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German Pages [353] Year 2016
Hans-Dieter Bahr
Landschaft Das Freie und seine Horizonte
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495860595
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B
Hans-Dieter Bahr Landschaft
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Man spricht manchmal davon, dass man »ins Freie« wolle, wenn man vorübergehend die Städte hinter sich lässt und sich aufs Land begibt. Gemeint ist mit dem Freien nicht das Landleben, vielmehr begegnen wir ihm dort, wo das begrenzte, vermessene, verbaute, bewirtschaftete Land mit seinen besonderen Ortschaften und Wegschaften zurücktritt, um etwas schlechthin Unverfügbares und Unbewohnbares aufzudekken, das ihm zu Grunde liegt: die Landschaft. Sie lässt sich gerade nicht auf das Geographische ihrer Reliefs reduzieren, auf die Arten ihrer Gesteine, Gewächse oder Gewässer, schon deshalb nicht, weil die Himmel mit ihren wechselnden Wettern, Lichtern und Dunkelheiten, ihren Kälte- und Wärmeströmungen, die Erden mit ihren Nässen und Dürren, Überflutungen und Erschütterungen, Versumpfungen und Verwüstungen je mit zur Erscheinung der Landschaften gehören. Vor allem aber tauchen Landschaften dort auf, wo die Länder auf bestimmte Weise entgrenzt werden: Sie überschreiten nicht nur die Orte ins Ortlose, die Wege ins Weglose, sondern sie transzendieren die Beschränkungen auf das Nahe und Enge, Niedrige und Flächige, um sich, über die Horizonte hinweg, schlechthin der Ferne zu, der Weite, der Höhe, der Tiefe zu öffnen. Gleichwohl sind Landschaften nicht grenzenlos, sie gestalten sich sogar zu gleitenden individuellen Besonderheiten. – Ein Landstrich mag uns vertraut und zur Heimat werden, Landschaften aber strahlen in ihrer Freie stets eine geheimnisvolle Fremdheit aus. Hans-Dieter Bahr geht dem Verstehen der Landschaft in der europäischen Tradition nach, um ihre grundlegende Differenz hervorzuheben zum Land mit seinen bestimmten Gebieten, zum Territorium, von dem schon das römische Recht erklärte, es bestehe aus »terra« und »terror«, und zumal auch zu den »Öko-Systemen« des »Landschaftsund Naturschutzes«. So erst wird sie als das Freie im Blick auf ihre verschiedensten Horizonte verständlich werden.
Der Autor: Hans-Dieter Bahr lehrte von 1970 bis 2000 Philosophie in Berlin, Bremen, Mailand und Wien.
https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Hans-Dieter Bahr
Landschaft Das Freie und seine Horizonte
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Rembrandt Harmensz van Rijn, Gewitterlandschaft (Ausschnitt), 1637/38 Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48599-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86059-5
https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Feu gewidmet
https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Inhalt
1.
Aussichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
2.
›Landschaft‹ als Gebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
2.1. Das gewöhnliche Verständnis von ›Landschaft‹ . . . 2.1.1. Vom ›guten Land‹ zum ›Teil der Erdoberfläche‹ : eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2. Die Benennungen der Landschaft . . . . . . . 2.1.3. Die Wahrnehmung der Landschaft . . . . . . 2.2. ›Landschaft‹ als Politicum . . . . . . . . . . . . . .
. . .
33
. . . .
. . . .
33 39 42 50
3.
Natur als Landschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
4.
Der Ferne zu
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
4.1. Aufbruch eines locus amoenus . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Earl of Shaftesbury oder die Liebe zur Ferne . . . . . . .
75 81
5.
94
Der verhüllte Eros heimischer Landschaft
. . . .
. . . . . . . . .
5.1. Zerstückelung als Geburt der ›Landschaft‹ . . . . . . . . 5.1.1. Die Metaphern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2. Die Mythen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Das ›Geschlecht‹ heimischer Landschaften . . . . . . . . 5.2.1. Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2. Mutter Erde und Vater Himmel . . . . . . . . . . 5.2.3. Nymphen und Satyrn . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Kann es ›männliche‹ und ›weibliche‹ Landschaften geben? 5.4. Die Phantasmen des ›Männlichen‹ und ›Weiblichen‹ . .
. . . . . . . . .
96 96 99 100 101 103 106 111 117
7 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Inhalt
6.
Die Physiognomie der Landschaft . . . . . . . . . . . . . .
6.1. 6.2. 6.3. 6.4.
Die schaffende Natur und ihr Antlitz Exkurs: Biologistische Moral . . . . Anbetung der Natur . . . . . . . . . Das Fehlen ›häßlicher‹ Landschaften .
. . . .
124 129 133 137
7.
Erhabene Landschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
141
8.
Landschafts-Stimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
149
8.1. 8.2. 8.3. 8.4. 8.5.
Die Rede von ›Stimmung‹ . . . . . . . . . . . . . . . Die musikalische ›Stimmung‹ . . . . . . . . . . . . . Landschaftsstimmung bei Schelling und Hegel . . . . Die Vielheit der Stimmungen in einer Grundstimmung Stimmungsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
149 153 157 165 171
9.
Landschaftsbilder
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . . .
. . . . .
124
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
9.1. Die Mehrdeutigkeit des Bildes . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.1. Das Erscheinungsbild . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.2. Die Bilderscheinung . . . . . . . . . . . . . . . .
176 178 185
10.
189
Landschaftsgemälde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10.1. Die äußeren Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 10.2. Die Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 10.3. Landschafts-Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . 201 1. Odyssee-Fresko (202) · 2. Sant’ Apollinare in Classe (204) · 3. Sanktgaller Sakramentar (206) · 4. A. Lorenzetti (208) · 5. Gebrüder Limburg (210) · 6. J. v. Eyck (212) · 7. A. Dürer (213) · 8. und 9. J. Patinir (214) · (216) · 10. Meister der weiblichen Halbfiguren (217) · 11. Antwerpener Künstler (217) · 12. El Greco (218) · 13. Jan Brueghel (220) · 14. A. Elsheimer (221) · 15. J. de Momper (222) · 16. H. Segers (223) · 17. Rembrandt (224) · 18. J. v. Goyen (226) · 19. und 20. Ph. Koninck (227) · (228) · 21. und 22. J. v. Ruisdael (229) · (230) · 23. Claude Lorrain (231) · 24. und 25. Caspar D. Friedrich (234) · (235) · 26. W. Turner (237) · 27. V. v. Gogh (238) · 8 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Inhalt
28. P. Cézanne (239) · 29. G. Braque (241) · 30. E. L. Kirchner (242) · 31. Salvador Dali (243) · 32. A. Kiefer (245) 10.4. Unterwegs zur entwegten Landschaft . . . . . . . . . . .
246
11.
249
Der offene Raum und das Freie der Landschaft . . . . . . .
. . . . . . .
250 252 254 255 256 258 261
12. Die Landschaft der Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . .
266
12.1. 12.2. 12.3.
Sprachbilder der Landschaft . . . . . . . . . . . . . . . Erzählung der Landschaft . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Poesie der Landschaft zur Landschaft der Poesie . 12.3.1. Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens . . . . . . 12.3.2. Paul Celan: Unstetes Herz . . . . . . . . . . . . 12.3.3. Karin Knobel: Behaust an rauchigem Gestade . . 12.4. Die Stadt und das Land . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5. Das Schweigen der Landschaft . . . . . . . . . . . . . 12.6. Das Rauschen und die Klänge der Landschaft . . . . . . 12.7. Himmel und Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.8. Die Gezeiten der Tage und Jahre und die Wetter . . . . 12.9. Die Fluren der Landschaft und ihre Gestalten . . . . . . 12.9.1. Berg und Tal . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.9.2. Wälder und Felder . . . . . . . . . . . . . . . . 12.9.3. Die Erden und die Wasser . . . . . . . . . . . . 12.9.4. Der Landschaft Zierde . . . . . . . . . . . . . . 12.10. Aufbruch in die Ferne und Weite . . . . . . . . . . . .
266 270 274 276 278 280 281 286 288 290 294 298 299 302 310 321 325
13. Die Welt der Landschaften . . . . . . . . . . . . . . . . .
328
14. Literaturangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
339
15. Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
349
11.1. Vom leeren oder erfüllten zum offenen Raum 11.2. Die Seinsweisen landschaftlicher Räume . . . 11.2.1. Ferne und Nähe . . . . . . . . . . . . 11.2.2. Höhe und Niedrigkeit . . . . . . . . . 11.2.3. Weite und Enge . . . . . . . . . . . . 11.2.4. Tiefe und Fläche . . . . . . . . . . . . 11.2.5. Das Freie und das strittige Zustimmen
. . . . . . .
. . . . . . .
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1. Aussichten
Die Ferne ist die Seele der Landschaft. Altchinesischer Meisterspruch
Einer verbreiteten Metapher zufolge glaubt man, in einer Landschaft das besondere Antlitz der Natur eines Landes zu sehen, die Physiognomie eines Landstriches der Erdoberfläche. 1 Zwar spricht man inzwischen auch von ›Meereslandschaften‹ oder von ›Mond- und Marslandschaften‹ u. a.; doch gemeint ist zuvorderst das irdische Land im Unterschied zum Meer. Der Erdboden dieses Landes muß allerdings nicht durchgängig fest und trocken, begeh- oder bewohnbar sein, da man auch Flüsse und Seen, Sümpfe, Moore, Treibsande, Magmaflüsse zu ihm zählt. ›Landschaft‹ überhaupt aber sei der charakteristische Ausdruck der Natur eines bestimmten Landes oder Landstrichs, dessen Anblick geographisch und sozial bestimmt und ästhetisch beurteilt werden könne. – Doch was wird hier unter ›Natur‹, was unter ›Land‹ verstanden? Vorab scheinen mir einige Überlegungen zu deren gängigem Verständnis wichtig, um ›Landschaft‹ entschieden gegen diese Auffassung abzugrenzen. (Eine Inhaltsübersicht werde ich dann vielmehr ab Seite 29 geben.) Denn ich werde nachzuweisen suchen, daß nicht die ›Natur des 1 Alexander von Humboldt spricht in seinen Ansichten der Natur von 1807 (Stuttgart 1859, S. 229) vom ›physiognomischen Charakter der Landschaft‹ und die Verwendung des Ausdrucks ›Physiognomie‹ in Hinsicht auf diese hält sich bis zur Gegenwart durch (vgl. etwa: Herbert Lehmann, Essays zur Physiognomie der Landschaft, Stuttgart 1986). Diese Bezeichnung beschränkt sich nicht etwa auf die organischen Bestandteile der Landschaften. Humboldt spricht ebenso von einer ›Physiognomie der Felsmassen‹ (Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung (1845–62), Stuttgart 2004, S. 229) und ist der Auffassung, ›in jedem Gebirge spiegele sich die ganze anorganische Welt‹, wogegen Landschaften durch die ›Physiognomie der Vegetation‹ nur stärker ›individualisiert‹ würden (Ansichten, ebd. S. 181).
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Aussichten
Landes‹ der ›eigentliche Grund‹ ist, der sich physiognomisch in der Landschaft ausdrücke, sondern umgekehrt, daß das ›Land‹ – in seiner zwiespältigen Bedeutung – eine bestimmte Verfallserscheinung der Landschaft ist. Das aber tritt umso deutlicher hervor, je mehr ein Land durch grauenvolle Überbauungen zerstört wird. – Es wird also darum gehen, ›Landschaft‹ umzudenken als das Freie, das in wechselnden Horizonten erscheint, sich aber niemals als bloßes ›Land‹ zeigt. Es gibt vielleicht noch vereinzelt Länder, die aus Stein- oder Salz-, Sand- oder Eiswüsten oder undurchdringlichen Urwäldern bestehen, doch bisher noch nie von Menschen genutzt, bearbeitet, ›kultiviert‹ worden sind. Zumal auf sie bezogen, spricht man dann gerne von ›unberührten Naturlandschaften‹ im Gegensatz zu ›Kulturlandschaften‹, die als Ländereien im Forst-, Obst- und Feldbau und für die Viehzucht bewirtschaftet werden, die aber auch einzelne Gehöfte oder Baudenkmäler enthalten und in welche früher sogar Städte eingebettet sein konnten. 2 Selbstverständlich blieb dabei anerkannt, daß auch ›Kulturlandschaften‹ an die Vorgaben der Natur gebunden bleiben, wie auch immer einzelne ihrer Erscheinungen durch Menschen verändert wurden. 3 Es wird ja unter ›Natur‹ nicht nur praktisch ein beliebig verformbarer Stoff verstanden, mag auch ihre Entstehung oder ›Schöpfung‹ mythisch vorgestellt werden. Menschen erfahren zwar die der Natur eigenen gewaltigen Kräfte der Bewahrung und Veränderung, sie vermögen aber die ›Gesetze‹, nach denen sie verfährt, zu erforschen, zu erkennen und teilweise für sich zu nutzen, wobei der Vorrang und die Übermacht dieser Natur durchaus anerkannt bleibt. Eine so verstandene Natur, deren Bereich nicht auf die Erde begrenzt ist, sondern alles im Kosmos Vorhandene ausmacht, zeigt sich demnach zunächst als ein Gebiet des außermenschlich Anderen, und wenn diesem Gebiet auch die Menschen als natürliche Lebewesen angehören, die auf sie einwirken, so heißt das, daß sie an sich selbst ein Teil dieser ihnen vorgegebenen Andersheit der Natur sind, im Unterschied zu einer ›rein menschlichen‹ Sphäre, die man von alters her in
Man denke an die in ländliche Fluren eingebetteten Städteansichten des 17. Jahrhunderts, die umfassend von den Merians dargestellt worden waren. 3 Vgl. Robert Spaemann, Natur, in: Philosophische Essays, Stuttgart 1983, S. 19–40. 2
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Aussichten
einem frei tätigen, gottähnlichen Geist zu denken sucht. 4 Doch läßt sich seinerseits der Geist auch wieder als eine wesentliche Eigenschaft dieser Natur selbst denken, so daß Alexander von Humboldt sagen konnte, daß uns Menschen beim ›Eintritt in die freie Natur das dunkle Gefühl des Einklangs, welcher im ewigen Wechsel ihres stillen Treibens herrsche‹, überkommen könne. 5 In ihrer Andersheit mag diese Natur, wie der Geograph Carl Ritter sich ausdrückte, den Menschen zunächst als ein ›geheimnisvolles Wesen‹ erscheinen. 6 Doch unter den Fortschritten der Naturwissenschaften scheinen sich mit den gelüfteten Geheimnissen gleichermaßen das beängstigend Unheimliche wie das staunend erfahrene Wunderbare der Natur aufzulösen – eine Auffassung, die seit Max Weber und Jürgen Habermas sehr verbreitet ist. Alexander von Humboldt war allerdings noch der Auffassung: ›Ich kann (…) der Besorgniß nicht Raum geben, zu welcher Beschränkung oder eine gewisse sentimentale Trübheit des Gemüths zu leiten scheinen, zu der Besorgniß, daß, bei jedem Forschen in das innere Wesen der Kräfte, die Natur von ihrem Zauber, von dem Reize des Geheimnisvollen und Erhabenen verliere.‹ 7 Er ahnte, daß ein solcher Verlust nur denjenigen Menschen droht, die in der Natur vor allem einen Rohstoff technischer Eroberungen, Umwandlungen und Aneignungen sehen. Doch gerade auch diese technokratische Einstellung der Moderne förderte die Auffassung, Natur sei grundsätzlich das teils noch geheimnisvolle Gebiet, in welchem eine außermenschliche ›Andersheit‹ wirke, von der es immer mehr Bereiche zu erobern und in verfügbare Gebiete zu verwandeln gälte, die den menschlichen Bedürfnissen angemessen wären. 8 Es scheint demnach, als ob jedes ›naDie materialistische Hirnphysiologie versucht heute, diesen Geist als Gespenst zu vertreiben, um das Gebiet dieser geistlosen Natur auch auf den Menschen auszuweiten. 5 Alexander von Humboldt, Kosmos, a. a. O., S. 10. 6 Carl Ritter, Die Erdkunde im Verhältnis zur Natur und zur Geschichte des Menschen oder Allgemeine, vergleichende Geographie, Berlin 1822, S. 3. 7 Alexander von Humboldt, Kosmos, a. a. O., S. 17. 8 Nach einem Satz Immanuel Kants scheint die Erde kein durchgegliedertes Gebiet zu sein, abgesehen vielleicht von der Schwerkraft, die sie als Masse zusammenhalte: ›Wir bewohnen nur fürchterliche Ruinen.‹ Doch forderte er eine geographia subterranea, die erweisen könnte, daß die Erde nicht nur als ›Schutthaufe oder Klumpen gemengter Materien‹ anzusehen sei, sondern sich in Lagen und Schichten ausdehne, auf denen die Möglichkeit von Quellen beruhe (I. Kant, Physische Geographie, Bd. IX der Gesammelten Schriften, Hg. K. Preuß, Akademie der Wissenschaften, Berlin-Leipzig 1923, S. 270). 4
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Aussichten
türliche Land‹ bereits und gleichsam schlafend in sich das Land als ein ›politisches‹ Gebiet enthalte, in welchem unentwegt ein ›Kampf ums Dasein‹ herrsche. 9 Als ein solches ›Reich und Gebiet‹ – obwohl doch nach verbreiteter Auffassung Natur in ihm ›blind‹ und ziellos nach Gesetzen der Kausalität walte und keine finalen Zustände verwirkliche – ist ›Natur‹ als der Spiegel eines ganz anderen Gebietes verstanden: Noch im 17. Jahrhundert konnte der Dichter Angelus Silesius im Anschluß an Paracelsus von den Lebensräumen unterschiedlicher Gattungen von Lebewesen sagen: ›Im Wasser lebt der Fisch, die Pflanzen in der Erde, / Der Vogel in der Luft, die Sonn im Firmament / Der Salamander muß im Feuer erhalten werden‹ (Eines jeden Element) 10. Von den Menschen heißt es dagegen bis heute, sie lebten auf der Erde – so als gäbe es für sie kein allgemein vorgegebenes Element, kein ›mediales Worinsein‹, keinen sie umgebenden besonderen Lebensraum, sondern nur die reliefartige Oberfläche der Erdböden, von denen manche mit Pflanzen bedeckt und von Tieren bewohnt sind, Erdböden, die Halt geben, also bewahren, aber auch beschränken. Sofern Menschen jedoch nur ›worauf‹ sind, – zumal sich dessen ›Worunter‹ inzwischen als ein kleiner Planetball in den Weiten des Kosmos erwiesen hat, – scheinen sie der ungegliederten Tiefe einer Welt ausgesetzt, wodurch sie sich gezwungen fühlen, sich ihr eigenes Milieu zu bilden. Demnach halten sich Menschen, ob nomadisch, ansässig oder umherschweifend, nie einfach auf einem nutzbaren Teil der Erdoberfläche auf, weder in einer unbestimmten Gegend noch auf einem beliebigen Gelände. Sie bewohnen vielmehr Länder im Sinne politischer Gebiete, die heute zumeist staatlich verfaßt sind, und deren Grenzziehungen Ernesto d’Alfonso prägte dagegen in einem Gespräch den schönen Ausdruck des ›dramma tellurico‹, durch den vermieden wird zu unterstellen, etwas wolle in der Natur über anderes ›siegen‹ und seine ›Herrschaft‹ errichten. – Im Denken von ›paesaggio / Landschaft‹ weichen wir dagegen voneinander ab. Während nach seiner Auffassung der Bezug des Menschen zur Landschaft wesentlich zu dieser gehöre, scheint mir ihre ›Indifferenz‹ den Menschen gegenüber entscheidend. 10 Ich werde in diesem Buch, vor allem ab dem Abschnitt (12.), sehr häufig Gedichtzeilen zitieren, in denen bekannte deutsche Dichter zwischen Barock und Gegenwart etwas über Landschaften und ihre Erscheinungsweisen sagen. Angesichts der vielen Buchausgaben, durch deren Titelverzeichnisse die Gedichte leicht zu finden sind, wäre es pedantisch gewesen, ständig in den hunderten von Anmerkungen ihre ausführliche Herkunft anzugeben. Ich begnügte mich deshalb damit, im Text die Titel der jeweils zitierten Gedichte kursiv in Klammern anzuführen. 9
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Aussichten
halten sich längst nicht mehr an die jeweiligen Schranken der Bewohnbarkeit oder Nutzung. Im Laufe der Geschichte und abschließend zumal im 20. Jahrhundert wurden Länder von Menschen lückenlos in Besitz genommen und die Besitznahme erstreckt sich mehr und mehr auch auf die Lufträume und Meere und bereits auf Mond- oder Marsflächen. Irdische ›Länder‹, auch wenn sie als teils schon durchschaubare, teil noch geheimnisvolle ›Gebiete‹ der Natur gelten, sind restlos in eigene politische Gebiete umgewandelt worden, von denen Menschen gerne glauben möchten, sie stünden unter ihrer Herrschaft und seien transparent und rational regierbar. Heute gliedern sich politische Gebiete zumeist in ein übergeordnetes Reich (imperium) mit seinen Bezirken (regio) oder unterworfenen Provinzen (pro-vincia). Länder als politische Gebiete sind Territorien, die sich, wie es ein altrömischer Rechtsgrundsatz formuliert hatte, aus terra und terror zusammensetzen. 11 Man sucht sie durch Gewalt und deren ständige Androhung in Grenzen zu halten, wobei die jeweiligen Herrscher über Einschlüsse, Zugänge oder Ausschlüsse entscheiden, mag das willkürlich, gemäß partikulärer Machtinteressen oder durch allgemeines Recht und Gesetz geschehen, mehr oder weniger diktatorisch oder verhältnismäßig freizügig. (Es ist kennzeichnend, daß im Deutschen bis heute von ›StaatsAngehörigen‹, nicht etwa von ›Staats-Zugehörigen‹, gesprochen wird!) Durch gegenseitige Anerkennung der bestehenden Gewaltverhältnisse werden diese Gebiete und alles, was sich praktisch verfügbar oder unverfügbar in ihnen befindet, in ›an sich verfügbares Eigentum‹ verwandelt, selbst wenn es noch gar nicht technisch für einen Nutzen erschlossen werden kann. Melden sich die widrigen Naturkräfte gebieterisch zurück, kann man noch so lange die ›Naturkatastrophen‹ als ›Ausnahmen‹ hinstellen, bis diese, wie heute, zur Regel zu werden drohen. Menschen scheinen also in dem Sinne auf der Erde zu leben, als sie das, was unter ihnen liegt, besetzen und qua ›Sitz‹ in Besitz nehmen und sich alles als Eigentum aneignen, was die Umgebung bietet oder Die schlechthin alle Besonderheiten nivellierende Art des Nationalismus, in welchem jedes Landesgebiet gleich allen anderen Gebieten feindselig auf den Vorrang des eigenen Landes vor allen anderen insistiert, zeigt sich darin, daß dieser das Territorium seinerseits gewaltsam mit der herrschenden Sprachgemeinschaft (oder Schicksalsgemeinschaft eines Volkes, einer Klasse oder gar mit der fiktiven Herkunftsgemeinschaft einer Rasse) zur Deckung bringen will. ›Nationalismus‹ ist von vornherein ›Totalitarismus‹, nämlich – mit Hegel gesprochen – die ›Krankheit‹, in welcher sich etwas gänzlich Partikuläres gewaltsam als Allgemeines durchzusetzen sucht.
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Aussichten
noch nicht preisgibt. Und sie deuten ihr Gebiet als eines, von dem aus das weit mächtigere ›Gebiet der Natur‹ nach und nach erobert werden soll. Ein gebieterisches Worauf treibt folglich die Menschen als Kollektive dazu an, ständig worauf-hin zu existieren: hin auf eine stets umfassendere Verfügbarkeit, nicht nur über die vorhandene ›Natur‹ des eigenen Landes, sondern auch – durch territoriale und wirtschaftlichtechnische Ausdehnung ›ihres‹ Landes – über die politischen Gebiete konkurrierender Kollektive. 12 Keineswegs also dienen heute noch staatlich verfaßte Länder vorrangig dazu, den Menschen das Überleben zu sichern. Die Menschen und ›ihre‹ Erde wurden zumal im Verlaufe des letzten hundert Jahre einer ›Technokratie‹ unterworfen, die allerdings inmitten der Sucht nach Aneignungen inzwischen damit droht, die Subsistenzbedingungen der Menschen zu verbrauchen, wie auch immer man diesen Verbrauch zu verzögern oder zu Ungunsten der ›Verlierer‹ aufzuteilen versucht. 13 In seiner Anthropogeographie (Stuttgart 1909, S. 158) sprach Friedrich Ratzel bereits 1882 offen vom ›Kampf um Raum‹. Im ›Wesen des Fortschritts liege die Umfassung immer weiteren Bodens‹. Wie alle imperialistischen Staaten folgte auch der Nationalsozialismus solchen Strategien, um der vermeintlich siegreichen Herrenrasse mehr Lebensraum zu verschaffen. Konsequenterweise kommt bei Ratzel das Wort ›Landschaft‹ nicht mehr vor, auf dessen ›heimatlichen Klang‹ allerdings die Propaganda der Nationalsozialisten nicht verzichten wollte. 13 Ich verstehe unter ›Technokratie‹ nicht eine mysteriöse ›Herrschaft der Technik‹, die es wieder zu ›unterwerfen‹ gelte, damit sie den Menschen ›diene‹, sondern das mächtige Walten eines bestimmten praktischen ›Wissens (techné)‹, das von sich selbst nichts weiß und scheinbar auch nichts zu wissen braucht, das sich vielmehr in seinem eigenen Verfahren erschöpft, wodurch es allerdings keineswegs nur perfekt und berechenbar ›funktioniert‹. Dieser Technokratie stehen solche, die Persönlichkeit bildenden Umgangsformen störend im Wege, die sich in einer ständig sich in Frage stellenden und weiterbildenden Sprache vollziehen. In dem Maße, wie zudem die ›Produktivität steigernde Technokratie‹, wie sie ohnehin besteht, noch zum höchsten gesamtgesellschaftlichen Wert und Programm erhoben wird, schreit man nach ›Abschaffung‹ alles ›Schöngeistigen‹, zu dem man inzwischen sogar die Geographie zählt: Melanchthon hatte sie als erster in die lutherischen Universitäten als Lehrfach eingeführt, da er sie für einen ›ersten Weg zu Gott‹ gehalten hatte (vgl. dazu: Emil Egli, Mensch und Landschaft, Zürich-München 1975, S. 166 und 185). Als Schulfach ist Geographie in den 1960er Jahren wieder abgeschafft worden. – Egli selbst sieht allerdings in der Landschaft nur eine ›unerschöpflich variierte Bildkomposition aus Stein- und Wasserhülle, Biosphäre, Kultursphäre und Luftmeer mit wesentlichem Stimmungsgehalt‹ (ebd., S. 167). Städte und Hochhäuser zählt er immerhin nicht zur ›Kulturlandschaft‹ sondern zu einer ›Zivilisationslandschaft‹ (ebd., S. 196). Sollten dazu etwa auch ›Fabrik- und Industrielandschaften, Behörden- und Bankenlandschaften‹ etc. gehören? 12
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Aussichten
In welchem Sinne sollten nun Landschaften als das ›Antlitz‹ von Ländern zu verstehen sein, die vorrangig vom Doppelcharakter des natürlichen und politisch-sozialen Gebietes her verstanden werden? Offensichtlich bestehen ja ›Landschaften‹ nicht einfach aus dem dünn besiedelten Land außerhalb der Städte, gar bloß aus dem ebenen oder ›welligen‹ Erdboden unter den Füßen und unter solchen Blicken, die dessen Fortgang vorwegnehmen; noch sind sie eine Art Gefäß, ›in‹ dem man sich irgendwo zwischen Bergen und Tälern befindet, zwischen Wäldern und Feldern, zusammen mit Gewässern und Tieren oder vielleicht am Rande von Hochgebirgen, Meeren und Wüsten. Sie sind auch nicht geographisch zurückführbar auf beständigere geologische Gestalten und Lagen irdischer Fluren, schon deshalb nicht, weil zu ihnen die unaufhörlich sich wandelnden Luft- und Wettererscheinungen sowie die Lichter der Himmelserscheinungen und deren ›Wanderungen‹ gehören, ganz abgesehen von den kosmischen Schicksalen dieses Planeten. Schon gar nicht beschränken sich Landschaften, im Gegensatz zu den einst heiligen Hainen, auf einige, inzwischen von den Göttern verlassene Natur- oder Landschaftsschutz-Gebiete, die man ghettoisiert, um ›anderswo‹ keine Rücksicht mehr auf sie nehmen zu müssen. Wie wichtig auch angesichts der wachsenden Natur- und Umweltzerstörungen Natur- und Landschaftsschutz sein mögen: gebietend, verfügend, verwaltend wird niemals eine Landschaft erfaßt, immer nur Teile eines Gebietes, die man für erhaltenswert halten mag oder die man auf einen vermeintlichen ›Urzustand‹ zurückführen will. 14 Bestehen denn ›Landschaften‹ aber nicht aus Orten und Lagen der Erdoberfläche in einem Netz bewanderbarer und befahrbarer Wege, deren erscheinende Gestalten ›harmonische, monotone oder disharmonische Mannigfaltigkeiten‹ bilden, die zur Augenweide und zum Niederlassen einladen oder davon abhalten? – Tatsächlich deutet man zumeist Landschaften so, als biete ihr Anblick einen ›ästhetischen Überbau‹ über eine vorgegebene ›Basis‹, nämlich über das Land als der Oberfläche,
Es liegt etwas seltsam Undurchdachtes darin, in Landschaften metaphysisch die ›beständige Gegenwart einer immer gleichbleibenden Natur‹ zu sehen, sie aber als nur uns ›umgebende Natur‹ zum ›Gegenstand menschlicher Sorge‹ zu erheben, wie Wolfgang Kluxen es tut in: Moral-Vernunft-Natur. Beiträge zur Ethik, Paderborn u. a. 1997, S. 245.
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der ein natürliches Gebiet zu Grunde liege. Hat aber das ästhetische Phänomen eines Landes wirklich etwas mit ›Landschaft‹ zu tun? Eine gängige Vorstellung ist, daß ein Land dann einen ästhetischen Anblick zeige, wenn man von seinen Zwängen als natürliches und politisches Gebiet Abstand zu nehmen vermag, – Anblicke anmutiger oder erhabener, öder, sanfter oder wilder Landstriche, die sich ergeben könnten, wenn man von keiner Not, keinem Bedrängnis, keinen Anforderungen, keinen Trieben und keinem Begehren, nicht einmal von Neugier oder von wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen bewegt sei. Und man besorgt sich solche Anblicke, um unbesorgt das Wohlgefallen an ihnen zu genießen. ›Ästhetische Anblicke‹ übernehmen demnach, wie man mit Schopenhauer oder Arnold Gehlen zu sagen pflegt, die Funktion, sich psychisch vorübergehend vom ›Druck des Daseins‹ und seinen sorgenvollen Anspannungen im Netz der Gebiete zu entlasten, um Erholung und Vergnügen finden zu können. Man sorgt sich also um den Genuß der Sorglosigkeit, sei er anspannend oder entspannend. – In solchen Auslegungen ist allerdings das ›Ästhetische‹ nicht einmal ernst genommen, sondern bloß auf bestimmte vitale Erlebnisse und psychische Gemütslagen zurückgeführt und instrumentalisiert: man begehrt die ›Schönheiten der Natur‹, um sich kurzfristig in einem entspannenden oder aufreizenden Wohlgefallen daran zu befriedigen. 15 Und die Naturschutzgesetze postulieren entsprechend, daß jeder Bürger ein Recht auf diese erholsame und vergnügende Natur habe. Von solchen bloß ›subjektiven‹ Gefühlszuständen und Begehrensweisen sucht sich natürlich eine wissenschaftlich geographische ›Landschaftskunde‹ fernzuhalten, wobei sie oft nicht bemerken will, daß empirische Beobachtungen und Zusammenfassungen von Sachverhalten nur ›objektiv‹ sein können, sofern sie selbst ›subjektiv‹ sind. – Hier nun Andeutungen zu einem
Wie rasch das Vergnügen an einem Landstrich in Verdruß umschlagen kann, zeigen uns die Reisenotizen des Christophorus Kolumbus. Er war auf seiner vierten Reise von 1502–1504 auf tropische Länder gestoßen, die ihn mit endlosen Stürmen, Regen, Gewittern derart verdrossen, daß ihm deren Natur, wie er schrieb, ›zum erbarmungslosen Feind‹ wurde. Dagegen hatte es auf seiner ersten Reise 1492–93 noch geheißen: ›Ich gestehe, beim Anblick dieser blühenden Gärten und grünen Wälder und beim Gesang der Vögel eine so innige Freude empfunden zu haben, daß ich es einfach nicht fertigbrachte, mich loszureißen und die Reise fortzusetzen.‹ (Zitiert in: Günther Hamann, Natur- und Landschaftsschilderungen in den Berichten der beginnenden Neuzeit, in: Die Welt begreifen und erfahren: Aufsätze zur Wissenschafts- und Entdeckungsgeschichte (S. 52), Hg. G. Hamann und J. Dörflinger, Wien-Köln-Weimar 1993).
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anderen Verständnis von ›Landschaft‹ zu geben, muß zunächst recht abstrakt erscheinen, weil noch nicht, wie weiter unten, konkret auf ihre Erscheinungsbilder eingegangen werden kann: Ein erster grundlegender Unterschied von Landschaften gegenüber Ländern, die praktisch beherrscht, wissenschaftlich erforscht oder in vitalen und psychischen Erlebnissen genossen werden (oder nicht), liegt darin, daß ihre Erscheinungen als landschaftliche weder in kausalen und somit technisch reproduzierbaren Abhängigkeiten zueinander stehen, noch aus beliebigen, aber mengenmäßig berechenbaren Anhäufungen bestehen, noch gar, wie Biotope, systemtheoretisch beschreibbare Quasi-Organismen bilden. Da wissenschaftliche Objektivität angeblich nur durch derartige Methoden zu erreichen ist, ›Landschaften‹ aber nicht durch sie erfaßt werden können, scheint nur noch eines übrig zu bleiben: sie als vermeintlich ›bloß‹ subjektive ästhetische Phänomene zu bejahen oder zu verwerfen. Es reicht aber nicht aus, ein Landstück nicht wissenschaftlich bestimmen zu wollen und Abstand zu nehmen von den eigenen Begierden und sozial nützlichen Praktiken, um es in eine ›Landschaft‹ verwandelt zu sehen. Nicht einmal psychisch oder vital entspannende oder aufregende, spielerische Nutzungen bestimmter Landstriche leisten das. Je nachdem, wie Landschaften erscheinen, versammeln sich vielmehr, in der Seinsweise bestimmter Räume, die Gestalten, die ihr besonderes Erscheinungsbild prägen, in – wie ich es nennen werde – Weisen ›widerstreitenden Zustimmens‹ zueinander, die weder aus beliebigen Zufällen noch aus zwangsläufigen Verkettungen hervorgehen, noch dialektisch in einer höheren Einheit, etwa ›der Natur‹ oder als ›göttliches Kunstwerk‹, aufgehoben sind. Solch ›widerstreitendes Zustimmen zueinander‹ erscheint uns, im Gegensatz zu jeder Art ›Übereinstimmungen‹, stets aus ihren offenen, wenn auch nicht beliebigen Möglichkeiten heraus, nämlich auch auf andere Weise sich begegnen und entgegenstehen zu können, ohne daß diese landschaftlichen Gestalten deshalb atomistisch in endlos und beliebig kombinierbare Einzelelemente zerfielen. Denn die Arten ihres einander widerstreitenden Zustimmens gehören von vornherein zu jeder landschaftlichen Erscheinung, die eben als landschaftliche bloß ›isoliert‹ gar nicht vorkommen kann. Früh schon hatte daher ein Denker wie Hegel, gegen bestimmte metaphysisch-teleologische Deutungen, betont, daß ›Länder‹, die man als Landschaften betrachten will, keinen logischen ›Begriff‹ bildeten, daß sie demnach auch niemals als 19 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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›Öko-Systeme‹ erfaßbar sein können, wie heute – wenn auch in ganz verschiedenem Sinne – die herrschende Geographie-Wissenschaft und die technokratische ›Grünen‹-Politik (aller Parteien) behaupten. Gewiß kann man die ›Bestandteile‹ mineralischer, pflanzlicher, tierischer und klimatischer Gruppierungen eines Landstriches daraufhin untersuchen, in welchen komplexen Wechselwirkungen sie untereinander stehen, auch wenn sie sich dadurch noch lange nicht als zu bewahrende oder kontrolliert abzuwandelnde Zustände eines ›Systems‹ auf sich selbst beziehen. Wo man die Ungereimtheit solchen Denkens spürt, faselt man dann gerne gedankenlos von ›offenen Systemen‹. – Wenn Landstriche, die den Anblick von Landschaften bieten sollen, aber weder Systeme noch äußere Wirkungen noch nur Anhäufungen aus beliebigen Elementen sind: Wie läßt sich dann die Art ihres ›Allgemeinen‹ verstehen, auf das uns Landschaften doch verweisen? Wird es vielleicht verständlicher, wenn wir einen Blick auf das werfen, was man heute zu ihren ›Zerstörungen‹ zählt? Es scheint uns so, als würden auf Erden immer wieder auch Länder, die man als Landschaften ansieht, zerstört durch Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen, Vereisungen oder Verwüstungen oder global durch Kriege und Klimaveränderungen. Doch Landschaften verschwinden dadurch nicht überhaupt, mag sich für die Menschen ihr vormals ›paradiesisches‹ Aussehen auch in ›höllische Ödnis‹ abgewandelt haben: sie ändern nur ihre Erscheinungsweise, mögen ›wir‹ dabei auch oft den vorübergehenden Verlust der Mannigfaltigkeit ihres Reichtums bedauern. Insofern aber scheint das mögliche LandschaftSein ›unterhalb‹ bestimmter Länder und Landstriche weltweit zu bestehen. – Auf Dauer aber in einen ›tiefenlosen Untergrund‹ verbannt, scheinen Landschaften allerdings durch jene unförmig wuchernden industriellen Überbauungen der Länder überlagert zu werden, welche die ehemaligen Städte in unübersehbar öde Vor-Orte ihrer selbst verwandelt haben, die keine eigenen, besonderen Orte mehr zulassen und nur noch austauschbare Stellen, Flächen und Kuben bilden. Wie auch euphemistisch von ›Stadt- und Industrielandschaften‹ geredet wird: Durch die uferlosen und konzeptarmen Verbauungen zerfallen auch die noch unverbauten Landstriche in bloße Gelände eines immer dürftigeren, aber immer bürokratischer verwalteten Gebietes, das nur noch wenige Funktionen erfüllt und damit die Komplexität der Umwelten zerstört. Und man ahnt noch nicht einmal, was denn menschliche Exi20 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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stenz aus sich selbst heraus bedroht, wenn Landschaften in die untiefen Untergründe technokratisch verfügbarer Gebiete verschwinden. Die Zerfallserscheinungen ehemals wohnlicher Länder reichen tiefer als die manchmal mit Bedauern bezeichneten Symptome fortschreitender Verbauung. Doch nicht die Verbauung an sich ist das Problem, sondern die grauenvolle, barbarische Art, wie sie inzwischen weltweit geschieht, um dem american way of life nachzueifern, nämlich durch die schachtelartigen Wellblech- und Betonklötze und deren Zink- und Stahlverstrebungen, in denen die wachsende Größe mit der wachsenden monotonen Unförmigkeit zusammenfällt. Es wuchern die öden Vor-orte der Vor-Orte, deren Austauschbarkeit nicht nur in Europa mit dem folkloristischen Kult um die ›historischen Altstadtzentren‹ kaum zu verschleiern ist. ›Überbaut‹ werden die Landschaftsbilder auch durch die netzartigen Zerschneidungen der noch ›unverbauten‹ Landstriche mit Plastikplanen über den Feldern, mit Straßen, Schienen, Fernleitungen und Flugbahnen, durch Ketten von Türmen gigantischer Windkrafträder und Sendemasten auf jedem Hügel, aber auch durch den omnipräsenten Maschinenlärm der Fahrzeuge auf dem Land, den endlosen Lärm der Mähmaschinen und der landwirtschaftlichen Maschinen auf den Äckern und Wiesen sowie den Lärm in den forstwirtschaftlich zersägten ›Wäldern‹, die man inzwischen fast bis zum Kahlschlag ausgedünnt und in Müllhalden für unbrauchbares Laub und Gehölz verwandelt hat; überbaut auch vom Lärm der Schiffsmotoren auf den Gewässern und der Flugzeugmotoren in der Luft usf. Und damit sich die ›Massen‹ von all dem sollen ›erholen‹ können, bepflastert man die Landstriche mit Vergnügungsparks, Skipisten und Rennbahnen, mit Park-, Sport- und Spielplätzen, mit Grillstellen, Pommesfrites- und Wurstbuden und mit unzähligen Sitzbänken, um den Ausblick auf die wachsenden Monokulturen der Felder ›übersehen‹ zu können, zumeist begleitet vom immerwährenden Gedudel und ›Geschlager‹ aus den lauten oder leisen Lautsprechern, abgelenkt von Sport- und Showsendungen auf den Bildschirmen, vom Geplauder und von den Internetspielchen mittels der Mobiltelefone, entlang den kanalisierten Bächen und Flüssen und auf den immer lückenloser vernetzten Rad- und Wanderwegen mit ihren unzähligen Wegweisern durch die Wälder und Felder usf. – Vor den destruktiven Zugriffen der Massentouristen glaubt man einige Naturschutzreservate ganz abschirmen zu können, ohne doch die verderblichen Lüfte, Regen und Strahlungen abhalten zu 21 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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können. Doch diese ›Massen‹ weichen schon längst in die unzugänglichsten Urwälder, Steppen und Wüsten dieser Erde aus, die sie überfliegen oder mit einer Art Panzerfahrzeug durchpflügen. Man verzehrt flüchtige Anblicke bestimmter Landstriche wie Hamburger mit Cola und macht Erinnerungsfotos davon. Und die Tourismusindustrie profitiert von einem immer rarer werdenden Gut ›Landschaft‹, das sie vermarktet. 16 – Was aber auch immer die ›Massen‹ – in der Menge oder einzeln – auf dem noch unbewohnten und unbefahrenen Land finden mögen: Landschaften sind es gewiß nicht! 17 Und gleichwohl – durch die destruktiven Eroberungen bisher ungenutzter Landstriche, durch Verbauungen, Vernetzungen und Massentourismus hindurch – spürt man überall noch den völlig deformierten Traum, ›draußen im Freien‹ etwas finden zu können, was man in den endlos werdenden Beton-, Blechund Teer-Vororten verspielt hat. – Betreffen aber diese Zerstörungen des Landes überhaupt das Wesen der Landschaft? Entschwindet dieses nicht nur dem Blick der Menschen über sich selbst hinaus? Wie wenn sie vielmehr nur Zerstörungen wesentlicher Anliegen menschlicher Existenz wären, nämlich des Anliegens, die Sucht nach Aneignungen und Besitzergreifungen angesichts landschaftlicher Erscheinungen überschreiten zu können hin zu bedeutsameren Horizonten?
Friedrich Achleitner, Die Ware Landschaft. Eine kritische Analyse des Landschaftsbegriffs, Salzburg 1978. 17 Unter ›Masse‹ wird zum einen nur eine große amorphe Menge von Menschen verstanden, die allein durch ihr geballtes Auftreten in Gruppen oder als viele Einzelne große Schäden verursachen können. In einem politisch sozialen Sinne scheint dagegen die Masse, im Unterschied zu Ständen, Klassen oder Völkern, letztlich aus einem ›kriegerischen Prinzip‹ heraus verstanden zu werden, nämlich aus der ›überlegenen Mehrheit‹, die heute vor allem darüber entscheidet, was auf den Märkten ›angeboten‹ wird und die somit ökonomisch stets als ›Sieger‹ gelten kann, wie viele Verlierer es in ihr auch im Einzelnen geben mag. Das Problematische dieses im wörtlichen Sinne ›demokratischen Mehrheitsprinzips‹ liegt nicht nur darin, daß die Mehrheiten mit ihren ›rational begründbaren Interessen‹ auch ihren Vorurteilen, Unkenntnissen, unbewußten Begierden und Perversionen, Launen usf. zur Macht verhelfen, sondern daß gegen dasselbe, gerade um der politischen Freiheiten willen, ein ›über-demokratischer‹ Rechtsund Sozialstaat erfordert wird, der nicht nur Mehrheiten vor übermächtigen Minderheiten schützen soll, sondern vor allem auch machtlose Minderheiten vor den Auswirkungen der Macht der Mehrheiten. Man hat daher diese Rechte in Form von Menschenrechten der Disposition durch die demokratischen Mehrheitsentscheidungen entzogen und damit der uneingeschränkten ›Volkssouveränität‹ Grenzen gesetzt. 16
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Das übliche Denken von ›Landschaft‹ zeichnet sich, wie bemerkt, dadurch aus, daß es dieser das Land als vermeintlich ihr eigentlicher Grund unterstellt, – das Land in seiner Funktion als natürliches wie politisches Gebiet, welches erst die abstrahierende Gewalt zu entfalten vermag, es stofflich auf ein Stück Erdboden und formal auf einen geographischen Teil der Erdoberfläche zu reduzieren. Über diesen ›Grund‹ erhebe sich angeblich ihr möglicher ästhetischer Anblick unter der Voraussetzung, daß sich Entlastungen vom Druck des Daseins einstellen. – Wie aber, wenn vielmehr umgekehrt das Land eine bestimmte, durch menschliche Selbstbezogenheit ausgelöste Dekadenz der Landschaft wäre, eine Verfallserscheinung, die sich genau dann aufdrängt, wenn die Wohnlichkeit des Landes zerstört wird? Ich werde also, mit einer gewissen Zumutung gegenüber gängigen Vorstellungen, die These vertreten, daß ›Länder‹, die nur als Gebiete mit einem ästhetischen Überbau verstanden werden, bloß blinde Verfallserscheinungen von Landschaften sind, Landschaften, die auf diese Weise zu keiner Erscheinung mehr kommen, weil sie sich in ihrer schlechthin unverfügbaren Macht allen gebieterischen Gewalten, sei es der Zerstörung oder der Pflege, entziehen. Nur für die Menschen selbst verschwinden sie als landschaftliche Erscheinungen in die Untiefen der Untergründe zerstörter Landstriche. Und wenn Denker im Versuch, Landschaft zu verstehen, sich immer wieder größten Schwierigkeiten ausgesetzt sehen, so deshalb, weil sie das Land nur als deren Voraus-setzung betrachten, nämlich als die Oberfläche eines irdischen ›Grundes‹, ohne das Freie der Landschaften mit ihren Horizonten überhaupt zu bemerken. 18 – Wie aber sollten wir denn Länder von Landschaften her verstehen? Länder sind das, wovon und woheraus Menschen leben, in denen sie sich einrichten. Unvermeidlich ist das verbunden mit Eingriffen in manche Gestaltungen der Länder. Doch gab es Zeiten, in denen diese Länder gerade im Wissen um ihre Verletzlichkeit ›heilig‹ gehalten wurden, um sie so wenig wie möglich zu zerstören. Es galten die landschaftlichen Erscheinungen selbst als ›heiSelbst Jean-Luc Nancy scheint nicht ganz frei vom Verständnis des Landes als eines Grundes, der in der Landschaft seine Darstellung finde, auch wenn er von ›entwurzelter Landschaft‹ spricht anstatt von einem ästhetischen Überbau über diesen Grund. Doch die Verneinung von Wurzeln der Landschaft im Grund scheint mir nicht ausreichend zu ihrem Verständnis.Vgl. Jean-Luc Nancy, Entwurzelte Landschaft, in: Am Grund der Bilder (S. 91–108), Übers. E. Alloa, Zürich-Berlin 2006. – Den Hinweis auf seinen Aufsatz verdanke ich Christoph Georg Tholen.
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lig‹ und nicht nur deshalb, weil sie Aufenthaltsorte von Göttern waren. Die Weisen des Bauens hatten daher noch auf die Weisen der landschaftlichen Erscheinungen zu achten und sich nach ihnen zu richten. Nur deshalb wurden überhaupt so etwas wie ›Kulturlandschaften‹ möglich. Durch eines jedoch überschreiten landschaftliche Erscheinungen allemal die der Länder und der menschlichen Anliegen: Sie öffnen sich zu wechselnden Horizonten, die sich im widerstreitenden Zustimmen der Seinsweisen des Raumes zeigen: von der Nähe zur Ferne, von der Niedrigkeit zur Höhe, der Enge zur Weite, der Fläche zur Tiefe, der ›Heimat‹ zur ›Fremde‹. Die Räumlichkeit der Länder folgt dagegen nur meß- und berechenbaren Abständen. Das aus der Abwesenheit zu verstehende An-wesen der Landschaft in ihren Erscheinungsweisen werde ich in einem mathematischen Sinne ›imaginär‹ nennen, im Unterschied zu ihren jeweils ›imaginativen‹ Erscheinungen. 19 Das Imaginäre hat nichts mit dem ›Unwirklichen‹ zu tun, sondern eröffnet eine Dimension der Wirklichkeit, die weder durch Setzungen als positiv noch durch Verneinungen als negativ bestimmt werden kann. Von dieser Art aber sind die landschaftlichen Horizonte: weder positiv etwas einschließende Grenzen noch negativ Entgrenzungen zum Grenzenlosen. Insofern liegt im Wesen der Landschaften ein dem logisch zweiwertigen Denken gegenüber ›ungegebenes‹ Drittes. Da nun aber Umgangssprachen weitgehend technisch-struktural über Oppositionsbildungen funktionieren, werden wir Schwierigkeiten zu riskieren haben, uns dem Verständnis dieser dritten Wirklichkeitsdimension ›nähern‹ oder vielmehr ›fern halten‹ zu können. Was bezüglich des Horizonts als Grenze vorgestellt wird, ist nur eine an sich unmögliche Verbildlichung des Imaginären. 20 Doch Landschaften lassen Horizonte auftauchen, indem sie sich der Ferne und Höhe, der Weite und Tiefe und der Fremde schlechthin öffnen, und sie sind selbst die Weise dieser Eröffnungen, deren Verschiedenheiten ja anschaulich erfahren werden an den einander widerstreitenden Zustimmungen ihrer mannigfaltig erscheinenden GeEs geht natürlich nicht um die Möglichkeit, mit einer Zahl, die weder positiv noch negativ ist, Gleichungen zu lösen, sondern um ein philosophisches Problem, das die Mathematik damit aufwirft. Vgl. dazu: Alfred North Whitehead, Imaginäre Zahlen, in: Eine Einführung in die Mathematik, Übers. B. Schenker, Bern 1958, S. 50 f. 20 In welchem Sinne Landschaften als ›Pantagramme‹ zu verstehen sind, kann erst im Abschnitt 9. dargelegt werden. 19
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stalten untereinander, wie etwa an den ›Wiesenblumen hinsichtlich der blauen Berge in der Ferne‹ etc. Landschaften sind also in ihrer Seinsweise weder begrenzt noch unbegrenzt, denn solches läßt sich nur von isolierten Gestalten und ihren räumlich meßbaren Überschreitungen sagen. Durch die unverfügbaren Eröffnungen landschaftlicher Horizonte, durch welche die Gestalten der irdischen Flure und des Himmels ›überschritten‹ und doch nicht überschritten werden, sich ›begrenzen‹ und doch keine Grenze bilden, werden Landschaften erst das Freie ihrer unaufhebbaren Fremdheit bekunden. Ihnen wesentlich das Land als Grund zu unterstellen und ihnen einen ästhetischen Überbau zuzuschreiben, hat bloß die Funktion, sie sich als verfügbare Gebiete anzueignen oder anzuerkennen, daß sie ›Eigentum‹ des Anderen sind, sei es der Natur oder des konkurrierenden anderen Kollektivs. Durch schrankenlose industrielle Überbauungen und massentouristische Überwucherungen entziehen sie sich aber nicht nur dem technokratisch beschränkten, sondern auch diesem ästhetischen Blick, und sofern es sich um zerstörte Länder handelt, dient selbst der ›Naturschutz‹ nur dazu, Müllberge mit Erdaushub zu übertünchen und zu begrünen. Für menschliches Dasein sind damit Erscheinungen der Landschaften verschwunden und wir können niemals wissen, ob sie jemals wieder zum Vorschein kommen werden oder nicht. 21 – Will man aber der Fremdheit der Landschaften ›ferner‹ kommen, ohne durch ›Näherkommen‹ die Ferne, Höhe, Tiefe, Weite ihrer Horizonte bloß zu tilgen, muß das durchgängig ›Verortete‹ der Gebiete erst wieder ›entortet‹, das ›Unentwegte‹ ihres Treibens erst wieder ›entwegt‹ werden. Das aber leistet keine Geographie, sondern eher ihre malerische, musikalische und dichterische Darstellung sowie philosophisches Denken. Man wolle ›ins Freie‹ gehen, heißt es oft gedankenlos, und man meint damit ›hinaus aus dem Hause nach draußen‹, dahin, wo weder physische noch psychische Wände Halt zu gebieten scheinen, noch Mauern und Wege die Richtung des Ganges vorschreiben. Man hält es in der eigenen Umgebung, ja in der eigenen Haut nicht mehr aus, will aus ihr fahren, um nach draußen ins Freie zu kommen. Menschen wollen sich aus-setzen, zumeist ohne zu wissen, wem oder was. In diesem Wunsch ›Tschernobyl‹, das durch atomare Verseuchung für Menschen unbewohnbar gewordene Land, scheint nach wenigen Jahrzehnten wieder durch Pflanzen und Tiere belebt zu sein. Doch wissen wir denn schon, ob sie gedeihen oder Schaden nehmen werden?
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aber liegt noch die tiefere, wie auch verschüttete Einsicht, daß Landschaften selbst das Freie sind, das sich erst erschließt, wenn man sich auf die Aus-setzungen aller gebieterischen Setzungen einläßt, um das vernehmen zu können, was sich da einzig von sich her zeigt. Man glaubt zuweilen, man wolle ›in die Natur raus‹ – in eine ›Natur‹ allerdings, in der weder Menschen noch Naturgewalten etwas zu gebieten hätten. Doch Landschaften sind, wie ich zeigen werde, auch nicht zureichend als Bestandteile einer ›friedfertigen‹ Natur zu verstehen, die sich dann doch manchmal ›gewalttätig‹ in Überschwemmungen, Bränden, Dürren, Vereisungen etc. äußert. Ihre Erscheinungsweisen gehen sogar weit über das hinaus, was die vermeintliche Totalität einer Natur, als natura naturata et naturans (selbst noch als denaturata-denaturans), ausmacht – nicht etwa deshalb, weil wir nichts wissen von den weltweiten ›Landschaften‹ schwarzer Löcher, schwarzer Materien, schwarzer Energien oder dunkler ›strings‹ u. a. Zu der offenen Gestalt der jeweils auf Horizonte hin und von ihnen her zu erschließenden landschaftlichen Erscheinungen gehören das Verborgene und die Geheimnisse ihrer noch unentschiedenen Möglichkeiten ebenso wie die Weisen eines nicht-omnipräsenten Raumes, die sich jeder Berechenbarkeit und Meßbarkeit entziehen, ohne sich im Unendlichen zu verlieren. Es sind die Weisen der Horizonte der Landschaften, die sie imaginär ebenso zu begrenzen wie zu entgrenzen scheinen, ohne beschränkt zu werden oder sich im Unbeschränkten aufzulösen. Wir vermögen Landschaften gerade dort zu begegnen, wo die Totalität einer omnipräsenten Natur nicht zureicht, sie als deren Bestandteile oder als deren ästhetisches Antlitz zu denken. Als imaginäre sind Landschaften nicht total und absolut anwesend, denn ihre Anwesenheit geschieht aus einer Abwesenheit heraus. Als Landschaften stellen Landschaften das denkende Dasein der Menschen in Frage, nämlich in die Frage, wie sie, als vorübergehende Wesen, bei den offenen, fernen, weiten, hohen, tiefen Horizonten landschaftlicher Erscheinungen zu verweilen vermögen. Sind Menschen überhaupt fähig, nicht alles auf unentwegten Wegen in die Nähe ihrer überall seienden Plätze zu bringen, um darüber zu verfügen? Sind sie fähig, sich nicht ständig in ihrer eigenen Enge, Niedrigkeit und Oberflächlichkeit zu verschließen, wie es für die Verwaltung ihrer eigenen Gebiete nötig scheint? Ist doch menschliches Dasein an ihm selbst wesentlich ein Verweilen beim Vorbeikommenden und Vorübergehenden, 26 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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um auf offene Horizonte hin zu leben. Die Begegnung mit Landschaften, mit deren irdischen Fluren, himmlischen Erscheinungen und raumhaften Horizonten, geschieht auch nicht – im scheinbaren Gegensatz zu den auf Dauer angelegten Aneignungen der Länder – in der Weise nur ›flüchtiger Aufenthalte‹, wie sie auf allen Plätzen und Wegen möglich sind, mögen sie kürzer oder länger sein. Eine solche Begegnung wird dort möglich, wo Menschen betroffen sind vom Sinn gastlichen Verweilens im Vorbeikommen und Vorübergehen selbst – ein Verweilen eben bei dem, was nicht ewig und nicht einmal ständig dauert. Solches Verweilen geschieht nicht deshalb, weil etwas an den Landschaften menschliches Begehren weckt und interessiert oder umgekehrt sich etwas an den Landschaften zum Menschen neigte. Es ist die Gastlichkeit ihrer Gestalten und Räume, welche die landschaftlichen Erscheinungen in der Weise ihres widerstreitenden Zustimmens zueinander zulassen, bei welcher Menschen vorübergehend zu verweilen vermögen, wenn sie von sich selbst absehen. Wollte man aber in solchen Landschaften ›Gast-Geber‹ sehen, welche uns Menschen gastfreundlich oder ungastlich empfangen, dann wäre allerdings daran zu erinnern, daß jeder Gastgeber immer zugleich selbst empfangener Gast seines Gastes ist. 22 Nur in diesem Sinne vermöchten Menschen und Landschaften sich als Gäste in ihren offenen, befremdlich unverfügbaren Möglichkeiten zu begegnen, ehe da eine Verteilung von Gebieten stattfindet, in denen die Weisen des Gebens und Empfangens hoheitlich und hostil im Sinne des eigenen Eigenen oder des Eigenen des Anderen geregelt werden. Solche Begegnung des Fremden nicht nur mit dem Fremden (oder Vertrauten), sondern schlechthin mit der sich landschaftlich gebenden Fremde, die dem menschlichem Dasein eine Landschaft allererst durch die Länder hindurch zu offenbaren vermag, kann, wenn sie uns in unserem Alltag überfällt, sogar erschrecken. So bemerkte Rainer Maria Rilke: ›Die Landschaft ist ein Fremdes für uns und man ist furchtbar allein unter Bäumen, die blühen, und unter Bächen, die vorübergehen.‹ 23 Doch es ist gerade diese niemals anzueignende Fremdheit der Landschaften in ihrer Unzugänglichkeit und Unbewohnbarkeit, Vgl. dazu vom Verfasser: Die Anwesenheit des Gastes. Entwurf einer Xenosophie, Nordhausen 2012. 23 Rainer Maria Rilke, Worpswede, in: Ausgewählte Werke Bd. II, Hg. Rilke-Archiv Weimar, Reutlingen 1948, S. 228. 22
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die es ermöglicht, daß wir ihnen immer wieder zum ersten Male begegnen. Ob leidend an oder erfreut über Einsamkeit oder Beisammensein gibt uns die Befremdlichkeit weltweiter Landschaften vorübergehend Geleit. Albert Camus’ Fremder erblickt in der Nacht vor seiner Hinrichtung plötzlich, durch das Fenster seiner Gefängniszelle, diese unaufhebbare Fremdheit und Teilnahmslosigkeit der nächtlichen WüstenLandschaft, durch welche er mit einem Male ›la tendre indifférence du monde‹ erfährt. 24 Die ›Indifferenz‹ bedeutet gerade nicht, daß die Welt seinem Schicksal gegenüber grausam ›gleichgültig‹ wäre, gar ›gefühllos‹ und ›kaltherzig‹. Es ist eben die Nicht-Interessiertheit und Gelassenheit der Weltlandschaften, die nicht von den widrigen oder bergenden Gewalten einer gebieterischen Natur her zu verstehen sind. Erst in der aussichtsreichen Einsicht, selbst ›Gast‹ – aber nicht ›auf Erden‹, sondern Gast der irdisch-himmlischen Landschaften zu sein, nämlich fremder Gast dem fremden Gast unter dem Himmel und in der Welt: erst angesichts solcher Gelassenheit erscheinen Landschaften nicht bloß in ihrem Verfall zu bestimmten Landesgebieten und deren Gelände, nicht in einem ständigen, gesichtslosen Hin- und Hergerissensein zwischen den menschlichen Gebieten und deren Abhängigkeit von den machtvolleren Gebieten der Natur, sondern in den Möglichkeiten ihrer befremdlichen Gelassenheit, in der sie sich als das Freie zeigen anstatt als erfüllte oder leere Räumlichkeiten. Anstatt sich gebieterisch im Eigenen gegen das gebieterische Eigene des Anderen einzumauern, offenbart sich vielmehr in solcher In-Differenz gerade das Freie in der Begegnung mit der Landschaft und zwar in der ›Gleichwertigkeit‹ des Fremden, der man selbst als Gast ist, und der Fremde, als die uns Landschaften empfangen und zwar unabhängig davon, ob sie uns anderweitig als heimatliche Landstriche bekannt und vertraut oder als unbekannte Gegenden noch unvertraut sind. Indem menschliches Dasein vom Eigenen absieht, damit es nicht wie ein Gefangener überall stets nur sich selbst antrifft, vermag es angesichts des befremdlich Anderen der unverfügbaren Landschaften und deren Erscheinungen auch die Befremdlichkeit seines Selbstsein zu empfangen, anstatt unentwegt gebieterisch auf dem Eigenen zu insistieren, das doch vom Eigenen des Anderen ständig bedroht und vernichtet wird.
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Vgl. Albert Camus, L’Étranger, Paris 1942, S. 87.
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Es wird Zeit, die unaufhebbare Fremdheit im Schutt der Aneignungen wieder sprechen zu lassen – im Versuch, vom Eigenen absehend das Freie der Landschaften und ihrer Horizonte zu denken. Ferner von sich selbst würde menschliches Dasein im Vorübergehenden seiner selbst und der Landschaften, die ihm begegnen, verweilen können. * * * Sich den Versuchen anschließen, Landschaft zu verstehen, heißt, dem kaum Gedachten nachzuspüren. Denn gerade die Auffassung, in den Landschaften biete sich der Anblick eines Landes, das ihnen zugrunde liege, erschwert den Blick auf sie, nicht nur deshalb, weil eine solche Auffassung zumeist von den wechselnden Himmelserscheinungen absieht, unter denen ein Land ständig sein Antlitz ändert, sondern auch weil sie das rätselhafte Phänomen der Horizonte ignoriert, durch welche sich Landschaften weder als begrenzte noch als unbegrenzte zeigen. Landschaften entziehen sich den scharf begrenzten Gebieten natürlicher oder politischer Länder, und noch der Übergang einer Landschaftsart in eine andere ist Landschaft. Doch selbst dann, wenn man, wie in der Geographie, von staatlich verfaßten Gebieten absehen wollte, benannte man Landschaften oft nach ›natürlichen‹ Merkmalen, die als vorherrschende hierarchisch ein Gebiet bestimmen: Karst- oder Heide-Landschaften, Voralpen- oder Küsten-Landschaften usf. (2.). Solche Abstraktionen entfalten leicht eine Macht, zusammen mit den Besonderheiten die komplexe Mannigfaltigkeit der Landschaften zu übersehen. Die Frage ist daher aufzugreifen, was man überhaupt als Landschaft wahrzunehmen glaubt. Darüber hinaus aber werden Landschaften politisch zu ›Gebieten‹ erklärt, wenn man einen Landstrich durch bestimmte Eingriffe vor andersartigen Eingriffen zu bewahren sucht. Doch die Frage, wer überhaupt bestimmen darf, wie ein Landschafts-Bild auszusehen hat, führt, wie ich zeigen werde, zu einer sonderbaren Zerrissenheit zwischen staatlicher Programmatik, Gesetzgebungen, Rechtsprechungen und verbreiteten Vorurteilen, die Zeugnis eher davon ablegt, wie wenig bisher über ›Landschaften‹ nachgedacht worden ist. In neuerer Zeit wurden ›Landschaften‹ immer weniger als mögliche Objekte der Naturwissenschaften betrachtet, wie es im 19. Jahrhundert noch zwischen Alexander von Humboldt, Karl Ritter und Siegfried 29 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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Passarge der Fall war. 25 Man sah in ihnen schließlich nur noch subjektiv ästhetische Anschauungsweisen der Natur. Dagegen wandte sich Joachim Ritter mit der Frage, unter welchen Bedingungen Landschaft als Natur verstanden wurde (3.). Sein Bemühen, ästhetische Betrachtung, anstatt sie auf psychische Erlebnisse zu reduzieren, vom platonischen Verständnis der theoria her zu denken, führt zurück zu einem Denker, der wohl als erster Landschaft nicht mehr versteckt oder offen von paradiesisch eingehegten Örtlichkeiten her deutete: Earl of Shaftesbury (4.). Was zuvor als ›verderbte‹, gar ›teuflische‹ Natur verfemt worden war, nämlich Wildnisse und Einöden, Sümpfe, Hochgebirge oder Wüsten, wird nun als eine Weise ›landschaftlicher Schönheit‹ begriffen, für welche die Menschen kaum einen Sinn entwickelt hätten. Und gegen alle Entwürfe, gefällige Landschaften in ›Landschaftsparks‹ einzufangen, schreibt er ihnen erstmals Ferne und Weite als wesentlich zu. Das Denken der ›Landschaft‹ steht seither vor der Aufgabe, ein Drittes zu erfassen zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, nämlich das Wesen des Horizontes. Shaftesburys Ansatz blieb ein Fragment und löste sich noch nicht ganz aus der Fortwirkung metaphysischer und alter mythischer Auffassungen. In den Mythen wurde ›Landschaft‹ teilweise als von einem ungeheuren kosmischen Leib herstammend, der zerstückelt wurde, vorgestellt, teilweise von der Idee der Natur als Organismus, deren Organe sogar weibliche oder männliche Züge aufweisen (5.). Zumal im Deutschland des 18./19. Jahrhunderts (und bis heute im Glauben an biologische ›Öko-Systeme‹) neigte man dazu, Landschaften als ›Physiognomien‹ eines Organismus vorzustellen. Herder, Lavater, A. v. Humboldt, Goethe und andere glaubten – gegen alle Bemühungen Kants – mit dem Begriff einer von Gott als Organismus geschaffenen und schaffenden Natur den Cartesischen Dualismus zwischen mechanisch bestimmter Materie und ›lebendigem Geist‹ überwinden zu können (6.). Verborgen wirkte darin der alte Riß weiter zwischen dem Gutsein der Schöpfung und der durch den menschlichen Sündenfall verderbten Natur. Spuren dieser Spannung zeigen sich sogar noch in den Unterscheidungen ›schöner‹ und ›erhabener‹ Landschaften (7.). – Hatte man bis dahin Landschaften zunächst eher architektonisch, dann malerisch beurteilt, so entstand dagegen in der Philosophie der deutschen Klassik – gegen den Glauben, Landschaften seien Physiognomien einer göttlichen organischen Natur – ein 25
Vgl. Karl Siegfried Passarge, Die Grundlagen der Landschaftskunde, Hamburg 1919.
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neues Paradigma aus zugleich uraltem pythagoreischen Gedankengut: die musikalische Betrachtungsweise von Landschaften in den ›Kompositionen‹ ihrer Elemente sowie in den ›Melodien‹ und ›Rhythmen‹ derer Verbindungen. Doch wurde der Ausdruck ›Stimmung‹ rasch psychologisiert. Plötzlich erschienen ›Landschaften‹ nur mehr als subjektive ›Projektionen‹ eigener Gemütszustände auf ›die‹ Natur (8.). Im Ausdruck landschaftlicher ›Stimmungsbilder‹ suchte man zwar, objektive und subjektive Momente zu vereinen, ohne allerdings genauer geklärt zu haben, wie sich Bildlichkeit und Stimmung zueinander verhalten. Mir schien es daher wichtig, zunächst die Frage nach dem Bildcharakter der Landschaften zu vertiefen durch die Unterscheidung zwischen Erscheinungsbild und Bilderscheinung (9.). Diese Differenz ermöglicht es, das gedankenlose Nachahmungsschema, demzufolge Landschaftsgemälde realistische oder idealisierte ›Abbilder‹ wirklicher Landschaften seien, ebenso zu überwinden wie den Kult um eine ›mystisch-schöpferische Produktivkraft‹ des Genies. Ich werde anhand einer Reihe von Landschaftsgemälden darlegen, wie sich das Landschafts-Bild vom 15. bis ins 20. Jahrhundert hinein veränderte (10.). Darin wird eine bestimmte Geschichte deutlich, nämlich die Entdekkung landschaftlicher Seinsweisen des Raumes (11.). Denn im Unterschied zur meß- und berechenbaren, geo-graphischen Räumlichkeit zeigen die Landschaftsgemälde die Weisen, wie Ferne und Nähe, Höhe und Niedrigkeit, Weite und Enge, Tiefe und Fläche einander widerstreitend zustimmen, ohne dialektisch in eine höhere Einheit aufgehoben zu werden. Sie sind es, die den eigentlichen Horizont und das Freie der Landschaft bilden. – Im Abschnitt ›Die Landschaft der Dichtung‹ (12.) werde ich von der Landschaft der Erzählung zur Landschaft in der deutschsprachigen Lyrik vom Barock bis zur Gegenwart übergehen. In letzterer werden nämlich die Namen der Erscheinungen, die den Charakter einer Landschaft ausmachen, scheinbar nur zu bestimmten Paaren gruppiert: Stadt und Land, Himmel und Erde, Sommer und Winter oder Frühling und Herbst, Berg und Tal, Wälder und Felder, Erden und Wasser u. a. Tatsächlich verweisen die ›Paare‹ in widersetzenden Zustimmungen zueinander darauf, daß sie einer Landschaft angehören und nicht nur verschiedene ›Dinge‹ in einem Land sind. Nur insofern hat jeder Himmel etwas Irdisches und die Erde etwas Himmlisches an sich, jedes Tal etwas Berghaftes, jedes Wasser etwas Erdiges an sich und so fort. Insgesamt aber, so läßt sich feststellen, werden in der deutschen 31 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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Dichtung, im Anschluß an uralte religiöse Mythen, diese Erscheinungen vorrangig nach (göttlicher) Höhe und (menschlicher) Niedrigkeit gegliedert und es gibt in diesen Gedichten nur wenige Anzeichen, aus den heimischen Naheverhältnissen bestimmter Erscheinungen zu den Horizonten der Ferne und Weite aufzubrechen. Obwohl der Ausdruck ›Zierde‹, mit dem man noch im 18. Jahrhundert die Schönheit der Landschaften beschrieb, eben diese Naheverhältnisse vorrangig privilegierte, kann er doch nicht jener oberflächlichen Polemik unterworfen werden, mit der man dann ab dem 20. Jahrhundert das Dekorative und Ornamentale in der Öffentlichkeit verfemte, um es im Privaten als Kitsch wuchern zu lassen. – Abschließend (13.) werde ich, ausgehend vom Gedicht des Empedokles Über die Natur, den Versuch unternehmen, die weltweite Mannigfaltigkeit der Landschaften vom Bann einer Präsenz-Metaphysik der Natur zu befreien, damit in den Weisen ihrer Horizonte nicht nur ihre offenen Möglichkeiten, sondern auch ihre geheimnisvoll ›entorteten‹ und ›entwegten‹ Fremdheiten wieder bedacht werden können.
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2. ›Landschaft‹ als Gebiet
Zu einem Politicum werden ›Landschaften‹, indem Gesetze, Verordnungen und Rechtsprechungen bestimmte, vorwiegend unbebaute Landstriche, von denen man sich staatlicherseits ein bestimmtes Bild gemacht hat, ausdrücklich zu einem Gebiet erklären, das durch schützende Maßnahmen und durch die Abwehr schädlicher Einflüsse bewahrt oder nach diesem Bild (wieder) hergestellt werden soll. Zumeist werden solche Landstriche außerdem als Lebensraum bestimmter gefährdeter Pflanzen und Tiere, aber auch ›sozialhygienisch‹ und ›ästhetisch‹ als Erholungsgebiete für Menschen ausgezeichnet. 1 Nun können zwar, wie ich meine, bestimmte Länder und Landstriche als solche Gebiete behandelt werden, nicht aber Landschaften. Ich werde jedoch zunächst dem gängigen Verständnis von ›Landschaft‹ und seinen Widersprüchen nachgehen, bis klar wird, wie unzureichend es ist, dadurch das Wesen der Landschaften begreifen zu wollen.
2.1. Das gewöhnliche Verständnis von ›Landschaft‹ 2.1.1. Vom ›guten Land‹ zum ›Teil der Erdoberfläche‹ : eine Skizze Das von Moses verheißene gute Land, in dem es an nichts mangele zu einem guten Leben und dessen Bild die Israeliten bewegen sollte, aus Ägypten auszuwandern, scheint in einem klaren und einfachen Gegensatz zur lebensfeindlichen Wüste zu stehen. Er forderte sein Volk auf, Das Umweltgutachten der Bundesregierung (Nr. 194, in: Land und Mensch, Mannheim 1980, S. 9–10) bestimmt folgendermaßen: ›Landschaftsräume sind Teilräume der Biosphäre, die sich aufgrund ihres Landschaftshaushaltes (ökologisch), ihrer Landschaftsstruktur (strukturell), ihres Landschaftsbildes (visuell-physiognomisch) und ihrer Landschaftsentwicklung (genetisch) von benachbarten Teilräumen abgrenzen lassen.‹ – Stein-, Sand- oder Eiswüsten gehören demnach, sofern sie keine ›Biosphäre‹ haben, nicht zu den möglichen ›Landschaften‹.
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›Landschaft‹ als Gebiet
die Gebote Gottes zu halten: ›Denn der Herr, dein Gott, führt dich in ein gutes Land, ein Land, darin Bäche und Brunnen und Seen sind, die an den Bergen und in den Auen fließen; ein Land, darin Weizen, Gerste, Weinstöcke, Feigenbäume und Granatäpfel wachsen; ein Land, darin es Ölbäume und Honig gibt; ein Land, da du Brot genug zu essen hast und da dir nichts mangelt; ein Land, in dessen Steine Eisen ist, wo du Kupfererz aus den Bergen hauest. Und wenn du gegessen hast und satt bist, sollst du den Herrn, deinen Gott, loben für das gute Land, das er dir gegeben hat … dann hüte dich, daß dein Herz sich nicht überhebt und du den Herrn, deinen Gott, vergißt, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft, und dich geleitet hat durch die große, furchtbare Wüste, wo feurige Schlangen und Skorpione und lauter Dürre und kein Wasser war.‹ 2 Nun erscheint hier zwar die Wüste als das schlechthin ungute Land, in dem auf Dauer kein Leben möglich ist und dessen Durchquerung durch den Mangel an Wasser und Lebensmittel und durch giftige Tiere bedroht ist. Das gute Land aber zeigt bereits einen unausgeführten Überschuß über das hinaus, was den Menschen für ein gutes Leben von Nutzen ist: nämlich die Berge und Auen, die Bäche und Seen, sofern sie immer schon weit mehr sind als das, was sich von ihnen als Güter verwenden läßt. Spürt man nicht das Wohlgefallen, mit dem der Blick des Moses auf dem Bild dieses Landes ruht? – Das Volk aber wird ihn oft gefragt haben, wie weit es denn noch bis zu diesem Lande sei. Der große Reisende der Antike, Herodot (490 bis 425 v. Chr.), beschrieb Länder nur insoweit, wie sie von Menschen bewohnt, bewirtschaftet, regiert, bekriegt oder bereist werden. Er nennt nur die Gebirge, die ein Land umgeben, die Flüsse, die es durchziehen, allenfalls noch Farbe und Fruchtbarkeit der Böden, sowie die Entfernungen zum Meere und zu den Nachbarländern, die das Land nach verschiedenen Himmelsrichtungen begrenzen. Mehr schien ihm zum Verständnis der Geschichte bestimmter Länder nicht unbedingt notwendig. 3 Das schien den Handel, Krieg und Wissenschaft treibenden Hellenen nicht mehr ausreichend. Sie wollten die Größe nicht nur der einzelnen Länder, sondern der ganzen Erdoberfläche ermitteln. Eratosthenes (275–195 v. Chr.) 5. Buch Moses, 8, V 7–15, in: Die Bibel, Übers. Martin Luther, Stuttgart 1963, S. 218. Herodot, Historien, Übers. A. Horneffer, Stuttgart 1971. Vgl. etwa exemplarisch den Anfang des 2. Kapitels über Ägypten.
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Das gewöhnliche Verständnis von ›Landschaft‹
führte durch Gradmessung die erste Erdmessung durch, berechnete den Erdumfang in Stadien und verfaßte ein Werk mit drei Bänden erstmals unter dem Titel Geographika. Bei Strabo von Amaseia (63 vor bis 20 nach Chr.) findet man in seinem Buch Geographika allerdings eine Bemerkung, die über die kartographisch geo-metrischen und die Angaben über Beschaffenheit guter (oder unfruchtbarer) Länder hinaus ging, da er mit Begeisterung über eine bestimmte Landschaft Südspaniens sagte, ›er werde ausführlich besprechen, was dazu beiträgt, die herrliche Natur und die Segensfülle dieser Gegenden kennen zu lernen‹. 4 Und man kann annehmen, daß er damit nicht nur ein Land meinte, das ausschließlich für Menschen gut und nützlich sei. Klaudios Ptolemäus II (85–160 n. Chr.) hatte in seiner Geographike hyphegesis von der umfassenden Geographie und der örtlichen Topographie eine Chorographie unterschieden, wobei er dazu bemerkte, sie behandle weniger die Größenverhältnisse als die Beschaffenheit der Länder. 5 Im Unterschied zur spärlichen ›Länderkunde‹ eines Herodots kann man in der Chorographie den Beginn einer ›Landschaftskunde‹ sehen, die, im Unterschied zu den Historien Herodots, gleichsam als reine ›Gegenwartskunde‹ entworfen wurde. Der ptolemäische Ausdruck ›Chorographie‹ erinnert vielleicht noch von ferne daran, daß damit nicht die lokale Verteilung von Bergen, Gewässern, fruchtbaren Böden auf einem Landstück bezeichnet waren, sondern ein dionysischer Reigentanz und der Ort, an dem dieser aufgeführt worden ist, also ein Platz, der weder bewohnt noch bewirtschaftet, sondern heilig gehalten wurde. Der Ausdruck wurde später von Kant in seiner Physischen Erdbeschreibung bestimmt als ›Beschreibung einer Gegend und ihrer Eigenthümlichkeiten‹. 6 Darin deutet sich eine Tendenz an, ›Gegenden‹ allein in ihrer natürlichen Beschaffenheit zu beschreiben, wie es dann Alexander von Humboldt tat. Im Unterschied zu diesem sprach Kant noch nicht von der Schönheit oder Erhabenheit solcher Gegenden.
Strabo von Amaseia, Geographika, Länderkunde in 17 Büchern, zit. in: Hans Beck, Geographie. Europäische Entwicklung in Texten und Erläuterungen, Freiburg-München 1973, S. 42. 5 Klaudios Ptolemäus, Geographike hyphegesis, in: Hanno Beck, a. a. O., S. 46. 6 Immanuel Kant, Physische Geographie, a. a. O., S. 159. Ein Versuch Anfang des 20. Jahrhunderts, den Ausdruck ›Chorographie‹ für eine Wissenschaft von der Landschaft zurückzugewinnen, blieb erfolglos. 4
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›Landschaft‹ als Gebiet
Hatte Aristoteles, im Anschluß an Empedokles, von den vier Grundelementen, aus denen die Natur zusammengesetzt sei, nämlich Erde, Wasser, Luft und Feuer, noch gesagt, daß ihrer Stofflichkeit ein ›geistiges Formungsprinzip‹ innewohne, so daß sie durchaus auch auf Ziele ausgerichtet sein können – die pythagoreische Rede von einer ›Weltseele‹ hatte ihren Sinn noch nicht ganz eingebüßt –, so spaltete die neuzeitliche Naturwissenschaft die Erde auf in einerseits eine träge, anorganische, ›tote‹ Masse, der nicht einmal, wie Leibniz es noch dachte, eine innere Kraft eigen sei, die sich als Impuls äußere, und andrerseits in eine organische Sphäre des Lebendigen mit den drei Reichen der Pflanzen, Tiere und Menschen. Nach Newton verharren diese toten Massen in ihren Zuständen, solange sie nicht durch Ursachen rein von außen bewegt werden. Mit diesem Verständnis der Kausalität drang gleichsam der theologische Schöpfungsgedanke in die Naturwissenschaft selbst ein, da die Natur allein von ihrer Materie her gesehen nur noch als absolut passiver, ›toter Stoff‹ galt, so daß alle Bedenken, die ›Erden‹ der Erde auszubeuten, sich auflösen konnten. Durch die Länder der Erde verlief fortan dieser Riß zwischen dem Toten und dem Lebendigen. Doch heute, wo die Grundunterscheidung in das Anorganische und Organische der Natur zugunsten eines ›universellen Materialismus‹ zu zerfallen beginnt, wird auch die mythische Färbung der vorgängigen Unterscheidung deutlicher: Der mosaischen Genesis zufolge war Adam aus Erde, Staub oder Lehm wie eine Skulptur von Gott geformt worden, ehe der ihm Leben einhauchte. Nach dem vermeintlichen Verstoß gegen ein Gebot Gottes ist die Vertreibung aus dem Paradies an die Verfluchung Adams und Evas und ihrer Nachkommen verknüpft, sterben und wieder zu Erde werden zu müssen. Die Erden, anstatt die mannigfaltig wandelbare Stofflichkeit eines Bildwerkes zu sein, werden zum Toten nicht nur als Grab, sondern im Zerfall aller verstorbenen lebendigen Körper in ein entropisches Chaos. – Konträr allerdings zur vulgären Doktrin, der zufolge alle Erscheinungen der Natur kausal materialistisch zu erklären seien, wies die fortgeschrittene Nuklearund Astrophysik immer rätselhafter werdende Verhaltensweisen dieser ›Massen‹, ihrer Teilchen und energetischen Wendungen nach, so daß die mechanistisch-kausalistische Weltanschauung, wie sie gegenwärtig zumal von Vertretern der sogenannten ›Analytischen Philoso-
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Das gewöhnliche Verständnis von ›Landschaft‹
phie‹ und der Hirnphysiologie vertreten wird, wie sehr sie noch vorherrscht, in absehbarer Zeit wohl wieder verschwinden wird. 7 Im Gefolge einer vermeintlichen ›Entmythisierung‹ der Erde und der Natur überhaupt durch den Vulgärmaterialismus beschränkte sich die Landschaftskunde zunächst darauf, ›Landschaften‹ morphologisch zu beschreiben. Seit dem 18. Jahrhundert hatte die Geographie begonnen, die Gestalten der Landschaften zu gliedern und einzuteilen nach Gattungen, Arten, Unterarten und Singularitäten. So unterschied Siegfried Passarge zunächst die relativ beständigen Erscheinungen nach Oberflächengestaltungen, Wassern, Pflanzen- und Tierwelt und nach solchen, die durch Menschen entstanden sind, von den veränderlichen Erscheinungen der Lufthülle, der Tages- und Jahreszeiten und Klimata. Die Oberflächengestaltungen werden nach Ebenen, Erhebungen und Senkungen unterschieden. Gebirgslandschaften wiederum lassen sich untergliedern nach Falten- oder Deckengebirgen, Kamm-, Tafel- oder Kuppengebirgen, und die Tallandschaften, im Unterschied zu Spalten, Trichtern, Gräben u. a., als offene Hohlformen nach Kerben-, Mulden-, Sohlen-, Flußtälern. Des Weiteren werden die Gewässerarten hydrologisch, die Gesteinsarten und ihre Verwitterungen geologisch und chemisch, die Pflanzenarten, die Bäume, Büsche, Sträucher, Gräser, Blüten botanisch, die Tierarten zoologisch untergliedert bis herab zu einem Punkt, an dem sich einzelne Landstriche, wie etwa die römische Campagna oder die Schwäbische Alb, mittels eines allgemeinen Begriffsnetzes bestimmen lassen. Schließlich ging man dazu über, die Dynamik der komplexen Wechselwirkungen dieser Elemente zu erforschen. Doch die den Landschaften eigenen Räumlichkeiten blieben unberücksichtigt beziehungsweise wurde ihnen ein äußerliches Netz geometrischer Orte, Richtungen und Lagen übergeworfen. Nun träumt die Geographie als Wissenschaft mehr und mehr davon, zu einer mathematisch exakten und empirisch experimentell abgesicherten Definition von ›Landschaft‹ zu gelangen. Gut nach carteBereits in den 20er- und 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts hatten Philosophen unterschiedlichster Richtung diesem Vulgärmaterialismus widersprochen: Alfred North Whitehead betonte in Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie (Übers. H. G. Holl, Frankfurt a. M. 1987) die Finalität natürlicher Vorgänge, Ernst Bloch wandelte in Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz (Frankfurt a. M. 1973) den aristotelischen Gedanken eines ›Nach-Möglichkeit-Seins‹ einer passiven Materie um in deren aktives ›In-Möglichkeit-sein‹.
