Seele schlimm um die Sache. Es ist uns dann nicht angemessen, ist nicht Gefühl der ewigen Idee, die wir in uns tragen, ist uns vom Intellektualismus, aus Westen oder Süden aufgepfropft. Pazi­ fismus, Parlamentarismus, Darwinismus, Militarismus, Kom­ munismus, Ultramontanismus — das sind solche Charakteristika falscher Seelenverfassung von dämonisch intellektueller Herkunft. Wie ganz anders, wenn wir wirklich aus dem Innersten heraus sagen können: Menschenfrieden, Reichstag, Entwicklungslehre, Wehrhaftigkeit, Volksgemeinschaft; und wenn wir erkennen, daß Ultramontanismus die Verzerrung jenes uralten deutschen Seh­ nens und Glaubens ist, das „über alle Berge" hinüberdringen will zur „ewigen Stadt", die ihm nun im irdischen Rom als ihrem Symbol sich spiegeln sollte. Dann ahnen wir etwas von der Idee und inneren Wahrhaftigkeit, während das Äußere, als Wirklich­

keit und Wahrheit um seiner selbst willen genommen, Götze, dämonische Verzerrung wird. Auch das, was wir Zweckmäßigkeit des Denkens und Handelns nennen und was im Leben recht und erfolgreich vorwärts bringt, ist durchaus dämonisch naturhaft gerichtet. Es will sich, sei es als Einzelnes, sei es als Verband. Es schließt anderes aus und betont sich, will sich. Denn „Zweckmäßigkeit hat immer zur Voraus­ setzung, daß etwas besser, wertvoller, geeigneter ist, um uns zu dienen, als ein anderes, und das daher erstrebt wird. Es ist das Gegenteil der wahren „Gelassenheit". Alles Organische in der Natur ist in diesem Sinn zweckmäßig und strebt naturgemäß, sich so zu verhalten, damit es unter bestimmten Bedingungen seine Jndividualform zugunsten seiner eigenen engen Art erhält, „leben" kann. Daher bezeichnet die indische Heilslehre und darin nicht anders die Bergpredigt das ichbetonte Eigenwesen, das sich in der Welt zu erhalten sucht, als abwendig von Gott. Der

Mensch kehrt durch Aufgeben des Ich in den Schoß der Gottheit, in das Nirwana, in die Erlösung zurück. Zweckmäßigkeit, Nutzen ist innerhalb des Bewußtseinskreises stets vorhanden. Denn da gibt es ein Vielerlei, da gibt es Ursache und Wirkung, da gibt es Rich­ tung und Einstellung, da gibt es lieblose Bewertung. Im AllEinen ist davon nicht die Rede. Da hat alles gleichzeitig ineinander, miteinander Raum und Freiheit; alles hat da stets und immer gleichen Wert, innern lebendigen Wett. Da es dott kein Besser und Schlechter gibt, so gibt es auch nicht Zweckmäßigkeit im gewöhn­ lichen Sinn, nach dem äußeren Verstand. Dort wo wir eingehen in das All-Eine, haben wir ein reines Schauen, begehren wir nichts, sondern beten an und geben uns hin; aber dort wo wir im Dielen, in der Welt wirken, handeln wir nach Zwecken, nach Absicht und Nutzen. „Absicht" heißt auf etwas absehen; nicht das Ganze schauen, sondern in begrenzter Linie auf einen Punkt, auf ein Einzelnes blicken. Einzelnes ist aber immer „Wdl", ist Dämon. Insoweit es sich will, ist Eins eben nur unter Vielen. Da herrscht Maß und Zahl, Zeit und Raum. Darum wird man immer im Augenblick des Handelns und Wollens, des Tuns nach Zwecken einseitig, ungerecht sein; anderes auf Kosten des Gewollten vernachlässigen, benachteiligen. Daher preist auch Schopenhauer den Menschen als den vollendetsten, der eine Sache um ihrer selbst willen, d. h. das Ewigkeitssymbol in ihr ansehen kann. Don höherer Warte aus gesehen — wir können es ja Alle nicht, oder nur selten — ist jedes Zweckmäßigkeitsdenken, jedes Denken auf Nutzen gottlos. Daher in der Bergpredigt das Wort: „Sorget nicht für Euer Leben!" Alles, was seinen eigenen Zweck verwirklichen will, setzt die Form an Stelle der Anbetung des Ewigen. Dort, wo das Ewige angebetet wird, ist von Zweck und Zwecken nicht mehr die Rede. Es ist die nicht begehrende Schau. Nun ist es dem Denk­ verstand naturgemäß, mit Zweckabstchten zu denken; etwas anderes kennt er nicht. Darum ist das bewußte und absichtliche Denken auf jeden Fall dämonisches Handeln und nicht mehr reines Wollen des Ewigen, selbst dann nicht, wenn dieses als Zweck des Handelns hingestellt wird. Jedes intellettuelle Be-

Handel» des Ewigen ist schon kein Gottesdienst mehr, wenn es ohne den hinweisenden Sinn geschieht, sondern ist Art der Dämonie. Also avch der „Glaube", der so begründet und gerechtfettigt wird, ist kein wahrhaft das Jenseitige ergreifender, kein unbedingter, kein aus stch lebender und den Menschen überwältigender Glaube mehr. Sobald das Geschöpf sich um seiner selbst willen denkt — und es mag in anderen Sphären auch „denkende" Geschöpfe geben — ist es nicht mehr schuldlos dem HeUigen zugewandt, sondern abwen­ dig und dem Dämonischen zu gerichtet. Darum war die Ursünde gegen das Ewige und Heilige dies, daß das Geschöpf sich selber denken und denkend erkennen, also denkend erschaffen wollte. Nun sind wir darin und tragen die unseligen Folgen. Vielleicht, daß das Gotteswesen dem Menschen einmal das Erkennen und die Bewußtheit des Denkverstandes als ein Geschenk verliehen hätte; aber der Urmythus lehrt, daß der Menschengeist es sich vorzeitig selber nahm, ehe es ihm als reife Frucht selber vom Baume fiel. Es ist innerlich durchaus klar, daß in jenem Augen­ blick der Erzdämon, die „Schlange", den Rat zum Brechen des Apfels gab. Damit ist der Fluch gekommen. Denn seitdem meint das Menschenwesen immer wieder sich selbst und seine oder die von ihm geschaffene Form, die sich vollenden, sich in sich selber erschaffen will. Hier liegt auch der Grundirrtum bestimmter moderner religiöser Lehren. Wo die Kraft eines bedeutenden Menschen aus seinem Inneren bricht und sich in Taten oder Werken äußert, die uns erstaunen oder erschaudern lassen, sehen wir neben dem Symbol des Heiligen, das er uns ahnen läßt, seinen Dämon sich offenbaren. Solange wir in der Idee rein anschauen, mag der Dämon wesenlos sein und das Göttliche allein dastehen. Sobald das Werk heraus­ tritt, sobald es Natur wird und der Genius wieder in sein persön­ liches Bewußtsein eintritt, ist der Dämon da, wenn auch vielleicht gebunden, so doch lebendig wirksam. Die ungebändigte Musik Beethovens, das Ausstößen des „Werthes aus Goethes dun­ keln Tiefen, die Wucht Bismarckischer Entscheidungen sind uns besonders große Äußerungen des Dämons, der durch einzelne Genien wirft und in ihnen lebt, der bald schlummert, bald aus-

bricht, bis er überwunden wird oder der Leib »erbricht. Wenn ein Heiliger nach Durchwandern der Abgründe der Seele für Augen, blicke hinübergerettet ist zu jener Stille, wo er das Sprechen des Schweigens vernimmt und nun den diesseits der Abgründe Zurückgebliebenen Worte »«ruft, aus denen ihnen ein bebendes Ahnen der jenseitigen Sonnenhöhen zukommt — da ist bet Dämon wesenlos geworden, das überwundene Raubtier liegt als Lamm zu des Heiligen Füßen. Er predigt von Gott und sogar die Steine sagen Amen. Aber wer ist ein Heiliger, und wo ist er? Er lebt, wie der heilige „Tempel", nur in der Idee, im Jen, seitigen. Hier, im gegenständlichen Sein und Werden ist immer das Gegenüber, ist immer der Kampf, ist immer der Dämon. Alles ist „Natur". Und das gilt nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für alle Gemeinschaften der Natur und des Men­ schenlebens. Alles das kämpft in sich, für stch, ist in steter Span, nung. Alles, was in sich selbst und mit anderem in Spannung ist und damit sich selbst abgrenzt und will, ist dämonisch; sei es das Kunstwerk, die Naturform oder das Menschenwesen. Sobald wir aus dem reinen Schauen, aus der schweigenden Anbetung herübertreten in die Jchbefangenheit, schiebt sich der Schleier zwischen uns und das Ewige. Das Schauen des inneren Lebens weicht abgegrenztem Selbstseiv. Wenn aber der Mensch jenen anderen Weg gefunden hat, dann schafft er eine Kunst, eine Philosophie, eine Wissenschaft, eine Religion, welche das Heilige verhüllt; welche es nicht in die Form hereinzerrt, sondern es in den Dingen des Daseins gegenwärtig sein läßt. Zugleich ist damit auch Sinn und Auf, gäbe des Menschseins dies: zur Erkenntnis jenes Zwiespaltes und seiner inneren Ursache zu gelangen; den Weg der Erlösung zu suchen, stch ihm zu erschließen, damit endlich alles wieder, gebracht werde in Gott, und das Paradies sich wieder öffne. Das heißt: Aus dem Sich-Gestalten-Wollen hinüberzutreten in das Schweigen und die innere Anbetung; aus der erkennenden Selbstgestaltung des Geistes, aus der Selbstbejahung in die Gottheit; aus der Dämonie in die Ewigkeit; aus der Ichsucht in die sich selbst vergessende Gottesliebe. Darum ist, wie ein weiser *4'

211

Mensch gesagt hat, der es aber nicht aus großer Philosophie und Gelehrsamkeit, sondern aus innerem Herzensgrund geschSpft hat — Dämonie alles, was nicht in jenem tiefsten, reinsten Sinn Liebe ist; was nicht aus Sehnsucht zu Gott, sondern aus dem Wunsch, dem Begehren, sich selbst zu vollenden, sich selbst zu bejahen, entspringt. So ist es Aufgabe und Ziel des Menschenlebens, als Ganzes wie in der einzelnen Persönlichkeit die ewige Idee zu reiner Ent, faltung und Vollendung zu bringen; aber nicht, um zu klassischer Schönheit zu gelangen, nicht um sich selbst zu spiegeln und besitzen zu wollen; sondern um das ewige Wesen, aus dem wir ent, sprungen sind, durch unser Leben ahnen zu lassen und zu ver, kündigen. Der Mensch als Natur aber strebt nach Selbstvervollkommnvng und endloser Erweiterung seiner selbst. Das ist das Kennzeichen der Dämonie. Auch wenn er, indem er sich selbst bejaht, glaubt, damit Gott zu dienen, treibt er dennoch Götzendienst. Es gibt sogar eine Weltentsagung und Heiligkeit, die Dämonie ist. Es ist jene eigenmächtige gewollte innere Selbstvollendung, die wohl ruhig geworden ist; aber ihre Ruhe ist Verharren im eigenen Natur, sinn und will sich selbst fühlen und bejahen. Goethe ist ein leuchten, des Beispiel dafür; und systematisch erzogen wird solcher Geist in dem geradezu stnnenhaft das Selbst überwindenden und damit doch das Selbst bejahenden Abart des Buddhismus, wie wir ihn kennen bei seinen europäischen Nachahmern. Das ist grundsätzlich der Antichrist zur Bergpredigt und dem Evangelium vom Tod und der Auferstehung, selbst wenn es uns in der edelsten Form menschlicher Angenehmheit entgegenkommt. Es ist immer Heiden, tum, auch wenn es Kulturchristentum ist. Denn Christentum in seiner Reinheit weiß nur von Armut, Gnade, Erlösung, nichts von Selbstvollendung oder gar noch Selbstvergottnng. Es ist Überwindung der Dämonie, nicht ihre Verfeinerung und Lieblich, machung. Wo es nicht lebt, herrscht immer — und sei es in der feinsten Form — „Heidentum". Darum ist es wirklich Abtrünnig, keit, wenn statt der Religion des Kreuzes Selbsterlösung gepredigt wird. Es gibt rohe, gewalttätige Dämonie; es gibt glutvoll

drängende und kämpfende Dämonie; es gibt auch zart und still blühende Dämonie. Des Menschen seelisches und geistiges Dasein, so auf die viel­ leicht überhaupt einzig mögliche Formel gebracht, heißt: Wieder­ spiel von Erzeugung und Rührung des Dämonischen und dessen Überwindung durch innere Armut und Einströmen der ewigen

Gnade. Aus flch kann der Mensch als Natur nichts tun, als nur harrendes Gefäß sein. Erfüllt er stch selbst, sucht er sich selbst Verdienst zu schaffen, so ist er im Götzendienst der Selbst­ bejahung; und das ist, in welcher Form nur immer es erscheinen mag, Dämonie. Es ist gleichgültig, ob dies den einzelnen Menschen betrifft oder die menschlichen Gemeinschaften, die Künste, die Wissenschaften, die Religionen. Der Mensch ist Adam und Christus. Beides wird in ihm Fleisch. Aus welcher transzendenten Sphäre und mit welcher Zulassung Gottes die Ursünde gegen Gott selbst sein kann — Schelling hat es rational zu deduzieren versucht — Tatsache unseres inneren Bewußtseins ist es, soweit wir selbst den Menschen kennen, daß ihm „im Anfang" die Freiheit gegeben ist — und im ewigen Dasein ist jeder Augenblick Anfang — zwischen beidem zu wählen. Wählen heißt hier aber: wesentlich so oder so sein. Wir wissen es Alle aus unserem Leben und unserem Ge­ wissen, wie stch das Jenseitige in uns persönlich, d. h. in uns als seinem Symbol spiegelt. Das Tier hat diese Wahl nicht. Was wir „Eigenes" nennen, in unserem Geist und Herzen, ist immer nur Leben aus Gott, gegossen in unsere lebendige Form. So soll ste nach ihrem immanenten Wesen auch Gott nur zum Dienst sein. Und wenn wir es für uns nehmen, bewußt oder un­ bewußt, und glauben, es sei wirklich Eigenes, so rauben wir die Kraft des allanwesenden Ewigen und opfern es unserer begrenzten Form. Diese soll zurückspiegeln als ein Symbol, nicht um ihrer selbst willen da sein. Darin liegt die Erlösung von beengten und beengenden, stets dämonisch gebundenen Einzeldasein, sei es der Dinge und Naturformen, sei es des Menschenlebens. Es fällt dann der Schleier, der ein Eigenleben als Dämon führte, der stch zwischen uns und unser Ewiges drängte. Das aber ereignet stch in uns, nicht auf dem Weg des selbstsüchtigen Denkens, sondern