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›Landschaft‹ als Gebiet
sianischer Methode will man bei den einfachen geo-metrischen Gestalten beginnen: In Hinsicht auf ›Landschaft‹, so der Geograph Hans-Jürgen Klink, sei ›die Geländegestalt der einfachste und umfassendste Nenner, auf den sich der geographische Komplex bringen lasse‹. 8 Der Geograph Joachim H. Schultze definiert ›Landschaft‹ dann schon umfassender: ›Eine geographische Landschaft ist ein Teil der Erdhülle (Geosphäre), der durch das Wirkungsgefüge qualitativ und quantitativ bestimmter Geofaktoren von geringer Schwankungsbreite gebildet und räumlich begrenzt wird.‹ 9 Nun sind Landschaften, wie auch Schultze einräumt, letztlich ›einmalig vorhandene Raumgebilde‹ und ein solches beschreibt der Geograph Josef Schmithüsen dann schon auf fast literarische Art: ›In Obstgärten gebettetes Dorf am Rande einer mit Kuhweiden erfüllten Quellmulde, mit Ackerzelgen, Wegen auf angrenzender Hochfläche, Niederwald auf Fels steilhängiger Tälchen, Wiesenstreifen im Grund mit Mühle und Bach, erlenumsäumt‹. 10 – Wie will man daraus das allgemeine Wesen der Landschaft bestimmen? Man begann, die individuellen Gestalten der Landschaften zu vergleichen, in der Hoffnung, eine Art Morphologie oder Typenlehre derselben entwerfen zu können. Darauf aufbauend wollte man die Dynamik der Wechselwirkungen der Lebewesen untereinander und mit ihrer lebensräumlichen Umwelt erforschen. Nach und nach verschwand der Ausdruck ›Landschaft‹ aus der Geographie, um durch den des ›Ökosystems‹ mit seinen im Austausch befindlichen biotischen und abiotischen Faktoren ersetzt zu werden. Da jedoch solche ›Ökosysteme‹ bei weitem die Komplexität meteorologischer Erscheinungen, die ja wesentlich zu Landschaften gehören, übertreffen müßten, nimmt die Geographie wieder hochspekulative Züge an, während gleichzeitig der Ausdruck ›Ökosystem‹ in der Politik zu einem gedankenlosen, ideo-schematisch verwendeten Schlagwort herabsinkt. – Kommen wir dem Problem näher, wenn wir auf die geläufigen Landschaftsbezeichnungen achten?
Hans-Jürgen Klink, Die naturräumliche Gliederung als ein Forschungsgegenstand der Landeskunde (1967), in: Karlheinz Paffen, Hg., Das Wesen der Landschaft, Darmstadt 1973, S. 483. 9 Joachim H. Schultze, Landschaft (1970), in: Paffen, Hg., a. a. O., S. 202. 10 Josef Schmithusen, Was ist eine Landschaft (1964), in: Paffen, Hg., a. a. O., S. 160. 8
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Das gewöhnliche Verständnis von ›Landschaft‹
2.1.2. Die Benennungen der Landschaft Abgesehen von den Eigennamen der staatlich verfaßten Länder und ihrer Regionen und Bezirke finden wir eine Reihe von Namen für bestimmte Landstriche, die sich nicht auf gegenwärtige oder vergangene politische Gebiete beziehen, sondern auf einzelne Gestalten in ihren natürlichen Erscheinungen. Werden mit ihnen nicht auch ›Landschaften‹ bezeichnet? – Man hat landschaftliche ›Kleinformen‹ von ›Großformen‹ unterscheiden wollen. Wer aber bezeichnet ernsthaft ›Böschungen, Klüfte, Deiche, Dünen, Gruben, einzelne Felsen, Bäume oder Steilhänge‹ als ›kleine Landschaften‹ ? Das sind Dinge, die zu einem Landstrich gehören. Und umgekehrt: Bezeichnungen wie ›norddeutsche Tiefebene‹ oder ›oberschwäbisches Hügelland‹ mögen vielleicht auch bestimmte Landschaftsbilder hervorrufen. Derart weit gefaßt benennt man jedoch keine Landschaften. Decken deren Namen sich vielleicht mit Flurbezeichnungen, welche Orte in der Umgebung menschlicher Siedlungen benennen, wie ›Rain, Wert, Wanne, Loh, Buchholz, Hasenbühl, Heuberg, Erlenmoos‹ u. a.? Doch nicht viel anders als die Fluren, die in Hinsicht auf menschliche Belange benannt wurden, wie ›Burghalde, Galgenberg, Pestacker, Pfaffenwald, Mühlenoder Teufelsgraben‹, heben die oben genannten Flurnamen nur einzelne Aspekte eines die Anwohner umgebenden Landstrichs hervor, wie etwa ›Wart‹ als Ort, wo möglichen Feinden oder dem Wild aufgelauert wurde, ›Wert‹ als Landstück am Wasser, ›Loh‹ als lichter Wald usf. – Haben Landschaften überhaupt eigene Namen? Die Bezeichnungen größerer Gebiete folgen oft solchen natürlichen Erscheinungen, die von dominanten Merkmalen geprägt sind, sofern diese entweder weiter verbreitet sind als andere, oder weil sie durch markante Einzelheiten auffallen. Ihre Dominanz beruht darin, daß die Mannigfaltigkeit oder Unauffälligkeit anderer Erscheinungen abstraktiv übersehen werden. So unterscheidet man Hebungen und Senkungen der Erdoberfläche und spricht alltäglich von Hügel-, Bergund Hochgebirgslandschaften gegenüber den Ebenen und Tallandschaften, auch wenn es im Gebirge Hochebenen und Wölbungen in Talsohlen gibt. Man spricht von felsigen oder sandigen, von Mergeloder Kreidelandschaften, auch wenn sie durchmischt sind von Erden aus verwesten Tier- und Pflanzenresten. Ein ganzer Landstrich kann aus fruchtbaren Acker- und Wiesenlandschaften bestehen, auch wenn sie von einigen Moor- oder Sumpflandschaften, von Küsten-, Seen39 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
›Landschaft‹ als Gebiet
oder Flußlandschaften durchbrochen sind. Es gibt Vulkanlandschaften inmitten von Gletscherlandschaften, und Stein-, Sand- oder Salzwüsten können Oasen- oder Steppenlandschaften enthalten, so wie in Nadelwald- oder Laubwaldlandschaft Büsche und Sträucher vorkommen. Und wenn man tropische von arktischen Landschaften unterscheidet, bleibt der ewige Schnee auf dem Kilimandscharo zumeist unberücksichtigt. Man spricht zwar auch von Monsunländern und tropischen Regenwäldern, weil es sich um regelmäßig wiederkehrende Wettererscheinungen handelt; gewöhnlich jedoch bleiben flüchtige und unbeständige Erscheinungen wie die besonderen Tagesbeleuchtungen in verschiedenen Wettern, die wandernden Tiere, die Unbelaubtheit der Bäume oder der winterliche Schnee und die herbstlichen Stürme ohne Einfluß auf die Benennungen von Landschaften. Dagegen führt die gängige Unterscheidung zwischen Natur- und Kulturlandschaften nicht selten zu einseitigen Anblicken. Denn daß man Weide-, Acker-, Bergbau-, Weinbau- oder Obstbaumlandschaften, Hecken- und Parklandschaften usf. von wuchernden Wildnissen wie dem Dschungel oder von dürren und kärglichen Savannen, regenarmen Steppen oder trokkenen Wüsten oder von den Steilhängen der Hochgebirge unterscheidet, dient, wie auch die Entzifferung des jeweiligen Standes der Gestirne, einfachen Orientierungsmustern der Menschen auf der Erdoberfläche, nicht Beschreibungen von Landschaften. Es herrscht eine starke Neigung, Landstriche rein nach den Belangen der Menschen zu benennen, was durch eine negative Abgrenzung noch deutlicher wird: Man benennt sie danach, wie Menschen sie besiedeln und nutzen konnten, in Abgrenzung zu solchen Landstrichen, die ihnen unbewohnbar, unfruchtbar oder schädlich scheinen. Nun sind zwar ›Schilf-, Heide- oder Wachholderlandschaften‹ vielleicht noch darin für Menschen ›interessant‹, daß sie als Bau- und Brennstoffe, als Jagdrevier oder Erholungsgebiet der Städter dienen: Warum aber spricht man nicht von ›Distel- oder Löwenzahnlandschaften‹, von ›Liguster- oder Schlehenlandschaften‹, also von massenhaften pflanzlichen Merkmale einer Art, die doch ebenso vorherrschend ein Landschaftsbild mitprägen können wie Wiesengräser oder Wälder? Ganz und gar nicht aber wurden Landschaften je nach solchen Tieren und ihren Lebensräumen benannt, welche bestimmte Landstriche entscheidend mitprägen. Wir kennen vielleicht noch das ›Bären-Eck‹ oder die ›Wolfs-Schlucht‹, aber es gibt keine ›Termiten-, Albatros-, Bieber-, Büffel- oder Schaflandschaften‹. Im Unterschied zu den betonten geographisch-geologischen, 40 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Das gewöhnliche Verständnis von ›Landschaft‹
pflanzlichen oder menschlichen Merkmalen, die zur Bezeichnung von Landschaftstypen hinzugezogen wurden, ignorieren Menschen vollständig, daß Tiere Landschaften auf ihre Weise markant und beständig prägen und ›bekleiden‹. Darin zeigt sich bereits die Tendenz, dasjenige, was man ›Landschaften‹ nennt, vielmehr vorrangig als ›Gebiete‹ bestimmter Landstriche zu betrachten, seien es Siedlungs- und Nutzungsgebiete oder von diesen der Orientierung wegen abgegrenzte Gebiete ›der Natur‹. Der Nutzen für die Menschen verwandelt nicht nur Berglandschaften in Bergbaugebiete, Graslandschaften in Weidegebiete, Feldlandschaften in Ackerbaugebiete, Seenlandschaften in Fischfanggebiete, Waldlandschaften in Forstgebiete, obwohl Wälder nicht nur aus Bäumen bestehen, sondern ebenso massenhaft aus Flechten und Moosen, Ameisen und Pilzen, Kräutern und Schlangen, Gesteinen und Wild etc. Schon dasjenige, was bloß als unbrauchbar gilt, kann zum Anlaß werden, Gesteinslandschaften in bloße Geröll- oder Schutthalden zu ›verwandeln‹, unverwertbare Sandlandschaften in ein Wüstengebiet, schädliche Feuchtlandschaften in Moor- und Sumpfgebiete und gefährliche Feuerlandschaften in vulkanische Gebiete. – Ab dem 20. Jahrhundert allerdings verschwanden solche Landstriche restlos: Wo, wie in den Hochgebirgen, Wüsten oder Meerestiefen einst nur Götter, Dämonen, Tiere oder Ungeheuer hausten, setzten Menschen längst gigantische Baggerund Bohrmaschinen an oder nutzten die neu eroberten Gebiete für ihre militärischen Testversuche mit nuklearen und anderen Waffen. Entsprechend hält man sich einige ›Naturschutzgebiete‹ wie man einige vom Aussterben bedrohte Tiere in Zoologischen Gärten hält. – Konkreter werden diese ›Landschafts‹-Bezeichnungen erst, wenn man sie mit den Eigennamen bestimmter Länder, Regionen oder Bezirken verbindet und von ›irischer, böhmischer, toskanischer oder oberschwäbischer Hügellandschaft‹ spricht im Unterschied zu den Landschaften der Ardennen. – Was aber ist überhaupt ›Landschaft‹ an diesen Landstrichen? Die dominanten ›Natur‹-Merkmale, wie sie in den Landschaftsbezeichnungen genannt und etwa in den deutschen Verordnungen zur Landschaftspflege aufgelistet sind, haben also weniger mit dem Gebiet des ›Anderen‹, der Natur, zu tun, als vielmehr mit Mustern menschlicher Abgrenzungen. Der menschliche Blick auf die ›natürlichen‹ Bestandteile eines Landstrichs ist vorab davon geprägt, wie sich diese als Ge41 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
›Landschaft‹ als Gebiet
stalten eines Gebietes zeigen: entweder verwendbar, unbrauchbar oder schädlich, oder als Mittel einer Orientierung in ›natürlichen‹ Umgebungen der Erde. Die Größen solcher Landstriche können in solchen Listen unbestimmt bleiben, da deren Grenzen in Gesetzen als Gebiete festgelegt werden. Hier einige dieser Bezeichnungen: Wälder und Heiden: Spreewald, Frankenwald, Schönbuch, Schwarzwald; Lausitzer oder Lüneburger Heide usf. Berge und Gebirge: Feldberg oder Vogelberg, Fichtelgebirge, Bodanrücken, Löwensteiner Berge, Schwäbische Alb, das Karwendelgebirge der Alpen usf. Geologische Beschaffenheiten: Rheinisches Schiefergebirge, Elbsandsteingebirge, Sächsisches Löshügelland, Jura oder Muschelkalkgebirge, mecklenburgische Moränen usf. Täler und Ebenen: Filder, Haveland, Moseltal oder Kölner Bucht, Lechfeld oder Wurzacher Ried usf. Seen und Flüsse: Fränkische Seenplatte, Donauried, Rheinische Tiefebene, Oberes Neckartal usf. In diesen Bezeichnungen kann dann, wenn es nicht mehr um den früheren Nutzen möglicher Orientierungen auf der Erdoberfläche geht, da dieser längst von Karten und Navigationsgeräten erfüllt wird, die Aufmerksamkeit auf bestimmte ›Naturerscheinungen‹ gelenkt werden, die einen Landstrich charakterisieren. Diese bleiben, im Unterschied zu ihrer immer verzweigteren naturwissenschaftlichen Taxonomie, in gänzlich unbestimmten Schemen hängen: Berge und Täler, Wälder und Felder, Steine, Erden und Gewässer. Solche Schemen enthalten keine Landschaftsbeschreibungen, sondern abstrakt dominante Merkmale, welche die Spitze einer Hierarchie bilden, in der die Grade der Bedeutsamkeiten für menschliche Belange festgestellt sind. Daß Landschaften weder nützlich noch unnütz sind, daß sie nicht aus der Summe der Gestalten einzelner Landstriche bestehen, daß ihnen wesentlich nicht nur relativ ›beständige‹, das heißt: erst langfristig veränderliche Formationen eigen sind, sondern auch die tageszeitlichen, wetterbedingten oder jahreszeitlichen Veränderungen zugehören, vor allem aber dies, daß sie erst über ihre Horizonte in bestimmten Raumweisen zur Anwesenheit kommen: All das bleibt in den gängigen ›Landschafts‹-Benennungen unberücksichtigt.
2.1.3. Die Wahrnehmung der Landschaft Doch sehen wir nicht ›Landschaften‹ einfach vor uns? – Gewöhnlich stellt man sich vor, ›Landschaft‹ sei das Stück relativ beständiger ›Na42 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Das gewöhnliche Verständnis von ›Landschaft‹
tur‹, das von einem bestimmten Standort aus wahrgenommen wird, wobei man vielleicht zu Bergen hinauf-, in ein Tal hinab- und auf die nahe Wiese und den weiter entfernten Wald vor einem schaut. Mannigfaltiges geht dabei in die übliche Betrachtung einer ›Landschaft‹ ein. Doch wir erfassen sie nicht durch die Betonung der Einzelheiten ihrer besonderen Gestalten und Erscheinungsweisen, sondern durch ein Hinweggleiten des Blicks über sie, wodurch sie sich in einer vagen einheitlichen Bewegung versammeln. Eine Gebirgslandschaft kann teilweise von Schnee und Almmatten bedeckt und bewaldet sein, die Wälder können Lärchen und Tannen und Vögel, die Wiesen außer Gräsern eine Vielzahl von Kräutern und weidenden Tieren enthalten: Wir bemerken die einzelnen Arten zumeist erst, wenn wir uns vom unbestimmt fließenden Anblick eines Landstrichs in unserem Blickfeld zurückziehen und dazu übergehen, ihre Gestalten einzeln zu beachten und gesondert zu beobachten. Eine solche Vorstellung von ›Landschaft‹ scheint als eine Betrachtung (anstatt eine bestimmte Beobachtung) recht analog der Betrachtung von Landschaftsgemälden gedacht, deren Gegenstand sich bei Eigenbewegungen nicht verändert, wie es dagegen in der ›Wirklichkeit‹ ist. – Ich werde auf die Frage nach dem wahrnehmbaren Wesen der Landschaft und auf die Darstellungen der Landschaftsgemälde noch ausführlich eingehen (9.). Hier geht es vorerst noch um das, was man alltäglich einfach sinnlich wahrzunehmen glaubt, wenn man auf einen bestimmten ›Ausschnitt‹ aus der Erdoberfläche blickt. Es kommt vor, daß unser Blickfeld gänzlich von der Erscheinung einer einzigen Art ausgefüllt wird: durch das Dunkel der Nacht, durch einen Gewitterregen, einen Sandsturm etc. Daß man in dem Fall eine ›Landschaft‹ vor sich habe und sich in einer befinde, mag man dann zwar wissen oder sich denken können, doch bieten die Gestalten ihrer Fluren keinen sinnlichen Anblick. Der Anblick eines Landstrichs als Landschaft erfordert offensichtlich einen Horizont, der den sichtbaren Teil der Erde an den Himmel grenzen läßt, ohne jenen zu beschränken. Ist in diesem Fall das ›irdische‹ Blickfeld, im Unterschied zum ›himmlischen‹, von einer einzigen Erscheinungsart ausgefüllt, werden wir vielleicht zögern, sie als ›Landschaft‹ zu bezeichnen: Eine reine Ebene, die bis zur Horizontlinie eintönig nur von Gras, Wald, Wüstensand oder Eis eingenommen wird, zumal unter einer unterschieds- und schattenlosen grauen Himmelsbeleuchtung, mag uns in ihrer Öde als 43 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
›Landschaft‹ als Gebiet
endlos ausgedehntes Land erscheinen ähnlich dem weiten Meer. Würden wir aber dann von ihr als von einer ›Landschaft‹ sprechen? Das mag sich jedoch bereits dann ändern, wenn sich Unterschiede von Licht und Farben über dieses Land verteilen, zumal aber dann, wenn wir Unterschiede von Erhebungen und Senken, von Hügeln und Tälern, gar von Bergen und Schluchten in solchen Einöden wahrnehmen. Sie bringen eine Besonderheit ins Spiel, die grenzenlos abgewandelt vorkommt, nicht aber – wie die Wellen und Wogen der Meere oder die Licht- und Farberscheinungen, die der Tageshimmel hervorbringt – in wahrnehmbarer Bewegung ist. Ihr Anblick scheint in einer verhältnismäßigen Beständigkeit zu beruhen, die uns zum verläßlichen Grund werden kann, sie wieder vorzufinden, wenn wir nach einer Abkehr oder Abwesenheit zu ihr zurückkehren. Wechseln zudem Flüsse oder Seen mit Wäldern und Wiesen, Äckern und dörflichen Siedlungen ab, wird man nicht zögern, von einer ›Landschaft‹ zu sprechen. Gleichwohl reichen lokalisierbare besondere Flurgestalten und deren Lagen niemals aus, um zum Anblick einer Landschaft zu gelangen. Hielten wir uns etwa auf einer von hohen Hecken umschlossenen Weide auf oder wären in einem Spalt von steilen Felswänden umgeben oder stünden irgendwo in einem dichten Wald, dann bildeten solche uns umgebenden, wirklich oder nur anscheinend einschließenden Dinge zwar bestimmte Plätze und Lagen, vielleicht sogar einen locus amoenus oder horribile, – Orte, die wir in Richtungsbeziehungen zueinander verstehen. Doch würden wir solche Plätze selbst kaum bereits ›Landschaften‹ nennen. Sie scheinen uns allenfalls als Orte in einer (uns gerade nicht sichtbaren) Landschaft mit ihren offenen Horizonten. Die Landschaft selbst setzt sich aber nicht bloß aus lauter durch Flächen und Dinge gebildeten Plätzen und Feldern als ihren Teilen zusammen. Lägen wir auf einer flachen Wiese und betrachteten Dinge, die sehr nahe sind, vielleicht Gräser oder Käfer, oder des Nachts vielleicht solche Dinge, die uns endlos weit entfernt scheinen, nämlich weit auseinander liegende Sterne, dann haben wir einen engen Ort oder einen unermeßlich weiten Raum vor uns, nicht aber eine Landschaft. Diese beginnt sich uns als Landschaft erst dann abzuzeichnen, wenn wir, erhoben über dem Boden, auf dem wir uns befinden, zugleich auf die fortlaufende Niederung des Erdbodens hinab, in die Gestalten ihrer Flure hinein und zu ihr hinauf bis an ihren Horizont blicken, wobei der Boden sich ausbreitet als das, was sie, zusammen mit uns, ständig durch die Schwerkraft an ihn hält und durchgängig zu tragen scheint, auch 44 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Das gewöhnliche Verständnis von ›Landschaft‹
wenn er sich unter einer Pflanzendecke oder unter einer Wasseroberfläche verbirgt. Nehmen wir gar einen erhöhten Standort ein, wird uns vielleicht eine Sicht gewährt auf das Fern- und Weitweg-Liegende. ›Landschaft‹ haben wir nicht vor uns, wenn unser Gesichtsfeld ›zum Greifen nahe‹ mit Dingen ›ausgefüllt‹ ist, denn solche Ausfüllungen verhinderten gerade, daß sich die Öffnung der Landschaft in die Weite und Ferne zeigt. Noch stellte sich uns ein Landstrich als Landschaft dar, wenn die in ihr unterscheidbaren Gestalten, wie die Sterne, uns unerreichbar fern und zu weit auseinander lägen oder überhaupt fehlten, wie es in endlos weiten Einöden geschehen kann. Denn in dem Fall schlagen Weite und Ferne leicht in bloße Leere um. Nun mag sich der Betrachter zunächst einem anderen Ausschnitt vom selben Standort aus zuwenden, dann sich um sich selbst drehen, um ein panoramaartiges Bild eines bestimmten Landstrichs zu gewinnen, den er nicht ›mit einem Blick‹ zu überschauen vermag. Zwar kann die Kreisdrehung um einen festen Standpunkt und in gleichbleibender Augenhöhe dem Landschaftsbild eine gewisse ›abgerundete‹ Einheit verleihen, indem die jeweiligen Ausschnitte bruchlos ineinander gleiten. Wechselt jedoch der Betrachter seinen Standort und beginnt sich zu bewegen, löst sich zwar nicht das bruchlose Ineinander-Gleiten ländlicher Gestalten auf, wohl aber die Abrundung zu ›einer‹ Landschaft, die als ein Landstrich das ›eine‹ Blickfeld ausfüllt. Es kann durchaus sein, daß sich da die vorige Landschaftsart in eine ganz andere abwandelt, ohne daß wir genau die Grenze zwischen beiden angeben könnten. Wenn es dagegen dunkelt oder aus düsteren Wolken heftig zu regnen oder zu schneien beginnt, wenn aufkommender Nebel, aufgewehter Staub, starker Rauch oder auch nur ein heftiger Sturm plötzlich den Anblick der Landschaft beeinträchtigt und schließlich vereitelt, wird der Betrachter auf eine Bedingung aufmerken, die er stillschweigend vorausgesetzt hatte: die klare, ruhige und helle Sicht auf die Dinge bei einem bestimmten Sonnenstand. Selbst wenn man von Mond- oder Marslandschaften spricht oder sogar von Landschaften auf dem Saturntrabanten Taurus, auf dem bei 94 Grad unter null die Gase sich wie Flüsse und Gewässer auf den zu steinartigem Eis erstarrten Wassern bewegen und diese zu Tälern und Schluchten aushöhlen: selbst dann noch wird in der alltäglichen Vorstellung eines Landstrichs die klare, deutliche und helle Sicht auf diesen als Bedingung seines Erscheinens vorausgesetzt. 45 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
›Landschaft‹ als Gebiet
Zunächst denken wohl die meisten Menschen bei dem Wort ›Landschaft‹ an eine relativ konstante reliefartige Prägung eines bestimmten Landstrichs, die sich nicht verändert hat, wenn man nach gewissen Zeiten zu ihrem Anblick zurückkehrt, zumal also an gewisse Erhebungen und Senkungen, Berge und Täler, vielleicht an Schluchten und Gebirge, von denen etwa Arthur Schopenhauer sagte: ›Daß der sich plötzlich vor uns auftuende Anblick der Gebirge uns so leicht in eine ernste, auch wohl erhabene Stimmung versetzt, mag zum Teil darauf beruhen, daß die Form der Berge und der daraus entstehende Umriß des Gebirges die einzige stets bleibende Linie der Landschaft ist, da die Berge allein dem Zerfall trotzen, der alles übrige schnell hinwegrafft, zumal unsere eigene, ephemere Person.‹ 11 Bezogen auf solche ›Beständigkeiten‹, die sich doch jenseits unserer sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit durchaus verändern, bemerken wir die feinsten Veränderungen über die Tages- und Jahreszeiten hinweg: ›Jede Modifikation, auch die leiseste, welche ein Gegenstand durch seine Stellung, Verkürzung, Verdekkung, Entfernung, Beleuchtung, Linear- und Luft-Perspektive u. s. w. erhält, wird durch seine Wirkung auf das Auge unfehlbar angegeben und genau in Rechnung gebracht.‹ 12 Mit der Erkenntnis allerdings, daß in der Erdgeschichte Kontinente mit ihren Gestalten in ständigen Bewegungen und Abwandlungen begriffen sind, deren Geschwindigkeit zwar errechnet, nicht aber von unseren Sinnen wahrgenommen wird, ist uns jedoch der Glaube vergangen, daß da etwas auf Dauer ›dem Zerfall trotze‹. ›Landschaften‹, so glauben wir, seien uns also zuvorderst optische Erscheinungen, die sich, vom Schema einer relativen Beständigkeit aus, fortwährend ändern und zwar auch dann, wenn, wie bei räumlichen Veränderungen, diese durch Rückkehr zum Ausgangspunkt ihrerseits zur anfänglichen Gestalt zurückverwandelt wurden. ›Landschaften‹ offenbaren sich also nicht dadurch, daß man von einem festen Standort aus starr eine Blickrichtung auf etwas beibehält, die von einem unscharfen Blickfeld umgeben ist; man läßt vielmehr die Blicke schweifen
Arthur Schopenhauer, Vereinzelte Bemerkungen über Naturschönheit, in: Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Teil, Sämtliche Werke Bd. III, Hg. A. Hübscher, Leipzig 1938, S. 461–462. 12 Ebd., S. 461. 11
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Das gewöhnliche Verständnis von ›Landschaft‹
– ein Schweifen, das zudem durch Eigenbewegungen und verschiedene Geschwindigkeiten abgewandelt wird. Nun können selbst Einöden wiederum die abwechslungsreichsten Landschaftsbilder ergeben, wenn man sie rascher auf Pferden, in Kutschen oder Automobilen durchquert, oder gar mit Flugzeugen durchfliegt. Fürst Pückler-Muskau sprach bereits 1832 davon, daß sein weiträumiger Landschaftspark nicht vorrangig durch Spaziergänge, sondern durch ›Spazierfahrten und Reiten‹ zu erschließen sei. 13 Willy Hellpach machte schon 1924 darauf aufmerksam, in welchem Ausmaße das Autofahren zu einem neuen Landschaftserlebnis geführt habe, indem dadurch der bewegte Wandel der Landschaftscharaktere erfaßt werde. 14 Solches war schon zuvor in Hinsicht auf Eisenbahnfahrten bemerkt worden. Bewegt man sich allerdings in hohen Geschwindigkeiten nach oben, scheinen sich rasch die skulpturalen Gestalten eines Landstrichs in unserer Nähe in ein flächiges Ornament zu verwandeln. Zumal die Möglichkeiten des binokularen perspektivischen Sehens auf wenige Meter beschränkt sind (vgl. 9.3.2.). Landschaften sind aber nicht nur darin ›in Bewegung‹, daß wir sie begehen, wodurch sie sich unentwegt in anderen Ansichten zeigen. Es gibt vielmehr zahlreiche Bewegungen in den landschaftlichen Gestalten selbst: durch die Winde in den Blättern der Bäume und in den Ähren der Gras- und Getreidefelder, durch die fließenden Gewässer, durch die Wechsel von regennassen zu sonnentrockenen Gesteinen und Pflanzen, durch Temperaturschwankungen und Tiere, ganz abgesehen von den Licht- und Farbveränderungen im Laufe eines Tages, den Entlaubungen zu bestimmten Jahreszeiten usf. Wunderbar hatte Mark Twain bereits 1883 am Beispiel des Mississippi-Flusses die ›Unhaltbarkeit‹ fester Grenzen und Gestalten, sogar des Erdbodens, geDer berühmte Park des Fürsten Pückler-Muskau, durch dessen Anlage er ›der Landschaft eine ausdrucksvolle Physiognomie geben‹ wollte (Hermann Fürst von PücklerMuskau, Andeutungen über Landschaftsgärtnerei, Hg. G. J. Vaupel, Frankfurt a. M. u. Leipzig 1988, S. 25), wirkt auf Spaziergänger eher zu weitläufig und leer, denn die Maßstäbe der Anpflanzungen und Bauwerke wurden vorrangig auf raschere Bewegungen zu Pferde oder in Kutschen ausgerichtet. In einem Landschaftspark sollte man ›wenigstens eine Stunde lang rasch spazierenfahren oder reiten (H. v. m.) können, ohne dieselben Wege wieder zu betreten‹ (ebd., S. 28). ›Landschaftliche Mannigfaltigkeit‹ wird ihm geradezu zu einem Begriff gegen die ›Bequemlichkeit, Anmut, Sicherheit und Eleganz‹ häuslicher Gärten. 14 Willy Hellpach, Geopsyche, Leipzig 19243, S. 217. 13
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›Landschaft‹ als Gebiet
schildert. Dieser Fluß ändere fortwährend seine Lage und Uferstreifen, baue Land auf und ab, mache immer wieder ›gewaltige Sprünge‹ und ›Durchbrüche‹, so daß manche an seinen Ufern gelegenen Städte sich über Nacht im Landesinneren wiederfinden konnten: ›Lebt heute zum Beispiel jemand im Staate Mississippi, und während der Nacht ereignet sich ein Durchbruch, dann findet sich dieser Mensch morgens mit seinem Grundbesitz auf der anderen Seite des Stromes wieder, innerhalb der Grenzen des Staates Louisiana und dessen Gesetzen unterworfen! Wenn in früheren Zeiten so etwas am Oberlauf des Flusses geschah, konnte es einen Sklaven aus Missouri nach Ilinois versetzen und einen freien Mann aus ihm machen.‹ 15 Da diesen ›Launen‹ des Flusses weder die kartographisch festgelegten Staatsgrenzen noch die Beschaffenheiten des Landes angepaßt werden konnten, blieb nur, ihn einzudämmen. – ›Landschaften‹ tauchen demnach auf in der Weise, wie sie uns in Abwandlungen begleiten. Sie erschließen sich ganz erst in den zeitlichen Dimensionen, welche nicht nur das Sehen mit dem Gesehenen und noch zu Sehenden, sondern auch das Gehen mit dem schon Vergehenden und Vergangenen, dem Kommenden und Künftigen zusammenschließen, um so erst ihre ganze und doch offene phänomenale Besonderheit auftauchen zu lassen. Die Wahrnehmung einer Landschaft beschränkt sich also nicht auf das Sehen. Nicht nur sind alle Sinne dabei beteiligt, sondern auch die Sinnbilder des aktuell nicht Empfundenen. In dem gewaltigen Lärm, in dem Menschen heute leben, überhören sie leicht die vielen Geräusche und Klänge, die eine Landschaft mitprägen, deren ›Stille‹ zu suchen sie vorgeben. Es gibt die anhaltenden Geräusche der fließenden Gewässer oder der Meereswellen an einem Strand, die wechselnden Geräusche der Winde in den Bäumen und Büschen, in den Gräsern und Kornfeldern oder an den Felskanten, das Bersten von Eis im Frühjahr, die Geräusche von Schneelawinen und Steinschlägen in den Bergen, das Grollen der Donner, das sommerliche Zirpen und Summen der Insekten, das Knacken und Rascheln in den Wäldern, wenn Tiere auf gefallene Äste treten oder durch Laub gehen, das Quaken der Frösche oder das Röhren der Hirsche und das Grunzen der Wildschweine, das Muhen, Mähen und Wiehern von Kühen, Schafen, Pferden auf den Weiden, zumal die Laute der Vögel, ihr Krähen, Schnattern oder Zwit15
Mark Twain, Leben auf dem Mississippi, Übers. L. Krüger, Berlin 2012, S. 7.
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Das gewöhnliche Verständnis von ›Landschaft‹
schern, ihr Pfeifen und ihre Gesänge. Ihre Stimmen bilden tönende Landschaften, wogegen das Schreien der Menschen diese zerstören. Zu bestimmten Landschaften kann auch gehören, daß wir sie auf der Zunge schmecken, wie etwa das Salz der Meere oder die Bitterstoffe und die Süße mancher Pflanzen in der Luft. Zumal aber nehmen wir die verschiedenen Düfte von Linden, Akazien oder Tannen, von Blüten, Blumen und Kräutern wahr, die Gerüche von Holz und Gewässern, von Erden, Pilzen und faulenden Pflanzen, den Gestank von Aas oder Exkrementen. Eine Landschaft in der Provence hat ihren besonderen Geruch, eine Landschaft an den Küsten Südenglands einen anderen. Und selbst die beim Gehen ständig wiederholten Berührungen, die kaum eine Distanz zu den Gestalten einer Landschaft wahren, prägen diese durch den Eindruck, den sie vermitteln: anders verspüren wir sie auf weichen Moosböden, auf steinigen Bergpfaden, auf Acker- oder Wiesenböden. – All diese Wahrnehmungsarten präsentieren also nicht nur ›Berge und Täler, Felder und Wälder, Steine und Wasser‹, sondern eine reiche Mannigfaltigkeit, durch welche Landschaften leibhaftig zu Menschen sprechen. Und ich will hier nur andeuten, was ich erst unter (8.) ausführen werde: Auch die menschlichen Gefühle, Begehrensweisen und Leidenschaften zeigen nicht nur ›subjektiv‹ unsere eigenen jeweiligen psychischen Zustände, sondern durch diese hindurch nehmen wir Landschaften auf verschiedenste Weise ›gestimmt‹ wahr. Durch sie erfassen wir das Angenehme, Wohltuende, Reizvolle, Langweilige und Öde von Landschaften selbst, ihre freundliche oder abweisende Art, ihre Anmut, Lieblichkeit und Schönheit oder ihre unversehrbare und doch verletzbare Heiligkeit, ihre Erhabenheit, Rauheit, Wildheit, ihre Verschlafenheit, Wachheit oder Traumhaftigkeit. Werden Landschaften jedoch als ›gut‹ oder ›schlecht und schädlich‹ hinsichtlich menschlichen Befindens angesehen, lösen sie sich in bloß besser oder schlechter bewohnbare Landstriche auf; bewertet man sie nur ökonomisch als ›profitabel‹ oder ›unrentabel‹, sind sie schon auf Gelände von Rohstoffen reduziert, und die Spuren solcher ihrer oben genannten Eigenschaften verschwinden als ›bloß subjektive‹. Auch kann keine Landschaft ›rechtmäßig‹ oder ›unrechtmäßig‹ sein, ohne sich in ein bloßes Gebiet verwandelt zu haben. Vermögen wir aber durch solche Darlegungen der Wahrnehmungsart von Landschaften diese hinreichend zu verstehen? Müßten wir sie nicht gerade durch die Maßnahmen von Natur- und Landschaftsschutz genauer sehen? 49 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
›Landschaft‹ als Gebiet
2.2. ›Landschaft‹ als Politicum ›Heute wie einst ist die Natur in Wald und Feld des deutschen Volkes Sehnsucht, Freude und Erholung.‹ So lautet der erste Satz der Präambel zum Reichnaturschutzgesetz vom 26. Juni 1935, das unter anderem von Hitler, Göhring und Frick unterschrieben wurde, eine Präambel, die damit endet, daß auch dem ›ärmsten Volksgenossen sein Anteil an deutscher Naturschönheit zu sichern sei‹. 16 Unter ›Natur‹ wird dabei nur das verstanden, worauf man, als einem Vorgegebenen, einen Einfluß haben kann: Teile der Erdoberfläche, sofern sie einem politischen Land angehören. Daß diese Natur überhaupt als schützenswert befunden wurde, hatte, wie es heißt, zur ›Vorbedingung‹ die ›politische und weltanschauliche Umgestaltung des deutschen Menschen‹. Es geht also im Naturschutzgesetz nicht etwa nur darum, der wachsenden Zerstörung der eigenen Umwelt Einhalt zu gebieten, soweit sie in letzter Konsequenz menschliche Lebensweisen selber bedroht, noch nur ›ideeller‹ um die Erhaltung der vom Aussterben bedrohten Pflanzen und Tiere und ihrer Lebensräume. Das Naturschutzgesetz ist seinem Wesen nach von vornherein totalitär. Im § 1 wird allgemein bestimmt: ›Das Reichsnaturschutzgesetz dient dem Schutze und der Pflege der heimatlichen Natur in allen ihren Erscheinungen.‹ 17 ›Landschaften‹ in der freien Natur seien ihrer ›Seltenheit, Schönheit, Eigenart‹ wegen zu erhalten, bestimmte Landschaftsteile zudem wegen ihres Beitrages zur ›Zierde und Belebung des Landschaftsbildes‹. Die Eigentümer sind verpflichtet, Schutz- und Erhaltungsmaßnahmen durch die Behörden zu dulden, die jederzeit Zutritt zu ihren Grundstücken haben und die zum Zweck des Naturschutzes ›Grundflächen‹ enteignen können. Das deutsche ›Gesetz über Naturschutz und Landschaftspflege‹ vom 29. Juli 2009 geht weit über die Bestimmungen von 1935 hinaus, auch in der möglichen Suspension von Grundrechten. Im § 1 werden dessen Ziele genannt: ›(1) Natur und Landschaft sind auf Grund ihres eigenen Wertes und als Grundlage für Leben und Gesundheit des Menschen auch in Verantwortung für die künftigen Generationen im besiedelten und unbesiedelten Bereich nach Maßgabe der nachfolgenden Absätze Reichsnaturschutzgesetz vom 26. 06. 1935, § 1, veröffentlicht im Reichsgesetzblatt Nr. 68, Berlin 1. 07. 1935. 17 Ebd. 16
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›Landschaft‹ als Politicum
so zu schützen, daß 1. Die biologische Vielfalt, 2. Die Leistungs- und Funktionsfähigkeit des Naturhaushaltes einschließlich der Regenerationsfähigkeit und nachhaltigen Nutzungsfähigkeit der Naturgüter sowie 3. Die Vielheit, Eigenart und Schönheit sowie der Erholungswert von Natur und Landschaft auf Dauer gesichert sind; der Schutz umfaßt auch die Pflege, die Entwicklung und, soweit erforderlich, die Wiederherstellung von Natur und Landschaft … (4) Zur dauerhaften Sicherung der Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie des Erholungswertes von Natur und Landschaft sind insbesondere 1. Naturlandschaften und historisch gewachsene Kulturlandschaften, auch mit ihren Kultur-, Bau- und Bodendenkmälern, vor Verunstaltung, Zersiedelung und sonstigen Beeinträchtigungen zu bewahren, 2. Zum Zweck der Erholung in der freien Landschaft nach ihrer Beschaffenheit und Lage geeignete Flächen vor allem im besiedelten und siedlungsnahen Bereich zu schützen und zugänglich zu machen.‹ 18 Man wird wohl angesichts der stets bedrohlicher werdenden Umweltzerstörungen durch die rücksichtslosen und verschwenderischen ›Produktivitätssteigerungen‹ kapitalistischer Wirtschaft die Notwendigkeit eines derart umfassenden Naturschutzes kaum bestreiten wollen. Nicht mehr nur gefährdete Pflanzen- und Tierarten und ihre Lebensräume oder die ›heimatlichen Landschaften‹, sondern die gesamte Natur wurde unter Schutz gestellt, um sie nicht allein vor weiteren Schäden und Zerstörungen zu bewahren, sondern darüber hinaus zu entwickeln und wiederherzustellen. Es werden einzig noch Grade der Schutzwürdigkeit unterschieden, die allerdings dort zu Null werden, wo es um militärische und wirtschaftlich ›notwendige‹ Belange geht. – Was aber versteht ein solches Gesetz unter ›Landschaft‹, unter der ›Vielfalt‹ ihrer Teile, unter ihrer ›Eigenart‹ und ›Schönheit‹, die zusammen ein schützenswertes Erscheinungsbild ergeben sollen? Welche Kriterien wurden entwickelt, um staatlich sanktionierte ästhetische Normen für Landschaften aufstellen und durchsetzen zu können? Im Unterschied zum ›Reich‹ (imperium) und zur ›besiegten‹ und unterworfenen Provinz bezeichnete das Wort ›Landschaft‹ ursprünglich die Beschaffenheit des Landes qua Region, dann auch die ständischen Gesetz über Naturschutz und Landschaftspflege vom 29. 07. 2009, in: Naturschutzrecht, München 2010, S. 3–4.
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›Landschaft‹ als Gebiet
Vertreter eines Landes. Erst Albrecht Dürer verwendete, im Tagebuch seiner Hollandreise, das Wort als Bezeichnung für den Anblick eines Landes, sofern er einen bestimmten malerischen Ausschnitt der Erdoberfläche bot im Unterschied zu den ›Historien‹ und deren Schauplätze (9.3.). Nicht so die Gesetzgebung zum Natur- und Landschaftsschutz. Der § 26.2. des deutschen Naturschutzgesetzes spricht ausdrücklich vom Verbot solcher Handlungen, ›die den Charakter des Gebietes (H. v. m.) verändern oder dem Schutzzweck zuwiderlaufen‹. Doch von der ›Vielfalt, der Eigenart und Schönheit‹ einer Landschaft zu sprechen, hat zunächst ja nichts mit ihr als regierbares und zu verwaltendes ›Gebiet‹ zu tun, es sei denn, es würden allgemein geltende ästhetische Normen eingeführt, nach denen zu handeln sei. Nun haben wir in den letzten Jahrzehnten den politisch gewollten Niedergang der großen normbildenden, ästhetischen Stile erlebt, indem man die ästhetische Erziehung an den Schulen mit der ›Begründung‹ abschaffte, jeder solle privat und persönlich seinen ›eigenen‹ Geschmack entfalten, wie er will, was bekanntlich den Effekt hatte, daß nicht nur ästhetische Stile, sondern sogar modische Abwechslungen immer mehr unter dem uniformen anonymen Einheitsgeschmack der Massengesellschaft verschwanden. Auf Grund welcher Kriterien wollen da Gesetzgebung und Rechtssprechung allgemeine ästhetische Normen für die Erhaltung, Entwicklung und Wiederherstellung bestimmter Landschaftsbilder erlassen? In den Bestimmungen des § 7 des deutschen Naturschutzgesetzes wird von dem schützenswerten Verbreitungsgebiet ›heimischer Arten‹ an wildlebenden Tieren und Pflanzen gesprochen, im Gegensatz zu solchen ›gebietsfremden‹ oder ›nicht-heimischen‹ Arten, die nicht oder seit 100 Jahren nicht mehr vorkommen. Diesen sei ›entgegenzuwirken‹, um sie zu beseitigen und ihre Ausbreitung zu verhindern. Davon werden nun ›invasive Arten‹ unterschieden, die ein Gefährdungspotenzial für Ökosysteme und Biotope enthielten. Es geht also unter dem Titel ›gebietsfremder‹ und ›nicht-heimischer‹ Pflanzen und Tiere nicht etwa um gefährliche ›Schädlinge‹, sondern um normierte ästhetische Erscheinungen, welche die Staatsmacht aus welchen Gründen auch immer nicht dulden will. Das Gesetz verweist auf nähere Bestimmungen durch die Rechtsverordnungen der Länder. Doch in diesen sind alles andere denn konkrete ästhetische Bestimmungen zu finden. Deren Einstellungen knüpfen an die nationalsozialistischen Verord52 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
›Landschaft‹ als Politicum
nungen an, die noch etwas unverblümter in ihrem rassistischen Jargon davon sprachen, ›gebiets- und artfremde und fremdländische‹ Gewächse und Tiere seien zu ›eliminieren und auszurotten‹. – Um welches ›Landschaftsbild‹ also geht es der Politik? * * * Das bürgerliche Ressentiment begann sich im ›empfindsamen‹ 18. und ›romantischen‹ 19. Jahrhundert gegen ein Landschaftsbild zu wenden, wie es der feudale und absolutistische Adel und Klerus in Anlehnung an orientalische und südeuropäische Erscheinungsbilder und Wunschlandschaften hervorgebracht und in der Vorliebe für architektonisch zurechtgeschnittene immergrüne Bäume und Büsche kundgetan hatte. Zumal das dunkle Grün der Eiben, Stechpalmen, Buchsbäume, der mächtigen Tannen, der Lebens- und Mammutbäume aus der Neuen Welt oder das immergrüne Buschwerk, etwa der Kirschlorbeer aus dem Kaukasus, waren für die Bildung großer Landschaftsparks gewählt worden, wogegen der ›Rest‹ an Landschaften der wirtschaftlichen Nutzung und, wie zumal die Buchenwälder, der Jagd, oder, wie die Tannenwälder, der Holzwirtschaft überlassen blieben. Konsequenterweise verbannte die an die Macht gekommene bürgerliche Gesellschaft solche ›immergrünen‹ Gewächse mit ihrer ›Ewigkeitssymbolik‹ als Grabpflanzen auf die Friedhöfe, als wollte man damit den Willen zum Tod des feudalen Erbes versinnbildlichen! In naturgeschützten Gebieten wurden solche ›nicht-heimischen‹ Pflanzen bis heute nie wieder zugelassen. Das Ressentiment der populären Nationalsozialisten wandte sich nun vor allem anderen gegen das ›ideale‹ und südlich heitere Landschaftsbild, das die deutsche Klassik, mit ihrem Blick zumal nach Italien, Malern wie Claude Lorrain – dem ›größten Landschafter‹, wie Goethe ihn nannte 19 – Nicolas Poussin, Johann Phillip Hackert und vielen anderen verdankte und das der Adel auf seinen Ländereien zu verwirklichen begonnen hatte. Wenn Goethe, der durch Landschaftsbeschreibungen in seinen Dichtungen und durch seine Landschaftszeichnungen erheblichen Einfluß hatte, jedoch jede ›kranke, sterbende, Johann Wolfgang von Goethe, Über Landschaftsmalerei. Theoretische Fragmente, nach Johann Phillip Hackert, in: Sämtliche Werke Bd. 11, Münchner Ausgabe, Hg. Ch. Sigrist u. a., München 2006, S. 860.
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›Landschaft‹ als Gebiet
verstümmelte Natur‹ aus der Landschaftsmalerei verbannt wissen wollte 20, so wirken in solchen Wunschbildern wohl auch alte Paradiesgartenvorstellungen mit, nach denen nun ganze Landschaften angeschaut und beurteilt wurden: Aus dem Paradies waren Verwesung und Tod verbannt. Doch die Klassik richtet sich damit auch gegen eine Seite der Niederländischen Landschaftsmalerei, welche den Reiz des landschaftlich Dunklen, Verfallenden, Morbiden entdeckt hatte, eine Seite, wie sie noch in manchen Bildern der Romantiker, etwa bei Caspar David Friedrich, nachwirkte. So wurde im Deutschland der klassischen Ideallandschaft, die auf italienische Vorbilder verwies, das Konzept der ›Landschaftspflege‹ geboren. Man suchte die Eigenart einer heimischen Gegend mit einer bestimmten Weite und Ferne und damit auch mit den fremdartigen Anklängen des Südens in Einklang zu bringen. Es wuchs die Vorliebe für offene und weite, von Hügeln gesäumte Täler, in welchen die geraden Wege zumal von schlanken Silberpappeln gesäumt wurden, die sich kontrastreich absetzten gegen die anmutige Regellosigkeit im Wuchs der Obstbäume oder gegen die Weichheit der Weidensilhouetten entlang der Bäche und Flüsse. Diese wie Obelisken in die Höhe wachsenden Pappeln gaben als Alleen selbst einförmigen Landschaften dort ein geschwungenes Lineament, wo die wellenbewegte Horizontlinie der Hügel und Täler fehlte. Doch im Unterschied zur dunkel-ernsten Strenge der mittelmeerländischen Zypressen zielte ihre Erscheinung auf eine beschwingte Leichtigkeit und Helle. Diese versuchte Synthese zwischen südlichem und nördlichem Landschaftstyp, der weder nur der architektonischen noch der pflanzensymmetrischen Regelhaftigkeit, weder der formalen Strenge des Südens noch dem vermeintlich freien Wildwuchs des Nordens folgte, fand großen Anklang und wurde von vielen Reisenden als ›typisch deutsche Landschaft‹ beschrieben. Von ihr konnte Joseph von Eichendorff 1815 schreiben: ›Nirgend bemerkte man eine französische noch englische durchgreifende Regel, aber das Ganze war ungemein erquicklich, als hätte die Natur aus fröhlichem Übermute sich selber aufschmücken wollen.‹ 21 Es sind diese geschichtlich so vielseitig beeinflußten Kulturlandschaften, die das überliefert Einheimische mit dem Fremdartigen zusammenklingen ließen, denen der Nationalsozialismus im Namen von 20 21
Ebd., S. 852. Joseph von Eichendorff, Ahnung und Gegenwart, Stuttgart 1984, S. 75.
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›Landschaft‹ als Politicum
›Blut und Boden‹ und von ›heimatlicher Landschaft‹ einen Krieg erklärte, der zum Teil bis heute in den Rodungen ›artfremder‹ Pflanzen in den Naturschutzgebieten fortdauert. Als ›angestammt‹ Heimatliches galt ihnen zumal die nähere, idyllische Umgebung der Bauerngehöfte und Dörfer mit ihren Linden und die im Kontrast dazu stehenden, tief dunkelgrünen Tannenwälder deutscher Mittelgebirge, durch die eine Aura von nordischer Wildheit und Märchenhaftigkeit zu wehen schien. Irgendwie schien den Parteigenossen zudem die ›deutsche‹ Eiche, die noch nicht allzu lange vom Mittelmeerraum her eingewandert war, mit dem zackigen Bild ihres Blattwerks und der Eigenwilligkeit und Rauheit ihres Wuchses als ›männlich‹ zu gelten, eine ›Männlichkeit‹, die ihnen im Bild dunkel bedrohlicher Tannenwälder zudem als Kollektiv erschien, im Unterschied zum wolkig weichen, mütterlich-weiblichen, beschirmenden Bild anderer Laubbäume. Es wurde nicht nur das Landschaftsbild der deutschen Klassik als ›romanisch‹ verfemt, sondern allgemein sollte vertraute Herkunft und Nähe als ›Heimat‹ gegen das ›Fremdländische‹ gesetzt werden, das ja bereits jeder Horizont als landschaftliche Ferne und Weite mitbringt. Es ging also darum, offene Landschaften in ›heimatliche‹ und eng begrenzte Landstriche umzuwandeln. Diese Tradition setzen die deutschen Naturschutzgesetze bis heute fort. – Schließlich zerstörte man nach 1945, noch ganz im Geiste der Volksgenossen, überhaupt die alten Alleebäume, welche die Landstraßen säumten, mit der Begründung, sie könnten betrunkenen Autofahrern lebensgefährlich werden. Das ›Autoland‹ Deutschland war geboren. Die winzigen Grünflächen der monotonen Neubausiedlungen, am Rande der stets einförmiger angebauten Äcker und Felder, förderten schließlich die Züchtung von Zwerggewächsen fast jeder Baumart, damit weder deren Wurzeln noch deren Schatten die Nachbargrundstükke erreichen und ihre Früchte ohne Kletterei zu erreichen waren. Das neureiche Kleinbürgertum paßte die Pflanzen der eigenen Existenz an. Die Agrarindustrie vertrug ohnehin keine Hecken oder Schatten werfenden alten Bäume auf ihren Geländen. Deren seltene Überbleibsel setzt man heute als ›Naturdenkmäler‹ unter Schutz. So gewalttätig gleichschaltend, monoton und häßlich, wie das Architekturdiktat der Moderne immer noch die Bauweisen vorschreibt, so gleichschaltend und verödend sanieren heute manche ›Systemdenker‹ und ›Landschaftspfleger‹ unsere restlichen Kulturlandschaften nieder, die doch 55 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
›Landschaft‹ als Gebiet
zugleich als Asyl gepflegt werden sollen, um der Trostlosigkeit der Städte für kurze Zeit zu entkommen. Man spürt geradezu ihre Angst vor den mannigfaltigen und unvertrauten Mischungen landschaftlicher Erscheinungen, vor denen ihr militärisch gehorsamer, gerade ausgerichteter Blick ins Taumeln gerät. Und je rücksichtsloser die überlieferten Kulturlandschaften durch architektonische Öde zerstört werden, desto mehr muß man eine vermeintlich ›unberührte‹, fast könnte man sagen: ›rassenreine‹ Restnatur als heilig und als Tabu schonen und sogar noch vor den Touristen bewahren, um sie ghettoisierend loszuwerden. Nach Richtlinien der Europäischen Union sollen die geschützten Landschaften heute 10 % der Landesfläche ausmachen, die vor weiterer ›Zersiedelung‹ zu bewahren sei, ohne daß bemerkt wurde, daß Landschaften nicht per se durch Siedlungen zerstört wurden, sondern durch die unsäglich häßliche und chaotische Öde der Bauweisen. Grüne Stadtviertel wie Dahlem in Berlin oder die Elbchaussee in Hamburg wird man wohl kaum als ›Zersiedelung‹ und Zerstörung von Landschaften bezeichnen, so wenig wie etwa die dörfliche Siedlung um das Kloster Bebenhausen herum, die bisher davor bewahrt geblieben ist, zur massenhaften Vorort-Schlafstätte für Städter ausgebaut zu werden. Und auch Dresden hätte wohl durch den Entwurf einer elegant geschwungenen statt einer derart grob-plumpen Brücke vermeiden können, das Landschaftsbild der Elbe mit ihren Wiesenmatten, die zur barocken Stadt hintragen, zu zerstören, um so den Titel ›Weltkulturerbe‹ zu verlieren. Nach 1945 waren in Europa sämtliche Ästhetik-Lehrstühle an den Architektur-Fakultäten ersatzlos gestrichen worden. Man ignorierte die Tatsache, daß auch reinste Funktionsgebilde stets zugleich ein ästhetisches Bild abgeben, und daß Häßlichkeit oder Monotonie nicht weniger ästhetische Qualitäten sind als Schönheit. Die Einrichtung von Design-Hochschulen änderte bisher wenig an den ärmlichen Folgen technokratischer Gleichschaltung. Die Antwort jedenfalls auf die moderne architektonische Ödnis zeigte sich dann in jenem massentouristischen Exodus, sei es in ›historische Stadtkerne‹, sei es in ›unberührte‹ Landschaften, durch den sich deren Zerstörung beschleunigte. * * * Nun müßten sich eigentlich in der Praxis der Rechtsprechungen die im Naturschutzgesetz staatlich verordneten ästhetischen Normen der 56 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
›Landschaft‹ als Politicum
›Landschaftspflege‹ manifestieren. Doch sucht man vergeblich nach ihnen. ›Vielfalt‹ ließe sich ja angesichts der ›Einfalt‹ noch formal bestimmen. Worin die ›Eigenart‹ einer Landschaft besteht, glaubt man ausreichend durch ihre Bezeichnung angegeben. Was aber will die Rechtsprechung mit ›Schönheit‹ anfangen, nachdem man sie, wie inzwischen alle ästhetischen Bestimmungen, psychologisierend beseitigte und ersetzte durch subjektiv Gefälliges, Erfreuliches, Erholsames, Sensationelles, Unterhaltsames usf.? Liegt es wirklich im Willen der Politik, daß Landschaften, anstatt nur der ›Erholung‹ und Zerstreuung zu dienen, ›schön‹ sein sollen? Die Rechtsprechung bezüglich der Erhaltung oder Wiederherstellung eines bestimmten Landschaftsbildes beruft sich zumeist auf einen fiktiven ›Durchschnittsbetrachter‹ und dessen Geschmacksempfinden, sofern er extrem positive oder negative Einstellungen vermeidet, und von dem man annimmt, daß er der Mehrheit der Bevölkerung entspreche. Dieser ›Durchschnittsbetrachter‹ repräsentiert also das ›Demokratieverständnis‹ der Massenmedien, wonach es stets die ›Mehrheiten‹ von Nachfragern sind, die darüber entscheiden, ob etwas auf dem Markt erscheinen darf oder nicht. Man richtet sich danach, was dieser Durchschnittsbetrachter für angenehm oder störend befinden könnte. 22 So duldet man etwa die aus Persien stammenden Kirschbäume, nicht aber die kanadischen Blaufichten in den Schwarzwaldtälern, man ordnet die Rodung alter Tujabäume und nicht-heimischer Mammutbäume an, Arten, die vor bald 600 Jahren aus Nordamerika über England auch nach Mitteleuropa eingeführt worden waren, weil sie in ›heimischen‹ Naturschutzgebieten nichts zu suchen hätten, und seitdem man die alte ›deutsche‹ Eibe in den Landschaften ausgerottet hatte, weil ihre frischen Nadeln für Pferde giftig sind, scheint sie nur mehr in eng besiedelten Gegenden als Heckenpflanze geduldet; oder man untersagt den Bau von Steinmauern um die Gärten einzelner Häuser, ohne zu wissen, daß dieser Bau einst von der feudalen Herrschaft verboten worden war, weil solche Mauern sie bei der Jagd, beim Überspringen mit Pferden, hätten behindern können. Der ›Erholungswert‹, der als Ersatz für die fehlenden ästhetischen Kriterien gebraucht wird, beruht nicht einmal vorrangig auf der Förderung der psycho-physischen Gesundheit dieses Björn Lindemann, Bewertung des Landschaftsbildes in der juristischen Praxis, in: Landschaft und Landschaftsbildbewertung, Oberseminar im Fach Landschaftsökologie an der Technischen Universität München o. J.
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›Landschaft‹ als Gebiet
Durchschnittsbetrachters. Das Recht spricht sich vielmehr gegen das ›Unvertraute‹ aus, das ein bestimmtes Landschaftsbild stören könnte, ganz einerlei, ob es nach ästhetischen Regeln als schön, eintönig oder häßlich bestimmbar ist. Die Leitbilder der Landschaften herrschen durch Gewohnheitsrechte der ›Einheimischen‹ auf alles Vertraute, das sie seit ihrer Kindheit begleitet. Ästhetische Kriterien werden schon aus Mangel an Kenntnissen über sie gar nicht geltend gemacht, wenn man Landschaften von ›nicht-heimischen‹ Elementen reinigt. Da schimmert letztlich noch die Bestimmung der Landschaft als völkischer ›Heimat‹ hindurch, wie sie im Reichsnaturschutzgesetz von 1935 zu finden ist: ›Vater-Land‹ und ›Mutter-Boden‹ bestimmen, was als ›ausländisch‹ und ›fremd‹ zu beseitigen ist. Das Politikum der Landschaft als ›Gebiet‹ gab so zwar in der Gesetzgebung abstrakt auch ästhetische Normen vor, wie Landschaften auszusehen hätten. Da man sich aber zu ihrer Bestimmung gar nicht in der Lage sieht, ersetzt man sie heute durch ›Normen‹, denen bloß psychisch gewohnte Auffassungen eines Durchschnittsbetrachters zu Grunde liegen, nämlich ob etwas ›wohlgefällig‹ zu ›seiner‹ Landschaft passe, weil es ihm seit der Kindheit vertraut ist, oder ob etwas das vertraute Bild störe und daher entfernt werden müsse. Obwohl der heimische Betrachter als Massentourist leibhaftig oder ›tele-‹reisend inzwischen mit den Landschaften der ganzen Erde ›vertraut‹ geworden ist, bestimmen weiterhin seine kindlichen Vorurteile, welches Landschaftsbild bei ihm ›zu Hause‹ herrschen darf und welches nicht. – Hat man jemals Menschen unabhängig von ihrer Herkunft das Recht eingeräumt, Landschaftsbilder nach rein ästhetischen Regeln beurteilen und mitgestalten zu dürfen? Das Diktat der ›Heimat‹, das auch durch die nicht-staatlichen ›Naturschutzverbände‹ geistert, verhindert es. – Groß ist die Not der Notlosigkeit (M. Heidegger)! – Wenden wir uns also erneut der Frage zu, was unter ›Landschaft‹, im Gegensatz zum vertrauten ›heimatlichen Gebiet‹, überhaupt zu verstehen sein könnte.
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3. Natur als Landschaft
Die skurrile Anmaßung staatlicher Institutionen, durch Entscheidungshoheit zu bestimmen, worin die ›Schönheit‹ eines Landschaftsbildes (und nicht weniger schlimm: auch des Stadtbildes) bestehe, ohne über irgendwelche ästhetischen Kriterien zu verfügen, führt uns zurück zu der Frage, was es bedeutet, Landschaft überhaupt als ästhetischen Gegenstand zu betrachten. – Es ist das Verdienst des Philosophen Joachim Ritter, wieder an den nicht-vulgären, tieferen Sinn des ›Ästhetischen‹ der Landschaft erinnert zu haben. 1 Seine Überlegungen, ›Natur als Landschaft‹ einerseits vom antiken Verständnis der theoria her, andererseits historisch zu deuten, blieben allerdings unvermittelt und die Weise des Raumseins von Landschaften wurde nicht thematisiert. Wie verstand er ihre ästhetische Beschaffenheit? Wie könnte gerade die ›Entfremdung‹ von der Natur zur Bedingung werden, sie als ›freie Natur‹ zu erfahren? 2 – Vorab scheinen mir einige Anmerkungen zur Geschichte des Begriffs ›Landschaft‹ hilfreich. Denn man kann wohl den Augenblick, da man erstmals das Wort ›Landschaft‹ – anstatt auf das politische Land qua Gebiet und auf die Vertretung der Landstände einer Region – auf die ›freie Natur‹ bezog, als ein bedeutsames historisches Ereignis bezeichnen. Im Tagebuch seiner Niederlandreise von 1521 hatte Albrecht Dürer erstmals das Wort ›Landschaft‹, in Abgrenzung zu ›Historie‹, im Sinne einer Bildgattung verwendet, in welcher nicht nur Berge und Täler, Gewässer und Pflanzen, sondern überhaupt irdische und himmlische Erscheinungen in Hinsicht auf ihren Horizont zusammengefaßt werJoachim Ritter, Landschaft, in: Subjektivität, Stuttgart 1974. Vgl. dazu auch: Stefan Kaufmann, Einleitung, in: St. Kaufmann, Hg., Ordnung der Landschaft. Natur und Raum technisch und symbolisch entwerfen, Würzburg 2002, S. 9, Anm. 2. 2 Auch bei denen, welche die Argumentation Ritters übernehmen, findet man kein Verwundern darüber, wie das zu verstehen sein soll, vgl. Renate Fechner, Natur als Landschaft, Frankfurt a. M. 1986. 1
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Natur als Landschaft
den und worin, sofern überhaupt noch Menschen in ihr vorkommen, diese allenfalls, wie sich die Kunstwissenschaft ausdrückt, der ›Staffage‹ dienen oder besser gesagt: sich als Landschaften mitprägende Gestalten verhalten. 3 Damit war ›Landschaft‹ von der bloß ›dienenden Funktion‹, den ›Schauplatz‹ einer Handlung wiederzugeben oder als ein dekoratives ›Beiwerk‹ (parerga) solche zu unterstreichen, befreit worden. Die Malerei stellte das dar, was ohne menschliches Zutun rein aus sich selbst heraus besteht: die Natur einer Landschaft in ihrem Anwesendsein und nicht als ein ›Gebiet‹ offen oder versteckt wirkender Naturkäfte. Dieser neue Sinn des Wortes ›Landschaft‹ wurde rasch von den europäischen Malerei-Traktaten übernommen. Über das holländische Wort ›landscaft‹ gelangte der Ausdruck, in dieser neuen Bedeutung, als ›landscape‹ nach England. Daran erinnerte noch der Kunstkenner Edward Morgate, der 1650 glaubte, die noch ungewohnte Wortbedeutung ›landscape‹ mit ›schöne Aussichten, belle verdute‹ erklären zu müssen, wobei er dazu bemerkte, nichts bringe mehr Abwechslung und Schönheit als weit entfernte Berge. 4 Um dieselbe Zeit bildete man im selben Sinne auch im Französischen aus ›pay‹ den Neologismus ›paysage‹, zunächst nur mit der Bedeutung ›tableau représentant un pay‹, dann auch mit der von ›coin de pay‹ selbst, was eher unserem Verständnis von ›Landstrich‹ entspricht. 5 Analog zu ›paysage‹ wurde etwas später auch das italienische ›paese‹, das in der Renaissance noch für ›Landschaft‹ stand, durch ›paesaggio‹ abgelöst. – Von der Landschaft als Natur und nicht nur als kleiner Teil der Erdoberfläche oder als politische Region (noch nur als Sujet der Malerei) spricht, so weit ich sehe, erstmals Earl of Shaftesbury und zwar in betonter Absetzung gegen jede Art künstlich errichteter Landschaftsparks und -gärten. 6 In seiner Schrift The Moralists ist ›Landschaft‹ nicht nur die anmutige oder reizvolle Ansammlung von Bergen und Tälern, Wäldern, Feldern und Gewässern; er sieht, daß zu ihrem Verständnis ein ganz anderes als
Albrecht Dürer, Tagebuch der Niederlandreise (1521), in: W. Busch, Hrsg., Landschaftsmalerei. Geschichte der klassischen Bildgattung in Quellentexten und Kommentaren, Frankfurt a. M. 1997, S. 74. 4 Edward Morgate, Miniatura or the Art of Limning (1650), in: W. Busch, Hg., Landschaftsmalerei, a. a. O., S. 132. 5 Larousse, Nouveau dictionnaire Etymologique et Historique, Paris 1971. 6 Anthony Ashley-Cooper Earl of Shaftesbury, The Moralists. A philosophical Rhapsodie. Übers. ins Deutsche: M. Frischeisen-Köhler, Hamburg 1980. 3
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Natur als Landschaft
das geometrische Raumverständnis von Ferne, Weite und Tiefe nötig ist, um die Kluft zu überbrücken, die im Versuch aufgebrochen war, mit Giordano Bruno Natur zugleich als unendlich wie als endlich und vollendet zu denken. Ich komme darauf zurück (6.2.). – Dagegen hatte noch Winckelmann das Wort ›Landschaft‹ einzig auf Landschaftsgemälde bezogen, deren Sujet sie ist, nicht aber auf eine besondere Erscheinungsweise der Natur selbst. 7 Wo letzteres sich anbahnt, wie bei Moses Mendelssohn, steht das Bildhafte reiner Erscheinung gänzlich im Vordergrund. 8 Und Gleiches gilt auch für Sulzers Allgemeine Theorie der Schönen Künste. 9 Unter dem Titel ›Landschaft‹ spricht er vom ›Wohlgefallen an schönen Aussichten‹ oder von ›Szenen der Natur‹, während von ›Landschaft‹ hinsichtlich der Malerei die Rede ist. 10 Kant, Sulzer folgend, spricht, wo er ästhetische Urteile auf natürliche Erscheinungen bezieht, überhaupt noch nicht von ›Landschaft‹, sondern nur von ›schöner Aussicht‹. 11 In den großen Ästhetiken der Deutschen Klassik wird ›Landschaft‹ dann zu einem Teilbereich des ›Naturschönen‹ überhaupt (8.3). – Worin aber besteht die Natur einer Landschaft? Offensichtlich erschöpft sie sich ja nicht darin, nur ein wahrnehmbarer ›Ausschnitt‹ aus ihr zu sein. Es war Alexander von Humboldt in seinen Ansichten der Natur von 1807 gewesen, der dem Wort ›Landschaft‹ – im Unterschied zu den noch landeskundlichen und oft an die Historie gebundenen, geographischen Naturbeschreibungen – eine rein geographisch-wissenschaftliche Bedeutung verliehen hatte, ohne allerdings von ihrem ästhetischen Wert abzusehen. 12 Und darin folgten ihm noch viele Geographen bis in Johann J. Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755), in: Werke in einem Band, Berlin-Weimar 1982, S. 31 heißt es: ›Unsere Landschaften, sonderlich die niederländischen Maler, haben ihre Schönheit vornehmlich dem Ölmalen zu danken.‹ 8 Moses Mendelssohn, Über die Hauptsätze der schönen Künste und Wissenschaften (1757), in: Ästhetische Schriften in Auswahl, Hrsg. O. F. Best, Darmstadt 1974, S. 179 heißt es: ›Die entzückendste Landschaft reizt uns in der Camera obscura nicht so sehr, als sie durch den Pinsel eines Landschaftsmalers zu reizen im Stande ist.‹ 9 Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste (Leipzig Bd. I 1771, Bd. II 1774), Berlin 2004. 10 Ebd., Bd. I, S. 439 und Bd. II, S. 653. 11 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Hrsg. R. Schmidt, Leipzig nach 1945. Z. B. § 17, S. 101. 12 Alexander von Humboldt, Ansichten der Natur (1807), a. a. O. 7
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Natur als Landschaft
die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. 13 Dann allerdings begann die Geographie erfolgreich, den Ausdruck ›Landschaft‹ als ›bloß ästhetischen‹ aus der wissenschaftlichen Geographie zu verbannen, wobei allerdings unter der verworfenen ›Ästhetik‹ nicht mehr verstanden wurde als irgendwelche ›subjektiven Gefühle‹. 14 Solche Psychologisierung ist aber nicht einmal imstande, sich die Frage nach dem (Landschafts-) Bild zu stellen, das die Politik nicht aufhört zu beschwören. Tatsächlich verdeckt die Rede vom ›Öko-System‹ und seinen ›Biotopen‹ nur schlecht, daß gerade dieser Begriff durch und durch metaphysisch geprägt ist von Vorstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts, wonach die Natur eine Art sich selbst regelnder ›Organismus‹ sei, der sich in den Landschaften als ihre ›Physiognomie‹ ausdrücke – ein schwärmerischer Gedanke, der bereits von Kant, Schelling und Hegel zurückgewiesen worden war (vgl. 6.). Mit dem Terminus ›(Öko-)System‹ jongliert man schwammig zwischen seiner kausalistischen Bedeutung, durch welche mechanisch verlaufende Wechselwirkungen beschrieben werden (die man heute vornehmer ›Rückkopplungen‹ oder ›feedback‹ nennt, die ein ›re-entry‹ bewirkten etc.) und seiner teleologischen Bedeutung, wonach das System sich im Austausch mit seiner Umwelt zugleich (wie organische Lebewesen) entelechisch auf sich beziehe, um sich selbst zu bewahren oder abzuwandeln. Begleitet wird solche ›Verwissenschaftlichung‹ der Geographie von einer beispiellosen Vulgarisierung und Entwertung des Ästhetischen hin zu einer angeblich bloß ›subjektiv psychischen Erlebnissphäre‹, antipodisch zum (moralisch?) strengen ›Objektivismus‹ exakter Wissenschaften. Dagegen wäre, wie bemerkt, wohl unschwer zu erkennen, daß es sich eher um ein Versagen zu simpler, vorrangig an technischer Reproduzierbarkeit orientierter wissenschaftlicher Methoden handelt, welche die Komplexität dessen, was die Einheit der Gestalten, die Atmosphäre und das Bild Einen Überblick über die Debatten in der Geographie gibt: Kurt Paffen, Hg., Das Wesen der Landschaft (mit Beiträgen von Granö, Lauterbach, Lehmann, Paffen, Neef, Schmidthüsen, Bartes, Schultze, Uhlij), Darmstadt 1973. 14 Rainer Piepmeier, Das Ende der ästhetischen Kategorie ›Landschaft‹, in: Westfälische Forschung Hft. 30, Münster 1980. – Gegen solche vulgäre Psychologisierung hatte bereits 1931 Willi Flemming bemerkt: ›Naturgefühl und Landschaftssinn decken sich nämlich keineswegs.‹ (W. Flemming, Der Wandel des deutschen Naturgefühls vom 15. zum 18. Jahrhundert, Halle 1931, S. 3. Und Flemming hatte bereits die Grundthese formuliert, die J. Ritter später aufgriff: ›Das Gemeinsame und historisch zugleich Neue war, daß die Natur dem fühlenden Menschen aller drei Epochen als Landschaft erscheint‹ (ebd., S. 140). 13
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Natur als Landschaft
einer Landschaft ausmachen, weder kausalistisch noch statistisch zu erfassen vermögen. * * * Anknüpfend nun an die Ästhetiken der Deutschen Klassik stellte Joachim Ritter die These auf, Natur als Ganze hätte in der Neuzeit als ›Landschaft‹ einen ursprünglichen Bezug zur theoria, zur höchsten philosophischen Wesensschau, bewahrt. 1962 hatte er in Münster seine Gedanken zum Thema Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft vorgetragen. Die darin vertretene Auffassung, die Neuzeit vollziehe eine Zuwendung zur Natur als Ganzer über das Wesen der Landschaft, hörte seither nicht mehr auf, ebenso anzuregen wie kritische Fragen aufzuwerfen. Ritter knüpft an den Gedanken Hegels an, demzufolge weder im praktisch-technischen noch im theoretisch-wissenschaftlichen Umgang, sondern nur in der ästhetischen Betrachtung die Schönheit der Natur zugänglich würde; aber er wandelt diesen Gedanken ab in der These, Natur in ihrer Totalität sei nur noch in ihrer ästhetischen Erlebbarkeit als Landschaft zugänglich, indem sich das Ganze und Allgemeine der Natur in der Anschauung des Besonderen vergegenwärtige. Ohne Aristoteles ausdrücklich zu nennen, stellt das eine Rückkehr zu dessen ›onto-theologischer‹ Metaphysik dar, auf die ich kurz eingehen werde. Aristoteles verwies, wie vor ihm schon Platon, auf eine ontische Voraussetzung – nicht nur der ästhetischen Haltung sondern eines ›betrachtenden Lebens (bios theoretikos)‹ überhaupt – nämlich die Entlastung von der Bedürftigkeit und Triebhaftigkeit menschlichen Daseins. Das reicht aber schon deshalb nicht zur philosophischen Betrachtung der Natur aus, weil auch ein bloß genießendes Leben, wie es die Mehrheit der Menschen sucht, solche Entlastung voraussetzt. Nur durch ›theoretische Betrachtung‹ im Sinne von denkender Wesensschau sei ›Seiendes rein an ihm selbst‹ zu erkennen und nicht als Mittel zu anderem gebraucht. Während nämlich in allem Hervorgebrachten die Quelle im Hervorbringenden (der Vernunft und der Kunst) und in allem Getanen die Quelle im Handelnden als Entschluß liege, entdecke die ›Naturwissenschaft‹, als rein betrachtende Überlegung, die Quelle von Bewegung und Stillstand im Wesen der Natur selbst. ›Die Wissenschaft des Betrachters der Natur handelt von Dingen, die die Quelle der 63 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Natur als Landschaft
Bewegung in sich selbst haben.‹ 15 Über die ›Erste Wissenschaft‹, welche die von allem Stoffe abgesonderten unbeweglichen Dinge betrachte, bezieht Aristoteles nun die Bewegtheit der Natur auf einen ersten, aber selbst unbewegten göttlichen Beweger. Die Mathematik, welche die unbewegten Dinge noch am Stofflichen betrachte, vermittle zwischen Natur und Gott. Im ›ewigen Wesen‹ aber liege die Quelle aller Veränderung. Die Bewegungen der Natur entstammen nicht nur dem unbewegt Göttlichen, sie streben auch letztlich zum Unbewegten zurück, in dem sie ihren Anfang und ihr Ende haben. Das zu erkennen, leistet die theoretisch schauende Betrachtung, die zugleich vom Wunsch nach dem Schönen geleitet sei. ›Denn das Verlangen geht auf das schön Erscheinende, und das erste Gewollte ist das schön Seiende.‹ 16 Etwas, so bemerkt Aristoteles mit Plato, erscheine allerdings nicht als schön, weil es erstrebt werde, sondern es werde erstrebt, weil es schön sei. Das Schöne und das ›um seiner selbst willen Erwünschte‹ gehören also zusammen. Da die betrachtende Vernunft sich selbst denke und insofern am Gedachten teilnehme, sei die Betrachtung das Erfreulichste und Beste. ›Natur‹ wird also dann als schön erfaßt, wenn ein betrachtendes Verlangen einzig auf ihre Anwesenheit gerichtet ist: schön ist, daß sie überhaupt ist, und nicht deshalb, weil sie uns wohlgefalle oder gut und nützlich sei. Die ästhetische Betrachtung ist daher schon im Denken der Antike phänomenologische und nicht empirisch-psychologische Spekulation. Im Anschluß an Aristoteles unterlegte auch Hegel dem ›Naturschönen‹ eine theologische Begründung und Ritter folgte ihm darin. Allerdings übernimmt dieser von Jakob Burckhardt die fragwürdige Auffassung, ›Landschaften‹ hätten in der Antike nur die Rolle eines ›dekorativen Beiwerks (parerga)‹ gespielt und erst die europäische Neuzeit hätte zu einem ›Naturgefühl‹ gefunden. 17 Ein ästhetischer Aristoteles, Metaphysik Buch K 7. Kapitel 1064 a, 16, Übers. F. Bassenge, Berlin 1960, S. 260–261. Vgl. dazu auch: Hannelore Rausch, Theoria. Von ihrer sakralen zur philosophischen Bedeutung, München 1982. 16 Ebd. 1072 a, S. 286. 17 Jakob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Köln 1956. Darin: ›Die Entdeckung der landschaftlichen Schönheit‹, S. 146 f. Caius Plinius Secundus behauptet nicht, wie man ständig liest, die Darstellung von ›Landschaft‹ sei nur ein Beiwerk (parerga) in der Malerei; er erwähnt in seinem Kapitel über die Malerei in Die Naturgeschichte (Hg. L. Möller und M. Vogel, Wiesbaden 2007, Bd. II, S. 495) nur einmal die Wandmalereien eines Ludius, zur Zeit des Kaisers Augustus, mit landschaftlichen Gestalten wie ›Gärten, Haine, Lustwälder, Hügel, Fischteiche, Meerengen, Flüsse, Kü15
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Natur als Landschaft
Sinn für Landschaft wäre erstmals in der Besteigung des Mont Ventoux durch Petrarca 1334 bezeugt. – Doch Petrarca, einmal abgesehen von seiner Sehnsucht nach dem fernen heimatlichen Italien, dessen Lage er in einer der Himmelsrichtungen wähnt, sieht auf dem Berg wegen der Bewölkung unter ihm keine Landschaften am Fuß des Berges und er bestimmt eher ›kartographisch‹ die Richtungen, in denen die schneebedeckten Alpen, das Rhônetal, die nicht sichtbaren Pyrenäen liegen. Gerade auf dem Mont Ventoux kommt er gar nicht zu einer ästhetisch stimmungshaften Betrachtung von Landschaften. 18 Dem Problem näher gekommen wären Ritters empirisch-historische Überlegungen, hätte er sich an der Auffassung der Kunstwissenschaft orientiert, wonach ›Landschaft für sich‹ eine Entdeckung in der Malerei seit Dürer sei, sofern ihr neuer, ausschließlicher Blick auf sie die Ausbildung der Landschaftsmalerei als selbständiger Bildgattung im 16. Jahrhundert eingeleitet hätte. 19 Das Auftauchen der Landschaftsmalerei als einer autonomen Bildgattung fiel in die Zeit zwischen den großen Entdeckungs- und Forschungsreisen, zwischen den Pilger- und Wanderbewegungen, zwischen dem Hegen von Jagdgefilden und der Errichtung von Landschaftsparks. 20 Vieles spricht dafür, daß die ›Natur als Landschaft‹ erst durch den veränderten Blick der sten, Spaziergänger‹ u. a. Auch Vitruv erwähnt eher beiläufig die mit Landschaftsbildern ausgeschmückten Wandelgänge: ›Es werden nämlich Häfen, Vorgebirge, Gestade, Flüsse, Quellen, Meerengen, Heiligtümer, Wälder, Gebirge, Vieherden, Hirten abgemalt und anderes, was in ähnlicher Weise wie dies von der Natur geschaffen ist‹ (Vitruvius, Zehn Bücher über Architektur, Übers. C. Fensterbusch, Darmstadt 1976, S. 333). Aus diesen beiden Anmerkungen ist gewiß nicht zu schließen, die Antike hätte noch keinen Sinn für Landschaft als Natur gehabt. – Problematisch ist zudem Burckhardts Verallgemeinerung eines europäischen Phänomens, denkt man an die wunderbaren Landschafts-Gedichte der chinesischen Klassik zwischen dem 6. und 12. Jahrhundert n. Chr., vgl. Chinesische Gedichte der klassischen Zeit, Übers. und Hg. M. von Poser, Wiesbaden 2003. 18 Francesco Petrarca, Die Besteigung des Mont Ventoux, Übers. K. Steinmann, Stuttgart 1995. Petraca sagte nicht, er hätte Landschaften vom Berg aus sehen wollen; er betonte nur ›er sei allein vom Drang beseelt gewesen, diesen außerordentlich hohen Ort zu sehen‹ (S. 5), und diese Begierde zu sehen wird ihm bewußt, als er zufällig Augustinus’ Kritik an bloßer Neugier las. Und doch sind unüberhörbar auch noch ältere Motive vorhanden, nämlich die Mühe, eine Bergbesteigung wie eine Buße auf sich zu nehmen, hinauf gleichsam zu einer heiligen, einem Gott geweihten Stätte. 19 Max J. Friedländer, Essays über die Landschaftsmalerei und andere Bildgattungen, Den Haag 1947. Vgl. auch: Renate Fechner, Natur als Landschaft, a. a. O. 20 Vgl. Karl Woermann, Die Landschaft in der Kunst der alten Völker, Berlin 1876; Max Dvorák, Studien zur Kunstgeschichte, Leipzig 1989; Max J. Friedländer, Die Niederlän-
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Natur als Landschaft
Malerei auf sie entdeckt worden ist. – Gleichwohl müßten die Behauptungen, die Entdeckung der Natur als Landschaft sei historisch datierbar, erheblich eingeschränkt werden, angesichts mancher antiker Fresken, wie etwa den hellenistischen Odyssee-Zyklen, vor allem aber auch hinsichtlich der außereuropäischen Landschaftsmalerei, etwa der chinesischen des 11. Jahrhunderts 21 – einmal ganz abgesehen von äußerst stimmungsvollen Landschaftsdarstellungen in den Dichtungen aller Menschheitsepochen. Die Entdeckung der Landschaft als Sujet der Malerei vollzog sich in einer Epoche, die zudem von der Erfahrung des Machtverlustes kirchlicher Glaubensdoktrinen seit der Reformation und den europäischen Religionskriegen geprägt war. Betont hatte sich ja im 17./18. Jahrhundert der ›Empfindsamkeit‹ und im 19. Jahrhundert der ›Romantik‹ eine Art überkonfessionelle Naturreligion herausgebildet, die sich ab Goethe zudem auf Spinoza berief, nämlich auf eine schöpferische Göttlichkeit der Natur selbst (natura naturans), radikal entgegengesetzt der noch einheitsstiftenden Mechanik in den arbeitsteiligen Naturwissenschaften, die gleichwohl mit den Entdeckungen der Thermodynamik schon zu zerfallen begann. Mit der Spezialisierung der Naturwissenschaften mochte vielleicht, wie Ritter anzunehmen scheint, eine Neigung entstanden sein, das ›Ganze‹ der Natur, das nicht mehr denkend zu durchdringen war, ›gefühlsmäßig‹ erfassen zu wollen, nachdem sogar Theologen wie Schleiermacher das Wesen des Religiösen im Gefühl einer ›Grundabhängigkeit‹ glaubten ausmachen zu können. 22 – Ist es aber glaubhaft, mit Alexander von Humboldt zu sagen, die Natur ›als Ganze‹, nämlich in ihrer Totalität als Kosmos, werde in einer Landschaft angeschaut? Wie ließe sich eine solche Metonymie erklären? * * * dischen Maler des 17. Jahrhunderts, Berlin 1923; Erwin Panofsky, Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1955; Oskar Bätschmann, Malerei der Neuzeit, Disentis 1989. 21 1. Otto Fischer, Chinesische Landschaftsmalerei, (Reprint von 1921), Paderborn 2012; 2. Matthias Obert, Leib und Welt. Für eine Phänomenologie welthaften Malens im Ausgang von ästhetischen Theorien des chinesischen Landschaftsbildes, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie Nr. 28. 2, Stuttgart 2003, S. 107–124. 22 Vgl. Friedrich Schleiermacher, 1. Über die Religion (1799), Stuttgart 1997. In seiner Ästhetik von 1819/25 (Hg. Th. Lechnerer, Hamburg 1984) tritt dann allerdings wieder der Poiesis-Gedanke in den Vordergrund.