ans dem Weg des Sich-Selbsllassens, zur Läuteruug uub Wieder, gebürt des eigeueu Wesens. Wir suchen, mythisch gesprochen, den Zugang zum Paradies, zu jenem ursprünglichen Zustand, darin Menschenidee und Natur noch eins waren; wo sie nicht entzweit waren; wo der Mensch nicht von außen ihr gegenüberstand und wo es keinen Schleier gab, weil sich das Menschenwesen mit und in der Natur als Symbol des ewigen Schöpfertums erlebte und diesem „gehörsam" war; wo es im „mystischen Helligen Innen, raum" stand und schweigend anbetete. Alles, was außerhalb dessen bleibt, abgegrenztes Einzeldasein ist, sich meint, seine eigene Form um ihrer selbst willen sucht — das ist der paradiesver, triebene Unseligkeitszusiand, ist in jeder Form, die er auch haben mag, Dämonie; ist unerlöste, entzweite Natur. Nun wissen wir von innen her, was das Dämonische ist. Nicht nur Form allein, sondern auch Mythus und Symbol. Wir sehen, daß Symbol heilig oder dämonisch sein kann; daß es in der Idee dem Heiligen dienen oder in der naturhaften Wirklichkeit dem Dämonischen zugewendet sein kann. Da dieses Sich,Zuwenden aber immer ein Willensakt im tieferen Sinn ist und sein muß, so ist es auch, transzendent gesehen, sittliche Entscheidung. Es gibt aber nur ein einziges Wesen in der Natur, das dies schaffen kann: der Mensch. Der Mensch schasst sich den Sinn der Welt; auch Gottes Kraft kann ihm dämonisch erscheinen. Das Tier ist schuldlos dämonisch. Der Mensch ist schuldig dämonisch. Und nur ihm ist es gegeben, sich von da zum Heiligen zu wenden. Erst wenn er dies erreicht hat, wird von innen her mit ihm die Natur „erlöst". Darum heißt es an der merkwürdigen Stelle im Römerbrief des Apostels Paulus: „Die Kreatur sehnt sich mit dem Menschen nach der Erlösung." Konnten wir ganz allgemein als dämonisch die Bindung der Naturkraft bezeichnen, die sich nur gebunden wissen will, um sich zu bejahen und eben darum auch die Form wieder zu sprengen; die Bindung und Entsagung nur trägt, um sich danach erst recht zu bejahen und sei es bis zur Selbstaufhebung und Selbstvernich, tung, so ist Orgie und orginastische Ekstase nach verhaltener Span­ nung die dem Dämonischen gemäße Lebensform. Das gilt nicht

nur für den Geist schlechthin, sondern auch für den orgiastischen Ausbruch der gestaltenden Natur. Ekstase ist hier gewiß nicht das, was man in der Heiligenlegende gelegentlich so nennt, was dort richtiger mit Inbrunst und Verzückung wiederzugeben wäre, wo es ein Sich-Lebendig-Verlieren in Gott, also das GegenteU des dämonischen Daseinswillens ist, der stch auch in erborgten Blldern der Heiligkeit, wie in den hysterischen Stigmatisierungen als solcher manifestieren und ausleben kann. Wahre innere Stille im Schauen auf das Ewige ist die dem Heiligen gemäße Haltung des Lebens. Äußere Stille kann daher höchst dämonisch sein, wenn sie Form ist, die verhalten ist, um sich darzustellen. Ja sogar die angestrebte klassische Form kann dies sein, weil sie sich als vollendet darstellen will. Auch hierfür ist Goethes Leben das leuchtende Beispiel. Dämonie ist, gegenüber dem heiligen Symbol, Form, die innerlich nie in Ruhe ist, weil sie immer begehrt, sich selbst zu verwirklichen, sei es mit äußerer Haltung und Bindung, sei es mit Ausbruch und orgiastischer Ekstase. Heilige Stille und innere Gebundenheit an das Ewige ist dagegen stets innere Ruhe, innere Gewißheit, begehrungslos, und daher selbst dann heilig, wenn sie äußerlich in tobendem Kampf liegt. Das ist der „Streiter Gottes", der nach außen kämpft und doch im Inneren im stillen Schauen auf Gott gerichtet ist; während das Dämonische äußerlich ruhig sein und doch innerlich voll fürchterlichsten Begehrens und Tobens sein kann. Fratze kann also in dem gegebenen Sinn sogar klassisch vollendete Form sein, und das echte Symbol des Helligen kann äußerlich verzerrt und wie Fratze erscheinen. Man denke an den Heiland am Kreuz. Wenn man wohl das Wort hört, man soll aus seinem Leben ein Kunstwerk machen, so ist das, wenn auch ästhetisch, doch zugleich auch Form eines egozentrischen, also dämonischen Abirrens von Gott. Gewiß mag es dem Drang entspringen, das Leben zu erleben und zu führen als Symbol des Jenseitigen; aber so, wie man es gewöhnlich nimmt, bleibt man damit bestenfalls im Vor­ hof des „mystischen Jnnenraums". Erst dort, wo man sein Leben nicht nur „in Schönheit" verbringen will, sondern den Mut und die Kraft hat, auch seine ganze Abscheulichkeit und Furchtbarkeit

um Gotteswillen auf sich zu uehmeu, wo man den Christus nicht nur in der faden Schönheit einer Thorwaldsenschen Figur, sondern als den verdammten Ecce homo in seinem ganzen Elend und seiner herabgewürdigten Häßlichkeit am Kreuz hängend bejaht; wo man das Opfer will, in dessen Hintergrund die völlige Selbst­ entsagung steht — da ist echt symbolhaftes, auf das Jenseitige weisendes Leben. Das Reich Gottes kommt nicht in äußeren Ge­ bärden, auch nicht in lieblicher, unseren schönen Menschengefühlen schmeichelnder Gestalt, so daß wir uns selig in Gott erweitern könnten; sondern in der Kraft des Sterbens, wenn die Posaune bläst. Nicht sich selbst liebende Erweiterung der eigenen Persönlich­ keit, nicht Vergottung des Menschenwesens in seiner begrenzten dämonischen Verfassung, diese erweiternd: sondern entsagendes Bereitsein in Erwartung des Gerichts und des Wunders der Gnade in unausdenklicher Gestalt.

7. Naturaesetz und Menschenleben. Die Entwicklungslehre im naiv optimistischen Sinn ist eine Erbschaft aus dem 18. Jahrhundert, wo man begeistert war über den stetigen Aufstieg des Menschengeschlechts vom rohen Troglodyten zum feinsinnigen Kulturmenschen. Aus dieser Fortschritts­ lehre als andere Seite desselben Geistes entsprang mit ihr der allgemeine Weltanschauungsliberalismus, der politisch mit dem rationalistischen liberalen Demokratentum zusammenfällt, das eine typische intellektualistische Zweckmäßigkeitslehre ist, deren letztes Ab­ bild in der Naturhistorie der Darwinismus war, ein Intellektualis­ mus, der uns reich an Entdeckungen und Gütern des äußeren Lebens gemacht hat, die wir soeben schmerzvoll zu Grabe getragen haben. Dieser ganze Fortschrittswahn mit seiner Zweckmäßigkeit, seiner Bedürfnissteigerung und der technischen Vollendung in allem und jedem ist ebenso eine hypertroph gewordene Dämonie im Menschen­ leben, wie es die auflösende extreme Entwicklung der Tierformen men in der Natur ist, zu der alle hinstreben. Eben in der heute wieder zum Bewußtsein kommenden Notwendigkeit, sich von der äußeren greifbaren Form wieder dem inneren Leben und Sinn der Dinge und Erscheinungen, d. h.

ihrer wahren Verwandtschaft zuznwenden und die äußere Form nicht intellettualistisch, sondern nach dem inneren Geist der Sache zu gestalten, besteht die neue philosophisch-wissenschaftliche Epoche, die stch ankündigt. Sie wird die Signatur einer neuen Lebens­ auffassung und neuer Lebensformen in unserem Volks- und Gemeinschaftsleben sein. Darum erscheint das Verständnis für das Jdeenhafte in den Dingen wieder und ist uns so wichtig, wie das tägliche Brot. Wir haben fast den Sinn verloren für das, was wahrhaft symbolisch und mithin wahrhaft „bedeutend" ist. Wo wir zum Ersatz repräsentativ sind oder die Dinge repräsentativ nehmen, ist es gezwungen und unecht, weil das Bewußtsein und die Kraft und das Erleben der inneren Idee darin fehlt. Wenn jene mythisch­ geschichtlichen Mächte, wie Königtum, Staat, Kirche teils stürzen, teils stch auflösen oder in Lethargie sinken, so deshalb, weil die äußere Form nicht mehr die innere lebendige Idee hat. Wo der innere Sinn, das innere lebendige Wesen fehlt, von dem das Äußere, um überhaupt tragfähig zu sein, lebendiges Symbol sein muß, da kann man ihm von außen auch kein wahres Leben bei­ bringen, und jeder Versuch dazu bleibt Mache, „Technik", die in sich schon Totes gebiert, auch wenn ihr Werk durch äußere Macht einige Zeit aufrecht erhalten wird. Fließt aber die äußere Macht von innen heraus und gestaltet sie mit innerer Notwendigkeit das Äußere zum Symbol, dann ist alles lebendig, tragfähig, wirkungsvoll, erhaben. Doch in unserem Kulturleben ist „Technik, ist Machen an Stelle des lebendigen Werdens und Wachsens von innen her getreten. Wir schreiben uns nach wie vor die hohe Auf­ gabe zu „Rerum cognoscere causas“, den Sinn des Seins zu erkennen; und verneinen unsere Aufgabe darin, daß uns jeder Sinn für das lebendig Symbolhafte in allem Geschehen, in aller Einzel­ erscheinung fehlt. Aber gerade darin liegt der Wert des sinnen­ haft wahrnehmbaren Geschehens, daß es ein Inneres darstellt, daß es Symbol ist. Wollen wir also unter wahrer Wissenschaft nicht ein äußeres Wissen, nicht eine bloße „Technik" verstehen, sondern zum Sinn vordringen, so muß uns das Vergängliche Gleichnis werden.

Entwicklungslehre — das haben wir bis jetzt gesehen — besteht nicht nur darin, daß wir Formenreihen in zeitlich und formal strenger Ordnung aufweisen; nicht nur darin, daß wir die durchlaufenen Formstadien biologisch deuten; sondern eine wahre Entwicklungslehre hätte das in jedem Stadium, in jeder augen­ blicklichen Form sich auswirkende und sich darin in bezug auf bestimmte Lebensverhältnisse darstellende schöpferische Wesen symbolisch zu suchen, in seiner inneren lebendigen Bestimmung zu erfassen, jene innere Potenz, die im Anfang schon dieselbe ist wie am Ende, und von der die ganze Erscheinung Ausdruck sein muß, sei sie geartet wie nur immer. Im Menschen wird diese innere Idee über die Natur hinaus und gegen die Natur zur sittlichen, zur letzten religiösen Forderung, im Angesicht deren es nicht mehr darauf ankommt, wie das Tier den dämonischen Selbstwillen der Gattung zu bejahen und körperlich darzustellcn, sondern von einer ganz anderen Daseinssphäre her das Leben zu leben und sei es auch in Not, Elend und körperlicher „Entar tung". Daß dies nicht Sache des Intellektes sein kann, wissen wir schon deshalb, weil auch der Intellekt ein naturhaftes Entwick­ lungsprodukt ist, naturhaft gerichtet wie die Sinne alle, mit denen er körperlich wird und fällt. So könnte es von innen her, im Licht der ewigen Idee, gegen­ über dem Dämonisch-Diesseitigen und Naturhaften gesehen, sein, daß beim Menschen durch die Einstellung auf das naturhafte Gattungs- und Rassewesen das Individuum gerade den Sinn, um dessentwillen es von der transzendenten Seite her da ist, ver­ fehlt. Für das Tier gilt unter allen Umständen die Rassezuch:, die Körperlichkeit; für den Menschen nur bedingt. Denn die Gattung Mensch, wie die einzelne Rasse kann sich selbst dämonisch bis zu solchem Grad verlieren und versteigen, daß in ihr und gegen sie das Individuum — oder sagen wir: die Persönlichkeit erscheint, die ihr entgegentritt. Das ist das Erscheinen des wahre n Heros, des wahren Propheten, des echten Religionsstifters, die der dämonischen Selbstübersteigerung ihrer Rasse, ihres Volkes entgegentreten und sie entweder verwerfen und den Rassegeist verneinen, oder ihn wieder zu seinem ewigen Ziel wenden und

zurückführen zum Bewußtsein seiner Aufgabe, Symbol des Ewigen zu sein. Nur wenn ein Volk, eine Art, eine Rasse selbst Symbol seiner ewigen Idee ist oder von innen heraus es ju sein strebt, wird auch der Heros dem Ideal des Volkes entsprechen müssen; sonst nicht. Don der transzendenten Welt her gesehen könnte es etwa sein, daß die Idee des Volkes Israel darin lag, ein Rassevolk zu sein, das ausschließlich der Idee des ewigen, des heiligen Schöpfers zu dienen hätte. Wie sehr es immerfort davon abirrte, wenn auch die Idee immer wieder lebendig in ihm aufbrach, das lehrt seine Geschichte auf jeder Seite. Und immer, wenn es ab­ irrte, traten Propheten und Seher auf, die sich der Rasse entgegen­ stellten, in einem höheren und heilenden Sinn ihr entgegen­ standen. Und so kann es bei allen Völkern und allen Rassen täglich und stündlich von neuem wieder sein — und hier liegt die ewig­ keitsbedeutende Aufgabe des menschlichen Individuums, während das Tierindividuum stets dann wirklich entartet ist im morbiden Sinn, wenn es die Gattung nicht gegensatzlos darstellt, sei es körperlich, sei es nach seinen Instinkten. Von einem höheren Gesichtspunkt aus gesehen kann man es auch umkehren und sagen: Die Entelechie der Gattung Mensch oder bestimmter Rassevölker ist eine reine ewige Idee des Schöpfertums. Ein Volk symbolisiert diese solange, als es nicht im niedrig zweckhaften und intellektuellen oder naturtriebhaften Sinn, sich selbst nur in reiner Diesseits­ gesinnung betonend, übersteigern will, sondern sich der ewigen Idee in seinem Dasein bewußt bleibt und von da aus sein Tun und Handeln in der Welt beurteilt und sein Leben gestaltet. Da dies aber nur im ewigen Kampf mit sich selbst und nur in Augenblicken der Begnadung erreicht wird, aber in der konkreten Natur- und Lebenswirklichkeit immer wieder das dämonische Selbstbejahen zum eigensüchtigen Zweck sich wirksam erweist, so gibt es zwar in der Idee ein „auserwähltes Volk", nicht aber im äußeren Vollzug; ebensowenig wie es irgendwo eine „Urform" gibt, die dennoch in jeder wirklichen Naturform symbolisch lebt. Seit in der irdischen Erscheinung des Jesus von Nazareth das lebendig gelebte Symbol der Erlösung des Menschen vom Natur-

haften und der göttlichen reinen Idee des Menschen erschien, ist damit geschichtlich und jenseitig die übervölkische, überrassevhafte Entscheidung des Einzelmenschen zu wahrem, reinem Menschentum gegenüber der Gesamtheit als innerlich verbindliche Forderung und Aufforderung zur Nachfolge mitten ins irdische Dasein hinein­ gestellt worden. Und gerade diese historische Persönlichkeit mußte sowohl in der naturhaft-gesellschaftlichen Umgebung, wie im mythischen Jnnensinn ausgestoßen und gekreuzigt werden; vom eigenen Volk, denn ihr Reich war nicht von dieser Welt und nicht in ihr. So muß es — und anderes ist gar nicht denkbar — immerzu Individuen geben und kann es immerzu von neuem geben, die den wahren lebendigen Geist und Sinn des Menschen über das naturhafte Verhalten und Leben von Volk und Raffe hinaus erkennen und in sich zu verwirklichen streben, als Symbol des Ewigen. Sie werden dann stets von der übrigen Masse der „Ge­ sunden" sich seelisch-geistig und gegebenenfalls auch körperlich — was letzteres aber ganz nebensächlich ist — unterscheiden und ihnen „entartet" erscheinen. Nur-Intellektuelle sind es nie und nimmer­ mehr, sondern von den Herrlichkeiten der Welt, auch der Derstandeswelt losgelöste oder nie in ihr gewesene Menschen, die aus der Wüste kommen. Die haben dann als Einzelwesen den inneren Ruf gehört, sie haben den „Beruf", zu kommen und zu künden; sie haben die „Verantwortung" für die Bewahrung der Idee in ihrem eigenen Volk, ihrer eigenen Rasse, die nun, wenn sie dämonisch „in Form" ist, solche Einzelwesen ausstoßen will, weil sie ihr „entartet" vorkommen und nicht, wie das vollendete Tier­ individuum, in der Rasse aufgehen wollen. Und doch repräsentieren sie in einem höchsten Sinn die schöpferisch ewige Idee ihres Volkes und des Menschen. Damit ist auch die Pflicht solcher Persönlich­ keiten ersichtlich, die in solchen Fällen stets von einem „höheren Befehl" gesprochen haben und sich auf ihn berufen, der gegen den Befehl ihrer eigenen Sippe sieht, der sie sich entgegenwerfen und von der sie als Verräter und Ketzer gebrandmarkt werden. Wiedergeburt eines Volkes kann, recht und wahrhaftig verstanden, nur darauf beruhen, daß es durch solche Persönlichkeiten zu seiner eigenen wahren Idee zurückgeführt wird, wie etwa das Volk