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Natur als Landschaft
Ritter geht nicht weiter darauf ein, wie es von der ›theoretischen Betrachtung der ganzen Natur‹ (unklar ob im Sinne des Aristoteles oder Humboldts) überhaupt zu einer Einschränkung auf eine ›ästhetische Erlebnissphäre‹ hatte kommen können. Daß es sich um ein ›Derivat antiker Kosmosharmonie‹ handele, wie Gerhard Hard annimmt, mag richtig sein, bleibt aber eher schattenhaft im Hintergrund. 23 Ich denke, daß über die ›Anbetung‹ einer göttlichen Natur ein viel älteres, vorphilosophisches Motiv in die Betrachtungen von Landschaften gelangte. Liegen der Aufwertung der Landschaft als affektive Stellvertreterin der ›ganzen Natur‹ nicht alte Paradiesvorstellungen zugrunde? Will man nicht Landschaften wie den großen ›Garten Gottes‹ betrachten und begehen? 24 Gewiß, das Bild des eingezäunten Geheges mußte zugunsten eines landschaftlichen Schemas aufgegeben werden, deren Grenzen nicht einfach als Schranken zu verstehen sind. Der vom Städtischen her entworfene, zunächst sakrale und herrschaftliche, dann auch private Garten bot von vornherein das Bild einer ›Versöhntheit‹ mit der Natur. Doch ob Gärten nun als Wohnstätte oder vorübergehender Aufenthalt von Göttern, glückseligen Helden, von Gläubigen oder sorglosen Städtern galten: Stets waren sie inselhaft abgegrenzt nicht nur gegen Wildnis und Wüsten, sondern auch gegen Weide- oder Ackerland. Landschaften dagegen, ob ›unberührt‹ oder kulturell mitgeprägt, überschreiten – über das Paradox der offenen Grenzen ihrer Horizonte, durch welche sie stets von ›Erde und Himmel‹ weitergereicht werden – jede Beschränktheit, ohne doch nur ›un-endlich‹ zu sein. 25 Muß überhaupt die Natur ›als Ganze‹, in ihrer kosmischen Totalität, vorgestellt werden? Wie wenn ›Landschaft‹ in einem anderen Sinne ›absolut‹ wäre, nämlich ›freigesprochen‹ von jedem starren Gegensatz zwischen ›Schranke‹ und ›endlosem Fortgang‹ ? ›In der Landschaft‹ sein, heißt dem Städter bis heute in der ›freien‹ Natur sein, die gleichwohl gartenartig gepflegt – worum sich der Staat Gerhard Hard, Die ›Landschaft‹ der Sprache und die ›Landschaft‹ der Geographen, Bonn 1970, S. 229–230. 24 Typisch für diese Verschiebung: Hans-Martin Sass, Mensch und Landschaft. Der anthropologische Ansatz einer Umweltphilosophie, in: Land und Mensch, Mannheim 1980. Sass spricht fast nur von Gärten und träumt (wie der junge Marx) von einer ›Kultivierung der Umwelt‹, die mit einer ›Humanisierung‹ des Menschen zusammenfalle. 25 Vgl. Helmut Rehder, Die Philosophie der unendlichen Landschaft, Halle 1932. 23
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zu kümmern habe – und behütet vor schlechtem Wetter sein soll. Dabei fällt auf, daß Landschaften stets vom Angenehmen der schönen Orte, vom Aufenthalt an einem locus amoenus (wie in Platons Phaidros, vgl. 4.1.) oder vom nomadisch durchwanderten Arkadien der Hirten (wie, nach Theokrit, Vergil es in seinen Eklogen beschreibt) her ausgelegt wurden und dadurch ihre Verwandtschaft bewahrten zu scheinbar unbeschränkten paradiesischen Gärten einer versöhnten Natur. Die Wüsten, die nur den Göttern zugänglichen Hochgebirge, die Sümpfe, Moore und Eismeere, die Schwefeldampf- und Feuerschlünde der Vulkane, die Schluchten mit ihren Dämonen, die ins Erdinnere zu verweisen scheinen, aber auch die höllischen Landschaften der mörderischen Schlachten, der Seuchen und Hungersnöte mit ihren unbeerdigten, verwesenden Toten: Von solchen Landschaften einer vielleicht ›durch den Sündenfall mitverderbten Natur‹, wie sie seit Augustinus ebenso zum Thema geworden war, und denen sich doch die Malerei wie die Dichtung und selbst die Musik gewidmet hatten, ist bei Ritter nicht die Rede. * * * Auf der Folie des ›Paradiesischen‹ greift Ritter auf die hegelschen Ausdrücke ›Entfremdung, Verdinglichung, Entzweiung und Versöhnung‹ zurück, wie sie zumal in der marxistischen Anthropologie zentral geworden waren. Er versucht mit ihnen, Friedrich Schillers Gedicht Spaziergang auszulegen, als hätten Menschen in bäuerlichen Gesellschaften ein naturnahes, unentfremdetes, ja ›glückliches‹, wenn auch unfreies Leben geführt, wogegen die Städte und das enge, arbeitsteilige Zusammenleben den Menschen eine Freiheit durch die Herrschaft über eine verdinglichte Natur gebracht hätten, damit aber auch die Entfremdung von der Natur. Diese Freiheit aber ermögliche dem Menschen, ›sich der Natur in freier genießender Anschauung zuzuwenden, um als er selbst in der Natur zu sein‹. Die Landschaft gehöre so geschichtlich und sachlich als die sichtbare Natur des ptolemäischen Erdenlebens zur Entzweiungsstruktur der modernen Gesellschaft. 26 – Lassen sich solche Gedanken wirklich durch das Gedicht Schillers stützen?
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Joachim Ritter, a. a. O., S. 151 und S. 161.
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›Endlich entflohn des Zimmers Gedächtnis‹ begrüßt der aufbrechende Wanderer zunächst die Sonne und belebte Flur, die Linden und Singvögel, die ruhige Bläue, die unermeßlich sich ausgießt, das braune Gebirg und den grünenden Wald, die blühenden Auen und Wiesen mit ihren Bienen, Schmetterlingen, Lerchen usf. Der mit einem Steg versehene Pfad, auf dem er einen Berg besteigt, durchquert einen Wald, der sich wieder zur Landschaft öffnet. ›Unabsehbar ergießt sich vor meinen Blicken die Ferne / Und ein blaues Gebirg endigt im Duft der Welt‹. Mit Schwindel blicke er hinauf zu ›ewiger Höh‹ und mit Schaudern hinab zur ›ewigen Tiefe‹. Ein prangendes Tal aber unter ihm rühme des Landmanns Fleiß. Nachbarlich wohne der Mensch noch mit dem Acker zusammen: ›Glückliches Volk der Gefilde! Noch nicht zur Freiheit erwacht, / Teilst du mit deiner Flur fröhlich das enge Gesetz. / Deine Wünsche beschränkt der Ernten ruhiger Kreislauf‹. – Plötzlich aber raubt diesem Wanderer etwas diesen lieblichen Anblick: ›Ein fremder / Geist verbreitet sich schnell über die fremdere Flur‹. Sein Blick fällt auf die Stadt mit ihren freien Gewerben, dem Handel, der die Reichtümer der Erde erschließe, die wimmelnden Märkte, den Fortschritt der Techniken und Wissenschaften; aber dieser Blick fällt ebenso auf die Schlechtigkeiten und Übel, die Verbrechen und Kriege etc. ›Seine Fesseln zerbricht der Mensch. Der Beglückte! / … / Freiheit ruft die Vernunft, Freiheit die wilde Begierde, / Von der heil’gen Natur ringen sie lüstern sich los / … / Bleibend ist nichts mehr, es irrt selbst in dem Busen der Gott. / Aus dem Gespräche verschwindet die Wahrheit, Glauben und Treu / Aus dem Leben / … / Und in der Asche der Stadt sucht die verlorne Natur‹. Und dieses Bild überträgt sich plötzlich auf die Landschaft, die ihn umgibt: ›Wild ist es hier und schauerlich öd / … / Bin ich wirklich allein? In deinen Armen, an deinem / Herzen wieder, Natur, ach! Und es war nur ein Traum‹. – Dennoch nehme er sein Leben nun reiner vom reinen Altar der Natur zurück, über die es abschließend heißt: ›Aber jugendlich immer, in immer veränderter Schöne / Ehrst du, fromme Natur, züchtig das alte Gesetz, / Immer dieselbe / … / Nährest an gleicher Brust die vielfach wechselnden Alter; / Unter demselben Blau, über dem nämlichen Grün / Wandeln die nahen und wandeln vereint die fernen Geschlechter, / Und die Sonne Homers, siehe! / Sie lächelt auch uns‹. Diese Besteigung des Berges stellt sich dar wie eine Reinigung von zweifelhaften Gedanken und Gefühlen der eigenen Zeit gegenüber. 69 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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Die städtische Freiheit zeigt sich zerrissen zwischen einer berechnenden und berechenbaren Vernunft und den freigesetzten, irrationalen, wilden Begierden, denen die Natur im bäuerlichen Leben Schranken gesetzt hätte. – Was aber besagt der ›fremde Geist‹, der ihn in dem Augenblick überkommt, da er schwärmerisch ausrief ›Glückliches Volk der Gefilde!‹ ? Spricht da nicht das Unbewußte und das ihm selbst ›Fremde‹ aus dem städtischen Wanderer, der sein in der Landschaft erlebtes, flüchtiges Glück gedankenlos auf das ländliche Leben projizierte, dem er doch gleichzeitig absprechen mußte, frei nach den eigenen Wünschen zu leben? Was tritt denn dem bäuerlichen Menschen ›fremder‹ entgegen als die unbeeinflußbaren Naturgewalten, denen er ständig ausgesetzt bleibt? 27 Der Städter wird von diesen nur darin ›unabhängiger‹, daß er Handel treibt und Techniken entwickelt, welche die Ausweglosigkeit, mit der ihn einzelne Naturkatastrophen einst trafen, durch Anreicherung von Alternativen umgehen. Nicht von der Natur wird er ›unabhängiger‹, wie ständig gedankenlos behauptet wird; er vermag aber durch weitläufigen Handel die Wucht zu mildern, mit der ihn einzelne Naturgewalten treffen, da etwa Mißernten oder Tierseuchen nicht gleichzeitig auf der ganzen Erde geschehen. Ungleich unfreier aber wird der Städter im anonymen Netz der sozialen Beziehungen zu seinesgleichen, die zwar in ihrer Widrigkeit gespürt, aber nicht mehr in ihrer bekämpfbaren Gegnerschaft erkennbar sind. Das Soziale selbst und die Effekte freigesetzter ›wilder Gier‹ übernehmen nun die frühere Rolle der Naturgewalten, indem sie den Einzelnen jederzeit zermalmen können. Einfach und idyllisch erscheint demgegenüber eine Natur als Landschaft, die von diesem Menschen unmittelbar nichts zu wollen scheint. Man wird nicht müde, die ›Lust an der Landschaft‹ nicht nur aus einer vorübergehenden Entlastung vom Druck der Sorgen, sondern aus einer angeblich grundsätzlicheren ›Naturferne‹ des modernen Menschen erklären zu wollen. Liegt darin nicht eine ganz andere, nämlich historisch
Allenthalben verbreitet ist immer noch die ignorante und arrogante Behauptung, Menschen, die auf dem Land und mit ihm lebten, wie die Bauern, hätten keinen Sinn für Landschaften. Dabei war es oft gerade die bäuerliche und klösterliche Abgeschiedenheit von den städtischen Massen, die ein ausgeprägtes Naturgefühl entwickeln ließ, vgl. dazu: Ernst Benz, Geist und Landschaft, Stuttgart 1972, S. 18.
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bedingte Abgrenzung in Form einer Reaktion auf die nationalsozialistischen Phrasen, denen zufolge Menschenrassen durch ›Blut und Boden‹ determiniert seien? Zum einen heißt das, nicht in ›Wachstumsprozesse‹ zu intervenieren, denn: ›Eine Kultur erblüht nur auf dem Boden einer genau begrenzten Landschaft, an die sie pflanzenhaft gebunden bleibt.‹ 28 Zum andern aber, wie es bei dem Geograph Ewald Banse bereits 1928 zu lesen ist: ›Wir, die nordische Rasse, sind mit artstarker Landschaft verwachsen und leiten die Natur, während sich der Mongole der Natur füge und die schwarze Rasse nur willige Arbeitstiere abgebe.‹ 29 Dagegen scheint es heute politisch opportun zu sagen, der moderne, städtische Mensch sei ›der Natur‹ entfremdet, die er verdingliche, könne aber zugleich diese Zerrissenheit im ästhetischen Erleben kompensieren. – Wie das zusammenpassen soll, bleibt unverständlich. Begnügen wir uns vorerst mit der Anmerkung, daß die ›Befremdlichkeit‹, die ein Bauer angesichts ebenso förderlicher wie zerstörender Naturgewalten erfährt, eine gänzlich andere ist als die zumeist unbewußte ›Befremdlichkeit‹, die dem Städter in Landschaften begegnet, die ihn unmittelbar weder in seiner Existenz bedrohen noch diese befördern und die zumeist nicht einmal unvertraut sind. Gegenüber der ›Naturerfahrung‹ einer bäuerlichen Gesellschaft scheint der ›erholsame und erbauliche Landschaftsgenuß‹ des Städters verschwindend und bedeutungslos. Wir werden wohl erst dann das Wesen der Landschaft erahnen, wenn wir die bloß empirisch historische Haltung überwinden und zugleich einen Schritt über Hegels Metaphysik hinausgehen. Als bloße Natur ist ›Landschaft‹ für diesen nur der äußerliche, oberflächliche Anblick eines Landstriches, mag er gefallen oder nicht; doch als Naturschönes, wie es sich auch in den Landschaften kundgebe, rücken eben diese in den höchsten Rang des absoluten Geistes ein, wenn sie auch innerhalb dieses Ranges, nämlich im nur ›natürlich sinnlichen‹ Scheinen der Idee, eine problematische untere Stufe einnehmen (vgl. 8.3.). 30 Joachim RitOtto Spengler, zitiert bei: Hans Caral, Die Wirtschaftslandschaft und ihre kartographische Darstellung (1946), in: Paffen (1973), a. a. O., S. 328. 29 Ewald Banse, Landschaft und Seele, München-Berlin 1928, S. 76 und S. 83. 30 Soviel zu der verbreiteten gedankenlosen Behauptung, das Naturschöne sei durch und seit Hegel abgewertet worden und müsse rehabilitiert werden, wie sie auch zu finden ist bei: Gernot Böhme, Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt a. M. 1989. 28
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Natur als Landschaft
ter jedoch scheint mir eher dem romantischen Naturbegriff Schellings zu folgen, wonach die unendlich ›tätige‹, schöpferische Kraft der Natur in der Betrachtung schöner Landschaften ausschließlich im Fühlen des Subjekts vorübergehend zur Ruhe komme. Ich werde im Folgenden zunächst den Schritt nachvollziehen von der anfänglichen Entdeckung der besonderen landschaftlichen Räumlichkeit zu ihrer ängstlichen Verschüttung in den Zuordnungen der Landschaft zum ›Heimischen‹ und ›Eigenen‹.
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4. Der Ferne zu
Mit den Ausdrücken ›Ferne‹ und ›Weite‹ deutet sich an, wie sich ›Landschaft‹ zu Beginn der großen Entdeckungsreisen ab dem 16. Jahrhundert zu zeigen begann. In seinem Trattato della Pittura, den Leonardo da Vinci 1519 unabgeschlossen hinterließ, betonte er, daß Dichterbeschreibungen heiterer oder auch rauer Gegenden keineswegs genügten, um Landschaften malen zu können, wie manche glaubten. Das genaue Studium der Natur, das er forderte, führte ihn bekanntlich zur Entdeckung der Luftperspektive. Nicht nur scheinen ebenerdige Luftschichten dichter und opaker als solche in der Höhe, sondern über die Dinge in der Ferne, die eben nicht nur als Verkleinerungen von Dingen in der Nähe darzustellen seien, lege sich ein ›sfumato‹, der ihre klaren Abgrenzungen verschwimmen lasse. 1 1584 faßte Paolo Lomazzo diese Erkenntnis zur Regel zusammen, Landschaftsbilder seien in drei Teile zu gliedern: in das von Nahem Sichtbare, in das Etwas-Verschwommene und schließlich in das, was sich ganz ins Unendliche verliere. 2 Es ist das gleiche Jahr, in welchem Giordano Brunos De l’infinito, universo e mondi erschien. 3 Mit dem Blick auf Weite und Ferne, die zugleich zu Metaphern der Unendlichkeit der Natur werden, beginnt sich das, was man nun mit Dürer ›Landschaft‹ nennen wird, aus dem alten Gegensatz von Stadt und Land zu lösen und damit überhaupt von der hartnäckigen Auslegung durch die Grundfiguren des bewohnbaren Ortes und des begehbaren Weges, von denen her Himmel und Erde durchmessen wurden. In der Geschichte finden wir zahllose Beschreibungen sei es ›höl-
Leonardo da Vinci, Trattato della Pittura (1519), in: W. Busch, Hg., Landschaftsmalerei, a. a. O., S. 68. 2 Paolo Lomazzo, Trattato dell’arte della pittura, scoltura et architettura (1584), in: W. Busch, Hg., Landschaftsmalerei, a. a. O., S. 112. 3 Giordano Bruno, Del’infinito, universo e mondi, London 1584. 1
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Der Ferne zu
lischer‹, sei es ›paradiesischer‹ oder nur geographisch neutral gemeinter Orte und Aufenthalte, sei es des Wandelns in arkadischen Gefilden, des Durchirrens von Einöden und Unterwelten, des Durchreisens der Länder und Meere der Erde. Der Aufbruch aber in eine befremdlich bleibende Weite und Ferne, die durch keine Wege und Reisen zu erschließen sind, durch keine Annäherungen vertraut, durch keine Eroberungen und Niederlassungen als Besitz ergriffen werden können und deren Horizonte niemals als Grenzen zu erreichen, gar zu überschreiten sind – ein solcher Aufbruch ist der eines schauenden, erschaudernden Blicks, der allemal das Sichtbare überschreitet, ohne es je hinter sich zu lassen. Die auf solche Weise erschlossene Weite und Ferne steht nicht mehr in einer meßbaren dimensionalen Relation zu Enge und Nähe, um sich durch einen entsprechenden Standortwechsel mit diesen vertauschen zu lassen. Umgekehrt können nun aber von solcher Weite und Ferne her die Geborgenheiten oder Beengungen naher Orte neu bestimmt werden und so auch die Befreiungen oder die Verlassenheiten auf den Wegen in die Fremde – eine Fremde, die nun ständig ihrer Er-Fahrung zu weichen hat. Orte und Wege werden von der Offenheit unerreichbarer Horizonte her als das verstanden, was sich an sich der Verfügbarkeit anbietet. Weite und Ferne aber entrükken in eine Unverfügbarkeit, die auch der ›Natur als Ganze‹ spottet. In den Weisen des Erstaunens aber läßt sich ihr ›Wellencharakter‹ verstehen: Wer der Landschaft messend zu nahe kommt, dem entzieht sie sich bereits, wer sie durch zweiwertige Begriffe einzufangen sucht, verfehlt schon die ihr eigene Musikalität (8.). ›Landschaften‹, von der Weite und Ferne der Horizonte ebenso schrankenlos begrenzt wie eröffnet, sind noch nicht ein Thema der Philosophie geworden und warten gleichsam noch auf ihre mögliche philosophische Durchdringung. Im politischen Alltag wird, wie dargelegt, ›Landschaft‹ einfach mit ›Gebiet (regio)‹ gleichgesetzt, das dann durch bestimmte vorherrschende Merkmale des Pflanzenwuchses, der geologischen Beschaffenheiten, der Klimazonen etc. beschrieben wird, oder ›Landschaft‹ wird im Ausdruck ›Gegend‹ ganz unbestimmt gelassen. Aber nach einem ernsthafteren Versuch einer phänomenologischen Beschreibung von Landschaft halten wir bisher vergeblich Ausschau (vgl. 9.1. und 9.2.). Und wenn wir fragen, warum sie überhaupt bedeutsam sein könnte, ließe sich erwidern: Auch die Sprache der Philosophie ist weitgehend beherrscht durch die Grundmetaphern des Platzes und des Weges, des Ortes und der Richtung, des Aufenthaltes 74 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Aufbruch eines locus amoenus
und der Reise, der Ruhe und der Bewegung, der Konstruktion und der Methode, der Immanenz und der Transzendenz etc., wodurch ihr bestimmte Denkweisen vorgegeben sind. Der Sinn von ›Landschaft‹ jedoch, so möchte ich zeigen, vermag diese Vorherrschaft aufzubrechen. Aber was für ein Aufbruch würde das sein, wenn es nicht mehr um die Verfügbarkeit der Gefilde durch Orte und Wege ginge?
4.1. Aufbruch eines locus amoenus Der Ausdruck ›Landschaft‹ taucht in der Philosophie, soweit ich sehe, erstmals in der 1709 erschienenen Schrift The Moralists des Earl of Shaftesbury auf, und zwar wie die brüchig werdende Spur eines konventionellen Naturverständnisses. 4 Shaftesbury knüpft an Platons Phaidros an 5, um doch eine wesentliche Änderung des Blicks auf die Natur einzuleiten. Ihm gilt der Aufenthalt im Freien nicht nur als Medium einer städtisch geprägten philosophischen Sprache, um sich doch nur schweigend von dieser Sprache abzuheben. Nach Shaftesbury geht dem philosophischen Gespräch über die Natur der einsame Spaziergang und eine ›Be-Geisterung‹ durch die Natur voraus, die so zum ursprünglichsten Gesprächspartner wird. – Das Verhältnis von Sprache und Natur als Landschaft ist von einer klassischen – der platonischen – Vordeutung geprägt, auf die ich zunächst eingehen möchte. Hier geht es Platon nicht mehr um den städtischen Garten des Akademos. Sokrates schildert im Phaidros einen anmutigen, lieblichen Ort inmitten einer Landschaft. In der römischen Dichtung wird dann das Aufbrechen selbst eines solchen Ortes zur Landschaft erstmals ausgesprochen. * * * Phaidros begegnet dem Sokrates und erklärt ihm, er habe lange sitzend der Rede des Lysias über die Liebe zugehört und gehe nun lustwandelnd hinaus vor die Stadt. Er fordert Sokrates auf mitzukommen, und der erwidert, er sei so begierig, von dieser Rede zu hören, daß er bis Megara mit ihm lustwandeln würde. Auf Vorschlag des Phaidros Anthony Ashley-Cooper, Earl of Shaftesbury, The Moralists, a. a. O. Platon, Phaidros, in: Sämtliche Werke in 6 Bänden, Übers. F. Schleiermacher, Bd. 4, Hamburg 1958.
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Der Ferne zu
gehen sie barfuß dem Flüßchen Ilissos entlang bis zur höchsten Platane der Umgebung. Dort angekommen ruft Sokrates aus: ›Bei der Here! dies ist ein schöner Aufenthalt. Denn die Platane selbst ist prächtig belaubt und hoch und des Gesträuches Höhe und Umschattung gar schön, und so steht es in voller Blüte, daß es den Ort mit Wohlgeruch ganz erfüllt. Und unter der Platane fließt die lieblichste Quelle des kühlsten Wassers, wenn man seinen Füßen trauen darf. Auch scheint hier nach den Statuen und Figuren ein Heiligtum einiger Nymphen und des Acheloos zu sein. Und wenn du das suchst, auch die Luft weht hier willkommen und süß und säuselt sommerlich und lieblich in den Chor der Zikaden. Unter allem am herrlichsten ist das Gras am sanften Abhang in solcher Fülle, daß man hingestreckt das Haupt gemächlich kann ruhen lassen.‹ 6 – Phaidros wundert sich über diese Rede und bemerkt, Sokrates gleiche einem Fremden, der sich umherführen lasse, nicht einem Einheimischen, so wenig scheine er aus der Stadt zu wandern. Und dessen berühmte Antwort lautet: ›Dies verzeih mir schon, o Bester. Ich bin eben lernbegierig, und Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt. Du indes, dünkt mich, hast, um mich herauszulocken, das rechte Mittel gefunden. Denn wie sie mittels vorgehaltenen Laubes oder Körner hungriges Vieh füttern, so könntest du gewiß, wenn du mir solche Rollen mit Reden vorzeigtest, mich durch ganz Attika herumführen und wohin du sonst wolltest.‹ 7 Er werde sich nun niederlegen und Phaidros möge ihm die Rede vorlesen. Worauf genau antwortet die Bemerkung, Felder und Bäume wollten ihn nichts lehren? – Im Phaedon ließ Platon den Sokrates vor seiner Hinrichtung bekennen, vergeblich habe er in seiner Jugend nach der Weisheit gestrebt, die man Naturkunde nenne. Doch anstatt die Ursachen kennen zu lernen, wodurch jegliches entstehe, vergehe und bestehe, wäre er nur von Widersprüchen hin- und hergerissen worden, so daß er schließlich zu fürchten begann, seelenblind zu werden, wenn er mit den Augen nach den Gegenständen sähe und mit jedem Sinn versuchte, sie zu treffen. 8 – Sollte Sokrates hier nun der Auffassung sein, jegliches Wandeln und Verweilen außerhalb der Stadt rechtfertige sich allein, wenn schon nicht mit der Erforschung der Natur, so allenfalls 6 7 8
Ebd., 230 b. Ebd., 230 d. Platon, Phaedon, in: Werke Bd. 3, a. a. O., 99 e, S. 49.
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mit dem Führen von Gesprächen oder Anhören von Reden? Man könnte immerhin den ganzen Ausflug vor die Mauern Athens wie eine Metapher der Rede verstehen, die ja das eigentliche Thema des Dialogs ist: Nach dem Aufbruch aus dem Bewohnten und Gewohnten verläuft der Weg der Redenden und der Gang ihres Gesprächs nicht unähnlich, wohl aber gegenläufig zum ›natürlichen‹ Fluß des Ilissos, nämlich zurück zur Quelle, durch einige ›Erörterungen‹ hindurch zu dem Grund, der sie verweilen läßt, nicht nur zur Erholung und Annehmlichkeit, sondern zum betrachtenden, begreifenden Genuß des Schönen und Weihevollen. Sokrates wird nun aber nicht nur von der wirklichen Schönheit dieses Ortes überrascht, sondern vor allem auch von der Muße, die solchen Anblick erst ermöglicht und der er sich zuvor als ›bloßer Zeitverschwendung‹ nicht hatte hingeben wollen. Und doch will er sich dem Staunen über das Befremdliche nicht länger aussetzen. Er richtet sich vielmehr an dem lieblichen Ort ein, in einem guten Milieu, um eine Rede über die Liebe anzuhören. Und darin mag sich sogar unterschwellig eine bestimmte Entgegensetzung auswirken, hatte Homer doch einen recht ähnlichen Ort skizziert, an welchem Odysseus die Achaier zur Fortsetzung des Krieges hatte überreden können und nun diesen Beschluß mit ihnen feierte: ›Und wir, rings um die Quelle bei den heiligen Altären / Verrichteten den Unsterblichen vollgültige Hundertopfer / Unter der schönen Platane, vor der her glänzendes Wasser strömte.‹ 9 – Sokrates, bevor er in die Stadt zurückkehrt, wird sein ›Opfer‹ in der Form eines Gebetes darbringen, in welchem er Pan um Weisheit bittet, also gerade jenen Gott der Weiden und Wälder, dem er vielleicht sein Erschrecken über die Schönheit des Ortes verdankt, und den er – wie es in Platons Dialog Kratylos heißt – als den zwitterhaften Sohn des Hermes mit ›Rede‹ überhaupt gleichgesetzt hatte, nämlich mit der Rede, die ebenso am göttlich Wahren wie am menschlich Falschen, Böckischen, Tragischen teilhabe. 10 Was war es aber, das Phaidros an der Rede des Sokrates über den lieblichen Ort beirrt hatte? – Er mochte vielleicht auch darüber erstaunt gewesen sein, daß Sokrates, so wie dieser in Verwunderung über die Anmut des Ortes ausgebrochen war, ihn nicht zu kennen schien, obwohl ihm die Gegend ansonsten nicht unbekannt war. Hatte er doch kurz zuvor auf die Frage des Phaidros, ob hier nicht die Stelle wäre, an 9 10
Homer, Ilias, Übers. W. Schadewaldt, Frankfurt a. M. 1975, II,V. 305 f., S. 31. Platon, Kratylos, in: Werke Bd. 2, a. a. O., 408 c, S. 150.
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Der Ferne zu
welcher Boreas die Oreithyia geraubt haben soll, sehr bestimmt mit ›Nein‹ geantwortet: Der Ort liege einige Stadien weiter unterhalb, dort, wo man nach dem Tempel der Artemis durchgehe. Doch Phaidros schien noch durch etwas anderes befremdet worden zu sein, vielleicht von der seltsamen Art, wie Sokrates von diesem Ort sprach, als beschreibe er ihn jemandem, der selber gar nicht mit zugegen war – aber nicht in der Vergangenheitsform, sondern im Präsens. Man könnte geneigt sein, ein ironisches Moment in dieser Ausdrucksweise zu sehen. Sollte Sokrates durch sie den berühmten Redner Lysias nachgeahmt haben, dem zumal die Fähigkeit nachgesagt worden war, seinen Hörern besonders Schauplätze in höchster Anschaulichkeit vergegenwärtigen zu können? 11 Schon des Sokrates Bemerkung, er würde bis nach Megara gehen, um von Phaidros die Rede des Lysias hören zu können, spielt darauf an, daß Lysias während der Tyrannei der Dreißig in Athen nach Megara geflohen war, von wo aus er sich für die Wiederherstellung der Demokratie einsetzte. – Doch das Staunen, das Sokrates überkam, um ihm diesen Anblick der Schönheit zu gewähren, greift wohl tiefer. Acheloos, den er erwähnt, gilt als ältester Flußgott und als Vater der Nymphen überhaupt, dieser bräutlich Verhüllten, aus denen, wie manche meinten, ihrerseits die Musen hervorgehen sollten. Nach Homer haust Acheloos mit seinen Töchtern in der Einsamkeit der Bergwelt. – Liegt im Staunen des Sokrates nicht auch ein Erschrecken über diese Einsamkeit und über das Schweigen der göttlichen Schönheit der Natur, dem er mit seiner Rede über sie entgegentrat, als gälte es, sie selbst zum Sprechen zu bringen? Alles zeigt sich hier in seiner vollendeten Ankunft, nichts hängt mehr von weiteren Ursachen und Zwecken ab, denen aus praktischen oder theoretischen Interessen nachzugehen wäre. Aus der Schönheit des Ortes scheint eine absolute Selbstgenügsamkeit hervor, wie sie nur Göttern zukommt. Und noch in der Welt Homers fordert ein solcher Anblick das Erstaunen des Gottes selbst. Da wurde Hermes von Zeus zur Nymphe Kalypso entsandt, um die Heimkehr des Odysseus zu erwirken – zu jener verhüllend-verhüllten Göttin, die fernab von Menschen und Göttern auf der Insel Orgygia lebt. Und unter seinem göttlich staunenden Blick taucht der von der Göttin bewohnte Ort auf: ›Und ein Wald wuchs um die Höhle, kräftig sprossend. Da nisteten flügelstreckende Vögel: Eulen und Habichte und langzüngige Krähen, Wasserkrähen, die auf die Erträgnisse 11
Der kleine Pauly – Lexikon der Antike, München 1979, ›Lysias‹, Anm. 24.
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des Meeres aus sind. Und daselbst um die gewölbte Höhle streckte sich ein Weinstock und strotzte von Trauben. Und Quellen flossen, vier in der Reihe, mit hellem Wasser, nah beieinander, und wandten sich, die eine hier – die andere dorthin. Und rings sproßten kräftig weiche Wiesen von Veilchen und Eppich. Da mochte alsdann auch ein Unsterblicher, der daher kam, staunen, wenn er es sah, und sich ergötzen in seinen Sinnen. Da stand und staunte der Geleiter, der Argostöter.‹ 12 Vor solchem göttlichen Staunen treten nicht nur die praktischen Kenntnisse im Umgang mit der Natur und das theoretische Wissen um sie gänzlich zurück, sondern ebenso die mythisch-sakralen Bedeutungen ihrer Elemente, ihrer Pflanzen und Tiere, damit sich die befremdliche Schönheit ihres voll-kommenen Da-seins offenbare. Und dazu bedurfte es der Musen, die dem Sänger eingaben zu erzählen, was staunend ein Gott erschaut hatte. – Odysseus aber, krank vor Einsamkeit und Heimweh, sitzt auf den Steinen am Gestade, um dumpf auf das unfruchtbare Meer hinauszublicken. Unsäglich leidet er seit sieben Jahren schon an einem ereignislosen, untätigen, göttergleichen Leben, über das es nichts wird zu erzählen geben. Und wenn man sich fragt, warum er ein altersloses, unsterbliches Dasein der Sorglosigkeit in elysischen Gefilden einfach preisgibt, um als sterblicher Mensch heimzukehren, so scheint mir der Grund dafür in diesem gänzlichen Fehlen alles Erzählenswerten und der Rede überhaupt zu liegen. Solche Sprachlosigkeit, die doch einmal das schweigende Einverständnis mit der Natur gekennzeichnet hatte, scheint nun bedrohlich in der Stummheit einer Natur und selbst noch in ihrer unberührbaren Schönheit zu liegen – ein Stummsein, das es zu brechen gilt, um der Einsamkeit und Verkümmerung in einer Natur zu entgehen, die von sich aus nicht ›mehr‹ zu dem Menschen spricht, der sich von ihr absonderte und vereinzelte, und die sich zwar erfahren läßt, aber diesem Menschen nichts mehr ›lehren‹ kann. Mit ihr scheint man nicht ins Gespräch kommen zu können, nur über sie, sei es im Gespräch mit Fremden oder Freunden, sei es im lautlosen Selbstgespräch angesichts eines verhüllten Eros natürlicher Erscheinungen. Der postmythische Bruch zwischen Natur und Sprache vermag nicht, aus sich heraus zu heilen. * * *
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Homer, Die Odyssee, Übers. W. Schadewaldt, Hamburg 1958, 5. G., V. 62 f.
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In De rerum natura wendet sich Lukrez bereits gegen den städtischen Aufwand und Luxus, indem er betont, wie erquicklich es sei, auf weichem Rasen zu liegen, neben einem fließenden Bach, im Schatten eines ragenden Baumes, bei lachendem Wetter. Und er ruft aus: ›Aber süßer ist nichts als zu wohnen im heiteren Gefilde / Hoch in der Höhe und wohlverwahrt durch Lehre der Weisen.‹ 13 Es scheint, daß in dem Maße, wie sich der Stadt-Land-Unterschied zu einem Gegensatz der Lebensweisen verschärfte, der die Stadt auch von innen her ergriff, sich zugleich eine betontere Ausdehnung des wohnlichen Aufenthaltes zur Umgebung vollzog, des Örtlichen zum Gegendhaften. Seinen Brief an Fuscus beginnt Horaz mit den Worten: ›Fuscus, der du die Stadt liebst, ich grüße dich, der ich fürs Land nur schwärme … Du behütest das Nest, und ich preise im Fluge die Bäche / Die lieblichen Auen, die Wälder, vom Moose begrünte Felsen.‹ 14 Und in einem Brief an Qinctius spricht er betont vom Aussehen seines Landgutes anstatt von dessen Erträgen: ›Schau – eine Kette von Höhen, geschieden durch schattigen Talgrund / so, daß das Morgenrot die Auen zur Rechten, die Abend- / Röte die zur linken vergoldet und wärmet.‹ 15 Während die erträumten ›seligen Inseln‹ 16 noch den ebenso abgeschlossenen wie ausschließenden Ort betonen und zwar sowohl gegen die Stadt wie gegen das bearbeitete Land oder gegen die Wildnis der Sammler, Jäger und Tiere, beginnt schon das offenere ›Arkadien‹ mit seinem musischen Hirtenleben den Ort des Aufenthaltes aufzubrechen zur Gegend des Durchwanderns. 17 Doch bleibt der Blick in die Ferne auch bei Horaz vorerst noch ein Blick auf das ›weite Meer‹ 18. Das Elysium, wie Vergil es in der Aeneis schildert, zeigt bereits von vornherein eine arkadische Offenheit. 19 Es besteht aus ›Orten der Freude‹, aus ›glücklichen Wäldern, lieblich grünenden Fluren, die Gefilde vom Äther eingehüllt in Purpurlicht‹ : ›Keinem ist eigen ein Haus, wir wohnen in schattigen Hainen / Auf den Wiesen, von Bächen erfrischt und an schwellenden Ufern / lagern wir Lucretius Carus, De rerum natura, Übers. K. Büchner, Stuttgart 1973, 2. B., V. 30 ff., S. 85 u. 87. 14 Quintus Horatius Flacus, Satiren und Episteln, a. a. O., S. 92. 15 Ebd., S. 100. 16 Quintus Horatius Flacus, Carmina. Oden und Epoden, Übers. Th. Kayser, München 1934, S. 127. 17 Ebd., S. 105. 18 Qu. Horatius Flacus, Satiren und Episteln, a. a. O., S. 95. 19 Publius Vergilius Maro, Aeneis, Übers. W. Plankl, Stuttgart 1989, S. 162. 13
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uns.‹ 20 Die Seligen wandeln über Hügel und Täler auf ›lachenden Fluren‹. Die Stadt ist hier, wenn auch nur in den eigenen Illusionen, schon so weit entfernt wie später von den Landschaftsparks, die ihr typisches Traumprodukt sind. Aber äußerlich herrscht gleichwohl ein Gegensatz vor: der Gegensatz zu den ›Landschaften‹ der Öde und der Verdammnis. Es sind die ›Räume des nächtlichen Schweigens‹ mit ihren Wildnissen und Einöden, ihrem Schlamm, den Mooren und Sümpfen. Ihnen folgen die Orte des Grauens und der Qualen, die sich hin zu den unermeßlichen Abgründen des Tartarus erstrecken und – anders als dann bei Dante 21 – noch keine Festung – anders als bei Milton 22 – noch keine Stadt der abgefallenen Dämonen, sondern Örtlichkeiten bilden, die bereits zu offenen Landschaften aufbrechen.
4.2. Earl of Shaftesbury oder die Liebe zur Ferne Die Schrift The Moralists des Anthony Ashley-Cooper, Earl of Shaftesbury, von 1709 ist die Überarbeitung eines Textes, der 1705 unter dem Titel The Social Enthusiast erschienen war. Die Gedanken, in denen es vorrangig um Schönheit und Harmonie einer göttlich verstandenen Natur geht, sind dargelegt in Form von Briefen, in welchen über Gespräche des Vortages berichtet wird. Zunächst erinnert der Schreiber Philokles den Freund Palemon an gemeinsame philosophische Gespräche auf der gestrigen Fahrt im Park, abgerungen, wie er meint, dem ›herrschenden Geist der Galanterie und des Vergnügens einer höfischen Gesellschaft‹ 23 – ein Gespräch, das nun dastehe wie das ›Denkmal einer unzeitgemäßen Gesellschaft‹ 24. Dann stellt Philokles seinem Freunde dar, wie er von den philosophischen Ansichten eines Theokles überzeugt worden war, welche dieser ihm in ›ländlicher Szene‹ 25 während einer Tageswanderung durch ›abgelegene und unbesuchte Gegenden‹ 26 eröffnet hatte, weil das ›freie Feld besser als das Zimmer‹ zu ihrer
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Ebd., S. 169. Dante Alighieri, Die Göttliche Kommödie, Übers. H. Gmelin, Stuttgart 1949. John Milton, The paradise lost (1667), dt. Übers. H. H. Meier, Stuttgart 1968. Anthony-Ashley-Cooper, Earl of Shaftesbury, The Moralist, a. a. O., S. 39. Ebd., S. 40. Ebd., S. 116. Ebd., S. 201.
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Unterhaltung passen würde. 27 – Es geht hier also nicht mehr allein darum – wie es bereits eine Vorliebe mancher Denker im alten Rom war – die Stadt zu verlassen, um in einer Villa auf dem Lande philosophische Gespräche zu führen. Die Freunde lustwandeln auch nicht in Gärten oder Parks, sondern erwandern sich einsame Gegenden, um in ihnen über die ›Herrlichkeit der Natur‹ zu philosophieren. In diesen Darlegungen gerät Shaftesbury in einen unlösbaren Widerspruch zwischen der überlieferten Vorstellung einer hierarchisch geordneten und wohlgelungenen Schöpfung – der natura naturata – und deren Aufsprengung durch eine aus unendlichen Potenzen heraus schaffenden Natur – der infiniten natura naturans. Uneingeschränkter noch als Leibniz nimmt er eine unvergleichliche Vollendung und Vollkommenheit der Natur an, die doch – wie später Kant in den ›Antinomien der reinen Vernunft‹ darlegte 28 – grundsätzlich mit der Annahme ihrer Unendlichkeit unverträglich ist, sofern unter ›Unendlichkeit‹ nur die abstrakt-absolute Verneinung der ›Endlichkeit‹ verstanden wird. Wie bemerkt, taucht hier der Ausdruck ›Landschaft‹ erstmals in einem philosophischen Text auf, und seine Bedeutung legt sich gleichsam in bildhafter Uneindeutigkeit über diesen Widerspruch. ›Landschaft‹ bezeichnet in solchem Zusammenhang weder nur unbestimmt ›Gegend‹ noch ein ›Gebiet‹, das durch besonders vorherrschende Merkmale strukturiert wird, noch ist damit auf eine charakteristische, ›organisch‹ scheinende Einheit in der Mannigfaltigkeit natürlicher Erscheinungen verwiesen. Auf das damit latent angesprochene Dritte allerdings geht er nicht ein. Das logische Paradox einer unendlichen Vollkommenheit der Natur, auf welches Shaftesbury mit Gedanken Giordano Brunos stößt, scheint sich im Anblick von ›Landschaft‹ gleichsam selbst zu zeigen: Die grenzenlos scheinende Weite und Ferne löst nicht einfach die Bestimmtheit der Natur auf, da der Horizont, der Erde und Himmel und ihre Zeiten grenzziehend unterscheidet und verbindet, weder die Landschaft in einen Körper einschließt noch sonst eine Schranke darstellt. Seine Auffassung, daß Wahrheit nur in solcher Natur-Landschaft philosophierend zu suchen sei, deutet Shaftesbury bereits in dem Motto an, das er seiner Schrift voranstellte. Er fragmentierte einen Satz aus Ebd., S. 105. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hrsg. R. Schmidt, Leipzig nach 1945, S. 499 ff.
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einem Brief des Horaz so geschickt, daß daraus eine bewußte Doppeldeutigkeit hervortrat: Inter silvas Academi quaerere verum. Der vollständige Satz des Horaz lautet in der Übersetzung von Dorminger: ›Ich lernte (in Athen, Anm. v. m.), gerade Wege von krummen richtig zu scheiden und in dem Waldhain Academus’ tiefste Wahrheit suchen.‹ 29 Es handelt sich hier natürlich um den Gartenhain bei Athen, der dem Held Akademos geweiht war, dessen Anlagen für gymnastische Übungen genutzt wurden und in welchem Platon sich gerne mit seinen Schülern aufgehalten hat. Im Jahre 385 v. Chr. hatte er seine Schule unter dem Namen Akademeia unter der Rechtsform eines Kultvereins zur Verehrung Apollons und der Musen gegründet. Während nun 7Horaz den Ausdruck ›inmitten des Hains des Akademos‹ poetisch für die Platonische Akademie verwandte, an der er studiert hatte, deutet die Fragmentierung durch Shaftesbury in weit stärkerem Maße an, daß Wahrheit, außer im Denken Platons, in der freien Natur zu suchen sei. Shaftesbury, dessen Erzieher John Locke gewesen war, hatte sich später der platonischen Renaissance angeschlossen, wie sie von Ralph Cudworth in Cambridge geprägt worden war. Man wird Shaftesburys hymnisches Gebet an die Natur, in dessen seltsamem Kontext der Ausdruck ›Landschaft‹ auftaucht, nicht zureichend verstehen, verdeutlicht man nicht den Horizont, von dem her er zu einer kritischen Haltung gegen jeden Anthropozentrismus drängt. Sicher, sein Versuch, analog zur Theodizee eines Leibniz, Natur als schlechthin gut und schön zu rechtfertigen, gerät in unlösbare Schwierigkeiten. Doch seine eher kargen Ansätze, parallel dazu auch eine 7moralisch indifferente, naturwissenschaftliche Betrachtungsweise zuzulassen, reichen nicht aus, Natur wertmäßig zu neutralisieren. Zeitweise Parlamentsmitglied, gehörte Shaftesbury jener Fraktion der Whigs an, die sich erfolgreich gegen die katholische Thronfolge zur Wehr gesetzt hatte. Seine Gegnerschaft nicht nur überhaupt zu religiösen Dogmatismen und künstlichen Machenschaften, sondern konkret zu einem drohenden kirchlichen und monarchistischen Absolutismus, wie er in Frankreich und Spanien herrschte, erstreckte sich schließlich sogar auf die barocken Gartenanlagen. Er spielt die ›freie Natur‹, und zwar selbst in der Form ihrer ursprünglichen Wildheit, gegen die ›künstlichen Labyrinthe und nachgeahmten Wildnisse königlicher Quintus Horatius Flacus, Satiren und Episteln, Übers. G. Dorminger, München 1959, II. Ep., 2, V. 46, S. 122.
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Gärten‹ aus: 30 ›Selbst schroffe Felsen, bemooste Höhlen, unregelmäßige, natürliche Grotten und ununterbrochene Wasserfälle, mit allen grauenhaften Schönheiten der Wildnis, sind um so anziehender für mich, je mehr sie die Natur selbst zeigen und in einer Pracht erscheinen, welche die steifen Nachäffereien fürstlicher Gärten bei weitem übertreffen.‹ 31 Sogar vor solchen Schönheiten an schauerlichen Orten und feierlichen Hainen, die eine Art Melancholie einflößten, brauche man sich nicht zu fürchten. Und wem käme überhaupt in den Sinn, etwa das Meer beherrschen und gestalten zu wollen, nur weil er von der Schönheit des Ozeans in der Ferne bezaubert sei?! 32 Der siebzehn Jahre jüngere Dichter Alexander Pope, der den Ausdruck ›Landschaftsgarten‹ geprägt haben soll, gilt oft geradezu als Erfinder des Englischen Parks. Auf seine Anregungen hin hätten William Kent und andere Architekten, die sich an der Malerei Claude Lorrains orientiert haben sollen, die ersten Landschaftsparks angelegt, nicht nur in einer Rückwendung zum schlichten Klassizismus eines Palladios gegen die Spielarten des barocken Manierismus, vielmehr im Ganzen in einer Abwendung von dem an der Architektur orientierten Stil, zumal dem am absolutistischen Palastbau ausgerichteten Stil eines LeNôtre, der mit seinen durch Prospekte geleiteten Terrassierungen weitgehend der zeichnerischen Linearperspektive mit ihrem clare et distincte verpflichtet war. Pope hatte dagegen ein Spiel von Lichtungen und Verhüllungen, von Verschattungen und theatralischen Ausblicken gefordert, denn Gartenbaukunst sei Landschaftsmalerei. 33 Shaftesbury hatte mit seiner Grundüberzeugung, die ganze Ordnung des Universums falle zusammen, wenn sich der Mensch zum Mittelpunkt aller Dinge mache 34, eine weit tiefergreifende Wende vollzogen, die doch bereits von seinen Nachfolgern Francis Hutcheson 35 und zumal Edward Young 36 ebenso grundlegend durch eine Ästhetik Shaftesbury, a. a. O., S. 174. Ebd., S. 178. 32 Ebd., S. 178. 33 Vgl. dazu: Werner Busch, Hg., Landschaftsmalerei, a. a. O. 34 Shaftesbury, a. a. O., S. 111. 35 Francis Hutcheson, Untersuchung unserer Begriffe von Schönheit und Tugend (anonyme dt. Übers.), Frankfurt und Leipzig 1762. 36 Edward Young, Gedanken über die Original-Werke (anonyme dt. Übers.), Leipzig 1760. 30 31
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des Genies wieder aufgehoben wurde. Shaftesburys Auffassung nach vermag keine menschliche Kunst je das Niveau schöpferischer Natur erreichen. Nicht einmal die Fähigkeiten menschlichen Schönheitserlebens reichten hin, die unendliche Schönheit der Natur überhaupt erfassen zu können. Für Shaftesbury gibt es weder eine Natur, die mit dem Sündenfall verdorben wurde und daher ihrerseits zu einem künftigen paradiesischen Zustand hin erlöst, d. h. technisch umgewandelt werden müsse, noch eine Natur, in welcher, wie Thomas Hobbes annehme, einzig der Kampf jedes gegen jeden herrsche und somit ein allgemeiner Kriegszustand, der nur durch die absolute vertragliche Herrschaft des Staates gezügelt werden könne. 37 Der Streit in der Natur sei vielmehr als ein Prozeß zu verstehen, in welchem durch wechselseitige Beschränkung alles erst sein eigenes Maß und seine ihm eigene Schönheit finde, unabhängig davon, ob Menschen für sie einen Sinn entwikkelt haben oder nicht. Während nun die Vollkommenheit der Natur bei Leibniz noch unter dem behütenden Bild des Gartens betrachtet wird 38, sprengt Shaftesbury dagegen das Bild noch über den menschlichen Maßstab hinaus auf, indem er die Schönheit auch dessen entdeckt, was dem beschränkten menschlichen Sinn häßlich scheine. Über die Wildnis spricht er auf eine Weise, wie sich so über sie bisher noch keiner geäußert hat: ›Die Bewohner dieser Gegenden, schuppige Schlangen, wilde Tiere und giftige Insekten, wie schrecklich sie uns auch erscheinen, wie sehr sie auch der menschlichen Natur zuwider sind, sind doch an sich schön und geeignet, unsere Gedanken voll Bewunderung zu jener göttlichen Weisheit zu erheben, die so hoch über unsern engen Gesichtskreis erhaben ist.‹ 39 In Beziehung darauf werde alles Häßliche schön, Unordnung erscheine harmonisch, Verdorbenheit heilsam und Gift erweise sich als Arznei und Wohltat. Natur ist ihm ein göttliches Kunstwerk von unübertreffbarer Güte und Schönheit. Nur durch die Shaftesbury, a. a. O., S. 123 und S. 125. Gottfried W. Leibniz, Monadologie, Übers. A. Buchenau, Hamburg 1982, S. 59 (Abs. 67 f.) heißt es: ›Jedes Stück Materie kann wie ein Garten voller Pflanzen und wie ein Teich voller Fische aufgefaßt werden. Aber jeder Zweig der Pflanze, jedes Glied des Tieres, jeder seiner Säfte ist wiederum ein solcher Garten oder ein solcher Teich.‹ Es gebe daher kein Chaos, nichts Ödes, nichts Unfruchtbares oder Totes im Universum. Leibniz formulierte damit ein Prinzip, das man später in der ›Fraktalen Geometrie‹ formalisierte. 39 Shaftesbury, a. a. O., S. 174. 37 38
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menschlich beschränkte, nur auf sich selbst bezogene Sichtweise scheint es so etwas wie Häßlichkeit und Übel in der Natur zu geben. – Als ›Landschaft‹ jedenfalls gibt es die Hölle für Shaftesbury nicht. Doch in seinem Versuch, diese Übel zu rechtfertigen und zwar im Rahmen einer hierarchischen Ontologie, geht ihm zunächst gerade dieser übermenschliche Blick auf die Natur wieder verloren. Angesichts der Schrecknisse und der Zerstörungen in der Natur entwirft er eine Rangordnung, in welcher, wie schon bei Leibniz, schließlich nur noch abstrakt das Ganze als vollkommen gelten kann und zwar auf Kosten seiner Teile, die ihm zu dienen hätten und die ihrerseits einander überund untergeordnet seien. So würden durch Erdbeben, Stürme, Seuchen, Feuer, Wasser, durch tierische und menschliche Gewalt ganze Arten vernichtet. Doch das geschehe zum Besten jeweils höherer Sphären, und man könne nicht fordern, daß Höheres geändert würde, nur um Niedrigeres zu retten. 40 So muß alles Zweckwidrige, Mißratene oder auch nur rasch Vergängliche noch darin dem jeweils Besseren dienen, daß dieses sich in der Bekämpfung und Vertilgung der Übel bewähre und steigere. Vom Guten in den Dienst genommen, arbeitet, wie dann auch Goethe im Anschluß an das Buch Hiob in seinem Faust sagen wird, selbst der Teufel für Gott. Und Hegel wird diesem Gedanken folgen und Nietzsche sich manchmal darin verstricken. – Einerseits spricht Shaftesbury von der Natur als der ›mächtigen Schöpferin‹, welche ihre schöpferischen Kräfte an ihre Geschöpfe, an die Geschöpfe ihrer Geschöpfe und so fort ins Unendliche weitergebe. Und darin scheint Natur schon fast selbst die Gottheit, zumindest aber die ›weise Statthalterin der Vorsehung‹ 41. Das Geringste ihrer Werke übertreffe bei weitem alle menschlichen Kunstwerke. 42 Andererseits bewirkt die Rangordnung mit ihrer Aufwertung des Höheren zugleich eine Abwertung des je Niedrigeren. Nun spricht Shaftesbury plötzlich abfällig von den ›bloßen Werken der Natur‹ 43, die nur noch als Schatten einer rein geistigen Urschönheit gelten. Und im äußersten Gegensatz zur göttlichen Natur taucht nun auf unterster Stufe der Rangordnung die Natur als bloße ›Materie‹ auf, als das schlechthin Formlose, das Scheuß-
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Ebd., S. 61. Ebd., S. 146. Ebd. Ebd., S. 188.
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liche und Häßliche selbst 44, ›verächtlich‹ und ein ›armseliger Kehricht‹. 45 Aber als ob er mit einem Mal die Schwere eines solchen spätmittelalterlichen Platonismus’ spürte, als ob er sich plötzlich wieder daran erinnerte, daß die vermeintliche Häßlichkeit nur dem beschränkten menschlichen Standpunkt angehöre, kehrt er zur Azentrierung des anthropologischen Selbstverständnisses zurück, um von der Natur zu sagen: ›Dein Wesen ist unbegrenzt, unerforschlich, undurchdringlich. In deiner Unermeßlichkeit verlieren sich alle Gedanken; die Phantasie hemmt ihren Flug, und die ermattete Einbildungskraft erschöpft sich vergebens; sie findet weder Ufer noch Ende dieses Ozeans, und in den unermeßlichen Räumen, über denen sie schwebt, keinen Punkt, der dem Umkreis näher wäre, als der erste Mittelpunkt, von dem sie aufstieg. Wie oft versuchte ich, in die unendliche Weite einzudringen, aber immer wieder kehrte ich zu mir selbst zurück, betroffen von dem Bewußtsein meines so eng beschränkten Wesens und der Fülle jenes Unermeßlichen, und ich wage nicht länger in den furchtbaren Abgrund zu schauen oder die Tiefe der Gottheit zu ergründen.‹ 46 Wenn Shaftesbury gleichwohl den Versuch unternimmt, eine Art ›Karte‹ 47 oder ›Anatomie‹ 48 der Natur zu entwerfen, um in diesem Labyrinth noch Orientierungen zu gewinnen, so geschieht das nicht in der Überzeugung, über jene göttlich universale Vernunft zu verfügen, der sich Isaac Newton anvertraut hatte, als er wenige Jahre zuvor seine Philosophiae naturalis principia mathematica verfaßte und 1687 veröffentlichte. 49 In der Tradition der kosmo- und geographischen Naturgeschichten, die an Plinius d. Ä. anknüpften, 50 nicht aber im neuen galileischen Stil mathematisch-experimenteller Naturwissenschaft, beginnt Shaftesbury seine kargen Beschreibungen bei den ›unzähligen Sternen‹ 51, nähert sich über das Sonnensystem dem Planeten Erde, durchwandert die Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer, dann die Reiche der MiEbd., S. 186. Ebd., S. 114. 46 Ebd., S. 146–147. 47 Ebd., S. 170. 48 Ebd., S. 106. 49 Isaac Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica (1687), Hg. J. Ph. Wolfers, Darmstadt 1963. 50 C. Plinius Secundus d. Ä., Naturalis Historiae – Naturkunde, a. a. O. 51 Shaftesbury, a. a. O., S. 163. 44 45
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neralien, Pflanzen, Tiere, um schließlich über die Kontinente, deren Länder und Klimata zu den menschlichen Bewohnern und deren Eigenheiten zu kommen. Aber dieses Durchwandern der Dimensionen vom Ferneren zum Näheren, vom an sich Größeren zum Kleineren setzt sich nicht etwa, wie bei den Alchemisten oder bei den Seelenforschern seiner Zeit, in eine Vernetzung durch Analogien fort. Shaftesbury bricht seinen Gang durch die geordneten Bereiche der Natur ebenso jäh ab wie zuvor seinen Aufstieg und Abstieg durch die Wertrangordnung der Natur. Und im Augenblick solcher Abbrüche kehrt er unvermittelt zum Anblick landschaftlicher Schönheiten zurück, 52 zu diesem ›Wohnort der Seele‹ 53, und überläßt sich den schönen Gegenden mit ihren Meeresküsten und Gefilden, ihren reizenden Tälern, feierlichen Hainen und bezaubernden Bäumen. Dieser Sprung zur ästhetischen Betrachtung der Natur entspricht seiner Auffassung, daß kein menschlicher Geist die ›Unendlichkeit der Dinge‹ 54 der Natur zu überschauen vermag, geschweige sie gliedernd oder auch nur aufzeichnend durchmessen könne. Landschaftsbeschreibungen tauchen genau an der Stelle auf, wo der Begriff der Natur am unlösbaren Widerspruch ihrer Endlichkeit und Unendlichkeit zerbricht, und an die Stelle des Bruchs tritt die ästhetische Vollkommenheit der Natur: Auf einem frühmorgendlichen Spaziergang erreichen Philokles und Theokles die ›schönste Stelle auf einem Hügel‹, um sich dort vom ›Genius des Ortes‹ begeistern zu lassen: ›Die Sonne, eben im Begriff aufzugehen, zieht den Vorhang der Nacht hinweg und zeigt uns den offenen Schauplatz der Natur in den Gefilden da unten.‹ 55 Und Theokles beginnt seinen Lobgesang auf die Natur mit den fast betenden Worten: ›Ihr Gefilde und Wälder, meine Zuflucht aus dem ermüdenden Getümmel der Welt, nehmt mich auf in euer stilles Heiligtum und segnet die Stunden meiner Einsamkeit und stillen Betrachtung. Ihr grünen Täler, wie frohen Herzens grüße ich euch! Heil euch, ihr seligen Wohnungen! Vertrauliche Ruheplätze! entzückende Aussichten! majestätische Schönheit dieser Erde und all ihr ländlichen Mächte und Grazien! Seid mir gesegnet, ihr unentweihten Wohnplätze glücklichster Sterblicher, die hier in friedlicher Unschuld ein unbeneidetes, obschon göttliches Leben 52 53 54 55
Ebd., S. 176. Ebd., S. 178. Ebd., S. 109. Ebd., S. 145.
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genießen; voll seliger Einfalt und Ruhe gewährt ihr dem Menschen glückliche Muße und Einsamkeit, ihm, der, zur Betrachtung und Erforschung seiner eigenen und andrer Naturen geschaffen, hier am besten über die Ursache der Dinge nachdenken und mitten unter den mannigfaltigen Szenen der Schöpfung ihre Werke näher betrachten kann. – O herrliche Natur! über alles schön und gut! Alliebend, alliebenswert, allgöttlich! deren Blicke so bezaubernd und so unendlich liebreizend sind; deren Erforschung so viel Weisheit, deren Betrachtung so viel Wonne bringt; deren geringstes Werk eine reichere Szene, ein edleres Schauspiel darbietet als alles, was je die Kunst erfand! O mächtige Natur: weise Statthalterin der Vorsehung! mächtige Schöpferin! o du Macht verleihende Gottheit, höchster Schöpfer! Dich rufe ich an, vor dir allein werf’ ich mich nieder … Du Quelle und Urgrund aller Schönheit und Vollkommenheit!‹ 56 Der Einfluß dieser fast stammelnden Naturanbetung auf das europäische Geistesleben ist wohl kaum zu überschätzen und er reicht weit über Rousseau und über Herder hinaus, der die Hymne nachdichtend übersetzte, 57 über Goethe, Schiller und Schelling in die deutsche Romantik hinein. Gleichwohl überschreitet Shaftesbury gerade in dieser Textpassage noch kaum die Motivwelt der Überlieferung, sieht man einmal von der gesteigerten Eindringlichkeit der Naturbegeisterung ab. Sicher fällt auf, daß sich sein Blick, anders als der des Franz von Assisi im Sonnengesang, nicht von unten zu den Erscheinungen des Himmels nach oben erhebt, um sich dann bis zu den Blumen, Kräutern und Ähren wieder herabzusenken. 58 Und ebenso wenig richtet sich dieser Blick nur von der Höhe herab auf eine Art Landkarte unter ihm, wie bei Petrarca. Aber obwohl Shaftesbury wörtlich den Schritt vollzieht von der ›Natur als Schauplatz‹ zur ›Natur als Schauspiel‹, ist doch nicht – wie in den großen Schöpfungsmythen – von wandelnden Gestirnen, Tages- und Jahreszeiten die Rede, nicht von den Kämpfen und Dramen der Elemente und Lebewesen. Es geht um einen Augenblick, der seinerseits verweilt mit der Ruhe und Einsamkeit, mit dem Ort der Zuflucht, der Wohnung, der heiligen Stätte. Nur die Andeutung von ›Offenheit‹
Ebd., S. 146. Vgl. Wolfgang H. Schrader, Einleitung in: Shaftesbury, Die Moralisten, a. a. O., S. 7– 33. 58 Franz von Assisi, Sonnengesang, in: Die Werke, Übers. W. v. d. Steinen u. a., Zürich 1979, S. 7 ff. 56 57
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und das Nennen von Gefilden, Wäldern und Tälern verweisen darauf, daß sich der ›liebliche Aufenthalt‹, wie ihn Sokrates und Phaidros genossen haben, auszuweiten beginnt. Aber auch dies bleibt noch teilweise in der Tradition der Dichtungen eines Horaz oder Vergils, zumal was das Motiv der Flucht aus der Stadt betrifft und den Hauch einer nymphen- und grazienhaft verhüllten Erotik in der ›Physiognomie‹ landschaftlicher Gefilde, die Shaftesbury allerdings nie in eine solche Nähe kommen läßt, wie etwa Theokrit es tut, wenn dieser vom ›Wispern der Pinie‹, vom ›Erklingen der Quelle‹, vom ›Lager auf frisch geschnittenen Weinblättern‹ und von den ›Grotten der Nymphen‹ spricht, nie aber vom offenen Gefilde und von der Weite und Ferne der Berge und Täler. 59 * * * Erst die Landschaftsmaler des 17. Jahrhunderts, die auch die Blickweise Shaftesburys formten, begannen die eigenartigen Schönheiten auch der bis dahin für ›häßlich‹ gehaltenen Landschaften zu entdecken, und zwar genau dann, als Landschaften nicht mehr vorrangig durch Orte und Wege, durch menschliche Aufenthalte und Wanderungen gesehen und gedeutet wurden. Shaftesbury läßt seinen Philokles dem Freund Palemon berichten, er habe in der Nacht, nachdem er von seinem Spaziergang mit Theokles durch die einsame Gegend in die Stadt zurückgekehrt war, einen Traum gehabt: ›Ich fand mich in eine ferne Gegend versetzt, welche ein prachtvolles Landschaftsbild bot. Es war ein Berg nicht weit von der See, sein Gipfel mit alten Bäumen geschmückt. An seinem Fuße ein Fluß. Weiter erstreckte sich blühendes Land; im Hintergrund das Meer.‹ 60 – Shaftesbury vermeidet in dieser knappen Beschreibung weitgehend, Details und deren Lage zueinander zu schildern, damit im vagen Bildschema nicht mehr als eine Stimmung auftauche. Ernst Cassirer, der, in Hinsicht auf Shaftesburys Die Moralisten, von einer ›ersten Philosophie des Schönen‹ gesprochen hatte, 61 bemerkte: ›Wer uns den Eindruck einer Landschaft dadurch vermitteln wollte, daß er ihren reinen Anblick in einzelne Bestimmungen auseinanderlegte, und 59 60 61
Theokrit, Gedichte, Übers. B. Effe, Düsseldorf-Zürich 1999, S. 9, 17, 59. Shaftesbury, a. a. O., S. 65. Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, S. 411.
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für jede dieser Bestimmungen nach einem deutlichen Begriff suchte, indem er die Landschaft etwa in der Sprache der Geologie und mit deren Erkenntnismitteln beschriebe, – der hätte damit eine neue naturwissenschaftliche Einsicht erreicht, aber in eben dieser Einsicht ist von der ›Schönheit‹ der Landschaft nicht das geringste aufbehalten. Die Schönheit gibt sich nur der unzerlegten Anschauung, der reinen Betrachtung der Landschaft als Ganzem, zu eigen.‹ 62 Der Satz vom Grund habe hier nichts mehr zu sagen. In solchen Überlegungen folgt Cassirer dem Gedanken Baumgartens, wonach ästhetische Erkenntnis zwar ›clare‹ aber ›indistincte‹ sei. – Allerdings reicht eine solche Deutung nicht aus, denn es gibt höchst verschiedene Stimmungsarten, in denen sich Landschaften präsentieren. Und wie unmittelbar auch immer sie uns in ihrer jeweiligen ›Stimmigkeit‹ scheinen mögen, sind diese Stimmungen doch – um mit Hegel zu sprechen – bereits durch und durch vermittelt. Noch im Traum ganz dem Anblick der fernen Gegend hingegeben, entdeckt Philokles plötzlich, daß er sich am selben Platz befand, ›wo er mit Theokles an dem zweiten Tage, da ich mit ihm auf dem Lande war, eine Unterhaltung hatte‹. 63 Als er nach diesem rief, erwachte er. Es handelte sich, wie er sich Palemon gegenüber ausdrückte, um einen Traum der ›wahren Art‹ 64, nämlich, wie er sagt, um das Bild genau jener ›wirklichen Landschaft‹ 65, in welcher Theokles zu ihm auf hymnische Weise und, wie er mit Gedanken Platons aus dem Phaidros bemerkt, in einer ›vernünftigen Art von Wahnsinn‹ 66 über die herrliche Natur gesprochen hatte. – Bedenkt man, daß nach Shaftesburys Ansicht keine Kunst, also auch nicht die Malerei, an die Schönheit und Wahrheit der unendlich schöpferischen Natur herankomme, so wird die Funktion des Traumbildes, das sich mit der Wirklichkeit deckt, verständlicher: In einem Bilde, und doch nicht im Medium einer bildenden Kunst, findet er sich in die ›wirkliche Landschaft‹ versetzt, so wie er im wachen Zustand schon ›im Bild‹ der wirklichen Landschaft war und sie nicht nur sinnlich wahrgenommen ›vor‹ sich hatte. Insofern ist dieser Traum zugleich die Wiederkehr des wirklichen Landschaftsbildes, und Shaftesbury könnte darauf insistieren, daß er die ›Natur‹ eigentlich an
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Ebd., S. 461. Shaftesbury, a. a. O., S. 66. Ebd., S. 65. Ebd., S. 66. Ebd., S. 147.
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Der Ferne zu
keiner Stelle durch ›Kunst‹ ersetzt habe. Aber man vergesse nicht, daß in seiner Argumentationsweise die Höherschätzung der Natur sich weniger gegen die Kunst als Kunst wendet, denn vielmehr gegen die menschliche Anmaßung, Zentrum und Maßstab aller Dinge zu sein. Wenn es bei ihm heißt, der Träumer Philokles habe sich in eine ›ferne Gegend‹ versetzt gefühlt und doch noch im Traum bemerkt, daß er sich am selben Platz befand, an dem er mit Theokles war, nun aber alleine und nach ihm rufend, um zu erwachen: Dann scheint gerade aus der Distanz zu dessen zwar enthusiastischer, aber doch konventioneller Naturanbetung diese Landschaftsbeschreibung aufzutauchen. Zwar ist von einem ›Platz‹ die Rede, sofern die Perspektive der Blickrichtungen jeweils einen Standort erfordert, der gleichwohl beliebig versetzbar ist. Doch angesichts einer Ferne und Weite, die sich dem unerwiderbaren Blick in eine unsichtbare Tiefe nur über das unbestimmtere Sehfeld öffnen, ist es gerade der Standort, der gänzlich in den Hintergrund tritt. Nun geht es nicht mehr um diesen Ort als Schauplatz oder als heilige Stätte, nicht mehr um Zuflucht und wohnlichen Aufenthalt, sondern um die Weite eines – man möchte sagen: ›nymphenhaft‹ blühenden Landes dem Meer und dem Himmel zu. Kein Weg, keine Ansiedlung, keine menschliche Spur wird erwähnt, nur eine Natur, die vollkommen mit sich all-eins ist, eine Ferne, die sich gegen keine greifbare Nähe absetzt, ohne sich doch in einer unsinnlichen, horizontlosen, leeren Unendlichkeit zu verlieren. Das Wort ›Ferne‹ habe in der Lyrik aller Sprachen einen ›wehmütig herbstlichen Akzent‹, meinte Oswald Spengler in Der Untergang des Abendlandes. 67 Das mag zutreffen, wo eine Sehnsucht nach der Fremde, die zu keinem wirklichen Aufbruch und zu keiner Er-Fahrung des Unbekannten führt, nur als Wehmut in sich zurückgestaut wird. Doch die Ferne, von der Shaftesbury hier spricht, wird eben nicht als eine nur entlegene, geheimnisvoll verborgene Nähe verstanden, die auf ihre Erschließung wartet oder sie vorenthält. Anstatt nur der leere Raum eines Mangels oder der Raum einer verdeckten Fülle zu sein, ist die Ferne in ihrer Offenheit vollkommen da, um im Erstaunen ihre unaufhebbare Befremdlichkeit zu manifestieren. Es ist also die philosophische Überbietung menschlicher Kunst durch die Natur, die aus dem ›Landschaftsbild‹ der Malerei bei Shaftesbury die ›wirkliche Landschaft‹ hervorgehen ließ. Aber genau darin 67
Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. I, München 1920, S. 331.
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Earl of Shaftesbury oder die Liebe zur Ferne
bleibt seine Landschaftsbeschreibung zugleich mit an der Malerei orientiert (auch wenn sie in einem gewissen Sinne bereits zu einer ›lautlosen Musik‹ unterwegs ist). Denn obwohl Shaftesbury weder von dem Erde und Himmel verbindenden Horizont noch von den Licht- und Gegenlichtverhältnissen spricht, erinnert die unheroische, undramatische Klarheit des von ihm beschriebenen Landschaftsbildes an Gemälde von Claude Lorrain, die bereits zu seiner Zeit auch in den Galerien Englands zu sehen waren oder die Shaftesbury ebenso auf seinen Reisen in Italien hätte kennenlernen können. Der Schauer der Einsamkeit, wie er sogar noch in der Hymne des Theokles zu vernehmen ist, mag zwar auch auf Landschaftsgemälde flämisch-niederländischer Art, etwa auf solche von Jakob Ruisdael verweisen. Und Shaftesbury hatte sich mehrmals länger in den Niederlanden aufgehalten. Doch in seiner Beschreibung der geträumten wirklichen Landschaft fehlt jede Spur zurück oder romantisch voran zum Intimen und Idyllischen der bergend heimatlichen Orte oder zum Reiz der vertrauten oder unbekannten Wege. Der Betrachter ist weder eingebettet in die Landschaft, noch schaut er von oben aus der Vogelperspektive auf sie herab, wie es in der poetischen Metapher des Horaz der Fall war. Der Blick des Betrachters gleitet vom Hügel in sie hinein, und, ohne aufgehalten zu werden, schweift er in die Ferne und Weite, ohne diese einholen und tilgen zu wollen. An diesem Blick, in welchem die Ferne zur Metapher einer imaginären Tiefe wird, von der her nichts Seiendes mehr zurückblickt, – an diesem Blick zerbrach bereits – wie erst Hegel in der Wissenschaft der Logik zu begreifen gibt 68 – die abstrakte Entgegensetzung von Endlichkeit und Unendlichkeit, und Natur als ›Landschaft‹ tauchte an dieser Stelle des Bruchs auf.
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Georg W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, in: Werke Bd. 5, a. a. O., S. 151 ff.
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5. Der verhüllte Eros heimischer Landschaft
Tauchen ›Landschaften‹ also dort auf, wo sich die Grenzen eines Ortes, einer bestimmten Lage, eines Feldes entgrenzen, ohne daß sich die landschaftlichen Gestalten auflösten und sich im Grenzenlosen verlören? Wo sich demnach mit einem Horizont Ferne und Weite öffnen, die durch keine Wege einzuholen und zu erreichen sind, und wodurch die Gestalten eines Landstriches sich in eine Fremdheit hüllen, die durch keine Näherung in Vertrautes überführt werden kann? Es bedurfte der Betroffenheit und des Staunens, um die Befremdlichkeit ihrer Sanftheit oder Schroffheit, ihrer Schönheit und Erhabenheit, ihrer Kultiviertheit oder Wildheit allererst erfassen zu können. Wenn Shaftesbury von ›Landschaft‹ sprach, dann so, daß Ferne und Weite sichtbar wurden, indem die jeweilige Örtlichkeit der landschaftlichen Gestalten, der Berge, der sich erstreckenden Täler, Flüsse und Seen nicht einfach zu einem quantitativ umfangreicheren Raum, sondern zu einer qualitativ anderen Räumlichkeit hin überschritten wird. In solchen Überhebungen über geo-metrische und addierbare Plätze und Wege hinweg öffnen sich Landschaften den Möglichkeiten des Offenen selbst, Möglichkeiten, in denen sie sich weder überfüllt durch die Dinge noch leer und verlassen durch deren Fehlen zeigen. Landschaften öffnen sich als das Freie schlechthin, wie ich noch ausführlicher darlegen werde (9.2.2.). Zunächst aber gilt es zu fragen, ob den Umwandlungen von Landschaften in ›Gebiete‹ (2.) nicht eine Gegentendenz gegen die Horizonte ihrer befremdlichen Ferne und Weite zugrunde liegt? Suchen Menschen doch, zumindest in den Landschaften ihrer Umgebung, die Geborgenheit einer heimatlichen Nähe zu finden, ohne welche sie vielleicht nicht auf den Gedanken verfielen, Landschaften als Gebiete beherrschen zu wollen. Scheint es doch, als zögen sich Weitung und Fernung zusammen, als schrumpften sie zur Nähe verwaltbarer Örtlichkeiten. Und doch zeigt sich auf solche Weise Landschaft nur als eine Lage verschiedener, durch Wege verbundener Plätze und Feldflächen, 94 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Der verhüllte Eros heimischer Landschaft
die ›bewohnbar‹ in einem weiten Sinne des Wortes sind: bewohnbar von ansässigen oder wandernden Menschen, Tieren und Pflanzen. Es sind ›gezähmte‹ und über-schaubare Gefilde eines Landstrichs, geheure Orte jenseits der ungeheuren und unbewohnbaren Räume, die zu Tummelplätzen teuflischer oder himmlischer Phantasmen werden. – Worin aber liegt solche oft gewaltsam hergestellte, vertraute Nähe, die sich mal in behütenden, mal in beklemmenden Verengungen zeigt? Ist die heimatliche Nähe, Enge und Vertrautheit wirklich noch eine Weise der Landschaft selbst, die darin ihrer Weite, Ferne und Fremde widerstrebt? Oder sind es Deutungsmuster, die uns eine vermeintliche Unbedrohlichkeit bestimmter Landstriche vorgaukeln, als brächten sie uns Landschaften heimatlich nahe? Die vertrauten Hügel Mitteleuropas, die weichen Wiesentäler, die anmutigen Windungen des Flusses, die bewaldeten Berge am Horizont – nicht die Wüsten, Einöden, Wildnisse, Sümpfe – sind ›Dinge‹, die zur ›heimatlichen‹ Landschaft gehören, als bildete sie einen phantastischen, imaginären Körper, dessen ›Glieder‹ sie wären, Glieder, die durch bestimmte Metaphern uns gleichsam ›auf den Leib‹ rücken, uns heim(e)lich ansprechen, indem sie Traulichkeit und sogar Zuneigungen zu ihnen anfachen, anstatt Ängste zu schüren. Wie aber, wenn Landschaften genau dann entrükken, wenn man glaubt, einen ungreifbaren phantastischen ›Mutter‹Körper vor sich haben, dem man heimatlich bekannte und vertraute ›Glieder‹ und ›Organe‹ zuschreibt? Ich werde zunächst einigen Metaphern leiblicher Glieder nachgehen, mit denen man charakteristische Gestalten eines Landstriches benannte. Es sind Metaphern, die eine seltsame ›Zerstückelung‹ präsentieren, ohne doch ein organisch konkretes und individuelles Ganzes vorzustellen. Dann komme ich auf jenen dichterischen Mythos zu sprechen, der bis heute unser Denken von Landschaften bestimmt und der in mannigfaltigen Abweichungen vielleicht in allen Kulturen der Erde vorkommt: in der Gestalt Gaias, der ›Mutter Erde‹. Dieser Mythos läßt die Plätze und Orte aller Landstriche heimatlich bewohnbar erscheinen, überall bewohnt, wenn nicht von Menschen, Tieren und Pflanzen, so doch stets von Göttern oder Dämonen. Es scheint keine schlechthin unbewohnbaren Länder geben zu können. Was aber läßt auf der Folie dieser Mutter-Erde Länder als VaterLänder erscheinen, was einzelne Landstriche männlicher oder weiblicher? Wieso strahlen solche Geschlechtsunterschiede noch in dem, 95 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Der verhüllte Eros heimischer Landschaft
was man ›erhabene‹ und ›schöne‹ Landschaften nennt? Werden heimisch gemachte Landstriche nicht zu unheimlichen Landschaften?