Israel von den Propheten. Und es ist nicht gesagt, daß dies immer körperlich die vollendeten „Exemplare" ihrer Gattung stnd. Man wird also auch die Rassenheilung nicht so sehr von der körperlichen, sondern von der innerlich ideenhaften Seite her nehmen müssen; von außen her genommen gäbe das nur ein Gestüt, und das ist nur beim Tier finnvoll und aussichtsreich. So wird also nur der Heros, der die „Wiedergeburt bringt, aber nicht Rassehygiene oder gar die mit dem Gesetzesknüppel ausgestattete Sittenpolizei ein Volk Hellen. Wenn man den Körper zu unmittelbar und einzig nimmt, verfällt man demselben Fehler wie die Kunst, wenn sie die Figur als solche darstellen will und damit, wie gezeigt, am Wesen der Sache vorbeigeht, nur Abklatsch gibt, statt wahres Leben. So auch der Physiologe, der nicht Seelen­ bereiter ist und Körperauslese betreiben will. Das Individuum als solches züchten, ist Tierzucht; Menschenwesen und Menschen­ wett kommt aus anderen Quellen. Es besteht eben ein grundlegender Unterschied zwischen dem Menschen als Individuum und dem Tier als Individuum. Das Tier kann nur seine Gattung, also die Idee seines Typus reprä­ sentieren. Von der Innenseite her gesehen, wird es darum beim Tier immer darauf ankommen, körperlich das Symbol seiner Gattung zu bleiben, also naturhaft eine Formidee darzustellen und damit seines Daseins Ziel und Sinn zu erfüllen. Für den Menschen, soweit er Natur ist, gilt dasselbe. Und insoweit er einer Naturgattung angehört, hat es naturwissenschaftlichen Sinn und Wert wenn sich eine Wissenschaft der Eugenik auftut und da­ nach strebt, durch Erkennung der phystologischen Zusammen­ hänge und Notwendigkeiten im menschlichen Körper für eine reine unverkümmerte Heranziehung der Individuen zu sorgen, unter Lebensbedingungen, welche dazu führen, daß ein gesunder, rassenhafter, also die Idee der naturhistorischen Gattung repräsentie­ render Körper bei jedem Einzelindividuum gedeihe. Aber das ist doch nur die eine Seite der Sache. Der Sinn des Individuums, naturhaft genommen, besteht freilich darin, die Gattung und Raffe darzustellen, und es verfehlt seinen Sinn, wenn es entartet und so das Urbild verleugnet.

Beim Tier, und auch beim Menschen, soweit er Natur ist, ist dieS ein unbewvßt körperlicher Vorgang; beim Menschen als Idee und Persönlichkeit ist es zugleich ein sittlich-geistiger Vorgang im Bewußtsein. Und dies mag zuletzt der Ausdruck für eine innere metaphysische Schuld sein. Hier rühren wir auch an das wahre tiefere Wesen der Krankheiten überhaupt, seien es die individuellen, seien es die epidemisch hereinbrechenden; und damit auch an die Frage nach dem Wesen einer wahren Heilkunde. Wenn nun im Naturhaften das Individuum nicht mehr die Idee der Gattung, die Form der Gattung darstellt, also aufhört lebendiges Symbol der Evtelechie der Art zu sein, dann entartet es eben oder ist schon entartet. Und das heißt, es stellt etwas dar, womit der Formen­ geist der Gattung nicht mehr zu seinem Recht kommt. Es wird natürliche Fratze. Der Mensch nun als Einzelwesen ist gewiß Natur. Das Tier, auch das Tier im Menschen, ist die dämonische Natur, und mit seinem Dasein ist es eben Naturseite zur inneren tdeen, haften Menschenentwicklung, womit das Dämonisch-Naturhafte in seinem Wesen sich kennzeichnet, bei seinem „Namen" genannt, und damit erst abgestoßen wird. Es ist darum nicht nur denkbar, sondern durch die menschliche Geisiesgeschichte erwiesen, daß die Erfüllung der eigentlichen Aufgabe des Menschenwesens nicht in einer unmittelbaren Darstellung und Entwicklung seiner körperlich, naturhaften Vollendung um ihrer selbst willen steht, ja diese ge­ radezu jener von Grund aus entgegenstehen kann. Denn diese als Naturerscheinung kann ja, wie wir uns genug, sam überzeugt haben, geradezu der Ausdruck einer Selbstvollen, dungsdämonie sein, die den entgegengesetzten Weg geht, als es die tiefere Aufgabe des Menschenlebens und damit der Einzelpersön, lichkeit ist. Ein hoher Geist und eine tiefe Seele können sehr wohl in einem Körper wohnen, dessen naturhafte Eigentümlichkeiten nichts weniger als vollendet zu nennen wären; das heißt noch nicht, daß dieser Körper im gewöhnlichen Sinn krank sein müsse. Man denke aber an die Epilepsie Cäsars, an die Engbrüstigkeit KantS und an den leidenden Körper des Franz von Assisi, etwa im Gegen, satz zu der Masse des „gesunden" Normalmenschen oder gar der

Sportsleute. So wollen wir «ns auch hier, wie gegenüber jeder rein äußerlichen Auffassung der Natur, vorbehalten, die Fragen der „Eugenik" doch noch unter anderen Gesichtspunkten anzusehen, als es augenblicklich im Geist der tonangebenden Wissen, schäft liegt, die auch diese Zusammenhänge von außen her richten und den Sinn des Lebens durch Züchtung und Technik ersetzen will. Der Mensch geht nicht schlechthin in der Natur auf, sein Wesen und Dasein ist nicht damit erschöpft, ja nicht einmal in seiner charakteristischen Seite getroffen, wenn man ihn nur als Naturerscheinung analog dem Tier nimmt. Er ist sittlich, geistiges, in seinem tiefsten Bewußtsein vom Blick auf das Ewige her bestimmtes Wesen. Ist es natürliche Aufgabe des Tieres, körperlich die Idee seiner Gattung darjvstellen, sonst aber nichts, so ist es Sinn und Aufgabe des Menschenlebens und Menschenwesens, darüber hinaus Persönlichkeit zu sein, und wenn es dem Lebenswillen der Gattung entgegen ist, mit einem tieferen „Beruf" dazustehen. Sehen wir uns also seine natürliche Entwicklung und die seiner Gemein, schäften daraufhin an, wie sie uns die Gesetze der übrigen Natur­ entwicklung wiederspiegeln und unter diesen stehe«, so kann es immer nur bedingt geschehen. Wir müssen uns bewußt bleiben, daß aller naturhafte Ablauf auch im Menschenleben doch nur die eine bedingte Seite und nicht, wie beim Tier, alles ist — Natur­ seite, die nicht in der Bestimmung, nicht in der Idee des Menschen an sich liegt, sondern ein Verlorenheitsjustand ist, an den er kraft des transzendenten „Sündenfalles" gefesselt ist, der ihn in die Naturdämonie verstrickt, aus der herauszugelangen oder sich wenigstens innerlich ihr entgegenzustellen, nicht nur seine persön­ liche und die gemeinsame sittliche Aufgabe, sondern auch der In­ halt aller dem Einzelnen ganz unbewußt bleibenden größeren geschichtlichen Abläufe und Völker- und Kulturgestaltungen ist, durch die der zeitlich darinstehende Mensch selbst nicht hindurchzusehen vermag. Erst wenn wir uns klar gemacht haben, daß alles Natur­ hafte am Menschen und seinem Gemeinschaftsleben, wie in seiner Geschichte, wenn auch in naturhaften Formen, so doch grund­ sätzlich auf einer anderen Ebene verläuft, kann von sinnvollen 223

Dergleichen zwischen der Natur um uns her und der Natur als Einhüllung des Menschenlebens die Rede sein. Wenn das Menschenleben, wie wir glauben, nicht nur ein Spezialfall des Naturlebens selbst ist, sondern geradezn den inne, ren ideenhaften Mittelpunkt des Naturdaseins bildet, so müssen stch auch in der Entwicklung des Menschenlebens, soweit es Natur ist, die Gesetze der Naturentwicklung spiegeln. Dies aber ist nicht so äußerlich zu verstehen, wie man es im Zeitalter der De, szendenzlehre vielfach angenommen und darzustellen versucht hat, daß die gegebenen Naturformen unmittelbar Abbilder oder Analogien des Menschenlebens in seiner äußeren Form seien. So hat man etwa geglaubt, den Ameisenstaat oder den Korallen, fiaat oder die Differenzierung der Staatsquallenverbände mit menschlichen Staats, und Gemeinschaftsbildungen vergleichen zu können, und hat geglaubt, aus dem Naturleben unmittelbar Gesetze für ein „natürliches und gesundes Menschenleben" ab, leiten oder einfach übernehmen zu können. Das find Naivitäten, die erkenntnistheoretisch nicht standhalten, nicht besser, als wenn wir die menschliche Gesellschastsentwicklung geradewegs von der biologischen Erblichkeitsforschung aus zu einer Zuchtanstalt um, wandeln wollten. Wir dürfen die Vergleiche also nicht unmittelbar ziehen, und nicht das eine unmittelbar mit dem anderen äußerlich gleich, setzen, sondern müssen beides als Ausdruck einer höheren Einheit begreifen. So wie das Anorganische und Organische zwar äußer, lich in der Form, nicht aber in ihrem Wesen ineinander übergehen, sondern beide verstanden werden müssen als zweiseitig verschiedene Manifestierung eines übergeordneten „Lebens", das weder organisch noch anorganisch ist, so kann alles Menschengeschichtliche und Naturgeschichtliche nur in einer höheren Einheit symbolisch, nicht aber unmittelbar nach seiner äußeren Form, also nur im Geist verglichen werden. Wir wollen auf einiges Hinweisen. So können wir etwa das oben (Kap. 4) geschilderte Erscheinen neuer Typen in der Natur vergleichen mit dem, was stch in der Menschenwelt jeweils abspielt, wenn neue Typen von Menschen oder Völkern erscheinen. Oder es sei erinnert an die in der Erd,

geschichte ost gleichzeitig miteinander austreteaden ganz neuartigen Gattungen, ohne daß es gelänge sie trotz ihres gleichzeitigen Neu­ auftretens auf einen gemeinsamen natürlichen Ausgangspuatt und auf bisher vorhanden gewesene Gattungen zurückzvführen. Es vollzieht sich ost sprunghaft und stürmisch. Es besteht weiter die entwicklungsgeschichtliche Tatsache, daß von einfach sich äußernden Lebenszuständen und Lebensgestaltungen zu immer ausgeweiteteren vorgeschritten wird, die endlich so sehr sich steigern können, daß fie selbst den Sinn ihrer Form in Frage stellen, sich ins Sinnlose verkehren, ins Uferlose und Widersinnige geraten, und so in der wachsenden Ungebundenheit dessen, was ihre Idee selbst ihnen vorschreibt, sich selbst verneinen. Es ist geradezu überraschend, welche Identität der Erscheinung hier vorliegt zwischen diesem Naturphänomen und der Entwicklung der Völker und Kulturen. Auch sie kommen hervor aus unbekannter Wurzel; auch sie bekommen ihren Typus mit und erscheinen naturhaft in abgewandelter Gestaltung. Sie beginnen ihren Lauf in größter Einfachheit der Form und aller Lebensäußerungen, sei es soziale Gliederung oder Kunst und Religion, und schreiten fort zur immer extremeren Spezialisierung und Bedürfnis­ steigerung, zur barocken Übertreibung ja Gesuchtheit, wo die Form selbst ihren inneren Sinn verliert und nur gebunden bleibt, um immer wieder von neuem sich zu sprengen; zum Intellektualis­ mus der Zivilisation, die jeden „Lebenswinkel" entdeckt und iHv in Anspruch nimmt durch immer neue verfeinerte Technik, mit ihren geistigen und materiellen Gütern alles durchdringt und überdeckt, um so nur noch den letzten Sinn übrig zu lassen: das Sichaufheben und das Aussterben. Wir haben gesehen (Kap. 8), daß zugleich in jeder be­ stimmten Zeit sich eine Zeitformenbildung, ein Zeitformengeist entfaltet, und daß dann das Gleiche auch aus typenhaft Ver­ schiedenem und aus heterogen Zusammengetretenem entstehen kann. Und so ist es auch bei der Bildung von Völkern aus verschiedenen Rassen und Volkskörpern, die schon bestehen, deren Teile und Splitter und Abzweigungen nun durch eine neue regionale Zusammenfassung, gleiche Lebensnotwendigkeiten und DacqnL, Leben alt Symbol.

225

-bedingungen, sowie durch Vermischung einen neuen organischen Staat, eine aktive Nation bllden und sich nach einer bestimmten neuen und eigenen Artnorm und in einem bestimmten Geist politisch oder kriegerisch durchsetzen oder verhalten. Wir wissen, daß die alten Kulturen und Kulturstaaten durch Zusammen­ treten und Vermischung heterogener Stämme und Rassen ent­ standen sind. Auch das, was wir heute etwa das deutsche Volk nennen und was sich den anderen gegenüber als selbständiges Lebenszentrum weiß und fühlt, ist eine solche, aus äußerlich­ morphologisch Heterogenem entstandene innere „Verwandt­ schaft"; und in den Vereinigten Staaten sehen wir seit erst andert­ halb Jahrhunderten ein solches Volk entstehen, das trotz äußerlich heterogener Herkunft von einer unglaublichen inneren und äußeren Geschlossenheit dasteht und so stark „in Form" gekommen ist, daß wir hier unmittelbar die bis zur phystognomischen Gleichheit gediehene verwandtschaftsbildende Kraft einer in diesem ihrem Symbol sichtbar werdenden seelisch-geistigen Potenz erblicken. Ein großartiges Beispiel, wie sich der gleiche „formbildende" Zeitgeist überall auch in zunächst Heterogenem geltend machen kann, ist die jetzige technisch-zivilisatorische Entwicklung der Völker der Erde. Alle werden sie von dem europäischen Geist ergriffen, suchen ihre Lebensformen danach umzugestalten und, wenn jeder Dölkertypus auch etwas ganz anderes darunter verstehen mag und in Zukunft etwas ganz anderes damit anfangen oder daran zugrunde gehen wird, so ist es doch die typische Form einer Geistig­ keit, die sich nun über den ganzen Erdball ergießt, gerade, wie in den Entwicklungsepochen des Lebens sich gleichsinnig in den heterogenen Formgruppen dieselbe organische Formensignatur einstellt, wie wir es beschrieben haben, und die gleichfalls großen­ teils zum Verschwinden der Typen führt, sie sich ihr unterstellt haben, bis der einzige neue Typus übrig bleibt und nun sich als neue „höhere Form entfaltet. Man wird dabei lebhaft er­ innert an alte und nur belächelte scholastische Vorstellungen von einer Aura seminalis, die zeitweise über die Erde dahinging und Formen prägte. Hat man damals diese Idee in einer äußerlich naturhistorisch nicht haltbaren Form ausgesprochen, indem man

nr6

meinte, die in den Gesteinen steckenden Fossilien seien erstarrte, nicht ganz zvm Leben gelangte Wirkungen dieser Aura, so liegt dem doch eine richtige Ahnung der Tatsache zugrunde, daß in der erdgeschichtlichen Zeit wirklich solche inneren Formblldungskräste sich ergossen, oder wie man sagen will, denen nun die von uns geschilderte Zeitformenblldung auch in der Menschheitsgeschichte entspricht. Es entstanden, wie schon angedeutet, auch „Übergangsformen" zwischen schon vorhandenen und neu hinzukommendeu Formen, typen, die nun eine Formverwandtschaft und stammesgeschicht, lich^ormale Abzweigungsstellen andeuten, die aber in Wirklich, kett im Sinne der naiven Stammbaumlehre keine find. So auch im Menschenleben. Es gibt zwar „Übergangsformen" zwischen den Typen; aber aus einem charakterlosen Mischmasch hat sich noch nie etwas Neues und Ganzes entfaltet. Stets hat sich das Leben in Charaktergestalten ausgeprägt und nur in ihnen zur höheren Doll, kommenheit sich gesteigert. Völker und Menschen, die nicht ihren eigenen Typus offenbaren, sind keine Völker, die im höheren Sinn Geschichte machen; so wenig wie Eivzelindtviduen, die keine typen, hast fest umrissene Persönlichkeiten sind; sonst können sie zwar Auf, sehen erregen, oder doch nur herostratisch wirken. Oder anders ausgebrückt: Immer wieder, wenn neue Typen auftreten, macht sich die Zeitformenbildung im Sinne dieses Typus bei dem schon Dorhandengewesenen bemerkbar. So prägt sich von innen her, kraft einer inneren Macht, die Signatur ihrer Epoche. Cs ist, als ob von bestimmten lebendigen Spannungszentren aus sich ein Formgestaltungswille über die lebendige Welt ergieße, von dem nun viele Gruppen ergriffen werden, wenn auch nicht alle mit gleicher Stärke. Und als ob nun jene neue typenbildende Potenz, jenes neu sich manifestierende Urbild, jene neue Idee aus den vorhandenen Grundorganisationen alles herauszuholen trachtete und sie so umprägte, daß sie dem neuen, „zeitgemäßen" Form, bildungsideal möglichst entsprechen und ihm nahekommen, gelingt es doch nirgends zur ganzen Vollendung. Wohl aber hat nun der neu hervorbrechende Typus dies ganz „echt" in sich verwirklicht. Er ist Symbol der reinen neuen Idee. Einige der anderen kommen

15*

ihm nahe, andere weniger, viele devlen es eben nur an. So ent­ stehen scheinbare Übergangsformen vom Men zvm endgültig

Neven. ES entstehen aber nicht nur Mischformen der äußeren Gestalt nach, sondern es entstehen auch scheinbare „Entwicklungs­ reihen" und täuschen nun den Betrachter der Natur- wie der Menschheitsgeschichte so etwas wie eine natürliche immerwährende Entwicklung vom Niederen jvm Höheren vor. Sie veranlassen einen Fortschrittswahn, einen Fortschrittsoptimismus, und doch liegt der Fortschritt nie bei denen, die bloß das Neue nachahmen, sondern nur bei dem, was selbst neuer Typus und seinem Wesen nach lebendiges Symbol der neu sich manifestierenden Idee ist. Es gibt keine Entwicklung von Typ zu Typ. Was nicht von innen her „berufen" ist, fällt wieder ab, wenn es nachahmende Larve war, und stirbt aus. So auch das Gesetz der Nichtumkehrbarkeit der Entwicklung, das in der Paläontologie eine große Rolle spielt, teils stark um­ stritten, teils bejaht ist, darin bestehend, daß ein im Lauf der Formenfolge verloren gegangenes Organ oder eine bestimmte Körpergestaltung nicht auf demselben Weg der Körpergestaltung wieder entwickelt werden kann. Kommt Entsprechendes wieder, so muß es immer etwas von Grund aus Neugeschaffenes sein, das dem früheren nicht homolog ist, sondern in der „Topographie" des Typus an anderer Stelle, gewissermaßen mit anderen Form­ bildungsmitteln erjeugt wird. Der Mensch kann nun mit seiner Tat, mit seinem Geist eine verlorengegangene Entwicklungsstufe, einen verlorengegangenen Zustand seines Kulturlebens, ein verlorengegangenes Organ wieder heriusiellen suchen und kann etwas Derartiges vielleicht auch mit äußeren Mitteln, etwa durch politische Gewaltanwendung, wieder erreichen. Aber er steht den­ noch unter dem naturhaften Gesetz der Nichtumkehrbarkeit und wird etwas Totgeborenes zur Welt bringen. Kommt ihm dagegen aus einer anderen Sphäre und einem anderen Stadium des Geschehens etwas Analoges von innen her lebendig wachsend zu, so kann es einen vollen Ersatz für das Derlorengegangene, ja vielleicht etwas viel Lebensvolleres sein, und wird als lebendiger Ausdruck eines neuen Gestaltungswillens, einer neuen Idee

nun anch organisch sein, statt künstlich gemacht nnd damit im Angenblick seines Entstehens innerlich schon hinfällig und un, »ahrhastig zu sein.

8. Das astrologische Symbol. In dem Kapitel über die Urzeugung fanden wir, daß Fechner zu zeigen versuchte, daß alles von uns als anorganisch Gesehene auch organisch sein müsse. Ein solcher Versuch mußte mißlingen. Organisch wird nie anorganisch sein und anorganisch ist nicht organisch. Es hat keinen Sinn, erlebte Wesenheiten voreinander wegzuleugnen; sondern es hat nur Sinn, wenn sie unvereinbar und doch wirklich sind, sie in einem höheren Dritten, unter einer höheren Einheit zu einem Ganzen werden zu lassen. Denselben Jrttum beging später die mechanische Deszendenzlehre. Auch sie wollte zeigen, daß Organisches und Anorganisches Eines sei und daß Organisches aus Anorganischem geworden sein sollte. Hätten beide Theoreme aber zu zeigen versucht, wie man beides als zwei Wesensseiten derselben höheren kosmischen Einheit begreifen könnte, so wäre damit eine organische, eine wahrhaft monistische Weltlehre in einem tieferen als dem materiellen Sinn gegeben gewesen. Was nun Fechner hatte und was nach ihm in plumper Form Helmholtz und Arrhenius wieder aufnahmen, als sie von der Zufuhr kosmischer Lebensketme auf die Erde sprachen, um damit die Entstehung des organischen Reiches hier zu erklären, ist viel, leicht unbewußt die Ahnung gewesen, daß auch das organische Gestalten ebenso kosmisch verwoben ist, wie das geophysische Werden des Erdkörpers. Nur drückten sie es, dem rationalen äußerlichen Geist ihrer Zeit entsprechend, grob körperlich und materialistisch aus und vermochten noch nicht, das Physische anders als in Form von Atomen, das Lebendige anders als in Form von Zellen und das Kosmische anders als in Form von Weltkörpern und Stoffkomplexen zu nehmen. Die nach allen Seiten und von innen her gegebene Verwoben, heit des einzelnen Dinges, der Einzelerscheinung mit dem Ganzen des Kosmos, die innere Verwandtschaft alles Geschehens, die man 22Y

äußerlich naturwissenschaftlich vielleicht als Korrelation oder Funktion auffassen mag, wobei sich wie in einem organischen Körper das Einjelne stets in lebendigem Bezug zum Ganzen hält und umgekehrt — das ist die verstandesmäßige Grundlage der Astrologie. Aus einem Wust von Irrtum und Aberglaube, von ablehnendem oder geschäftssüchtig bejahendem Rationalismus beginnt man heute wieder, den wahren Gehalt dieser uralten Wissenschaft zu erschließen, den sie ebenso hatte, wie jede echte Kunst und jede echte Wissenschaft. Sie alle sind aus dem Lebendig, Mythischen geboren. So wenig aber sonst die Welt des Mythischen dem äußerlich naturhistorischen oder dem rational historischen Denken, so wenig etwa Tierkult und Dämonenreligion diesem zugänglich geworden sind, sondern zu ihrer Erschließung einer Betrachtung und eines Erlebens des Kosmos von innen her bedürfen, so auch die Astrologie. Denn wie uns „Mythus und Raturhistorie" schon lehrte, bleibt das Empirisch,Rationale des Geschehens innerlich leer, man entwertet mit ihm das Wirkliche, wenn man das äußere Geschehen nicht als Ausdruck einer inneren „Geschichte erkennt. Denn das in Zeit und Raum ablaufende Geschehen ist immer symbolisches Geschehen und erhält erst dann seine Bedeutung und Tiefe, wenn es als solches erkannt und er, lebt wird. Ebensowenig, wie etwa die in den Individuen und Arten sich realisierenden inneren Gegebenheiten durch äußeres Dergleichen und äußere Aneinanderreihung von Formen als eine wirkliche Entwicklung und innere Verwandtschaftsbeziehung erscheinen, so wenig kann man mit der äußeren Empirie des Horoskops schon den wahren inneren Zusammenhang, die wahre innere „Verwandtschaft" der Erscheinungen und Lebensbilder erfassen. Es geht daher in der wahren echten Astrologie nicht nur um das Äußerlich,Empirische, sondern vor allem darum, dieses als Symbolisches zu erfassen, das auf ein darin sich darstellendes Jenseitiges hinweist, dessen Spiegelung dann im Bewußtsein als kausaler Ablauf erscheinen und mit Ausdrücken wie Funktion und Korrelation auch belegt werden mag, ohne damit in seinem Sinn erschöpft zu sein. Auf eine kurze Formel gebracht, ist Astrologie ein Wissen um die inneren Entsprechungen der äußerlich verschie,

denen Dinge im Kosmos. Eine iatellektvelle Wissenschaft ist st« schon in Babylon gewesen, ihre Quelle mag in noch viel älterer natnrflchüger Zeit liegen. Wenn man die psychischen Komplexe Saturn, Jupiter, Mars uff. als ebensolche Arten des Menschenwesens nimmt, so stecken dahinter ebensolche Potenzen und Wesenheiten, wie wir fle hinter den konkreten Formen der Natur schon erfühlten und erkannten, die aber in der physischen Wirklichkeit niemals die reine Idee selbst sind, sondern immer nur ihre Abwandlung und „An, passung" an die Erfordernisse der physischen Umwelt. So wenig uns also naturhistorisch eine Jdealart oder eine wirkliche Urform begegnet, so wenig auch der reiue „Jupiter oder „Saturn". Das konkrete Menschevwesen ist also ebenso ein Symbol solcher idealen Wesenheiten, wie die naturhistorisch empirische Gestalt ein Symbol ihrer Entelechie. Zugleich ist das empirische Wesen stets nur eine „Mischung" reiner Potenzen, reiner Linien, wie die Vererbungslehre sagt, also stets ein seelischer, wie ein physischer „Bastard". Es ist eine Tatsache, daß diese Mischung aus dem Horoskop ebenso ersichtlich wird, wie die Zusammensetzung einer naturhistorischen Art durch mendelistische Züchtungsexperimente. Erkennen wir also die Individuen und den Artcharakter, den sie darstellen, als Manifestation und Symbol ihrer lebendigen Entelechie, so sind auch die am Individuum und an verschiedenen Menschentypen astrologisch erkennbaren Seelenkomplexe Mani, festationen und Symbole bestimmter Entelechien. Eben das scheinen mir, bildlich gesprochen, auch die „Planeten" zu sein: kosmische Lebenspotenzen, die sich symbolisch ebenso in planetaren Körpern darstellen, wie die Gattungsentelechien in naturhistorischen Gestalten. Jupiterhaftigkeit, Saturnhastigkeit und alle die anderen „kosmischen" Wesenheiten sind die von innen her erkannten Wesenheiten kosmisch,lebendiger Art, die auch in Menschentypen zum Ausdruck gelangen und wofür das Einzel, individuum Symbol wird. Aber wie die innere Abgrenzung der lebendigen Urbilder nichts Absolutes, sondern nur etwas Ge, spiegeltes ist, das fortwährend seine Grenzen überschreitet oder einengt, das fortwährend in neuen Beziehungen sich darstellt

und unentwegt feine innere Lebendigkeit bewahrt, flch anziehend oder abstoßend, liebend oder hassend vereinigt oder verdrängt, so ist nun auch jeder Einzelmensch stets eine neue „Bastardierung" der Urbilder Jupiter, Saturn, Benns und der anderen. Da nun der Kosmos von innen her ein Ganzes ist, und der Mensch als Natur mit ihm in innerer und äußerer Verwandt­ schaft steht, so stellt sich auch der ganze Kosmos im Menschen mit seiner Wesenheit dar, wie es ein wahrer tiefer naturhistorischer Monismus nicht anders annehmen dürste. So wird jedes Indi­ viduum als Tellerscheinung jene kosmischen Potenzen und Wesen­ heiten wiedergeben, symbolisch verwirklichen, so wie die äußere naturhistorische Art die augenblicklichen oder dauerndenEntelechien wiedergibt. Die Astrologie nun, als echte Wissenschaft gefaßt, ist jene geniale, wohl von naturstchtigen Menschheitsaltern ent­ deckte Einsicht und die dieser Einsicht ehedem entsprechende sym­ bolische Ausdrucksweise der entelechischen Beziehungen des Men­ schen zu den kosmischen Wesenheiten. Das Horoskop aber ist jener empirisch gefaßte Kunstgriff, diesen inneren, stets in sich geschlos­ senen Zusammenhang an irgendeiner Stelle zu öffnen, die er­ fahrungsgemäß der Augenblick der Geburt ist, und so Einblick in die Beziehung zu bekommen. Es verhält sich zum inneren Sinn der Astrologie wie die Tätigkeit des Psychoanalytikers zur wahren Kenntnis einer Menschenseele, oder wie die Tätigkeit eines gewöhnlichen Arztes zum metaphysischen Sinn einer Krankheit. Da das Ganze des astrologischen Zusammenhanges die kos­ mische Lebendigkeit im tieferen Sinn ist, nicht bloß organische Lebendigkeit, so ist mit dem Bemühen um die mathematisch zu fassende Konstellation das Wesen der Sache natürlich ebenso­ wenig erschöpft, wie das Wesen der Krankheit oder etwa einer mit religiösen Vorstellungen verknüpften Stigmatisierung durch die physiologische Kausalität, oder das Wesen der Schwerkraft durch die mechanische Definition. „Die Astrologie setzt mathematisch-funttionale Beziehungen zwischen Gestirnen und Kraft­ feldern in symbolische Gleichheit mit lebendigen Organismen. Sie bringt Rhythmen der astralen Welt in Verbindung mit biologischen Rhythmen. Es gibt jedoch weder im Wachstum 232