5.1. Zerstückelung als Geburt der ›Landschaft‹ 5.1.1. Die Metaphern Giambattista Vico hatte erstmals umfangreich darauf aufmerksam gemacht, daß man viele Gestalten der ›Landschaften‹ metaphorisch nach Gliedern und Funktionen des menschlichen Leibes benannt hatte. 1744 hatte er in seinem Werk Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker den Versuch unternommen, die Vorstellungen, in welchen ›Lebloses‹ als etwas Lebendiges oder als Teil desselben präsentiert wird, aus der rhetorischen Funktion von Metaphern und Metonymien zu erklären. Dabei stieß er auch auf die verbreiteten Bezeichnungen landschaftlicher Gestalten durch solche des menschlichen Leibes: ›Dies ist sehr bemerkenswert: daß in allen Sprachen die Mehrzahl der Ausdrücke für leblose Dinge übertragen sind vom menschlichen Körper und seinen Teilen, von den menschlichen Sinnen und den menschlichen Leidenschaften; z. B. Haupt für Gipfel oder Anfang, Mund für jede Öffnung, Zähne bei einem Pflug, einem Rechen, einer Säge, einem Kamm; Zunge des Meeres; Arm des Flusses; Busen vom Meer; Herz für die Mitte, was die Römer umbilicus, Nabel, nannten; Fuß für Ende; Sohle für Unterlage; Ader von Wasser, Steinen und Bergwerken; Eingeweide der Erde; es lachen der Himmel und das Meer, der Wind pfeift, die Welle murmelt; es seufzt ein Körper unter einer großen Last.‹ 1 Ganz in der Tradition aufklärerischer Absicht sieht Vico darin den noch unwissenden Menschen, der das Weltall nach sich selber beurteile, eine Meinung, die er mit der Auffassung der spätantiken Rhetorik Quintilians zu stützen sucht, Metaphern und Metonymien seien nur ›indirekte und uneigentliche Redewendungen‹, mit denen Menschen nur ihre eigenen Belange verhüllend auf objektive Sachen projizierten. Betrachten wir zunächst nur die anatomischen Metaphern, zeigt sich hier allerdings, daß man die Glieder nicht in einem sie regierenden Giambattista Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker (1744), Übers. E. Auerbach, Berlin 1966, S. 79.
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Zerstückelung als Geburt der ›Landschaft‹
›Leib‹, nicht in einer Art landschaftlichem ›Organismus‹ zusammengesetzt gedacht hatte. Gerade vom Ganzen eines lebenden Organismus scheinen sie abgespalten, um eigenständige Erscheinungen als Stücke zu bilden. Sie scheinen das Ergebnis einer Zerstückelung, durch die hindurch sie allein einen Verweis auf das fehlende organische Ganze bewahren, Stücke, die ihrerseits auf Grund eines phantastischen ungeheuren Körpers zusammenzukommen scheinen, ohne doch wiederum einen einheitlichen Organismus zu ergeben. – Vico übersah allerdings, daß auch viele der Bezeichnungen umgekehrt von äußeren Dinge her auf den Leib übertragen wurden, um Glieder und Organe zu bezeichnen, wie etwa ›Schulterblatt‹, ›Bauchhöhle‹, ›Lungenflügel‹, ›Venushügel‹ etc. Und andere Worte bezeichneten von vornherein sowohl organische Glieder wie äußere Dinge. So bedeutete das Wort ›Haupt‹ zugleich ›Schale, Gefäß‹, ›Arm‹ das ›Fügbare‹, ›Rücken‹ die ›Krümmung‹, ›Busen‹ die ›Schwellung‹. Und das liegt ja im Wesen der Metaphern: Würden die Bedeutungen nicht zugleich ihrerseits von demjenigen in ihrer Ausgangsbedeutung abgewandelt, auf das sie übertragen werden, könnten sie gar keine Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten kenntlich machen. Metaphorische ›Ähnlichkeit‹ kann aber nicht, wie die Rhetorik seit Quintilian wähnt, quantifiziert werden zu einer ›partiellen Gleichheit‹, noch ›Unähnlichkeit‹ und Berührung zu einer ›partiellen‹ Verschiedenheit, ohne daß die durch sie aufgedeckten ›Verwandtschaften‹ unter bloß logischen Formen verschüttet würden, wie sich das recht gut an Roman Jakobsons logischen Überlegungen zum Poetischen beobachten läßt und was schließlich Donald Davidson dazu führte, die von ihnen gemeinten Phänomene überhaupt zu leugnen. Metaphern und Metonymien sind vielmehr Weisen, wie die Bedeutung des einen sich in der Bedeutung des anderen dieser zu-wendet, um in solchen ansteckenden Zuwendungen nicht-familiäre Verwandtschaften zu entbergen, in deren gastlichen Begegnungen sie, je durch das Andere abgewandelt, sich selber abwandeln. Die Überführung einer Metapher in Gleichung macht sie banal, die Überführung ihrer Unähnlichkeit in bloße Verschiedenheit macht sie schlechthin unverständlich, wie Aristoteles bemerkt hat. Sie sind jedoch keine ›uneigentlichen‹ Redeweisen, sondern haben eine ganz andere Aufgabe als die formal-logischen Bestimmungen, durch deren ›Geltungsansprüche‹ gar nichts phänomenal erfaßt wird, weil sie nur technisch-praktisch ein bestimmtes Verhalten fordern, um gedankenlos ungestörte Verständigungen untereinander zu garantieren. Metaphern und Metonymien aber dek97 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Der verhüllte Eros heimischer Landschaft
ken auf, was im Spiel des Ähnlichen und Unähnlichen sich einander zuwendet und darin unfamiliäre Verwandtschaften aufdeckt, die niemals gattungslogisch oder genealogisch zu finden sind, weil sie auf ihre vorgegebenen phänomenalen Gehalte und deren Abwandlungen bezogen bleiben. Was aber haben die uns vertrauten leiblichen Glieder mit den Elementen von ›Landschaften‹ zu tun, die keine Organe eines Lebewesens sind? Welche ›heimatliche Nähe‹ suggerieren sie? In Hinsicht auf die anatomischen Metaphern läßt sich leicht sehen, daß es zwar einen Rückverweis der Glieder und Organe, sofern sie als abgetrennte selbständige Stücke gelten, auf einen angenommenen, ursprünglich ›ganzen‹ organischen Leib gibt. Doch als die einzelnen Gestalten der ›Landschaften‹ vorgestellt, sind sie nicht deren Organe, als wären sie aus ihnen zusammengesetzte neue Lebewesen. Zudem verweisen der ›Fuß‹ und ›Rücken‹ des Berges, der ›Fuß‹ oder das ›Haupt‹ des Baumes, der ›Arm‹ oder die ›Mündung‹ des Flusses ebenso auf ein Fehlen anderer ›Körperteile‹. Zumindest in der metaphorischen deutschen Alltagssprache spricht man nicht von Felsvorsprüngen als ›Händen‹ der Berge oder von den ›Schläfen‹ der Bäume, von den ›Beinen‹ einer Sanddüne, den ›Ohren‹ eines Tales, den ›Augen‹ eines Sumpfes, mögen sie auch in großer Dichtung zu gelungen Bildern führen. Doch es existiert kein ›organisch gegliedertes Ganzes‹ eines landschaftlichen Körpers. Einzelne Elemente oder Ensembles, etwa Büsche, Felsen oder ganze Bergmassive können gleichnishaft wie eine Nase, eine Stirn, gar wie ein Gesicht oder eine leibhaftige Gestalt aussehen, und manche Geschichten mythischer Metamorphosen mögen von solchen Ähnlichkeiten ausgegangen sein. Doch solche Ähnlichkeiten umfassen keine ganzen Lebewesen, die vermittels ihrer Organe sich mit Dingen ihrer Umwelten beschäftigen, indem sie sich zugleich auf sich selbst beziehen. Gewiß, manche Gestalten unserer Landstriche bestehen aus lebenden Organismen, doch das Ganze ist kein Organismus, was bereits dem mythischen Denken klar war, für welches Landschaften aber ebenso wenig nur aus Teilen eines anorganischen, leblosen Stoffes bestanden. Die gängigen Vorstellungen des Lebendigen und Leblosen und ihres Gegensatzes reichen nicht aus, um Landschaften zu verstehen. Und die Metaphern zerstückelter leiblicher Organe bringen uns bestimmte landschaftliche Gestalten nur in dem Maße ›näher‹, wie sich jene zugleich von den Leibern entfernen. – Letztlich übersieht Vico zudem, daß auch umgekehrt bestimmte Landschaftsgestalten metaphorisch in den Gesichtern und in den Formen menschlicher Leiber 98 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Zerstückelung als Geburt der ›Landschaft‹
auftauchen. Gibt es doch ›felsige‹, ›eisige‹ oder ›rosige‹ Gesichter, wie es Hügel oder Sanddünen gibt, die sich dem Rumpf eines weiblichen Leibes zuzuwenden vermögen.
5.1.2. Die Mythen Manchen Kosmogonien zufolge geht das mythische Land mit seinen landschaftlichen Besonderheiten hervor aus der Zerstückelung eines einzigen, schrecklichen, übermächtigen Ungeheuers. Im babylonischen Schöpfungsmythos Enuma Elisch heißt es: Als Marduk, der weiseste der Götter, das Ungeheuer Tiâmat besiegt hatte, schnitt er es entzwei. Ein Teil wurde zum Himmelsgewölbe samt Sternbildern, Winden und Regen, nämlich den ›Strömen ihres Speichels‹. Und über ihren Kopf häufte er Gebirge zusammen, auf ihrer Brust die fruchtbaren Hügel und ›aus der Schlinge ihres Schwanzes schuf er das Band des Himmels und der Erde‹. 2 Solchem Denken gelten die zertrennten Stücke des ungeheuren Körpers nicht einfach als tot, auch wenn sie nicht wieder als Organe mit einem ganzen Lebewesen verschmolzen. Das vormals maßlose und unermeßliche Ganze, das Un-Geheure, das schlechthin Unaufhaltsame, Unbewohnbare und Unbehagliche, es wurde zwar durch die Zerstückelung seiner Übermacht und maßlosen Gewalt beraubt; doch in diesen Stücken bewahrt sich, wie auch eingeschränkt, das Ungeheuerliche auch inmitten der teilweise geheuer, bewohnbar und heimatlich gewordenen Landstriche. Die Gestalten der Landschaften zeigen diese als heimisch un-heimliche und sie zeigen es im fruchtbar Wachsenden ebenso wie in Einöden und Wüsten jenseits allen Lebens. Wie Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen erwähnt, wurde auch in der nordischen Mythologie das Land, und die ›Welt‹ überhaupt, aus dem Leib des Riesen Ymir geformt: ›Aus Ymirs Fleisch wird die Erde geschaffen, aus dem Blut das brausende Meer, die Berge aus seinem Gebein, die Bäume aus den Haaren, aus dem Schädel das Himmelsdach.‹ 3 Auch hier gehen die Landschaftselemente aus der Zerstückelung der Macht des Ungeheuerlichen erst herEnuma Elisch, in: Die Schöpfungsmythen, Hg. M. Eliade, Zürich 1991, S. 141–144. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 1973, S. 70–71.
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vor, nicht einfach aus dessen ›Besiegung‹ und Verkehrung ins gezähmt Geheure und Bewohnbare. In den Nischen zwischen den Bruchstücken des Ungeheuerlichen vermag Geheures seinen Platz finden und sich der Bewohnbarkeit mancher Orte anzubieten. So erst scheinen einige Landschaftsgestalten verselbständigten leiblichen Organen ähnlich, als seien sie eigenständige ›Organe‹ eines inexistenten Organismus, gleichsam ›Werkzeuge‹ eines nur möglichen Lebens. Die so entstandene mythische Landschaft grenzt sich zwar ab gegen ein fremdes, unbekanntes Jenseits, gegen die Unterwelten der Schatten und Toten, gegen die Überwelten der unsterblichen Lichtgestalten, und sie befindet sich in manchem metaphorischen Austausch mit diesen. Doch ist sie kein für sich seiendes, übermächtiges Lebewesen, das sich selbst in einem Austausch mit Dingen seiner Umwelt erhielte oder fortbilde, wie auch immer ihr Lebewesen als Gestalten angehören mögen. In diesem Sinne sind solche Mythen noch heute geistreicher als der gedankenlose Versuch, Landschaften wie etwas Lebendiges als ›ökologische Systeme‹ definieren zu wollen. Was auch immer für Plätze, Wege und Felder ein bestimmter Landstrich sichtbaren oder unsichtbaren Dingen, sterblichen oder ›unsterblichen‹ Lebewesen anbietet oder vorenthält: Er selbst ist als ›ganzer‹ nur das ›unwirkliche‹, phantastische Medium, das sich teils den Lebewesen versagt, teils ihnen angemessene Lebensbedingungen zu gewähren scheint, aber auch jederzeit wieder nehmen kann. In diesem mythischen Denken haben ›Landschaften‹ gleichsam etwas ›Untotes‹ an sich, ohne deshalb einheitliche Lebewesen zu sein.
5.2. Das ›Geschlecht‹ heimischer Landschaften Durch die bruchstückhaften Organe eines zerschlagenen, ungeheuerlichen, phantastischen Leibes sprechen die einzelnen, teils geheuren, teils ungeheuren Gestalten der Landschaften, und umgekehrt durch diese die Gestalten leibhaftiger Glieder der Lebewesen; aber das macht sie einander nicht gleich oder zu Abbildern, bringt sie vielmehr nur über das Spiel der Wendungen des Ähnlichen und Unähnlichen einander näher, stiftet jene unfamiliäre Verwandtschaft zwischen ihnen, durch welche Lebewesen und zumal Menschen in der Sphäre des ländlich Geheuren und landschaftlich Nicht-Geheuren und an den Grenzen zu einem ›vor-landschaftlichen‹, maßlos Ungeheuren zu wohnen vermögen. Darüber hinaus scheinen bestimmte Landstriche dadurch den 100 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Das ›Geschlecht‹ heimischer Landschaften
Menschen näher zu kommen, daß diese glauben, in ihnen ›weibliche‹ oder ›männliche‹ Züge entdecken zu können, die sie dann als ›schön‹ oder ›erhaben‹ beurteilen. – Was aber könnte damit gesagt sein?
5.2.1. Organe Zunächst sei daran erinnert, daß viele Mythen und Sagen auch Metaphern der weiblichen und männlichen Geschlechtsorgane gebrauchten, um einzelne landschaftliche Gestalten wie Grotten und Erdspalten oder Felsen und Baumstämme, bewaldete Hügel oder Gebirgsmassive, Seen oder rinnende Bäche zu beschreiben. Auch dann handelt es sich um ›abgetrennte‹ Stücke, wenn sie auf die Bezogenheit zweier Geschlechter und damit, über das einzelne leibhaftige Individuum hinaus, auf das Gattungshafte einer zweigeschlechtlichen Art verweisen. Es wurde ja nicht behauptet, daß sich ›geschlechtlich‹ unterschiedene, ›weibliche‹ und ›männliche‹ Landschaften paarten und fortpflanzten. Wo es dagegen darum ging zu verhüllen, daß es um eine mit den Geschlechtsorganen assoziierte Lust selbst geht, konnte man umgekehrt Namen und Bilder bestimmter Landschaftsgestalten an ihre Stelle setzen. Man träumt etwa von diesen, um zu verdecken, daß man vom Lust verheißenden Geschlecht des Anderen spricht, träumt von Gängen durch eine ›Landschaft‹, um nicht vom Geschlechtsakt zu sprechen. Aber auch hier ist nie vom ›Ganzen‹ zweier sich paarender Landschaftstypen die Rede. Es ist gerade das abgetrennt Stückhafte, das eine Kopulation ausschließt, und wir können fragen, ob nicht die Lust selbst an die Stelle des fehlenden Ganzen der sich paarenden Lebewesen getreten ist, so daß die in den Landschaftsgestalten verhüllten Geschlechtsorgane ihrerseits nur metonymische Manifestationen eines Eros sind, die sich eben – als Stücke für sich – gänzlich von Paarung, Befruchtung und Nachkommenschaft abgekoppelt haben. Dient nicht das Bild der Geschlechtsorgane dazu, der seltsamen Gestaltlosigkeit der Lust eine Kontur zu leihen? Ist diese, wie die Psychoanalyse meint, der Grund einer ›Sublimation‹, wie sie etwa im Erfreulichen einer Landschaft zu erscheinen vermag? Sigmund Freud schrieb in seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse: ›Wenn Sie sich vielleicht darüber verwundert haben, wie häufig Landschaften im Traum zur Darstellung des weiblichen Ge101 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Der verhüllte Eros heimischer Landschaft
nitale verwendet werden, so lassen Sie sich von den Mythologen belehren, welche Rolle Mutter Erde in den Vorstellungen und Kulten der alten Zeit gespielt hat, und wie die Auffassung des Ackerbaus von dieser Symbolik bestimmt wurde.‹ 4 Die Zuordnung bestimmter Landschaftsgestalten zum weiblichen oder männlichen Geschlecht schwanke allerdings. Der Berg, der Fels, der Baum könnten, so Freud, ebenso als Traumsymbole des männlichen Genitals gelten wie als solche des weiblichen. Freud bemerkt in Die Traumdeutung: ›Die komplizierte Topographie der weiblichen Geschlechtsteile macht es begreiflich, daß diese sehr häufig als Landschaften mit Fels, Wald und Wasser dargestellt werden.‹ 5 Und verbunden mit einem Gefühl des Déjà-vu würden diese zurückverweisen auf den Mutterleib und den Geburtsakt. 6 Den Ausgangspunkt von Übertragungen, in welchen Landschaftselemente als verhüllende Metaphern für weibliche Geschlechtsorgane gelten, sieht Freud in den Urerfahrungen des Kindes mit dem Mutterleib: Dem Ungeborenen tritt der Mutterleib überhaupt nicht als ein selbständiger, individueller Körper gegenüber und dem Säugling besteht er zunächst aus einer Reihe von Funktionen, an die er an- und abgekoppelt wird und die sich ihm entziehen oder ihm zuwenden können. In diesem Sinne mag der Mutterleib sich vielleicht dazu anbieten, später verhüllend die als ganze unfaßlich bleibende Erde mit ihren ›ernährenden‹ und ›heimatlich wohnlichen‹ Landschaftszügen darzustellen, die sich hingebungsvoll darbieten, aber auch bedrohlich und grausam entziehen können. Demnach nähme die Erde jedoch im geschlechtlichen Sinne ›weibliche‹ Züge erst an, wenn sie gegen etwas ›väterlich Männliches‹ unterschieden wird. Erst in der später auf das Genital konzentrierten männlichen libido, bei gleichzeitigem Inzestverbot bezüglich der eigenen Mutter, könnte ja, wie Freud bemerkt, der Gang durch eine Landschaft verhüllt einen Geschlechtsakt symbolisieren, etwa in der Form eines ›von Gras und Gestrüpp gesäumten Weges von einer Kirche hinauf zu einem bewaldeten Berg‹. 7 – Heißt das nun nicht, daß es eigentlich gar keine ›männlichen‹ Landschaften geben kann, wie ›männlich‹ auch immer einige ihrer Gestalten scheinen mögen? Wie
Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: Gesammelte Werke Bd. XI, Hg. A. Freud, Frankfurt a. M. 1969, S. 165. 5 Sigmund Freud, Die Traumdeutung, in: Gesammelte Werke Bd. II-III, a. a. O., S. 404. 6 S. Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, a. a. O., S. 158. 7 S. Freud, Die Traumdeutung, a. a. O., S. 379 f. 4
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Das ›Geschlecht‹ heimischer Landschaften
steht es mit jenen Landstrichen, die gänzlich ›unfruchtbar‹ sich jeder Bewohnbarkeit entziehen? Sie könnten doch wohl kaum negativ das ›väterliche Gesetz‹ repräsentieren?
5.2.2. Mutter Erde und Vater Himmel Mögen entgegengesetzte landschaftliche Gestalten auch verhüllt die Bedeutung sich ergänzender Geschlechtsorgane annehmen: Ganze Landschaften werden dadurch nicht zu Metaphern des Weiblichen und Männlichen. Dennoch will man in unterscheidbaren Landschaftstypen männliche und weibliche Züge sehen, wie auch ästhetisch überhöht. In den neuzeitlichen Schriften der Rhetorik und später in denen der Ästhetik begegnen wir entsprechend zwei Grundbegriffen: Schönheit und Erhabenheit, wobei allerdings die hellenistische Spätantike im Anschluß an Platon im Erhabenen nur eine gesteigerte Weise des Schönen gesehen hatte, durch welche das Gefüge des Strittigen in der Einheit, nämlich Harmonia, stärker hervortreten sollte. Seit der Aufklärung spricht man aber von einem wesentlichen Unterschied zwischen schönen und erhabenen Landschaften. Zur gleichen Zeit, da Vico auf die Metaphern zerstückelter leiblicher Organe für einzelne Landschaftselemente gestoßen war, hatte Immanuel Kant1764, an die von Edmund Burke 1757 erschienenen Schrift Vom Erhabenen und Schönen 8 anschließend, seine Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen veröffentlicht. 9 In dieser Schrift, auf die ich gleich zurückkommen werde, wird Weiblichkeit in die Nähe der Schönheit, Männlichkeit in die der Erhabenheit gerückt. Darin liegt eine Spur, die nicht nur vorausweist auf die libido geschlechtlich unterschiedener Individuen, auf den Eros, wie ihn die Freudsche Psychoanalyse verstand, sondern zunächst vor allem zurückweist auf mythische Paarungen und die aus ihnen sich ergebenden Geburten – Paarungen, die gewöhnlich zu einer Befruchtung führen und die damit, über das Individuum hinaus, auf die Erhaltung der Gattung zielen. Im Mythos gelten unterschiedene Landschaftstypen nicht direkt als weibliche und männliche. Edmund Burke, Vom Erhabenen und Schönen (1757), Übers. F. Bassenge, Hamburg 1980. 9 Immanuel Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, in: Werke Bd. II, Hg. W. Weischedel, Wiesbaden 1960. 8
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Der verhüllte Eros heimischer Landschaft
Ihrem Geschlechtsunterschied geht der einer uranfänglichen ›Mutter Erde‹ voraus, die von einem ›Himmelsvater‹ geschwängert wird. Und entsprechend zeigen sich deren ins Ungeheure gesteigerten Geschlechtsorgane, nämlich der dunkle ›Schoß‹ der Erde, der durchaus auch unfruchtbar sein kann, und der strahlenartige und überschäumende ›Phallus‹ des Himmels. Doch im Unterschied zur Zerstückelung eines einzelnen Ungeheuers, aus welchem die leibhaftig scheinenden, aber geschlechtsneutralen Elemente der Landschaften entspringen, hat sich die Szene grundlegend verändert: Es ist die eine Mutter Erde, die sich an ihrer, dem Himmel zugewandten Oberfläche in besonderen Ländern zeigt, die durch das Gesetz des Vaters zu beherrschten ›Vaterländern‹ werden und doch über den dunklen Boden, der sie trägt, weiterhin der Erde als ›Mutterländer‹ angehören. Doch nicht diese Länder selbst, sondern ihre pflanzlichen und tierischen Bewohner pflanzen sich als weibliche und männliche fort, sofern die Erde sie nährt und der Himmel sie befeuchtet, erwärmt und bescheint, oder sie bleiben unfruchtbar, wenn die Erde nichts hergibt und der Himmel sie durch sein heißes Licht austrocknet, im Regen ertränkt oder im Frost erfriert. – Die göttlichen Kinder dieser Paarung sind also nicht unmittelbar die Länder selbst und deren Landschaften; diese sind über ihre ›Eltern‹, Erde und Himmel, nährende Bedingungen möglicher Fruchtbarkeit oder Unfruchtbarkeit. Sie bleiben dem dunklen Grund der Erde verbunden und kommen doch zur Erscheinung durch das Licht des Himmelsvaters. Doch Länder und ihre Landstriche selbst paaren sich nicht, obwohl sie nicht einfach ›geschlechtsneutral‹ genannt werden, denn durch Erde und Himmel scheint Weibliches und Männliches durch sie hindurch. Erst ihre zunächst unsterblichen, göttlichen und dann auch sterblichen Bewohner sind wieder eindeutig weiblich und männlich und vermögen sich fortzupflanzen. An diesen Landschaften scheint demnach etwas unklar ›Weibliches‹ oder ›Männliches‹ als ihr mythisches Erbe auf, ohne allerdings, wie manche ihrer Bewohner, Geschlechtsorgane vorzuweisen. Es sind diese unsterblichen, aber geschlechtlich aufgespalteten Bewohner, welche das mehr und mehr geschlechtslos werdende Wesen des Weiblichen und Männlichen an den Gestalten der Landschaften zur Erscheinung zu bringen vermögen, die großen Naturgötter und Naturgöttinnen, aber auch, wie ich gleich zeigen werde, die Nymphen und jugendlichen Satyrn, in denen der noch verhüllte Augenblick zwischen Mädchen und Frau, zwischen Knabe und Mann aufblitzt. 104 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Das ›Geschlecht‹ heimischer Landschaften
Den Schlüsselmythos über die veränderte Situation, die bis heute zumal die europäischen Vorstellungen über Landschaft bestimmt, scheint Hesiod in seiner Theogonia gegeben zu haben. Dieser zufolge liegt im ersten Anfang eine schlechthin dreifaltige Urdifferenz von Chaos, der gähnenden Leere, Gaia, der ›breitbrüstigen Erde als niemals wankender Sitz aller Unsterblichen in ihren Höhen oder Tiefen‹, und Eros, das Liebesbegehren, das den Sinn und das Denken zu überwältigen verstehe. 10 Aus Chaos allein gehen hervor Erebos, der finstere Grund, und Styx, die dunkle Nacht, und aus der rätselhaften Begegnung einer unbegrenzten Finsternis mit einer begrenzten Dunkelheit entstammen Aither, die Dämmerung, und Hemere, der Tag. Gaia umfaßte anfangs auch den Himmel und die Unterwelt als Sitz der Unsterblichen, ehe sie sich in Differenz zu sich als Himmel (und als Unterwelt, Tartaros) setzte und so den sternreichen Uranos hervor brachte, ›damit er sie ganz bedecke und den seligen Göttern ein niemals wankender Sitz sei‹. 11 Und sie gebar ebenso rein aus sich heraus und ohne Paarung die hohen Berge, ›liebliche Göttersitze der Nymphen‹, und – ›ohne verlangende Liebe‹ – das unwirtliche Meer. Dieser Umarmung und Paarung von Himmel und Erde entstammen zumal die Titanen und Kyklopen. Doch nun führt Hesiod ein Ereignis ein, über deren gewaltige Folgen wir uns vielleicht bis heute noch nicht wirklich klar geworden sind: ›Alle nämlich, die von Erde und Himmel stammten, waren schrecklich gewaltige Kinder und dem Vater von Anfang ein Greuel; kaum war eines geboren, verbarg sie Uranos alle im Schoß der Erde, ließ sie nicht ans Licht und freute sich noch seiner Untat. Die riesige Erde aber wurde im Innern bedrängt, stöhnte und ersann einen bösen, listigen Anschlag.‹ 12 Gaia formte aus Stahl eine ›scharfgezahnte Sichel‹ und bewegte ihren ›Krummes sinnenden‹ Sohn Kronos, dem Vater, während er des Nachts die Erde voller Liebesverlangen umfing, das Geschlechtsorgan abzuschneiden. Aus den Blutstropfen, die auf die Erde fielen, entstanden die Erinnyen, die Giganten und die Nymphen. Aus dem ins Meer geworfenen Geschlechtsteil stieg die hehre, herrliche und geschlechtsliebende Göttin Aphrodite hervor, welcher Eros forthin das Geleit gab. – Es scheint sich demnach die Geburt der libido aus der Hesiod, Theogonia, V. 116 ff., griechisch/deutsch, Übers. O. Schönberger, Stuttgart 1999, S. 13. 11 Ebd. 12 Ebd., V. 154 f., S. 15. 10
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Der verhüllte Eros heimischer Landschaft
Kastration heraus zu ereignen, also in der Unabhängigkeit einer auf Fortpflanzung zielenden geschlechtlichen Paarung, die ja sogar, wie Hesiod bereits bezüglich des unwirtlichen Meeres bemerkte, gänzlich ›ohne Liebesverlangen‹ geschehen kann. Was es jedoch vor allem zu bedenken gilt, ist diese Kastration des Himmels, der demnach hinfort niemals mehr die Erde wird befruchten können. Wohl bedeckt er nach wie vor die ganze ›unendliche Erde‹, die zugleich in ihm selbst als ›Sitz der Unsterblichen‹ weiterbesteht. Was aber besagt diese endgültige ›Lustlosigkeit‹ und Unfruchtbarkeit des bestirnten Himmels? Es sind die Titanen und dann die olympischen Götter, die fortan, dem Verlangen nach Lust folgend, das Geschäft der Befruchtung übernehmen. Was aber bleibt als ›lustloser‹, unfruchtbarer Uranos zurück? Ich denke, daß Hesiod auf eine grundlegende Differenz zwischen einer Welt der Gestirne, die ewig um sich selbst kreisen, und jenen Gottheiten aufmerksam machte, die, wie Helios, den Lebenden Licht und Wärme und, wie Zeus, den Ländern den befruchtenden Regen bringen. Der Sternenhimmel gibt, wie dann Platon den Timaios sagen läßt, nur ein Bild der Unsterblichen, in deren ewiger Kreisbewegung Anfang und Ende vollkommen in Eins fallen, es also keinen absoluten Anfang, kein absolutes Ende gibt. Schildert uns also Hesiod, im Gewand des Mythos, nicht die Geburt der Himmelsmechanik aus einer Kastration und in weiterem Sinne den mathematisch materialistischen Wissenschaftstypus aus der Abtrennung aller lebendigen Regungen aus den Weisen des Denkens? Und doch blieb auch die Astronomie noch der Erinnerung an die Geschlechtlichkeit verhaftet: Keiner der großen Denker des Kosmos und der Natur – von Demokrit, Platon und Aristoteles an, von Lukrez bis zu Galilei, Newton und den Vertretern der gegenwärtigen Physik – konnte sich, im Reden von einer nur ›mechanischen Attraktion und Repulsion‹, gänzlich von den kastrierten, lustlos gewordenen Gespenstern des geschlechtlichen Eros befreien.
5.2.3. Nymphen und Satyrn Spricht man vom ›Eros‹ landschaftlicher Gestalten mit ihren weiblichen und männlichen Zügen, dann denke man nicht vorschnell nur an die verführerischen ›Aufbrüche nach Cythera‹, an paradiesische, elysi106 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Das ›Geschlecht‹ heimischer Landschaften
sche, arkadische, exotische Liebesgestalten in bestimmten Landschaften, deren erotische Ausstrahlung gleichsam stimmungsvoll auf die Landschaft selbst übertragen wird. Es scheint vielmehr, als ob Landschaften selber einen geschlechtlich verhüllten Eros ausstrahlen, der sich von der organischen Geschlechtlichkeit und somit endgültig von der Paarung und Fortpflanzung abkoppelte, ohne weibliche und männliche Wesenszüge gänzlich zu verlieren. Wie sollte das denkbar werden können? Das Weibliche und Männliche als Wesenszüge von Landschaften fand in der europäischen Geschichte eine bestimmte Ausprägung durch das mythische Verständnis von Gaia als ›Sitz‹ der Unsterblichen und Sterblichen, also der Bewohnbarkeit mancher Länder und ihrer Landstriche. Durch die schlechthin unbewohnbaren Landstriche mochten am Rande Nomaden und Hirten, Krieger und Handelsleute, verfolgte Verbrecher und Flüchtlinge ziehen, und manche dieser Orte wurden vorübergehend von Trauernden, Gläubigen oder Denkern aufgesucht. Doch die für Menschen unbewohnbaren Landstriche konnten noch von ärmlichen Pflanzen und genügsamen Tieren bewohnt sein. Wo aber sogar für diese solche Landstriche unbewohnbar waren, hausten immer noch Geister und Dämonen: ›Tiefe Einsamkeit ist erhaben, aber auf schreckhafte Art. Daher große, weitgestreckte Einöden, wie die ungeheure Wüste Schamo in der Tartarei, jederzeit Anlaß gegeben haben, fürchterliche Schatten, Kobolde und Gespensterlarven dahin zu versetzen.‹ 13 – Landstriche schlechthin, jenseits aller Bewohnbarkeit, schienen Menschen sich kaum vorstellen zu können, und entsprechend wurden diese, nachdem die Götter und Dämonen aus ihnen verschwunden waren, nur noch als Orte gebraucht, wo man die Explosionen nuklearer Waffen testete oder nach Öl und Mineralien bohrte. Die Mythenforschung spricht bis heute gerne von den großen Naturgöttern und Naturgöttinnen, welche, im Unterschied zu Himmelsgottheiten, nicht nur in bestimmten Landschaften hausen und sie durchstreifen, sondern über bestimmte landschaftliche Gestalten Teil an ihnen haben. Sie scheinen nicht einfach nur auf Bergen und Felsen, in Wäldern und Hainen, auf mächtigen Bäumen und Fluren, an Quellen, Flüssen und Küsten und sogar in Feuern zu wohnen, sondern etwas vom Wesen dieser Elemente selbst auszudrücken, wobei sie gewöhnlich 13
I. Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, a. a. O., S. 827.
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Der verhüllte Eros heimischer Landschaft
zwar an bestimmte Orten und Umkreise gebunden sind, aber auch aus anderen Ländern zuwanderten. Manches davon blieb noch bei den Titanen, den Giganten und Kyklopen erhalten. In ihren Seinsweisen schien dennoch eine klare Ordnung zu fehlen. Und neben ihnen wimmelte es von Berg-, Erd-, Wald- und Flurgeistern, von Elfenköniginnen und Erlkönigen, Nixen und Wassermännern. In Griechenland schien man sie nach dem Sieg der olympischen Götter über die Titanen in den zunächst nur lokalen arkadischen Hirtengott Pan zusammengefaßt zu haben, der dann seinerseits zum Gefolgsgott des Dionysos wurde. Von großen, ortsgebundenen Naturgöttinnen war dagegen seltener die Rede. Die abseits wohnenden Kirke oder Kalypso mochten an sie noch erinnern und Spuren von ihnen mögen sich in Demeter und Persephone, Aphrodite und Artemis erhalten haben. Um so mehr aber sprach man von den Nymphen, von den jungfräulichen Geistern, die eindeutig weder sterblich noch unsterblich zu sein schienen. Es ist demnach so, als stünden den alten Berg-, Fluß-, Flur- und Waldgottheiten nur die mädchenhaften Halbgottheiten der Quellen, Seen und Bäume, der sanfteren Hügel, Täler und Wiesen gegenüber. Allgemein stellte man die ›nymphai‹ wie Mädchen in heiratsfähigem Alter vor, und sofern sie als Bräute angesehen wurden, ist für sie die Verschleierung und Verhüllung kennzeichnend. 14 Diese niederen, oft sterblichen Gottheiten, die später meist zum Gefolge von Göttinnen wie der Artemis gehörten, waren nicht etwa bloße Bewohnerinnen eines Landes und seiner besonderen Orte; in ihnen wurden für weiblich gehaltene Züge bestimmter Landschaften beschrieben. Aber mußte es da zwischen den Nymphen und ihrer verhüllten Anmut einerseits und den großen männlichen wie weiblichen Gottheiten in ihrer erhabenen Zerstörungs- und Schöpferkraft andererseits nicht noch Wesenheiten der Landschaft geben, die gleichsam ›jünglingshaft‹ auf einer Ebene mit den Nymphen gestanden hatten? Sind vielleicht Spuren eines ganz anderen landschaftlichen Eros noch in den Satyrn und Silenen mit ihren Pferdeattributen zu finden, ehe sie dann ins Gefolge des Dionysos und der Mänaden einzogen, um teilweise zu vergreisen, um später auch verächtlich und lächerlich dargestellt zu werden, bis sie im Christentum nur noch als Gestalten des Teufels oder als dessen lächerliche Begleiter auftraten? Die Satyrn als Wesenheiten 14
Walter F. Otto, Die Musen, Düsseldorf-Köln 1955.
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Das ›Geschlecht‹ heimischer Landschaften
einer Landschaft: nicht sofern sie große, auch unberechenbare Macht sowohl der Zerstörung wie der Erzeugung zeigen, aber auch noch nicht als die kleine häßliche oder gewalttätig-lüsterne Natur, die den Nymphen nachstellt. – Im Hellenismus brachte man sie dann auch mit Pan und mit dem Kulturkreis der Hirten in Verbindung, so als gerieten ihre verdrängten nomadisch schweifenden Züge in eine gemäßigte Tendenz zur Zähmung und Züchtung, von der aus dann allererst abwehrend die ›Wildheit‹ definiert wurde. Um was für Naturwesen könnte es sich gehandelt haben? Die Charakterisierung von Nymphen und Satyrn, wie wir sie üblicherweise kennen, scheint weniger an den Arbeiten der großen Bildhauer orientiert, die vielmehr durchaus schöne junge Männer als Satyrn dargestellt haben; vielmehr scheint sie der Effekt einer literarischen Gattung zu sein: nämlich einerseits des (längst städtisch gewordenen) Satyrspiels im Gefolge der Tragödien, worin manche Satyrn auch als dickbäuchig, glatzköpfig, greisenhaft, trunken, lüstern, kurz: unförmig dargestellt wurden, so daß von dem einst mitreißenden Charakter ihrer dithyrambischen Spiele nicht mehr viel durchscheinen konnte, andererseits der epischen und lyrischen Poesie, worin nicht nur visuelle und bewegt tänzerische Phänomene der Landschaften in den Nymphen zum Ausdruck kamen, sondern auch das Gemurmel der Quellen und Bäche, das Lispeln der Gräser, Rauschen der Blätter und Singen der Vögel. Die ›Verhüllung‹ benennt hier also zum einen den Schleier der Bräute, durch den hindurch ihr Aussehen ein unentschiedenes Schemen bildet zwischen mädchenhaften und fraulichen Zügen, zum andern die Rätselhaftigkeit jener Töne und Geräusche, in welchen sich Naturwesen zu Wort zu melden scheinen. Diese mehrdeutige, zu Ahnungen verführende ›Schleierhaftigkeit‹ werden wir bis heute in zwei Ausdrücken wiederfinden, ohne welche es kein Reden über Landschaft scheint geben zu können: in dem einer erfühlbaren, allgemeinen Stimmung der Landschaften und in dem eines von den realen Gewalten abhebbaren, reinen Scheinens derselben. Das Satyrische dagegen, in seinen jünglinghaft nomadischen Zügen, scheint derart aus unserem Verständnis von Landschaft verdrängt worden zu sein, daß wohl nur von Ferne noch manchmal das Echo seines Spieles erahnbar ist. Dem Ästhetischen göttlicher Größe und Macht, und zwar männlich-väterlicher wie weiblich-mütterlicher, glaubte man in den Bildern erhabener, teils asketisch-heroischer teils prächtig-üppiger Landschaften begegnen zu können, von denen ins109 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Der verhüllte Eros heimischer Landschaft
gesamt die lieblichen und anmutigen Gefilde der Nymphen unterschieden wurden. Aber wie hätte es zu einer Verdrängung ›satyrhafter‹ Landschaften kommen können? Ich möchte eine Mutmaßung vortragen, die zudem Licht darauf werfen könnte, warum es bisher nicht gelang, einen Begriff von Landschaft zu bilden: Was den Spielen der Nymphen, ihren Reigentänzen und Liedern, soweit sie auf verhüllte und geschlechtlich noch unausgerichtete und uneindeutige Weise ›Liebesspiele‹ anzudeuten vermochten, – was diesen entsprochen haben könnte, mögen jene Spiele der Jünglinge gewesen sein, die in nicht weniger ›verhüllter‹ und uneindeutiger, ungezielter Weise ›Kampfspiele‹ vorzeichneten, ohne doch schon wirklich einen Gegner zu bestimmen. – In dem Augenblick nun, da die Herrschaft der Polis auch eine Hoheit über das Land als Gebiet zu konstituieren begann, mußte alle Gegnerschaft im Innern zugunsten der wehrhaften Gemeinschaft gegenüber allen anderen ausgeschlossen werden. ›Kampfspiele‹ wurden derart Regeln unterworfen, daß man sie als Vorübungen des Kriegsfalles rechtfertigen konnte. Die Konstitution des Landes als Herrschaftsgebiet wurde vom antiken Rom dann, wie bemerkt, in einer Staatsformel ausgedrückt, an deren Gültigkeit man bis heute kaum zweifelt: Territorio est terra plus terror. Bloß der Anschein kriegerischer Kämpfe im Innern des Landes wurde als ›Schwächung des Gemeinwesens‹ mehr gefürchtet und unterdrückt als je die Kriege nach außen. Da ›Landschaften‹ von nun ab vorrangig von der Nähe und Geborgenheit heimischer Ansässigkeit her bestimmt wurden, nämlich als Gebiete, deren Nähe und Geborgenheit immer auch schon in Enge und Bedrückung umschlug, entzogen sich die Landschaften in ihrer Weite und Ferne als Landschaften des Unbekannten und der Fremde jeder politischen Bestimmung, um doch die verdrängten nomadisch-›satyrischen‹ Sehnsüchte im Fernweh wieder auftauchen zu lassen. Unter dieser polarisierenden Bedeutungs-Strukturierung von Ländern durch das Zuhause- oder Unterwegs-Sein, durch die Bleibe, die Anwesenheit und Immanenz einerseits und durch die Überschreitung, die Abwesenheit, die Transzendenz andererseits war die Sphäre des Nomadisch-Satyrhaften schwerer erspürbar geworden als die des Tänzerisch-Nymphenhaften. Wohl aber trugen beide dazu bei, daß man bis heute beim Anblick von Landschaften glaubt, deren ›weibliche‹ und ›männliche‹ Züge unterscheiden zu können.
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Kann es ›männliche‹ und ›weibliche‹ Landschaften geben?
5.3. Kann es ›männliche‹ und ›weibliche‹ Landschaften geben? Obgleich Landschaften, manchen Mythen zufolge, aus der Zerstückelung ungeheurer Leiber oder aus der Befruchtung einer ›mütterlichen Erde‹ durch den ›väterlichen Himmel‹ entstanden waren, teilen sie selbst sich nicht in unterschiedliche Geschlechter, wie sehr sie auch von männlichen und weiblichen Wesenheiten durchdrungen sein mögen. Zwar hat die Aufklärung mit den Göttern auch die weiblichen und männlichen Dämonen aus den Landschaften vertrieben, doch in ihren Bestimmungen ›schöner Landschaft‹ hat sie durchaus noch etwas Weibliches, in denen ›erhabener Landschaft‹ etwas Männliches im Blick bewahrt, um aus diesen deren vertraute ›heimatliche Züge‹ gegen ihre Öffnung zur Weite, Ferne, Fremde hin zu gewinnen. Und die Art der Lust an Landschaften wird aus diesen Affinitäten heraus verständlicher. Ausgehend von einer ›vorkritischen‹ Schrift Kants werde ich fragen, was denn unter solcher ›Weiblichkeit‹ des Schönen und ›Männlichkeit‹ des Erhabenen zu verstehen sein könnte, sofern sie nicht mehr nur mit den Unterschieden weiblicher und männlicher Personen oder deren Genitalien zusammenfallen, sondern sogar diese zu durchqueren beginnen. Kant erläutert in seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen anfangs ein ›Gefühl feinerer Art, das ohne Sättigung und Erschöpfung einen längeren Genuß verspricht‹ 15, am Beispiel von wirklichen und dargestellten Landschaftselementen: ›Der Anblick eines Gebirges, dessen beschneite Gipfel sich über Wolken erheben, die Beschreibung eines rasenden Sturmes, oder die Schilderungen des höllischen Reiches von Milton, erregen Wohlgefallen, aber mit Grausen; dagegen die Aussicht auf blumenreiche Wiesen, Täler mit schlängelnden Bächen, bedeckt von weidenden Herden, die Beschreibung Elysiums, oder Homers Schilderung von dem Gürtel der Venus veranlassen auch eine angenehme Empfindung, die aber fröhlich und lächelnd ist … Hohe Eichen und einsame Schatten im heiligen Hain sind erhaben, Blumenbetten, niedrige Hecken und Figuren geschnittener Bäume sind schön … Das Erhabene rührt, das Schöne reizt.‹ 16 Im dritten Abschnitt I. Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, a. a. O., S. 826. Ebd., S. 826–827. In seiner späteren Kritik der ästhetischen Urteilskraft wird diese Parallelität des Schönen und Erhabenen aufgegeben.
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Der verhüllte Eros heimischer Landschaft
überträgt Kant dann diese Bestimmungen des Schönen und Erhabenen auf die beiden Geschlechter selbst, indem er die ›Frauenzimmer‹ das ›schöne Geschlecht‹ nennt, das seinerseits vorrangig einen Sinn für Schönes habe, die Männer aber das ›edle, erhabene Geschlecht‹ mit seinem vorherrschenden Sinn für das Erhabene. Indem er eine Deutung Freuds vorwegnimmt und diese Gefühle aus einer Verfeinerung sexueller Triebe zu erklären sucht, scheint schließlich das Gefühl für Schönheit dem erotischen Gefühl des Mannes für das Weib und umgekehrt, das Gefühl für Erhabenheit dem erotischen Gefühl des Weibes für den Mann zu entstammen. Damit aber lassen sich gerade die Gefühle des Schönen und Erhabenen nicht mehr eindeutig mit dem Unterschied der Geschlechter gleichsetzen; sie durchqueren den Unterschied von Frau und Mann. Die Gleichung geht also nicht auf, da weder solche Weiblichkeit noch solche Männlichkeit auf eine biologische oder soziale Konstante des Unterschieds von Frau und Mann verweisen, so daß jene nicht eindeutig dem Schönen noch dieser eindeutig dem Erhabenen zugeschrieben werden kann, wie Kant es noch versuchte. Die Bedeutungen des Weiblichen und Männlichen unterliegen vielmehr geschichtlichen Kräften und deren Wandel und erst unter Bedingungen patriarchalischer Verhältnisse hatten sie relativ beharrliche Züge angenommen, die nun in gegenwärtiger Zeit zu verfallen beginnen. Kants anfängliche Unterscheidung erhabener und schöner Landschaften mit gleichsam männlichen und weiblichen Zügen begann sich schon im frühen achtzehnten Jahrhundert abzuzeichnen. Der von ihm hochgeschätzte Albrecht von Haller hatte 1729 sein Gedicht Die Alpen verfaßt, in welchem beide Landschaftstypen zusammenzukommen scheinen. Des ›ausschweifenden‹ feudalen und städtischen Lebens überdrüssig, bereist Haller zwei damals abgelegene Schweizer Alpentäler, in welchen er tief beeindruckt die ›erhabene Welt‹ ärmlich lebender Hirten und Bauern zu entdecken glaubt. 17 Das gespielte barocke Hirtenidyll des Adels weicht hier gänzlich einer harten, ›männlichen‹ Moralität, in welcher ›ohne müßigen Verdruß‹ eine von der Natur geleitete Vernunft herrsche und allein die schwere Arbeit den Tag fülle. Die Armut der Bewohner scheint dem auswärtigen Wanderer der Grund für ihr vermeintlich strenges Leben nach ›väterlichem‹ Sitten17
Albrecht von Haller, Die Alpen (1729), Stuttgart 1998, S. 15.
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Kann es ›männliche‹ und ›weibliche‹ Landschaften geben?
gesetz, durch das ihm das ›furchtbare Gebürg‹ erstmals als etwas Erhabenes erscheinen kann. 18 Haller nimmt allerdings buchstäblich Abstand von solcher Ärmlichkeit und besteigt einen der Berge, um vor und unter sich das Schauspiel sowohl der erhaben-männlichen wie der schönen-weiblichen Landschaftszüge zu genießen: ›So wird, was die Natur am prächtigsten gebildet, / Mit immer neuer Lust von einem Berg erblickt. / Durch den zerfahrnen Dunst von einer dünnen Wolke / Eröffnet sich zugleich der Schauplatz einer Welt / … / Ein angenehm Gemisch von Berg, Fels und Seen / Fällt nach und nach erbleicht, doch deutlich ins Gesicht, / Die blaue Ferne schließt einen Kranz beglänzter Höhen, / Worauf ein schwarzer Wald die letzten Strahlen bricht, / Bald zeigt ein nah Gebürg die sanft erhobnen Hügel, / Wovon ein laut Geblök im Tale widerhallt. / Bald scheint ein breiter See ein Meilen-langer Spiegel, / auf dessen glatter Flut ein zitternd Feuer wallt; / Bald aber öffnet sich ein Strich von grünen Tälern, / Die, hin und hergekrümmt, sich im Entfernen schmälern.‹ 19 Der sanfte Abhang des furchtbaren Gebirges glänze von reifendem Getreide und seine Hügel seien schwer von hundert Herden. – Nicht also die Enge der ›heimatlichen‹ Täler, sondern erst der vom Berg aus sichtbare Welt-Schauplatz eröffnet mit der Weite und ›blauen Ferne‹ das erhaben Großartige der Alpengebirge, während Haller beim Anblick ihrer Enzianblumen und Kräuter, zumal aber beim Anblick ihrer mit sanfteren Abhängen und Weiden gerahmten engen und fruchtbaren Täler mit ihrer Schönheit eine fast ›mütterlich‹ zu nennende Geborgenheit glaubt genießen zu können. Zwar vergißt Haller nicht, den Schnee und das Eis, den Frost und die gefrorenen Bäche zu erwähnen, die das ›öde Tal entlauben‹, doch spricht er nicht über die möglichen Winterstürme, die Lawinen, Überflutungen und andere Naturkatastrophen. 20 Denn: ›Der Berge wachsend Eis, der Felsen steile Wände / Sind selber zum Nutzen da und tränken das Gelände.‹ 21 Der ›Nutzen‹ nimmt so gegebenenfalls die Funktion ein, selbst das Furchtbare der Naturgewalten noch in Distanz zu sich zu halten, wodurch das Schauspiel des männlich Erhabenen mit seinen weiblich schmückenden Elementen genossen werden kann. 18 19 20 21
Ebd., S. 16. Ebd., S. 15–16. S. 19. S. 15.
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Der verhüllte Eros heimischer Landschaft
Über den ästhetischen Wert des ›Erhabenen‹ aber hatte man sich jedoch noch lange nicht geeinigt. So schrieb Krünitz noch 1794 in seiner Oekonomischen Enzyklopädie über die beiden Landschaftstypen: ›Alles Eckige, scharf Abgeschnittene, Ausgehöhlte, Zugespitzte beleidigt das Auge. Sanft gekrümmte Linien hingegen, allmähliche Abfälle, Mannigfaltigkeit in den Biegungen der Absätze, eine liebliche Rundung des Gipfels … geben der Anhöhe die angenehmste Form.‹ 22 Es gab also noch Menschen eines fest verschwundenen mittelalterlichen Geistes, welche die weiblich-schöne der männlich-erhabenen Landschaft vorzogen. Was liegt jedoch überhaupt hinter dieser Aufspaltung der Landschaft derart in ›Schönheit‹ und ›Erhabenheit‹, daß diese – verteilt im Flor des Weiblichen hier, des Männlichen dort – scheinen erlebt werden zu können? Denn nichts ist weniger selbstverständlich als diese Aufspaltung, die gleichermaßen eine Dekadenz des ›Schönen‹ wie des ›Erhabenen‹ einleitete. Harmonia, als Inbegriff alles Schönen, galt dem Griechen der Antike als Tochter aus einer illegitimen Beziehung der Aphrodite, als Gattin des Hephaistos, und des Ares. 23 Eine mögliche höchste Spannung zwischen ›Liebe‹ und ›Tod bringendem Zwist‹ war in ihr gedacht. Ihre Brüder waren Furcht und Schrecken (Deimos und Phobos), und sie selbst wurde mit dem Krieger Kadmos verheiratet, wodurch sie Stammutter eines berühmten thebanischen Geschlechts wurde. Hervorgehend also aus einem Gesetzesbruch trägt Harmonia die höchst mögliche Spannung zwischen dem, was sich gegenseitig ausschließt, zwischen Strittigem und Kriegerischem einerseits und dem liebevoll Einstimmenden andererseits in sich. Von ihr hat sich bis heute eine Spur bewahrt in der Rede vom ›furchtbar und schrecklich Schönen‹, das uns zutiefst erschüttern, erheben oder zerschmettern kann. Erst Edmund Burke setzte in einer Schrift von 1757 das Erhabene in einen Gegensatz zum Schönen, wodurch sich deren grundlegende J. G. Krünitz, ›Landschaft‹, in: Oekonomische Enzyklopädie Bd. 64, 1794. Zitiert bei: Dominik Brückner, Bemerkungen zum semantischen Wandel von ›Landschaft‹ seit dem 18. Jahrhundert, in: Thomas Kirchoff u. Ludwig Trepl, Hg., Vieldeutige Natur. Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene, Bielefeld 2009, S. 211. 23 Vgl. dazu vom Autor: Zeit der Muse – Zeit der Musen, Tübingen 2008, S. 204 f. – Meine dortige Auslegung dieser Schrift werde ich hier revidieren. 22
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Kann es ›männliche‹ und ›weibliche‹ Landschaften geben?
Bedeutung zu verändern begann. 24 Er hatte sich auf die griechische Schrift ›Vom Erhabenen‹ eines ›Longinus‹ genannten Unbekannten aus der Zeit des Kaiser Augustus bezogen. 25 Doch ›Longinus‹ setzte keineswegs das Erhabene dem Schönen entgegen, vielmehr spricht er noch in einem Atemzug von ›Schönheit und Größe‹. 26 Mit Platon nimmt er Grade des Schönen an, die im göttlich Großartigen ihre höchste Stufe erreichen. Daher zielt er vielmehr auf eine Abgrenzung des ›hypos‹ genannten Phänomens höchster Schönheit – in welchem Wort der Sinn des Erstaunlichen, des erschütternd Pathetischen, des schlechthin Großartigen in die Nähe des Göttlichen gerückt wird – gegen ›mißtönenden Schwulst‹, gegen ›hohlen Pathos‹ und bloß ›bombastische Disharmonie‹, aber auch gegen alles ›Frostige‹, ›Kleinliche‹ und ›Gezierte‹ etc. Der hohe Stil der ›Erhabenheit‹ löst leidenschaftliche Begeisterung und damit ein ›Hochgefühl der Seele‹ aus: ›Denn unsere Seele wird durch das wirkliche Erhabene von Natur aus emporgetragen, schwingt sich hochgemut auf und wird mit stolzer Freude erfüllt, als hätte sie selbst geschaffen, was sie hörte.‹ 27 Natürlich kennt ›Longinus‹ auch eine bloß ›angenehm temperierte Schönheit‹. 28 Doch da handelt es sich einfach um eine niedere Stufe von Schönheit, die nicht an eine ›mitreißende‹ edle Erhabenheit reicht, die ein Erschrecken auszulösen vermag. ›Longinus‹ folgt dem Platonischen Verständnis von Schönheit, wie dieser sie zumal im ›Phaidros‹ und im ›Symposion‹ dargelegt hatte. In der ›Liebe zum Großartigen und Gewaltigen‹ geht es ›Longinus‹ um den des ›Ungemeinen, Großen, Schönen‹ und ›Erhabenheit erhebt uns fast bis zur Majestät Gottes‹. 29 Edmund Burke dagegen will gar nicht mehr den mitreißenden, begeisternden Zug der Schönheit ›nach oben‹ schildern, sondern zwei verschiedene empirische Ursachen oder Quellen ästhetischer Gefühle aufdecken: Quell des Erhabenen sei, was geeignet ist, Ideen von Schmerz und Gefahr zu erregen, wobei allerdings eine ›gewisse Entfernung‹ von Edmund Burke, Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, a. a. O. 25 ›Longinus‹, Vom Erhabenen (griechisch/deutsch), Übers. O. Schönberger, Stuttgart 1988. 26 Ebd., S. 55; vgl. auch S. 67 und S. 73. 27 S. 17. 28 S. 67. 29 S. 89. 24
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Der verhüllte Eros heimischer Landschaft
deren realer Bedrohung erst ›froh mache‹. 30 Die Idee der Schönheit sei dagegen im Vergnügen begründet. 31 Beide aber seien ›Qualitäten an Körpern, die durch Vermittlung der Sinne mechanisch auf das Gemüt wirkten‹. 32 Die Distanz, die bezüglich des Schönen nötig wird, ist die von der ›puren Sinnenlust‹, in welcher sich ein Fortpflanzungstrieb befriedige, bis schließlich im Anblick der Schönheit des anderen Geschlechts nur noch Freude und Vergnügen liege und allenfalls eine ›Gesinnung der Zärtlichkeit und Zuneigung‹ ausgelöst werde. 33 Erhabenheit dagegen werde durch Phänomene wie Schrecken, Dunkelheit, Macht, Privation, Riesenhaftigkeit, Unendlichkeit, Schreien, Plötzlichkeit und Schmerz ausgelöst, solange diese uns nicht real betreffen oder bedrohen. Schönheit aber wird durch Phänomene wie Kleinheit, Glätte, Ebenheit, Zartheit, Anmut, Helle u. a. ausgelöst. 34 Wohl kennt auch Burke noch Grade des Erhabenen von der ›Bewunderung‹ über die ›Verehrung‹ und ›Achtung‹ bis hin zu einer ›unwiderstehlichen Kraft, die uns mit fortreiße‹. 35 Das Erschauern am Erhabenen drücke die gehemmte Bewegung einer Leidenschaft aus, die vom Großen und Erhabenen in der Natur verursacht sei, etwa von riesigen Landflächen oder, schrecklicher noch, vom Ozean. Götter oder Dämonen kommen in Burkes empirisch-kausalen und psychologischen Auslegungen gar nicht mehr vor. Schönheit dagegen lasse die ›Grundfesten des ganzen Systems erschlaffen‹, da das Vergnügen an ihr in der Herabsetzung von Spannung liege. 36 So werde ja davon gesprochen, daß man vom Vergnügen ›ermatte, erschlaffe, geschwächt, aufgelöst und dahingeschmolzen‹ werde. Burke setzt demnach Schönheit nur noch mit einer ›niederwerfenden‹ statt ›erhebenden‹ Lust gleich. Glätte und Süße, allmähliche Änderung, Abwechslung leicht schwingender Bewegung, ein Steigen und Fallen, Wiegen, Kleinheit und sanfte Unebenheiten, Wärme und Weichheit seien Quellen solcher Schönheit, welche ›ohne jede Beziehung zu einem Nutzen‹ berühre und gleichwohl die Leidenschaft der Liebe erregen könne. 37 30 31 32 33 34 35 36 37
E. Burke, Philosophische Untersuchung, a. a. O., S. 72. Ebd., S. 166. S. 152. S. 76–77. Vgl. S. 91 f. und S. 166 f. S. 91. Vgl. S. 192. S. 152.
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Die Phantasmen des ›Männlichen‹ und ›Weiblichen‹
Schönheit ist demnach ihrer furchtbaren, erschütternden, ebenso ›dionysischen‹ wie berauschend ›erotischen‹ Macht beraubt, um sie einer unterhaltsamen Lust an wohlgefälligen Zerstreuungen zu opfern, nämlich einem unanstößigen Vergnügen, dem keine Anstrengung einer Bildung des ästhetischen Urteilsvermögens vorhergeht, und einer unstrittigen und Glück verheißenden Versöhnung, bis sie schließlich im Massengeschmack am süßlichen Kitsch und an der sentimentalen Schnulze verschwindet. Von dieser Dekadenz blieb Erhabenheit keineswegs unberührt: Sie verkam in der nie zu befriedigenden Sucht der Massen nach Darstellungen des bloß Gewalttätigen und Zerstörerischen. Und Kunst, anstatt um ihrer selbst willen solche Tendenzen restlos zu ignorieren, setzt sich allzuoft nur in einen äußersten Gegensatz zu beidem, um sich gänzlich in Abhängigkeit zu begeben von ihren ›wissenschaftlich ausgebildeten‹ kritischen Kommentatoren. – Die unbestimmt nymphen- und satyrhafte webende Aura verschiedener Landschaftsweisen verschwand so in der Zuordnung zu bestimmten Auffassungen, wonach das ›Weibliche‹ am Weib das ›Schöne‹, das ›Männlichen‹ am Mann das ›Erhabene‹ sei.
5.4. Die Phantasmen des ›Männlichen‹ und ›Weiblichen‹ Die Entwicklung der Moderne, nämlich die Macht ästhetischer Phänomene in seichte psychologische Erlebnisse aufzulösen, ist zugleich begleitet von endlosen psychoanalytischen Werkdeutungen, was sich bereits bei Burke und ausdrücklicher noch in Kants früher Schrift abzuzeichnen begann. Liege doch, so letzterer – ›man mag nun um das Geheimnis so weit herumgehen, als man immer will, – die Geschlechterneigung allen übrigen Reizen endlich zum Grunde‹. 38 Kant sprach bereits von ›hinzukommenden Feinigkeiten‹ 39, so wie Sigmund Freud von der ›Sublimierung der Sexualtriebe‹ spricht, die eintrete, wenn deren ungehemmte volle Befriedigung nicht möglich sei. 40 Entsprechend scheint ihm die ›Ableitung der Schönheit aus dem Gebiet des I. Kant, Beobachtungen, a. a. O., S. 858. Ebd., S. 859. 40 Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: Gesammelte Werke Bd. XIII, S. 156. Freud scheint die Herkunft des Ausdrucks ›Sublimation‹ aus den Diskursen über das Erhabene nicht zu kennen und verwendet ihn eher im gegenteiligen Sinne von ›Subtilisierung‹. 38 39
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Sexualempfindens gesichert‹. 41 – Wie aber, wenn die Moderne vielmehr umgekehrt einem Prozeß der Entsublimierung des Eros entstammt durch die Zurückführung auf eine erst geschichtlich entstandene Primitivität in der ungehemmten ›Gewalttätigkeit‹ rein sexueller Triebe? – Gewiß, Dichtern wie Homer und Hesiod zufolge entstammt Harmonia einem ›Liebesakt‹ von Aphrodite und Ares: Doch sie waren Götter in einer göttlichen Verbindung und keine lüstern getriebenen Sterbliche! Und aus solcher Verbindung entstammte die in ihr selbst zum Äußersten entgegengesetzte Schönheit, sofern sie das nur vereinnahmend liebende und das kriegerisch tödliche Wesen in einen einzigen, kaum mehr auszuhaltenden, kaum zu ertragenden Spannungsbogen brachte und sie damit in ihrem anfänglichen Wesen bloßer Entgegensetzung gänzlich abwandelte. Die höchste, spannungsreichste, fürchterlichste und eindringlichste Form der Schönheit überhaupt war geboren und sie gab Harmonia eine unwiderstehliche Macht, die, wie es scheint, erst mit dem langsamen Sterben der Götter ihrerseits wieder zu schwinden begann. – Solche ›harmonische Schönheit‹ aber schrieben Dichter kaum einer Landschaft zu. Die neuzeitlichen Diskurse über das Schöne und Erhabene blieben also nicht bei der vermeintlichen Verschiedenheit ästhetischer Phänomene stehen, sondern sie unterwarfen diese mehr und mehr dem Unterschied des Weiblichen und Männlichen, bis sie in deren sexueller Triebstruktur, wie auch sittsam gehemmt und verfeinert, glaubten, ihren ›eigentlichen Grund‹ gefunden zu haben. Wie aber konnten das Weibliche und Männliche unter dem Deckmantel des Schönen und Erhabenen derart auf Landschaften übertragen werden, daß man so gut wie nie von ›häßlichen und kleinlichen Landschaften‹ sprechen hört? Legte man schließlich die Lust an Landschaften gemäß einer ›sublimierten‹ Lust der Geschlechter aneinander aus? Wir spüren hier bereits die Art der Entgegensetzungen, durch welche, über Jahrhunderte patriarchalischen Denkens hin, Männer und Frauen nicht nur in ihren vermeintlich unwandelbaren verschiedenen Eigenschaften und Verhaltensweisen – der ›Natur‹ oder der ›Sozialisation‹ nach – charakterisiert wurden, sondern zudem ihrem Wert nach als höher und niederer bewertet worden waren: Das starke und S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in. Gesammelte Werke Bd. XIV, a. a. O., S. 441.
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das schwache Geschlecht, ästhetisch als das erhabene und das schöne beurteilt, wurden den ›Gegensätzen‹ des Größeren und Kleineren unterworfen, des Festen und Zarten, Rauen und Weichen, Dunklen und Heiteren, der Achtung und der Liebe, des Verstandes und des Gefühls, des Willens und der Tatkraft einerseits, der Unentschlossenheit und Nachgiebigkeit andererseits, des Mutes hier und der Furchtsamkeit dort, der Kühnheit und der Schamhaftigkeit, der Gewalttätigkeit und der Weichlichkeit, der Tiefsinnigkeit und der Oberflächlichkeit, des Umherschweifens und forschenden Erkundens einerseits, der Seßhaftigkeit und Beharrung andererseits, des Gesetzgebenden und des Familiären und Religiösen, in welchem Gegensatz noch Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes die Stellvertreterschaft von Antigone und Kreon für die Geschlechterrollen glaubte erblicken zu können, 42 um zudem von diesen Gegensätzen den ›angeborenen‹ Herrschaftsanspruch des Mannes und die ›natürliche‹ Unterlegenheit der Frau abzuleiten. Und es waren zumeist Männer, von Aristoteles und Paulus bis hin zu Arthur Schopenhauer oder Otto Weininger, die dem Mann schlechthin die Fähigkeit und Aktivität ›vollkommener Formbildung‹ zuschrieben, der Frau aber die Passivität einer ›unvollkommenen mater materia‹. – Heute allerdings, nach der Spielart des deutschen Feminismus und seiner Durchsetzung, verschwindet der ganze Gegensatz dadurch, daß Frauen sich selbst vermännlichen und sogar ihrer äußeren Erscheinungsweise nach wie Männer aussehen wollen, die mit halbgeschorenen Köpfen und Blue-Jeans-Uniformen eine Art freiwilligen globalen Militärdienst zu leisten scheinen. Die Pythagoreer waren der Auffassung, das Männliche und Weibliche gehöre wie der Mond und die Sonne zu den zehn grundlegenden kosmischen Polaritäten, die sogar in den ›weiblichen‹ und ›männlichen‹ Nomina-Endungen ihren grammatischen Niederschlag gefunden hätten. Doch was da in der Vergangenheit feste und typische Eigenschaften, Charaktere und Verhaltensweisen von Männern und Frauen sein sollten, zeigte sich zugleich auffallend ›vagabundarisch‹ und quer gegen deren eigene Polarität: gab es doch immer schon, wie auch verfemt, furchtsame, schwache, gefühlsbetonte, inaktive Männer wie mutige, starke, kalte, aktive Frauen. Die Phantasmen des ›Männlichen‹ und Gottfried Wilhelm Friedrich Hegel, Die sittliche Welt, das menschliche und göttliche Gesetz, der Mann und das Weib, in: Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1952, S. 318.
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›Weiblichen‹ hatten sich längst abgelöst von den vermeintlich gegensätzlichen geschlechtsspezifischen, sei es biologisch oder sozialhistorisch bedingten Charakteren, um als unverwüstliche Geister umherzuschweifen und sich je nach Opportunität als Metaphern auf ›Alles und Jedes‹ niederzulassen. Seit langem schon redet man vom Weiblichen und Männlichen in Hinsicht nicht nur auf die Geschlechterdifferenz, sondern auf bestimmte persönliche Wesenszüge, so daß man durchaus, wenn auch nur polemisch, zugestanden hat, es gebe ebenso feminine Männer wie maskuline Frauen. Nach alten patriarchalischen Deutungsnormen waren solche Wesenszüge überwiegend negativ geprägt und man redete von ›weibischen Männern‹, die feige, schwach und zimperlich seien, zänkisch, kreischend, schwatzhaft, unvernünftig etc. Umgekehrt war ebenso von gefühllosen, muskel- oder intellektuell protzenden ›Mannweibern‹ die Rede, ohne Anmut, Grazie und Charme, ohne Feinfühligkeit und soziales Einfühlungsvermögen etc. Die Möglichkeit solcher Übertragungen sprengt jedoch selbst im Verächtlichen noch die starre Zuordnung von Verhaltensweisen zu ›typisch‹ männlich-erhabenen oder weiblich-schönen Charakteren. Und so proklamierte eine militante Frauenbewegung in den reichen Ländern längst schon das Idealbild der entschieden anti-mütterlichen und familienlosen, willensstarken und lustunabhängigen, geschäfts- und karrieretüchtigen Frau gegen das Negativbild eines zumeist lüsternen und doch schwächlichen, kraftlosen, suchtanfälligen, gewalttätigen Mannes, der vergeblich an seinen alten patriarchalischen Privilegien festzuhalten suche. – Die sich auflösenden Phantasmen eines solcherart ›Weiblichen‹ und ›Männlichen‹ können nicht mehr in die Beschreibung unterschiedlicher Landschaftstypen eingehen. Was sich vielmehr abzuzeichnen beginnt, ist die Maschinerie, nach welcher das ›Männliche‹ nach Kriterien der Erhabenheit, das ›Weibliche‹ noch solchen der Anmut und nicht umgekehrt interpretiert worden war. Die frei vagierenden und sich verkehrenden Phantasmen des Weiblichen und Männlichen können gerade wegen ihres auch verächtlich abwertenden Gebrauchs nicht mehr auf Landschafts-Bilder des Schönen und Erhabenen übertragen werden. Die städtische Massengesellschaft hat eine, wie es scheint, geradezu uneingeschränkte Lust jenseits des Geschlechterunterschiedes an Landschaften entwickelt; mag diese Lust vielleicht schattenhaft noch an ›männlich-erhabene‹ Landschaften 120 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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durch eine gewisse achtungsvolle Anerkennung der Beachtlichkeit und virtuellen Gewaltsamkeit erinnern oder an weiblich-schöne, sanfte Landschaften durch eine gewisse Anmut und Lieblichkeit, welche die Triebrichtungen des Eros dämpfen, um das Gefühl einer Sättigung nicht so schnell aufkommen zu lassen. Doch sind das nur noch schwache Ersatzstücke. In beiden Formen ästhetischer Lust scheint generell, wie abgeschwächt auch immer, eine ›Schönheit‹ durch. Es scheint in den Vorstellungen der meisten Zeitgenossen nicht nur keine widerwärtigen und häßlichen Landschaften geben zu können, es sei denn als Zerstörungen durch Menschen, sondern auch keine explizit weiblichen und männlichen Landschaften mehr. – Geht es aber bei diesen nunmehr geschlechtlich neutralisierten ›erfreulichen Gefühlen‹, die Landschaften entgegengebracht werden und diese überall in heimatliche Gebiete zu verwandeln drohen, nicht bloß um ein angenehmes leibliches Befinden, sei es der Ruhe und Friedlichkeit, der Entspannung und Erholung, sei es der Geborgenheit oder Entlastung oder der spielerischen Herausforderung eigener Kräfte? Behaglichkeiten, die allerdings schnell mit dem Aufbrechen einer endlosen Weite verschwänden oder mit der einbrechenden Finsternis, mit extremer Kälte oder Hitze, mit Orkanen, Regenfluten, dichten Nebeln, Erdbeben oder Feuerbrünsten, mit den Überschwemmungen und Austrocknungen u. a. Der naturwissenschaftliche Glaube der Moderne an eine a-teleologische Natur wird nunmehr ausgelegt, als bestünde diese ohnehin ohne Menschen fort und zeige ein völliges Desinteresse an deren Belangen. Das wiederum verstärkte, wie sich Nicolai Hartmann in seiner 1953 erschienenen Ästhetik ausdrückte, die Bewunderung ihrer ›erhabenen Gleichgültigkeit und Unbeirrbarkeit‹. 43 Wie also, wenn die bewundernde, von einem verborgenen Eros getriebene Betrachtung majestätisch selbständiger und freier Landschaften heimlich Komplizin der Entwertung ihrer ›bloßen Natur‹ wäre, hin zur technisch beliebig formbaren Stofflichkeit überhaupt? Wie kommt es, daß dasjenige, was dem modernen Menschen nahe zu gehen scheint, sich zugleich derart in unnahbarer Distanz zu ihm hält? Menschen liebten vielleicht immer schon unbedrohlich anmutende Landschaften unter heiterem Himmel, die sie anmutig und lieblich oder erhaben nannten. Wohl aber fürchtete man in vormodernen Zei43
Nicolai Hartmann, Ästhetik, Berlin 1953, S. 155 f.
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ten nicht nur die möglichen Katastrophen, sondern mied zugleich, wenn möglich, das drohende Gebirgsmassiv, die schaurige Sumpfund Moorlandschaft, die Ödnis der Steppen und die Feuer mancher Landschaften, die lebensfeindliche Wildnis und die Sand- oder Eiswüsten, so daß nur der Heilige, der Büßende oder der Elende sich an deren Rändern der Einsamkeit und Gefahr aussetzte, wogegen Pilger, Kaufleute oder Soldaten solche Einöden nur notgedrungen rasch zu durchqueren oder zu umgehen suchten. Sie konnten sogar, wie in manchen Zeiten des Christentums, als abscheuliche Gegenden einer verderbten, hassenswerten Natur gelten. Doch solche wüsten Landschaften, in denen nichts zum Verweilen, gar zum Wohnen einlud, sind inzwischen längst als ›erhaben-schön‹ markiert und massentouristisch erschlossen und vermarktet worden. Verführerisch schöne Luftaufnahmen der Reiseunternehmen von gewaltigen Wüsten, schwimmenden Eisbergen, Amazonas-Ufern mit undurchdringlichen Dschungeln, von unabsehbar weiten Tundren oder Savannen werben inzwischen mit deren großartiger und vor allem ›menschenleerer‹ Schönheit. Kaum jemand würde sie heute noch ›häßlich‹ nennen, geschweige ihrer Natur üble Absichten unterstellen, selbst wenn sie immer noch in abenteuerlichen Herausforderungen das eigene Leben bedrohten. Darin drückt sich eine seltsame Sucht nach unbewohnten und unbevölkerten Landstrichen aus, die touristisch zugleich das zu zerstören beginnt, was sie begehrt, nämlich Landschaften. Man denke nur an die grauenvollen Hotelbunker- und Campingstädte, die wachsend große Teile dieser Erde veröden. Und schon beginnt ein Weltraumtourismus nach außerirdischen Landschaften zu suchen … Es war mir um die Frage gegangen, wie denn die beunruhigend machtvolle Schönheit der Landschaften in ihrer Weite, Ferne und Fremde, die sie von der Seite ihrer absoluten und grundsätzlichen Unbewohnbarkeit und Unzugänglichkeit zeigten, zu einem bloßen Wohlgefallen und Vergnügen an der inzwischen global ›heimatlich‹ engen und vertrauten Nähe der Landstriche dieser Erde hatte zusammensinken können. Mit der Art ihrer verengten Räumlichkeit veränderte sich die Landschaft grundlegend. Dieser Vorgang schien zu beginnen mit der mythischen Vorstellung von der Zerschlagung ungeheurer ›Leiblichkeit‹ in Stücke. Über die abgetrennten ›Organe‹, und genauer durch die Verschiedenheit der Geschlechtsorgane, schienen zugleich bestimmte erotische Verhältnisse mit anzuklingen: Der Gedanke, Länder könnten Erzeug122 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Phantasmen des ›Männlichen‹ und ›Weiblichen‹
nisse einer, allerdings einmaligen kosmischen Befruchtung der Mutter Erde durch den Himmel sein, aus welcher die Vater-Länder erst hervorgingen, – dieser Gedanke war auch in den Mythen nicht aufgekommen: Es gibt keine geschlechtlich verschiedenen, ›weiblichen‹ und ›männlichen‹ Landschaften, die sich gar gegenseitig anzögen und befruchteten oder abstießen. Dennoch schrieb man den heimischen Landschaften ›weiblich-schöne‹ und ›männlich-erhabene‹ Eigenschaften zu, solange sich das Phantasma dieses Geschlechtsunterschieds sozial fixieren ließ. Doch in dem Augenblick, da sich diese Fixierungen aufzulösen beginnen, tritt wieder die heimisch-heimeliche Mütterlichkeit der landschaftlichen Erde und die offen-gewaltsame Väterlichkeit der Länder als politischer Gebiete in den Vordergrund. Dem entsprechend sinkt der vage erotische Reiz solcher Landstriche und die Lust an ihren versöhnlerisch lieblichen und schönen Zügen sowie ihre widerstrebende Anziehungskraft durch ihre unermeßlichen Größen und Gewalten (so lange diese einem nicht zu nahe kommen) herab zur Armut an ästhetischer Betroffenheit und zur Gedankenlosigkeit. – Gibt es aber nicht eine weit tiefer greifende Liebe zu einer überwältigenden Schönheit der Landschaften, die mehr zu entbergen weiß als nur metaphorische Verwandtschaften zu einem familiär disziplinierten Eros, durch welchen das Freie der Landschaften dann letztlich nur noch negativ als ein erholsames Befreitsein von den alltäglichen Repressionen der verstädterten Massengesellschaften erfahren wird? Oder bieten Landschaften geschlechtsneutral das Antlitz einer gewaltigen Natur?
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6. Die Physiognomie der Landschaft
6.1. Die schaffende Natur und ihr Antlitz In Joachim Ritters Formel ›Natur als Landschaft‹ (3.) war der Begriff ›Natur‹ ziemlich vage geblieben. Unklar blieb, ob er an das altgriechische physis-Verständnis anknüpfte, an das lateinische natura oder an das christliche Verständnis der Schöpfung. Unter dem wachsenden Einfluß eines sich herauskristallisierenden Monotheismus im Späthellenismus und im Mittelalter hatte sich ja bereits der Mythos vom ›Land‹ verändert. Dessen Natur und Gestalt sollte nun nicht mehr als etwas grundlegend Neues aus der Zerstückelung eines ungeheuren imaginären Leibes auftauchen, noch nur – nach der Selbstunterscheidung und Selbstbefruchtung einer ›weiblichen Urkraft und Urmaterie‹ in Gaia und Uranos, aus welcher eine Welt titanischer Gottheiten geboren worden war – als Land im Gegensatz zum Meer. Die Erde mit ihren Ländern und Meeren sowie der ganze bestirnte Himmel sollten nun als Teile einer einzigen göttlichen Schöpfung im Ganzen verstanden werden: als natura naturata. Ab dem 17. Jahrhundert des christlichen Abendlandes tauchte dann allerdings eine seltsame Metaphysik der Landschaft auf: Das Land sollte mehr sein als nur ein Stück erschaffener Natur, nämlich selbst der erscheinende Ausdruck des lebendigen, als Natur schaffenden Gottes: natura naturans. Damit konnte nun das mythische Land zur ›Landschaft‹ werden. Doch niemals könnte – so überzeugte man sich durch eine bestimmte Auslegung Baruch Spinozas – diese ›unendlich‹ leibhaftige, lebendige Natur unmittelbar als ganze in ihr selbst erscheinen, sondern stets nur anteilhaft an ihrem weiterhin ungeheuren, imaginären Ganzen: In der ›Physiognomie der Landschaft‹ – wie man nun seit Alexander von Humboldt sagte – offenbare sich demnach eine der halb verhüllten Antlitze der einen göttlichen Natur, die sich in dieser ihrer mannigfaltigen Selbstschöpfungen liebevoll dem Menschen zuneige und ihm ihr Innerstes als etwas enthülle, dessen rätselhaft verhüllte Bedeutung zugleich entziffert und 124 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die schaffende Natur und ihr Antlitz
erforscht werden könne. In der Schönheit der Landschaft drücke sich die Gunst dieser göttlichen, schlechthin guten Natur aus. Wie gesehen (4.2.) hatten die Theodizeen der Aufklärung – gegen die mittelalterliche Auffassung einer durch den Sündenfall mitverderbten Natur – verkündigt, diese sei vielmehr als Werk Gottes zugleich das Wirken des Gottes, eben als natura naturata zugleich natura naturans und zwar als ein absolutes, sich selbst entfaltendes göttliches ›Kunstwerk‹ : unendlich vollkommen und schön. Nur in der beschränkten Sichtweise der Menschen, so hatten wir den Earl of Shaftesbury um 1709 sprechen hören, zeigten sich an ihr auch üble und häßliche Seiten. 1 Doch im Anblick jeder Landschaft, so werden nun Herder, Lavater, Goethe, Alexander von Humboldt oder Carus sagen, könnte man einem der vielen göttlichen Antlitze der Natur begegnen. Die ›Natur‹-Wissenschaft arbeitet demnach daran, sich gleichsam ein Gesamt-Bild des ganzes Antlitzes der Natur zu verschaffen. Seither hörten auch die Geographen nicht mehr auf, von der Physiognomie der Landschaft zu sprechen, 2 in welcher gleichsam hermaphroditisch die Männlichkeit Gottes mit der Weiblichkeit der Natur vereint zu liegen scheint, und deren positiver Wert ganz außer Frage stehe. Oft meint man zwar inzwischen mit der Metapher ›Physiognomie‹ kaum mehr zu verstehen als nur das ›besondere Aussehen‹, die ›sichtbaren Züge‹, das ›visuelle Bild‹ einer Landschaft, als Wirkungen bestimmter Ursachen auf das ›Gemüt‹ oder die ›Seele‹. Selten wird noch daran erinnert, daß ganz unvermeidlich mit ›Physiognomie‹ ein Phänomen als Aus-druck eines irgendwie beeindruckten Inneren aufgefaßt werden sollte. Inzwischen schreibt die Geographie längst Entwicklungsgeschichten ganzer Landschaften aus den Verschiebungen der Kontinentalplatten und den wechselnden Einflüssen des Klimas, der Pflanzen-, Tier- und Menschenwelt. Das jeweilige ›Antlitz‹ einer Landschaft scheint nur ein Augenblick in der Erdgeschichte. Geht es Anthony Ashley-Cooper, Earl of Shaftesbury, The Moralists (1709), a. a. O., S. 174. Karlheinz Paffen, Hg., Das Wesen der Landschaft, a. a. O. In diesem Sammelband klassisch gewordener geographischer Theorien verwenden die meisten Autoren den Ausdruck Physiognomie: J. G. Granö (S. 12), H. Lauterbach (S. 21,445,448), H. Lehmann (S. 39,56), K. Paffen (S. 73–75), E. Neef (S. 118,120,128), J. Schmithüsen (S. 168), D. Bartes (S. 179,192), J. H. Schultze (S. 203–210), H. Uhlig (S. 371). Zugleich sind die Vorboten jener ökologischen Systemtheoretiker der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu spüren, die den Ausdruck ›Landschaft‹ als einen ›bloß ästhetischen, subjektiven, unwissenschaftlichen‹ verwerfen werden.
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Die Physiognomie der Landschaft
bei solchem ›Aus-drücken‹ nur noch um irgendwelche ›blinden Naturkräfte‹, die wirksam zur Erscheinung kommen und ihren Wandel manifestieren, dann hat allerdings das naturwissenschaftliche Kausalitätsdenken die Metapher der Physiognomie bereits verzehrt. Nicht selten aber werden wir noch auf die Spur des erotisch-mythischen Landschaftsverständnisses gebracht, dann nämlich, wenn Geographen wie Josef Schmithüsen, Karlheinz Paffen oder Herbert Lehmann andeuten, daß sich im ›Antlitz‹ einer Landschaft physiognomisch deren ›Charakter‹ auspräge, als ob hier gezielt von einem inneren Wesen her handelnd eine bestimmte äußere Erscheinung hervorgebracht werde, um dann anziehend auf die Menschen zu wirken. 3 Den Ausdruck ›charaktere‹ hatte erstmals Theophrast, Schüler des Aristoteles, auf die Psyche bezogen. 4 Seither versteht man darunter das dauerhafte Gepräge eines Ethos, wie er sich in regelmäßig wiederkehrenden Verhaltensweisen manifestiert. In der Natur der Landschaften scheint sich also immer noch verhüllt der schlechthin gute Charakter Gottes in Schönheit und Erhabenheit auszudrücken. – Wohin aber hatte man die ›böse‹ und ›häßliche‹ Natur abgedrängt? Wo blieben die Verwüstungen und Verpestungen, die Brände und Sintfluten, die Vereisungen und Erdbeben? Sollen Naturkatastrophen, die ganze Länder vernichten, nur als Umwandlungen von Landschaften eines Typs in den eines andern verstanden werden? – Bekanntlich löste die Zerstörung Lissabons durch ein Erdbeben 1755 hier ein Umdenken aus, das zumal über Gedanken Kants das Ende der Naturteleologie und der moralischen Bewertung der Natur in den Naturwissenschaften einläutete, aber auch, zwischen Voltaire und Schopenhauer, zur Geburtsstunde des pessimistischen Nihilismus wurde. Wieso aber konnte sich in der Metapher einer ›Physiognomie der Landschaft‹ der mythische Gedanke der Naturteleologie so hartnäckig bis heute, wenn auch unbewußt geworden, erhalten? Worin lag die gewaltige reaktionäre Kraft eines schon verdrängten mythischen Bewußtseins, das sich gegen den entstehenden, moralisch indifferenten Materialismus der Naturwissenschaften aufbäumte? * * * Ebd., S. 168 und S. 75. Vgl. auch: Herbert Lehmann, Essays zur Physiognomie der Landschaft, a. a. O. 4 Theophrast, Charaktere, Übers. D. Klose, Stuttgart 1981. 3
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Die schaffende Natur und ihr Antlitz
Alexander von Humboldt sprach in seinen Ansichten der Natur von 1807 von einer Physiognomie der Gräser, der Gewächse, der Vegetation eines Landes, von einer Physiognomie einzelner Felsgruppen, ganzer Gebirgsmassen oder bestimmter Ebenen und anderer Landschaftstypen. 5 Es gibt für ihn eine ›allgemeine Physiognomik der Natur‹, die in bestimmten Typen und einzelnen Charakteren zum Ausdruck komme. 6 Die erscheinende Natur gilt ihm dabei durchweg als Ausdruck eines frei tätigen Inneren, nicht als blinde Wirkung physikalisch-chemischer Prozesse. Humboldt schließt sich hier den metaphysischen Überlegungen Herders und Goethes an, die sich zumal gegen den Cartesianischen Dualismus von Geist und Materie gewandt hatten. Eine äußere physische Welt könne sich doch nur deshalb im Gemüt und im Geist des Menschen ›spiegeln‹, weil sie in diesen sich selbst offenbare: ›Was den Charakter einer Landschaft bezeichnet: Umriß der Gebirge, die in duftiger Ferne den Horizont begrenzen; das Dunkel der Tannenwälder; der Waldstrom, welcher tobend zwischen überhangenden Klippen hinstürzt: alles steht in altem, geheimnisvollen Verkehr mit dem gemütlichen Leben des Menschen.‹ 7 Und wenn es in diesem ›geheimnisvollen Ineinanderwirken des Sinnlichen und Außersinnlichen‹ um einen ›Einfluß der physischen Welt auf die moralische‹ gehen kann, so deshalb, weil der göttliche Wesenskern der frei schaffenden Natur selbst ein absolut ›moralisch‹ guter sei. – Humboldts romanhaft zu lesende Landschaftsbeschreibungen folgen ganz dem Geist einer Klassik, der es um den ›alten Bund des Naturwissens mit der Poesie und dem Kunstgefühl‹ ging. 8 Dabei läßt sich eine bedeutsame Abwandlung beobachten: Der Ausdruck ›Landschaft‹ – auf einen selbständigen Bildgehalt, nicht auf ein politisches Gebiet bezogen – tauchte, wie bemerkt, seit Albrecht Dürer in den europäischen Malereitraktaten auf. Entsprechend oft spricht auch Humboldt noch von Landschaften als ›Aussichten‹, von den ›malerischen Ansichten der Natur‹ oder auch vom ›Naturgemälde‹ 9, wogegen die ältere, in die Antike zurückweisende Auffassung von Landschaft als bloßer ›Schauplatz‹ heiliger oder profaner ›Historien‹ im Verschwinden begriffen ist. 10 Dennoch steht bei Alexander von Humboldt, Ansichten der Natur (1807), a. a. O. Ebd., Bd. II, S. 13. 7 Ebd., Bd. I, S. 180. 8 Ebd., Bd. II, S. 27. 9 Ebd. Bd. I, S. 25 u. S. 179, Bd. II, S. 10. 10 Ebd. Bd. I, S. 9. 5 6
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Die Physiognomie der Landschaft
Humboldt nicht mehr, wie in den Diskursen über Landschaftsmalerei, der von einem Standort aus entworfene Anblick des Landschaftsbildes im Vordergrund, sondern – mit der Landschaftsbeschreibung – die ›Naturschilderung‹ 11 und deren Wirkung auf das Gemüt. Ausdrücke wie ›Gefühl‹ und zumal musikalische Begriffe wie ›Einklang‹ und ›Stimmung‹ beginnen das Bildlich-Statuarische und das Malerische zu ersetzen. Die dargestellten Elemente einer Landschaft sind nicht mehr als Allegorien gemeint und das Bild wird nun nicht mehr nur als Verweis auf eine Sache, sondern als die intendierte Ausprägung eines ›Charakters‹, als Ausdruck eines Inneren verstanden. * * * Gänzlich unbekümmert um Kants Problematisierung der Naturteleologie und des Begriffs des Organischen schien man sich von der ›Physiognomik‹ als vermeintlicher Wissenschaft die Möglichkeit zu erhoffen, den cartesischen Dualismus von res extensa und res cogitans und den von Kant vollzogenen Bruch zwischen Natur und Freiheit überwinden zu können. Die frei nach selbstgesetzten Zwecken handelnde Intelligenz Gottes bilde und äußere sich als eine Natur, die sich im Ganzen als ein lebendiger Organismus in sich selbst erhalte, darstelle und zugleich fortbilde. Und dieser ›Organismus‹ der Natur, mit dem das ökologische Systemdenken eingeläutet wurde, gebe sich in der Landschaft ein Gesicht. Kant hatte in der Kritik der Urteilskraft die grundsätzliche Problematik eines solchen Denkens aufgedeckt, daß nämlich die ›Organisation der Natur‹, die sich ohnehin nur in Pflanzen und Tieren zeige, nichts Analogisches mit irgendeiner Kausalität habe, die wir kennen, weder mit der mechanischen nach Wirkursachen noch mit der intelligiblen nach Zweckursachen. Was wir – nur reflektierend auf die Weisen unseres eigenen Vorstellens selbst – als eine ›sich fortpflanzende, bildende Kraft‹ und ›innere Vollkommenheit‹ eines Naturwesens erfassen könnten, bliebe an sich eine ›unerforschliche Eigenschaft‹ der Natur, die weder als Maschine noch durch freien Willen praktischer Zwecke zu erklären sei. 12 Nur nach einer entfernten Analogie mit unEbd. Bd. I, S. 180. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Werke Bd. X, Hg. W. Weischedel, Wiesbaden 1957, S. 486–488.
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Exkurs: Biologistische Moral
serer Kausalität nach Zwecken überhaupt leiteten wir die Nachforschung über organische Gegenstände dieser Art und dächten über ihren obersten Grund nach. 13 – Diese Problematisierung wird von manchen Denkern nach Kant nicht nur entschärft, sondern weitgehend ignoriert, weil man glauben wollte, in der Idee des Organischen eine magische Vermittlung von Freiheit und Notwendigkeit gefunden zu haben. Manche erklärten gleich die ganze Natur zu einem ›organischen System‹. – Was aber steckt hinter dieser neo-mythischen Vorstellung, der zufolge sich die ganze göttliche Natur in den Landschaften mannigfaltig als deren ›Physiognomie‹ auspräge – eine Vorstellung, die doch weit ›irrationaler‹ anmutet als es je die Mythen der Antike taten? Denn in ihrem offenkundigen, zum Rassismus neigenden Totalitarismus begann sie, ideologisch die grauenvollen Massenmorde des 20. Jahrhunderts anzukünden. Daher scheint mir ein Blick auf die vermeintliche ›Theorie‹ der Physiognomik erforderlich.
6.2. Exkurs: Biologistische Moral 1775 waren die Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe von Johann Caspar Lavater erschienen. 14 Auch durch Fürsprachen Goethes entwickelte sich diese ›Physiognomik‹ nicht nur zur Mode einer ganzen Epoche, von der Kant bereits 1798 geglaubt hatte, sagen zu können, Lavater sei schon vergessen und damit die unsinnigen Versuche, von einem schönen Leibe auf eine gute Seele schließen zu wollen. 15 Die absonderliche Ansicht der Physiognomiker, ein sich praktisch frei zum Guten und Bösen verhaltender Charakter wirke sich auf die Art der Schädelbildung der Menschen aus, bildete vielmehr den Auftakt eines Biologismus, wie er in der wahnhaften Rassenpolitik der Nationalsozialisten seinen mörderischen Höhepunkt erreichte. Es steckt also in der Rede von der ›Physiognomie der Landschaft‹ mehr als nur eine harmlose poetische Meta-
Ebd., S. 487. Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (1775), a. a. O. 15 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Werke Bd. XII, a. a. O., S. 638. 13 14
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pher, der zufolge uns Landschaften anmutig oder erhaben anzublicken scheinen. Ein Exkurs über diese ›Physiognomik‹ scheint mir schon deshalb notwendig, weil ihre Grundauffassung bis heute unbewußt die Gesetzgebungen zum Naturschutz beherrscht. Alltäglich versucht man, aus den Weisen, wie Menschen sich geben, und zwar nicht nur in ihren sprachlichen Mitteilungen, sondern auch in bestimmten ihrer Gebärden, Mienen, Stellungen und Bewegungen auf ihre möglichen Einstellungen und Handlungen zu schließen. Und zweifellos können Gewohnheiten auch bestimmte Gesichtszüge dauerhafter prägen. Aber ebensooft wird die Auslegung solcher körpersprachlichen Erfahrungen durch Zurückhaltungen, Verstellungen oder Sitten in die Irre geführt. Der Physiognomiker aber behauptet nun, eine sichere Methode gefunden zu haben, um vom Äußeren auf das ›wahre Innere‹ schließen zu können. Schon Cicero hatte von einem gewissen Zopyros berichtet, der von sich behauptete, das Wesen eines jeden Menschen an seiner Gestalt erkennen zu können, und so auch an der Gestalt des Sokrates dessen moralische Schwächen; worauf dieser ironisch erwidert haben soll, er habe nach seiner Geburt solche Schwächen durch Vernunft verdrängt. 16 – In der antiken physio-gnomia war es ganz allgemein um die Frage gegangen, wie man von natürlichen Erscheinungen zu Erkenntnisurteilen gelangen könne. Im 2. Jahrhundert n. Chr. war anonym eine Schrift Physiognomika erschienen, die man irreführend dem Aristoteles zuschrieb. Darin behauptete der Autor, über Analogien zu sicheren Schlüssen gelangen zu können, etwa der Art: Wenn mutige Tiere wie Löwen und Wildschweine rauhhaarig seien, so könne man daraus schließen, auch alle anderen rauhhaarigen Wesen seien mutig. Solche geistlosen Sophismen veranlaßten Giambattista della Porta, in seinem Werk De humana physiognomia von 1583, menschliche Schädelformen allgemein mit tierischen zu vergleichen, um ersteren dann, bei Ähnlichkeiten mit diesen, die vermeintlichen Charaktere letzterer zu unterstellen. Lavater erneuerte die schon fast verschwundene Tradition solchen Denkens. In einer kritischen Erwiderung auf dessen Ansichten bemerkte dann Georg Christoph Lichtenberg in seiner Schrift Über Physiognomik von 1778, das hohe Alter
M. Tullius Cicero, Gespräche in Tusculum, 4. Buch, S. 36, 80, Übers. A. Kipfel, Stuttgart 1997.
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Exkurs: Biologistische Moral
der Physiognomik zeuge von nicht mehr als von ihrem verführerischen Reiz und von ihrer Nichtigkeit. 17 Ganz dieser Sucht nach ›sicherer Deduzierbarkeit‹ verfallen, legte Lavater der ›Menschenkenntnis aus Erfahrung‹ abstrakt metaphysische Prinzipien zugrunde. Inmitten der unbegrenzten Möglichkeiten, sich zu irren, wenn man von der Erscheinung einer Person auf deren Charakter schließt, verschaffte er sich eine Pseudo-Gewißheit, indem er von dauerhafteren leiblichen Gestalten, zumal von den Schädelformen, ausging, um diese als ›Ausdruck‹ eines bestimmten, moralisch zu verantwortenden ›Charakters‹ zu ›deuten‹. Lavater gibt die Physiognomik als ›wahre, in der Natur gegründete Wissenschaft‹ aus. 18 Sie ziele, im Unterschied zur Pathognomik, welche bewegte Zeichen der Leidenschaft deute, auf die Erkenntnis des ›stehenden Charakters‹ 19. Als ›moralische Physiognomik‹ erforsche sie die Gesinnungen und Kräfte des Menschen, Gutes oder Böses zu bewirken oder zu erleiden. Da ihm aber letztlich die ›ganze Natur‹, einschließlich des Menschen, als ›Ausdruck‹ des freien göttlichen Schöpferwillens gilt, 20 müsse sie schlechthin als Physiognomie Gottes verstanden werden, von der her auf das absolute Gutsein der Natur zu schließen sei. Unbekümmert um das Problem, wie denn aus solchem Gutsein das Übelsein entstehen konnte, behauptet er, nur der sündige Mensch könne von böser und häßlicher Natur sein. Aber auch dann gilt das vermeintliche Gesetz, dem zufolge jede moralische Wesenseigenschaft notwendig auf diese bestimmte Weise zu erscheinen habe. Um scheinbar irgendwelche ›Regeln‹ abzuleiten, stellte Lavater zahlreiche Schädelsilhouetten öffentlicher Personen vor, deren ›guter‹ oder ›schlechter‹ Charakter ohnehin schon zuvor bekannt war. Er gelangte dabei zu Pseudo-Schlüssen, die jeder Menschenkenntnis Hohn sprechen: Tugend verschönere die Schädelformen, Laster mache sie häßlich; 21 je moralisch besser ein Mensch sei, desto schöner werde sein Erscheinungsbild, je moralisch schlimmer, desto häßlicher. 22 Durch moralische Verrohung könne das Aussehen eines Menschen bis zur Teufelsgestalt herabsinken. Doch Georg Christoph Lichtenberg, Über Physiognomik, in: Aphorismen. Essays. Briefe, Hg. K. Batt, a. a. O., S. 315. 18 J. C. Lavater, Physiognomische Fragmente, a. a. O., S. 7. 19 Ebd., S. 274. 20 Ebd., S. 23. 21 Ebd., S. 54. 22 Ebd., S. 53. 17
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brauche es da schon mehrere Generationen, damit durch Vererbung ein ›ganzes Knochensystem verekele‹ und ebenso mehrere Generationen, um es durch Tugend wieder zu verschönern. 23 * * * Niederschlagend sei die Vorstellung, so erwiderte Lichtenberg, die schönste Seele bewohne den schönsten Körper, die häßlichste den häßlichsten – warum also nicht auch die größte Seele den größten Körper?! 24 ›Allein gehört denn unser Körper der Seele allein zu, oder ist er nicht ein gemeinschaftliches Glied sich in ihm durchkreuzender Reihen, deren jeder Gesetz er befolgen und deren jeder er Genüge leisten muß?‹ 25 Warum sollte sich alles im Gesicht nur auf Herz und Kopf beziehen, warum nicht ebenso auf die kalten Winter, die feuchten Schlafkammern, auf die Krankheiten, auf den sozialen Stand, dem einer angehört? Lichtenberg gibt eine Erklärung, wie es zu den physiognomischen Fehlschlüssen kommt, indem nämlich von der Ähnlichkeit der Gesichter grundlos auf die Ähnlichkeit der Charaktere geschlossen werde. Auf diese Weise würden zweifellos die Gesichtszüge eines persönlichen Feindes tausend ähnliche Gesichter mit verhäßlichen, die Gesichtszüge der Geliebten übten ihren Reiz auf tausend ähnliche aus. 26 Die Kritik an der ›Physiognomik und Schädellehre‹ stellt dann in Hegels Phänomenologie des Geistes von 1807 einen der wohl extremsten Wendepunkte dar. Denn auf der Stufe solcher Lehren schlage die beobachtende Vernunft um in eine Selbstvergegenständlichung, indem sie sich blind und auf leerste und geistloseste Weise als Ding und als bloß toter Knochen sehe. 27 Der Physiognomik nach soll der Geist in eigener Äußerung als bloßes Ding erkannt werden, ohne daß verständlich werde, wie das überhaupt geschehen solle. 28 Es werde ja nicht mit dem Schädel gemordet oder gedichtet. 29 Da aber der Schädelknochen selbst ein Teil des Organismus, der lebendigen Selbstbildung sei, meine man wohl, irgendeine Stelle des Gehirns bilde eine Stelle im Knochen 23 24 25 26 27 28 29
Ebd., S. 67–68. G. Ch. Lichtenberg, Über Physiognomik, a. a. O., S. 288. Ebd., S. 284. Ebd., S. 292 u. 286. Georg W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Werke Bd. 3, a. a. O., S. 257–259. Ebd., S. 244. Ebd., S. 247.
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Exkurs: Biologistische Moral
aus, und so komme es, daß der Schädel des Mörders hier diesen Knorren, dort jene Vertiefung habe. Hegel läßt diese ›elende Vorstellung‹ schließlich in Nonsens-Bilder auslaufen: Diese Knorren am Schädel stelle man sich vor ›so gut als die fliegende Kuh, die zuerst an dem Krebs, der auf dem Esel ritt, geliebkost und hernach usf. wurde‹. 30 Wenn die Physiognomiker dagegen meinten, an der flachen Stirne oder langen Nase würden ja nicht Mörder und Diebe erkannt, sondern nur die Fähigkeit, es zu sein, so sei das daher geschwatzt, als würde einer angesichts des schönen Wetters meinen, an sich sei doch die Anlage dazu vorhanden, daß es eigentlich regnen sollte. 31 Doch auf dem Tiefpunkt des Schlechten und der Schmählichkeit des begriffslosen nackten Gedankens, ›für die Wirklichkeit des Selbstbewußtseins einen Knochen zu nehmen‹, zeige sich eine Verknüpfung des Niedrigsten und des Höchsten, so wie im Geschlecht als Organ höchster Vollendung, nämlich der Zeugung, und als Organ des Pissens. 32 Nun ginge es nicht mehr um eine Beobachtung von Dingen, von denen sich das Bewußtsein zugleich zurückhalte. Das Bewußtsein werde sich vielmehr zum Zweck des eigenen Tuns und wolle sich gegenständlich hervorbringen. 33 Auf dem Gipfel der Geistlosigkeit erweise sich, daß Vernunft sich selbst alle Dingheit ist und daß das Selbstbewußtsein vielmehr sich selbst als Ding fand und begreift und somit an sich selbst gegenständliche Wirklichkeit geworden sei. 34 – Wie aber ist eine solche Wende zu verstehen?
6.3. Anbetung der Natur Bereits Lavater hatte den Ausdruck ›Physiognomie‹ auf die ganze Natur ausgedehnt. Es gebe eine Physiognomie der Kornähren des Feldes, der Rebstöcke im Weinberg, der Wettererscheinungen am Himmel, aus denen der Bauer seine Schlüsse ziehe, auch der Gegenstände, mit denen sich Ärzte, Maler, Reisende, Menschenfreunde und -feinde oder Verliebte beschäftigten; 35– so daß Lichtenberg schließlich von dem Unsinn 30 31 32 33 34 35
Ebd., S. 254. Ebd., S. 242 u. 255. Ebd., S. 262. Ebd., S. 257–261. Ebd., S. 263. J. C. Lavater, Physiognomische Fragmente, a. a. O., S. 35.
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Die Physiognomie der Landschaft
sprach anzunehmen, hinter jeder Wetteränderung stünde die Entscheidung eines freien Wesens. 36 – Es war offensichtlich, daß diese Träumereien von einer ›Physiognomie sich frei gestaltender Natur‹ gegen das mechanistische Weltbild der Cartesianischen Aufklärer beschwört worden war, die glaubten, letztlich ließen sich sämtliche Erscheinungen der Natur und deren Veränderungen rein kausal erklären und an sich technisch reproduzieren. Gegen die Wucht, mit der sich solche Auffassungen im 19. Jahrhundert durchzusetzen begannen, hatte sich die vernichtende Kritik der Physiognomik nicht behaupten können. Vielmehr weitete sich der Gedanke einer Physiognomie unendlicher göttlicher Natur, die sich in ihren endlichen Landschaften manifestiere, zu einem quasi-religiösen Gefühl aus. Landschaft wird zum allerheiligsten Mysterium, dem sich nur mit Andacht und Anbetung begegnen läßt. So sprechen es die ebenso von Goethe wie von Caspar David Friedrich so hochgeschätzten Briefe über Landschaftsmalerei von Carl Gustav Carus aus, die zwischen 1815 und 1835 erschienen waren. 37 In diesen Briefen redet Carus nicht nur von einer ›Physiognomik der Gebirge‹, von dem ›ungeheuren Knochengerüst dieses organischen Ganzen des Erdballs‹, das sich durchaus mit dem menschlichen Körper vergleichen lasse. 38 ›Physiognomie‹ weitet sich ins gänzlich Unbestimmbare aus: Das unendliche Gutsein göttlicher Natur müsse sich in deren schönen Erscheinungen offenbaren und zwar über jede Beschränktheit hinweg. Irrtum und Böses seien in der Natur undenkbar. 39 Mit einer religiösen Inbrunst, die sich über keine Institution wie die Kirche mehr vermitteln läßt, sucht Carus sogar den vermeintlich ›trivialen‹ Namen ›Landschaft‹ durch ›Erdlebenbild‹ zu ersetzen. 40 Eine derart entgrenzte Landschaft wird ihm zur ›Offenbarung einer den Sinnen unzugänglichen, unendlich erhabenen alleinigen Gottheit‹, die eine Preisgabe jeder ›egoistischen Beziehung‹ zur Natur fordere, um sie in reiner Anschauung des Weltganzen in sich aufzunehmen: 41 ›Es ist eine stille Andacht in Dir, Du selbst verlierst Dich im unbegrenzten Raume, Dein ganzes Wesen erfährt eine stille Läuterung und Reinigung. Dein Ich verG. Ch. Lichtenberg, Über Physiognomik, a. a. O., S. 284. Carl Gustav Carus, Briefe und Aufsätze über Landschaftsmalerei (1815–1835), Leipzig und Weimar 1982. 38 Ebd., S. 95–99. 39 Ebd., S. 36. 40 Ebd., S. 68. 41 Ebd. S. 50. 36 37
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schwindet, Du bist nichts, Gott ist alles.‹ 42 Diese Göttlichkeit der Natur wird nicht etwa als unangreifbare Macht vorgestellt, sondern als etwas höchst Verletzliches und Zerstörbares, das geradezu einen kultisch behutsamen Umgang fordert. – Noch Arthur Schopenhauer, in dessen Vorstellung sich das Gutsein der Welt einfach in ein Übel verkehrte, spricht angesichts schöner Landschaften von einem ›freien Walten der Natur‹, wenn diese nicht unter der ›Zuchtrute des großen Egoisten, des Menschen, aufwachsen müsse‹. 43 Man ist sich bis heute weitgehend einig darüber, daß in der ästhetischen Betrachtungsweise der Natur als Landschaft nichts wirklich Negatives vorkommen könne – ganz im Unterschied zur Betrachtung menschlicher Schicksale. 44 Selbst wenn, wie in der Malerei und Dichtkunst, zerstörerische Naturgewalten in den Blick geraten, Feuer, Stürme, Fluten, tödliche Kälte oder Dürre, Erdbeben u. a., so doch in der ›erhabenen‹ und ›schönen‹ Distanz des nicht unmittelbar Betroffenen oder Bedrohten. – Schelling war in seinen frühen Schriften nicht so weit gegangen, die natürlichen Landschaften gleichsam in ›Wunschlandschaften‹ einer himmlischen Versöhntheit abzuwandeln. In seinem Werk Ideen zu einer Philosophie der Natur von 1797 hatte er, wenn auch nur anmerkend, noch davon gesprochen, daß man ›beim Anblick von Gebirgen, die in die Wolken sich verlieren, beim donnernden Sturz einer Katarakte, überhaupt bei allem, was groß und herrlich ist in der Natur, ein Anziehen und Zurückstoßen zwischen dem Gegenstand und dem betrachtenden Geist empfinde, nämlich einen Streit entgegengesetzter Richtungen‹. 45 Gleichwohl durchzieht seine Gedanken, im Unterschied zu Kants Verständnis des Erhabenen, schon der Traum einer tieferen Versöhnung des Strittigen in der Naturanschauung. * * *
Ebd. S. 21. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung (2 Bde., 1819 u. 1844), in: Sämtliche Werke, Bd. 3, a. a. O., S. 462. 44 Während Georg Lukács in Die Eigenart des Ästhetischen (Neuwied-Berlin 1963, S. 632 f.) betont alle Negativität von der Natur fernhält, fehlt deren Erwähnung erstaunlicherweise auch in Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie (Frankfurt a. M. 1970, S. 97 ff.). 45 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), In: Frühschriften, Hg. H. Seidel u. a., Berlin 1971, S. 387. 42 43
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Wenn jedoch die göttliche Natur, wie die Physiognomiker glauben, als ganze moralisch absolut gut, weil göttlich sei und gar nicht böse sein könne, auch nicht in ihren katastrophalen Umwälzungen, wird der Gedanken ihres ›freien Waltens‹ vollends unverständlich. In solcher Übertragung menschlich leibhaftiger Willensmetaphysik auf die Natur geht mit der Differenz jede Negativität verloren. In ihrem unbedingten, alternativlosen Gutsein fällt diese Natur letztlich zusammen mit der moralischen Indifferenz der positivistisch gedachten und technisch angeeigneten Natur, wie verdeckt auch durch religiöse Naturschwärmereien. Das hatte bereits Schopenhauer zu ahnen begonnen, als er schrieb: ›Den Anblick einer schönen Landschaft so überaus erfreulich zu machen, trägt unter anderem auch die durchgängige Wahrheit und Konsequenz der Natur bei.‹ 46 Zwar folge die Natur keinem logischen Leitfaden, wohl aber analog einer Kausalität ohne alle Winkelzüge. Allem Nihilismus zum Trotz finden wir in solchen Auffassungen noch einen Glauben an eine bedingungslos gut seiende und nur Gutes erzeugende Natur – eine Haltung, die bis heute aufrechterhalten wird und wohl den Grund dafür abgibt, warum die meisten Menschen, wie Hardts Untersuchungen ergeben haben, bis heute freudige Gefühle beim Vorstellen von Landschaften haben. Es handelt sich offensichtlich um die Nachwirkungen einer verschwundenen Göttlichkeit. Landschaftszerstörungen, Umweltkatastrophen und bedrohliche Klimawandel sind dann einzig, wenn nicht der Bosheit, so doch der rücksichtslosen Gier der Menschen zuzuschreiben – eine Auffassung, die gleichwohl unheimlich begleitet ist von den Phantasien drohender Weltuntergänge kosmischen Ausmaßes. Doch selbst der metaphysische Physiognomiker konnte nicht unumwunden behaupten, die ganze Natur sei eine Art Lebewesen, ähnlich einem beschränkten leiblich-personalen Organismus, der aus eigener Freiheit heraus in seinen Organen seinen Charakter auspräge. Landschaftliche Naturerscheinungen sollten ja vielmehr der je bestimmte Ausdruck einer an sich unendlichen göttlichen Schaffenskraft sein. Wie aber vermochte diese Unendlichkeit, sich selbst in physiognomischen Gestalten zu verendlichen und sich zum Ausdruck zu bringen? Auf welche Weise sollten die je endlichen Landschaftsgestalten an der Unendlichkeit teilnehmen? – Hatte ja bekanntlich schon Arthur Schopenhauer, Vereinzelte Bemerkungen über Naturschönheit, in: Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Teil, Sämtliche Werke Bd. III, a. a. O., S. 460.
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Das Fehlen ›häßlicher‹ Landschaften
Plotin zugeben müssen, daß er für die Aufspreizung des unendlich Einen in selbständige Vielheiten keine Erklärung anzubieten hätte. Man kann fragen, ob dieses Problem einer ›nachträglichen‹ Verendlichung göttlicher Natur in ihren Landschaften nicht erst dann auftaucht, wenn dasjenige, was gerade die ›Verheimatlichung‹ der Landschaften in Frage stellte – nämlich deren Weite, Ferne und Fremde als offene Horizonte – verabsolutiert als ›Unendlichkeit‹ zurückdrängt? Landschaften werden nun, in der Epoche der Empfindsamkeit und in der Romantik, zum anschaulichen metonymischen Ausgangspunkt der vermeinten göttlichen Unendlichkeit. Natur wird schlechthin, wie noch 1932 Helmut Rehder schrieb, zur ›unendlichen Weltlandschaft‹ 47, und die Stimmung selbst wird ›zum Unbegreiflichen im Anblick der Unendlichkeit‹ 48. Irgendwie, so meinte man, gehe die Bildung der Länder als Landschaften aus einem freien Spiel der Natur hervor, sich zu bestimmen, indem sie sich Grenzen setzt. 49 Da aber das Ganze schlechthin unendlich sei, läßt sich Landschaft zureichend weder durch Analyse ihrer Elemente oder Funktionen noch synthetisch durch deren Zusammenspiel erfassen. Keine Wissenschaft, die sich an verfügbaren Techniken orientiert und deren Methode jede unverfügbare Komplexität scheut, ist daher in der Lage, sich einen ›Begriff‹ von Landschaft zu machen. Das hatten später, wie noch zu zeigen ist, Schelling und Hegel gespürt, ohne doch zu einem ›landschaftlichen Denken‹ durchzudringen (8.3.).
6.4. Das Fehlen ›häßlicher‹ Landschaften Wo die ganze Natur für schlechthin göttlich und somit, mit Ausnahme des Menschen, für uneingeschränkt gut befunden wird, da verschwindet gänzlich dasjenige, was man einst als ›höllische Landschaften‹ erlebt hatte, und letztlich kommen nicht einmal mehr die von den Naturkräften selbst bewirkten Katastrophen und Zerstörungen in den Blick. Die neuplatonische Gleichsetzung des Guten der Natur mit dem Schönen überhaupt bewirkte zudem, daß letztlich von ›häßlichen Land-
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Helmut Rehder, Die Philosophie der unendlichen Landschaft, a. a. O., S. 63. Ebd., S. 43. Ebd., S. 54 u. 85.
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Die Physiognomie der Landschaft
schaften‹ nicht gesprochen werden konnte, wie ich bereits bezüglich der Gedanken Shaftesburys dargelegt habe (4.2.). Dessen Gedanken fortführend, hatte Francis Hutcheson 1725 das Gefallen an der ›Naturschönheit von Landschaftsszenen‹ hervorgehen lassen aus einer ›Verachtung selbstsüchtiger Vergnügen der äußeren Sinne‹, also aus einer bestimmten moralischen Haltung. 50 Zwar erschütterte die Zerstörung Lissabons durch das Erdbeben von 1755 diesen Glauben, letztlich aber wurden solche Katastrophen eher einer Art Selbstreinigung und Selbstheilung der Natur zugeschrieben, ehe man ihr endgültig jedes moralische Verhalten absprach und sie als bloßen Inbegriff faktischer Gegebenheit und deren Wandlungen beschrieb. Menschen vermögen sich und ihre Werke zwar einzubringen in die Schönheit der Landschaften, die so zu Kulturlandschaften werden können, oder sie vermögen Landschaften durch Kriege und trostlose Überbauungen verheeren, stören und zerstören, um sie in abscheuliche Gegenden und bloße Gelände zu verwandeln. Von sich aus aber scheinen Landschaften nicht häßlich sein zu können. Adalbert Stifter hatte in seiner Erzählung Kalkstein von 1852 dagegen eine solche, von Menschenhand noch unberührte Landschaft beschrieben und eine ›fürchterliche Gegend‹ genannt. Doch dürfte diese schon zu seiner Zeit kaum jemand als häßliche Landschaft aufgefaßt haben. Er läßt den Erzähler, einen Geometer, der die Gegend vermißt, sagen: ›Nicht daß Wildnisse, Schlünde, Abgründe, Felsen und stürzende Wasser dort gewesen wären – das alles zieht mich eigentlich an –, sondern es waren nur sehr viele kleine Hügel da, jeder Hügel bestand aus nacktem grauen Kalksteine, der aber nicht, wie es oft bei diesem Gesteine der Fall ist, zerrissen war oder steil abfiel, sondern in rundlichen, breiten Gestalten auseinanderging und an seinem Fuß eine lange gestreckte Sandbank um sich herum hatte. Durch diese Hügel ging in großen Windungen ein kleiner Fluß namens Zirder. Das Wasser des Flusses, das in der grauen und gelben Farbe des Steins und Sandes durch den Widerschein des Himmels oft dunkelblau erschien, dann die schmalen grünen Streifen, die oft am Saume des Wassers hingingen, und die anderen einzelnen Rasenflecke, die in dem Gesteine hie und da lagen, bildeten die ganze Abwechslung und Erquickung in dieFrancis Hutcheson, Inquirey into the original of our ideas of beauty and virtue 1725, deutsch: Über den Ursprung unserer Ideen von Schönheit und Tugend, Übers. W. Leidhold, Hamburg 1986, S. 126.
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Das Fehlen ›häßlicher‹ Landschaften
ser Gegend.‹ 51 – Uns erscheint das heute, angesichts der grauenvollen industriellen Überbauungen von Landschaften, wohl kaum als die Beschreibung einer ›abscheulichen, fürchterlichen Gegend‹, nicht einmal als die einer eintönigen Öde. * * * Nur selten achtete überhaupt jemand, wie Friedrich Theodor Vischer, auf Andeutungen des Negativen noch im Schönen der Natur. ›Nichts, was wir naturschön nennen, hält […] die genaue Betrachtung aus […] Wir dürfen nicht zu nahe hinsehen, weil wir sonst den Stempel der Naturgebrechen entdecken. Nur ein Bild steht frei über dem Qualm der Not, herausgehoben aus dem Komplex des Zufälligen.‹ 52 Auch Eduard von Hartmann bemerkte um 1886 in seiner Philosophie des Schönen: ›Das Naturschöne ist gleichsam bedeckt von den Wundmalen, die es selbst oder seine Vorfahren im Kampf der Individuen ums Dasein davongetragen haben.‹ 53 Und Ähnliches werden wir dann noch bei Theodor W. Adorno hören. 54 Darin wirkt allerdings noch die ältere Auffassung mit, wonach es Aufgabe der Kunst sei, das unvollkommene Bild der Natur idealisch zu vervollkommnen. Soweit ich sehe, steht dagegen der Versuch eines Karl Rosenkranz einzigartig dar, nicht nur von den Unvollkommenheiten und Übeln der Natur, sondern sogar von der Häßlichkeit der Landschaften zu sprechen. In seiner Ästhetik des Häßlichen von 1853 folgt er zwar durchaus noch der Auffassung Hegels, das Schöne sei die Idee, wie sie sich im Element des Sinnlichen als die freie Gestaltung einer harmonischen Totalität auswirke. 55 Aber Landschaft verschwindet für ihn nicht in ihrer religiösen Anbetung, um schließlich im Gefühl mehr und mehr gestaltlos zu werden. Er will sie nochmals zurückbinden an die ›Lineamente der Erdphysiognomik‹. 56 Doch darin tauchen fast unerwartet schon verloren geglaubte ›Häßlichkeiten‹ der Natur auf, in welchen das ganze Repertoire jener ›positiv häßlichen‹ Unförmigkeiten und Adalbert Stifter, Kalkstein, in: Bunte Steine, Leipzig 1965, S. 57. F. Th. Vischer, Das Schöne und die Kunst, a. a. O., S. 205. 53 Eduard von Hartmann, Philosophie des Schönen (ca. 1886)., Hg. R. Müller-Freienfels, Berlin 1924, S. 484. 54 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 97 f. 55 Karl Rosenkranz, Ästhetik des Häßlichen (1853), Leipzig 1996, S. 17. 56 Ebd., S. 23. 51 52
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Die Physiognomie der Landschaft
Mißgestalten wiederzufinden ist, von denen sich das Mittelalter angewidert gefühlt hatte: die Sümpfe und verkrüppelten Bäume, die Kröten und Molche, die Dickhäuter und glotzenden Fischungeheuer, 57 die Quallen, Spinnen und Eidechsen. 58 Schlangen dagegen rückten erstaunlicherweise zur schönen Natur auf, in die Nähe der Pferde. – Elemente und Bewohner von Landschaften werden also nicht per se, wie es bei Shaftesbury der Fall war, zu einer göttlichen und für Menschen unsichtbaren Schönheit gerechnet, in welcher die moralische Vollkommenheit Gottes zur Erscheinung kommen müsse. Rosenkranz unterscheidet ästhetisch verschiedene landschaftliche Typen: ›Die Landschaft ist entweder monoton, wenn eine der Naturgestalten in ihr elementarisch vorherrscht, der Berg, der Strom, der Wald, die Wüste usw.; oder sie ist kontrastierend, wenn zwei Formen sich einander entgegengesetzt sind; oder sie ist harmonisch, wenn ein Gegensatz in einer höheren Einheit sich auflöst. Jede dieser Grundformen kann durch den Wechsel der Tages- und Jahreszeiten eine unendliche Mannigfaltigkeit von Phasen durchlaufen. Auf die Beleuchtung vorzüglich kommt es an, welchen ästhetischen Eindruck eine Landschaft zu machen fähig ist. Eine Wüste kann erhaben, furchtbar erhaben sein, wenn die tropische Sonne sie als tiefliegende Sahara durchglühet; melancholisch erhaben, wenn der Mond der gemäßigten Zone sie als hochliegende Gobi mit seinem Silberlicht überschimmert. Aber jede der landschaftlichen Grundformen kann sowohl schön als häßlich sich gestalten. Die Monotonie, die im Ruf der Häßlichkeit steht, verdient denselben erst durch den Indifferentismus absoluter Gestaltlosigkeit, wie das bleifarbene, glatt stagnierende Meer unter grauem Himmel bei völliger Windstille.‹ 59 – Man sieht, daß selbst Rosenkranz nicht in der Lage war, eine durchweg ›positiv häßliche‹ Landschaftsformation zu benennen; so sehr wirkt ihre ästhetische Vergöttlichung nach. ›Monotonie‹ aber als das nur privativ ›Häßliche‹ folgt zum einen gerade aus der Vorherrschaft bestimmter Merkmale, zum andern aus dem damit verbundenen Verlust an Differenzialität. Sie drückt also nur das Fehlen von Schönheit aus, als würde der Gott plötzlich sein Antlitz unter grauem Tuch verhüllen.
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Ebd., S. 11. Ebd., S. 25. Ebd., S. 28.
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7. Erhabene Landschaften
Wo aber sind das Grauenvolle und Entsetzliche ›höllischer‹ Landschaften geblieben, deren Vorstellung sich an den Erscheinungen vulkanischer Feuerlandschaften, der Eiswüsten und Sümpfe, der Schlammlawinen und der Abgründe und Folgen von Erdbeben, zumal aber an den Erscheinungen der Zerstörungen durch Kriege, der Schlacht- und Leichenfelder gebildet hatten? Sind sie es nicht gewesen, die, im sicheren Abstand von ihnen, als ›häßliche Landschaften‹ erschienen, abgemildert zu bloßen Einförmigkeiten, Formlosigkeiten, Unförmigkeiten? Mir scheint, daß solche ›Häßlichkeit‹, sobald sie bestimmte Größenverhältnisse überschritt, die den Menschen vertraut waren, ästhetisch in der ›Erhabenheit‹ bestimmter Landschaften aufgehoben werden konnte, während sie bei Unterschreitung derselben vielleicht einen gewissen dissonanten Reiz ausüben kann. Mit dem Aufkommen bestimmter Techniken tritt zudem ein geschichtlicher Wandel ein. Eis- oder Sandwüsten, sogar Meere, ja ganze Planeten können ›erhaben‹ erscheinen, wenn sie von Flugkörpern aus betrachtet werden können, von denen aus gesehen dagegen Hochgebirge zu bloßen ›Fältchen‹ der Erdoberfläche zusammenschmelzen. Wie sich die Maßstäbe, Landschaften wahrzunehmen, abwandeln, wenn sie zu denen von Zwergen und Riesen werden, hat uns Jonathan Swift bereits 1726 in Gullivers Reisen verdeutlicht. Die an menschlichen Maßstäben orientierten Landschaften verkleinern sich für Gulliver bei den Zwergen von Liliput zu einem ›entzückenden Anblick‹ : ›Das Land erschien mir wie ein einziger großer Garten, in dem sich die miteinander abwechselnden Felder und Wälder wie Blumenbeete ausnahmen. Die höchsten Bäume waren nach meiner Schätzung etwa zwei Meter hoch.‹ 1 Dagegen erschien Gulliver die Höhe des Grases im Land der Riesen ›fast unheimlich‹, ›waren doch die Halme reichlich sechs Meter lang, so daß sie eigentlich wie schlanke Baumstämme aussahen‹. 1
Jonathan Swift, Gullivers Reisen, neu erzählt von E. E. Ronner, Wiesbaden o. J., S. 24.
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Erhabene Landschaften
Ein Fußpfad durch ein Gerstenfeld von zwölf Meter Höhe, ›das für mich eine unüberschaubare, goldgelbe Mauer bildete‹, kam ihm wie eine Heerstraße vor, und das Feld war umzäunt mit einer mindestens vierzig Meter hohen Hecke. ›Die Bäume, die sich in bestimmten Abständen daraus erhoben, ragten mit ihren Wipfeln so hoch in die Luft, daß ich ihre Größe gar nicht zu schätzen wagte.‹ 2 Doch bei allen Größenunterschieden findet Gulliver doch Anknüpfungspunkte zu Erscheinungen der ihm vertrauten Landschaften, da sowohl die Zwerge wie die Riesen in menschenähnlichen Verhältnissen lebten und ihre Umgebungen entsprechend ihren eigenen Größen waren. * * * Das wirklich Erhabene geht, wie mir scheint, aus der Unheimlichkeit hervor, wenn aus menschlichen Maßstäben gewonnene Größen weit überschritten werden, nicht aber, wenn sie unterschritten werden. In dieser Unheimlichkeit herrscht ein konfuses Ineinander des Abstoßenden, das bedrohend wirken und Ängste erregen kann, und des heimisch Anziehenden vor. In sicherem Abstand von ihm kann das unheimlich und ungeheuer Große als Beachtliches und Eindrucksvolles, ja als Großartiges schlechthin betrachtet werden. 3 Bestimmte Landschaften zeigen sich dann, wie Kant es in seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft darstellt, eingebettet in eine unermeßliche und ungeheure Größe der Natur (magnitudo statt quantitas), durch welche Landschaften an ihnen selbst die sinnliche Präsenz ihrer Erscheinungen zur Idee einer absoluten, unendlichen Ganzheit der Natur und deren Macht überschreiten. 4 ›Erhaben ist […] die Natur in derjenigen ihrer ErscheinunEbd., S. 104. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft § 23, in: Werke Bd. X, a. a. O., S. 329. Obwohl Kant meint, die Formen der Natur ›in ihrem Chaos oder in ihrer wildesten regellosesten Unordnung und Verwüstung, wenn sich nur Größe und Macht blicken läßt‹, erregten am meisten die Ideen des Erhabenen (ebd., S. 331), so nimmt er doch das Meer davon aus: ›So kann der weite, durch Stürme empörte Ozean nicht erhaben genannt werden. Sein Anblick ist gräßlich‹ (ebd., S. 330). 4 Ebd., S. 348. Zwar sagt Kant manchmal undeutlich, ›Erhabenheit sei in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserem Gemüt enthalten‹ (ebd., S. 353), weshalb man seine ästhetischen Überlegungen dem Subjektivismus zuschrieb. Tatsächlich aber erschließt dieses ›Gemüt‹ durchaus ›Gegenstände der Natur‹, allerdings so, daß ihre Anschauung die Sinnlichkeit der Erscheinungen durch die Einbildungskraft überschreitet zur übersinnlichen Vernunftidee absoluter Totalität. Wäre dem nicht so, könnte Kant die bloß 2 3
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gen, deren Anschauung die Idee der Unendlichkeit bei sich führt.‹ 5 So sei die ›Erhabenheit des bestirnten Himmels‹ 6 durch endlose Addition von Größen – etwa beginnend bei der meßbaren Größe eines ›Mannes‹ zu der davon vielfachen Größe eines ›Baumes‹, dann eines ›Berges, des Erddurchmessers, Planentensystems, der Milchstraße, der Nebelsterne‹ 7 – niemals zu erfassen, da es unmöglich sei, das Unendliche als bloß gegeben zu denken. 8 Durch die erhabene ›Stimmung des Gemüts‹ wird also durchaus eine bestimmte ›Gegenständlichkeit‹ der Natur erschlossen, die allerdings weder nur als phänomenon (im engen Sinne des bloß sinnlich Gegebenen) noch nur als noumenon (im Sinne eines bloßen ›Gedankendings‹) zu verstehen ist, sondern als Bilder der Einbildungskraft. Kant nennt letztere daher ›ästhetisch‹ und er weist den ästhetischen Gefühlen der Lust und Unlust durchaus die epistemische Funktion eines Gespürs für das Stimmige und Unstimmige in den Erscheinungsbildern zu. In Bezug auf das ›mathematisch Erhabene‹ mancher Landschaften deutet sich nun dieses ›Medium‹ zwischen Sinnlichkeit und Vernunft zugleich als jene verdrängte ›Weite‹ und ›Ferne‹ an, die weder als begrenzt noch als unbegrenzt zu denken sind und doch als Unbegrenztes im Begrenzten quasi im unbestimmten Schema eines Phantasmas eingebildet werden. – In Hinsicht auf das ›dynamisch Erhabene‹ gilt Ähnliches: In ihm werde eine absolute Macht der Natur erfaßt, gegen welche jeder denkbare gewaltsame Widerstand als verschwindend klein und nichtig anerkannt werden muß, wobei allerdings vorausgesetzt wird, daß der Betrachter sich empirisch in Sicherheit fühlen muß vor den tatsächlich wirkenden oder bedrohlichen Naturgewalten: ›Kühne überhangende gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean, in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u. d. gl. machen unser Vermögen zu widerstehen, in Vergleichung mit ihrer Macht, zur unbeempirisch-psychologischen Deutungen ästhetischer Gegenstände gar nicht so scharf zurückweisen. 5 Ebd., S. 342. 6 S. 360. 7 S. 243. 8 S. 347.
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deutenden Kleinigkeit. Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden.‹ 9 Kant scheint in solcher ›Sicherheit‹ die empirische Voraussetzung dafür zu sehen, das Gefühl eigener physischer Nichtigkeit angesichts der Naturgewalten in dem Gedanken an eine unzerstörbare, weil transzendente Freiheit der Selbstgesetzgebung aufzuheben. Demnach liegt in der ›Erhabenheit der Natur‹ eigentlich die Erhabenheit des Gedankens an eine rein geistige und daher unzerstörbare Daseinsweise. Die Abgründigkeit der Natur, in deren unbegrenzter Weite wir uns als physische Naturwesen völlig verlören oder die uns in ihrer unbeschränkten Macht gänzlich vernichtete, scheint sich ihrerseits in der Erhabenheit einer metaphysikfähigen, rein praktischen Vernunft in Nichts auflösen zu können – eine Vernunft, durch welche wir selbst uns frei und unabhängig zu denken vermögen von der vergänglichen eigenen und äußeren physischen Natur. Es scheint die Idee dieser Freiheit zu sein, die uns in ihrer Erhabenheit im Unfaßlichen der endlosen Weite, denen die Erscheinungen der Landschaften ausgesetzt sind, sowie im Unfaßlichen der uns fern bleibenden übermächtigen Naturgewalten zu begegnen scheint. * * * Arthur Schopenhauer, im Anschluß an Kant, betonte nun jedoch, daß die empirische Voraussetzung physischer Sicherheit (und die psychische Entspanntheit könnte hinzugefügt werden) nur eine flüchtige Entlastung vom Daseinsdruck überhaupt biete, 10 durch die es allerdings gelingen könne, als ›reines‹, nämlich unbedürftiges und begierdeloses ›Subjekt des Erkennens‹ einen Blick auf die Ideen zu gewinnen, die den endlosen Naturkämpfen als deren allgemeines Wesen zugrunde lägen. Wogegen diejenigen, die zur ästhetischen Anschauung unfähig sind, in solchen Zeiten der Bedürfnislosigkeit nur an der Öde und der Qual der Langeweile litten. Entsprechend liegt die von Schopenhauer gemeinte Erhabenheit in diesen gegenständlich gedachten Ideen selbst, nicht in der absolut transzendenten Idee freier Selbstgesetzgebung. Ebd., S. 349, Hervorhebung von mir. Mit dieser Entlastung vom Daseinsdruck formulierte Schopenhauer, was später die Naturschutz-Gesetzgeber als Funktion der Landschaften überhaupt bestimmten: ihre ständige Bereitstellung als Räume vorübergehender Erholung.
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Doch trage sie dazu bei, den bloßen Vorstellungscharakter dessen, was uns als Natur unermeßlich und übermächtig erscheint, zu durchschauen. Schopenhauer unterscheidet nun eine ganze Skala verschiedener Grade des Erhabenen: ›Versetzen wir uns in eine sehr einsame Gegend, mit unbeschränktem Horizont, unter völlig wolkenlosem Himmel, Bäume und Pflanzen in ganz unbewegter Luft, keine Tiere, keine Menschen, keine bewegten Gewässer, die tiefste Stille; – so ist solche Umgebung wie ein Aufruf zum Ernst, zur Kontemplation, mit Losreißung von allem Wollen und dessen Dürftigkeit: eben dieses aber gibt schon einer solchen, bloß einsamen und tiefruhenden Umgebung einen Anstrich des Erhabenen.‹ 11 ›Lassen wir nun aber eine solche Gegend auch von Pflanzen entblößt sein und nur nackte Felsen zeigen; so wird, durch die gänzliche Abwesenheit des zu unserer Subsistenz nötigen Organischen der Wille schon geradezu beängstigt: die Öde beginnt einen furchtbaren Charakter; unsere Stimmung wird mehr tragisch.‹ 12 Man darf annehmen, daß Schopenhauer hier zumal an die Wüsten dachte, in denen kein ständiges Überleben möglich ist, die aber der Reisende durchquert, der Eremit oder der Betrachter vorübergehend aufsucht. – Ein höherer Grad des Erhabenen wird sich erst unter den wilden Bewegungen der Natur zeigen: ›Helldunkel, durch drohende schwarze Gewitterwolken; ungeheure, nackte, herabhängende Felsen, welche durch ihre Verschränkung die Aussicht verschließen; rauschende, schäumende Gewässer; gänzliche Öde; Wehklage der durch die Schluchten streichenden Luft.‹ 13 Nur wenn die persönliche Bedrängnis nicht die Oberhand gewinne, vermöge man in der ästhetischen Betrachtung zu verbleiben und unerschüttert auf das Wesen jener Naturkämpfe blicken. – Mächtiger noch sei der Eindruck, wenn wir uns den Kampf empörter Naturkräfte im Großen vor Augen halten, etwa wenn wir am weiten, im Sturme empörten Meer stehen: ›Häuserhohe Wellen steigen und sinken, gewaltsam gegen schroffe Uferklippen geschlagen, spritzen sie den Schaum hoch in die Luft, der Sturm heult, das Meer brüllt, Blitze aus schwarzen Wolken zucken und Donnerschläge übertönen Sturm und Meer.‹ 14 Gegen das ›Gespenst eigener Nichtigkeit‹ 11 12 13 14
Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, a. a. O., S. 240. Ebd., S. 241. Ebd. Ebd.
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könnten wir uns jedoch bewußt machen, daß diese Welt nur unsere Vorstellung sei, so daß sich unsere Abhängigkeit von ihrer Größe in ihre Abhängigkeit von uns verkehre. 15 Für den durch keine Triebregungen erschütterten Betrachter, wie Schopenhauer meint, verkehrt sich also das Kantische Verständnis der Natur als ›Erscheinung‹ (von einem nur noumenal denkbaren Ding an sich) in eine Natur bloßen Scheins, hinter dem Nichts stehe. Erstmals bezieht sich Erhabenheit auf eine ›Erkenntnis‹ der Nichtigkeit des Ganzen, von wo aus sich der Gedanke Friedrich Nietzsches im Also sprach Zarathustra aussprechen konnte, daß Gott nicht nur tot sei, sondern ermordet wurde. * * * Zuvor war es bereits die grundsätzliche Unerreichbarkeit dieser in der Natur über sie hinaus wirkenden Göttlichkeit, welche unbegrenzte Sehnsüchte auslöste, ehe sie, in Nihilismus umschlagend, die gänzliche Psychologisierung ästhetischer Stimmungen (8.) einleitete, indem diesen ihr Gegenstandsbereich, die Landschaften selbst, entzogen wurde. Es kehrte zunächst die Ferne, Weite und Fremde zurück, die in den ›verleiblichten‹ und heimatlich vertraut gemachten Landschaften verdrängt worden waren. Novalis schilderte sie als Sehnsucht nach Landschafts-Anschauung überhaupt. In seinem Romanfragment Heinrich von Ofterdingen von 1802 spricht er von des Jünglings ›Träume[n] von unabsehbaren Fernen und wilden, unbekannten Gegenden, deren heilige Stille er durchstreift nach der hohen lichtblauen Blume‹. 16 Und Eichendorff beschrieb 1815 in Ahnung und Gegenwart den Blick ›von einem Berge in ein unbekanntes, weites, nächtliches Land‹ : ›Da gehen stille breite Ströme, und tausend verborgene Wunder liegen seltsam zerstreut, und die fröhliche Seele dichtet bunte, lichte, glückliche Tage in die verworrene Dämmerung hinein.‹ 17 Und selbst noch ein Denker wie Friedrich Theodor Vischer spricht in seinen Texten zur Ästhetik von 1837 davon, ›daß die weite Ferne unsere Phantasie in die epische Breite des Universums hineinlocke, in ein Reich von Geistern, in das
Ebd., S. 242. Novalis, Heinrich von Ofterdingen (1802), in: Sämtliche Werke, Bd. 2, München 1923, S. 233. 17 Joseph von Eichendorff, Ahnung und Gegenwart (1815), Stuttgart 1984, S. 74 f. 15 16
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man sich träumend hinübersehne‹. 18 Allerdings liefert er bereits, mit der Geste der Desillusionierung, eine nur noch psychologische Erklärung dafür mit: ›Was uns umgibt, befehdet uns […] Deshalb tut uns die Ferne wohl. Deshalb wirken die Gegenstände nur in Distanz.‹ 19 Auch Georg Fechner folgt in seiner Vorschule der Ästhetik von 1876 noch den Vorgaben Kants. 20 Allerdings bemißt er die ›Einheit des Mannigfaltigen‹, welche für die Landschaften so charakteristisch sei, letztlich an einer höchsten ›Weltseele‹, auch wenn er methodisch das ästhetisch Wohlgefallende nicht, wie Hegel, aus einem obersten Prinzip, von einer absoluten Idee, abzuleiten, sondern ›von unten‹, von elementaren Assoziationen her, aufzubauen suchte. Die Reize elementarer Gestalten und die ihnen entsprechenden Empfindungen sollen in ihrem assoziativen Aufbau zu höheren Formen bis hin zu dieser ›Weltseele‹ verfolgt werden. – Doch angesichts der Landschaft stößt er schnell auf die Undurchführbarkeit einer solchen Methode: Ein Blindgeborener – so beginnen seine Darlegungen –, der durch eine Operation erstmals zum Sehen gelangt, würde eine Landschaft wie ein marmoriertes Blatt wahrnehmen, denn er vermag noch nicht, in dem Gesehenen dessen Bedeutung mit zu erfassen. Nur helle, dunkle und farbige Flecken bemerke er anstatt Wiesen, Felder, Wälder, Berge, Seen. Erst die Sinnfälligkeit präge uns landschaftliche Gestalten aus und diese seien begleitet von dem ›Gefühl eines weittragenden Blicks‹. 21 Ähnlich wie Vischer bemerkt er, es liege – im Unterschied zur Anstrengung des Nahsehens – in der Weite des Blicks eine Art sinnlicher Erholung oder Erquickung des Auges. 22 Die Auffassung, der Genuß betrachteter Landschaften beruhe auf einer vorübergehenden Entlastung vom Daseinsdruck, leitet wachsend zu psychologischen Erklärungen ästhetischer Phänomene. Zugleich sagt diese vitale und psychische Erlebnis-Funktion von Landschaft als Entlastungs- und Erholungsraum nichts mehr über ihren ästhetischen Wert aus. Sie ist kaum mehr denn eine Reaktion der Massen auf den Stress wachsender Verstädterung. Fechner kann daher nur andeuten, daß harmonischFriedrich Theodor Vischer, Über das Erhabene und Komische und andere Texte zur Ästhetik (1837), Frankfurt a. M. 1967, S. 82. 19 F. Th. Vischer, Das Schöne und die Kunst. Zur Einführung in die Ästhetik (um 1858), Stuttgart 1898, S. 206. 20 Gustav Theodor Fechner, Vorschule der Ästhetik, 2 Teile, Leipzig 1976. 21 Ebd., S. 125. 22 Ebd., S. 127. 18
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rhythmische Verhältnisse von Farben und Formen ›irgendwie‹ zum Träger höherer ›landschaftlicher Bedeutungen‹ würden: zu Landschaftstypen idyllischer, sentimentaler, romantischer, märchenhafter oder historischer Art, mal als ›reine‹ Landschaften wie einsame Gebirgsgegenden, Walddurchsichten oder Felsen am brandenden Meer, mal durch Bauwerke mitbestimmt, die entweder, wie Dörfer und Burgen, in die Natur eingewachsen seien oder mit ihr brechen wie die Fabrikgebäude oder die Bahnhöfe. Allerdings, so bemerkt er noch, gingen die psychischen Assoziationen, aus denen uns eine Landschaft entstehe, weit über alles Sichtbare hinaus. Zum bestimmten landschaftlichen Eindruck trage alles bei, was wir je gesehen, gehört, gelesen, erfahren, gedacht haben, Vergleichsvorstellungen ebenso wie Erinnerungen. All das verschmelze mit der sinnlichen Unterlage zu etwas Unsagbarem, Unerschöpflichem, Unerklärbarem, voller Assoziationskreise, die sich ineinander unbestimmt verzweigen. 23 Zwar hält auch Fechner noch an der Humboldt’schen Idee einer ›Totalwirkung der wirklichen Landschaft‹ fest. 24 Doch der Sinn der Landschaft scheint sich in vagen Stimmungen aufzulösen.
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Ebd., S. 126. Ebd., S. 127.
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8. Landschafts-Stimmungen
Bis heute werden Landschaften vorrangig vom visuellen Bild her, geschult an den Landschaftsgemälden, aufgefaßt. Doch suchte man ab Ende des 18. Jahrhunderts, zumal in Deutschland, Landschaften durch die Musik hindurch zu verstehen, und man übernahm den Ausdruck ›Stimmung‹, wie die Musiktheorie ihn verwendet, um Landschaften zu beschreiben. Rasch jedoch wurde der Ausdruck ›Stimmung‹ psychologisiert, und seither will man damit etwas besonders ›Subjektives‹ betonen, nämlich die Gemüts- oder Gefühlsweisen, durch welche Landschaften ›erlebt‹ würden. Daß vielleicht umgekehrt dieses ›menschliche Subjekt‹ erst durch Stimmungsweisen der Landschaften seine eigenen zu finden vermochte, tauchte nicht einmal als Frage auf. – Es wird im Folgenden darum gehen, diese psychologistische Auffassung von ›Stimmung‹ zu dekonstruieren, um deren ursprünglich musikalischen Sinn zurückzugewinnen. Erst dann wird sich zeigen, in welchem Sinne sowohl das Erscheinungsbild wie die Bilderscheinung von Landschaften nicht allein durch Anschauungen der Einbildung, sondern zugleich durch Stimmungen erfaßt werden.
8.1. Die Rede von ›Stimmung‹ Die Erhabenheit mancher Landschaften (7.), welche die unfaßbare Größe und Kraft der Natur als göttlicher Schöpfung schien offenbaren zu können, hatte sich schon lang zuvor auch im antiken Bezug zum Göttlichen, noch in dessen Verschwinden, bekundet. Es ist, als hätte sich die erhabene Wesenheit eines Zeus oder einer Hera in den Nachwehen einer Aura erhalten. 1 Das aber gälte dann nicht minder von den AtmoWalter Benjamin verwandte den Begriff der ›Aura‹ in Hinsicht auf individuelle und einmalige Gegenstände, während der Begriff der Stimmung weit mehr umfaßt. Von ihm stammt immerhin die erstaunliche Bemerkung, die ›Aura‹ von natürlichen Gegen-
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sphären anderer Gottheiten: wie die verzaubernde Anmut einer Aphrodite, der kühle Glanz einer Artemis, der strahlende Ernst eines Apollon, die hinaustreibende Festlichkeit eines Dionysos, das bedrohlich Gewaltsame eines Ares oder düster Unheimliche eines Hades und überhaupt das Scheue, das vertraulich Bergende, Verlockende, Einladende oder das feindselig Entgegentretende all der vorolympischen Naturgottheiten, deren ungreifbarer Duft allein zurückgeblieben ist, ohne sich der klaren und unterschiedenen Allgemeinheit der Begriffe zu fügen. All diese bestimmt-unbestimmten auratischen Sphären hatten in Hintergründe zurückzutreten, damit die furchtbare Erhabenheit des Einen allmächtigen Gottes zur alleinigen Herrschaft kommen konnte, ehe auch diese in bestimmte Naturerscheinungen einzutauchen begann. Doch die ›Duftnoten‹ des Göttlichen geisterten noch fort, ehe man versuchte, diese vollends zu vertreiben, indem man sie auf rein menschliche Gemütszustände zu reduzieren suchte. Mit der ›Erhabenheit der Landschaft‹ war zugleich das zurückgekehrt, was unter den Bildern ihrer ›leibhaftigen Nähe‹ und ›vertrauten Heimatlichkeit‹ verdeckt geblieben war: ihre Offenheit der Horizonte zur Ferne, Höhe, Weite und Tiefe, wodurch das Freie der Landschaft zugleich als das Fremde sich zeigte, das auf keine Weise mehr anzueignen ist. Es war vor allem die Landschaftsmalerei (10.), welche die Seinsweisen landschaftlicher Räume aufdeckte, und die zwischen dem Zeitalter der Empfindsamkeit und dem der Romantik dort große Sehnsüchte auslösen konnte, wo sie durch keine großen, abenteuerlichen Entdekkungs- und Kolonisierungsreisen mehr erfüllbar schienen. Diese Offenheit aber sprengte den begrenzten Charakter des Bildes, und eben diese Sprengung war von manchen Gemälden ihrerseits dargestellt worden. – Der ›erhabenen Landschaft‹ entsprach nun aber als Gegenstück nicht etwa eine ›niedliche, zierliche, zarte Landschaft‹ ; dergleichen läßt sich nicht einmal von Landschaftsparks, allenfalls von Teilen eines Gartens sagen. Man setzte der erhabenen eher die holde, liebliche, anmutige Landschaft entgegen, die irgendwo in der Mitte zu lie-
ständen sei als einmalige Erscheinung einer Ferne definiert. Man ›atme‹ die Aura dieser Berge und Zweige an einem Sommernachmittag. Den Verfall der Aura erklärt er mit der Gier der Massen, sich ›die Dinge räumlich und menschlich näherzubringen‹, vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M. 1963, S. 18.
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Die Rede von ›Stimmung‹
gen schien zwischen prachtvoll üppigen und schlichten, gar ärmlichen oder öden Landschaften. – Die Schönheit der Landschaften, sofern deren Befremdlichkeit Staunen auslöst und nicht bloß vom heimatlich Angenehmen und Wohltuenden verdrängt wird, – solche landschaftliche Schönheit begann man ab Ende des 18. Jahrhunderts über einen anderen Ausdruck zu beschreiben, der ebenso den Wandel der Landschaftsbilder in den verschiedenen Tages- und Jahreszeiten und deren atmosphärische Wechsel einzubegreifen schien wie die wechselnden Befindlichkeiten der Menschen: die Stimmung. Zunächst wurden den Landschaften selbst wechselnde Eigenschaften zugeschrieben, mit denen heute gewöhnlich ihre Tageszeiten und Wetterlagen charakterisiert werden: Das Klare, Helle, Sonnige, Leuchtende bleibt ebenso in der heiteren Landschaft erinnerbar, wie das Dunstige, Neblige, Bewölkte, Dämmernde in der trüben Landschaft und das Gewittrige, abgründig Dunkle und Finstere in der düsteren Landschaft. Im Rahmen der üblichen Erklärungen im Subjekt-Objekt-Schema wurden diese, das Atmosphärische betreffenden Eigenschaften dann auf solche Gefühlsweisen der Menschen übertragen, die von jenen ausgelöst schienen. 2 So spricht man auch von einem ›heiteren, trübsinnigen, düsteren‹ Gemüt. Allerdings wurden Erscheinungsweisen ›fröhlicher, vergnüglicher, lustvoller, ausgelassener‹ Gefühle nicht direkt auf Landschaften selbst übertragen, so wenig wie diejenigen ›trauriger, gedrückter, leidvoller, schmerzlicher‹ Gefühle, schon weil diesen eine Bewegtheit eignet, die man Landschaften gerne dann abspricht, wenn man in ihnen nur Länder und Ländereien erblicken will. Es wurden, wie man meint, die Neigungen und Verhaltensweisen von Menschen gegenüber Landschaften auf diese selbst übertragen. So spricht man von ›einladenden, freundlichen, reizvollen, berückenden‹ Landschaften oder von ›uninteressanten, reizlosen, langweiligen‹ oder von ›unwirtlichen, niederschlagenden, abstoßenden‹ Landschaften. – Das eigentliche Medium nun, dem Dinge wie Menschen gleichermaßen angehören und das somit zwischen den gegenständlich bestimmbaren Erscheinungen der Landschaften und den ungegenständlichen Gemütslagen der Menschen vermittelt, scheint die ›Stimmung‹. Denn man hatte wohl bemerkt, daß Stimmungen weder einfach sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften von Landschaften noch dasselbe wie Gefühle sind, die je nur Auf banalisierende Weise wurden sie thematisiert von: Gernot Böhme, Atmosphäre, Berlin 2013.
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einzelnen lebendigen Individuen zugeschrieben werden; auch wenn Stimmungen erst im Gespür der Gefühle erschlossen und erlebbar werden. Man redet von eisiger Winterstimmung oder farbiger Herbststimmung einer Landschaft, von stürmisch bewegten oder von ruhigen, ernsten oder sanften, milden Morgen- und Abendstimmungen derselben. Die einzeln wahrnehmbaren Eigenschaften der Landschaftselemente zeigen sich eingebettet in unbestimmt-allgemeinen, stimmungsvollen Milieus. Solche Stimmungen können leicht und erfreulich anmuten, gar festlich scheinen, öde und leer oder elegisch, schwermütig und trostlos. Das heißt, man überträgt auch umgekehrt Bezeichnungen von Stimmungen, in denen sich Menschen befinden, auf Landschaften. Fälschlich aber schloß man daraus, Stimmungen seien bloß ›psychische Projektionen‹ auf äußere Gegenstände und deren Lagen. Man glaubt, jene selbst seien nur Arten vager Gefühle und Erlebnisse, die man in die eigene Umwelt hineintrüge oder wie einen Schleier über sie legte, teils launisch wandelbar, teils beständiger wie die Temperamente. Es ist jedoch leicht ersichtlich, daß für jemanden, der in Angst befangen ist, eine heitere Landschaftsstimmung nicht zur düster-bedrohlichen wird, mag er deren Heiterkeit auch zur gleichen Zeit selbst nur sehr schwach spüren. In den Worten Max Schelers: ›So scheinen die Heiterkeit, die Erhabenheit oder die Düsterheit einer Landschaft, die diesen Sachen selbst (an denen die Werte zu haften scheinen, Anm. v. m.) anhaften – als feste Charaktere, die mit unseren Gefühlszuständen durchaus nicht variieren (eine düstere, traurige Landschaft wird nicht heiter und hell dadurch, daß ein so gestimmter Mensch hindurchgeht, und sie wird es auch nicht für einen Menschen) –, häufig auf uns selbst überzufließen. Wir können solche Charaktere prinzipiell erfassen, ohne die Gefühle, d. h. die Ichzustände derselben Qualität, schon erlebt zu haben.‹ 3 – Wie aber ist die Erfassungsweise einer Stimmung, in der wir selbst uns gerade nicht befinden, zu verstehen? Wie können wir die melancholische Stimmung einer Landschaft bemerken, obwohl wir selber fröhlich gestimmt sind?
Vgl. Max Scheler, Vom Umsturz der Werte. Die Idole der Selbsterkenntnisse, in: Gesammelte Werke, Bd. 3, Bern 1955, S. 262–263.
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Die musikalische ›Stimmung‹
8.2. Die musikalische ›Stimmung‹ Es fällt auf, wie ich schon andeutete, daß Ende des 18. Jahrhunderts Landschaften nicht mehr vorrangig über architektonische Bilder ihrer Grundlagen, Aufbauten und Konstruktionen, noch über malerische Bilder von Licht-, Farb- und Schattenspielen beschrieben werden, sondern mehr und mehr durch den aus der Musik stammenden Ausdruck ›Stimmung‹. Man suchte mit diesem Ausdruck nicht etwa eine Analogie zu den manchmal orchestral anmutenden Geräuschen und Tönen, welche Landschaften wesentlich mitprägen, nämlich die Schallerscheinungen der Winde und Stürme im Blattwerk der Bäume, in den Gräsern, an den Felsen und Gebäuden; die der Gewässer wie den sprudelnden Quellen und plätschernden Bächen, den Wasserschnellen und -fällen der Flüsse bis hin zum Wellenschlag der Seen und Meere an den Küsten und die fallender Regen; oder die Schallerscheinungen bestimmter Tiere wie das Muhen der Kuhherden, Blöken der Schafe, Bellen von Hunden oder Füchsen, Krächzen, Zwitschern und Singen der Vögel; schließlich die Geräusche der Gewitter, der Menschen und ihrer Maschinen. Man begann vielmehr, im Europa der essayistischen und poetischen Literatur, Landschaften überhaupt nicht mehr vorrangig auf der statisch-räumlichen Grundlage der Erdoberfläche zu sehen, sondern als rhythmisch oder taktlos bewegte, melodiös oder unmelodisch verlaufende, harmonisch oder unharmonisch ›komponierte‹ zu erleben. Landschaftliche Rhythmen können rasch und lebhaft, fröhlich und beschwingt oder getragen, langsam, ruhig, melancholisch sein. Landschaftliche Erhebungen und Senkungen können wie Melodieführungen ansteigend und absteigend, von wachsender Spannung oder Spannungslosigkeit sein, gleichsam in harmonischen oder disharmonischen Akkorden bestehend aus senkrecht nach oben strebenden Bäumen, ansteigenden Bergen und waagrecht dahingleitenden Wiesen, Feldern und Gewässern. In den Landschaften durchdringen sich verschiedenste Stimmungen wie etwa der drohende Felsen um Ufer eines lieblichen Sees und der düstere Wald an seinem anderen Ufer; mag auch jeweils eine derselben, nämlich die heitere oder trübe Atmosphäre, überwiegen. Das ganze wogende, mal mehr dramatische, mal eher elegische oder idyllische Milieu der Landschaften, in welches die einzelnen Elemente mitsamt dem Betrachter selbst einbezogen sind, kann aus Zusammenflüssen zu gleichsam mehrstimmigen Einklängen bestehen. Doch vergessen wir nicht: Zu ihnen selbst gehören die Natur153 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Landschafts-Stimmungen
katastrophen, in denen sie auf ganz andere, vielleicht unrhythmische Weise zusammenbrechen, im Unterschied zu ihren von außen kommenden Zerstörungen durch gewalttätig häßliche Überbauungen. – Dieser Wandel der Landschafts-Anschauung vollzog sich in einer Zeit, die bis heute nachklingt, nämlich in einer Rückübertragung landschaftlicher Stimmungen in die Werke der Musik, die ihre eigenen Stimmungsarten ausbildeten, so etwa in den Vier Jahreszeiten von Vivaldi, in der Pastorale von Beethoven, im Waldesdunkel von Webers Freischütz, in Wagners Siegfried-Idyll, in Debussys L’Après-Midi d’un Faune und in vielen anderen bis zur Gegenwart. Wie aber sind solche Übertragungen von Stimmungsarten zu verstehen, da sich ja keineswegs ein landschaftliches Milieu in einem musikalischen oder umgekehrt ›abbilden‹ läßt? Entscheidend für die Beziehung von Landschaft und Musik war, daß man Landschaften nicht mehr nur von einem Stand-punkt aus betrachtete, sondern ihre Zeitlichkeit gehend, wandernd oder fahrend und heute zudem fliegend erschlossen wurde (und insofern ist der Wandel ihrer Anschauung auch technisch bedingt). Zugleich schließt diese ›Musikalität‹ der Landschaften an älteste pythagoreische Gedanken an, in welchen die Gesetze der Tonverhältnisse vom ganzen Kosmos ausgesagt worden waren. – Und doch ist in diesen Beschreibungen der Stimmung bereits die Verkümmerung des Gedankens zu einer angeblich ›bloß‹ psychisch motivierten Metapher angelegt. Es scheint mir deshalb wichtig, kurz die Herkunft des Wortes ›Stimmung‹ zu streifen. Wir werden dadurch auf den Grund der gewöhnlichen Meinung stoßen, Landschaften und Menschen befänden sich in einer Stimmung, in welcher sie zugleich übereinstimmten. Fragt man, woher diese unzureichende Auffassung stammt, wird man verwiesen auf den musikalischen Begriff der ›Stimmung‹, der seinen Ausgang nahm von der musikalisch notwendigen Übereinstimmung bezüglich eines festgelegten Grundtons. Der ›Grundklang‹, so konnte daher Hegel schreiben, ›schlage vornehmlich einen Gemütston an‹ : ›Es geht damit wie in einer Landschaft, wo auch die verschiedenartigsten Gegenstände uns vor Augen gestellt sind und doch nur ein und dieselbe Grundstimmung und Situation der Natur das Ganze belebt.‹ 4 – Doch wie einleuchtend kann
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Musik, in: Vorlesungen über die Ästhetik Bd. III, Werke Bd. 15, Hg. E. Moldenhauer u. a., Frankfurt a. M. 1970, S. 201.
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Die musikalische ›Stimmung‹
uns heute noch der verbreitete Brauch scheinen, ›Stimmung‹ von einer musiktechnisch hergestellten ›Übereinstimmung‹ her zu ›bestimmen‹ ? * * * Noch Ende des 18. Jahrhunderts finden wir im Grammatisch-Kritischen Wörterbuch von Johann Christoph Adelung kein Stichwort ›Stimmung‹. 5 Das Verb ›Stimmen‹ bedeutete, auch im Anschluß an Grimms Wörterbuch 6, zunächst ›die Stimme ertönen lassen‹, wurde dann übertragen auf das ›Verlautenlassen‹ der eigenen Ansichten, Meinungen, Absichten, gewöhnlich mit dem Ziel, ›Einstimmigkeit‹ und ›Übereinstimmung‹ mit anderen zu finden oder Unstimmigkeit festzustellen, was vielleicht wiederum zu Abstimmungen aufforderte. Die Substantivierung des Verbs ›Stimmen‹ zu ›Stimmung‹ hatte sich in der Musikpraxis ab dem 16. Jahrhundert vollzogen. Galt es doch – auf der Grundlage schon zuvor festgelegter Intervalle der Tonabstände untereinander und der bestimmten Tonart –, die mehrstimmigen Gesangsstimmen und überhaupt die zusammenspielenden ›Stimmen‹ der Instrumente über eine festgelegte ›absolute Tonhöhe‹ jeweils auf einen gemeinsamen ›Stimmton‹ als Grundton einzustimmen und zur ›Stimmung‹ zu bringen. ›Stimmung‹ ist, qua Einklang, das Ergebnis eines gemeinsamen Abstimmens auf diesen Grundton, der Zustand des Gestimmtseins. Es legte sich daher zunächst von der Musiktheorie her nahe, ›Stimmungen‹ stets als maßgerechte, nämlich stimmende und stimmige aufzufassen, von denen Unstimmigkeiten, Verstimmungen und Mißstimmungen möglichst fern zu halten seien. ›Stimmung‹ konnte dann vom ganzen Verlauf der Musikstücke mit ihren Rhythmen, Melodien und Harmonien ausgesagt werden. Erst davon abgeleitet wurde dann von den unterschiedlichen ›Gefühlsstimmungen‹ gesprochen, welche etwa durch die Tonarten Dur oder Moll ausgelöst würden. Von da her wurde schließlich ab Ende des 18. Jahrhunderts ›Stimmung‹ auch auf das Atmosphärische der Landschaften übertragen, sofern sie, ebenso wie die Musikstücke, bestimmte ›Gemütslagen‹
Johann Christoph Adelung, Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart Bd. 4, Stichwort ›Stimmen‹, Leipzig 1793–1801, S. 383. 6 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Stichwort ›Stimmung‹, Berlin 1971. Vgl. auch das Stichwort ›Stimmung‹ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Hg. J. Ritter u. a., Basel 1971–2007. 5
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der Menschen hervorzurufen geeignet schienen und diese abwandeln, dämpfen oder verstärken konnten. In Pierer’s Enzyklopädisches Wörterbuch wird sogar noch 1824 ›Stimmung‹ rein musikalisch definiert als die ›nach einem festen Stimmtone angenommene, aus diesem Ton sich ergebende Übereinstimmung der Oktaven und anderer Intervalle eines Instruments, oder die gleichförmige Übereinstimmung aller Instrumente eines ganzen Orchesters‹. 7 Zur selben Zeit jedoch wurde die ›musikalische Stimmung‹ bereits auf das übertragen, was sie erst hervorrufen konnte: auf einen bestimmten Gemütszustand. An sich heißt das nichts anderes, als daß auch Menschen sich in bestimmten Stimmungen befinden, was sie über das Gespür ihrer Gefühle zu erfassen vermögen. Doch eine Psychologisierung des Ausdrucks wurde bereits bei Kant, Schelling und Hegel eingeläutet und seither ungebrochen als bloßer Gemütszustand aufgefaßt. Mayers Großes Konversationslexikon des 19. Jahrhunderts bestimmt entsprechend ›Stimmung‹ als einen Gemütszustand, an welchem eine ›Grundstimmung‹ als ›relativ beharrlichem Zustand des Gemüts, in dem allen einzelnen Erlebnissen eine (von ihrer Beschaffenheit unabhängige) gleichmäßige Gefühlsfärbung sich mitteilt‹, unterschieden wird von anderen, häufig schwankenden und leicht beeinflußbaren Stimmungen. 8 Nun ist allerdings, wie mir scheint, die Erinnerung an den musiktechnischen Sinn der ›Stimmung‹ nicht nur im Denken Kants noch nicht ganz erloschen, sofern er nämlich auf einer nicht weiter thematisierten Differenz zwischen ›Stimmung‹ und ›Gefühl‹ besteht: Durch den Gedanken eines ›Gemeinsinns‹ (sensus communis), auf dem die Möglichkeit, Gefühle mitzuteilen, beruhe, vermeidet Kant in seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft, eine bloß kurzschlüssige Identifizierung von ›Gefühl‹ und ›Stimmung des Gemüts‹. 9 Er spricht von einer ›Stimmung‹, die selbst je nach der Verschiedenheit der Objekte ›verschiedene Proportionen‹ hätte: ›Und diese Stimmung kann nicht anders als durch Gefühl (nicht nach Begriffen) bestimmt werden. Da sich nun diese Stimmung selbst muß allgemein mitteilen lassen, mithin auch Pierer’s Enzyklopädisches Wörterbuch, Stichwort ›Stimmung‹, Altenburg 1824–36. – Auf die ›musikalische Herkunft‹ des Ausdrucks ›Stimmung‹ wird auch im Historisches Wörterbuch der Philosophie, Hg. J. Ritter, Basel 1971–2007 verwiesen. 8 Meyers Großes Konversationslexikon, Stichwort ›Stimmung‹, Leipzig und Wien, 6. Auflage, 1905–09. 9 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, a. a. O., S. 253 und S. 358. 7
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Landschaftsstimmung bei Schelling und Hegel
das Gefühl derselben (bei einer gegebenen Vorstellung); die allgemeine Mitteilbarkeit eines Gefühls aber einen Gemeinsinn voraussetzt: so wird dieser mit Grund angenommenen werden können, und zwar ohne sich deshalb auf psychologische Beobachtungen zu fußen.‹ 10 Es scheint demnach so, als suchte Kant ›Stimmung‹ noch als ein allgemeines, aber ›proportioniertes musikalisches Medium‹ der Mitteilbarkeit von Gemütszuständen zu betrachten, das diesen vorhergehe. ›Gefühle‹ erschöpfen sich nicht im Erleben dieser oder jener Subjekte, sondern fungieren dort noch als unterscheidendes Gespür für das Stimmige (oder Unstimmige) von Stimmungen, wo die Unterscheidungskraft logischer Begriffe nicht mehr hinreicht. Eine Spur des musikalischen ›Zusammen- und Übereinstimmens‹ blieb so in dem gewahrt, was Kant, im Unterschied allerdings zum consensus oder dissensus, den sensus communis genannt hatte.