«ar in der Gestalt organischer Wesen, noch in den Umläufen der Gestirne jemals jene Identität oder jene Kongruent, wie die logische Mathematik sie postuliert... Darum steht die Astrologie völlig jenseits jener rationalen Mathematik, die dnrch ihren quam titativea, abstraktiven, linear-geometrischen Aufbau stch vom Lebendigen weitgehend abgeschlossen hat; eben darum ist fle selbstverständlicher Ausdruck der lebendigen Mathematik einer symbolisch denkenden Epoche" und einer Erkenntnis von Beziehvagen, „wie es der heutigen Mathematik völlig abhanden ge­ kommen ist." Ist an dem, wie wir den inneren Zusammenhang der Sache sehen, etwas prinzipiell Richtiges, so muß auch das Tier in der­ selben Weise den Kosmos in stch spiegeln, also auch ein bestimmtes Horoskop haben, wie der Mensch; denn es hat, wie alles Organische, dieselbe Verwobenheit seiner Natur mit der Gesamtnatur. Wir haben uns zuvor schon davon überzeugen können, daß das Tier gegenüber dem Menschen eine Spezialisierung organischer Wesen­ heit bedeutet, so daß ihm nicht die universelle kosmische Bedeutung zukommt, wie dem Menschen selbst. Es kann daher ein Tierhoroskop auch nicht die Vielseitigkeit des Menschen enthalten, sondern muß eine bestimmte, ganz einseitige Spezialität symbolisch zum Aus­ druck bringen. Das Einzeltier, das Einzelindividuum bleibt eben lediglich Vertreter seiner Gattung und hat nur als solches Sinn und Bedeutung; das Menschenwesen als Einzelindividuum hat darüber hinaus eine persönliche und eigene Bedeutung. Es ist die in einer bestimmten Tierform manifestierte Idee und Wesen­ haftigkeit, die im totemistischen Denken und Schauen als Realität erkannt wird. Es ist das „präformierte Tier", also die innere „Urform" eines Tieres, die sich als Wesensableger oder Wesensteil des Menschen, als innere Ganzheit sichtbar kundgibt. „Diese Tierpräformation", sagt Unger in der Einleitungsschrift zu Goldberg, „gehört dem kosmischen Gebiet an ... und nur die Projektion dieses kosmischen Typus auf die irdische Ebene ver­ zerrt und degradiert ihn zu dem Lebewesen, das man als ,Tier' kennt." In unsere Ausdrucksweise übersetzt und den Gedanken weitergeführt, würde das bedeuten: Die kosmisch-lebendige Ver-

bundenheit der ganzen physischen Natur ermöglicht nicht nur die Spiegelung des Menschen im Tier als der nächstbenachbarten Beziehung, sondern erlaubt auch bei den noch tieferschauenden, freilich natursichtigen Menschen das organische Formwerdea des Menschen und damit auch des Tieres im physischen Kosmos gespiegelt zu finden. Astrologie als natursichtig gefaßte Wissen, schast muß daher ebenso „alt" sein, d. h. auf demselben für das Innere der Natur aufgeschlossenen mythischen Sina beruhen, wie der Totemismus. Wenn wir bei einer früheren Gelegenheit darauf Hinweisen konnten, daß alle aus geschichtlicher Zeit uns bekannt gewordenen Naturreligionen, magischen Kulte und Wissen, schäften nur schwache und größtenteils verholzte Überbleibsel vorausgehender urweltlicher Besitztümer sein müssen, so ist auch die Astrologie in ihren geschichtlich bekannt gewordenen Formen so zu bewerten. Und wenn man sich mit ihr beschäftigt, muß man sich klar sein, daß man hier mit dem späten Denkverstand Dinge treibt und anrührt, die mit jenen Naturkulten auf einer Ebene liegen, aus einer Quelle entsprangen. Cs werden also vermutlich uralte natursichtige Geschlechter die innere Einheit von Kosmos, Mensch und Tier gesehen, die natur, hafte Wirksamkeit dieser Verbindung und Verwandtschaft er, kannt und kultisch zum Ausdruck, wie auch zur Anwendung und Wirksamkeit gebracht haben, wie wir die Naturkräfte aus der Erkenntnis solcher Zusammenhänge uns wirksam machen können. So ist es auch gewiß kein Zufall, daß in den ältesten Religiovs, formen oder in spärlichen Resten, die wir von solchen noch kennen, Tiere, Tiergötter, Menschenfratzen und Astrologie als Eines mit, einander dastehen. Astrologie ist deshalb für ein Wissenschaftsdenken, das den Tierkult und Totemismus als leeren Aberglauben verwirft und jedenfalls nicht für eine Naturrealität gelten läßt, ebenso un, sinnig wie dieses. Aber für uns ist sie eine mythisch,magische Reali, tät. Damit ist nicht gesagt, daß wir sie unter allen Umständen für eine gute, dem Menschen zuträgliche Angelegenheit halten; so wenig wie Totemismus. Sie gehört ganz in das Gebiet der Natur, dämonie und Naturmagie, das wir als solches zu erforschen haben.

2Z4

wie alle andere« Gebiete der Natur und deS Menschenlebens, wie alle Äußerungen dämonischen Naturdaseins, also wie alle

Hellseherei, okkulten Spuk, Stigmatisierungen uff. Aber darüber muß, wie über allem Denken und Tun, das Bewußtsein siehen, daß auch hier nicht die reine, sondern die in den Unseligkeitsjusiaad unseres Naturdaseins hinein verzerrte, also dämonische Wahrheit erblickt wird. Die christliche Lehre hat vollkommen recht, wenn sie diese Dinge, als Mittel, zum „Wissen" zu gelangen, verwirft und vor astrologischem Handeln ebenso warnt, wie vor allem Wahrsagewesen und aller Zauberei. Alles dies enthält die Gefahren des Wissens um Naturmagie und Naturdämonie überhaupt. Uud die Gefahren und Abstürze «erden nur überwunden, wenn wir auch hier daran festhalten, daß nicht Natur um ihrer selbst willen das Ziel des Wollens und Wissens sein darf, sondern daß wir hindurchschauen müssen zum Urblld, zu den Ideen als den Symbolen des Ewigen, des Heiligen. Eine Astrologie als Wissenschaft vom Zusammenhang des organischen Lebens mit dem kosmischen Geschehen und den kos, mischen Zuständen ist grundsätzlich nur möglich, wenn man von einer mechanistischen zu einer lebendigen Weltanschauung über, geht und Organisches wie Anorganisches als zwei innerlich zusammenhängende, einander in ihrem Formenwerden entspre, chende Wesensseiten, als zwei Manifestationen des Gesamtkosmisch, Innerlichen nimmt, das in sich ein lebendiges Eines ist. Es wäre für den das Leben und alles Geschehen nur me, chanistisch auffassenden Forscher doch möglich, sich einmal zu denken, daß physikalische Einwirkungen aus dem Kosmos, also etwa „Strahlungen" von feinster Lichtmaterie, die Organismen in ihrer Struktur und ihrem physiologischen Verhalten irgendwie beeinflussen. Aber da wir empirisch nachweisen können, daß auch die seelische Struktur des Lebewesens in planetarischen Kon, stellationen ein Abzeichen findet, so muß man dieses Verhältnis doch anders, nämlich nicht als ein stoffhaftes auffassen, womit man im Mechanischen stecken bliebe vad nicht zum inneren Wesen, nicht zu den inneren Entsprechungen, nicht zum Begriff einer wahren Verwandtschaft durchdringen würde; sondern man wird

in dem „Kosmischen" eben ein Inneres, einen seelischen Zusammenhang zwischen den sichtbaren Formen und Erscheinnngen sehen müssen. Freilich wissen wir, daß stoffliche Einwirknngen und Reize in einem organischen Körper, also im Menschen, seelische Berändernngen zugleich erscheinen lassen; aber dies könnte nicht sein, wenn nicht das ranmzeitliche Geschehen, indem es sich ab­ spielt, von innen her bestimmt, also gleichzeitig Ausdruck eineinnerlich Verbundenen, eines innerlich Einen wäre. Denn der Mechanistiker, der immer nur linienhast und räumlich-zeitlich fort­ schreitend vom einem Punkt zum anderen denkt, hat uns bis heute keine Möglichkeit gezeigt, wie etwa Seelisches durch Körperliches, Körperliches durch Seelisches in einer kavsalmechanischeu Reihe erzeugt würde. Wohl aber wissen wir, daß beides sich so verhält, als ob es aufeinander wirkte. Es ist also nur denkbar, daß das, was wir „Wirkung aufeinander neunen, unse­ rem zerlegenden Verstandeswirken entstammt, während in Wirk­ lichkeit jeder körperliche Zustand, jede raumzeitliche Erscheinung unmittelbare Manifestation eines Inneren ist. Beides sind also Symbole des innerlichen einen Daseins, des Transzendenten, der Urbildekraft des Kosmos. Wir wissen ferner erfahrungsgemäß, daß Körperliches und Seelisches, wie wir es für unser Wachbewußtsein unmittelbar mit­ einander in Beziehung sehen, dennoch nicht in einem unmittelbar quantitativen oder qualitativen Verhältnis stehen. Die ganze Reizphysiologie zeugt ja davon. Dieses unproportionale wech­ selnde Verhältnis zwischen Physischem und Psychischem weist schon darauf hin, daß hier nicht von einem einfach kausalen Zu­ sammenhang, von einem Mechanismus die Rede sein kann, wohl aber von einer inneren Beziehung, die ganz anders geregelt wird als nach einem quantitativen oder chemisch-qualitativen Verhältnis, wie man sich die Reattiou der Stoffe aufeinander denkt. Es kann weder von einem Mechanismus, noch von bloßer Stofflichkeit des Geschehens zwischen Körperhaftem und Seelenhaftem die Rede sein; sondern es bestimmt sich deren gegenseitiges Verhältnis nach einem inneren Maß, das beiden Daseinszuständen gleicherweise innewohut und von sich aus erst korrelativ das 236

gestaltet, was wir dann im gleichen Augenblick Körperliches »ad Seelisches nennen. So würden wir auch astrologische Erfahrungstatsachen nicht mit einer mechanistischen und quantitativen oder chemisch-quali­ tativen Betrachtuags-und Crklärvngsweise richtig fassen; sondern erst dann, wenn wir das Gesamtkosmische, zu dem sowohl der anorganische Stoff wie das Organische gehört und worin alles innere lebendige Einheit ist, ähnlich wie ein Lebewesen auffassen, das auch in allen seinen Teilen und Zuständen eine korre­ lative Einheit ist, worin alles, um einen Ausdruck von Driesch ju gebrauchen, Ganzheitsbeziehung hat. Diese Ganzheitsbeziehung des Kosmischen ermöglicht es nun unserem betrachtenden Geist, etwa in planerischen Konstellationen ein lebendiges, nicht nur ein allegorisches Beziehungssymbol für das Einzelwesen zu erkennen. So wäre Astrologie, rein erkenntnistheoretisch, keine wunder­ barere oder mysteriösere Wissenschaft als etwa Medizin, die auch aus Symptomen eines Gesamtkörpers die Zustände eines Einzel­ organes abzvlesen vermag. CS kommt da nur auf die Tiefe des Könnens, nicht auf das plumpe Betasten oder grob stoffliche Dorstellung an, weshalb auch die wahre Kunst des Arztes dort an­ fängt, wo das mechanische Können des Nur-Anatomen aufhört. „Sobald nur unsere Betrachtung zur Idee der Natur als eines Ganzen sich emporhebt, verschwindet der Gegensatz zwischen Me­ chanismus und Organismus... Und so ist am Ende die Welt eine Organisation, und ein allgemeiner Organismus selbst die Bedingung des Mechanismus" — ein Wort von Schelling. Auch der zünftigen Naturforschung ist dieser Gedanke nicht fremd. Wie wir schon andeuteten, ist Fechner im Grund Astrologe, wenn er die Urzeugungsfrage in das Gesamtorganische des Kosmos aus­ münden läßt und ihr im mechanistischen Sinn keine Berechtigung zugesteht; jedoch hat er mit der kausalen Methode dem Problem beikommen wollen, ohne noch sich klar geworden zu sein, daß es symbolische Bedeutung hat. Er ist aber nicht deshalb Astrologe, weil er etwa die Entstehung organischer Wesen auf der Erde irgend­ welchen Konstellationen und physisch-physiologischen Einflüssen der Weltkörper zuschriebe; sonder« deshalb darf man ihn in unserem

2Z7

Sinn „Astrologe" nennen, weil er trotz seines Naturwissenschaft, lich,rationalen und logisch kausalen Verfahrens dennoch mit innerer Notwendigkeit dort landete, wo ihm das Lebendige an flch und das daraus sich manifestierende Leben der Erde spejiell mit allem kosmischen Sein und Geschehen zur Einheit wurde, wo er also auf das Symbolische im Dasein stieß und, da er es logisch,kausal nicht mehr fassen konnte, durchaus zu dem religi, Ssen Sinn des Ganzen kam. Wie sehr das Gefühl für die „innere kosmische Lebendigkeit zunimmt, wenn es auch noch «eit davon entfernt ist, ausdrücklich das Vergängliche nur als Gleichnis zu fühlen, zeigt ein amerika, nischer Biologe, wenn er sagt: „Die Eigenschaften der Materie vnd die Vorgänge der kosmischen Entwicklung find mit dem Auf, bau der lebenden Wesen und mit deren Verrichtungen eng ver, bunden; ste sind darum für die Biologie viel wichtiger als früher vermutet werden konnte. Denn der gesamte Entwicklungsprozeß, sowohl der kosmische als der organische, ist einheitlich, und der Biologe darf mit Recht annehmen, daß das Weltall in seinem innersten Wesen biozentrisch ist." Der Physiker Planck hat schon den Atomkern für einen elementaren Lebenspunkt erklärt, somit dem Sinn nach die Leibnizsche Monade in die physikalische Wissenschaft eingeführt und damit die Wendung vollzogen, von der aus nicht mehr die Materie und das mechanisch Dorstell, bare der Ausgang für die Frage nach der Entstehung der lebendigen Form, sondern umgekehrt das Leben zum Element auch des Materiellen gemacht wird. Wenn Haeckel seinerzeit schon von beseelten Atomen sprach, so war dies keine seherische Vorwegnahme, keine Einsicht in diese neueste erkenntnistheoretische Forderung der Physik, sondern ent, sprang umgekehrt jener Armut an erkenntnistheoretischer Klarheit, zn der die mechanistische Auffassung des Lebens seine Epoche und ihn als ihren charakteristischen Vertreter geführt hatte. Es war also vielmehr „ein Wort zur rechten Zeit", das sich bei ihm einstellte, weil der Begriff des Lebens fehlte, nicht weil er in seiner Fülle vorhanden war und zur Erweiterung drängte; während das Wort Plancks aus der ganzen Fülle der Erkenntnis des wahren 238

Sachverhaltes auch in der anorganischen Natur entspringt. Bet Haeckel war die „Atomseele" das unfreiwillige Eingeständnis des Endes einer Forschung; bei Planck ist das Atomleben der Beginn einer tiefgründigen und zukunftsreichen Erkenntnis der Physik. So stünde, selbst wenn astrologisches Denken zunächst nur eine erkenntnistheoretische Gedankenverbindung wäre, nichts im Wege, die Zusammenhänge zwischen Makro- und Mikrokosmos mit einem sehr viel weiteren Blick als bisher zu betrachten. Aber wollte Astrologie nun eine Naturwissenschaft oder eine ihr entsprechende Psychologie im bisherigen Sinn werden, so würde sie sich gerade wieder um jenen Wert bringen, den wir bei diesen Wissenschaften bisher vermißten: um die Erkenntnis des Symbolischen.