8.3. Landschaftsstimmung bei Schelling und Hegel Bereits im Landschaftsdenken Schellings wird diese Differenz von Stimmung und Gefühl verwischt und die Stimmung wird zu einem rein subjektiven, psychischen Faktor. In seinen Vorlesungen zur Philosophie der Kunst von 1802/03 wies er den Gedanken zurück, Landschaften könnten, wie die Physiognomiker annahmen, ein eigenständiges organisches Gebilde sein; 11 obwohl Schelling zugleich noch an der ›Idee einer lebendigen, schaffenden Natur‹ festhielt. 12 Damit warf er aber das Problem auf, wie ›Landschaft‹ überhaupt als etwas ›endlich Unorganisches‹ eines ›unendlichen göttlichen Organismus‹ zu verstehen sein sollte. Schelling wich der Frage mit der wenig einleuchtenden Behauptung aus, der Landschaft fehle jede eigene Formbestimmung. So wurde sie für ihn zu einer Art Phantom, das nur noch im Auge des subjektiven Betrachters Realität habe. 13 Sie selbst könne bloß eine zufällige empirische Wahrheit beanspruchen. Es seien gerade nicht inne-
Ebd., S. 322. Friedrich W. J. Schelling, Philosophie der Kunst (1802/03, veröffentlicht 1857), a. a. O. 12 Friedrich W. J. Schelling, Über das Verhältnis der bildenden Künste zur der Natur (1807), Hamburg 1983, S. 7. 13 Friedrich W. J. Schelling, Philosophie der Kunst, a. a. O., S. 188. 10 11
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Landschafts-Stimmungen
re, sondern äußere und gewaltsame Ursachen, welche die Form, den Abhang der Berge und die Schweifung der Täler, bestimmten. 14 Doch selbst wenn man annähme, die Gründe und Gesetze der Bildung vor uns ausgebreiteter Landschaften seien bekannt, etwa der Lauf des Flusses, soweit er Berge und Täler forme, oder die Gewalt unterirdischer Feuer, soweit sie zerstöre, aber auch Ströme der Üppigkeit über eine Gegend ausgieße; so sei doch das jeweilige Licht, der Grad der Erleuchtung oder Dämpfung, der auf dem Ganzen liege, zufällig. Das Licht ist ›beweglich, insofern lebendig, aber unorganisch‹ 15. Daher habe Landschaft weder eine eigene organische Gestalt, die sich mit Notwendigkeit und Freiheit bildend auf sich selbst beziehe, noch kann sie Teil einer solchen sein. Sie sei vielmehr ein ›formloses Wesen‹ 16. Das Höchste, was daher die Landschaftsmalerei zu erreichen vermöge, sei, die Landschaft selbst wieder ›als eine Hülle‹ zu gebrauchen, ›durch die sie eine höhere Art der Wahrheit durchscheinen lasse‹ : ›Aber eben nur die Hülle wird dargestellt, der wahre Gegenstand, die Idee, bleibt gestaltlos, und es ist von dem Betrachter abhängig gemacht, sie aus dem duftigen und formlosen Wesen herauszufinden.‹ 17 ›Es ist nicht zu leugnen, daß Verhältnisse des allgemeinen Lichts zu einem ausgebreiteten Ganzen von Gegenständen, je nachdem es offenbarer oder verhüllter, stärker und unterschiedener, oder schwächer und gleichsam schwimmender über der Natur liegt, gewisse Zustände der Seele hervorrufen, auf eine indirekte Weise Ideen, oder vielmehr nur Geister von Ideen wekken, und nicht selten vor unseren Augen den Schleier hinwegheben, der uns die unsichtbare Welt bedeckt. Allein alle Anschauung dieser Art fällt ins Subjekt zurück.‹ 18 Und selbst die Einheit, wie sie in einem Werk der Landschaftsmalerei liegen könne, falle als ›Einheit einer Stimmung‹ in das Subjekt, auch wenn sie in der allgemeinen Natur durch die Gewalt des Lichts und seines wundervollen Kampfes mit dem Schatten und der Nacht in uns hervorgebracht werde. 19 – Wie aber sollte ›in uns‹ die ›Einheit der Stimmung‹ hervorgebracht werden können, der nichts in der Natur entspricht?
14 15 16 17 18 19
Ebd., S. 189. Ebd., S. 188. S. 188 und 189. S. 188. S. 188–189. S. 190.
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Landschaftsstimmung bei Schelling und Hegel
Für Schelling ist die ›objektive Bedeutungslosigkeit der Landschaft‹ 20 ausgemacht – ein Standpunkt, der sich heute gänzlich durchgesetzt zu haben scheint, ohne doch die Gespenster vollends vertrieben zu haben, die vielmehr in Gestalt einer systemtheoretischen Ökologie weitergeistern. Schellings Argumentation ist alles andere als klar. Dasjenige, was sich, wie die ›Landschaft‹, nicht auf die überlieferte Vorstellung von der Einheit eines Begriffs bringen läßt, wird von ihm einfach unwillig als ›formlos‹ und als bloßes ›Gespenst‹ einer Idee verworfen. Und doch mißlingt diese Verwerfung zugleich. Was angeblich nur im betrachtenden Subjekt Realität habe, soll doch allererst von bestimmten Lichtverhältnissen, durch welche die Gegenständlichkeit zur Erscheinung komme, als ›Seelenzustand‹ oder ›Stimmung‹ hervorgerufen werden. Aber von woher erschallt dieser Ruf? Warum antworten Gefühl und Einbildungskraft in bestimmter Weise auf ihn? Hätte Schelling nicht mit mehr Recht von der Musik sagen können, daß der Schall erst im Zuhörer zum musikalischen Klang werde und zum Tönen komme? Doch gerade dort, wo er gänzlich im pythagoreischen Klang-Kosmos verweilt – im Anschluß an Leibniz und letztlich an Pythagoras spricht er von der Musik als ›realem, aber unbewußten Selbstzählen der Seele‹ 21 –, ist von irgendwelchen psychischen Projektionen des Hörers nicht die Rede. Vielmehr werden ›Empfindungen‹ von der Musik nicht nur erregt, sondern von ihr umgewandelt: ›Die Empfindung, welche ein Tonstück im Ganzen erregt, ist eine durchaus homogene, einartige! Sie ist z. B. fröhlich oder traurig, allein diese Empfindung, die für sich durchaus homogen gewesen wäre, bekommt durch ihre rhythmische Einteilung Abwechslung und Mannigfaltigkeit.‹ 22 Schelling ist hier nahe daran, die psychologistisch postulierte ›Eindeutigkeit‹ der Gefühle wenigstens zugunsten der ›gemischten‹ oder ›zwiespältigen‹, jedenfalls oszillierenden Weisen der Gefühle preiszugeben. Dann wagt er sogar den Schritt über die Gleichsetzung von Gefühl und subjektivem Erleben hinaus: ›Töne […] haben auch an sich eine Bedeutung, sie können für sich fröhlich, zärtlich, traurig oder schmerzhaft sein.‹ 23 – Wie konnte er dann die ›Stimmung‹ einer Landschaft zur Bedeutungslosigkeit verurteilen? 20 21 22 23
Ebd. Ebd., S. 135. Ebd. S. 136.
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Landschafts-Stimmungen
Versuche, das Phänomen landschaftlicher Stimmungen gänzlich aus zufälligen Gemütslagen hervorzuzaubern, müssen schon deshalb scheitern, weil nach Schelling auch bestimmte Stimmungswerte wie etwa die ›Heiterkeit‹ von Landschaften südlichen Himmels gegen das ›Brüten der nördlichen Welt in dumpfer Nacht‹ 24 unabhängig davon erfaßt werden, wie man sich gerade selber ›gestimmt‹ fühlt. Und wie sollten überhaupt Projektionen psychisch-geistiger Bedeutungen auf äußere geographisch-physikalische Bedingungen als deren ›Gegebenheiten‹ wieder zurückscheinen können? Auch Schelling kann daher ein ›objektives Scheinen‹ der Landschaft aus sich selbst heraus nicht gänzlich leugnen – ein Schein, der in der Weise eines ›Schleiers‹ verhüllt, demnach – so wenig wie das Gespenst – nur Formlosigkeit zeigt, sondern auf paradoxe Weise eine ›unsichtbare Welt‹ nicht nur ›bedeckt‹, sondern zugleich als bedeutungsvoll wahre ›durchscheinen‹ läßt. ›Landschaft‹ wird zum paradoxen Medium eines verscheinenden, verschwindenden Gottes, einer gespenstisch gewordenen göttlichen Natur, die ihren sich auflösenden restlichen Halt nur noch in den zufälligen Gefühlen der Menschen sucht. * * * Hegel knüpfte in seinen Vorlesungen über die Ästhetik, die er ab 1818 gehalten hatte, letztlich mehr an Schillers denn Schellings Überlegungen an. Philosophisch gesehen stellt es in seinem Denken zunächst eine ungeheure Aufwertung dar, daß ›Landschaft‹ für ihn kein geographischer, sondern ein ästhetischer Begriff ist, der dadurch, daß jene zur Sphäre des Naturschönen gehört, auch ins ›absolute Reich der Idee und ihrer Wahrheit emporgetragen‹ sei. 25 Denn in der Betrachtung des Schönen sei die Einseitigkeit überwunden, nämlich die Einseitigkeit sowohl der theoretischen Haltung, worin die Selbständigkeit der Dinge mit der Unfreiheit des Subjekts gegen sie erkauft werde, wie die der praktischen Haltung, worin umgekehrt die Selbständigkeit des Subjekts mit der Unselbständigkeit der Dinge gegen es verbunden sei. So geschehe in der Betrachtung des Schönen, die auf das Erfassen der Idee im sinnlichen Scheinen gehe, ein ›Gewährenlassen der Gegenstände als S. 190. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 1, in: Werke, Bd. 13, a. a. O., S. 157.
24 25
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Landschaftsstimmung bei Schelling und Hegel
in sich freier und unendlicher‹ 26, worin diese zugleich als Zwecke für sich selbst anerkannt seien. Hegel kommt hier dem Gedanken nahe, Landschaft vom Freien her zu verstehen. – Bekanntlich versteht er unter ›Ideen‹ nicht einfach quantitativ allgemeine, gattungshafte Urbilder des Seienden, die von vorn herein dem Werden entzogen wären; Ideen vollziehen sich vielmehr in einem entelechischen Prozeß, in welchem sich das Wesen des Seienden entfaltet, bis es schließlich sein Sein selbst als absolutes Subjekt begreift. Und darin zeigt sich ein Grund, warum Hegel das Naturschöne von vornherein unter der ›Idee des Lebens‹ betrachtet. Als bloß natürliche ist diese Idee des Lebens das Organische schlechthin und bestimmter die ›natürliche Lebendigkeit‹ pflanzlicher und zumal tierischer und menschlicher Organismen, die – sich selbst erhaltend und fortbildend – sowohl als Gattungen wie als Individuen zweckmäßig und mit innerer Notwendigkeit sich auf sich selbst beziehen. Doch bleibe in der ästhetischen Betrachtung natürlicher Lebendigkeit eben deren ›innere Einheit‹ selber nur innerlich und trete für die Anschauung nicht in konkreter ideeller Form heraus: ›Die Betrachtung läßt es bei der Allgemeinheit eines notwendigen beseelenden Zusammenstimmens überhaupt bewenden.‹ 27 Dieser Begriff des ›beseelenden Zusammenstimmens‹ ist nun entscheidend für Hegels Verständnis von Landschaft. Er besteht nämlich seinerseits nur als die ›Unbestimmtheit der Naturschönheit qua innerer Beseelung‹, denn in der Anschauung einer Landschaft zeige sich gerade ›kein organisch lebendiges Gebilde‹ vor uns: ›Hier ist keine organische Gliederung der Teile als durch den Begriff bestimmt und zu seiner ideellen Einheit sich belebend vorhanden, sondern einerseits nur eine reiche Mannigfaltigkeit der Gegenstände und äußerliche Verknüpfung verschiedener Gestaltungen, organischer oder unorganischer: Konturen von Bergen, Windungen der Flüsse, Baumgruppen, Hütten, Häuser, Städte, Paläste, Wege, Schiffe, Himmel und Meer, Täler und Klüfte; andererseits tritt innerhalb dieser Verschiedenheit eine gefällige oder imponierende äußere Zusammenstimmung hervor, die uns interessiert.‹ 28 Angesichts des Wunsches, Landschaft zu begreifen, droht also eine Krise im Verständnis eines sich lebendig auf sich beziehenden Begreifens, und auch Hegel spricht von ›Unbestimmtheit‹ und 26 27 28
Ebd., S. 155. Ebd., S. 174. Ebd., S. 176.
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Landschafts-Stimmungen
›bloßer Ahnung des wahren Begriffs‹. 29 Innerhalb der ästhetischen Schau des absoluten Geistes nimmt daher Landschaft den niedrigsten Wert ein: Schönheit und Erhabenheit sinken herab zum ›Gefälligen‹ und ›Imponierenden‹. Er geht zwar nicht so weit wie Schelling, in der Landschaft schlechthin eine Formlosigkeit zu sehen, die einzig im empirischen Subjekt zu einer zufälligen Gestalt komme. Wie dieser bemerkt Hegel zwar, daß Landschaft nicht als ›Organismus‹ und folglich weder als System und Begriff noch als Teil eines solchen beschreibbar ist, obwohl sie der absoluten Idee des Lebens zugehört. Aber er räumt immerhin ein, daß Landschaft nicht nur eine Ansammlung, nicht ein bloßes ›Aggregat‹ heterogener Dinge sei. Doch verschließt er den Blick davor, das Kriterium des ›Zusammenstimmens‹ dieser ›äußerlichen Verknüpfung verschiedener Gestaltungen‹ in der Stimmung selbst zu sehen, da diese keinem logischen Begriff zu unterwerfen ist. Um was für eine ›Zusammenstimmung‹ sollte es sich sonst handeln können, wenn der Landschaft selbst eine im Innern des Organischen wirksame ›Beseelung‹ abgesprochen werden muß? Worauf sollte sich das ›Ahnen‹ dann beziehen können? Bleibt da nicht doch der Schatten der vergangenen Idee zurück, Landschaft sei das erotische Antlitz eines unsichtbaren und unendlichen göttlichen Lebewesens, das über die Schönheit der Landschaften Liebe und Sehnsucht nach diesem weckt? Also eine Landschaft sich entziehender Göttlichkeit? Das Problem landschaftlichen Zusammenstimmens, als Erbe der musikalischen Notwendigkeit des ›Übereinstimmens‹ vieler Stimmen in einer ›Stimme‹, verschärft sich nun gerade dort, wo es sich als Beziehung zum ästhetischen Subjekt ausspricht: ›Eine eigentümliche Beziehung endlich gewinnt die Naturschönheit durch das Erregen von Stimmungen des Gemüts und durch Zusammenstimmen mit denselben. Solche Bezüglichkeit z. B. erhält die Stille einer Mondnacht, die Ruhe eines Tales, durch welches ein Bach sich hinschlängelt, die Erhabenheit des unermeßlichen, aufgewühlten Meeres, die ruhige Größe des Sternenhimmels. Die Bedeutung gehört hier nicht mehr den Gegenständen als solchen an, sondern ist in der erweckten Gemütsstimmung zu suchen.‹ 30 Auch Hegel neigt also dazu, ›Stimmung‹ gänzlich auf die Seite des Subjekts zu ziehen, wodurch sich allerdings noch schärfer die Frage aufdrängt, wie denn die ›äußere Zusammenstim29 30
Ebd., S. 175. Ebd., S. 177.
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Landschaftsstimmung bei Schelling und Hegel
mung‹ landschaftlicher Erscheinungen ihrerseits mit der Stimmung des Gemüts soll ›zusammenstimmen‹ können. Worin könnte denn der allgemein festgesetzte ›Grundton‹ liegen, auf den sich nicht nur alle Erscheinungen der Landschaft einzustimmen, sondern zudem mit dem Gemüt zusammenzustimmen vermögen? Zwar mißt Hegel den ästhetischen Wert der Landschaft an einer Lebendigkeit, in welcher als betrachteter Naturschönheit die Idee innerer Beseelung vorscheint. Aber er kann Landschaft nicht, wie sogar noch den Kristall im Bereich des Unorganischen, als eine Vorstufe des Organischen auffassen, will sie aber auch nicht bloß als einen beliebigen, mechanischen Haufen von Dingen verstehen. Insofern fällt die Landschaft gänzlich sowohl aus dem System des Lebens wie aus der Systematik der Wissenschaften heraus und wird seltsam begriffs- und ortlos, ohne daß die Herausforderung darin bemerkt wird, die latent verbliebene Identität von ›Stimmung‹ und ›Übereinstimmung‹ zu brechen und angesichts der Landschaft ›Begriff‹ wie ›Ort‹ neu zu bedenken. 31 Wie also sollte gerade sie in ihrer Unbestimmtheit ›Stimmungen des Gemüts‹ nicht nur ›erregen‹, sondern zudem mit diesen ›zusammenstimmen‹ können? Als Gestalten einer Landschaft gestand Hegel ja den Bergen, Flüssen, Häusern, Tälern eine ›Bedeutung als solche‹ zu. Nur: Worin sollte sie bestehen und wie vermag sie eine ja nicht beliebige ›Stimmung‹ im Gemüt des Betrachters zu erregen, um dadurch zudem ein Zusammenstimmen von Landschaft und Gemüt zu erwirken? Nicht ganz so vollständig wie Schelling verdrängte Hegel die Rätselhaftigkeit der Landschaft, doch auch er übersieht den verdrängten Bezug ›landschaftlicher Stimmung‹ zu der Technik der Musik, Übereinstimmung in einer ›Stimme‹ zu erreichen. Er sieht die Leistung der Musik vor allem darin, die obskure natürliche Materialität, wie sie in der sinnlichen Wahrnehmung gegeben scheint, zur Bestandlosigkeit aufzulösen und in die reine Bewegung des Zitterns der Körper zu überIn ihrem Aufsatz Landschaftliche Allgemeinheit greift Ute Gozzoni Hegels unsichere Gedanken zur Landschaft auf und sucht sie ins Positive zu wenden. Sie spricht davon, daß die Dinge, Orte und Stimmungen einer Landschaft weniger eine ›bestimmte Einheit‹ bildeten und keiner ›hierarchisch‹ gegliederten Allgemeinheit untergeordnet seien, sondern daß Landschaften als ein ›Geschehen der Einstimmigkeit oder des Zusammenstimmens ihrer einzelnen Komponenten‹ begriffen werden können. Ute Gozzoni, Landschaftliche Allgemeinheit, in: Gegensätze, Gegenspiele, Freiburg-München 2009, S. 33 und S. 18.
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Landschafts-Stimmungen
führen, wodurch diese zugleich von allem bloß äußerlichen Bezeichnen frei würden. 32 Er widerspricht der pythagoreischen Metaphysik Schellings, wenn er sagt: Das Tönen gewinne nur noch an der Innerlichkeit der Subjektivität eigene Gestalt. Denn im Ton allein gebe sich eine ›Stimmung und Empfindung‹ kund, nämlich in allen ›Nuancen der Fröhlichkeit, Heiterkeit, des Schmerzes, der Laune, des Jauchzens und Jubelns der Seele sowie die Gradationen der Angst, Bekümmernis, Traurigkeit, Klage, Kummer, Schmerz, Sehnsucht, Ehrfurcht, Anbetung, Liebe usf.‹ 33 Sie seien die eigentümlichen Sphären des musikalischen Ausdrucks, in welchen ›das Bewußtsein ohne Objekt vom fortflutenden Strom der Töne selber mitfortgerissen werde‹. 34 Zugleich jedoch würden die Empfindungen durch Musik in bestimmte, mathematisch beschreibbare Tonverhältnisse gebracht und durch diese gemäßigt, wie Hegel im Anschluß an die musikpädagogischen Gedanken Platons und Aristoteles meint. Werke der Musik werden also keineswegs als unmittelbarer Ausdruck von Empfindungen und Gefühlen betrachtet, sondern diese werden durch jene formbar. Denn die ›harmonischen Gesetze der Töne untereinander‹ blieben gänzlich außerorganische Zahlenverhältnisse und seien sogar noch äußerlicher als es die ›Formen landschaftlicher Natur‹ sind. 35 Und doch sind es die Töne, die gerade auf Grund ihrer zeitlichen Erscheinungsweise und in ihrer Gesetzmäßigkeit in das Selbstsein des Subjekts einzudringen fähig sind. – Hegel wendet den Gedanken, daß es die Töne in ihren Verhältnissen seien, welche die Empfindungen zu artikulieren vermögen, nicht mehr auf die wechselnden Stimmungen der Landschaft an, wie sie sich aus dem Zeitspiel der stimmigen Verhältnisse ihrer Erscheinungen ergeben und vom Gemüt vernommen werden. Die stille Zeitlichkeit der landschaftlichen Erscheinungen ›hört‹ er nicht. Die Musikalität derselben bleibt ihm wie seinen Nachfolgern verborgen, weil der Blick auf die Landschaft mehr von der statisch-geometrisch gedachten Räumlichkeit des ›Landes‹ geprägt ist als von der Zeitlichkeit ihrer Atmosphären.
G. W. F. Hegel, Vorlesung über die Ästhetik Bad. III, in: Werke Bd. 15, a. a. O., S. 133 und S. 145. 33 Ebd., S. 150. 34 S. 154. 35 S. 160. 32
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Die Vielheit der Stimmungen in einer Grundstimmung
8.4. Die Vielheit der Stimmungen in einer Grundstimmung Hegel hatte, wie schon Schelling, die Differenz, die Kant zwischen Schönheit und Vollkommenheit (epistemisch als Vollständigkeit und praktisch als Gut) gegen Baumgarten und die Tradition geltend gemacht hatte, wieder verworfen in seiner Rückkehr zur platonischen Auffassung, wonach sich in der Schönheit die Idee selbst als erfüllter Zweck, als Gutes schlechthin, hervorbringe. Da ihm Natur jedoch alles andere als vollkommen galt, weil sie schlechthin der ›Äußerlichkeit‹ und ›Vergänglichkeit‹ angehöre, vermag auch Naturschönheit nur auf unterster Stufe einen Wert zu beanspruchen. Der aber konnte von Hegel ohne Begriff des Lebens nicht weiter bestimmt werden. Sein Schüler Karl W. F. Solger leugnete schließlich überhaupt in seinen Vorlesungen über Ästhetik von 1829, daß es Schönheit außer der Kunst und somit außerhalb menschlicher Tätigkeit geben könne: ›Betrachten wir die Natur unter der Form des Schönen, so tragen wir den Begriff der Kunst auf die Natur über.‹ 36 Und diese Projektionsthese wird sich hartnäckig in den meisten Ästhetiken des 19. Jahrhunderts halten, oder vielmehr schrumpft sie in dem Augenblick zu einem wenig überzeugenden Psychologismus zusammen, da Natur selbst nicht mehr als das vollkommene ›Produkt göttlicher Kunst‹ 37 angesehen wird. Da auch nach Ansicht Solgers Natur ihren Begriff nicht in sich selber habe, sondern ihn erst im Menschen finde, wird für ihn der Ausdruck ›Landschaft‹ geradezu synonym mit ›Landschaftsbild‹ verwendet. Und letzteres gehöre zur ›Allegorie‹, das heißt, die Gruppierung der Figuren, die perspektivisch-räumliche Situation und die Licht-Schattenverhältnisse schlössen sich nicht zu einem ganzen Sinn zusammen wie im Fall des Symbols, sondern es bestehe eine große Fülle selbständiger Momente: ›Auf der Seite des Allgemeinen steht die Landschaft, welche die Gegenstände nicht um ihrer selbst willen darstellt, sondern nur in Hinsicht auf die Wirkung, die sie auf unser Gemüt ausüben, so daß der Begriff nicht mehr im Stoffe selbst, sondern bloß in dem Betrachter liegt. Daher fühlen wir bei dem Anblicke wahrer Landschaften ein eigentümliches Sehnen, welches nicht im Kunstwerk liegt, sondern durch dasselbe veranlaßt wird. Gegenstände dieser Art haben mithin
36 37
Karl W. F. Solger, Vorlesungen über Ästhetik (1829), Darmstadt 1980, S. 1. Ebd., S. 4.
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Landschafts-Stimmungen
allein durch ihre Wirkung auf das Gemüt ihre künstlerische Geltung. Wir selbst werden ein Teil des Kunstwerks, indem bei dessen Betrachtung unser individuelles Interesse in Anspruch genommen wird. Der Grund, warum die Natur überhaupt auf das unmittelbare Gefühl so mächtig wirkt, liegt eben darin, daß sie ihren Begriff nicht in sich selbst hat, sondern ihn erst im Menschen findet.‹ 38 – Der Anthropozentrismus scheint mit solchen Überlegungen noch auf derjenigen Ebene zu siegen, auf der zweiwertig logische Begriffe und die üblichen SubjektObjekt-Beziehungen nicht hinreichen, um landschaftliche Stimmung zu verstehen. Was das Erscheinungsbild der Landschaft betrifft, so halten auch die Nachfolger der Deutschen Klassik an der Auffassung Kants fest, daß es durch deren Betrachtung zu keinem Begriff komme und daher nur in einer Art ›von außen‹ veranlaßter Selbstaffizierung des Subjekts wirke. Doch während Kant darin mehr als Begrifflichkeit sah, ein Mehr, das so zu unerschöpflichen Auslegungen anrege, glaubten nun viele wieder, darin weniger als diese anzutreffen. Stimmungen seien letztlich unbestimmbar. Ästhetischen Urteilen über Natur oder Kunst hafte eine Vagheit und Ungenauigkeit an, die zumal den neuen Wissenschaftsidealen ein Dorn im Auge sind. Folglich ignorierte man auch den Vorbegriff der ›Stimmung‹, wie er in der Tradition Leibnizens, Wolfs und Baumgartens zu finden gewesen wäre, nämlich als Anschauungsweise im Modus von ›clare et in-distincte‹. Es ist aber diese Unbestimmtheit inmitten klarer Anschauung nicht einfach grenzenlos und unendlich allgemein und damit völlig abstrakt. Vielmehr bildet sie bestimmte und besondere, oft unbewußt bleibende Milieus, die in einem a-tentionalen ›Fühlen‹ ohne Gefühltes als Stimmungen erspürt werden, die jedoch, im überlieferten Sinne der zweiwertigen Logik, als Bestimmungen weder der Objekte noch der Subjekte erfaßt werden können. Man spürt, daß sich, angesichts der Herausforderung, Landschaft zu denken, ein befremdliches Spiel von Ahnungen vollzieht, in denen sich nicht nur der göttliche Eros von Weiblichkeit und Männlichkeit, sondern auch der eines individuellen Antlitzes, in welchem sich eine Gottheit natürlicherweise ausdrücke und mitteile, mehr und mehr zur ›In38
Ebd., S. 331–332.
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Die Vielheit der Stimmungen in einer Grundstimmung
distinktion‹ vager Stimmungen zugleich weitet und verhüllt und sie doch eben dadurch auch enthüllt. ›Stimmung‹ wird das Zauberwort, in welches sich der landschaftliche Eros in seine vermeintliche Unbestimmtheit und Vagheit einhüllt. Es gibt kaum eine Ästhetik des 19. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts und derzeit wiederkehrend im 21. Jahrhundert, die nicht angesichts der Landschaft von ›Stimmung‹ spricht. Beispielhaft dafür ist die Auffassung von Johannes Volkelt in seinem System der Ästhetik von 1905. Er spricht von einer Stufenleiter der Gefühle, ›angefangen von den nahezu gegenstandlosen Stimmungen, durch die bestimmteren Richtungen des Fühlens, die Aufwallungen, Affekte, Neigungen, Leidenschaften hindurch bis zu den Begehrungen und endlich den strengen Willensäußerungen hin‹. 39 Sodann: Stimmungen, als ›Weisen des Gefühls ohne Hervortreten von Richtungen auf Personen, Sachen, Ereignissen‹, in denen nur ›Spuren höchst unbestimmter Vorstellungen‹ zu entdecken seien, ›die sie gleichsam umschweben und umflattern‹ 40, für sich aber ein Weilen und Ruhen enthalten, – diese Stimmungen werden gleichwohl von ›stimmungsartigen Strebungen‹ unterschieden, wie es sich etwa im Gefühl des Hinaufstrebens einer Säule, eines Berges zeige oder in dem des Strebens in die Weite einer Ebene. 41 Die Stimmung selbst wird mit Ausdrücken wie ›hauchartig, verwehend, unbestimmt, klingend, dämmernd‹ beschrieben: ›Wenn wir den Schwan stolz und leicht im See seine Kreise ziehen, die Heide sich schwermütig dehnen sehen, wenn uns das Veilchen sich still und verschämt zu verbergen, das Dorf sich traulich an den Berghang zu schmiegen, die Quelle lebenslustig und herbkräftig hervorzubrechen scheint: so sind es überall Stimmungen, die die symbolische Beseelung ausmachen.‹ 42 Volkelt spürt, daß angesichts einer Landschaft keineswegs eine Stimmung vorherrschen muß, sondern eine Vielheit von Stimmungen sich im Unterschied zu anderen besondern, sich gegenseitig durchdringen oder abstoßen oder kontrastieren, sich verstärken oder neutralisieren oder aneinander berührungslos vorbeigleiten. Mit den Ausdrücken des Hauchartigen, Verwehenden, Schwebenden wird nur die gängige Vorstellung des ›real
Johannes Volkelt, System der Ästhetik, Bd. I, München 1905, S. 205. Ebd., S. 206. Vgl. dazu auch: Fritz Kaufmann, Die Bedeutung der künstlerischen Stimmung, Tübingen 1929. 41 Ebd., S. 206. 42 Ebd., S. 208. 39 40
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Landschafts-Stimmungen
Gegenständlichen‹ abgewehrt: Stimmungen scheinen, ›stofflich‹ betrachtet, so ›irreal‹ wie Gase, die allem ausweichen und nichts einen Widerstand entgegensetzen, so daß sie ›un(be)greiflich‹ scheinen. – Was aber soll das nur ›Stimmungsartige‹ in den Strebungen sein wenn nicht selbst Stimmung? Und wieso sollte diese sich durch Akte einer ›Beseelung‹ vollziehen, anstatt über das Fühlen erschlossen zu werden? Georg Lukács treibt das Argument von der Richtungslosigkeit der Stimmungen zu Ende mit der Auffassung, sie bestünden bloß in der Auflösung gegenständlicher Formen. 43 – Auch Georg Simmel spricht in seiner Philosophie der Landschaft von der Stimmung, die als geistiges Gebilde durch die Vereinheitlichungskraft der Seele lebe, gleichwohl aber ›Objektivität‹ habe und je nur dieser wirklichen und individuellen Landschaft und keiner anderen eigen sei. 44 Damit sucht er, der außer-seelischen Seite der Stimmung gerecht zu werden und kann deshalb im Gegenzug sagen, das Gefühl selbst sei an diese Landschaft gebunden. Träte die Unmittelbarkeit der Gefühle und ihr Realsein zurück, so Simmel, zeigten sich die ›Allgemeinbegriffe des Melancholischen, Frohen, Ernsten, Erregten‹, sofern die ›Stimmung zwar das Allgemeine, d. h. das an keinem Einzelelement Haftende eben dieser Landschaft bedeute, aber nicht das Allgemeine vieler Landschaften‹. 45 Heißt das nicht, daß jede Landschaft sich in einem ihr eigenen konkreten Milieu verschiedenster Stimmungen befindet? Simmel spürt durchaus, daß Stimmungen sich je in ihren Besonderungen gegen die anderer Besonderungen und nicht nur als Allgemeines zeigen, gerade auch in der Weise, wie sie alle ›einzelnen Elemente der Landschaft durchdringen‹. Doch ganz bricht er nicht mit dem Bezug zur tradierten Klassenlogik: Landschaft erscheine uns als ›stimmungsmäßiges Fürsich-sein, enthoben (H. v. m.) aus der unzerteilbaren Einheit der Natur‹, und in der Anschauung gebe sie sich als ›selbstgenügsame Einheit‹ und doch zugleich ›verflochten in ein unendlich weiter Erstrecktes, weiter Flutendes‹. 46 – Muß denn dasjenige, was wie die Stimmung alle Einzelheiten durchdringe, nochmals als ›Einheit‹ gedacht werden, die irgendeine Vielheit zusammenfasse? Bleiben damit nicht die Relikte
Georg Lukács, Die Eigenart des Ästhetischen, 2. Hbd., a. a. O., S. 634. Georg Simmel, Philosophie der Landschaft, in: Brücke und Tür. Essays, Hg. M. Landmann, Stuttgart 1957, S. 150. 45 Ebd., S. 152. 46 S. 142 und S. 149. 43 44
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Die Vielheit der Stimmungen in einer Grundstimmung
jener Physiognomien absoluter Göttlichkeit bewahrt, die man einst in der Landschaft zu sehen geglaubt hatte? * * * Bekanntlich weiteten Dilthey, Cassirer, Jaspers und andere den Begriff der ›Stimmung‹ schließlich aus zu einem vermeintlich postmetaphysischen Lebens- oder Weltgefühl überhaupt, das, selbst ungegenständlich, auf keinen Gegenstand mehr gerichtet sei. Nicht mehr der analysierbare ›Begriff‹ der Sache ist Garant ihrer wesenhaften Allgemeinheit, sondern eine Art allgemeine, alles durchdringende und alles umfassende Sphäre, deren gänzliche Un(be)greifbarkeit im Bild überaus verfeinerter und verflüssigter ›Stofflichkeit‹ noch zurückgehalten wird. Gott ist reine Stimmung geworden. Doch damit blieb, wie Martin Heidegger darlegte, die Stimmung, in welcher die Befindlichkeit des Daseins je schon erschlossen sei, letztlich nur etwas im ›seelischen Zustande Vorfindliches‹. 47 Heidegger suchte dagegen ein Verständnis des Phänomens ›Stimmung‹ zu gewinnen, das sich von empirischen Psychologismen freihält: ›Die Stimmung überfällt. Sie kommt weder von ›Außen‹ noch von ›Innen‹, sondern steigt als Weise des In-der-Welt-seins aus diesem selbst auf.‹ 48 ›Die Stimmung hat je schon das In-der-Welt-sein als Ganzes erschlossen und macht ein Sichrichten auf […] allererst möglich. Das Gestimmtsein bezieht sich nicht zunächst auf Seelisches, ist selbst kein Zustand drinnen, der dann auf rätselhafte Weise hinausgelangt und auf die Dinge und Personen abfärbt […] Sie (die je gestimmte Befindlichkeit, Anm. v. m.) ist eine existenziale Grundart der gleichursprünglichen Erschlossenheit von Welt, Mitdasein und Existenz, weil diese selbst wesenhaft In-der-Welt-sein ist.‹ 49 Die primäre Entdeckung der Welt geschehe in der Stimmung, nicht im Hinsehen, das vielmehr seinerseits immer schon so oder so gestimmt sei. – Heideggers Auffassung der Stimmung als einer ›Weise‹ 50, aus welcher alle Intentionalität
Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1960, S. 136. Ebd. 49 S. 137. 50 Diese auch im Sinne einer ›Melodie‹ gemeint, die allerdings auch Mißstimmungen und die ›fahle Ungestimmtheit‹ enthält. 47 48
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Landschafts-Stimmungen
erst hervorgehe und die gerade nichts Vorfindliches sei, verhindert, sie einem ›Subjekt‹ oder ›Objekt‹ oder deren ›Beziehungen‹ zuzuschreiben, indem sie das ihnen vorgängige In-der-Welt-sein in je besonderen Milieus betont. Doch bleibt ungeklärt, wie denn das ›Hervorgehen der Intentionalität aus der Stimmung‹ zu verstehen sei. 51 Heidegger sagt allerdings nicht, alles In-der-Welt-Sein des Daseins ›erschließe‹ diese seine ›Weise‹ als in Stimmungen gestimmtes, sondern: es befinde sich je schon in stimmungsmäßiger Erschlossenheit, zu welcher Existenz ebenso Welt und Mitdasein gehören. Eine schärfere Betonung dieses Unterschiedes hätte ihn vielleicht sagen lassen, daß Gefühle und Strebungen des Daseins Weisen seien, in welchen Stimmungen als Stimmungen erfaßt werden können. Insofern gibt es eine Weise des durch Gefühle erfaßten, so und so gestimmten Daseins. Wir fänden zu einer Auffassung der Vielheit je besonderer, Milieus formender Stimmungen, in denen wir uns zugleich befinden könnten, wobei einige von ihnen intensiver durch Gefühle und Emotionen zugänglich und erlebt, andere vielleicht nur gespürt oder erahnt werden. Das zumindest erklärte, warum wir uns zugleich in melancholischer und doch froher Stimmung in einer heiteren und erhabenen und lieblichen und bedrohlichen und geheimnisvollen Stimmung einer Landschaft zu befinden und diese als Stimmungen, auch des eigenen leibhaftigen Gemütszustandes, zu spüren vermögen. Wie in der Musik mag dabei eine gewisse Grundstimmung den Ton angeben, damit das Spiel der Stimmungen nicht nur Zerstreuung in eine gleichgültige Vielheit bewirkt. Eine vernehmbare Mannigfaltigkeit flüchtiger Stimmungen fände im hintergründigen Verweilen einer solchen Grundstimmung eine gewisse Einheit, die allerdings nicht als latente Über-Einstimmung zu verstehen wäre. Bedenken wir also den Begriff landschaftlicher Stimmung, so kann es weder darum gehen, ›Landschaften‹ nach dem Begriff musikalischer ›Stimmung‹, gar ›Übereinstimmung‹, zu beschreiben, noch darum, sie irgendwelchen vagen psychischen Zuständen aufzuopfern. Es scheint mir durchaus möglich, Landschaften der Form nach in ihren Es geht Heidegger vorrangig um die Atentionalität der Angst vor Nichts, welche das Sein-zum-Tode auszeichne. Otto Friedrich Bollnow, in seinem Versuch, Heideggers Ansatz durch positive Stimmungen zu erweitern, leugnet zwar nicht deren Charakter als Weise der Erschlossenheit des In-der-Welt-seins, bezieht sie jedoch vor allem wieder auf einen ›tragenden Grund der Seele‹ (O. Friedrich Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt a. M. 1957).
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Stimmungsbilder
Rhythmen und Harmonien oder durch deren Fehlen zu beurteilen und doch zugleich von ihren Grundstimmungen und schwankenden Stimmungen oder von ihren Stimmungslosigkeiten oder Mißstimmungen zu sprechen. Nichts gebietet, sie deshalb auf Regeln der Musik oder der Psychologie zu reduzieren. – Wie aber verhalten sich Stimmungen und Bildlichkeit zueinander?
8.5. Stimmungsbilder Man redet von ›Stimmungsbildern‹. Wie aber können denn Stimmungen überhaupt bildlich oder Bilder stimmungsvoll vorgestellt werden? Es geht natürlich nicht darum, sich Stimmungen als Atmosphären im Bilde feinster Stofflichkeit zu veranschaulichen oder als Bewegungsbilder dynamischer Schwingungen, die in ihren Spannungen an- und abschwellen. Noch gedankenloser ist die Metapher aus der Elektrizitätslehre, wonach Bilder wie Akkus mit emotionalen Spannungen aufgeladen würden. Wie also lassen sich ›Stimmungsbilder‹ verstehen? Die Heiterkeit einer Landschaft mag sich im Bild einer blühenden Wiese an einem sonnig ›lachenden‹ Frühlingstage darbieten, durchwandelt vielleicht von einem Unglücklichen, oder im Erscheinungsbild einer verschneiten Landschaft, nämlich in deren verschlossener Härte an einem frostigen Wintertag, ein Bild, das gleichwohl erfüllt sein kann mit fröhlich gestimmten, Schlittschuh laufenden Menschen, – man denke an die Wintergemälde Jan Breughels d. Ä. Soll man deshalb annehmen, diese Landschaftsstimmungen ›erschienen‹ nur in dem Maße, wie sie ›getragen‹ wären von visuellen Erscheinungsbildern? Brauchen Stimmungen eine Darstellung durch ausdruckartige Bildträger, wie bestimmte Charaktere, Gesten oder Mienen, die auf sie ›verweisen‹ ? Oder sind es die Erscheinungsbilder selbst, die, außer durch ihre Form, durch bestimmte Stimmungen zu ihrer Einheitlichkeit finden? Wenn die lachende Physiognomie eines Gesichtes Freude ausdrückt, so ist evidenterweise dieser Ausdruck kein ›Abbild‹ der Freude selbst. Aber ist er wirklich nur ein Anzeichen derselben, verstanden durch gewohnheitsmäßige Assoziationen? Nehmen wir doch im sichtbaren Ausdruck eines Menschen unmittelbar dessen Freude selbst wahr, und erst die zergliedernde Haltung konstruiert da eine ›Zeichen-Beziehung‹, wonach der Ausdruck ein bestimmtes Erscheinungs171 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Landschafts-Stimmungen
bild präsentiere, das herabgesetzt worden sei zum bloßen Träger einer Bezeichnung dieses Gefühls, das sich nicht selbst zeige. So betrachtet könnte ja auch nicht die lachende Freude selbst auf eine blühende Wiese übertragen werden, sondern allenfalls ihr physiognomischer Ausdruck als Zeichenträger. Doch wer wollte so reden? Sollte der Sinn solcher Übertragungen etwa nur darin liegen, überall nur sich selbst gefühlsmäßig zu bespiegeln? Wohl kaum. Ihr Sinn, wie bereits Aristoteles hervorgehoben hatte, 52 beruht vielmehr darin, im Fremden der blühenden Wiese (und nicht nur in vertrauten Gesichtszügen anderer Menschen) etwas der Freude Verwandtes aufscheinen zu lassen, als ob da eine Landschaft uns entgegenlache. Sicher können über-raschende und heftige Affekte oder starke Leidenschaften, wenn sie von drängenden Trieben und Begehrensweisen durchdrungen sind, den Charakter des Gespürs jeden Gefühls vorübergehend verdunkeln; doch das ändert nichts daran, daß Gefühle als Gefühle Weisen einer Wahr-Nehmung sind, und zwar zugleich die Wahrnehmung des uns eigenen Gemütszustandes wie die einer uns angehenden Landschaftsstimmung. Von vornherein erschließen sich uns die Erscheinungsbilder der Landschaften in einem Gespür für das Stimmige, das zudem von Lust begleitet sein kann, und dem Gespür für das Un- und Mißstimmige, das zudem schmerzlich erlebt werden kann, oder auch in einem Gespür für das Stimmungslose, das Langeweile in uns auslösen kann. So wie die, dem jeweils Wirklichen zugeschriebenen Berührungen der Sinne, die wir erleiden oder aufsuchen, nicht ohne Bildlichkeit bestehen, durch die sie immer schon überschritten werden (9.1.), so wiederum die Erscheinungsbilder nicht ohne Stimmungen. Enthalten wir uns also der unsinnigen Redeweise, Bilder könnten stimmungsvoll ›aufgeladen‹ sein. Stimmungsbilder sind nicht durch Sinneserscheinungen zu verstehen, die als Zeichenträger fungieren, um auf etwas ›hinter‹ ihnen zu verwiesen, etwas, dem man eine von den Sinnen unabhängig vorgestellte Realität, irgendein ›Ding an sich‹ zuschreibt. Stimmungsbilder sind vielmehr absolut immanente Phänomene, die sich von sich selbst her als gegeben zeigen und erleben lassen. Um das zu verstehen, müssen wir zunächst einen differenzierteren Begriff von ›Bild‹ gewinnen, was angesichts der Flut leeren Geredes über einen angeblichen ›iconic turn‹, eine gewisse gedankliche An52
Aristoteles, Rhetorik 3. Buch, 2. Kap., 8, Übers. F. G. Sieveke, München 1980, S. 171.
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Stimmungsbilder
strengung erfordern wird. 53 Dabei wird es vor allem darum gehen, das Erscheinungsbild der Landschaft von ihrer Bilderscheinung zu unterscheiden, ohne auf die alten Formeln von ›Original‹ und ›Abbild‹ oder von ›Wirklichkeit‹ und ›Illusion‹ zurückzugreifen oder mittels Zeichen-Theorien dem Bild jede Intuition auszutreiben. Sind wir doch durchaus in der Lage, in beiden Weisen dasselbe Wesen der Landschaft zu begreifen. Nur deshalb ist auch zu verstehen, daß es oft die Maler waren, deren Gemälde Züge an der Landschaft aufdeckten, die in der bloßen Anschauung gar nicht bemerkt worden waren. So war es, wie bemerkt (4.2.), Claude Lorrain, der eine neue, nicht mehr architektonische, sondern malerische Sichtweise auf Landschaften erst eröffnete, so wie die Romantik und die Moderne uns das Musikalische der Land-
Man kann nicht einmal sagen, die verschiedenen Betrachtungsweisen des Bildes würden oft heillos durcheinandergebracht oder im Begriff des ›Mediums‹ verwischt. Denn sie werden überhaupt nicht bemerkt! Vergleiche exemplarisch dazu: Bildwissenschaft, Hg. K. Sachs-Hombach, Frankfurt a. M. 2005. Unter ›Wissenschaft‹ wird hier nicht mehr verstanden als eine Aufzählung empirischer Bereiche, in denen Bilder vorkommen. Manche der Aufsätze, die Gottfried Boehm herausgegeben hat (Was ist ein Bild?, München 1994), sind gedankenreich, zeigen aber keinen Ansatz zu einer Theoriebildung. Andere betonen abstrakt und modisch irgendeine ›Spaltung des Sehens‹ (z. B. Georges Didi-Huberman, Was wir sehen blickt uns an, München 1999) oder einen ›Riß im Sein‹ (z. B. Gernot Böhme, Theorie des Bildes, München 1999) oder bemühen metaphysische Konzepte der Anthropologie (z. B. Hans Belting, Bild-Anthropologie, München 2001). Die Ergebnisse des aufwendig finanzierten Forschungsprojekts ›Eikones‹ (mit der gleichnamigen Publikationsreihe im Fink-Verlag, Paderborn 2013) kommen zu keinem Verständnis des Bildes, geschweige daß sie an eine Bild-Theorie heranreichen, wie sehr man auch mit Theoremen herumfuchtelt. Solchen Versuchen fehlt jede phänomenologische Anstrengung. Die Ansätze Kants in der Kritik der reinen Vernunft, nämlich in einer Skizzierung des Wesens der Bild-Intuition mit ihren empirischen und transzendentalen Schemata, wurden weder aufgegriffen noch weiterentwickelt. Edmund Husserl hat zwar wichtige, aber nur fragmentarische Bemerkungen zum Bildbegriff hinterlassen. Sie mit einem Grundbegriff wie ›artifizielle Präsenz‹ zu einer Bildtheorie weiterentwickeln zu wollen (Lambert Wiesing, Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a. M. 2005), das mußte ohne eine differenziertere Zeittheorie scheitern. – Während Charles Peirce (Phänomen und Logik der Zeichen, Hg. H. Pape, Frankfurt a. M. 1983) die Frage nach einer der Bilderfassung wesentlichen Intuition noch stellte, sofern sie nicht auf Formen sinnlicher Anschauung zurückgeführt werden kann, auch wenn er vorrangig das Bild als Zeichen betrachtete; gingen seine Nachfolger dazu über, ›Bild‹ nur noch als ›Zeichen‹ zu thematisieren (z. B. Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a. M. 1995). Oliver R. Stolz (Bild, Darstellung, Zeichen, Frankfurt a. M. 2004) weicht den Bild-Problemen durch einen simplen Pragmatismus aus. 53
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Landschafts-Stimmungen
schaften verstehen ließen. – Auf welche Weise aber müssen wir ›Bilder‹ verstehen, daß sie nicht mehr nur von plastischen Bildwerken und deren ›Flach-Werden‹ her beurteilt werden, sondern erst durch ›Stimmungen‹ ihre einzelnen Aspekte zu versammeln vermögen?
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9. Landschaftsbilder
Indem sich ›Landschaft‹ als ›Antlitz göttlicher Natur‹ abschwächte, um zu einem weniger bestimmten ›Stimmungsbild‹ zu werden, begann man sie vorrangig danach auszulegen, was man psychisch in sie hinein zu projizieren vermochte. 1 ›Landschaft‹ und ihre Gestalten erschienen dadurch nicht mehr als jeweils besondere Begegnungsweise von Erde, Himmel und Welt im Horizont von Ferne und Weite, Tiefe und Höhe, bei welcher Menschen im Vorübergehen zu verweilen vermögen; sondern sie schienen nur noch zu bestehen durch bestimmte psychische, rein ›subjektive‹ Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen, die von einer vermeintlich ›ästhetischen‹ Lust (oder Unlust) begleitet seien. 2 Solche Psychologisierung ist ein Indiz dafür, daß Landschaften nicht mehr im Ausgang von einer (freundlichen oder unwirtlichen) Gastlichkeit der Erde und des Himmels verstanden, sondern bloß noch als Um-Welt und Um-Gebung eines sich selbst ins Zentrum setzenden Menschen behandelt werden. Einem solchen Menschentypen aber geht es vorrangig darum, sich die Erde samt ihren Ländern und Meeren zu unterwerfen, um damit die Fremde schlechthin zu tilgen und in Eigenes zu überführen. Der Mensch scheint nur noch sich selbst im Blick zu haben, und Landschaften verwandelten sich so in bloße territoriale Gebiete und in Gelände, die ein Reservoir von ›Rohstoffen‹ bereitstellen, zu denen auch ihr ›lustvoll angenehmer‹, lieblicher oder erhabener Anblick gehört, der nur die Erholungsbedürftigkeit der Menschen zu beVgl. Alois Riegl, Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst, in: Gesammelte Aufsätze, Augsburg-Wien 1929, S. 28–39. 2 Hans Cohn, Ästhetik des reinen Gefühls, in: Werke, Bd. 8/9, Hildesheim-New York 1982. Cohn spricht zwar davon, daß Landschaft, die in bloß geographischer Darstellung ›seelenlos‹ sei, nur in der Korrelation zum Menschen bestehe; aber er spricht auch von ihr als einer ›Art Religion‹ derart, ›daß im Landschaftsbilde die Selbstsucht im Menschen entwurzele‹ (ebd., S. 401). In diesem Zwiespalt können sich so schöne Sätzen bilden wie: ›Wo der Mensch in der Landschaft fehlt, da reden die Steine für ihn. Sie glitzern wie Dämonen, die an dem Bache gelagert sind‹ (ebd., S. 216). 1
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friedigen hat. So lösen sie sich auf in eine Summe von mehr oder weniger wohnlichen, wegsamen, durchgrabenen, überbauten, verwalteten und geometrisch vermessenen Orten. Und so wie man einen Rest von Pflanzen und Tieren vor ihrer endgültigen Ausrottung in Botanischen und Zoologischen Gärten zur Schau stellt, so stellt man ›restliche Landschaften‹ unter Naturschutz, um einen schonenden Umgang mit ihnen zu gebieten. Vergessen ist, daß die Weisen, wie sich bestimmte Orte und Wege gastlich oder ungastlich darbieten, erst durch die Besonderheiten der Landschaften zur Erscheinung kommen, und daß diese auch noch unsichtbar unter ihrer Zerstörtheit weiterbestehen können, um – wie man am atomverseuchten Gelände Tschernobyls beobachten kann – wieder aufzutauchen, wo sie sich selbst überlassen bleiben. ›Länder‹ sind es, über die man gebieten will. Doch damit sind sie nicht mehr als Landschaften erfahrbar. Denn diese erschöpfen sich nicht darin, Menschen Aufenthalte an Orten und auf Wegen zu ermöglichen. – Um so dringlicher scheint mir, nach dem Wesen des Anblicks, der uns Landschaften erschließen kann, zu fragen: Wie sind die Erscheinungsbilder von Landschaften zu verstehen, die den Menschen aus der abgründigen Falschheit seiner vermeintlich ›zentralen Position‹ zu vertreiben vermögen? Zunächst muß uns ein genaueres Bedenken dessen, was überhaupt unter ›Bild‹ zu verstehen ist, von der gedankenleeren Alternative ›Nachahmung‹ oder ›originäre Schöpfung‹ befreien, aber auch von der ›sprachanalytischen‹ Öde, die das Denken der Bilder durch Reduktion auf ihren Zeichen-Charakter blockiert. Dann kann vielleicht verständlicher werden, welche Tiefe eigentlich die Episode der europäischen Landschaftsmalerei freigelegt hatte und wie es ihr gelungen war, sie nicht zur Seichtigkeit zu verflachen, sondern in ihr das Wesen der Landschaften zum Scheinen zu bringen, im Gegensatz zur Beschränktheit der Ländergebiete mit der Begrenztheit ihrer Orte und Wege.
9.1. Die Mehrdeutigkeit des Bildes Der Wort ›Landschaftsbild‹ taucht gemeinhin mit recht vermengten und schwankend verwendeten Bedeutungen auf: Gemeint wird mal das wirkliche Erscheinungsbild einer sinnlich wahrnehmbaren Landschaft, mal deren Spiegelbild etwa auf der unbewegten Oberfläche 176 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Mehrdeutigkeit des Bildes
eines großen Sees, wenn es sich hier auch, streng genommen, erst sekundär um das Verhältnis eines Bildsujets zu einem wirklichen Gegenstand handelt, primär dagegen um zwei vergleichbare und für gleich befundene optische Wahrnehmungsgegenstände, die aber so ausgelegt werden, als sei das Spiegelbild ein Abbild des Gespiegelten. Ein andermal ist das Darstellungsbild einer Landschaft gemeint, entweder psychisch in einer Vorstellung, etwa als Erinnerungs- oder Erwartungsoder Traumbild, oder in Form eines auch für andere sichtbaren Gebildes, etwa als Zeichnung, Gemälde, Fotografie u. a.; schließlich kann das Bild rein als ein Zeichen gemeint sein, das auf eine reale Landschaft verweist, oder etwa als mythisches Symbol des Antlitzes eines Gottes oder der Natur, oder es dient als Allegorie etwa erotischer Gestalten. Ist im Erscheinungsbild die Landschaft selbst gemeint, wenn auch nur in der Weise, wie sie vom jeweiligen Standpunkt eines Betrachter wahrgenommen wird, so scheint im Fall einer Spiegelung das Spiegelbild, auf der Oberfläche des glatten Wassers, nicht nur optisch der gespiegelten Landschaft gleich (wenn auch in einer Verkehrung von oben und unten) 3, sondern der gespiegelte Gegenstand wird als eine der ursächlichen Bedingungen aufgefaßt, ohne welche die rein optische Landschaft im Spiegel nicht bestünde, wogegen das Gespiegelte wirklich unabhängig von jeder Spiegelung als ein wahrnehmbarer Gegenstand existiert. Spiegelungen lassen sich insofern als kausal einseitige Abhängigkeiten beschreiben. Im Unterschied zu Spiegelungen, in deren Spiegelflächen sich keine Spuren eingraben dürfen, ohne daß das Spiegelbild verschwindet, vermag nun die Fotografie Spuren über die aktuelle Präsenz des Gespiegelten hinaus zu bewahren und läßt sich daher noch kausal beschreiben. Sogenannte ›treue‹ Abbilder jedoch, etwa gemalte Portraits oder ›realistische‹ (statt idealisierte) Landschaftsgemälde verhalten sich dagegen allenfalls parasitär zu solchen Spiegelungen: Sie stellen sich dar, als bestünden sie nicht ohne den wirklichen Gegenstand, den sie abbilden oder abgebildet haben, das heißt, sie präsentieren sich in einem Schein, der trügen oder mit dem man täuschen kann, und beanspruchen so für sich selbst, an der Wahrheit des selbständigen Originals teilzunehmen, als ob dieses ihre Ursache wäre. Indem jedoch das Abbild, im Unterschied zum Spiegelbild, auch ohne Gegenwart des gespiegelten Objekts bestehen kann, wie auch immer dieses seine SpuDer Maler Gerhard Richter verkehrt bekanntlich dieses Verhältnis, indem er auf dem Kopf stehende Landschaften malt.
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Landschaftsbilder
ren in jenem hinterließ, ist die Ursache-Wirkungskette schon durchbrochen und das Vor-Bild, nämlich das Original vor dem Bild, ist zum bildimmanenten Vorbild geworden. Allerdings lassen sich Abbilder, wie etwa Portraits, Veduten oder Fotografien, sofern sie von ihrer Seite als wahrnehmbare Gebilde thematisiert werden, so betrachten, als ließen sich in ihren Gestaltungen Fraktale der Wirklichkeit entdecken, etwa ähnliche Farben oder Proportionen von Gestaltumriß- oder Begrenzungslinien, wie in den wirklichen Landschaften, nur in verkleinertem Maßstab. Doch hat das nichts mit ›Bild‹, sondern rein mit optischen Wahrnehmungsvergleichen zu tun. Auf Grund bestimmter Auslegungsrichtungen kann nun zwar jedes Bild, nicht anders als jeder sinnlich wahrgenommene Gegenstand, als ein besonderes Zeichen interpretiert werden, das sich etwa vom sprachlichen Zeichen durch gewisse ›Ähnlichkeiten‹ mit dem Bezeichneten unterscheide, als nähme es qua Fraktal an diesem teil. Nun lassen sich zweifellos Darstellungs-Bilder so gut wie wirkliche Erscheinungen auch als Zeichen und Symbole deuten und erstere sind auch oft so entworfen worden. Das klärt aber keineswegs die dem Bild selbst eigene Anschauungsweise als Bild, die von der sinnlichen Anschauung verschieden ist. Ansätze zu ihrem Verständnis gab uns Immanuel Kant im ›Schematismus-Kapitel‹ der Kritik der reinen Vernunft. Nicht qua Zeichen, sondern qua Bild überschreitet das Bild die sinnliche Erscheinung. – Von da aus wird verständlicher, inwiefern die Rede von landschaftlichen Stimmungsbildern berechtigt ist und inwieweit Malerei Landschaften in einem Bild darstellen kann, das nicht nur wie ein Zeichen auf ein reales oder idealisiertes landschaftliche Erscheinungsbild verweist, sondern das Wesen einer Landschaft selbst zur Erscheinung bringt.
9.1.1. Das Erscheinungsbild Sinnlich wahrnehmbare Landschaften – und solches haben Phänomenologen der Wahrnehmung ausreichend beschrieben – sind uns nie zureichend durch Empfindungen gegeben. Da allerdings die Empfindungen einerseits als etwas besonders ›Subjektivistisches‹ gelten, andererseits ›objektivistisch‹ durch kausale Reiz-Reaktionsmechanismen ›erklärt‹ sein sollen, scheint mir zuerst eine Anmerkung zu ihnen nötig: Erst in einer Reflexion auf unseren eigenen Zustand scheint es so, 178 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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als ›hätten‹ wir Empfindungen, die wir auf etwas Empfundenes beziehen. Tatsächlich aber tauchen Empfindungen vor aller Beziehung von Subjekten auf Objekte auf: Ihr Anfang liegt weder in der Sonne, deren Licht auf die Nerven meines Auges einwirkt, das sich seinerseits reaktiv auf ihr Licht richtet oder von ihm abwendet, noch liegt er in der physiologischen Konstruktion dieses Auges, das Lichtreize zu empfangen vermag. Schon die Tatsache, daß unser Leib unzähligen ›Reizen‹ ausgesetzt ist, die wir nie empfinden, hätte darauf verweisen können, daß das Ein-Finden des Daseins durch seine Empfindungen nicht vulgärmaterialistisch und kausalistisch zu begreifen ist. Dasein ist von vornherein empfindend in der Welt so wie diese sich von vornherein daseiend eingefunden hat. Weder die Sonne noch das Auge, sondern das Lichte und Dunkle, das Helle, Schattige, Farbige und entsprechend das Glatte und Rauhe, Süße und Salzige usf. sind es, als welche Dasein sich auf mannigfaltige Weisen einfindet, ehe es, von Anderem sich abstoßend, sich auf sich selbst bezieht. In diesen Empfindungen findet sich das Dasein allererst ein in die Weisen seiner Anwesenheit und seines Befindens, und wo die Empfindungen schwinden, vergeht das Dasein überhaupt. – Das also ist mitzudenken, wenn ich im Folgenden von ›sinnlichen Empfindungen‹ spreche. Stets wird mit den Empfindungen schon bildlich mitpräsentiert, was wir gerade nicht empfinden und was uns doch als wirklich gilt, wie etwa die Rückseiten der Berge, aber auch dasjenige, was als solches niemals ›sichtbar‹ werden kann, wie das Innere dieser Berge (denn auch die Höhle ›im‹ Berg zeigt uns nur Oberflächen) und die Weisen des Raumseins einer Landschaft überhaupt. Diese aber in ihrer Wirklichkeit anschauend, nehmen wir all das unmittelbar mit wahr. Erst in der zergliedernden Überlegung zeigt sich die Differenz zwischen einem vermeintlich ›rein sinnlich empfundenen Sehen‹ und den es überschreitenden Bildschemata, die es mitgestalten. Diese Bildlichkeit mitbedenkend, spricht man vom wirklichen ›Erscheinungsbild‹ einer Landschaft, womit sie selbst gemeint ist, nicht etwa ein Abbild von ihr. Dieses Erscheinungsbild einer Landschaft mit ihren Gestalten ist uns, wie Kant betonte, niemals nur sinnlich als dieser Aspekt einer individuellen Einzelheit gegeben, sondern diese ihre bildliche Singularität ist stets schon zugleich als ein ›Monogramm‹ von Der-Artigen wie Landschaft überhaupt angeschaut, von dem aus betrachtet die durch die besondere Versammlung ihrer Gestalten als einzelne erscheinende Land179 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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schaft zugleich exemplarisch einem Typus angehört. 4 Von ihrer Derartigkeit aus kann ihr Erscheinungsbild auch zum Bild einer künftigen Wiedervergegenwärtigung werden, so wenn ich mir vorstelle, zu ihr zurückzukehren, oder zum reinen Erinnerungsbild eines Vergangenen oder zu einem Darstellungsbild dessen, was als Traum- und Phantasiebild mehr und mehr vom anfänglichen sinnlichen Erscheinungsbild abweichen kann. – Aber das Erscheinungsbild einer Landschaft ist uns nicht nur statisch von einem Standpunkt aus gegeben, sondern zugleich im Wechsel vieler seiner sich wandelnder Anblicke, so daß man, im Anschluß an Kants Ausdruck, von einem ›Polygramm‹ der Erscheinungsbilder einer Landschaft sprechen kann. Ordnet sich die Bildbewegung dieser mannigfaltigen Erscheinungsbilder schematisch zu einem Bewegungsbild, indem wir uns von ihrer Folge seinerseits ein Bild machen, so läßt sich dieses Bild einer zeitlichen Abfolge verschiedener Bilder das ›Diagramm‹ eines Landschaftsbildes nennen. Sommerlich etwa erscheint uns eine Landschaft nur, weil sie auch winterlich war und sein wird. Die Form dieser Abfolge wird wiederum zumeist im geometrischen Schema einer Linie vorgestellt, die zwar von der sinnlichen Fülle absieht, nicht aber gänzlich unabhängig von jeder Sinnlichkeit vorstellbar ist. Doch wir können im Anblick eines landschaftlichen Erscheinungsbildes ihre Veränderungen mitsehen, und zwar nicht nur im Sinne der Zeitlichkeit unseres eigenen Wahrnehmens: Wir sehen mit den jeweils gegenwärtigen zugleich die abwesenden anderen Tages- und Jahreszeiten und vielleicht sogar ihren erd- und kulturgeschichtlichen Wandel. Diese Veränderungsbilder lassen sich mit den Polygrammen der vielen Erscheinungsbilder einer Landschaft ergänzen, so daß wir zu einem komplexen Bildgefüge gelangen, dessen Ganzheit – ohne Entscheidung darüber, ob sie ›vollständig‹ oder ›unvollständig‹ ist – ihrerseits im Bildschema des Umfassenden gegeben sein kann. Ich möchte dieses Gefüge das ›Hologramm‹ einer Landschaft nennen. Wie schon im Fall des Diagramms dient die geometrische Linie dazu, nun als die eines Kreisumfangs, der das Umfassende einer Kugel bedeutet, einen sinnlich anschaulichen Anhalt für die Vorstellung des geschlossenen Ganzen zu geben. Angefüllt mit konkreten Erscheinungen einer Landschaft glauben wir dann, sie als ganze vor uns zu haben. Das Hologramm einer Landschaft ist daher mehr als nur das Panorama, Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, Hg. R. Schmidt, Leipzig nach 1945, S. 241.
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das wir allein durch den Wechsel der Blickrichtung zu gewinnen vermögen. Zusammenfassend läßt sich sagen: So wie jede singuläre Erscheinung im Überschreiten der sinnlichen Einzelheiten zu einem monogrammischen Bildschema besteht, so die Poly-, Dia-, und Hologramme im Überschreiten der je vorgängigen bildlichen Schemata. Dabei nutzen wir die Möglichkeit einer ›Geometrisierung‹ der Anschauungsformen zu sinnlich wahrnehmbaren Darstellungen derselben. Es ist also gänzlich ungenügend, wie es oft getan wird, das Bild von einem zufälligen singulären Gebilde her zu definieren, das dann zu einem bloßen Zeichenträger herabgesetzt wird. – Kant bemerkte nicht nur den Unterschied zwischen empirischer und reiner Anschauung, sondern er verwies zudem darauf, daß die ›leere, gegenstandlose Anschauung von Raum und Zeit‹, das ens imaginarium, ihrerseits ihrer Form nach ›angeschaut‹ werden könne. 5 Obwohl er den Gedanken, es könne ›intellektuelle Anschauungen‹ geben, an anderer Stelle zurückweist, räumt er ihre Möglichkeit hier ein. Nun benötigen die reinen Bildschemata zwar eine sinnliche Erscheinung, nämlich zumal gezeichnete Linien oder deren bildliche Vorstellung, um in ihren räumlich-zeitlichen Dimensionen darstellbar zu werden. Doch Kant meint mehr, nämlich dies, daß die ›leere Anschauung‹ der Form nach angeschaut werden könne. Darin, so denke ich, kam erstmals das reine Scheinen des Bildes selbst in den Blick. Die Bilderscheinung kann nicht als eine sinnlich empfundene verstanden werden, enthält aber den Sinn der Empfindungen, die sinnlich gerade nicht gegeben sind. Friedrich Schiller nahm Kants Überlegungen auf, wonach es ein Scheinen gebe, das sich nicht am empirisch Wirklichen messen und eventuell als Irrtum oder Betrug erweisen lasse, in welchem sich vielmehr die Phänomene selbst der Einbildungskraft präsentieren, wenn auch nur über Rückgriffe auf sinnlich minimierte geometrische Darstellungen. – Wie anders aber könnte dieses intuitive Scheinen des Bildes das Medium vorgestellter Dinge sein als dadurch, daß es zugleich reine Stimmung ist, die den ›bloß‹ intellektuellen Schemata einen nicht-quantitativ allgemeinen Inhalt, nicht einen Gegenstand, geben? * * * 5
Ebd., Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe, S. 379.
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Landschaftsbilder
Kehren wir zurück zu dem, was sich uns als landschaftliches Erscheinungsbild zeigt. Dieses Bild ist nämlich nicht allein von Sehempfindungen und deren schematisch-bildhafte Überschreitungen geprägt. Eine Mannigfaltigkeit von Geräuschen und Tönen, von Gerüchen und Geschmäckern, von Berührungs- und Bewegungsarten und wiederum deren bildhaft allgemeine Schemata begleiten die Visualität der Bilder. Doch geht es um mehr als nur um ein Begleiten, sondern um ein wechselseitiges Durchdringen und Sich-Zusammenfinden der verschiedenen Sinne solcher sinnlichen Empfindungen, die aktuell nicht empfunden werden. Das Anschauen wird nicht nur begleitet von Empfindungen anderer Sinne; vielmehr ist dem Sehen zunächst selbst der Sinn anderer Sinne ohne deren Empfindungsgrundlage mitgegeben, zuvörderst auch ein empfindungsloser Sinn des Sehens selbst, durch den Metaphern des Sichtbaren überhaupt erst ermöglicht werden. Wenn wir von der ›Landschaft eines Gesichts‹ sprechen, meinen wir ja nicht buchstäblich, es zeigten sich bewaldete, erdige oder wiesenartig blühende Erhebungen und Senkungen in ihm, Buschwerk oder Teiche oder Vögel und andere Tiere, gar in einer Anordnung, die ihrerseits an Gesichtszüge erinnere. Metaphern stellen keine Vergleiche an und sind weder ›verkürzten Gleichnisse‹ noch ›partielle Gleichheiten‹, wie man immer noch mit Quintilian meint (5.1.1.). Vielmehr lassen sie wesenhaft Ver-Wandtes auftauchen, mit ebenso unbestimmt ähnlichen wie befremdlichen Zügen. Die ›Landschaft‹ eines Gesichts, das wir sinnlich vor uns sehen, deutet vielleicht in seinen Furchen etwas geheimnisvoll Weghaftes oder gar Erdspalten an, seine Augen könnten vielleicht die Klarheit eines Gebirgssees oder die Tiefe einer Nacht aufscheinen lassen, die Haut seiner Wangen hat vielleicht etwas dem Duft eines Blütenblattes Ähnliches oder Befremdliches wie verwittert Sandsteinhaftes; es lädt zu einem Verweilen ein oder ist abweisend und verschlossen, und, wie die mannigfaltigen Gestalten einer Landschaft, fügen sich die Teile dieses Gesichts vielleicht harmonisch zusammen oder triften bis an die Grenze der Zerrissenheit auseinander. Jedenfalls läßt das Landschaftliche an diesem Gesicht etwas stets unbestimmt und befremdlich bleibendes Drittes auftauchen, das im gängig vertrauten Sinne weder Landschaft noch Gesicht ist und sich doch an das eine wie das andere wendet. Sind es nicht die Stimmungen einer Landschaft, der wir im Gesicht eines Menschen wiederbegegnen können, so wie im Erscheinungsbild einer Landschaft die stimmungsvollen Züge eines Gesichts anklingen können? – Man spürt dieses stimmungshafte Schei182 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Mehrdeutigkeit des Bildes
nen einer Metapher zumal im Gegensatz zu ihrem weitgehenden Mißlingen, wie es etwa in der gängigen Redewendung ›Industrie-Landschaft‹ sichtbar wird. Während nämlich Kulturlandschaften die bestimmten Erden, Gesteine, Gewässer oder Pflanzendecken und deren Reliefs noch durch alle Bebauungen als deren Voraussetzung durchscheinen lassen, über-bauen die rücksichtslosen und gewalttätig häßlichen Industrieansiedlungen ab dem 20. Jahrhundert zerstörerisch die Landschaften schlechthin. Man kann nicht einmal von ›Verwüstungen‹ sprechen, da doch jede Wüste, jede vulkanische oder durch Erdbeben entstandene Geröllhalde und auch die von Überschwemmungen geformten Gefilde immer noch Landschaften sind, mögen sie auch weder anmutig noch erhaben scheinen. Als Stätten bloß rücksichtslosen Gewinns eingerichtet korrespondieren jedoch die ›Industrie-Landschaften‹ genau den Müllbergen, die sie im Gefolge haben. * * * Das empfindende Sehen trägt nun in sich nicht nur den Sinn eines aktuell nicht-empfundenen Sehens in sich, sondern wir ›sehen‹ aus einer größeren Entfernung, sofern sie zugleich Berührungen anderer Sinne ausschließt, das Harte der Felsen, das Glatte eines Wasserspiegels, die Kühle eines Waldes, das Weiche der Moose, die Hitze des Feuers, das Schrille oder Leise bestimmter Blumen. Daß der Gesichtssinn zum Träger des Sinns anderer Sinne werden kann, erlaubt uns, vieles wahrzunehmen, das auf Grund seiner Entfernung von uns gar nicht taktil oder thermisch empfunden werden kann. Kein empfindender Sinn kann sich täuschen; es sind vielmehr solche Vorwegnahmen anderer sinnlicher Empfindungen, die sich als Irrtum erweisen können, wenn etwa das Weiche, das wir ›sahen‹, sich taktil als Hartes herausstellt. Darüber hinaus ›sehen‹ wir die tiefenräumlichen Ausdehnungen, durch die wir etwa die Zugänglichkeit und Begehbarkeit einer Landschaft antizipieren können, wir ›sehen‹ die Kräfte, die uns Widerstand leisten, wenn wir einen steilen Hang hinaufgehen, die uns tragen, behindern oder befördern, und schließlich ›sehen‹ wir das Heitere und Freundliche oder Abweisende und Trübe einer Landschaft, Stimmungen zumal landschaftlicher Pantagramme, Stimmungen, die wir selber vielleicht gerade kaum fühlen, von deren Sinn aber unser Sehen erfüllt ist. Bedenken wir all diese Weisen mit, kann uns eine Landschaft erst wahrhaftig zum Pan-orama werden. 183 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Landschaftsbilder
Dient die Anschauung der minimalen sinnlichen Formen geometrischer Zeichnungen noch dazu, das bildhaft Ganze der besonderen Erscheinungsbilder über ein Minimum an sinnlichen Empfindungen zu präsentieren, die in den Bild-Schemata überschritten werden, so gibt es sinnliche, aber auch imaginierende Anschauungen, die das All jeweiliger Besonderheiten nur noch beispielhaft ins Spiel zu bringen vermögen, ohne daß wir das quantitativ Ganze je übersichtlich vor uns haben könnten. Es geht um eine ›Welt-Allheit‹ alles Besonderen, das schon deshalb niemals als eine Totalität in einem Bild vor-stellbar wird, weil es unabschließbar ist. Ich werde von einem ›Pantagramm‹ sprechen, wenn dieses unvorstellbare All bestimmter Besonderheiten in den Blick gerät. In Bezug auf solche Allheit läßt sich nicht mehr entscheiden, ob die Anzahl konkret verschiedener Landschaften, durch deren jeweilige Erscheinungsbilder wir uns eine unvorstellbare ›Landschaft überhaupt‹ vorzustellen suchen, begrenzt oder unbegrenzt ist. ›Landschaft überhaupt‹ ist ein solches Pantagramm, so gut wie ›Krieg‹, ›Gerechtigkeit‹ oder ›Liebe‹, die wir stets nur in begrenzten paradigmatischen Beispielen metonymisch zur anschaulichen Vorstellung bringen können, Beispiele, die zugleich auf ihre vermutlich unerschöpfliche Variationsbreite verweisen. Durchaus aber können wir in Hinsicht auf Pantagramme sagen, im Bilde zu sein, obwohl uns dessen nicht-quantitative Allheit unvorstellbar bleibt. (Die ›Übereinstimmung‹ des griechischen ›pan‹ mit dem zum Naturgott Pan erweiterten Hirtengott mag hier ihre Zufälligkeit verlieren.) Die vor-stellbaren Bilder und ihre Schemata verhalten sich zu einem Pantagramm stets nur wie paradigmatische Exempel, so wenn wir sagen, wir seien im Bilde darüber, was man unter ›Landschaft überhaupt‹ verstehe, auch wenn wir je nur eine bestimmte Wüste, ein Ackerland oder ein Schlachtfeld vor uns haben. 6 Es wäre nun lächerlich zu sagen, die Erscheinungsbilder von Landschaften, vom Monogramm einzelner Gestalten bis hin zum Pantagramm der ›Landschaft‹ überhaupt, existierten nur ›in unserem Kopf‹ – ganz abgesehen von dem Unsinn, diesen ›Kopf‹ entweder ›materialistisch‹ als ›Gehirn‹ oder ›idealistisch‹ als ›reinen Gedanken‹ vorzustellen. Denn unser komplexes Wahrnehmen bringt die komplexen PhäDas ›Hologramm‹ mag sich darin, daß es als Totalität verstanden wird, mit Platons ›Idee‹ decken. Das Pantagramm, in welchem durch Beispiele die Allheit zwar nicht vorgestellt, wohl aber verstanden wird, ist durch keine Ganzheit, durch nichts quantitativ Gattungshaftes einzugrenzen. Es meint das Welthafte schlechthin.
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Die Mehrdeutigkeit des Bildes
nomene selbst zum Vorschein und nicht bloß ›unsere Konstrukte‹. Wir sehen Landschaften bis hinein in ihre beständigeren oder schwankenden Stimmungen und in die Gestimmtheiten und Stimmigkeiten ihrer Gestalten zueinander, was uns jeweils als ›erlebbar‹ zugänglich werden kann durch das Gespür unserer Gefühle.
9.1.2. Die Bilderscheinung Spricht man von ›Landschaftsbild‹, denken wohl die meisten Menschen zunächst an ein Gemälde oder an eine Fotografie, auf dem als Bildgegenstand oder Sujet eine Landschaft dargestellt ist, wie sie in der Wirklichkeit existiert oder existieren könnte. Betrachte ich das Gemälde als Bild einer wirklichen Landschaft, zeigt sich das Bild selbst nicht etwa sinnlich als ein sichtbares, flaches und ebenes, zumeist gerahmtes Gebilde farbiger Art. Ich sehe vielmehr unmittelbar, was ich gegenwärtig visuell nicht empfinde: eine Landschaft. Wenn ich dagegen annähme, es werde eine wirkliche und visuell empfindbare Landschaft abgebildet, dann ist dieser Anblick in einem weit höheren Maße vom Sinn der je aktuell nicht-empfundenen Sinne durchdrungen und weiterhin scheinen da auch hörbare, betastbare, riechbare, begehbare, veränderbare, erlebbare Landschaftselemente dem Schema ihres Sinns nach mitanwesend. Zudem aber ›sehe‹ ich durch die empfundene Visualität des Gebildes hindurch die überhaupt nicht visuell empfundene Landschaft; ich sehe vielmehr einzig ihr Bild, keineswegs aber ist das Gebilde ein ›Zeichenträger‹, der auf eine wirkliche Landschaft verweist, wie verbreitet angenommen wird. Ich sehe eine Landschaft und kein Zeichen verweist mich auf eine abwesende Landschaft. Was aber erscheint da abgelöst von allen sinnlichen Empfindungen, die sich auf eine Landschaft beziehen könnten, als ›Bild‹ derselben? Hat das Bild selbst seine eigene Erscheinungsweise, unabhängig von den Empfindungen? Wie wäre eine solche Bild-Erscheinung zu verstehen? Wir gehen gewöhnlich davon aus, wenn wir eine wirkliche Landschaft sehen, daß wir die nicht-empfundenen, aber mitpräsentierten Sinne als virtuelle ›realisieren‹ könnten: Wir können zu den visuell gesehenen Gestalten der Landschaft auch wirklich hingehen und sie riechen, betasten, erklingen lassen usf. Das ist bezüglich eines gemalten oder fotografierten Landschaftsbildes nicht möglich. Wie im Fall des Spiegelbil185 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Landschaftsbilder
des haben wir wir ein sichtbares empfundenes Gebilde vor uns, das sich ganz anders anfühlt, anders riecht als die Erde, Bäume oder Gewässer einer Landschaft, von deren Empfindungen wir nun abgeschnitten sind. Und darin liegt wohl der Grund, warum man so oft den Spiegel zitiert, wenn von Bildgegenständen die Rede ist: Das wirkliche Erscheinungsbild einer Landschaft ist, im Unterschied zu ihrem Spiegelbild, nicht nur virtuell, sondern wirklich begehbar, hörbar etc. Das Spiegelbild dagegen bricht mit dem die Empfindungen und Bewegungen virtuell antizipierenden Charakter ihres Sinns, wie er gewöhnlich im reinen Sehen mitanwesend ist. Und mehr noch: Während die wirkliche Landschaft empfindlich sichtbar ist, ist die Landschaft, die das Gemälde darstellt, nur dem Sinn des Sehens, nicht der visuellen Empfindung nach sichtbar, die sich ja nur auf das gerahmte Gebilde mit seinen eigenen Licht-, Schatten- und Farberscheinungen beziehen kann, wie fraktal ähnlich diese auch denen einer wirklichen Landschaft sein mögen. Die Erscheinungen auf dem farbigen Leinwandgebilde können zwar wie Fraktale der Gestalten einer wirklichen Landschaft betrachtet werden, indem man in Analogien das Hell-Dunkel, die Farben und Proportionen in kleinem Maßstab mit den optischen Eigenschaften der wirklichen Landschaft vergleicht. Doch eben dann sehen wir kein Gemälde als Bilderscheinung einer Landschaft, sondern haben nur zwei verschiedene, visuell empfundene Erscheinungen vor uns, die verglichen werden und sich in manchem ähnlich, in manchem gänzlich fremd sind. Solche Vergleiche lassen sich beliebig zwischen sämtlichen Sinneserscheinungen anstellen. Dadurch werden sie weder zum Bild noch zum Zeichen der anderen. Bilderscheinungen begegnen wir nun nicht erst in den von Menschen hervorgebrachten Darstellungen, in Zeichnungen oder Gemälden. Was solchen artifiziellen Darstellungen vorhergeht, ist jener Blick, der plötzlich in einer Wolkenerscheinung, in der dämmrigen Gestalt eines Busches, in den Texturen der Steine oder in den Rinden von Bäumen bestimmte Gestalten wahrnimmt, die wir nicht als ihre betrachten. Wir schauen gleichsam durch sie hindurch, vergleichen aber nicht die Bilderscheinung eines Schäfchens mit dem gerade mal ähnlichen Erscheinungsbild einer Wolke. Der ›Riese‹, den nach Lukrez manche in einem Wolkengebilde zu sehen glauben, mag sich in einem Vergleich, anstatt als imago qua membranum der Sache selbst, vielmehr als reines simulacrum erweisen, dem nichts Reales entspreche, sondern der nur ein Phantasma sei. So etwas mag im Streit darüber, ob es Rie186 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Mehrdeutigkeit des Bildes
sen wirklich gebe oder nicht, sinnvoll sein, trägt aber nichts zum Verständnis einer Bilderscheinung bei. Entscheidend ist vielmehr die Entbergung einer Bilderscheinung (der Riese) in einem visuell empfindbaren Erscheinungsbild (der Wolke), ob man nun an die Existenz des ersten glaubt oder nicht. Wohl aber können das empfindende und das imaginierende Sehen manchmal derart in eins fallen, daß wir der Bilderscheinung irrtümlich die visuelle Empfindung des Erscheinungsbildes unterstellen und deshalb vielleicht vor ihr erschrecken. So können wir bedrohliche oder anziehende tierische oder menschliche Gestalten in Busch- oder Felsformationen zu sehen glauben. Auch bezüglich solcher Bilderscheinungen gilt, wie beim Spiegelbild, daß ich abgeschnitten bleibe von der Möglichkeit, den im Sehen antizipierenden Sinn der anderen Sinne in wirklichen Berührungen, Empfindungen, Bewegungen zu verwirklichen. Das gilt erst recht dann, wenn wir in den Texturen bestimmter Rinden oder Steinflächen Pflanzenformen, Gesichter und ganze Landschaftszüge entdecken, doch spielt hier bereits ein Größenunterschied mit hinein, so daß Verwechslungen wohl kaum vorkommen. Wir stehen dann vor einer komplexen Bildbeziehung: Wir sehen eine Landschaft in der Textur eines Steines allein als visuell unempfundene Bilderscheinung, in welchem Bild-Sehen zudem das unverwirklichbare Sinn-Bild anderer unempfundener Sinne (wie Gerüche, Geräusche, Wärme, Weichheit etc.) mit hineinspielt. Gewöhnlich ist es solche Bildlichkeit, von der man sagt, sie bestehe als ›reiner Schein‹, obgleich solche Anblicke wie auch die Spiegelbilder als rein optische Erscheinungen durchaus wirklich sind. Als ›unwirklich‹ und ›täuschend‹ können sich nur solche Bilderscheinungen erweisen, die wirkliche Empfindungen vorwegnehmen, die dann ganz anders ausfallen. Gerade wenn wir nicht ›im Bilde‹ sind, ›sehen‹ wir das Phänomen selbst nicht, sondern erwarten etwa Berührungen oder Geräusche. In ihrem Scheinen sind Bilderscheinungen durchaus ›wirklich‹, auch wenn sie nicht von sinnlichen Empfindungen begleitet sind. Denn in der imaginativen Intuition erscheinen nicht die sinnlichen Empfindungen selbst, sondern die Bilder ihres Sinns. Was aber soll an diesen Sinn-Bildern möglicher Empfindungen (seien sie verwirklichbar oder nicht) ›bloß subjektiv‹ sein? Es sind vielmehr imaginative Phänomene selbst, die konkret das Wesen bestimmter Sachverhalte präsentieren. In Hinsicht auf Zeichnungen, Gemälde, Fotografien, deren Bildgegenstand eine Landschaft darstellt, werden solche Ent-deckungen 187 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Landschaftsbilder
von Bilderscheinungen in Erscheinungsbildern nun künstlich inszeniert, unabhängig davon, ob ein wirkliches oder nur mögliches VorBild existiert, mit dem der Bildgegenstand vergleichbar ist. Man klammert sich doch nur an das ›Abbildhafte‹, wenn man angesichts eines beunruhigenden Bildsujets Vertrautes und scheinbar Sicheres in der empirischen Wirklichkeit oder in den kollektiven Phantasmen sucht. Und wo man die anschaulich imaginierbare Ver-wandtschaft mit ihren sowohl ähnlichen wie befremdlichen Zügen zu schwer zu denken glaubt, deutet man einfach das Bild gerne als ein Zeichen, das auf etwas ›Wirkliches‹ oder ›wirklich Mögliches‹ verweise. So weicht man der An-Wesenheit des Wesens imaginierter Phänomene schlicht aus. Doch wird man nicht verstehen, was ein ›Bild‹ ist, wenn man Erscheinungsbilder nicht von Bilderscheinungen unterscheidet, obwohl im ersten Fall das ›Bild‹ bezogen bleibt auf die Empfindungen, die zugleich im Schema überschritten werden, wogegen das ›Bild‹ einer Bilderscheinung unabhängig von jeder sinnlichen Empfindung rein imaginativ erscheinen kann. Das ist es ja auch, was im Falle der Träume geschieht. Doch können auch solche Träume unbemerkt im Anblick von visuell empfundenen Erscheinungsbildern mitanwesen, so daß wir in den Texturen eines Steines oder in den Zeichnungen und Farben eines Gemäldes das phänomenale Wesen einer Landschaft zu erblicken vermögen. In der Bilderscheinung kommt die Art ihrer eigenen Wirklichkeit eben als Bild zur Anwesenheit und es verweist auf nichts anderes. Es ist die Sache selbst als Phänomen. Bilderscheinungen zu vergleichen mit Erscheinungsbildern und ihrem visuellen Empfindungskern, um irgendwelche Ähnlichkeiten oder Verschiedenheiten zwischen ihnen festzustellen, gar erstere praktisch als ›Abbilder‹ von ›Vorbildern‹ zu bestimmen, schließlich Bilder als Zeichen für abwesend Anderes zu interpretieren, bedeutet daher schlicht, daß sie als Bilder gar nicht bemerkt werden. Ich werde mich nun einer bestimmten Art der Bilderscheinung zuwenden: dem Landschaftsgemälde. Allerdings werde ich mich nicht auf ikonographische Analysen einlassen können, sondern mich auf die Darlegung eines Problems beschränken: Wie sind Landschaftsgemälde als Bilderscheinungen in der Lage, nicht nur landschaftliche Räumlichkeit darzustellen, sondern darin die Seinsweisen des Raumes von Landschaften – nämlich Ferne und Nähe, Höhe und Niedrigkeit, Weite und Enge, Tiefe und Fläche – durchscheinen zu lassen.
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10. Landschaftsgemälde
Die Weisen der Räumlichkeit, wie sie Menschen gewöhnlich in realen Landschaften zu sehen glauben – die Oberfläche des fortlaufenden Erdbodens unter den Füßen ihres Betrachters, der sich bis hin zu den Horizonten erstreckt, der Zug in die Ferne, die Höhe der Berge oder des Himmels, die Weite des Landes oder Meeres nach allen Seiten –, diese räumlichen Weisen sind recht beschränkt gegenüber denen, welche die großen Landschaftsmaler uns zu erschließen vermochten. Durch sie, so kann man wohl sagen, wurden die bestimmten Räumlichkeiten, in welchen die Gestalten landschaftlich erscheinen, erst in den unterschiedlichen und einander zusprechenden Weisen des Raumes verstanden. So kann die künstlerische Bilderscheinung das Wesen der Landschaft oft tiefer darstellen, als es der alltägliche Blick auf die Erscheinungsbilder derselben vermag. 1 Das will ich an einigen Landschaftsgemälden aus der europäischen Geschichte aufzeigen. In der Darstellung landschaftlicher Räume, nicht aber in der der Räumlichkeit einzelner ihrer Gestalten, zeigt sich deren jeweiliges Zusammenstimmen zugleich in je besonderen Stimmungen. Ich werde zunächst einige geschichtliche Bedingungen streifen, aus denen ›Landschaften‹ als Bildgattung auftauchten, dann einen kritischen Blick auf die Verwerfung der Perspektive durch die Moderne werfen, ehe ich mich einzelnen Gemälden zuwende, in deren Abfolge ein bestimmter Wandel der Raumauffassung kenntlich wird.
Das hatte schon Platon übersehen und trotz der entschiedenen Einwände Leonardo da Vincis folgte noch Jean Paul jenem in dieser Unaufmerksamkeit, als er schrieb: ›Schöne Landschaften sind vom Dichter und Maler leichter als Menschen zu zeichnen, weil bei jenen die Weite des Spielraums in Farben und Zeichnung und die Unbekanntschaft mit dem Gegenstand die Strenge der Ansprüche mildert.‹ Jean Paul, Poetische Landschaftsmalerei, in: Vorschule der Ästhetik, Hamburg 1990, S. 288–289.
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Landschaftsgemälde
10.1. Die äußeren Umstände Es waren, wie ich schon andeutete (4.), zumal Dichter und Denker, die uns auf die Spur brachten, Landschaft nicht mehr vorrangig von uns naheliegenden, vertrauten, gar heimatlichen Orten und Wegen und von der Verfügbarkeit über diese her zu verstehen, sondern von der Weise her, wie über diese hinaus durch ihre Tiefen, ihre Fernen, Höhen, Weiten ihre unaufhebbare Fremdheit offenbar wird. – In einer Episode der europäischen Malerei zwischen dem 15./16. und dem 18./ 19. Jahrhundert, die, wie es zunächst schien, mit der Erfindung der Fotografie abgebrochen wurde, 2 verwandte man die Zentralperspektive dazu, eine bestimmte landschaftliche Tiefe zu entbergen, zunächst die Tiefe in die Ferne, dann hinzu die in die Höhe und schließlich die der Weite schlechthin. Ausgerechnet mit berechenbaren geometrischen Mitteln, nämlich solchen der perspektivischen Projektion, wurde die Reduktion des Raumverständnisses auf die meßbaren und kartographisch darstellbaren Dimensionen von Länge, Breite, Höhe überwunden, ehe die Moderne diese Tiefe als bloße ›Raumillusion‹ zu verwerfen begann. 3 Man spricht davon – zumal seit Friedländers Essay über die Landschaftsmalerei 4 –, ›Landschaft‹, als Sujet, sei eine erst im 16. Jahrhundert auftauchende selbständige Bildgattung, während sie zuvor nur ein nebensächliches ›Beiwerk‹ (Parerga) zur Ausschmückung eines Ortes gewesen sei, an dem sich Figuren befinden oder ein Geschehen abläuft. Ich spreche schon deshalb von ›Schein‹, weil in Anselm Kiefers Landschaftsbildern Tiefe in einer Weise dargestellt ist, wie sie niemals von der Fotografie erreicht werden kann. 3 Zur verbreiteten Rede über ›Raumillusion‹ siehe: Walter Hess, Hg., Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, Hamburg 1957, S. 63. Guillaume Appolinaire spricht in Hinsicht auf die Perspektive von ›Augentäuschung‹ (ebd., S. 55), Cézanne gar von ›Betrug der Perspektive‹ (ebd., S. 64). Selbst Hans Sedlmayr spricht in Hinsicht auf die ›einäugige Zentralperspektive‹, wie Giotto sie verwendete, von einer ›imaginären Bildbühne‹ (Die Revolution der modernen Kunst, Hamburg 1955, S. 24). 4 Max J. Friedländer, Essay über die Landschaftsmalerei und andere Bildgattungen, Den Haag 1947. Daß sich die Landschaftsmalerei als eigene Gattung von der Historienmalerei emanzipierte, hatte schon Alexander von Humboldt bemerkt in seinem Werk Kosmos, a. a. O., S. 225. Zum Thema ›Landschaftsmalerei‹ : 1. Joseph Gramm, Die ideale Landschaft, Freiburg i. Br. 1912; 2. Götz Pochat, Figur und Landschaft, Berlin-New York 1973; 3. Wolfgang Klien, Der Siegeszug der Landschaftsmalerei, Hamburg 1990; 4. Werner Busch, Hg., Landschaftsmalerei. Geschichte der klassischen Bildgattung in Quellentexten und Kommentaren, a. a. O. 2
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Landschaftsgemälde
Von Vitruv hatte man die Auffassung übernommen, es handle sich bei solchen bildlichen Ortsangaben um ›Schauplätze‹ bestimmter, erzählbarer Handlungen und Begebenheiten. 5 Er vertrat die Auffassung, Landschaftsbilder entstammten ursprünglich der szaenographia von Theateraufführungen. 6 Im Unterschied zu den mit Städten oder Burgen bemalten Kulissen der Komödien und Tragödien, wären die Kulissen der Satyrspiele mit Landschaftsbildern bemalt oder überhangen gewesen. Man habe diese, so schreibt Vitruv, dann abgemalt und zwar als Fresken in den Wandelgängen auf deren langgezogenen Wänden. Diese wurden mit verschiedenartigen Landschaftsbildern ausgeschmückt (topiorum ornarent), ›wobei sie die Gemälde nach den ganz bestimmten Eigenarten der Örtlichkeiten schufen‹. Ich gebe noch einmal seine Bemerkung wieder: ›Es werden nämlich Häfen, Vorgebirge, Gestade, Flüsse, Quellen, Meerengen, Heiligtümer, Wälder, Gebirge, Viehherden, Hirten abgemalt und anderes, was in ähnlicher Weise wie dies von der Natur geschaffen ist.‹ 7 Es handelt sich also nicht mehr nur – wie ja auch überlieferte römische Fresken noch zeigen – um ›Örtlichkeiten‹ wie Gärten, loci amoeni oder Ansiedlungen, vielmehr um weit sich öffnende Landschaften, in denen solche, aus den Epen wie der Odyssee bekannten Begebenheiten fast nur noch wie ›nebenbei geschehend‹ dargestellt worden waren, wodurch die vormalige ›Hauptsache‹, die typische Szene eines bedeutsamen Geschehnisses, ihrerseits zum Beiwerk der Landschaftsdarstellungen wurde. Ihre begrenzte Örtlichkeit scheint gerade im Gegenzug um einer entgrenzenden Weite und Ferne willen gestaltet und zwar ohne die Aura eines bedeutsamen ›theatralischen‹ Schauplatzes. Vitruv knüpfte mit seiner Auffassung der Malerei als ›Nachbildung‹ dessen, ›was ist oder sein kann‹, an den Mimesis-Gedanken Platons und Aristoteles an, in dem es nicht nur um Nachahmung (imitatio) des Wirklichen, sondern auch um Darstellung des Möglichseienden gegangen war. Dennoch erhält die Wirklichkeit, und zwar eines ästhetisch-moralischen Maßstabes wegen, einen gewissen Vorrang, um – wie auch Horaz in seiner ars poetica – gegen den ›entarteten Geschmack‹ der eigenen Zeit zu polemisieren, nämlich gegen deren Vorliebe für manieristische und groteske Vermengungen zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen und deren Übergänge ineinander: ›So etwas aber gibt es nicht, kann es nicht geben, hat es nie gegeben‹ (Vitruvius, Zehn Bücher über Architektur, a. a. O., S. 333). Der vergangene mythische Sinn solcher Metamorphosen wird bereits nicht mehr bemerkt. 6 Unter szaenografia verstand Vitruv ›die perspektivische (illusionistische) Wiedergabe der Fassade und der zurücktretenden Seiten‹, ebd., S. 39. 7 Ebd., S. 333. 5
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Landschaftsgemälde
Nun mögen vielleicht Götter ganze Landschaften zur theatralischen Lokalität ihrer Taten herabsetzen können: Für Menschen können Landschaften allerdings niemals zu irgendwelchen Orten oder Schauplätzen schrumpfen, ohne aufzuhören, Landschaften zu sein – wie ja bereits der vom Theater her stammende Ausdruck ›Schau-Platz‹ impliziert. So zeigt es sich schon beim Wiederauftauchen der Landschaftsmalerei in der Spätgotik: ›Schauplätze‹ bestimmter Historien mögen Orte in einem bestimmten Land sein, sind dadurch aber noch keine Landschaften. 8 Solche tauchen in der Spätgotik auf, wo architektonische Orte durchbrochen werden, um den Blick durch ein Fenster, einen Torbogen etc. auf eine Landschaft freizugeben. – Beachtenswerter scheint mir der Gedanke Friedländers, daß in der spätgotischen Malerei Landschaften gegenüber Historien einen Eigenwert zu erhalten beginnen, der in der Malerei von der Renaissance über das Barock und den Klassizismus bis hin zur Romantik derart hervortreten konnte, daß man auf Gemälden auch Landschaften ohne jegliche Staffage dargestellt finden kann. 9 Worin könnte dieser Eigenwert liegen? Läßt sich sagen, es wäre erst dieser Landschaftsmalerei gelungen aufzudecken, was die Tiefe landschaftlicher Ferne, Höhe und Weite bedeutet? * * *
In der Geschichte der Malerei können Angaben der Lokalität von Figuren oder der eines Geschehens fehlen: Auf den Fresken der Altsteinzeit, etwa in den Höhlen von Altamira oder Lascaux, findet man keine bildlichen Ortsangaben, geschweige Darstellungen ganzer Landschaften, in denen sich die Tiere, Tänzer oder Jäger befinden könnten. Auf manchen Bildern der byzantinischen und romanischen Buchmalerei fehlen, im Unterschied zu Mosaiken, genauere Angaben zum Ort. Man hat das damit erklären wollen, daß sich das frühe Christentum von der Weltlichkeit in ein rein geistiges Jenseits zurückgezogen hätte. Arnold Hauser verweist jedoch einleuchtend darauf hin, daß diese ›altchristliche Kunst‹ kein Bruch, sondern eine Fortführung der vergeistigten spätrömischen Kunst der Kaiserzeit sei, die sich schon zuvor von der ›Existenzmalerei der klassischen Antike‹ zurückgezogen habe (Arnold Hauser, Sozialgeschichte der mittelalterlichen Kunst, Hamburg 1957, S. 8). 9 Leonardo da Vincis Zeichnung der Arno-Landschaft 1473 gilt als erste reine, d. h. ›menschenleere‹ Landschaftszeichnung. Albrecht Altdorfers Bild Donaulandschaft mit Schloß Wörth um 1522 gilt als erstes reines Landschaftsgemälde ohne menschliche Figuren. Auch sind von Albrecht Dürer Aquarelle reiner Landschaftsdarstellungen erhalten. – Während man früher der altgriechischen Freskenmalerei und ihren römischen Kopien absprach, bereits die Zentralperspektive angewandt zu haben, äußern sich neuere Arbeiten darüber zögernder. Räumliche Perspektiven fehlen ihnen jedenfalls nicht. 8
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Landschaftsgemälde
Es lassen sich zweifellos eine Reihe äußerer Umstände anführen, welche das Wiederaufkommen der Landschaftsmalerei seit der Antike im 15./16. Jahrhundert wesentlich begünstigt hatten: Sie ist, wie schon zuvor in der Antike, Ergebnis und Ausdruck eines bestimmten städtischen, nicht eines ländlichen Lebens, und ihre Blütezeiten fallen zusammen mit dem Aufbruch zu den großen Land- oder Seereisen, Handels-, Eroberungs- und Entdeckungsreisen, welche die Sicht – nicht nur auf kartographisch darstellbare Länder, sondern auch auf bestimmte, zumal dünn- oder gar unbewohnte Landschaften – allererst prägten. Als einen Grund führt man auch an, daß es zumeist sensible, gebildete oder wohlhabendere Städter waren, die gerne vor den bedrängenden, lärmenden Menschenmassen der Städte, vor dem endlosen Gehetze und vor den Konflikten in den sozialen, politischen und Arbeitsverhältnissen geflohen wären, um sich doch nur vorübergehend auf dem einsameren Land aufzuhalten. Ihnen könnte der Anblick von Landschaftsfresken und -gemälden in ihren städtischen Wohnungen zum Ersatz für eine wirkliche Flucht auf das Land geworden sein. So hatten ja auch die bukolischen Idyllen, die Hirtengedichte Theokrits und die Eklogen Virgils von vermeintlich beschaulicheren Lebensverhältnissen auf dem Lande gesprochen, nach denen man sich sehnen konnte, ohne sie mit der harten und ärmlichen ländlichen Wirklichkeit zu verwechseln. – Wo man dagegen, wie massenhaft ab dem 20. Jahrhundert, wirklich solche Landschaften der Erholung und Sensationslust wegen zu bereisen begann, wurde man eingeholt von eben diesen drängenden, lärmenden Massen aus den Städten, deren Tourismusindustrie viele der ›einsamen Landschaften‹ in übervölkerte Verkehrs-, Freizeit-, Vergnügungs- und Schlafstätten verwandelten. Von den Landschaftsdarstellungen der Antike sind uns nur spärlich Fresken überliefert. Entscheidend bezüglich der Entwicklung der Landschaftsmalerei wird nun im 15./16. Jahrhundert die verbreitete Verwendung des transportablen Tafelbildes und die Entdeckung der Ölfarbe. Wie auch immer noch Bäume, Berge und anderes von Kenntnissen der Allegorien und Symbole getränkt sein mochten: Die solcherart entstandene Bildgattung ›Landschaft‹ ermöglichte es, mit einem Schlage die enorm umfangreiche, kirchlich und höfisch gebundene, geistliche wie geistige Bildung ad acta zu legen. Der städtische Bürger benötigte angesichts der Landschaftsgemälde keine derjenigen Kenntnisse mehr, ohne welche Historienbilder unverständlich blieben, nämlich solche 193 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Landschaftsgemälde
der Bibeltexte und der Evangelien, der Heiligenlegenden, der antiken Mythen und der heldenhaften und glorreichen Taten der Vorfahren oder der noch herrschenden Fürstenhäuser, solche der symbolischen und allegorischen Andeutungen und deren Embleme. Bestimmte ästhetische Wahrnehmungsschemata reichten aus, die Darstellungen auch der unvertrautesten Landschaften zu ›verstehen‹. Leon Battista Alberti meinte 1452, Anblicke von Natur ebenso wie von Naturbildern wirkten entspannend auf die Seele, schüfen Harmonie und bekundeten den Einklang mit der kosmischen Ordnung. 10 Giorgio Vasari konnte ein Jahrhundert später berichten, Landschaftsgemälde mit Bergen und Flüssen, perspektivisch dargestellt, gewährten solche Freude, ›daß man kaum eine Schuhflickerbude findet, in der nicht deutsche Landschaftsbilder wären, dorthin gebracht durch deren Anmut und Perspektive‹. 11 Landschaftsgemälde sind also zur Massenware für die breiten bürgerlichen Schichten der Städte geworden und bis heute fehlt in keinem Kaufhaus der ›röhrende Hirsch auf blühender Heide in lichtem Birkenhain‹. Mitte des 19. Jahrhunderts begann der Impressionismus, die linearperspektivisch dargestellte Tiefe in ein Spiel von Lichtern, Schattierungen und Farbigkeiten umzusetzen, während der Expressionismus diese unter einer opak stofflich scheinenden Natur der Farben zum Verschwinden brachte und der Kubismus und schließlich die vermeintlich ›gegenstandslose‹ oder ›abstrakte‹ Malerei die angebliche ›Nachahmung‹ des Wirklichen oder ›Ausmalung‹ des Wünschenswerten schlechthin verwarf, indem man unvergleichlich Originales erschaffen wollte. 12 Das Fehlen der Zentralperspektive garantiert allerdings noch keineswegs Vgl. Leon Battista Alberti, in: Landschaftsmalerei, Hg. W. Busch, a. a. O., S. 65. Giorgio Vasari, Brief an Benetto Varchi von 1547, in: Landschaftsmalerei, Hg. W. Busch, ebd., S. 91. – ›Deutsch‹ umfaßt hier natürlich ebenso die flämische und niederländische Malerei. 12 Die Ideologen einer angeblich ›abstrakten Malerei‹ bemerkten nicht, daß man auch ihre ›Sujets‹ jederzeit noch mit demjenigen ›vergleichen‹ könnte, was ihnen mehr oder weniger ›ähnlich‹ ist, nämlich mit dem, was man durch Fernrohre oder Mikroskope zu sehen bekommt, oder einfach damit, was der Anblick von Wolkenbildungen, Formen des Gestrüpps, Texturen von Gesteinen, Erden und Rinden, von geometrischen Figuren oder technischen Konstrukten usf. bot. Man redet offensichtlich abwertend von ›Nachahmung‹ nur dort, wo einem bestimmte gemalte Gestalten von woanders her schon als Schemata vertraut sind. – Warum aber sollte man solche Vergleiche überhaupt im Geringsten für bedeutsam halten? Sind sie mehr als infantile Spielchen? 10 11
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Die Perspektive
auch eine ›Überwindung‹ der vermeintlichen Schranken ›nachahmender‹ Malerei, wie sich gerade an Landschaftsgemälden Cézannes zeigen läßt.
10.2. Die Perspektive Ohne Tiefe in Bezug auf flächenhaft sich bietende Erscheinungen gäbe es keine Per-Spektiven. Man bliebe nicht etwa an einer Fläche, sondern an der Oberflächlichkeit und Seichtigkeit der Dinge hängen, wenn das überhaupt möglich wäre. – Nun redet man seit mehr als einem Jahrhundert viel darüber, daß die klassische europäische Malerei zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert auf einer ebenen Fläche, parallel zur Standebene des Betrachters und zum Kegelschnitt seiner Sicht, mittels geometrischer Projektionen ›Tiefe‹ oder zumindest eine dritte räumliche Dimension ›simuliere‹ und illusionistisch eine Tiefendimension vorgaukle. 13 Gegen diese vermeintliche Illusion suchte die moderne und zumal die angeblich ›abstrakte‹ Malerei eine unbezweifelbare ›Wahrheit und Wirklichkeit‹ der Farben und Formen selbst zu setzen, nicht ohne ihrerseits oft der Täuschung zu erliegen, es könnte ›reine‹ Flächigkeit überhaupt sichtbar sein. – Ich werde im Folgenden, gegen die irrige Behauptung der ›Illusion‹, darzulegen versuchen, daß wir – und zwar nicht nur auf Grund unseres binokularen Sehens auf eine Entfernung von kaum zehn Metern – immer schon in eine Tiefe blikken, die uns die Wahrnehmung der entsprechenden Unterschiede des Nahen und Fernen, Hohen und Niederen, Weiten und Engen erst ermöglicht. * * * Selbst dann, wenn wir ausschließlich das durch ein Prisma in Spektralfarben zerlegte Licht (in der Luft oder im Wasser) betrachten, das schlechthin transparent scheint, sehen wir nicht nur ein Nebeneinander dieser Farben, sondern zugleich die Differenz zwischen ihrem Vorne und Hinten. Die Perspektiven und ihre Darstellungen betreffen
Vgl. etwa: Samuel Y. Edgerton, Die Entdeckung der Perspektive, Übers. H. Jatho, München 2002, S. 40 u. a.
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also bestimmte, regelgeleitete Weisen des Sehens überhaupt und nicht die Differenz zwischen Wirklichkeit und Illusion. Es gibt bekanntlich verschiedene Arten der Perspektive, die doch alle das Ziel haben, dem Auge dasjenige zu präsentieren, dessen eigene räumliche Körperlichkeit gar nicht bezweifelt wird, mag sie noch so durchsichtig oder dünn sein. Bereits der Unterschied zwischen Frontund Profilansicht von etwas wäre, nur flächig, gar nicht sichtbar. Ebenso sind etwa die Städte- und Burgendarstellungen der romanischen Malerei im Mittelalter keineswegs perspektivlos, auch wenn sie neben der Frontansicht gleich mehrere parallele oder sich verkürzende Seiten der Gebäude zeigen. Solche ›Ansichten‹ ergeben sich diagrammisch, wenn man um die körperlichen Dinge herumgegangen ist und dann die jeweils abgewandte Seite mitdarstellt. Edgerton spricht von einem ›kreisenden Auge‹. 14 So wenig wie man volumenlose Körper darstellen kann, so unvermeidlich präsentiert jede Perspektive zugleich einen Bewegungssinn, ohne den etwas gar nicht als unbewegt gesehen würde. Ferner liegende Dinge werden gewöhnlich kleiner dargestellt und näher liegende verdecken Teile der hinter ihnen liegenden. Dadurch können bildliche Darstellungen etwas Kulissenhaftes annehmen, wie es durch den Bruch zwischen Vorder- und Hintergrund entsteht. Werden nun an sich parallele Ränder wie die von Mauern, Hecken, Wegen, Baumalleen und Flüssen oder von manchen Talrändern und von durch Gebirge gesäumten Hochebenen in ihren steten Verkleinerungen als Linien dargestellt, die auf einen ›Fluchtpunkt‹ zulaufen, entsteht ein räumliches Kontinuum in die Ferne. Aber auch ohne streng durchgeführte Linearperspektive wirkt schon die Art der Beleuchtung perspektivisch, nicht nur, sofern sie die Oberflächenbeschaffenheit der Dinge über verschiedene Lichtquellen kundgibt, sondern auch wenn sie von einer gemeinsamen Lichtquelle wie der Sonne ausgeht und insofern aus einer Richtung kommt. Und sowohl der auf die Umgebung geworfene Schlagschatten wie der Eigenschatten geben den Dingen Körperlichkeit und nicht nur flächige Ausdehnung. – Früh auch finden wir Ansätze zu einer Luftperspektive, so wenn der Vordergrund, zumal der Boden, auf dem die Figuren stehen, in braunen oder steingrauen Farben gemalt wurde, die dem Mittelgrund zu in Grün, im Hintergrund in helles Graublau übergehen. Die Maler der Renaissance bemängelten daran, daß bis in die spätgotische Malerei das Unschärfer14
Ebd., S. 19.
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werden und farbliche Matterwerden der Landschaftselemente – Leonardo da Vinci wird es sfumato nennen – durch trübenden Staub, Wasserdunst oder durch das von den Dingen an die Luft reflektierte Licht nicht mitdargestellt worden ist, so daß auch kein Kontrastverlust zwischen den Dingen, wie ihn die Ferne mit sich bringt, sichtbar wird. So bleiben die in der Ferne kleiner erscheinenden Dinge oft so klar und unterschieden wie die näher liegenden. Das macht sie jedoch nicht unräumlicher. – Aber nicht einmal die reine ›Bedeutungsperspektive‹, die vorliegt, wenn bedeutsamere Figuren größer dargestellt werden, selbst wenn sie ›hinter‹ anderen stehen, verzichtet auf die Differenz zwischen dem, was dem Betrachter näher und was ihm ferner ist. Man denke an die Stifter-Darstellungen bezüglich göttlicher oder heiliger Gestalten. All diese Möglichkeiten, nicht nur das Nebeneinander, sondern auch das Hintereinander einzelner landschaftlicher Erscheinungen darzustellen, bleiben unberücksichtigt, wenn man meint, nur die Zentralperspektive ›simuliere‹ eine dritte Dimension auf einer zweidimensionalen Fläche, in der alle Tiefenlinien nicht auf mehrere, sondern nur auf einen einzigen Fluchtpunkt bezogen werden, so daß ein Kontinuum zwischen Grund- und Aufriß entsteht. Im Unterschied zur Froschoder Vogelperspektive, die ebenso von einem Standort aus entstehen, soll jedoch das Auge des Betrachters auf gleicher Höhe wie der Fluchtpunkt liegen, auf den die Linien zugehen. Dieser bestimmt zudem die Höhe der Horizontlinie. Bruneleschi demonstriert das erstmals 1425 in Florenz öffentlich mittels eines Spiegels. Leon Battista Alberti erörterte dann als Erster um 1436 die mathematischen Methoden, mit denen zentralperspektivische Wirkungen erzielt werden können und fast hundert Jahre später faßte Albrecht Dürer in seiner Schrift Underweysung der messung mit dem Zirckel und richtscheyt die geometrischen Verfahren der Zentralperspektive zusammen. Beide bezogen sich auf die optischen Darlegungen Euklids und Claudio Ptolemäus II, die bereits aufzeigten, wie die Umrißlinien körperlicher Figuren auf eine Fläche projiziert werden können, um einen ähnlichen Seheindruck wie bezüglich dreidimensionaler Räumlichkeiten hervorzurufen. Was also soll das verbreitete Gerede von einer Technik, Drei-Dimensionalität auf einer Fläche zu ›simulieren‹ ? – Eine der wenigen, nicht bloß gedankenlosen Definitionen der Zentralperspektive bot Der Große Brockhaus: ›Die Darstellung räumlicher Gebilde auf einer ebenen 197 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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Zeichenfläche in der Weise, daß der betreffende Gegenstand auf der Bildfläche unter den gleichen Sehbedingungen erscheint wie als wirklicher Körper im Raum, also in der von vorn nach hinten fortschreitenden Verkürzung, Größenabnahme, Änderung von Beleuchtung und Farbe.‹ 15 Die Linear- oder Zentralperspektive regle die Abnahme der Größenverhältnisse und das Zusammenlaufen der Linien nach einem ›Blickzentrum‹ hin, das seit dem 19. Jahrhundert ›Fluchtpunkt‹ genannt wird. Bruneleschi, der als Wiederentdecker der Zentralperspektive gilt, hatte, wie gesagt, diese ›gleichen Sehbedingungen‹ durch das Spiegelbild eines Gebäudes öffentlich demonstriert. Voraussetzung der Zentralperspektive ist demnach ein fester Standort und unbewegte Augen in gleicher Höhe zum Fluchtpunkt. Darin liegt keine Einschränkung, sondern die Betonung, daß wir stets von hier aus sehen und den Standort wechseln müssen, wenn wir von dort aus sehen wollen, was natürlich vor einer Bildtafel nur virtuell möglich wäre. – Nun sehen wir allerdings gerade niemals die ebene Fläche des Spiegels selbst (es sei denn, er wäre bereits ›erblindet‹ oder wenigstens eingetrübt). Gerade der Körper eines vollkommen reinen Spiegels bliebe schlechthin unsichtbar, weil er alle Lichtstrahlen zurückwirft und sich nicht durch die Art, einige davon zu absorbieren, zu erkennen gibt. Wir müssen also die zu den Dingen rechtwinklig stehende Spiegelfläche ›eintrüben‹, etwa durch Ziehen von Strichen auf ihr, die den Verkürzungen, gewinkelten Linien, abnehmenden Größenverhältnissen u. a. ›folgen‹. Dann gewinnen wir erst eine Zeichnung auf der Spiegelebene, die somit ihre eigene ›Körperlichkeit‹ demonstriert und zugleich als Fraktal der Umrißlinien des dreidimensional vor uns Liegenden gelten kann. Selbst dann also, wenn wir ein monochromes ›Objekt‹ – auf einer ebenen Fläche rein und unterschiedslos nebeneinander dargestellt – zu sehen glauben, ein Objekt, dem durch keine Verschattungen, durch keine Licht- und Farbgebung, durch keine geometrischen Projektionen, durch keine perspektivischen Verkürzungen, durch keine Größenunterschiede oder Überschneidungen irgendein Volumen oder eine Körperlichkeit zugeschrieben werden könnte, so werden wir zumindest das notwendigerweise ›mitsehen‹, daß eine solche farbige Fläche eine Rückseite hat, die ›hinter‹ ihr und nicht neben ihr liegt. Bereits einzel15
Der Große Brockhaus, Stichwort ›Perspektive‹, Leipzig 1933, H. v. m.
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ne Linien auf einer solchen Fläche aber liegen für uns nicht einfach nebeneinander: eine senkrechte oder schräge Linie, die ›nach oben steigt‹ und ›nach unten fällt‹, sich ›krümmt‹ oder ›begradigt‹, eine Waagrechte bildet, die dieses Oben vom Unten ›scheidet‹ usf. Bestimmte Farben aber treten allemal gegen andere hervor oder zurück und offenbaren so bereits ein Vorne und Hinten etc. Ich bezweifle daher, daß wir reine Flächigkeit überhaupt sehen können; reine Flächigkeit ist bestenfalls eine abstrakte transzendentale Idee der Mathematik, sofern sie uns nicht schon auf die Zusprüche der Tiefe verweist. Zur scheinbaren Bekräftigung der Auffassung, Zentralperspektive erzeuge ›Illusionen‹, wandte man sich widersinnigerweise gerade an die Physiologie des Auges, um zu behaupten, Lichtstrahlen träfen als Photonen auf eine Fläche, die Netzhaut, und die ›Räumlichkeit‹ der visuellen Eindrücke beruhte rein auf ›Verarbeitungen‹ im Gehirn. Abgesehen davon, daß die Netzhaut nicht eben, sondern konkav ist, also selbst körperlich, wäre ja die Behauptung, Lichtstrahlen durchquerten einen drei-dimensionalen Raum, um auf die zwei-dimensionale Fläche der Netzhaut zu prallen, demnach selber nur ein Konstrukt des Gehirns. – Man sieht, hier spukt der Parallelismus der Leibniz’schen Monadenlehre als materialistisches Phantasma. * * * Nun gilt auch für das Sujet eines Landschaftsgemäldes grundsätzlich, daß es sich niemals nur als die rein visuell empfundene Darstellung einer singulären Landschaft präsentiert, sondern stets zugleich monogrammisch als Derartiges, außerdem diagrammisch, insofern ihr Wandel in den Zeiten als Bewegungsbild mitgesehen wird, polygrammisch, wenn nicht gar panagrammisch, wenn das dargestellte Sujet als ein Paradigma für Landschaft überhaupt gilt. Zudem hat man schon früh bemerkt, daß es sich wandelnde Wahrnehmungsstile von Landschaften in der Geschichte gibt, die wesentlich von der jeweiligen Landschaftsmalerei mitgeprägt wurden. Es gibt also die scheinkausale Abhängigkeit der Sujets von ›an sich‹ seienden, wirklichen Erscheinungen, die nachgeahmt würden, gar nicht. Die übliche Orientierung an ›Spiegelungen‹, durch welche jedes Bild als Zeichen, nämlich als ›Abbild‹ von etwas beurteilt werden soll, zielt jedoch auf etwas ganz anderes: Der Spiegel präsentierte, wie gesehen (9.), ein visuelles Bild, das durchaus 199 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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auch den Sinn möglicher anderer Sinnesempfindungen enthält, zumal auch den Sinn aktuell unempfundener Bewegungen in die Tiefe. Diese Virtualität ist aber nicht ›verwirklichbar‹ : Wir können nicht die gespiegelten Räume betreten, um dasjenige, was wir in seiner Helle und in seinen Farben zugleich als ›weiche‹ oder ›harte‹, ›warme‹ oder ›kalte‹ Gegenstände sehen, auch wirklich von allen Seiten taktil zu berühren. So gibt uns der Spiegel ein Erscheinungsbild, das uns abschneidet von jedem antizipierenden Versprechen, den Sinn virtueller Sinnesempfindungen auch durch wirkliche Empfindungen einlösen zu können. So erst werden wir gedanklich auf etwas zurückgeworfen, das es in Wirklichkeit sonst nicht gibt: auf einen ›rein visuellen Anblick‹. Es ist dieser gedankliche Einschnitt gegen die mögliche Wirklichkeit anderer Sinne, die jedes Gemälde mit dem Spiegelbild gemeinsam hat – mag es auch noch so extrem abweichen von der Ähnlichkeit mit wahrnehmbaren Landschaften, wie etwa ›Landschaftsgemälde‹ von Braque oder Mondrian. Doch ein solcher Einschnitt macht ein Gemälde nur dann zum ›Abbild‹, wenn der Bildgegenstand, wie im Falle des Portraits oder einer Vedute, fraktal in seinen Proportionen und Farbgebungen der sichtbaren Wirklichkeit ähneln soll. Auch das ›Abbild selbst‹ bleibt als visuelles Bild gekennzeichnet von jenem Einschnitt, der jede Verwirklichbarkeit des Virtuellen unmöglich macht. Diese Unmöglichkeit läßt erst den Gedanken eines ›reinen‹, von wirklichen visuellen Empfindungen abgeschnittenen Sehens aufkommen. – Sehen wir dagegen das perspektivisch dargestellte Gemälde einer Landschaft, dann sehen wir mit, was wir nicht empfinden, wohl aber virtuell als Sinn solcher Empfindungen mitauffassen: Jede Berührung, ob ›erzwungen‹ oder nicht, setzt mit der Bewegung auch die Kraft zu derselben voraus. Wo wir den Sinn der Bewegung mitsehen, wie im Spiegel- oder Abbild, eröffnet sich nicht bloß ein virtueller Raum der Dinge hintereinander, wie beim nur visuellen Hinblicken, sondern zudem eine Tiefe in die Ferne, Höhe und Weite hinein. Vorzüglich sind es, wie bemerkt, das Fernweh und die Sehnsucht, die solche Tiefe entbirgt, ob als wirklicher Wunsch, ihrem Sog zu folgen, oder nur als ein wehmütig resignierendes, für sich bestehendes Begehren. Ich denke, der blinde Zorn der Moderne richtete sich gegen die Vorstellung, das Sujet der Malerei könne zum bloßen Instrument einer Begierde oder eines Bedürfnisses erniedrigt werden, wie in der Pornographie, in der Werbung, in der Andenken-Fotografie, der Kartographie u. a. Daß Werke der Kunst zu unzähligen, ihr äußerlichen Zwek200 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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ken mißbraucht werden können, ist jedoch keine neue Erkenntnis. Hegel war in seinen Vorlesungen zur Ästhetik ausführlich darauf eingegangen. Solche Instrumentalisierung der klassischen Malerei zu unterstellen, wie etwa ›Illusionen‹ wirklicher Räumlichkeiten herzustellen, wäre läppisch! Das schließt nicht aus zu begreifen, daß auch der Sinn virtuellen Begehrens eine Weise des Sehens ist. Die projektive Geometrie allein hätte nie ausgereicht, virtuelles perspektivisches Sehen zu ermöglichen, wäre der Blick beim Seichten und Oberflächlichen stehen geblieben, anstatt von den erscheinenden Flächen zu den Tiefen geleitet zu werden.
10.3. Landschafts-Darstellungen Im Folgenden beschränke ich mich darauf, kurz die Weisen der Räumlichkeit zu beschreiben, wie sie in den Landschaftsgemälden an den erscheinenden Gestalten dargestellt sind und über sich hinaus auf die sich entsprechenden Seinsweisen des Raumes verweisen, wobei ich nicht weiter auf die Szenen eingehen werde, die ja auch dann auf bestimmte Erzählungen verweisen können, wenn unmittelbar keine menschlichen Figuren mit dargestellt wurden. Den verschiedenen Landschaftserscheinungen nach werden wir unterschiedlichste Zusprechungen von Ferne und Nähe, Weite und Enge, Höhe und Niedrigkeit, Tiefe und Fläche finden, denen eines gemeinsam ist: Da ist eine verschwiegene Vertrautheit mit den Gestalten vorausgesetzt, die der Erde und dem Himmel zugehören, in der man sich allerdings nicht einrichtet, die vielmehr ermöglicht, sich erst der Fremdheit dieser Gestalten auszusetzen, ohne auf sich selbst zurückgeworfen zu werden. Denn so erst werden Landschaften als das Freie erfahren, auch gegen die Zwänge bloß ›erkämpften‹ und verwalteten Zusammenlebens in den Ländern. Das Freie aber ist als der wahre Sinn der Landschaft verstanden, so wie das Auge als der eigentliche ›Fernsinn‹, der den Sinn aller anderen Empfindungen und deren Schematisierungen zu Bildern erschließt. Ich werde mich auf Landschaftsgemälde beschränken müssen, die in Europa entstanden sind, und auf die großartige Landschaftsmalerei Chinas, zumal seit der Tan-Zeit, leider nicht eingehen können. Noch kann ich mich mit so wichtigen Fragen beschäftigen, wie der, ob es in den vor-kolumbianischen Hochkulturen Amerikas wirklich keine 201 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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Landschaftsdarstellungen gegeben habe oder ob uns nur der Blick dafür noch fehlt. Formal werde ich mich zwar an eine chronologische Abfolge halten, in welcher die Bilder entstanden sind. Nun gibt es zweifellos auch eine Geschichte der Darstellungsmittel, die isoliert betrachtet vielleicht teilweise als ein ›Fortschritt‹ verstanden werden kann, wie etwa das transportierbare Tafelbild und die Ölfarbe gegenüber dem Fresko. 16 Entscheidender scheint mir jedoch die Frage, wie jeweils aus einem Grunde heraus Landschaftserscheinungen zusammenkommen und sich von diesem Grund her auf verschiedene Weise als ›Landschaften‹ zu erkennen geben, zu denen wir, als ihre Gäste, nur ohne Besitzergreifung und Verfügung über sie einen Zugang finden. Nur oberflächliche Betrachtungen bleiben bei der Feststellung von ›Ähnlichkeiten‹ mit wirklichen Landschaften oder Abweichungen von diesen stehen. Es bleibt die klassische Landschaftsmalerei zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert allerdings darin ausgezeichnet, daß sie die freie Landschaft in die Ferne hinaus, in die Höhe hinauf, ins schlechthin Weite selbst thematisiert und dargestellt hat, während die Moderne sich auf die Suche nach ›Räumlichkeiten‹ begab, die von keiner projektiven Geometrie mehr gestützt ist, begleitet von der Gefahr, inmitten der radikalen Verwerfung des Ornaments selbst ins Ornamentale abzugleiten. 1.
Römischer Meister um 125 v. Chr., Landschaft zur Odyssee, etwa 60–40 v. Chr. Die griechisch-römische Antike kennt, wie man aus den wenigen überlieferten Fresken schließt, zumindest Ansätze linearer Perspektiven. Im Vordergrund dieses pastellblauen und wüstenfarbenen Bildes sind, getrennt durch einen Meeresarm, wohl einer der Felsbrocken werfenden Laistrigonen (oder Polyphem?) und drei Flußnymphen (oder die Sirenen?) zu sehen, umgeben von einigen agavenartig stachligen Pflanzen. Die in dunkleren Tönen gehaltenen Felsen im Vordergrund scheinen Jeder technische ›Fortschritt‹, sofern er soziale Auswirkungen hat, ist geknüpft an bestimmte ›Rückschritte‹, wie auch immer manche ›Verbesserungen‹ überwiegen mögen. Wie leicht ließe sich daher umgekehrt fragen, ob nicht eben diese Loslösung der Malerei, wie auch der Skulptur, von der Architektur zugleich einen gewaltigen Rückschritt mit ermöglichte, der wirksam erst in der gewalttätigen Ödnis des Bauens von ›Zellen‹ ab dem 20. Jahrhundert wurde. Legt die Rede von ›Wohnmaschinen‹ nicht nahe, die Bewohner solcher Zellen entweder als Rädchen in ihrem Ablauf oder als überflüssige Parasiten zu betrachten?
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sich matt in einem fast klaren und transparenten Wasser zu spiegeln. Hinter dem überhängenden Felsen links zeigt sich noch ein Teil des fliehenden Segelschiffs des bedrohten Odysseus, das uns verhältnismäßig zu groß scheint, wohl um seine Bedeutsamkeit zu unterstreichen. Der Betrachter sieht die Figuren im Vordergund fast frontal und steht doch zugleich höher als diese, so daß er zugleich auf den kahlen Küstenstreifen und die Berge hinabschaut, die den Abschluß des Meeres gegen das Land säumen. Auf die Küstenlinie und das Meer blickt er schon eher aus einer gewissen Vogelperspektive. Die Horizontlinie zum Himmel ist relativ hoch, so daß die Weite, in welche Meer und Land entgleiten, die des Himmels übertrifft. Da links ein gewaltiger Fels und rechts Berge den Blick auf diese Weite rahmen, entsteht ein kanalartig ausgerichteter Sog in die Ferne hinaus, die sich allerdings nicht deckt mit der Richtung, in die es den flüchtenden Odysseus treibt. Die hellklaren Lichtverhältnisse bilden eine sommerliche Atmosphäre, rechts von gewitterartig düsteren Wolken begrenzt, während das Schiff dem Licht zu gleitet.
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Sant’Apollinare in Classe, Mosaik der Apsis, um 500 n. Chr., Ravenna Es scheint eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem antiken OdysseeFresko und diesem Mosaik im byzantinischen Stil zu bestehen. Nach den herrschenden kunsthistorischen Vorstellungen kommt solche Landschaftsdarstellung einer vermeintlich tiefenlosen Flächigkeit sehr nahe, schon deshalb, weil – bis auf eine kleine Ausnahme – alle landschaftlichen Gestalten scheinbar isoliert, rein nebeneinander bestehen und der Halbbogen der Kuppel den Betrachter von oben eher einhüllt als einem offenen Raum aussetzt. Gleichwohl kommen wir, wenn auch Berge und Hügel und somit Senken und Täler und Gewässer fehlen, gar nicht umhin, bereits die nicht-visuellen Rückseiten der Figuren mitzusehen. Der Heilige zeigt sich von vorne, die Schafe aber im Profil, wobei Teile ihrer Beine der unsichtbaren Rückseite mitzusehen sind und zudem eines der weißen Tiere ein anderes teilweise verdeckt. Allgemein sind die vier irdischen ›Reiche‹ dargestellt: Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreich – umhüllt vom Reich des Geistes; während von den vier Elementen das Wasser nur indirekt in den Lebewesen anwesend ist, das ›Feuer‹ als ›Licht‹ aber Mittler zum Überirdischen ist. Die Bildinhalte, die zu sehen sind, zumal das Wild und die Vögel, die unterschiedlichen Pflanzen und die geriffelten Steine, die auf Wiesengras zu liegen scheinen, finden nach den Seiten hin keinen vollendeten Abschluß; sie gehen weiter und werden nur äußerlich von einem ornamentalen Band unterbrochen. Nur das aktuelle Sehfeld ist begrenzt, nicht die Menge der Bildgegenstände, die über den äußeren Rahmen wohl hinausgehen, so daß scheinbar die Ferne vor uns, nicht aber die seitlichen Weiten abgeschlossen sind. Dieser seitliche Abbruch wird gemildert durch das Wissen um die symbolträchtige Zwölferzahl der ›Gemeindemitglieder‹. – Wir finden hier ein Aufbauschema der Landschaftsdarstellung vor, das sich, bei aller Abwandlung, bis zu Beginn der Moderne durchhalten wird: Der nächste Vordergrund wird von den Schafen im Profil und den Blumen und Kräutern zwischen ihnen gebildet, in der Mitte frontal der Heilige, auf den seine ›Herdentiere‹ zugehen. Von den beigegrünen Farbtönen geht es in die tiefgrünen über, die von einzelnen Steinen, einigen Vögeln und anderen Tieren sowie nicht etwa von Büschen, sondern von recht kleinen Baumarten mit unterschiedlicher Krone gebildet werden. Über diesen stehen dann auch acht größere, individuell verschiedene Baumgestalten, zwischen denen sich links ein weiteres Schaf (oder weißes Pferd?), rechts zwei 204 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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Tiere befinden, von denen eines den vollen Anblick des anderen teilweise verdeckt. Während solche Überschneidung einen ›Gang‹ in die Tiefe anzeigt, scheinen die nach ›hinten‹ größer werdenden Bäume einem der Ferne zugehenden Hintereinander zu widersprechen. Gehorchen sie nur einer ›Bedeutungsperspektive‹ ? Über dem Horizont, der unterhalb der Baumkronen liegt, die somit in die göttliche Sphäre reichen, ist der überirdische Himmel gänzlich in Sonnen-Gold dargestellt, das allerdings von kleinen schmalen Wolken durchwirkt scheint und in dem zwei in weiße Tücher gehüllte Engel auf die Landschaft hinabschauen. An höchster Stelle des goldenen Himmels zeigt die Hand des unsichtbaren Gottes hinab auf den irdischen Himmelkreis, der – durchkreuzt mit dem Zeichen des Gottessohnes und Erlösers – dunkelblau und sternenübersät ist. Das ganze Mosaik zeigt also nicht nur eine unabgeschlossene horizontale Weite über den Rahmen hinaus, sondern zudem eine vertikale Räumlichkeit zwischen den niedrigen Gestalten der rein irdischen und sich doch nach oben erstreckenden Landschaft, deren Erdboden sich gegen jede mögliche ›unterirdische Höllenlandschaft‹ verschließt, und der alle irdische Höhe übersteigenden überirdischen Höhe des göttlichen Himmels. – Im Laufe der weiteren Geschichte der Malerei wird sich das Verhältnis des sonnengolden dargestellten, überirdischen Himmels zum blauen, irdischen Himmel, 205 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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dessen Verhältnis zur Erde hier noch symbolisch abstrakt bleibt, sehr ändern. In der Romanik und zumal in der Gotik kann das Sonnengold derartig einen Hintergrund der Figuren bilden, daß schließlich Landschaften auftauchen, als schaue man durch den überirdischen Goldhintergrund, in dem sich ein Fenster öffnet, um einen Blick zu gewähren auf die irdische Landschaft. In diesem Mosaik scheint dagegen der bestirnte irdische Nachthimmel wie durch eine Luke sichtbar zu werden, als ob er hinter dem ›überirdischen‹ lichtgoldenen Himmel endlos weiterginge. 3.
Geburt Christi,Verkündigung an die Hirten, Sanktgaller Sakramentar, 11. J., Stiftsbibliothek Sankt Gallen, ms. 341 An vielen Bildern der romanischen Buchmalerei fällt auf, daß die Gestalten nicht etwa auf einem eben getretenen Pfad oder Weg, sondern auf einem unebenen, welligen Boden stehen, der gleichwohl weniger an die Steinpflaster der alten römischen Heerstraßen erinnert als an Wege, welche die Abdrücke der Fußspuren bewahrt haben. Darüber erscheint ein in Erdfarben gehaltener, berg- und hügelloser Streifen, als sei damit ausgedrückt, daß dem Betrachter die Bewirtschaftung der Äcker näher liege als die Wiesen hinter ihm. Unentschieden wird gelassen, ob die Füße der Gestalten auch diesen Streifen berühren oder nur angehoben sind. Aus ihm wächst links eine palmenartige Baumgestalt hervor, die zwar nicht auf einen bestimmten Ort, aber auf ein bestimmtes Land im Orient verweist, während in der Bildmitte ein nicht sehr hohes, vielleicht agavenähnliches Gewächs steht. Je zwei Ziegen sind im Profil dargestellt und gruppieren sich um diese Gewächse, zwischen denen der Verkündigungsengel steht. Die Tiere links, im Rücken des Engels, scheinen erschreckt, die anderen beiden dagegen ganz unbekümmert. Dem erdfarbenen Streifen folgt ein licht-grünes Band, durch das ein grasartiger Bewuchs, eine Wiese angedeutet wird und das seinerseits abgeschlossen wird von einem himmelblauen Streifen, der somit den Himmel über dem Horizont markiert. Obwohl durch das Fehlen von Schattenwürfen die Tageszeit unbestimmt bleibt, ist doch der Art der Beleuchtung nach eher Mittagszeit, wobei schon wegen der mitgeführten Ziegen, die von den Hirten von oder zur Weide geführt werden, eine warme Jahreszeit vorherrscht. Die Verkündigung erfolgte, wie die Evangelisten schrieben, im Freien, nicht zwischen Gemäuern, hier allerdings in Tageshelle. Der Engel, der den Hirten seinen Arm mit zwei ausgestreckten Fingern 206 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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entgegenhält, blickt direkt jedoch weder den grauhaarigen noch den jüngeren Hirten an, sondern frontal den Betrachter, der damit in das Geschehen einbezogen ist. Die Gebärde der Hirten mit erhobenem Arm und geöffneter Hand drückt eher ein Grüßen aus denn ein Erschrecken oder Verwundern. Ihre Gesichter sind dem Betrachter, ihre Augen aber dem Engel zugewandt. Sie verstehen sich wohl als Gäste einer überirdischen Erscheinung in Engelsgestalt, die ihrerseits als Gast auf Erden weilt. Nicht erst die Tiere deuten durch die Fläche hindurch eine Tiefe in die Ferne an, von der aus ein Hintereinander erst möglich wird; dies tun bereits die menschlichen Gestalten dadurch, daß ihre Arme Teile ihres Brustbereichs überschneiden. – Die Szene der Verkündigung der Geburt Jesu an die Hirten und nicht an die Städter sollte offenbar nicht nur an einem bestimmten Ort stattfinden. So ist auch die Örtlichkeit kaum individuiert. Wie abstrakt auch immer die Landschaft verzeichnet ist, sie verweist vorrangig darauf, daß dieses Geschehen im Freien stattfindet. Die Bänder des sandig Beigen, des AckerBräunlichen, Wiesen-Grünen und Himmels-Blauen zeigen dabei auf das Grundschema eines landschaftlichen Bildaufbaus, das sich durch die kommenden Zeiten erhalten wird, wie auch immer bereichert durch Berge und Täler, Wälder und Gewässer, und erst in Landschaftsbildern 207 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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Braques und Rousseaus oder Kirchners und Noldes zumindest in den Farbgebungen umgewälzt wird. Wir haben es also mit einem unbestimmten Ort in einer offenen Landschaft zu tun und nicht mit einem lokalisierbaren ›Schau-Platz‹, wie unbestimmt auch die landschaftlichen Fernen, Höhen, Weiten und Tiefen noch gehalten wurden. 4.
Ambrogio Lorenzetti, Leben auf dem Lande, aus: Die Folgen der guten Regierung, Fresko im Palazzo Publico um 1337–1340, Siena Verbreitet gilt unter Kunstwissenschaftlern das Fresko Lorenzettis als erstes Landschaftsbild überhaupt – wohl deshalb, weil sie ›Landschaft‹ einfach mit dem Ensemble ihrer einzelnen Gestalten gleichsetzen. Das Schema der nach oben hin gestaffelten beige-braun-grün-blauen Bänder zeigt sich hier nur in stückhafter Form. Durchgängig aber sind nun Überschneidungen und gewisse Größenabnahmen dargestellt, so daß es zu stufenartigen Fernungen kommt. Doch zeigt sich noch keine kontinuierliche Abstufung von den farbkräftigen Hügeln im Mittelgrund zu den blasseren im Hintergrund, was eher den Eindruck erweckt, als verteilten Wolken unterschiedliche Schatten- und Lichtzonen über sie. Man kann zwar lesen, hier seien alle Arbeitsarten, die über das Jahr hin anfallen, versammelt, doch der Vorrang beiger Farbtöne, die vom Dunkelgrün der Bäume und Wälder unterbrochen sind, läßt uns auf eine eher spätsommerliche bis herbstliche Jahreszeit nach der Getreideernte zur Weinlese schließen, und der dunkelblaue Himmelsstreifen (sowie die durch die Stadtmauer reitende Jagdgruppe) kann so verstanden werden, daß wir an der Schwelle zwischen der Dämmerung zum Vormittag oder zum Abend hin stehen. Die oben gezeigten Bilder deuteten nur allgemein an, daß heller Tag und nicht Dämmerung oder Nacht herrscht, ohne daß ein Sonnenstand und somit die Richtung von Lichtstrahlen angegeben war. Hier fehlt ebenso noch eine eindeutige Richtung der Beleuchtung und somit der Schattenwürfe. Dem Odysse-Fresko nicht unähnlich liegt hier eine Spannung vor zwischen An-Sicht der Landschaftserscheinungen auf gleicher Höhe mit ihnen und Auf-Sicht über sie von einem höheren Standort aus. Der Maler wollte offensichtlich weder nur eine Aufzählung ländlicher Tätigkeiten noch nur eine abstrakt karthographische Übersicht über das der Stadt zugehörige Land geben, wohl aber in den Einzelheiten der Dinge deren Zusammenhänge aufzeigen. Was sich, außer der Weite und Ferne, in diesem Landschaftsbild als Tiefe zeigt, vollzieht sich in verschiedenen Richtungen: nicht nur allgemein dem von Hügelketten 208 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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gebildeten, hoch liegenden Horizont zu, sondern auch durch die Senke und den Weg zum Flußtal hinab und zur Brücke hin, so daß die Figuren mit ihrer Entfernung vom Betrachterstandpunkt kleiner dargestellt werden. Der Betrachter selbst nimmt ungefähr die gleiche Höhe des Standortes wie die zur Jagd ausreitende adlige Person ein; zwischen beiden besteht eine Senke, deren wiederansteigende Fläche mit Szenen aus bäuerlichen Arbeiten ausgefüllt ist. Eine weitere Tiefe zeigt sich vermittelt durch das Kleinerwerden der Bäume und zumal der Hügel der Ferne zu, die zwar gleichförmiger, allerdings nicht gleichmäßig heller werden, was nicht nur den dunkleren Wäldern in den Tälern verdankt sein kann. Es scheint, wie gesagt, als ob in einer mittleren Zone Wolkenschatten die Landschaft verdunkeln, ehe sie dem äußerst hoch gelegen Horizont zu teilweise wieder heller werden. – Während der linken Seite zu die landschaftlichen Gestalten einen gewissen Abschluß durch das Stadttor finden, sind sie der rechten Seite zu offen und nur durch das imaginierte Sehfeld begrenzt. Obwohl es ja um die Darstellung der Ländereien um Siena und deren Nutzungsarten geht, scheinen die Menschen und die einzelnen Taten und Ereignisse hier nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen und nehmen auch keine größeren Teile der Bildfläche ein: Sie sind hier, nicht anders als die Tiere, zu kleinen, diagrammisch erfaßbaren beweglichen Erscheinungen einer ausgedehnten Hügellandschaft geworden. Ihre Tätigkeiten sind keine weltverändernden Taten mehr, sondern all209 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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tägliche Beschäftigungen im Wechsel der Dinge zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten. Durch den äußerst schmalen Himmelstreifen am Horizont kommt nun eine Tiefendifferenz zwischen dem Niederen und Hohen kaum zur Geltung. Es besteht ein Vorrang des Nacheinander der Ferne zu und des umliegenden Nebeneinander in die Weite. Die überirdisch gemeinte, sonnengoldene Höhe ist verschwunden, die irdisch gemeinte, tiefe Höhe des Himmels noch nicht dargestellt. 5.
Gebrüder Limburg, Der Monat Februar, in den ›Très Riches Heures‹ des Duc de Berry, fol. 2v, um 1410–1416, Musée Condé, Chantilly Lorenzettis Bild hatte nicht die Aufgabe, wie die Stundenbücher der gotischen Kalendermalerei mit ihren ›Monatsbildern‹, die typischen Tätigkeiten in den zwölf Monaten des Jahres aufzuzeigen; es ging um eine politische Demonstration der Erfolge einer guten Regentschaft über Stadt und Land. Die Stundenbücher illustrierten dagegen die Ordnung menschlicher Tätigkeiten gemäß den Unterschieden der Jahreszeiten, so daß unabweisbar wurde, auch winterliche Landschaften und damit überhaupt deren zeitliche Dimension zu malen. Daraus ergaben sich die ersten Bilder, die darstellten, wie sich auf alle Landschaftserscheinungen, sofern sie nicht senkrecht aufragen oder selbst Wärme ausstrahlen, eine gleichmäßige Schicht aus Schnee oder Eis legte, die alles aus sich heraus und nicht von einer Lichtquelle her zu erleuchten scheint – eine gleichförmige kalte Atmosphäre, ganz anders als in den meisten Landschaftsbildern mit ihrem hellen, schattenlosen Licht und einer verbreiteten Begrünung, welche explizit die Sommerzeit nicht thematisierten.– Soweit mir bekannt, löste dann erst Pieter Bruegel d. Ä. die Darstellung der Winterlandschaft aus der Kalendermalerei heraus und erhob sie zu einem eigenständigen Bildgegenstand, der sich noch weit über Caspar David Friedrichs Winterbilder hinaus erhalten hat. Die romanische Buchmalerei des Klerus und die Fresken in den Kirchen interessierten sich nicht für diese Zyklen der Erscheinungsweise profaner, alltäglicher Dinge im Freien, mit denen sich die Bevölkerung gewöhnlich zu beschäftigen hatte und deren Darstellung für die Herren der Gesellschaft sich eher rechtfertigen ließ, wenn ihnen angemessene Gebete und moralische Verhaltenscodicis zugeordnet wurden. Was manche Bilder der gotischen Stundenbücher noch mit der roma210 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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nischen Malerei verbindet, ist die gleichzeitige Darstellung dessen, was eigentlich erst durch einen sprunghaften Standortwechsel sichtbar werden könnte, wie hier die Bauernhütte von außen und von innnen, mit offenem Kaminfeuer, vor dem sich Personen aufwärmen. Das trifft aber nicht auf die Darstellung des Schafstalls oder der Gebäude des fernerliegenden Dorfes zu. Wohl aber deutet sich sichtbar im Bild durch den Schafstall und die Bienenkörbe, durch den Zaun und durch den Waldrand eine perspektivische Linie diagonal von rechts unten nach links oben an, die einen ganz anderen Betrachter-Standort voraussetzt als den, den wir davor einnehmen. Sie unterstützt nicht nur den Weg in die Ferne überhaupt, sondern zudem den Anstieg zu den Hügeln (oder Abstieg von ihnen) im Hintergrund. Das heißt, die Wege in die Ferne steigen hier zugleich in die Höhe wie sie sich dem Niedrigen zuwenden. Der Horizont dagegen liegt in diesem Bild sehr hoch und läßt nur den schmalen Streifen eines bewegten Himmels, nicht die Tiefe einer Höhe zu. 6.
Jan van Eyck, Die Taufe Christi im Jordan, fol. 93v des »Turin-Mailänder Stundenbuches« (Ausschnitt), um 1420/25, Museo Civico d’Arte Antica, Inv.-Nr. 47, Turin
Noch innerhalb der Buchmalerei vollzieht sich eine entscheidende Wende zur perspektivisch einheitlichen Landschaftsdarstellung. Der dem Hintergrund zu kleiner und schmäler werdende oder dem Vorder212 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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grund zu größer und breiter werdende Fluß, in dem sich zudem die Dinge am Ufer spiegeln, verbindet die kulissenartig hintereinanderliegenden Schichten, die Personen ganz vorne, die Gebäude, bewaldeten Uferhügel und die blauen Berge im Hintergrund zu einer kontinuierlich in die Ferne gleitenden landschaftlichen Räumlichkeit. Der Fluß übernimmt unabhängig vom Betrachterstandpunkt die Rolle eines gemeinsamen Fluchtpunktes, dem zu die Bildgegenstände der Ferne zu kleiner werden, sich verkürzen und sich teilweise überlagern. Gerahmt ist der schon fast panoramaartige Bildausschnitt, der den Sehwinkel eines unbewegten Betrachters übersteigt, links von einem mächtigen Schloß und rechts von hohen Bäumen. Der Betrachter selbst steht fast auf Augenhöhe mit den beiden Figuren der Taufszene. Die Horizontlinie senkt sich ab und gibt dem Himmel schon ein Drittel der Bildfläche frei. Die panoramaartige Breite des Bildes läßt trotz der begrenzenden Rahmungen seitlich eine imaginierbare Weite zu. 7.
Albrecht Dürer, Ansicht eines Felsenschlosses an einem Fluß, 1494, Kunsthalle Bremen, Bremen
Neben der Arno-Zeichnung Leonardo da Vincis gilt dieses Aquarell, das Dürer auf seiner Italienreise angefertigt haben soll, als erste Landschaftsdarstellung ohne Staffage mit menschlichen Personen, wenn auch die Felsenburg auf deren Anwesenheit verweist. Allerdings wird vermutet, daß es sich nur um Skizzen für noch auszuführende Gemäl213 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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de handelt. Von einem erhöhten Standort aus und wohl von der anderen Seite des Flusses her schaut der Betrachter, vorbei an einem sanfteren und teils bewaldeten Hügel zur Linken, auf eine steile felsige Erhöhung, die mit der Burg abschließt. Der Fluß scheint sich nach links um den Felsen zu winden, so daß das rechte bewaldete Ufer sichtbar wird, über dem sich ein hoher Himmel auftut. Eine mit van Eycks Bild vergleichbare sichtbare Ferne und Weite allerdings öffnet sich nicht. Zu sehr rückt mit der Felsenburg an einer Flußwindung eine begrenzte Örtlichkeit ins Zentrum. Ihre Nähe und die Niedrigkeit des Himmels über ihr beschränken die Weite und Tiefe dieser Landschaft auf den kleinen Ausschnitt des bewaldeten Ufers gegenüber. 8.
Joachim Patinir, Landschaft mit dem heiligen Hieronymus, um 1515, Museo National del Prado, Madrid
Patinir, den Dürer auf seiner Niederlandreise besuchte und lobend als ›gut landschafft mahler‹ in seinem Tagebuch erwähnte, gilt als der eigentliche Begründer der neuzeitlichen Landschaftsmalerei. Hier spricht der Eremit mit dem Löwen in der Nähe des Betrach214 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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ters der Ferne zu, indem er ihr und den anderen menschlichen Ansiedlungen den Rücken zukehrt; ebenso wie der durchhöhlte Felsen eine ungeborgene Enge gegen die Weite und Niedrigkeit gegen die Höhe bildet. Der Eremit scheint nichts zu wissen von der Tiefe der Landschaft, der er sich aussetzt, indem er sich fernhält von den kirchlichen Bauten auf dem Felsplateau wie auch von den zerstreuten Gebäuden auf den Hügeln unter ihm, die kaum ein Dorf bilden, und von der ferneren Stadt an der Meeresküste. Norbert Wolf zitiert einen Brief des Hieronymus an Paulinus: ›Du tust gut, die Städte und ihr Getriebe zu meiden, dich auf dem Land niederzulassen, und Christus in der Einsamkeit zu suchen. Du sollst allein mit Christus auf dem Berg beten.‹ 17 Hieronymus und sein Löwe halten sich hier nicht in einer Wüste auf und in keiner einsamen Gegend, sondern in einer mit Bäumen bewachsenen grünen Landschaft, deren bizarre fantastische Felsen zur Linken bis zur Gewitterwolke zu reichen scheinen. Er bewohnt eine ärmliche Hütte, die an den freistehenden Felsen gebaut ist. – Der Betrachter nimmt hier eigentlich noch verschiedene Standorte ein: Zum einen steht er kaum höher als der Eremit und kaum niedriger als das Felsplateau, während die riesig und steil emporragenden, weißen Felsen im Hintergrund und Hieronymus durch einen gewaltigen Höhenunterschied getrennt sind. Zugleich aber präsentieren sich dem Betrachter die zur Küste reichende Hügellandschaft und das Meer selbst aus der Vogelperspektive, im Unterschied zu den fernen hohen Berge weit hinter einer Landzunge. Von links drängen schwarze Gewitterwolken in den wolkenlos blauen Himmel, der horizontal von diesen blaßblauen Bergen begrenzt ist. Schattenwürfe sind angedeutet, als seien die Gestalten von einem verschleierten Sonnenlicht aus der Richtung der Gewitterwolken beleuchtet. Man kann jedoch Patinirs Landschaften insgesamt nicht ›Übersichtslandschaften‹ nennen: Zu stark ist die in die Ferne reichende Weite, wogegen der hoch liegende Horizont kaum einen Zug in die Himmelshöhen zuläßt.
Hiernonymus in einem Brief an Paulinus, zit. bei: Norbert Wolf, Landschaftsmalerei, Köln 2008, S. 32.
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Joachim Patinir, Die Marter der heiligen Katherina, vor 1515, Kunsthistorisches Museum, Wien
Sommerliche, vorrangig irdische Weite präsentiert auch dieses Bild Patinirs, das die Kunsthistoriker nicht recht einleuchtend als ›Weltlandschaft‹ bezeichnen, weil Szenen aus der Bibel und aus den Heiligenlegenden, die an sich zu verschiedenen Zeiten stattfinden, gleichzeitig auf unterschiedliche Schauplätze verteilt werden. 18 Auch hier zeigt sich die gleiche Spannung zwischen Vorderansicht vertikaler Landschaftselemente und einem Blick, der von der Höhe schräg auf die Oberfläche des Landes und auf die der Mündung des Flusses im Meer gerichtet ist. Der Horizont liegt noch sehr hoch und die seitliche Weite ist gedämpft durch den rahmenden Felsen rechts, vor dem die durch den Blitz vereitelte Tortur dargestellt ist, und den ferneren Küstenfelsen links, die über den Bildrand hinausreichen. Zudem verwendet Patinir kaum die Farbperspektive, so daß die ferneren Gebäude noch sehr kontrastreich nahe erscheinen.
Elisabeth Wiemann, Die Entdeckung der Landschaft. Meisterwerke der Niederländischen Kunst des 16. & 17. Jahrhunderts, (Hg. Staatsgalerie Stuttgart 2005–2006), Köln 2005, S. 16 f.
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10. Meister der weiblichen Halbfiguren, Landschaft mit Szenen aus dem Leben Johannes des Täufers, 2. Hälfte 16. Jh., University Art Collection, Uppsala
In diesem Bild gleichen sich Ansicht und Aufsicht bereits mehr an, auch wenn der See mit dem Wasserschloß und das Meer, verglichen mit der Wiese und dem Reiter im Mittelgrund, zu hoch liegen, das heißt zu wenig verkürzt gezeigt werden. Zwar geht es auch in diesem Bild noch um Szenen, in denen sich Erzählungen verdichten, aber die Figuren sind so klein, daß sie eher bewegliche Gestalten der Landschaft selbst scheinen. Der Betrachter nimmt auch hier eine erhöhte Postion ein, von der aus er auf das waldige und felsige Flußtal hinabblickt. Doch der Horizont beginnt sich zu senken, wodurch sich die flächigen wie die hügeligen und bergigen Elemente trotz der Aufsicht auf sie schon mehr verkürzen. So entsteht ein gewisser Tiefensog dem fernen Meer und seinen bergigen Küsten zu. Zudem ist die Landschaft seitlich weiter dargestellt als üblicherweise unser Sehwinkel von ca. 45º erlaubt. Wir nähern uns den Panoramalandschaften an, durch welche der Eindruck der Weite gesteigert wird noch über die rahmenden Felsen, Bäume oder Gebäude hinaus. 11. Antwerpener Künstler (Matthys Cock?), Landschaft mit der Marter der Hl. Katharina, um 1540, National Gallery of Art, Washington Die Marterszene erscheint in dieser Landschaft geradezu winzig auf der linken Seite und so entfernt vom Betrachter, als handle es sich nur noch um eine von vielen möglichen Begebenheiten in einer Landschaft. Das Bild stellt eine weitere, in die Ferne gehende Tiefendimension dar durch die von links hereinbrechende düstere Gewitterwolke, die ihren 217 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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Schatten auf die vordere, hügelig nach rechts abfallende Anhöhe und auf Teile des Meeres wirft und die eben die Sicht auf die unbegrenzte Ferne zum Verschwinden zu bringen droht mit der Horizontlinie des Meeres zum heiteren Himmel. Ihre wachsend beengende Nähe und die düstere Verschleierung steigert den Eindruck der verbleibenden Sicht in die Ferne aufs offene Meer hinaus. Denkbar allerdings wäre auch, daß das Gewitter abzieht, zumal die sich nach rechts hinten fortsetzende Reihe der kegelförmigen Felsen wie nach einem Regen fast zu klar voneinander zu unterschieden scheinen. Der Betrachter, der auf die Hügel und auf die tiefer liegende Küste hinabblickt, befindet sich auf einer Anhöhe über den vorderen Hügeln, so daß dem Bild der nächste Vordergrund mit seinen Steinen, Gräsern, Blumen und seinem Buschwerk fehlt. Aber die Horizontlinie des Meeres nähert sich seiner Augenhöhe an. 12. El Greco, Ansicht von Toledo (Gewitter über Toledo), um 1600, The Metropolitan Museum of Art, New York El Grecos Bild zeigt eine Landschaft, in welcher das teils aufgerissene Unwetter noch nicht gänzlich ausgebrochen scheint, wie es an den noch nicht von Stürmen und Regen gepeitschten Sträuchern und Bäumen im Vordergrund zu sehen ist. Der von der engen Schlucht und ihrem Fluß durchschnittene Berg, auch wenn er nicht sehr hoch ist, ragt empor wie in ein wirres Nichts aus gewalttätigen Wolkendünsten hinein. Die Konturen der Gebäude und der ganzen stolzen Stadt, nicht aber die 218 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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Gewächse in der Nähe, leuchten wie unter einem gewaltigen fahlen Gewitterblitz gespenstisch auf, ein Blitz, der nicht etwa, wie dem Betrachter gegenüber die sichtbaren schwarzen Wolken, hinter der Stadt, sondern hinter seinem Rücken aufzuflammen scheint, um alles andere natürliche Licht zu überblenden. Das, was aus der Ferne und von der Höhe kam, ist bedrängend nahe gerückt, ein Eindruck, der noch dadurch verstärkt wird, daß hinter der Kuppe des Berges keine ferneren und weiteren Berge, Täler, Gewässer oder Ebenen auftauchen, so daß dieser Berghang die Bildfläche ganz einzunehmen scheint, obwohl der bewegte Himmel mehr als ein Drittel derselben belegt. Trotz der Tal219 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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schlucht des Fusses und obwohl sich noch Wege auf dem Rücken und in den Falten des zur Linken der Stadt aufragenden Berges hochschlängeln, werden doch der Landschaft weitgehend die sichtbare Ferne, Höhe, Weite und Tiefe genommen, um sie in die entsprechende Nähe, Niedrigkeit, Enge und Oberfläche zu tauchen. El Grecos Bild wirkt wie eine die Moderne vorwegnehmende Verkehrung der bereits klassisch gewordenen Landschaftsdarstellungen. 13. Jan Brueghel d. Ä., Überfall im Wald, um 1605, Warschau, Muzeum Naodowe w Warszawie
Es scheint, als biete der Wald, auch wo er sich zur Lichtung öffnet oder Wege und gewisse Ausblicke zuläßt, nur begrenzte Orte und präsentiere insofern keine Landschaft. Was ihn – wie hier als Ort eines Verbrechens, anderswo als der einer Jagd nach Tieren und deren Tötung oder einer einsamen Suche nach Beeren, Pilzen oder Holz –, was den Wald zum schlechthin Nicht-öffentlichen und so zum Unheimlichen macht, indem er bedrohlich wie schützend Verstecke gewähren kann, ist aber gerade die Unbeschränktheit seiner Orte inmitten der Nähe und Enge seiner einzelnen Erscheinungen. Die sich auf kurze Entfernungen verkürzenden und den Blick in die Höhe ziehenden Baumstämme bilden keine geschlossene Wand, selbst dann nicht, wenn Gestrüpp und Unterholz sein Durchdringen behinderten. Der Wald bildet eine Art dreidimensionales Netzwerk, das die Orientierungen er220 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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schwert. Aber er versperrt nicht, er läßt durch. Selbst wenn die Bäume so dicht stehen, daß kein Sonnenstrahl den Boden erreicht, ist das Schattenreich des Waldes kein nächtliches. So bildet er das Paradox einer aussichtslosen Landschaft. 14. Adam Elsheimer, Die Flucht nach Ägypten, 1609, Alte Pinakothek München
Auf Elsheimers Nachtbild, eines der ersten in der Geschichte der Malerei, wird gleichsam die sich ausbreitende Gewitterschwärze auf den vorhergehenden Gemälden vollendet. Durch diese Dunkelheit bricht fast punktuell das Licht der Sterne, des Vollmondes, der Feuer und Lampen der Menschen. Am Himmel zeigt sich neben den kometenartigen Schweifen der Sternschnuppen sogar die Milchstraße. Der sich im Gewässer spiegelnde, schon niedrig stehende Mond tritt uns aus der landschaftlichen Ferne entgegen, von der her sich der bewaldete Uferoder Küstenstreifen bis in den linken Vordergrund nähert, wo ein kleiner Ausschnitt von ihm unter dem Licht des Feuers deutlicher hervortritt. Insgesamt hebt sich das Schwarz der Bäume deutlich gegen den vom Mondlicht durchfluteten dunklen Himmel ab. Indem die Bäume zugleich ersichtlich einen niedrig liegenden Horizont verdecken, bleibt 221 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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die Ferne gewahrt, wogegen die Höhe des nächtlichen Himmels weit über die Sterne hinaus weist, das Dunkel also konträr zu dem der Gewitterwolken ist. Mondnächte hüllen daher Landschaften nicht ein, um sie nur auf das Nahe und Enge zurückzuwerfen. 15. Josse de Momper d. J., Gebirgslandschaft mit zerborstenen Bäumen, späte 1620er Jahre, Kunstmuseum Basel
Momper verleiht seinen dargestellten Landschaften einen phantastischen und in den felsigen Gebirgen einen bewegten Charakter, als türmte sich in ihnen eine erstarrte Brandung auf. Der Blick des Betrachters auf das Tal mit seinen unbewohnt scheinenden Küsten wird, über die verschwommmenen Konturen der Berge im Hintergrund, in eine unbestimmte Ferne gelenkt und zugleich von dem gewaltigen Bergmassiv aufgehalten, während das Sehfeld den seitlichen Weiten zu gesäumt wird, und zwar links von einem schlanken Baumstamm, der in eine fast transparente, filigrane Laubkrone mündet, die bis zum oberen Bildrand reicht und noch das Rosa des Abendhimmels durchscheinen läßt, und rechts von einem kreideweißen, in sich gedreht wirkenden Felsen, auf dem Nadelbäume wachsen und vor dem die Reste zersplitterter Bäume zu sehen sind. Im Hintergrund dieses Felsens ragt 222 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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das bleich-bläuliche Gebirge hoch bis in Formen hinein, die an die Gischt eines brandenden Meeres erinnern. Zwar führt ein Weg ins Tal, auf dem Wandernde und Reisende verkehren, aber die vom Sturm zerborstenen Bäume unterstreichen die Einsamkeit und die Gebirge die gewaltige Überlegenheit dieser Landschaft, die zwar noch vereinzelt Türme und kleine Gebäude erkennen läßt, die man aber nicht mehr eine von Menschen geprägte ›Kulturlandschaft‹ nennen kann. Der Horizont zeigt sich nicht an einer Begrenzungslinie des Meeres, wird vielmehr von einem Berg mittlerer Höhe verstellt, so daß der locker bewölkte Abendhimmel nicht in vollem Maße in die Weite der Höhe trägt. Die Ferne verweigert sich seltsam dem Spiel von Anziehung und Abstoßung und legt einen Schleier von Ungewißheit um sich. Der Betrachter wird von den Rundungen der seitlichen Felsen im Vordergrund mehr in das Tal und zur Küste unter ihm gezogen als in die Ferne vor ihm. 16. Hercules Segers, Das Tal, 1620er Jahre, Museum Boijmans van Beuningen, Rotterdam
Im Landschaftsbild Segers wird der Mittelgrund, auf den der Betrachter aus geringer Höhe hinabblickt, von einem See mit einer kleinen flachen Insel gebildet, der zu einer sehr schmalen Ellipse verkürzt ist und an dessen vorderer heller Seite menschliche Figuren einen Weg entlang gehen, an dessen gegenüberliegendem, zum Teil bewaldeten Ufer ein schloßartiges Gebäude mit einem Turm daneben steht – Ge223 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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bäude, die sich ebenso wie die niedrige Uferbewachsung in dem See spiegeln. Jenseits eines Landstreifens hinter den Gebäuden, der zu beiden Seiten des Bildrandes ansteigt, zeigt sich in weiter Ferne die schmale Linie einer flachen Meeresküste. Der Blick des Betrachters dringt aber kaum zu dieser Ferne vor. Die Küste liegt weit weg. Es scheint so, als stehe die Sonne bereits abendlich tief und werfe teils mildes Licht, teils dunkle Schatten über die Landschaft. Eine steile, sandsteinartige, von Buschwerk bewachsene Erhöhung auf der rechten Seite, der eine ähnliche hinter dem See entspricht, verwehrt dem Sichtfeld, sich in seitliche Weite zu verlieren. Den Bäumen und Sträuchern fehlen scharfe Konturen; sie scheinen teils wie von Schlingpflanzen wolkig umwoben. Die Umgebung des Sees zeigt keine Spuren einer ländlichen Bewirtschaftung. Der entferntere und sanftere Anstieg zur Anhöhe links der Gebäude scheint eher deren Fortsetzung einzuleiten. Der Horizont liegt aber bereits sehr tief und bewirkt diese starken Verkürzungen der landschaftlichen Gestalten, so daß sich als eigentliche Weite die Höhe des kaum bewölkten Himmels anbietet. Die Ferne zeigt hier weder einladende noch abweisende Züge. 17. Rembrandt Harmensz van Rijn, Gewitterlandschaft, 1637/38, Herzog Anton Ulrich Museum, Braunschweig Rembrandts in blendend beigen bis dunkelbraun gehaltene Gewitterlandschaft ist von einer fast apokalyptischen Unheimlichkeit durchwoben und scheint, trotz einiger Gebäude, wie von Menschen verlassen. Der Betrachter steht etwas höher als einige im Finsteren ansteigende Hügel und Bäume im Vordergrund, deren Schwarz dem der Wolken auf der diagonal gegenüberliegenden Seite entspricht. Licht dringt nach unten, teilweise durch ein Loch in der rechten Wolkendekke, welches einige Teile des Tales und der es abschließenden Hügel erhellt, teils durch die Wolkenöffnungen auf der linken Seite, welches den Wasserfall und seine nähere Umgebung unterhalb der Gebäude fast blendend hervortreten läßt. Von dem festungsartigen, von kleineren Häusern umlagerten Gebäudekomplex in einem hellbeigen, felsigen Bergland, dessen Kuppen allein von Pflanzen bewachsen scheinen, wälzt sich ein großer Fluß, den man auf solcher Höhe nicht vermuten will, über eine gleichförmig gestaltete Gefällkante hinab. Nirgends sind menschliche Gestalten zu sehen. Dieser Strom fließt dann in einem Bogen nach rechts (vom Betrachter aus gesehen) unter einer seltsam hochbeinigen Brücke hindurch, in deren Mitte eine Turmruine aufragt, 224 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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in ein breiteres Tal hinunter, um über ein weiteres Gefälle zum rechten, unteren Bildrand zu fließen. Wie ein sich duckendes Tier mit aufgerissenen erschrockenen Augen blickt uns aus dem Dunkel der unteren Mitte eine Hütte an. Dieses Tal und seine kahle, baumlose Hügelwand leuchtet teils in fast wüstenartigen Sandfarben auf. Die Hälfte der Bildfläche wird durch von rechts kommende oder nach rechts abziehende, schwälend schwarze Gewitterwolken eingenommen, die, aus welcher Ferne auch immer kommend, bedrohlich eben diese in Dunkel hüllen. Eine große Verlassenheit durchzieht diesen Anblick, als würde eine ehemals kultivierte Landschaft endgültig ihrem Zerfall entgegengehen und ihrer Verwilderung überlassen werden. Das feste Land nimmt selbst die Züge des düsteren Himmels an. Die Ferne, der das Tal, entgegen dem Flußlauf, zuzulaufen scheint, verspricht nichts mehr, und der rahmenlose Abbruch des Sehfeldes zu den Seiten hin verstärkt den Eindruck, diese düstere Endzeit-Stimmung setze sich nach allen Richtungen fort. Diese Landschaft scheint irgendwo und ungreifbar zwischen Nähe und Ferne, zwischen Höhe und Niederung, zwischen Weite und Enge zu liegen und die Lichter und Schatten ihrer Oberflächen zeigen die Verborgenheit einer abgründigen Tiefe.