9. Urkunst und Urwiffenschaft. Echte Kunst im tiefsten Sinn hat die Aufgabe, dem Ewigen, dem an sich Heiligen zu dienen. Bedeutet also zuletzt jedes wahre Kunstwerk die zwingende Notwendigkeit, in unserer Raumzeitlich, kett ein Symbol zu schaffen für jenes Innere, dann ist sie selbstlos, ist sie heilige Kunst. Wandelt sie sich in Selbstbewußtsein und Selbst, wollen, so ist sie dämonische Kunst. Ein echtes Kunstwerk kann, bis es die letzte Stufe erreicht, auf dem Wege da der Mensch es schafft, verschiedene Stufen der „Absicht" durchmachen, der inneren leidvollen Notwendigkeit, nicht der intellettualen Absicht. Cs kann zunächst Flucht sein vor der Ewigkeit, deren Schauen und Erleben den Geist des Künstlers und derer, die es gewahren, erdrücken müßte. Es bildet eine Hülle um die dem Menschen in seiner Begrenztheit unerträgliche Wahrheit des Ewigen. Insofern verhüllt heilige Kunst so gut, wie sie ausspricht. Dann aber kann das Kunstwerk sprechen. Es bannt das Ewige, das Unaussprechliche herein in unseren Wachgeist, damit wir es sehen, ohne Gefahr sehen, es uns gegenseitig sagen, ja es uns dienstbar machen können, um nur soviel von ihm in die Umgren, zung eintreten zu lassen, als wir wollen. Wir bannen es und halten es fest, ohne in Furcht sein zu müssen, daß es uns über­ wältige oder daß wir ihm bedingungslos dienen müßten. Und

damit wird aas das Ewige zum Dämon, das geschaffene Symbol hat dämonische Natur. Ist es das Höchste, vor der Majestät und Unberührbarkeil des Ewigen mit unserem Handeln und Wollen dienend zu verharren, dies durch unsere Kunst, unsere Wissen­ schaft, unser Leben immer wieder in lebendigen Symbolen des Gestaltens und Schaffens, des Tuns und Handelns, des Liebens und Leidens, des Kämpfens und Sterbens zu verkündigen, so dient im anderen Fall unser Leben und Können dazu, es abzu­ wehren damit es uns in unserem eigenen Formwillen nicht störe es zu bannen für unseren Zweck, es uns dienstbar zu machen. Das ist der Unterschied zwischen wahrer Gottesliebe und Götzen­ dienst, auch in der Kunst. Haben wir einmal, und sei es nur für einen Augenblick, rein das Bewußtsein der wahren Wirklichkeit erlangt oder ste erahnt, so Neidet sich dies im Wachbewußtsein sofort in Bllder und Gleich­ nisse, in Schöpfungen des religiösen und künstlerischen Sehertums, wie wir ste staunend in den Tempeln und Domen, in den griechi­ schen Göttern und Urmythen, in der Platonschen Jdeenlehre und den Gesetzestafeln des Sinai, im Jsenheimer Altar oder der Bachschen Musik als Zeugen gewaltiger Jnnenschau verehren. Immer kleidet sich das Unaussprechliche in eine äußere Form, ge­ danklich in Bllder und Gleichnisse. Auf solche Art sprechen wir das Unaussprechliche aus, oder es spricht sich in uns aus. Erfassen wir aber im Gegenständlichen das Wesen durch reine Anschauung, leuchtet uns das Jenseitige hindurch, so wird uns damit alles Gegenständliche, alle Erscheinung zum Symbol. Die Formen der Kunst und die der Natur unterscheiden sich bloß darin, daß jene Ausdruck und Wiedergabe des von uns innerlich Gesehenen und Erlebten durch uns selbst, diese dagegen Manifestation des­ selben Inneren, jedoch anscheinend ohne unsere Betelligung sind. Auf keinen Fall ist also Symbol willkürlich gesetztes Abbild, sondern immer voll beladen mit jenseitiger Wirklichkeit, die ihm im­ manent ist. Daran erkennt man seine Echtheit und Wahrhaftigkeit. Wollte man schöpferischem Künstler- und Forschertum „Ab­ sicht" zuschreiben, so ist und kann die Absicht nur die sein, daß es Unaussprechliches, Ungreifbares, Unnennbares durch Stoff-

Haftes oder Gedankliches ahnen lassen ober jvm AvSdrnck bringen möchte, daß es also bewnßt ans dem Innern Symbole schasst, so wie es die Natur vnbewvßt und unpersönlich ans ihrem Innern vollbringt. Ob die Anderen das, was gesagt werden soll,nva durch dieses Symbol rücklaufend mit dem Schaffenden gleicherweise begreifen nvd so mit ihm zum Schauen des Erlebten,Wirklichen, des Innerlich,Wirklichen Vordringen können, ist eine tweite Frage, aber keine Bedingung für die Wahrhaftigkeit des Geschehens. Indem nun der Künstler, der Forscher, wie wir ihn auch nennen könnten, rein in der Idee schasst, huldigt er im tiefsten Sinn dem Unaussprechlichen. Wir könnten auch sagen: er betet es an. Und das drängt ihn, dem Geschavtev den idealsten, den ungreifbarsten, unnennbarsten Ausdruck j« geben, den er nvr irgend finden kann. So ist es tm wahren Religiösen, aber nicht weniger in wahrer Kunst, und so sollte und müßte es juletzt in aller Wissenschaft sein. Alles menschliche Suchen will doch höchste, letzte Wirklichkeit ergreifen; sonst hätte es ja gar keinen Sinn und wäre eitel Spielerei. Da nun der wahre Forscher und Künstler nach dem reinsten Ausdruck des Geschauten strebt, von innen heraus und von einem höheren „Befehl" gedrängt, ohne es anders zu wissen, ohne darüber ju reflektieren, um die von ihm erreichte letzte Wirttichkeit zu vermitteln, so wird er ganz von selbst auf seinem inneren Weg zu immer höherer Ausdrucksweise, damit aber auch von der Darstellung der Einzelidee zu immer Um, fassenderem und Unfaßbarerem vorschreiten und so vielleicht end, ltch dorthin kommen, wo sogar jedes abgegrenzte innere Ideen, bild des Gegenständlichen ihm verschwindet, wo nur das Unaus, sprechliche wohnt und wo es, wie Maeterlinck sagt, nvr ewiges „Schweigen" gibt, in dem alles verstanden ist. Dann ist er von jeder unmittelbaren Jdeendarstellung zu einer reinen «ort, und bildlosen Anschauung um ihrer selbst willen, zur Anbetung ge, kommen. Er schaut „bildlos", es spricht schweigend zu ihm. Und wenn er nun dieses Erleben hereinbringen will in die stoffhafte Darstellung, dann macht er von den äußeren Dingen überhaupt kein Abbild mehr, nicht einmal um ihrer Einzelidee willen, sondern er sucht nur noch Darstellung letzter höchster Wirk, Vacqvt, itten al# Somtol.

16

241

lichkeit schlechthin. Er schafft Ewigkeitssymbole, die, wie seinSchaffen selbst, Anbetung sind und bedeuten. Und so bedeuten ihm dann alle Werke, alle Darstellungsmittel, wie auch alle Formen, die er sich „denken" kann oder die ihm „begegnen", nur noch jenes Eine, das sie allein andeuten müssen; seien das nun gemalte oder in Stein gehauene Gestalten und Zeichen, seien es Tragödien oder Musikwerke; seien es Wissenschaften und PHUosophien oder Mysterien und Mythen. Schelling drückt es so aus: „Die unmittel­ bare Ursache aller Kunst ist Gott. Denn Gott ist durch seine absolute Identität der Quell aller Daseinsbildung des Realen und Idealen, worauf alle Kunst beruht. Oder: Gott ist der Quell der Ideen. Nur in Gott sind ursprünglich die Ideen. Nun ist aber die Kunst Darstellung der Urbilder, also Gott selbst die unmittelbare Ursache, die letzte Möglichkeit aller Kunst, er selbst der Quell aller Schön­ heit." Die reinste, höchste Kunstform wäre also offenbar die, welche nicht das Ewige unmittelbar darstellen will, sondern alle Dar­ stellung, alle Form, die sie gibt, nur so gibt, daß diese Form nicht selbst Wirklichkeit, nicht „Figur" sein will, sondern auf die letzte höchste, ihr immanente und doch transzendente „Wirklichkeit an sich" deutet; daß alle Form ihren eigenmächtigen Sinn, ihren eigensüchtigen und eigensichtigen Sinn verliert, um nur der Jenseitigkeit Raum zu geben. Sie deute an den „mystischen Innen­ raum" des Daseins. Es gab ja Zeiten, da war auch Wissenschaft eine Angelegen­ heit hoher Kunst und stand im Dienst der das Leben durchdringen­ den Religion. Platon noch nannte die Geometrie in jenem tieferen Jnnensinn göttlich und wollte nicht mit einem Menschen Ge­ meinschaft haben, der ihrer nicht mächtig sei. Sie war also gewiß einmal der Ausdruck hoher Weisheit und nichts weniger als Profanmathematik in unserem Sinn. Sie war ein Symbol für die innere Göttlichkeit der Schöpfung. Diese Urgeometrie und mit ihr eng verknüpft eine Zahlensymbolik, kannte ein Lebendiges im kosmischen Dasein. Es war keine quantitative, sondern quali­ tative Mathematik, wie es Reißmann so lehrreich auseinander­ setzt. Es gibt, sagt er, eine „lebendige Dynamik", die auf dem 242

Rhythmus des Lebens beruht, in dem sich nicht ewig das Gleiche wiederholt, sondern wo in jeder neuen Wiederkehr eine andere Ebene des Daseins sich kundtut. Diese „intuitive Mathematik" sieht die Zwei nicht aus Eins plus Eins erbaut, sondern erkennt den Sinn der neuen Zahl als neuen Rhythmus, „der mit dem ersten nicht in einer summenmäßigen, sondern in einer irrational­ funktionalen Beziehung steht und darum qualitativ von der .Eins' vollkommen verschieden ist; also nicht in der Mitte einer geraden Linie zwischen den Punkten Eins und Drei liegt, sondern — ebenso wie die Drei, die Mer und alle folgenden Zahlen — auf einer qualitativ anderen Ebene sich ereignet. Die Anders­ artigkeit dieser Ebenen ist aber nur von der Intuition zu erfassen, weil nur sie die rhythmischen Urbilder des Lebendigen unmittelbar in sich trägt und adäquat zu projizieren vermag". Rhythmus ist zwar Folge, aber nicht Wiederholung im schlechthin quantitativen Sinn, sondern Folge, bei der in jedem Wiederkehrenden ein „Erinnern", ein „Hauch", ein „Hinübergenommenes" aus der ersten Rhythme lebendig bleibt. „Mag die zweite auch quantitativ der ersten völlig gleich, also ihr kongruent sein, so ist sie doch qualitativ von der ersten völlig verschieden..." Diese Erkenntnis des stets Schöpferisch-Neuen und der steten innerlich lebendig-rhythmischen Beziehung in jedem scheinbar nur quantitativen Verhältnis ist das Wesen der Urwissenschaft. Unsere Naturforschung übersieht dies ganz, auch im Organischen. Sie glaubt, wenn sie etwas exakt, d. h. quantitativ bestimme, habe sie es erschöpft und verstanden. Sie nimmt Folge und Wieder­ holung nur als Addition. Es ist, um es mit einem Wort zu kenn­ zeichnen, vom Künstlerischen aus gesehen, die Einstellung des Geistes auf das Machen und Können, nicht auf das Erleben und Sein. Es ist „Technik" im äußerlichen Sinn; es ist „Gesinnung zur Technik" dem Dasein gegenüber; es ist „Kulturlosigkeit", auch in der Wissenschaft; es ist irreligiös. So wenig aber in der Musik der Rhythmus immer das­ selbe bringt, auch wenn er derselbe bleibt, so wenig ist es im Ab­ lauf der Natur so. Dasein ist immer und in jedem Augenblick schöpferisch neues Dasein. Darum gibt es auch im Mineralisch16*

24z

Anorganischen nie dasselbe, nie Kopie, nie kausal,mechanische Wiederholung. Und wenn es wirklich Atome geben sollte oder Atomkerne, «m die Jonen vvd Elektronen kreisen, die zu Milliarden eiu Stäubchen Stoff zusammensetzten, so wäre auch ihr scheinbar gleichförmiges Nach, und Nebeneinander Rhythmus und Funk, tion, und jedes Atom desselben Stoffes wäre nie des anderen Kopie, auch wenn es als ein quantitativ Gleiches gedacht ist; sondern jedes wäre Monade des Schöpfertums. Das ganz zu erfassen, in seiner lebendigen Wirklichkeit zu erschauen und trotz aller quantitativ mechanischen Auflösung dennoch zu wissen, daß die Zwei ein Neues gegenüber der gedoppelten Eins ist — das wäre der erste Schritt zum Verständnis dessen, was Urwissen, schäft bedeutet gegenüber jeder quantitativ verfahrenden Kausal, Wissenschaft: Hinschauen auf das lebendige Schöpfertum. Es müßte also nicht nur für die Kunst, sondern auch für die Wissenschaft das Ziel sein, das Ewige im Symbol zu erkennen und darzustellen und das einzelne Gegenständliche nicht als Summe und rechnerisches Produtt, sondern jedes als monadische Idee, als Symbol des Ewigen zu erleben. Dies nenne ich Urkunst und Urwiffenschast. Es ist jenes Sinnen und Erkennen, das sich ursprünglich — dieses Wort hier nicht im zeitlichen Sinn gemeint — dem Ewigen gegenüber dienend und empfangend verhält und so Wissenschaften und Künste heilig werden läßt. So ist es wohl kein Zufall, daß auch die wissenschaftliche Spiegelung des „mystischen Jnnenraumes" ursprünglich eine religiös erlebte Geometrie war. Es entspricht dem die heilige Zahlensymbolik, die ihrerseits ein mythisches, symbolisches Wissen um die Ordnung und Zusammenhänge, um die innere Der, «andtschaft und den lebendigen Rhythmus der Dinge war. Beides, die Raum, und Zahlenordnvng, findet nun seine groß, artigste Darstellung in der Welt des gestirnten Himmels. Darum gab es ursprünglich auch eine „Sternenkunde" als symboli, sche Wissenschaft. Und weil alles in seinem inneren, ewigketts, bedeutenden Leben erlebt wurde, ist mythische Sternenkunde oder Astrologie auch Religion gewesen. Sie waren religiöser Ausdruck für das Wissen um die innere lebendige Einheit und Verbunden,

M4

heil alles Dasein- und konnten so Anbetung beS Ewigen sein, von dem alles Äußere im Raum, Im Kosmos Symbol ist. Die Frage ist nun: Können «ns nicht nur jene Künste und Wissenschaften, sondern kann «ns Naturforschung gerade auch unsere jetzige Naturforschung — heute noch Ausdruck einer ent, seelten Welt — wieder Ausdruck einer beseelten Innenwelt, der Weltseele werden? Kann ste in der Natur bas Symbol des Ewigen finden? Kann, wie ursprüngliche Geometrie, ursprüngliche Kunst, ursprüngliche Mufik — kann so die Naturforschung, die flch bisher bewußt abseits hielt vom Dienst am Ewigen, nun ein Ausdrucks, und Erlebnismittel des Symbolischen im Dasein, in der Natur, also eine Urwissenschaft werden? Was wir bisher hatten, war noch keine Erfüllung, sondern „nur ein Vorbereitungsdienst jv einem eben doch aus dieser Wissenschaft noch erwachsenden Priestertum". Daran, wie und ob flch dies vollzieht, werden wir einen Maßstab für das neue Erleben der Wirklichkeit haben, das wir Alle suchen und bas stch anbahnt; für eine neue Dettiefung unseres Geistes, für eine Wiedergeburt unseres Denkens. Am unmittelbarsten wird es vielleicht sein können im Erleben des Tieres. Denn dieses ist uns nächstverwandt und darum aus unserer eigenen Innen, erkenntnis wohl am unmittelbarsten in seiner JeaseitigkeitS, bedeutung zu erfassen. „Die organische Form als Symbol" — baS ist künftige Aufgabe. Da liegt auch der Grund, weshalb unS heute Astrologie wieder in ihrem eigentlichen Sinn lebendig jv werden beginnt und von uns neu geschaffen, neu erlebt werden wird. In diesem Ausschauen liegt auch eine große Synthese von Kunst und Wissenschaft, nicht zum wenigsten eine neue ReligiofltLt der Forschung, die heute noch die Freiheit der Entscheidung hat, flch im Symbolischen zum Ewigen oder zum Dämonischen jv

wenden. Alles, was wir bis jetzt Naturforschung nennen, ist so, wie es der dämonische Naturmythus und Naturkult war, ein Suchen und im Auge haben der flch selbst liebenden, also dämoni, schen und damit letzthin unwirklichen, sinn-losen Seite der Natur; und insofern finden wir «ns mit unserer Wissenschaft heute noch, wenn auch in einem feineren Sinn, im Zustand des Aberglaubens

M5

über die wahre Wirklichkeit. Aber es mag die Wende kommen, wie sie große Geister vnseres Volkes schon vorausgesehen haben. Hat doch Schelling es ausgesprochen: „Ich verhehle meine Überzeugvng nicht, daß in der Naturphilosophie, wie sie sich aus dem idealistischen Prinjip gebildet hat, die erste ferne Anlage jener künftigen Symbolik und ... Mythologie gemacht ist, welche nicht ein Einzelner, sondern die ganze Zeit geschaffen haben wird... Dies war der Sinn meiner Meinung, daß in der höheren spekula­ tiven Physik die Möglichkeit einer künftigen Mythologie und Symbolik zu suchen sei." Fand der Mensch die Formen der Kunst und der Natur in den verschiedensten Arten des Erlebens stets als Ausdruck des Ewigen oder Dämonischen, fand er sie immer so, wie es seinem eigenen Seelenzustand entsprach, so wird er sie auch in Zukunft wieder in neuer Weise so finden. Sie werden ihm von neuem als Symbole, sei es des Ewigen und Heiligen, sei es des Dämoni­ schen und Abwegigen beredt werden. Sie werden ihm Spiegelung des Jnnenwesens, der Innenwelt. Er wird sie nicht mehr im aber­ gläubischen, sondern in einem höheren, vergeistigteren Sinn er­ leben und umschreiben lernen, wie sie ihm zur Tiefenerkenntnis der Innenwelt werden. Sie werden auch das Verhältnis seines Wesens zur Natur und zum Ewigen selbst sinnbildlich und doch von innen her lebendig-wahrhaftig dartun. So kann sich ihm die Erkenntnis des Ewigen wie des Dämonischen neu erschließen in der Natur. Die Natur wird uns durchscheinend für den „Innen­ raum" auch unseres Lebens. Wäre dann nicht eine Ur-Biologie erreicht, welche jener Urgeometrie, jener Ursternenkunde, jener Urbaukunst, jener Urmusik entspräche? Und diese Naturlehre wäre zugleich echte Kunst. Indem wir es uns so vorstellen, tun wir schon den ersten Schritt zu ihr und damit zu einer neuen Offenbarung der uralten inneren seelenhaften Wirklichkeit der Natur. Und wo wurzelt dies? Nun dort, wo alles wahre Wissen und alle wahre „Kunst" wurzelt: in der Echtheit und Wahrhaftigkeit des eigenen Innern. Alles Große, alles Bedeutende, alle wahre Wissenschaft ist nie von außen gekommen, sondern dadurch, daß 246

es Menschen von innen heraus schufen, denen es geoffenbart worden ist, und durch deren Geistesschav und innere Kraft des Lebens und Sterbens das Leben selbst neuen Wert, neuen Sinn, neue Bedeutung erhielt. Und diese Gestalten stnd alle mythisch geworden. Denn ihr Leben selbst war Symbol für ein Jenseitiges, Ewiges. Der Mensch selbst ist ja, von außen genommen, Natur, gegenstand, Naturerscheinung; jeder sich selbst gegenüber. Er ist also vor sich selbst die einzige Naturform, bei der er unmittelbar ins Innere steigen, deren inneren Sinn und Bedeutung er un, mittelbar zu erfassen vermag. Bei uns selbst nur können wir ins Innere der Natur gelangen. So muß, wenn wir zur Wahrheit und Bedeutung des Daseins, des Naturdaseins selbst kommen wollen, auch unser Innenleben uns durch und durch klar und wahrhaftig werden. Je mehr dies gelingt, um so Tieferes, Ent, scheidenderes, innerlich Wirkliches werden wir — nicht nur aus uns, sondern auch aus der Welt, aus den anderen Menschen, aus der Natur ablesen. Und dieses Erkennen des Äußeren, der Natur als Symbol innerer Wirklichkeit: dies ist das im höchsten Sinn Mythische. An anderer Stelle habe ich die Überzeugung niedergelegt,

daß „am Anfang", nicht in der Zeit, sondern im inneren Anfang, der jeden Augenblick gegenwärtig, also ewig da ist, das Menschen, wesen in göttlicher Helle steht und um das Höchste und Heiligste, um Gott weiß und ihn schaut. Der Mythus vom Sündenfall aus dem Paradies zeigt die Verwerfung, diesseits deren wir jetzt als Natur stehen. Don der Herkunft aus dem Licht aber stammt alle Weisheit, die des Menschen unvergleichliches Erbteil und aller echten Wissenschaft, aller echten Kunst, aller Religionen unver, rückbarer Grund ist. Don da fließt das Bewußtsein, daß dies der Sinn des Lebens ist, und immer wieder rufen Religionsstifter und Propheten in den Epochen der Weltgeschichte dies der Mensch, heit in die Ohren, weil es im Wesen unseres Naturzustandes liegt, immer auf dem Weg des Abirrens zu verharren. Darum werden nach der reinen Verkündigung und Offenbarung alle Wissenschaften und Religionen und Kulte und Tempel immer wieder zu Stätten der Dämonie, verlieren ihren Symbolwert

für das Ewige und Heilige, und dienen menschlichem Streben nach Eelbstvollendung, Selbstberuhigung und Herrschaft über das Dasein. Die ganze Erlöseridee und das Kommen des Messtas ist Rettung ans dieser verworfenen Dieöseitigkeit, die uns nicht über die Bruchstelle zurückkehren läßt zum reinen anbeten, den Schauen, Erleben und Lieben Gottes in seiner ewigen Herr, lichkeit, worin der Mensch und die Urbllder der Natur erst wahres EbenbUd, Symbol Gottes würden. Wir stehen also mit der Frage nach dem Symbolischen «n, mittelbar vor dem religiösen Problem in der Wissenschaft, vor dem religiösen Problem überhaupt. Wer wollte dieses auch von der Wissenschaft, insoweit ste Streben nach reiner Erkenntnis ist, auf die Dauer fernhalten können? Der Mensch kann stch ja selbst nicht in zwei Wesen spalten, von denen das eine des anderen bar und lebig wäre. Es gibt zuletzt, auch in der Wissenschaft, nur den Weg zur Rechten oder zur Linken. Das ist gewiß: der Weg zu den tieferen Erkenntnissen, worin alles zum Symbol wird, ist nicht der sittlich unverbindliche Verstand, sondern das Hineinsteigen in das eigene Jnnenwesen. Wir selbst sind Offenbarung des In, aenwesens, wie alle Natur, wie alle Kunst es ist. Auch wir entstehen nicht von außen her durch zusammenstoßende Materie, sondern entquellen mit unserem ganzen lebendigen Wesen der Tiefe eines Jenseits und sind sein lebendiger Ausdruck. So ist «ns das Dasein, wenn überhaupt, auch durch Hineinsenken in unser eigenes Jnnenwesen erkennbar. Dort treffen wir auf seinen Sinn, auf seine Ewigkeitsbedevtung. Das aber verlangt ein ganz wahrhaftiges, sittlich unerschrockenes Durchfühlen und Durch, forschen unserer Persönlichkeit, ganzes wahrhaftiges Bekenntnis unseres eigenen Wesens vor uns selbst, und sei es auch um den Preis unseres lieben Eigenlebens. Das bedeutet nach außen Opfer und nur Opfer, nicht dämonisch,naturhaftes Selbstbejahen, nicht eigensüchtige Selbstvollendung. Wer es erlebt, weiß es. So wird wahre Kunst und Wissenschaft und innerlich echte Betätigung des Künstlers und Forschers zum Symbol eines durch den Menschen wirkenden Höheren. Das Werk, hervorge, bracht vom genial inspirierten Menschen, ist unmittelbares Symbol

248

jener Wirklichkeit. Dort liegt die Einheit von Künstler und Kunst, werk; nicht in der begrenjteu empirischen Person. Das löst auch die oftmals verwundert gestellte Frage, weshalb ein echtes Kunst, werk stets größer ist als der Mensch der es schuf, der dem echten Kunstwerk gegenüber immer uvjureichend bleibt und als Person stets enttäuschen muß. Alles Geschehen geht in Gott, dem all, umfassenden Wesen, der ersten und letzten Ur,Sache alles Daseins vor sich. So muß es juletzt—mag es auch noch so sehr eigene Wege wandeln und dämonisch sich selbst bejahen — ein Symbol sein vou Gottes Leben. Und so muß es eine auf Gott gerichtete tvnere wahrhaftige Erkenntnis geben, wie vor aller rationalen Wissen, schäft und Kunst, so auch über aller rationalen Wissenschaft und Kunst. Dies zu haben wäre Urkunst und Urwissenschaft. Freilich bas Maß, in dem uns etwas ein Symbol jenes letzten Inneren wird, und was für ein Symbol es uns wird, kann und muß je nach Vermögen verschieden sein. So wird uns das Dasein Abst«, fung in Gott je nach unserem Geist. Abstufung und Grenzung in dieser Weise ist Mannigfaltigkeit der inneren lebendigen Ein, heit, die unser Geist sich selbst vermannigfaltigt—innerer Einheit, die wir als das Gleiche und doch stets Unwiederholte, Schöpfe, risch,Neue, Ewigkeitsbedeutende in allem Vielerlei der Gegenstände und Erscheinungen erkennen würden, wenn unser Geist nur wett, unsere Seele nur tief genug wäre. Das Symbol, sagten wir am Anfang, unterscheide sich vou der bloßen Allegorie darin, daß es in sich selbst lebendige Tiefe habe, Tiefe, die bis zu dem schöpferischen Urquell zurückführt, aus dem alles fließt. Der Mensch selbst ist Symbol, und zwar im höchsten Maße, weil er sich dessen bewußt zu werden und mit einem sittlichen Wollen sich als solches zu erfassen und zu geben vermag. So ist er in der Lage, bei sich selbst unmittelbar in die ganze Tiefe zu steigen. Da dringt er durch alle Stufen des Daseins, hinauf und hinunter, zu den Chören des Lichts und zu den Pforten der Hölle. Das hat von jeher Ausdruck gefunden in seinem Tun und Lassen, in seinen Künsten und Wissenschaften, in seinen Religionen. Er hat es gezeigt in Mythen und Märchen von der Erschaffung und Wandlung der Welt und seiner selbst; er hat es gezeigt in Götter,

falten, Tierfalten und Lebensordnungen; er hat es gezeigt in Philosophien und Künsten; darin immer sich und, kraft der inneren

„Verwandtschaft" alles Daseins, auch in sich die Natur erkennend — bis er endlich und überall, immer wieder in neuer Gestalt zur Er­ kenntnis des ewigen Gottes gelangt. Hier schweigt sein Geist im

Schauen.

Ende.

Anmerkungen. S. 5. Vom rein rationalen Standpunkt aus, also nur das Begriffliche herausarbeitend, behandelt in umfassender Weise die Symbolfrage E. Cassirer Philosophie der organischen Formen. 2 Bände. Berlin 1923/26. S. 5/6. I. I. Bachofen, Oknos der Seilflechter. Ein Grabbild. Her­ ausgegeben von M. Schröter. München (ohne Jahreszahl). S. 8. H. Künkel, Das große Jahr. Jena 1922. S. 11/12. M. Schlesinger, Geschichte des Symbols. Berlin 1922, S. 163 ff. S. 17. Don diesem „Zweifel am Wert des Erklärens" sagt W. Pinder im „Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas" (Berlin 1926): „Sagen wir uns, daß »Erklären' zu wenig erklärt, daß wir betrachten wollen und deuten dürfen, ohne die Pflicht — die der reinen Philosophie gerade wegen ihrer Unerfüllbarkeit das Leben verleiht — die letzten Gründe schließ­ lich dafür zu durchschauen, daß »es überhaupt etwas gibt'". S. 19/20. I. F. Fries, Die mathematische Naturphilosophie nach philosophischen Methoden bearbeitet. Heidelberg 1822. S. 26 ff. ist zum Teil eine Auseinandersetzung mit Gedanken von E. Reisner, „Die Vergangenheit als Historie und Mythos". Kunstwart, 40. Jahrg. München 1926. S. 159 ff. sowie, vom gleichen Autor: „Zwischen Paläontologie und Mythus" in der Monatsschrift „Zeitwende", 3. Jahrg. München 1927. Die dort ebenfalls bekämpfte Darstellung meiner in „Urwelt, Sage und Menschheit" (4. Aufl., München 1927) niedergelegten Gedanke» über die Menschheitsentwicklung und die Deutung von Paradies und Sünden­ fall wird im 2. Teil des vorliegenden Buches weiterhin eingehend begründet. S. 32. E. Unger, Das Problem der mythischen Realität. Sammlung „Die Theorie", Heft 3. Berlin 1926. S. 36. A. Baeumler, Einleitung zu I. I. Bachofen, Der Mythus vom Orient und Okzident. Eine Metaphysik der Alten Welt. Aus den Werken von Bachofen herausgegeben von M. Schröter. München 1926. S. 187 ff. S. 39. Zu diesem Kapitel, wie überhaupt, sei auf das Werk von W. Müller-Walbaum, „Die Welt als Schuld und Gleichnis", Wien-Leipzig 1926, hingewiesen, wo gewisse Berührungspunkte zu unserer Weltauffassung vorliegen; so etwa, wenn es dort heißt: „Der Sinn alles Lebens ... ist Totalität, die im Menschen erfüllt ist, und deshalb kann das Leben der Orga­ nismen im strengen Sinne nur als symbolisch bezeichnet werden..." S. 39. Das Zitat ist entnommen meinem Buch „Urwelt, Sage und Menschheit" (4. Aufl. S. 13), wo programmatisch ausgesprochen wurde, was in dem vorliegenden Werk ausgeführt ist.

6.43« Aus der «udlosea Literatur über die aaturhistorisch« Zweckmäßig, keitSstag« sei uur hingewiesea auf A. Pauly, Darwinismus und LamarckiS, muS. München 1905. Gleichgültig wie man sich -u der dort vor-etrageoea Lehr« stellt, zieht mau aus dem Werk für die Klärung der uaturhistorischeu Auffassung über die genetische Entstehung des Zweckmäßigen reichen Gewinn. Ferner E.v. Hartmann, Philosophie deS Unbewußten. 10. Anst. Leipzig 1889/90. 1. Band, Kap. i; 3. Band, Kap. 2. 5. 47. Für die einschlägigen Beispiele flehe die Schlußkapitel des Werkes von R. Hesse und F. Doflein, Tierbau und Tierleben. Bd. 1. Leipzig 1910. 6. 57. Über den Vitalismus gibt zusammenfaffend Aufschluß: tz. Driesch, Der Vitalismus als Geschichte und Lehre. 2. Aust. Leipzig 1922. Dortselbst auch Literalurzitate. Dgl. auch die allerdings wenig inhaltsreiche Arbeit von E. v. Hartmann, DaS Problem b«S Lebens. Sachsa 1906. Wesentlich klärend, ohne daß man ihre Tendenz als „Vitalismus" bezeichnen dürste, ist die Arbeit von I. v. Uexküll, Theoretische Biologie. Berlin 1920. S. 59. S. Th. Fechner, Zend,Avesta oder über die Dinge deS Himmels und Jenseits. 3. Anfl. Leipzig 1906. Bd. 1, 6.14 ff. ®. 64. H. Driesch, Metaphysik der Natur. In: Handbuch der Philo­ sophie. Herausgegeben von A. Daeumler und M. Schröter. Abt. 2, 2. kiefg. München 1926. S. 15. S. 66. Hier sei für da< naturwissenschaftliche Material verwiesen auf di« grundlegenden Arbeiten von O. Abel, vor allem „Grundzüge der PalLo, biologi« der Wirbeltiere". Stuttgart 1912. Grundsätzliches auch in E-OacquL, «Biologische Formenkunde der fossilen niederen Tiere." Berlin 1921. Kap. 7. Ferner besonders wichtig: A. Naef, Idealistische Morphologie und Phylo, genettk. Jena 1919. S. 69. D. Franz, Die Vervollkommnung in der lebenden Ratnr. Jena 1920. S. 83. Die Darstellung der Zettformenbildung und die Anwendung d«S Gesetzes auf die Ermittelung des Menschheitsalters flehe in «Urwelt, Sage und Menschheit" in den ersten Kapiteln b«S Natnrhistortschen Teile». S. 97. A. Naef, Di« individuelle Entwicklung organischer Formen als Urkunde ihrer StammeSgeschichte. Jena 1917. S. 106. R. Goldschmidt, Anführung in die DererbungSwissenschaft. 2. Aufl. Leipzig 1913. S. 47. 5. in. Die von verschiedenartigen Grundtypen herkommenbe «An, passnng" an di« Wasserform bei höheren Tieren behandelt vom deszendenz­ theoretischen Standpunkt auS: V. Abel, Oie ErobernngSzüge der Wirbel, tiere in die Meere der Vorzeit. Jena 1924. 6. 114. Goethes morphologisch« Schriften find unter diesem Titel neu herausgegeben und mit naturphilosophischen Darlegungen versehen von Wilh. Troll (Jena 1926). Hier wird mit Entschiedenheit ans daS sym, bolische Weltbild verwiesen. Dort auch die nötigen Erläuterungen über die Urpflanze. — Ferner int selben Sinn: H. Wohlbold, Die Naturerkenntnis im WeltbUb Goethes. Jahrb. d. Goethe,Ges., Bb. 13. Weimar 1927. S. 128. Über die Entwicklung der Säugetiere in den Erdzeitaltern orientiert man flch leicht in H. F. Osborn, The Age of Mammals. Re« Kork 1910. Hier sind auch Abbildungen von primitiven und speztaliflerten

Gattungen in ihrer richtigen Zeitreihenfolge gegeben. Ebenso in Jt. A. Jittel, Grundzüge der Paläontologie. 2. Teil. HeranSgegeben von F. Broill und ®. Schlosser. 4. Anfi. München 1923. S. 13a Neuerdings find echte plazentale SLugetierformen auch in der mesozoischen Äteibefetmatlon Zentralasien- entdeckt worden. Dgl. den Bericht von F Orevermann in der Zeitschrift „Statut und Museum". 58. Bericht, Heft 1. Frankfurt a. M. 1928. S. 159. Sine anSsthrliche Darstellung deS Inhaltes beS „Physiologus“, allerdings ohne tieferes Eindringen, gibt A. Kolo ff. Die sagenhafte sym, boUsche Tiergeschichte des Mittelalter- in: F. v.RaumerS Histor. Taschenbuch. 4. F., Bd. 8. Leipzig 1867. — Eine NenanSgabe erfolgte durch €. Peter-, Der Physiologus, aus dem griechischen Original übertragen. Mit Nachwort von F. Würzbach. München 1921. S. 174. Über die Art, wie diese naturhistorische Forschung gemeint ist, vgl. meinen Aufsatz Über die „UrflnneSsphSre" in der Zeitschrift „Die Kreatur". Berlin 1928. Heft 2. S. 174. L. Dolk, DaS Problem der Menschwerdung. Jena 1926. S. 175. Raturhistorisch ist die Frage der Menschwerdung dargestellt in „Urwelt, Sage und Menschheit" im Raturhistorischen Teil (4. Aufl., S. 58—100). Dort auch ausführliche Anmerkungen, die über da- Wettere Aufschluß geben. 6.184. O. Goldberg, Die Wirklichkeit der Hebräer. Berlin 1926. Eine unglaublich aufschlußreiche und erschütternd zu nennende Arbeit! Dgl. hierzu die Einleitung von E. Unger. (Anm. zu S. 32.) Ferner A. Easpary, Eine biologische Theorie des Totemismus. Zeitschr. f. vergl. Recht-wissen, schäft, Bd. 42. Stuttgart 1927. — Die zentrale Frage, um die es flch dabei dreht, kennzeichnet Unger (In einem Privatbrief, zu dessen Benützung er mich ermächtigt) treffend folgendermaßen: „Man kann ohne Zuhilfenahme der Hebräer nicht zu einer Lösung deS Problem- de- Totemismus gelangen. Die Hebräer find da- einzige Dolk der alten Zeit, da- — ursprünglich selbst totemistisch eingestellt — gegen den Totemismus, b. h. als» gegen den Begriff Gottes al.Tier' vorgegangen ist. Damit haben die Hebräer den hbheren GoiteSbegriff geschaffen. Im Phänomen de- TotemISmuS trifft die religtonswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Problematik zusammen. Da- Problem deS Tote, mtSmuS wird daher nur gelöst, wenn — wie das in der Goldbergschen Syste, matik geschieht — die .ursprüngliche Wissenschaft' «lederhergestellt wird, die (im logischen Sinne) vor dem Zeitpunkt liegt, in welchem die Sonderwissen, schäften der.Religion-forschung' und der.Raturforschung' al- selbständige Gebiete an-einandertreten." Hieran schließt sich sinngemäß die von Unger behandelte Frage nach der „mythischen Realität". S. 188. W. Danzel, Magie und Geheimwissenschaft in ihrer Bedeutung für Kultur und Kulturgeschichte. Stuttgart 1924. (Dgl. auch meine Studie „Natur und Seele". 2. Aufl., München 1926.) S. 193. P. Tillich, Das Dämonische. Sin Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte. Sammlung gemeiuverst. Vorträge, Nr. 119. Tübingen 1926. S. 198. Zu den Formen und Formenreihen vom Primitiveren zum Spezialisierten flehe da- Werk von H. F. Osborn (Zitat zu S. 128). S. 232/33. R. Reißmann, Astrologie und Mathematik. Monatschrift „Die Astrologie". Berlin 1927. S. 103 ff. 253

S. 234. Über die jetzige Magie bei Naturvölkern, wie überhaupt über die bei den geschichtlichen Völkern bekannt gewordene Magie als eines letzten Restes uralter Vollmagie flehe meine Ausführungen in „Natur und Seele" (2. Aufl., München 1926) insbes. Kap. 22. S. 234/35. Über die Gefahren der Astrologie vgl. O. A. H. Schmitz, Oer Geist der Astrologie. München 1925. S. 361 ff. S. 238. L. I. Henderson, Die Umwelt des Lebens. Deutsch von R. Bernstein. Wiesbaden 1914. S. 242. Dgl. hierzu die Abhandlung von R. Hunger, „Son der sym­ bolischen Kraft und dem Lebeuswert der Mathematik. Anhang zu G. Schott, Die Kulturaufgaben des 20. Jahrhunderts (München 1926), worin tiefe Ge­ danken über Kunst und Wissenschaft sich finden. Damit sei keine Stellung zum sonstigen Inhalt dieses Werkes genommen. S. 242/43. Zu dem Zitat flehe Anm. zu S. 232/33.

Edgar Dacque

Urwelt, Sage und Menschheit Eine naturhistorisch-metaphysische Studie 4. Auflage. 379 Seite». 1 92 7. Ja Leine» ged. M. 11.50.

Inhalt. Einführung: Theorie und Wissenschaft — Wirklichkeitswert

der Sagen.

Naturhistorie: Typenkreise und biologischer Zeitcharakter — Das erd: geschichtliche Alter des Menschenstammes — Körpermerkmale des sagenhaften

Urmenschen — Urmensch und Sagentiere — Die Atlantissage — Die geologische Erklärung der noachitischen Sintflut — Datierung und Raumbegrenzung der

noachitischen Sintflut — Jüngere Fluten und Landuntergänge — Sagen von Mond und Sonne — Sternsagen — Gondwanaland. Metaphysik: Das Metaphysische in Natur und Mythus - Natursichtig: feit als ältester Seelenzustand — Kulturseele und Urwelt — Naturdämonie und Paradies — Die Natur als Abbild des Menschen — Die Quelle der Weltentstebungß: und Weltuntergangsagen — Seelenwanderung, Tod und Erlösung.

Natur und Seele Ein Beitrag zur magischen Weltlehre 2. Auflage. 202 Seite». 1927. I» Leinen g«b. M. 6.50.

(Vorzug»au»gabe in Halbperg. geb. M. 12.—)

Inhalt: Die Grundfrage — Mensch und Natur — Weltanschauung — Magische Weltsicht — Der Mensch als Maß — Außen und innen — Der magische Kreis — Das Leben — Magie und Naturwissenschaft — Magie und Psychologie — Hellsicht und Einsicht — Magie und Intellekt — Das Opfer — Das Wort -

Körper und Kosmos — Kosmos und Leben — Aberglaube und Wirklichkeit — Gleich und Gleich — Das organische Gestalten — Verwandlung — Abbild und Urbild — Natursichtigkeit — Magie im Märchen — Gefahr der Magie — Die

Tat — Der UrmytbuS — Die Wende — Die Versenkung.

R. Oldenbourg -München und Berlin

Urwelt, Sage und Menschheit ist ein naturhistorisch begründeter Einblick in eine bisher nur sagenhaft erahnte

Urmenschheit und erweist altes Sagenwissen als echtes Menschheitserlebnis. Die Ergebnisse exakter Forschung verbinden sich mit ernster philosophischer Forschung

zu einem neuen Weltbild. Fragen nach dem Wahrheitsgehalt alter Sagen und

Mythen (Atlantis, Sintflut usw.), nach dem Alter des Menschengeschlechts, nach

derMögltchkeit einer naturwissenschaftlich wie metaphysisch beftiedigenden Stel­ lungnahme zur Abstammungslehre erhalten eine überrasckend neue Beleuchtung.

Aber mit der Naturhistorie der Sagen, die hier enthüllt werden, um sie für die Erd- und Menschheitsgeschichte fruchtbar zu machen, ist eS allein nicht getan. Wissenschaft als solche, und sei es auch die einfachste Beschreibung eines Gegen­ standes, kann, als Wollen zu reiner Erkenntnis, doch nur metaphysischen Sinn

haben — oder sie hat überhaupt keinen. Und gerade ein Problem wie das vorlie­ gende ist in seinem ganzen Umfang, in seiner ganzen Tiefe ohne bewußte Metaphysik überhaupt nicht zu fassen. Deshalb zeigt der Verfasser im zweiten, tief religiösen

Teil dieses Werkes, daß sich eine Drücke vcm Außerlich-Naturhistorischen zum

Innerlich-Metaphysischen unschwer schlagen laßt, wenn man sich einer Betrach­ tungsweise anvertraut, die ihre großen Vorbilder auch unter den Naturforschern hat, die aber im allgemeinen in unseren Tagen nicht üblich ist und vielen unmöglich,

wenn nicht verwerflich erscheint. Eine Vertiefung dieses metaphysischenTellS stellt

Natur und Seele dar. WaS dort unmittelbarer Ausblick war, ist hier methodisch zusammengefaßt, begründet und zu einem geschlossenen Weltblld gestaltet. Dacque nennt dieses das „Magische" im Gegensatz zur mechanistisch-intellektualen Weltanschauung der Naturwissenschaft. Ihr setzt der Verfasser in erlebnisstarken Gedankengüngen

gegenüber, was er als Naturforscher und seelisch Gläubiger zu den tiefsten Fragen der Naturphllosophie zu sagen hat. Und wiederum führt, wie im ersten Buch, ein

Weg der inneren Befteiung auS allem Niedrig-Magischen, aus dem okkulten Trei­

ben, mit dem hier eine AuSetnandersetzung erfolgt, zum Ziele reiner Menschlichkeit.

R. Oldenbourg-München und Berlin