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18. Jan van Goyen, Landschaft mit zwei Eichbäumen, 1641, Rijksmuseum Amsterdam
Das Bild baut sich im scharfen Kontrast auf zwischen der dominanten Nähe der beiden großen, alten Eichbäume zur Rechten, deren Konturen von einem bleichen Licht begleitet werden, und der äußerst niedrig und verkürzt dargestellten, von einem Fluß durchschnittenen Hügellandschaft. Die Bildfläche wird fast gänzlich von einem schweren Wolkenhimmel eingenommen, dessen bleigraues Dunkel nach vorne hin zunimmt, während in der Ferne hellere, aber ebenso trübe Farbtöne aufleuchten. Nur ein schmaler Streifen der Bildfläche läßt die graugrüne Landschaft erkennen, die diesseits des Flusses, im linken Mittelgrund, die Häuser einer kleinen Stadt erkennen läßt, während sich jenseits von ihm, der Ferne zu, eine bewaldete Anhöhe zu zwei nicht sehr hohen Bergen erhebt. Im Mittelgrund dieser Landschaft führt eine große Brücke über den Strom. Der Landstreifen, der kein Zehntel der Bildfläche ausmacht, verweist auch nicht auf fernere Gebirge. – Rechts, auf der Höhe des Betrachters, erheben sich die beiden riesigen, wetterverkrüppelten Eichen, die einige tote Äste dem Himmel zu strecken. Doch 226 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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sie reichen nicht über den oberen Bildrand hinaus, so daß das Wolkengewoge gänzlich die Höhe einnimmt. Zu Füßen der Eiche sitzt ein Mann in eher müder Haltung, während vor ihm ein anderer steht, der auf ihn hinabblickt und mit ihm zu reden scheint. Sie scheinen unbekümmert von der vorgewitterlichen, düsteren Atmosphäre, wohl auch deshalb, weil ein sehr heller Lichtfleck auf den sandigen, fast kalkhaltig scheinenden Ort fällt, an dem sie sich befinden. Weiter unten geht eine dritte Gestalt vorbei, ohne die intime Szene der beiden zu beachten. Die Landschaft selbst scheint sich nach links zu einem helleren Himmel hin zu erstrecken und sich vom Ort der Anhöhe der Eichen zu entfernen. Ferne und Weite gleiten ineinander und sind doch verschwindend gegenüber der Weite eines Himmels, dessen Wolken zugleich die Höhe verschleiern. 19. Philips de Koninck, Panorama mit dunkler Wolke, um 1649, Wallraf-Richartz Museum, Köln
Konincks Blick ist hier ebenso der Ferne zugewandt, die vor dem Betrachter liegt und in deren Richtung die Windung des breiten, von einem Weg begleiteten Flußes zeigt, wie den Höhen eines halbbewölkten, heiteren Himmels, der die Hälfte der Bildfläche einnimmt und nur 227 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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nach rechts oben hin die schwarze Schwere der Regenwolken andeutet. Die Seiten öffnen sich einer Weite zu, die das Sehfeld überschreitet, was dadurch betont wird, daß sie von keinen senkrechten Rahmengestalten mehr begrenzt werden. Weich geschwungene Hügelketten rechts und der flache Uferstreifen links, zu dem hin sich Dörfer von Anhöhen her neigen, sind beide in fast monochromen, sandfarbenen Tönen gehalten, die der ganzen Landschaft etwas Südliches, lieblich Karges und Trockenes verleihen, indem selbst das Grün der Baum- und Buschreihen des Mittelgrundes gedämpft erscheint, wodurch mehr das Erdhafte als die Vegetation betont wird. Die Bauten der menschlichen Ansiedlungen in geringer Siedlungsdichte fügen sich ihrerseits als wohlgeordnete Elemente der sanften landschaftlichen Bewegung ein. Auch in diesem Sinne kann die Weite einer Landschaft ermessen werden, die noch nicht an der Endlosigkeit der Kästen der Millionenmetropolen erstickt. So gibt das Bild kund, daß Menschen noch nicht in übereinander geschichteten Schachteln hausen, sondern in individuierenden Abständen voneinander auf der Erde und in bestimmten Landstrichen leben, die den Blick auf diese noch als Landschaften zulassen. – In gleitend ausgewogener Form gehen hier Nähe und Ferne ineinander über wie auch Weite und Höhe eines Himmels, der gut die Hälfte der Bildfläche ausmacht. 20. Philips de Koninck, Landschaftspanorama mit Stadt im Hintergrund, 1655, Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid Auch dieses Bild Konincks zeigt keine erhabenen Berge oder schluchtenreiche Gebirgszüge, die sich machtvoll den Tälern einer Ebene entgegensetzen. Es handelt sich durchgängig um ein welliges Flachland mit einigen niedrigen Hügelketten in der Ferne und mit einer Anhöhe, die vorne der Betrachter einnimmt. Über der ganzen Landschaft liegt ein bleiches Licht und eine fast geschlossene Wolkendecke, durch deren Lücken nur vereinzelt stärkere Helligkeit auf die Erde fällt. Noch niedriger liegt hier der Horizont, was durch die starken und immer enger aufeinander folgenden Verkürzungen den Eindruck der Ferne und Weite noch erhöht. Im Vordergrund, und fast wie in eine Erdmulde gebettet, geht ein Bauer mit einer Kuh. Einige Dächer dörflicher Häuser schauen aus Baumkronen heraus, Häuser, die erhöht über einem Fluß zu stehen scheinen, den man links noch sieht. Buschwerk und Bäume gliedern die verkürzten Flächen fast streifenhaft bis hin zu 228 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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einer Stadt, hinter welcher ein größerer Strom waagrecht zum Horizont verläuft. – Hier fließen die Unterschiede ineinander zwischen der Ferne, die sich vor, und den endlosen Weiten, die sich seitlich von dem Betrachter erstrecken, und der eher gedämpften Höhe des Himmels über der Landschaft. Die Häuser der Stadt gehen – kaum anders als die Bäume – gänzlich in der weiten Fläche dieser Landschaft auf. In den Wolken scheint eine gewisse Bewegungsrichtung von rechts hinten nach links vorne zu liegen. Hier scheint den Betrachter kein Weg oder Fluß oder Tal quer zu den Streifen dem fernen Horizont zu zu geleiten, nur die Flugbahn des Blickes selbst. 21. Jacob van Ruisdael, Ansicht von Naarden, 1647, Museo ThyssenBornemisza, Madrid Jakob von Ruisdael steigert in diesem Bild noch die Absenkung des Horizonts und senkt zugleich die nur noch leicht erhöhte Stellung des Betrachters, so daß von der flachen Landschaft vor uns, die nur von einigen Sonnenflecken erhellt ist, trotz des sich schlängelnden Weges eigentlich kein Sog mehr in die ferne Tiefe ausgeht, in die nichts mehr geleitet. Zudem wird auch auf diesem Gemälde der statisch begrenzte Sehwinkel panoramaartig überschritten. Die Baumkronen, der Kirchturm und die Dächer Naardens scheinen durch starke Verkürzungen 229 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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verhältnismäßig nahe zu liegen und den ferneren Hintergrund fast gänzlich zu verdecken, als bildeten sie die Horizontlinie. Das erdige Moment der sommerlichen Landschaft scheint sich vor der Weite des Himmels mit seinen mächtig sich auftürmenden Wolkengebilden zurückzuziehen, als ducke sie sich vor einem drohenden Unwetter, das jeden Blick in die Weite vereiteln wird. Es ist, als ob sich das flache Land dieser Landschaft selbst entferne. 22. Jakob van Ruisdael, Stürmisches Meer, 1650er Jahre, Kimbel Art Museum, Fort Worth In diesem Bild bringt Jakob von Ruisdael den schmalen erdigen Streifen, den der Betrachter gleichwohl noch als Stück Land ausmachen kann, bis auf einen markanten Rest, nämlich zwei schon zerfallende Holz-Molen, zum Verschwinden und ersetzt ihn durch eine aufgewühlte ›Meerschaft‹. Das gewaltige Unwetter vom Horizont her läßt gerade noch so viele Lichtdurchbrüche zu, daß das Toben der vom Sturm aufgepeitschten Meereswellen zu sehen ist sowie die in Not geratenen Schiffe, die von zwei Personen auf der mittleren Mole, deren Leuchte auf hohem Mast erloschen scheint, beobachtet werden. Anstatt in die Tiefe zu entweichen, kommt aus der Ferne heran, was Weiten, welche die Sicht leiten, bereits tilgt. So erscheint, was nicht mehr sichtbar ist: die mit dem Tod drohende, vertikale Tiefe der See. Es gibt hier nicht mehr die Spur eines Soges in die Ferne, sondern nur die Nähe furchtbarer Naturgewalten.
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23. Claude Lorrain, Die Verstoßung der Hagar, 1668, Alte Pinakothek München Mit den Bildern Claude Lorrains scheint die Gattung expressiver Landschaftsmalerei nördlich der Alpen überzugehen in das, was eine klassisch ›idealische‹ Landschaftswelt genannt wurde, deren großer Einfluß nicht nur auf die Landschaftsmalerei der nächsten Jahrhunderte, sondern, wie bemerkt (4.2.), auch auf die Entstehung der Landschaftsparks zumal in England nachweisbar ist. Der Ausdruck ›idealisch‹ wurde seit der Renaissance in einem recht fragwürdigen Sinne gebraucht, als ginge es darum, die Natur nicht nur abzubilden, sondern zudem ästhetisch zu vervollkommnen, ›levando quanto si può con l’arte gli errori della natura‹, wie es schon 1585 im Malereitraktat von Giovanni Paolo Lomazzo hieß. 19 Ich bezweifle, daß es je darum ging, malerisch eine ›vollkommene Landschaft‹ zu entwerfen. Worin sollte diese liegen? Die vermeintlich ›idealischen Landschaften‹ demonstrieren etwas ganz Giovanni Paolo Lomazzo, Trattato dell’Arte della Pittura (Milano 1585), Roma 1844, S. 372.
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anderes, indem sie die freien Möglichkeiten im Zusammenstimmen ihrer Erscheinungen aufdecken (11.1.). Die betitelte Szene, mit der Claude Lorrain eine bekannte Geschichte andeutet, nämlich die auf Drängen Sarahs erfolgte Verstoßung seiner Frau Hagar und seines Sohnes Ismael durch Abraham, – diese gewalttätige und grausame Szene spielt sich natürlich auf einem ›Schauplatz‹ ab, der jedoch nicht wie ein aus einem Landstrich ausgeschnittener Ort theatralisch isoliert wurde, sondern gänzlich in die Weite dieser ruhigen und beruhigenden Landschaft eingegliedert ist, aus der alles ›Dramatische in eine unermeßliche Ferne zurückgedrängt‹ und alles Bedrohliche getilgt wurde. 20 Insofern erinnert dieser ›SchauHelmut Rehder, Die Philosophie der unendlichen Landschaft, a. a. O., S. 13. – Man spricht in Hinsicht auf Lorrain und Poussin auch von ›heroischen Landschaften‹, weil in ihren Landschaftsgemälden Szenen aus der Heroengeschichte vorkommen. Das führt, wie in Goethes Bemerkungen zu Claude Lorrain, zu seltsamen Ungereimtheiten. So heißt es einerseits, Claude Lorrain ›ergehe sich ganz ins Freie, Ferne, Heitere, Ländliche, Feenhaft-Architektonische und gelange an eine letzte freie Kunstäußerung, so daß jeder Künstler ihm nachstrebe‹. Doch im gleichen Atemzug meint Goethe, in seinen ›heroischen Landschaften, – unnütze Welt ohne Spur von Feld- und Gartenbau, – hause ein bedürfnisloses Menschengeschlecht und große Gesinnungen‹ (Johann Wolfgang
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platz‹ an die altgriechischen Theaterbauten, die für den Betrachter der Aufführungen nicht zur Stadt oder zur Burg, sondern zur Landschaft hin offen waren. Links ist die Bildfläche von einer griechisch-klassisch und nicht etwa altjüdisch anmutenden Tempelfront begrenzt, die noch über den oberen Bildrand hinausreicht und an der ein gewaltiger, im Dunkeln liegender Toreingang sichtbar ist. Hinter der abschließenden ionischen Säule winkt ein noch von der Morgen- oder vielleicht eher Abendsonne durchschienener Baum in das Sehfeld. Von diesem her verläuft eine kleine und schmale, dem Betrachter zu beschattete Anhöhe quer durch zur anderen Bildseite und trennt als Mittelgrund den mit Säulen- und Mauersteinresten übersäten Vordergrund von einem in die Ferne und Weite auslaufenden Hintergrund. Gleichwohl kann man mit Werner Schade sagen: ›Die Begehbarkeit der Bildgründe ist überall bei Claude zu spüren. Landwellen vermitteln an vielen Stellen, Brücken stehen bereit, Überbrückungen in Vielzahl. Kaum gibt es hohe Rampen, niemals sind Abgründe angezeigt. Die Landschaft ist an keiner Stelle aufgerissen, nicht einmal zerdehnt.‹ 21 In diesem Bild bleiben allerdings die einzelnen landschaftlichen Schichten kulissenartig, da keine sichtbaren Hänge, Wege, Flüsse oder Täler dem Horizont zu gleitende Übergänge bilden. Vom Tempeltor, vor dem sich die Szene abspielt, geht ein abgetretener, sandiger Pfad nach rechts ab, und Abraham weist mit Arm und Finger Hagar und Ismael gleichsam ›aus dem Bilde‹. Hinter der durchgängigen Anhöhe wird links zunächst ein Hügel mit einigen Bauten sichtbar, rechts ein großer dichtbelaubter Baum, der sich über Buschwerk und kleinere Bäume erhebt. Hinter diesem Baum in der Ferne erhebt sich ein gewaltiges und doch schon in blauer Ferne liegendes Bergmassiv gegen das Ufer eines Flusses in der tiefliegenden Niederung, der in der Bildmitte ins Meer mündet. Hinter seinem jenseitigen Ufer erheben sich weitere blassblaue Berge zur Meeresküste hin. Die Horizontlinie des Meeres liegt ungefähr in der Mitte der Bildfläche, die so zur Hälfte von einem leichtbewölkten Himmel eingenommen wird. Die ganze Landschaft wird, wie oft in Lorrains Bildern, von einem gleißenden Gegenlicht der Sonne überflutet, die sich etwa in der Mitte der Bildfläche befindet und leicht durch Dunst von Goethe, Landschaftliche Malerei, in: Sämtliche Werke, Bd. 18, Hg. Ch. Sigrist u. a., München 2006, S. 287). 21 Werner Schade, In den Gefilden des Malers Claude Lorrain, in: Claude Lorrain, Gemälde und Zeichnungen, Hg. W. Schade, München-Paris-London 1996, S. 9.
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und Wolkenschleier gedämpft ist. Solches Gegenlicht, das den landschaftlichen Gestalten ihre scharfen Umrisse nimmt und zugleich starke Schatten auf der Gegenseite hervorruft, war bisher noch nicht dargestellt worden. Mit ihm kehrt sich zugleich der Sog in die Ferne um in eine lichte Flut aus der Ferne. In diesem Licht rückt uns die Ferne selbst nicht bedrohlich, vielmehr schmeichelnd nahe und verschleiert die dem Blick entgleitende Weite in die Ferne. Zugleich wird die Richtung aus der Ferne noch vertieft durch die erhöhten Erscheinungen der seitlichen Bildränder, die verhindern, daß sich der Sehwinkel in die Weiten entgrenzt. Ich übergehe hier die weiteren Nuancierungen der Räume in der barocken und klassizistischen Landschaftsmalerei, wie sie durch die idyllischen Lichtspiele bei Watteau oder Fragonard oder durch die formstrengeren Glättungen zum Opaken hin bei Malern wie Philipp Hackert oder Joseph Anton Koch vollzogen wurden. Landschaft aber als Objekt quasi-religiöser Andacht, wie sie durch die Romantiker dargestellt wurde, bringt eine neue Art melancholischer Einsamkeit. 24. Caspar David Friedrich, Böhmische Landschaft mit den zwei Bäumen, um 1810, Württembergische Staatsgalerie Stuttgart In diesem Bilde Friedrichs scheint es keine direkte menschliche Anwesenheit mehr zu geben und es erscheinen einzig die Gestalten der Landschaft selbst. Nicht einmal ein Schäfer mit seiner Herde weckt hier idyllische Träume, noch erinnert eine Burgruine an vergangenes menschliches Leben. Ein unsichtbar bleibender Betrachter scheint allein in andächtiger Einsamkeit auf die beiden Laubbäume zu blicken, die sich wie im Tanz auf einer Wiesenlichtung vor dunklem Wald einander zuneigen, und weiter auf die sanft ansteigenden Hügel, hinter denen sich erst ein vulkanförmiger Kegelberg erhebt, dann hinter diesem, in der Mitte des Hintergrundes, ein zweiter von majestätischer Größe und Einsamkeit, umflort von einem rosafarbenen, frühen oder späten Licht, das der Himmelshöhe zu in ein helles, wolkenloses Blau übergeht. Der Betrachter schaut auf zu seiner Höhe, befindet sich selbst inmitten dieser Landschaft, anstatt aus einer Vogelperspektive auf sie herabzublicken. Kein Tal, kein Fluß, kein Weg in die Ferne ist zu sehen, als würde nichts diese Landschaft durchqueren. Quer verlaufende Hügel und Waldstreifen geben dem Bild zugleich eine seitliche Weite, die durch keine rahmenden Gegenstände, durch keine Schwelle 234 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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begrenzt ist. Dämmerung legt sich über die Landschaft als ein Licht, das den Dingen noch keinen eigenen Schatten zuweist. Menschenferne scheint solche Landschaft zu schonen und unbeschränkt nur für sich da sein zu lassen. Friedrich, so schreibt Joseph Leo Körner, verzichte sowohl auf konventionelle Rahmengesten, wie flankierende Bäume oder Ruinen im Vordergrund, als auch auf Markierungen, welche das übergangslose Zurückweichen in die Tiefe ermessen ließen, und schaffe so eine werdende Version jenes desorientierenden grenzenlosen Raumes, der für seine Hauptwerke ab 1806 typisch sei. 22 25. Caspar David Friedrich, Der Mönch am Meer, 1808–10, Staatliche Museen zu Berlin Heinrich von Kleist bemerkte über dieses Gemälde Friedrichs – das, wie er eingesteht, seine ›eigenen Empfindungen verwirrte‹ –, der Maler habe zweifelsohne ›eine ganz neue Bahn im Felde seiner Kunst gebrochen‹ : ›Herrlich ist es, in einer unendlichen Einsamkeit am Meeresufer, unter trübem Himmel, auf eine unbegrenzte Wasserwüste, hinaus-
Joseph Leo Koerner, Caspar David Friedrich. Landschaft und Subjekt, Übers. Chr. Spelsberg, München 1998, S. 90.
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zuschauen.‹ 23 Und doch liege das Bild in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit da wie die Apokalypse. Der Gegensatz zu Claude Lorrains lichtdurchfluteten, südlichen Landschaften könnte kaum größer sein. Das Land der Landschaft hat sich zum kahlen, bleichfarbenen Küstenstreifen verkürzt, der zwar endlos rechts und links über den Bildrand in die Weite gehen mag, aber ohne spürbare Weitung auch keine Verlokkung ist, und sich ohne jede Ferne auf eine vordergründige Nähe beschränkt. Eine geradezu höllisch scheinende Schwärze überkommt die Erde nicht vom Himmel her, sondern scheint aus einem schwarzen Meer aufzusteigen, das sich fast nur an den Schaumkronen einiger Wellen zu erkennen gibt. Die Erde mit dem Küstenlandstrich und dem bewegten Meer nimmt kein Fünftel der Bildfläche ein, so niedrig liegt der Horizont, so tief der Blick auf ihn. Der Betrachter, der sich zudem in dem dargestellten einsamen Betrachter, dem Kapuzinermönch, betrachtet, wodurch sich gleichsam ein Raum im Rücken des Betrachters öffnet, kommt diesem doch nicht nahe. Die Wolken brechen über der Szene auf, um ein hellblaues Band des Himmels erscheinen zu lassen. Ganz in der Höhe jedoch scheinen sie den zerrissenen schwarzen Dunst widerzuspiegeln. Solche Landschaft beginnt sich in Heinrich von Kleist, Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft, in: Gesamtausgabe Bd. 5, Hg. H. Sembdner, München 1964, S. 61.
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ihrer Unheimlichkeit selbst dem Betrachter gegenüber zu verschließen, der in ein Fast-Nichts und doch in keine Leere schaut. 26. William Turner, Regen, Dampf, Geschwindigkeit – Die große Eisenbahn nach Westen, 1844, The National Gallery, London
In Turners Bild verfließen landschaftliche Gestalten auf ganz andere, fast heitere Weise ineinander. Im Titel selbst sind einige der landschaftlichen Erscheinungen genannt, welche die klaren Umrisse der Gestalten aufzulösen beginnen: der Regen, dessen trübende Schwaden man, anders als in Giorgiones Gewitterlandschaft, nun nicht mehr aus der Ferne betrachtet, sondern in die man eingetaucht wird. Dieser Regen, seine Nebelfetzen, der Dampf, aber auch die diffuse Helligkeit und vor allem das Symbol wachsender Geschwindigkeit, die Eisenbahn, in welcher die Konturen der Bewegungen verschleifen, entziehen dem Blick die Verläßlichkeit der Grenzen vertrauter Gestalten. Was diese Erscheinungen zurücklassen, sind schweifende Farb- und Lichtfetzen, welche die Wege in die Ferne für die Blicke des Betrachters verschwimmen lassen, ohne doch schon gänzlich das Erdige, Wässrige, Luftige und feurig Lichtende selbst aufzulösen. Der Betrachter schaut auf der Höhe der Brücke zu einem Fluß hinab und mehr noch einem Schienenweg 237 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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entgegen, der mit der Dampfeisenbahn, die einen Blick in ihr glühendes Innere erlaubt, aus der Ferne auf ihn zukommt, statt sich von ihm zu entfernen, und auf dem ein Hase kauert, als wolle er sich ironischerweise dem Ungetüm entgegenstellen. Auf der linken Bildseite wird durch den Dunst hindurch eine weitere Brücke sichtbar, die sich auf hohen Pfeilern mit grazilen Bögen über den Fluß erhebt. Wie bei kaum einem anderen Maler des 19. Jahrhunderts wird hier vorweggenommen, wie die Moderne in der ›abstrakten‹ Malerei aus der Auflösung vertrauter Landschaftsgestalten auftauchen wird – eine Moderne, welche schließlich sogar noch in den Nebel- und Regenschwaden, in denen die Landschaftserscheinungen verschwimmen, zu viel ›Narratives‹ und ›Illusionäres‹ witterte und verwarf. In Gestalt des Zuges unterstreicht Turner, daß nun das Ferne selbst geschäftig in die Nähe rückt, um die Ferne zurückzulassen. Zugleich entgrünt sich Vegetation in sand- und felsfarbigen Erscheinungen, wie es sich bereits im Bild Rembrandts angekündigt hat. Rahmenlos entgleiten die seitlichen Ränder in eine verschleierte Weite, ohne noch einer begrenzenden Enge zu entsprechen. Die Horizontlinie steigt wieder an, so daß auch die Höhe des lichttrüben Himmels wieder an Wucht verliert. 27. Vincent van Gogh, Die Sternennacht, 1889, The Museum of Modern Art, New York Van Gogh vollzieht hier den Bruch mit der vertrauten Gegenstandswelt weniger hinsichtlich des nächtlichen Landes als vielmehr bezüglich der Himmelserscheinungen, die fast bedrohlich an ungewohnter Form und Größe zunehmen – würde man sie überhaupt noch an der ›Wirklichkeit‹ messen. Die Baumgruppen in und um das Dorf, das Dorf selbst mit vereinzelt erleuchteten Fenstern, die Hänge zu den Hügeln empor, sie alle, mit Ausnahme der großen, schlangenhaft wild bewegten, himmelragenden Zypresse im Vordergrund, nehmen ein fast gesteinsartiges, mattes Blau als Grundton an. Die ferneren, nach rechts an Höhe und Nähe zunehmenden Berge unterscheiden sich durch keine Lichtperspektive mehr von den Dingen des Vorder- und Mittelgrundes. Alles rückt hier durch die Tendenz zur monochromen Farbe räumlich zusammen, aber weiter weg vom Betrachter, der einen höheren Stand einnimmt als der Fuß der Zypresse. Zumal jedoch tilgen die Gestirne und Lichtwirbel am Himmel jede Höhe und Weite. Der irdischen Landschaft entspricht eine himmlisch unmäßige, deren Lichtgestalten in gigantischen Wellen, Spiralen und Kreisen fast eng aufeinander rük238 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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ken und die auf den Betrachter einzudringen scheinen und doch gleichgültig gegen ihn und an ihm vorbei bestehen. Farbe ist hier nicht mehr das reflektierte Scheinen der Dinge, sondern wird zu ihrer stofflichen Eigenschaft wie ihre Härte oder Schwere. Die ephemere Höhe, Weite und Tiefe des Himmels ist verschwunden und die Gestirne leuchten wie am Himmel erstarrte und in sich kreisende Feuerwerkskörper. 28. Paul Cézanne, La Montagne Sainte-Victoire, 1904–05, Kunstmuseum Basel Zwar läßt sich mit Cézanne sagen, daß in diesem Bild des Berges Sainte-Victoire die Zentralperspektive weitgehend außer Kraft gesetzt ist und kein einzelner Fluchtpunkt bezüglich eines festen Betrachterstandortes mehr zu finden ist: Doch weder fehlt eine räumliche Tiefe sowie die Unterschiede zwischen dem Nahen im Vordergrund und dem Fernen des Berges, dem Niedrigen eines besiedelten Landes und der Höhe des Himmels, noch fehlen dem Bild die virtuellen Weiten. Die Farben zwischen dunklem und lichthellem Grün der Pflanzen, die sich in Andeutungen auch in den Wolken wiederfinden, das Beige mancher 239 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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Felsen, Wege, Mauern und Häuser mit ihren rotbraunen Dächern, das blasser werdende Blau des Berges im Hintergrund, und selbst die hoch liegende Horizontlinie, sie sprechen noch von dem erhöhten Standort eines Betrachters in der provencalischen Landschaft. Doch die eindeutige Verteilung der Dinge mit ihren klaren und vertrauten Konturen verschwinden in einem sich zugleich zurückhaltenden Farbenrausch, in welchem statt der Schlagschatten tupferartige Bewegungsgestalten die Vorherrschaft des Linearen brechen. Die traditionellen Vorzeichnungen der Richtungen, in welchen sich das Nahe und Ferne, Hohe und Niedrige, Weite und Enge eindeutig entgegensetzen, beginnen sich aufzulösen, um doch gerade so die Entsprechungen von Nähe und Ferne etc. aufzudecken. Kein vermeßbares Land könnte dieser Landschaft übergestülpt werden, so daß diese selbst sich in ihrer Differenz zu jeder Geo-graphie und in ihrer Selbständigkeit zu zeigen beginnt. Es ist, als wolle Cézanne die Landschaft von ihrer Bindung an das Schwere der Erde und deren Überwindung durch den Himmel befreien.
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29. Georges Braque, Landschaft (das Tal), 1908, Kunstmuseum Basel
Braques ›Landschaft‹ setzt der verspielten Leichtigkeit der Erscheinungsmomente und ihrer Farben ein dunkles, erdbraunes, steingraues, körperliches Ansehen entgegen, so daß die Erscheinungen blockartige und kristallähnliche Formen annehmen, in welche sich selbst der mächtige Baumstamm zu verwandeln scheint, dessen Krone aus dem Bildrahmen fällt. An Pflanzenformen erinnert das düstere Grün nur 241 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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noch bei der Agave im Vordergrund und den gewölkten Baumkronen vor den burgartig ansteigenden Häusern links im Hintergrund. Es gibt keinen Horizont mehr, keinen Himmel, was die steinerne Schwere 9dieser schluchtartige Spalten bildenden Landschaft noch erhöht. Die Abwesenheit von Ferne, Weite und Höhe, doch nicht von Tiefe und Fläche, wird nicht etwa durch atmosphärische Verschleierungen dargestellt; sie erstirbt vielmehr in einer undurchdringlich kantigen Wucht, die zugleich wie starre Flammen nach oben züngelt. Tiefe aber zeigt sich gerade in der Enge und im Gedränge der Gestalten, in ihren Ritzen und Spalten. Das Bild ist wie die furchtbare Vision, derzufolge landschaftliche Erscheinungen beginnen, sich in den Betonschluchten der Metropolen selbst aufzugeben. 30. Ernst Ludwig Kirchner, Tinzenhorn, Zügenschlucht bei Monstein, 1919/20, Kirchner Museum Davos Auf andere Art visionär sind manche expressionistisch dargestellten Landschaften. Alles Filigrane vom Blattwerk bis zu den fernen Gebirgen zieht sich zurück in eine fast kindlich anmutende Plumpheit der Gestalten. Auch in Kirchners Bild wird der Verlust der Weite durch die Enge der Schlucht dargestellt, die sich aus den steil ansteigenden Berghängen ergibt. Doch im Gegensatz zu den Landschaftsbildern El Grecos oder van Goyens scheint in den Konturen der Gestalten nicht der unheimliche Widerschein eines Blitzlichtes, sondern schwarze, breite Linien, welche sie, trotz der Überschneidungen der Berge dem Hintergrund zu, in ein gleichgültiges Alleinsein vereinzeln. Dem grünkalten Licht der hinteren Gebirgszüge steht das ans Violett reichende, von kaltblauen Einschlüssen unterbrochene Rot der vorderen entgegen. Keinem haftet noch ein goldschimmerndes, strahlendes oder verdämmerndes Sonnenlicht an. Ihre Farbtöne scheinen dem Gebirge selbst zu entspringen, gleichsam wie das widernatürliche und glanzlose Aufleuchten eines möglichen Weltuntergangs. Aus der Talschlucht steigen nach rechts hin schwarze Tannen an, bis sie in der Höhe verkümmern und enden. Der blaue Nachthimmel wird zugleich durchleuchtet von einem künstlich neonfarbigen, hellen Grün, das ebensowenig noch auf den Widerschein einer Lichtquelle verweist. Wo alle Gestalten in die Höhe vorstoßen, verliert der Himmel selbst die seine. Nur ein bogenartiger Lichtstreifen sucht zusammenzuhalten, was sich in der Höhe aufsplittert. Die hochragende Ferne über das Tinzenhorn hinaus ist
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nur da, ohne einen Sog zu ihr hin oder einen Drang von ihr her auszulösen. 31. Salvador Dali, Der Geisterkarren, 1933 (Privatbesitz?) Träumende Blicke können Weisen von Landschaften zum Vorschein bringt, die uns gänzlich fremd erscheinen. Die Surrealisten haben manche dieser Traumlandschaften zum Vorschein gebracht. Aber in der Malerei von Max Ernst bis Tanguy fällt zugleich auf, daß die unvertrauten Gestalten zumeist über einer ›Landfläche‹ auftauchen, die eher bekannte Züge trägt: Sie zeugt von der Weite einer zumeist gebirgslosen, gewellten und hügeligen oder flachen und oft wüstenhaften Ebene, die sich weit hin zu einem Horizont erstreckt, über dem sich die tiefe Höhe eines weiten Himmels auftut. Auf diesem Bild Dalis sehen wir in der Bildmitte einen zweirädrigen Planwagen, der nach links 243 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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einen starken Schlagschatten wirft, obwohl die ganze Landschaft von einem eher diesigen, gedämpften Licht überzogen ist. Farblich unterscheidet sich die Ebene kaum vom Himmel über ihr, so daß in der Ferne die Hügellandschaft in der Luft zu schweben scheint. Der Wagen entfernt sich vom Betrachter weg, wobei er Huf- und Räderspuren im Sande hinterläßt, die im Vordergrund bereits wieder zerbröselt und halb verweht scheinen, obwohl nichts in dem Bild an Wind erinnert, eher schon an ein Wattenmeer bei Ebbe. Auf dem nach hinten und vorne offenen Wagen, der wohl von einem Pferd oder Maultier gezogen wird, sieht man rechter Hand schattenhaft eine einzelne Figur sitzen. Nichts deutet hin auf einen vorgebahnten, ausgefahrenen Weg, dem er folgte. Er fährt in Richtung einer fernen, dunkel sich abhebenden Hügellandschaft, an deren küstenartigen Übergang zur Ebene hin eine kleinere Stadt mit helleren Häusern und einem Kirchturm liegt. – Warum titulierte der Maler das Bild mit ›Geisterkarren‹ ? Die Frage läßt den Verdacht aufkommen, daß die ganze Landschaft, und zwar einschließlich des Wagens, die Lufterscheinung einer Fata Morgana sein könnte, auch wenn seine verwischten Spuren bis zum Standort des zurückgelassenen Betrachters reichen. Wußte Dali, daß man der 244 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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Fee (fata) Morgana nachsagte, sie führe die Menschen gerne in die Irre mit Luftspiegelungen, in denen das Bild einer Landschaft aufscheint, die ›ganz woanders‹ liegt? Und geht es denen nicht ebenso, die meinen, Landschaften auf ein Stück Land, auf ein beliebig formbares Gelände reduzieren zu können? 32. Anselm Kiefer, Märkische Heide, 1974, Van Abbemuseum Eindhoven 24
Eine schmutzig weißgraue, vielleicht von überschwemmenden Wassern eingeebnete sandige Bahn mit bläulichen Lachen durchschneidet ein grünloses Gefilde verdorrter Heide. Sie liegt vor dem Betrachter, ehe sie im Mittelgrund der Ferne zu in einen fast geraden, endlosen Weg übergeht, der von knochenweißen Rillen einer Fahrspur durchzogen ist. Die Fahrspuren dieses Weges kommen also nicht bis zum Standort des Betrachters heran, sondern gehen abrupt in diese ebene, flächige Bahn über, die noch hinter ihm weiterzuführen scheint. In seiner Leere und Vergessenheit scheint dieser Weg paradoxerweise richtungslos und weder Herkunft noch Ziel zu kennen, verliert sich aber in einer Ferne, um schließlich sogar den Horizont zu überschreiten, wo er zu dem engen Himmelsstreifen aufzusteigen scheint und ein Anselm Kiefers Gemälde zeichnen sich dadurch aus, daß sie nicht nur reliefartige Erhöhungen und Vertiefungen enthalten: Die unterschiedlichen Bewegungen des Betrachters vor dem Bild verändern entscheidend dessen Erscheinungsweise, so daß – im Gegensatz zum Nacheinander filmischer Bildbewegungen – die Änderung der Bildgestalten zum Merkmal des Gemäldes selbst wird. Insofern muß ich zugeben, daß jede Reproduktion das Gemälde zu einem bloß abstrakten Fragment herabsetzt.
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quellenloses, blaßblaues Licht aufleuchten läßt, das sich nicht mehr zur Höhe eines weiten Himmels aufschwingt. In den unbegrenzten Weiten, die ihn umgeben, erheben sich Bodenwellen und doch folgt der Weg keiner vorgegebenen Senke. Die Landschaft, die durch ein Gelände hindurchblickt, das an aufgelöste Truppenübungsplätze mit Relikten von Birkenstämmen erinnert, scheint in ihrer Menschenleere zugleich durch die zermalmende Maschinerie der Menschen gegangen. Die Anzeichen eines vergangenen Soges in die Ferne und einer kraftlosen Ankunft in der Nähe betont nur die aussichtslose Leere. Die Höhe wich dem Geduckten und Niedrigen, die seitlichen Weiten verheißen nichts Weiteres als immer das Gleiche weiter. Und doch dämmert durch den verödeten Geländecharakter noch der leise Schwung des Landschaftlichen hindurch, wenn auch karg in vertrockneten Gräsern, Halmen und niedrigem, unruhigem Gesträuch.
10.4. Unterwegs zur entwegten Landschaft Max Friedländer hatte noch ganz im Sinne Alexander von Humboldts gemeint, die Landschaft sei das ›Gesicht‹ eines Landes, und der Geograph Herbert Lehmann griff auf diesen Gedanken zurück, als er schrieb: ›Jedem Abschnitt der Erdoberfläche eignet gewissenmaßen ein ›Ausdruckspotenzial‹, das durch den Prozeß des landschaftlichen Sehens realisiert werden muß, im Übrigen aber in einer geographischen Natur begründet ist.‹ 25 In solcher Rede bewahrt sich das alte mythische Bild von der Landschaft als ›Antlitz‹ einer göttlichen Natur und wird doch gleichsam an eine vorhandene Stofflichkeit als ihren vermeintlichen Grund verraten. Landschaften allerdings, so können wir sagen, blicken uns an, aber sie sehen uns nicht– ein Sehen jedoch, wie wir es einem bewußten göttlichen Wesen unterstellen müßten. – Nun stellten uns allerdings die sehenden Blicke großer Maler Landschaften so dar, wie sie nicht in einer geographischen Natur ›begründet‹ sind, sondern umgekehrt als deren Grund durch die besonderen Länder und Landstriche der Erdoberfläche hindurchscheinen, und zwar aus einer Tiefe, die verschüttet werden kann, wenn es nur noch um Hoheitsgebiete geht, die ja nicht nur aus bewohnten und bebauten Geländen und genutzten Ländereien bestehen, sondern sogar ungenutzte 25
Herbert Lehmann, Die Physiognomie der Landschaft, a. a. O., S. 54.
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Unterwegs zur entwegten Landschaft
Wildnisse, Hochgebirge oder Wüsten, Wassertiefen, Eisregionen oder Lufträume umfassen. Die Maler aber stellten dar, worüber niemand zu verfügen vermag: Erscheinungen, die aus ihren Möglichkeiten heraus auf je besondere Weise zusammenstimmen und grundlegende Seinsweisen des Raumes eröffnen, die es nun genauer zu begreifen gilt. Landschaften gehören eben keinem ›ästhetischen Überbau‹ über einer ›materiellen Natur‹ an. Die ›bloß‹ materielle Natur ist vielmehr ebenso wie das ›bloße‹ Gebiet eine Verfallserscheinung landschaftlicher Erscheinungen. Landschaften sind als Landschaften schlechthin unbewohnbar, unbefahrbar, unbenutzbar, unbeherrschbar. Kein Mensch lebt auf einer Landfläche wie auf einer standfesten Plattform, noch in einer Landschaft wie in einer Art Gefäß. Landschaft ist niemals dort, wo uns die Erde unmittelbar und nachbarschaftlich berührt, uns als möglichst unnachgiebiger Untergrund begleitet und Halt gibt, um uns festen Boden unter den Füßen oder den Widerstand der Stoffe gegen unsern Körper spüren zu lassen. Berührungen dieser Art verweisen stets nur auf eine Stelle, umgeben von den Orten anderer Stellen. Wo wir jedoch den Landschaften begegnen, sind wir entortet und unterwegs im Entwegten, von wo aus die Anlage von Orten und Wegen nur ein Schritt ist, Landschaften in Gelände umzuwandeln. Dagegen unterwegs im Entwegten sind wir nicht in der Weise wahllos schweifender Vaganten, sondern in derjenigen gastlichen Daseins, nämlich verweilend im Vorbeikommen und Vorübergehen bei dem, was uns als Landschaft seinerseits gastlich empfängt, ohne uns ›Macht‹ oder ein ›Recht‹ über sie einzuräumen. Solche Gastlichkeit der Landschaften darf allerdings nicht einfach mit Gastfreundlichkeit gleichgesetzt werden; sie bedeutet nicht nur, das wir von ihr, als sei sie die ›Mutter Erde‹, wie ein Kind verwöhnt und entlastet werden von Not, Bedürftigkeit und Begierden, um pures Wohlgefallen an ihr zu erleben bei lachendem Sonnenschein und blauem Himmel über sommerlichen Fluren. Landschaften können ebenso auch ungastliche Gäste ihrer Gäste sein und unser Leben bedrohen durch Erdbeben und Lawinen, Überflutungen, Brände, Stürme, Hitze und Kälte. 26 Und solche Bedrohungen waren in den erwähnten Gemälden nicht nur latent im Hintergrund geblieben. Große Malerei wurde diesem doppelten und zwiespältigen Antlitz der Landschaften dadurch gerecht, daß sie niemals nur ›heitere‹ oder ›erhabene‹ Landschaften Vgl. dazu vom Verfasser: Die Anwesenheit des Gastes. Entwurf einer Xenosophie, a. a. O.
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›abmalten‹, um durch solche ›Abbilder‹ deren ungestörten Genuß zu ermöglichen. Landschaften im Sinne ihrer freigelassenen Erscheinungen haben mit einer ›Ästhetik des Wohlgefallens‹, in der es nur um vitales und psychisches Wohlbefinden geht, nichts zu tun. Und die Seinsweisen des landschaftlichen Raumes überschreiten die am Menschen orientierten räumlichen Maßstäbe. Aus den Störungen, Verletzungen, Niedergängen der an den Oberflächen erscheinenden landschaftlichen Tiefen geht das Profane und Heillose der Länder und Gebiete erst hervor. Wer in einer Landschaft nur wohnen will, wird auf ein bloßes Gelände zurückgeworfen. Die vergangenen Kulturen der Erde waren sich dessen noch bewußt gewesen und hatten daher gesucht, in ihren Werken den verletzlichen Schönheiten der Landschaften gerecht zu werden und zwar unabhängig davon, ob sie uns ›wohltun‹ und ›gefallen‹ oder nicht. Mit der Moderne begannen die Versehrungen der Länder und damit der Entzug von Landschaften durch die Sucht nach ständig wachsendem Wohlstand wie Krebsgeschwüre zu wuchern. Der Massentourismus, geleitet von den seicht gewordenen Sehnsüchten des verstädterten Massenmenschen nach ›Landschaft‹, zerstört vollends, was er zu lieben vorgibt. Der Blick auf die vor-modernen Landschaftsgemälde entbehrt daher nicht der Trauer über den Verlust von Landschaften, in welchen sogar die unvermeidlichen Verletzungen, die Menschen ihren Oberflächen zufügten, sich noch in Narben dieser Landschaften umzuwandeln vermocht hatten, damit diese Menschen und ihre Werke selbst zu den Erscheinungen einer Landschaft gehören können. ›Unterwegs zur entwegten Landschaft‹ ist man noch lange nicht, wenn man ›Grünflächen‹ in den Städten anlegt oder Reservate zu besonderen Gebieten erklärt und unter Naturschutz stellt. Unsere städtischen Metropolen und ihre ›ländlichen Vernetzungen‹ müßten sich allererst wieder dem öffnen, was sich ihrem Begehren entzieht: dem Wesen der Landschaften, dem sie noch im Zerfall derselben zu Geländen und Gebieten ihre eigene Existenz verdanken. – Der Blick auf die Landschaft, wie ihn große Malerei lehrt, ist zunächst ein Blick auf die Seinsweisen des Raumes, der ihre unverfügbaren Horizonte eröffnet.
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11.Der offene Raum und das Freie der Landschaft
Versucht man den Raum der Landschaft durch deren Ausdehnung (extensio) zu bestimmen, hat man bloß die geographische Räumlichkeit eines Land, als Stück der Erdoberfläche, im Blick, wobei man mehr an die meßbaren Größen von Breite, Länge und Höhe denkt, ohne sich noch der Frage auszusetzen, warum solche ›Spannen‹ räumlich verschiedener Richtungen auf eine Dynamik der ›Spannungen‹ und ›lükkenlosen Dehnungen‹ verweisen. Solche Räumlichkeit zeigt sich nur in der Geo-Metrie sowie in der Geo-Graphie und deren kartographischen Verzeichnung von Ländern und Meeren. Die Raumweise der Landschaft wird damit nicht nur verfehlt, sondern völlig verdeckt. Denn deren Weisen zeigen sich in den unmeßbaren und unfixierbaren ›Zustimmungen‹ von Ferne und Nähe, von Weite und Enge, Höhe und Niederung, Tiefe und Flächigkeit, von Heimischem und Fremdem, nicht aber in einem statischen Nebeneinandersein. Durch solche Seinsweisen des Raumes aber wird es erst sinnvoll, von der Landschaft als dem Freien zu sprechen. Das Freie der Landschaft ist nicht einfach das ›Draußen‹ im Gegensatz zum ›Drinnen‹ ; das Außensein der Landschaft ist vielmehr absolut, das heißt, ihm entspricht kein ›Innensein‹. 1 – Mir scheint eine kurze kritische AnmerPlaton hatte im Timaios (50 d ff., a. a. O., S. 171 f.) den Gedanken Demokrits zurückgewiesen, es könne einen ›leeren Raum (kenon)‹ geben, der sich über das sinnliche Seiende hinaus ›ausdehne‹. Denn was sich da als vermeintliche Raum-Dimensionen der Länge, Breite, Höhe zeige, gehöre nur der Gestalt und Größe geometrischer Körper an, in welchen alles sich Wandelnde sich im Bild eines ständig Seienden präsentiere. Die ›Mitte‹ zwischen beiden halte zum einen an den flüchtigen sinnlichen Eigenschaften fest und nehme zum andern dazu das beständige Bild geometrischer Körper auf (vgl. dazu: Damir Barbaric, Über das zweite Prinzip Platons, Manuskript, Tübingen 2001). Diese Mitte nennt Platon mit Timaios Chora, das ›schwierige und dunkle triton genos‹ (Timaios 52 b, S. 174), das, nach Jacques Derrida (Chora, Übers. H.-D. Gondeck, Wien 2005), weder eine umfassende Gattung sei noch qua Geschlecht eine Herkunft habe. Selbst gestaltlos und schwebend entbehre chora aller Formen, welche sie in sich aufzunehmen bestimmt sei (Timaios 50 d, S. 171). Es bleibe also kein ›Raum‹ übrig, wo es
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Der offene Raum und das Freie der Landschaft
kung zu einem grundlegenden Problem wichtig, nämlich zur Differenz zwischen der (meß- und berechenbaren) Räumlichkeit eines Landes und den grundlegenden Seinsweisen des Raumes von Landschaften.
11.1. Vom leeren oder erfüllten zum offenen Raum Zumeist gerät der Raum nur von der meßbaren Räumlichkeit des Seienden her in den Blick, sofern es geometrisch darstellbar ist. Da sind zum einen intuitiv die Plätze und deren Lagebeziehungen im Hier und Dort, zum andern intentional die Wege im Hin und Her. 2 Im euklidisch mathematischen Raumverständnis erscheint im Punkt jeder Platz austauschbar als bloße Stelle und in der Linie jeder Weg als breitenloser Strich umkehrbar, wodurch eine formale Homogenität der Vorstellung von Räumlichkeit überhaupt erreicht wurde. Im geo-metrischen Raumverständnis aber sind solche Neutralisierungen nicht durchführbar. Man kann auf die Differenz von Ort und Richtung nicht verzichten, weil sonst jede mögliche Orientierung ausgeschlossen wäre. Unterscheidet man jedoch Länge, Breite und Höhe, von welchem Schnittpunkt (›punctus = Einschnitt‹) auch immer ausgehend, scheint dem Raum die Gerichtetheit als drei Dimensionen ontologisch anzugehören, das heißt, wie schon Platon bemerkt hatte, die Differenz von Raum und Räumlichkeit wird verwischt. Man stellte den Raum also einerseits als eine Gesamtheit möglicher Orte und Richtungen vor, als ob er ein (endlicher oder unendlicher) omnipräsenter ›Lage-Platz‹ aller Plätze und Wege, als ob er schlechthin – im Gegensatz zur ›Zeit‹ –
weder physikalische Eigenschaften noch geometrische Körper gebe. Und doch ermöglicht erst der Raum als chora die Teilnahme dieser Dinge an der Anwesenheit des Seins. Der Raum scheint also das Rätsel eines reinen gastlichen Aufnehmens, das ohne Aufzunehmendes nicht ist, noch auf dessen ständige Gestalt und Größe zurückführbar ist. – Ich möchte diesen Gedanken aufgreifen und betonen, daß es eben deshalb keine ontologische Einheit des Raumes geben kann, daß gerade daher ›Raum‹ nur in je unterschiedlichen Seinsweisen auftaucht, in welchen die Dinge erscheinen, Seinsweisen, die in strittiger Zustimmung zueinander stehen: Ferne und Nähe, Fremde und Heimatliches, Höhe und Niedrigkeit, Tiefe und Fläche, Weite und Enge, Heimat und Fremde. Es handelt sich also nicht um ›räum-liche‹ Dimensionen, sondern um Weisen, je raumhaft zu sein. 2 Vgl. vom Verfasser: Der Raum des Gastes, in: Die Sprache des Gastes, Leipzig 1994, S. 369–445.
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Vom leeren oder erfüllten zum offenen Raum
statisch und unveränderliches Nebeneinandersein sei, um somit allem materiell Seienden einen festen Platz und Weg einzuräumen. Was dann niemals einen solchen Platz oder Weg einnehmen könne, wie die Gestalten eines absolut immateriellen ›Geistes‹, vermag man dann allerdings nur noch als ›unräumlich‹ zu verstehen, so daß alle Rede von ›Erörterungen‹ und ›Wegen‹ des Denkens nur als ›uneigentliche‹ oder als schlechte Metaphorik gelten könnte. Dieser ›Raum‹ als omnipräsenter Platz, auf dem alles angeblich nur nebeneinander vorkommen könne, vermag jedoch alles Seiende nur dann zu umfassen, wenn er in eine Art unermeßlich großen Behälter umgedeutet wird, in ein Gefäß, in welchem unterschiedlichste Inhalte vorkommen. – Von der Antike bis zur modernen Physik reicht nun ein seltsam gedankenarmer Streit, der wohl zwischen Newton und Leibniz seinen philosophischen Höhepunkt erreicht hatte: der Streit darüber, ob es ein vom materiell Seienden vollständig leeres ›RaumGefäß‹ geben könne, in welchem alles, selbst Gott, Platz fände, oder ob dieses, gleichsam in einem horror vacui, nur Bestand habe als von sinnlich und bildlich Seiendem ›erfüllt‹, so daß seine Grenzen letztlich mit denen der Dinge in ihren geometrischen Ausmaßen zusammenfalle. Man stellte also dieses Raum-Gefäß, ›worin alles, was sich den Sinnen biete, sei‹, nie in Frage, ob man ihm nun mögliche Leere zuschrieb, die jenseits der Dinge deren absoluten Mangel bezeichne, oder ob man ihn auf die Grenzen der Dinge beschränkte, und zwar unabhängig von der Frage ob es unendlich viele Dinge gebe oder nicht. Man hätte die Entscheidung, den Raum selbst nur räumlich als einen Behälter aufzufassen, für eine wenig einleuchtende Kuriosität europäischen Denkens halten können, wenn sie nicht, hinsichtlich der räumlichen Begrenztheit der Länder auf Erden, zu Rechtfertigungen kolonialistischer und imperialistischer Unterwerfung anderer Länder und Kulturen gedient hätte, um schließlich in der Ideologie vom ›Volk ohne Raum‹ zu münden, das sich dann praktisch aufmachte, mörderisch die Räume zu entvölkern. Nun sagt man bis heute sehr mehrdeutig, es gäbe ›freien Raum‹ da, wo ›nichts‹ sei, wo also ›Nicht-etwas‹ sei. Der Raum selbst und nicht nur Räumliches scheint einem also dort vorrangig zu begegnen, wo sich dieses Freie durch die Abwesenheit von Seiendem erschließt. Doch gerade dann schlägt das Freie in bloß räumliche Leere um, die man einnehmen, besetzen und wieder ausräumen könnte. Wie unzureichend auch immer, blieb in dieser negativen Redeweise immer251 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Der offene Raum und das Freie der Landschaft
hin noch erinnert, daß das Wesen des Raumes sich nicht vom Leeren und Vollen bezüglich eines Gefäßes her erschließt, vielmehr vom schlechthin unverfügbaren Freien und Offenen her. Ein solches Verständnis schreibt dem Raum selbst eben nicht ontisch-ontologisch Dimensionen zu, weil in der Tat sich (meßbare) Länge (und Kürze), Breite (und Schmalheit) und Höhe (und Niedrigkeit) nur unter der – auf statisch Materielles beschränkten – Voraussetzung zeigen, daß sich etwas Langes, Breites, Hohes, Tiefes nicht ändert oder bewegt, sondern Halt gebietet. Es sind nur pragmatische Dimensionen, die immer schon in erreichbarer Nähe liegen. – Ich werde im Folgenden eine Skizze der Seinsweisen landschaftlicher Räume entwerfen, um ihren Unterschied zur meß- und berechenbaren Räumlichkeit des Landes hervorzuheben.
11.2. Die Seinsweisen landschaftlicher Räume Auch die pragmatischen ›Dimensionen‹ des räumlich Seienden setzen allerdings bestimmte Seinsweisen des Raumes selbst voraus, die nicht meßbar sind und ohne welche die Landschaften gar nicht zu verstehen wären, nämlich Ferne, Höhe, Weite, die ihrerseits Tiefe in Hinsicht erscheinender Flächen haben können. Die Rede von ›Seinsweisen‹ soll allerdings nicht im Sinne der metaphysischen Identifizierung von ›Sein‹ mit ›absoluter Anwesenheit‹ oder ›ewiger Omnipräsenz‹ verstanden sein; denn sie bleiben von der Möglichkeit ihrer Abwesenheit her gedacht. Einzig an räumlich Seiendes gebunden, erscheinen sie nur in den Gegensätzen des Fernen und Nahen, des Fremden und Heimischen, Hohen und Niedrigen, Weiten und Engen, Tiefen und Flachen, an denen wir Grade unterscheiden, die wiederum meßbar sind. Doch eben deshalb wird deren Wesen so leicht übersehen. Denn als Seinsweisen des Raumes selbst verhalten sie sich ganz anders: Sie überschreiten das Seiende, doch ohne es zu verlassen, um sich im Leeren auszudehnen. Ich werde aber nicht, wie üblich, sagen, der Ferne ›entspreche‹ die Nähe und umgekehrt etc., so als seien sie ein fester Gegensatz in einem gemeinsamen Raummedium. Sie ›hören‹ aufeinander oder tun es nicht. In letzterem Fall aber verkümmert die Ferne zur bloßen Leere, zum absoluten Wegsein, und die Nähe zur bloßen Ausweg- und Lückenlosigkeit. Ich werde daher sagen, der Ferne könne im Widerstreit zu ihr die Nähe, die Nähe der Ferne zustimmen (oder auch 252 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Seinsweisen landschaftlicher Räume
nicht), die Weite kann der Enge und umgekehrt zustimmen oder nicht, die Höhe der Niederung, die Tiefe der Fläche. Die Ferne stimmt strittig der Nähe zu, die Nähe der Ferne. Denn ohne Nähe ist die Ferne nur getilgt und ohne Ferne gibt es die Abständigkeit der Nähe nicht. Der Höhe stimmt die Niederung zu, der Weite die Enge oder Begrenztheit, der Tiefe die Fläche. Wo solche Zustimmungen fehlen, fallen die Seinsweisen des Raumes in die ›Oberflächlichkeit‹ und Seichtigkeit von Dimensionen zurück, die keinerlei Tiefe kennen. Dagegen sind das Ferne und Nahe, Hohe und Niedere, Weite und Enge, Tiefe und Flache die Weisen, wie der Raum selbst an räumlich Seiendem und seinen meßbaren Gradunterschieden erscheint. Doch die Ferne des Raumes selbst, die uns eine Landschaft erst eröffnet (und nicht nur das Ferne), kann uns ebenso fern bleiben wie nahe kommen. Und die Nähe (und nicht nur das Nahe, das uns erreichbar wird und beengen kann) bringt uns diese Ferne der Landschaft erst nahe, während sie ohne diese nur entfernt ist. Und Nähe ohne jede Ferne ist bloße Lückenlosigkeit wie Ferne ohne Nähe bloße Leere. Die Höhe, im Sinne von ›Hohheit‹, und nicht nur das Hohe hinsichtlich des Niederen, eröffnet erst mit dem Horizont den Himmel der Landschaft in Bezug auf die Niederungen der Erdoberfläche, so wie die Niederung ohne Hoheit Landschaften nur zu beliebigen Landflächen herabdrückt. Die Weite (und nicht nur das Weite) eröffnet eine Landschaft erst als das Freie in Bezug auf die Enge der Schranken, ohne welche sie allerdings in bloße Leere umschlüge, so wie die Enge erst durch die Weite nicht beengt, sondern Halt verleiht. Die Tiefe eröffnet erst die erscheinende Oberfläche der Landschaft, die ohne sie in bloß dumpfe Seichtigkeit und Oberflächlichkeit von Geländen umschlüge. Und die Fläche behütet die Landschaften davor, nur einer düsteren und doch leeren Abgründigkeit ausgesetzt zu sein. Und richtig verstanden sind auch ›Heimat‹ und ›Fremde‹ Seinsweisen des Raumes derart, daß die Fremde ohne Heimat nur das unbekannte Land, so wie Heimat ohne Fremde nur Landbesitz wäre. – Es geht in diesen Bestimmungen der Landschaften also nicht nur um Räumliches, sofern es die Plätze und Wege von Seiendem ermöglicht und die Landschaft nur als Land in den Blick bringt, sondern um strittig einander zustimmende Weisen des Raum-Seins selbst, die uns zwar erst über die räumlich erscheinenden Gestalten der Landschaften erschlossen werden, doch nicht ohne Eröffnung jener Horizonte, die sie überschreiten ohne sie zu verlassen. Indem diese Raumweisen an den verschiedenen Landschaften ihr ›inneres Maß‹ (Hegel) finden, werden diese als das 253 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Der offene Raum und das Freie der Landschaft
schlechthin Freie erschlossen, von dem aus sie sich in ihren besonderen Räumlichkeiten zu konkreten Individuen zusammenschließen. 3
11.2.1. Ferne und Nähe Das Nahe, an dem sich das Wesen der Nähe zeigen oder verbergen kann, ist dem menschlichen Dasein das, was neben ihm liegt, was ihm erreichbar scheint wie der Baum vor dem Hause, der See am Ende des Feldes, oder was dieses Dasein zu-nächst berührt, wie der Boden unter den Füßen, der als Zunächstseiendes zumeist erst bemerkt wird, wenn Schwere den Körper niederdrückt oder wenn ein Fuß sich zum Schritt von ihm abhebt. Das Nahe liegt zumeist unauffällig neben uns oder geht in unseren Handhabungen auf; es kann aber auch als dasjenige, was uns nicht anspricht, fernliegen oder sich als das, was sich unserer Verfügung entzieht, durch ein Befremden bemerkbar machen. Martin Heidegger hat dies in Sein und Zeit dargelegt. Gerade der Hörer des ›Fern-Sprechers‹ oder der Bildschirm des ›Fern-Sehers‹ sind zumeist in ihrer Übernähe gänzlich ›entfernt‹ und entlegen, solange sie funktionieren und uns den fernen Anrufer oder bestimmte Bilder aus der Ferne näher bringen. 4 Die Nähe selbst ist aber das, was uns gerade in der Vertrautheit und Geborgenheit im Nahen oder in der Bedrängnis und Zwanghaftigkeit durch das Nahe verschlossen ist. Erst von der Ferne her zeigt sie sich als das, was dieser zuspricht. Das Ferne kann uns erreichbar scheinen oder nicht, wie etwa der Berg am Horizont oder die Sterne am Himmel. Die Ferne selbst aber ist schlechthin unerreichbar. Unser Blick kann zum Fernen schweifen, sich in dessen Unbestimmtheit verlieren oder gleichgültig ihm gegenüber bleiben, oder das Ferne kann uns im Fernweh oder Heimweh zu nahe rücken, indem es Sehnsucht oder Wehmut auslöst. Im Bedenken des Fernen und Nahen kann uns klar werden, daß es Dinge gibt, die uns unnahbar fern liegen und uns doch nahe kommen, wie die Insel der Wie wichtig die Unterscheidung zwischen den Seinsweisen des Raumes und dem Bestand des räumlich Seienden ist, zeigt sich leicht hinsichtlich der alten Redeweise, ›Stadtluft mache frei‹, nämlich im Gegensatz zur Leibeigenschaft der ländlichen Bevölkerung. Das ›Freie der Landschaft‹ ist gar nicht umgekehrt als Gegensatz zu den ›sozialen Zwängen der Städte‹ zu verstehen, vor denen man zu fliehen glaubt, indem man die ›Einsamkeit des Landlebens‹ aufsucht. 4 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 3. Kapitel, a. a. O. 3
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Die Seinsweisen landschaftlicher Räume
Seligen, aber auch solche, die uns unerreichbar nah, vielleicht zunächst sind, wie die unbewußte Landschaft unserer Kindheit in den eigenen Träumen, die so entfernt von uns vorkommen kann. Und doch vermag uns erst die unnahbare Ferne die Nähe zu ihr, die unerreichbare Nähe die Ferne eröffnen. Ohne die Ferne würde die Nähe in bloß erreichbar Nahes oder unerreichbar Fernes umschlagen, so wie ohne die Nähe die Ferne im bloß Ferner- oder Näherliegenden unbemerkt bliebe. Die Ferne aber bringt uns erst in die Nähe zur Befremdlichkeit des Nahen, ohne daß wir ihm zu nahe kämen, so wie die Nähe uns erst den Schauder der Ferne fernhält, die sich ohne sie nur gänzlich entfernte, um absolut getilgte Ferne zu sein. Das Nahe und das Ferne sind für uns in ihrer räumlichen Ausdehnung einander bloß entgegengesetzt und haben dies gemeinsam, daß sie stets als meßbare vor uns liegen; denn auch dann, wenn sie hinter uns, zu unseren Seiten oder auch unter und über uns liegen, so haben wir diese verschiedenen Richtungen doch – wie auch modifiziert in ihrer Intentionalität – stets vor uns. Die Ferne und Nähe aber stehen in einem ganz anderen Verhältnis: Stets spricht (oder verstummt) die Nähe aus der Ferne und stets spricht (oder verstummt) die Ferne in die Nähe. Solche a-tentionalen Zusprechungen sind immer schon vorausgesetzt, wenn das Nahe und das Ferne als Gegensatz festgehalten wird, um sich auf sie orientierend beziehen zu können.
11.2.2. Höhe und Niedrigkeit Von uns selbst ausgehend, sagen wir vom Hohen, es reiche über unsere momentane Reichweite hinaus wie das Dach eines Hauses oder die Sterne, vom Niedrigen, es liege berührbar unter uns, wie der Boden, auf dem wir stehen – so als seien wir die Mitte zwischen beiden. Objektive Maßstäbe relativieren diesen Richtungsunterschied und überführen ihn, ausgehend von der Richtung der Schwerkraft in Hinsicht auf die unbewegte Wasseroberfläche, in die Dimension der Senkrechten überhaupt, zu welcher im rechten Winkel die Waagrechte steht. Daher kennt letztlich weder die Geometrie noch die Geographie die sich entsprechenden Raumweisen der Höhe und Niederung. Es hängt vom jeweiligen Standpunkt ab, ob etwas niedrig ›darunter‹ oder hoch ›darüber‹ ist. Gewöhnlich ist die niedrigste Wolke am Himmel hoch 255 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Der offene Raum und das Freie der Landschaft
über uns, wogegen vom Flugzeug aus der höchste Berg, der über die Talsenke hinausragt, niedrig unter uns ist, und von einem hohen Berg aus gesehen steht die untergehende Sonne niedrig etc. Tatsächlich beruht solche Relativierung des Gegensatzes von Hohem und Niederem bereits auf einer Nivellierung der Zusprechungen von Höhe und Niedrigkeit. Doch wo die Höhe des Hohen und die Niedrigkeit des Niedrigen schwindet, verkümmert auch das Hohe zur beliebigen Größe, die über einer anderen liegt, und das Niedere zur beliebigen Größe darunter. Doch ermöglicht erst die Höhe, daß etwas aus der Niedrigkeit aufragt, und die Niedrigkeit, daß etwas aus der Höhe niederkommt. Damit überhaupt das Hohe und Niedere als Gegensätze auseinanderliegen und zwischen ihnen meßbare Abstände herrschen können, muß zuvor schon die Höhe der Niedrigkeit und die Niedrigkeit der Höhe im Widerstreit zustimmen. Und während die Geographie natürlich ›das relativ Hohe‹ der Berge und das ›relative Niedere‹ der Täler messen und berechnen kann, sprechen die Anhöhen und die Höhe der Bäume oder Berge, der Wolken und des bestirnten Himmels einer Landschaft sowie die Niedrigkeit ihrer Talmulden, ihrer Wiesenblumen, Hügel oder Wolken einander unmeßbar zu. Es gibt keinen festen räumlichen Ort für Höhe und Niedrigkeit noch einen vorgebahnten Weg ihrer Richtung. Als Seinsweisen des Raumes zeigen sie sich in der Weise, wie sie einander widersprechend zusprechen. Wo solche Zustimmung fehlt, zerfallen die Höhe und die Niedrigkeit zur Plattheit und Abgedroschenheit einer niveaulosen Ausdehnung. Die Höhe stimmt also der Niedrigkeit zu, indem sie sich von ihr entfernt und doch in der Ferne ihr nahe bleibt.
11.2.3. Weite und Enge Sprechen wir von dem Weiten eines Waldes, einer Wüste, des Meeres, des blauen Himmels über uns und von dem Engen einer Höhle, einer Schlucht, einer Stadt, ihrer Straßen und Lebensverhältnisse, dann haben wir nur die räumliche Ausdehnung verschiedener Größe im Blick. Doch die undurchschaubare Weite eines Waldes erfahren wir erst im Zuspruch bergender oder unheimlicher oder bedrängender Enge, die uns umgibt, auch wenn sie uns nicht einschließt. Die Weite einer fruchtbaren Hügellandschaft kann uns aus der Enge städtischer Straßenschluchten und Wohnzellen befreien, aber auch der Einsamkeit und 256 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Seinsweisen landschaftlicher Räume
Verlorenheit aussetzen; die Weite der Wüste oder des Meeres kann uns auf die Enge der Stelle zurückwerfen, an der wir jede Orientierung verloren, eine Enge, die sich zur Angst zusammenzuziehen vermag. Und die Weite des Himmels über uns vermag, wie Kant es erfuhr, Menschen auf die eigene Nichtigkeit hin zu beengen oder zur unvergleichlich erhabenen Größe zu weiten. Doch vermögen Weite und Enge in ihren Zustimmungen ein Maß zu finden, das nicht auf einem äußerlichen Maßstab beruht, durch welchen die Abstände dessen gemessen werden, was als enger oder weiter einander entgegengesetzt ist, oder das der Feststellung dient, die Dinge verlören sich ins horizontlos Maßlose grenzenloser Weite und lückenloser Enge. Denn ohne Zustimmung der Enge entgleitet die Weite in die Leere, ohne Zustimmung der Weitung die Enge in Beengtheit. Wie die Ferne der Horizont des Nahen, die Höhe der Horizont der Niedrigkeit, so ist es die Weite, die dem Engen zuspricht, ohne von ihm beengt zu werden, der Horizont aller sich selbst überschreitenden Enge. Die Weite in ihrer Raumweise, nach allen räumlichen Seiten hin Grenzen zu überschreiten und doch als Horizonte zu bewahren, und die Enge in ihrer Weise, Grenzen zu ziehen, ohne Schranken zu errichten, sind keine Phänomene, die durch meßbare räumliche Ausrichtungen nach allen Seiten hin gegeben sind. Die Weite und die Enge sind niemals als Orte oder Richtungen bestimmbar. In der Alltagsrede allerdings werden diese Raumweisen zu bestimmten Räumlichkeiten neutralisiert und homogenisiert, als seien sie ›überall‹, wo es Beschränkungen und deren Überschreitungen gibt. Um Orientierungsverluste zu vermeiden, reduziert man die Weite auf das Weite, die Enge auf das Enge von räumlich Seiendem, das sich entgegensetzen läßt im neutralisierten Medium einer meßbaren Ausdehnung. So spricht man dann je nach ›Umständen‹ von der ›Kragen-Weite‹ eines Hemdes ebenso wie von einem world wide web, in dem man jeden Halt zu verlieren droht. Man spricht von den graduell verschieden begrenzten Reich- und Hörweiten, Trag- und Sichtweiten, um ihnen die scheinbar unbegrenzten Weiten der Welt überhaupt oder die unserer Anschauungen, Phantasien, Gedanken entgegenzusetzen. Doch so hat man stets nur das Weite und seine Räumlichkeit und seine abstrakte Negation im Blick, nicht aber die Weite als Seinsweise des Raumes schlechthin. Wo aber die Weite fehlt und nur das Enge vorherrscht, herrscht bloße Beengung,
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Der offene Raum und das Freie der Landschaft
Bedrängnis und Lückenlosigkeit, und die Weite ist nicht nur selbst weit weg und verbreitet Leere um sich, sondern überhaupt getilgt. Die Weite, die der Enge zustimmt, kann uns als Horizonte überschreitende Weite nahekommen, anstatt sich im Grenzenlosen zu verlieren, und die Enge, die der Weite zuspricht, befreit gerade von jenen Beengungen und Haltlosigkeiten, die alle Bewegung behindern oder vereiteln. Ohne Bezug auf die Weite schrumpft die Enge zu dem, was zu fern liegt und so weit entlegen ist, als hätte man alle Grenzen hinter sich gelassen und so jeden Halt verloren. Umgekehrt würde eine Weite ohne den Zuspruch der Enge sich in bloß grenzenloser Leere verlieren. Während also das Weite und das Enge in räumlich entgegengesetzten und meßbaren Ausdehnungen verharren, sofern sie nicht in die Maßlosigkeit des abstrakt Grenzenlosen oder Lückenlosen fallen, stimmen Weite und Enge einander widerstreitend zu, um Horizonte allererst zu ermöglichen. Im Zuspruch von Weite und Enge zueinander können Landschaften ihr eigenes, unmeßbares Maß finden. 5
11.2.4. Tiefe und Fläche Sowohl die Ferne und die Nähe wie auch die Höhe und die Niedrigkeit wurden uns zunächst zugänglich über eine Intentionalität, die auf das Räumliche der Dinge zielt und mit der man sich auf das Ferne oder Nahe, auf das Hohe oder Niedere – als meßbare Gegensätze innerhalb einer Größe – richtet, auf die jene jedoch nicht zurückführbar sind. Ist das Maß in der widerstreitenden Zustimmung von Weite und Enge gefunden – und jede Epoche hat es erneut zu finden, will sie ihren Stil finden –, vermögen große Künstler, es ohne formalistische Kälte in die räumlichen Verhältnisse umzusetzen. So bemerkte Andres Palladio in Die vier Bücher zur Architektur von 1570 (Übers. A. Beyer und U. Schütte, Darmstatt 1986, S. 41) über die Säulen und ihre Anordnung: ›Auch ist zu bedenken, daß zwischen den Interkolumnien oder Säulenweiten und den Säulen eine Proportion und Korrespondenz bestehen muß; denn wenn man in die großen Säulenweiten dünne Säulen setzt, so werden sie deshalb den größten Teil ihrer Anmut verlieren, weil sie durch die viele Luft, die in der Leere zwischen ihnen ist, eines großen Teils ihrer Breite verlustig gehen. Hingegen, wenn in engen Zwischenweiten dicke Säulen gebraucht werden, so wird dies durch die Schmalheit und Enge der Räume ein plumpes Aussehen ohne Anmut zur Folge haben. Darum sollen die Säulen, wenn die Zwischenweiten drei Durchmesser übersteigen, um den siebten Teil ihrer Höhe dicker gemacht werden.‹ – Von solchen Erkenntnissen ist die dürre Betonpfosten-Bauweise von heute himmelweit entfernt!
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Die Seinsweisen landschaftlicher Räume
Vom Zuspruch der Weite und Enge her wird nun unvermeidlich die ›ontisch-ontologische Differenz‹ (M. Heidegger) des Räumlich-Seienden und der Seinsweisen des Raumes deutlicher, ohne daß die Ferne und Nähe oder die Höhe und Niedrigkeit zu bloß räumlich meßbaren Verhältnissen des Fernen und Nahen etc. nivelliert werden. Denn mit einer Horizonte stiftenden Weite und Enge ›nach allen Seiten‹ sind Reduktionen der Raumweisen auf räumliche Orte und Richtungen unmöglich geworden. Man versucht daher ständig, die Reduktionen dadurch zu bewahren, daß man Orte auf unermeßlich kleine Stellen einengt oder unermeßlich große Flächen ausweitet. Doch erst in den Zustimmungen von Tiefe und Fläche wird vollends deutlich, von woher jene phänomenal verständlich werden. Zunächst scheint mir eine Anmerkung nötig, da man umgangssprachlich häufig dem Tiefen das Hohe entgegensetzt, anstatt es auf das Flache zu beziehen: Man spricht dann von hohen und tiefen Tönen, vom Hoch und Tief einer Wetterlage, von Hochsee und Tiefsee, von Hochgebirge und Tiefebene u. a. Dagegen ist dem ›Hochgesinnten‹ nicht der ›Tiefsinnige‹ entgegengesetzt, sondern der ›Niedergesinnte‹, noch gibt es einen Gegensatz zwischen ›tief Innerem‹ und ›hoch Äußerem‹. Anfangs entsprach wohl dem Hoch(druck) der sonnigen Wetterlage das Niedrige der Wolken, dem Hochgebirge das Niedere einer Ebene, wogegen ›Tiefsee‹ gar nicht der ›Hochsee‹ korreliert, sondern das Tiefe unter der Oberfläche des Meeres meint, und von Hochsee im Unterschied zu küstennaher See gesprochen wird. Das Flache ist es, welches die Grenzen erscheinender räumlicher Dinge erst ermöglicht, indem es sich in bestimmten Grenzen darbietet. Es verweist allemal auf das Tiefe, durch welches Erscheinungen immer schon ihre bloßen Oberflächen durchdringen. Keineswegs aber läßt sich allgemein sagen, daß das Verborgene notwendig tief sei, das Unverborgene flächig. Gibt es doch ebenso oberflächliche ›Verborgenheiten‹ wie es tiefgehende ›Erscheinungen‹ gibt. Der leicht irreführende Gedanke, das Tiefe ›läge‹ irgendwie ›unter uns im Verborgenen‹, entstammt der Erfahrung, daß wir nicht auf der Oberfläche eines Wassers, Sumpfes, Treibsandes oder Feuerstromes leben, sondern auf einer festen, widerständigen Oberfläche des Erdbodens, unter welcher die Erde ›in das Tiefe‹ zu gehen und aus ihm aufzutauchen scheint. Daher neigen wir zum Glauben, das Tiefe sei ›unter‹ uns. Gegen diese Einseitig259 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Der offene Raum und das Freie der Landschaft
keit sprechen bereits die tiefgrünen Wälder vor uns ebenso wie der tiefblaue Himmel über uns. Deren erlebbare Tiefe entzieht sich uns, wenn wir nur noch einen flachen Boden unter uns und vor uns, eine graue Nebelschicht über uns bemerken. Das Flächige ist die begrenzende Oberfläche der erscheinenden Dinge. Wird diese aber von ihrem Wesen, der Flächigkeit, her verstanden, dann stimmt sie immer schon der Tiefe zu, ohne welche sie zur bloßen Oberflächlichkeit und Seichtigkeit verfällt, während die Tiefe ohne Flächigkeit bloß in unterschiedslose, leere Obskurität zerfällt. Die strittige Zustimmung von Tiefe und Fläche ermöglicht also erst die Zustimmung von Ferne und Nähe, die nicht, wie das bloß räumlich Ferne und das Nahe, in den Grenzen ihres Gegensatzes verharren, um gemessen und berechnet werden zu können. So auch in Hinsicht auf die Höhe und die Niedrigkeit, die Weite und die Enge. Den Seinsweisen des Raumes ist diese weltweite Zustimmung von Fläche und Tiefe eingeschrieben und zwar so, daß die Ferne aus der Tiefe in die Nähe kommt und an der Fläche erscheint, daß die Nähe von der Flächigkeit her in die Tiefe der Ferne reicht, Ferne und Nähe also zugleich an der sich darbietenden Fläche erscheinen. Erst die Flächigkeit alles Erscheinens aus der und in die Tiefe ermöglicht den Übergang der Seinsweisen des Raumes zum räumlich Seienden, das ›tief‹ unter, um oder über uns ist und das doch ›unten, oben oder neben‹ uns seine Flächen darbietet. Auch kommen nicht nur Höhe und Weite aus der Tiefe an die Fläche, um von dieser in die Tiefe zurückzukehren, sondern ebenso die Niedrigkeit und die Enge. Es sind die Zustimmungen von Ferne und Nähe, Höhe und Niedrigkeit, Weite und Enge, die aus der Tiefe an der Fläche, von der Fläche her in die Tiefe sprechen. Nur dadurch wird die Fläche, die sich den räumlich erscheinenden Dingen anbietet, nicht auf diese meßbare Räumlichkeit reduzierbar. Es ist also auch hier die widerstreitende Zustimmung derart, daß Tiefe aus der Fläche, Fläche aus der Tiefe spricht, wodurch Tiefe allererst an der Fläche, Fläche in die Tiefe scheinen kann. Erst wenn diese Zustimmungen zusammenbrechen, verfällt die Landschaft in bloß oberflächliches Land und Gelände, ›hinter‹ denen nichts mehr ist und deren Ausdehnung von den erstarrten grenzwertigen Gegensätzen des Fernen und Nahen, Hohen und Niederen, Weiten und Engen, des Tiefen und Flächigen beherrscht ist, deren ›Zwischenräume‹ auf diese Art meß- und berechenbar werden.
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Die Seinsweisen landschaftlicher Räume
Übersieht man diese entscheidende Differenz zwischen der Räumlichkeit des Landes und den Seinsweisen landschaftlicher Räume, wird man nicht begreifen, wie es den großen Malern und Dichtern gelingen konnte, über das sinnlich erscheinende Ferne und Nahe usf. die Ferne und die Nähe selbst als aus der Abwesenheit her anwesende darzustellen, indem sie als das ermalt wurden, was über die erscheinenden Flächen des Nahen und Fernen, Hohen und Niederen, Engen und Weiten in die Tiefe reicht, anstatt im Oberflächlichen und Seichten zur Belanglosigkeit zu verkommen. Menschen, die unfähig geworden sind, durch das geschundene Land hindurch, das sie verbauen, die grundlegende Unbewohnbarkeit und Unzugänglichkeit der Landschaftsräume zu begreifen, verlieren jeden Sinn für die unverfügbaren Weisen der Landschaft, um süchtig zu werden nach dem verteidigbaren Besitz begrenzter ›Heimaterde‹ und nach endlosen Überschreitungen aller Horizonte, ohne je sich der Fremde aussetzen zu können. Ihnen sind schon a priori alle Horizonte zu nahe, alle Himmel zu niedrig, das Weltall zu eng und die Erscheinungen zu seicht, sie leiden aber zugleich an solcher ›bergender‹ Beengung. Sie werden ebenso unfähig, irgendwo ankommen zu können, um vorübergehend zu verweilen, wie irgendwo sich verabschieden und aufbrechen zu können.
11.2.5. Das Freie und das strittige Zustimmen Es sind die auf die Horizonte der Ferne, Höhe, Weite und Tiefe bezogenen landschaftlichen Erscheinungen, die uns ansprechen, wenn wir Landschaften denken. Es geht aber nicht darum, wie bezüglich der Landesgebiete, deren räumliche Lagen zueinander und ihre kausalen Abhängigkeiten untereinander zu bestimmen, sondern darum, die Weise ihres einander widerstreitenden Zustimmens zu verstehen, dessen Kriterium nicht im vitalen und psychischen Wohlgefallen oder Mißfallen von Menschen liegt. Die einander strittig sich zustimmenden Raumweisen hatten uns schon in die Ferne gebracht, von der aus Landschaften aus dem abgründig Freien zu verstehen sind. Wer deren Erscheinungen, wie in den kausalistisch verfahrenden Naturwissenschaften, auf eine ›stofflich-energetische Natur‹ reduziert, die ausnahmslosen Gesetzen gehorche, verfehlt sie grundsätzlich. Man vermag zweifellos den Ursachen dafür 261 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Der offene Raum und das Freie der Landschaft
nachzuforschen, warum eine bestimmte mächtige Eiche auf dem von Wiesengräsern statt von Kräutern und Disteln bewachsenen Hügel und nicht im feuchten Tal steht, warum der Lauf dieses klaren und blaugrünen Flusses von flachen, gelben Sandbänken und nicht von Granitfelsen gesäumt ist, warum dieses niedrige Buschwerk zwischen diesem See und jenem Sumpf liegt und nicht an den Tannenwald da drüben grenzt, warum das reifende Weizenfeld gerade von milder Sonne beschienen wird, anstatt vom Gewitterhagel zerschlagen zu werden, warum das Korn von Insekten befallen ist und nicht genug Vögel da sind, die deren maßlose Vermehrung einschränken etc. Doch hinsichtlich der Erscheinungsweise einer Landschaft geht es nicht um allgemeine ökologische Ursachen für das Bestehen oder den Wandel eines bestimmten Landstriches, sondern um ein bestimmtes einander widerstreitendes Zustimmen der landschaftlichen Erscheinungen, das weder gesetzmäßig und verharrend in steriler Unverträglichkeit noch beliebig geschieht, sondern aus jeweils bestimmten offenen Möglichkeiten heraus. Die Betrachtung landschaftlicher Erscheinungen erlaubt es, im Unterschied zur Beobachtung faktisch vorhandener Länder, sie in ihrem Möglichsein und in ihrem Spiel strittiger Zustimmungen zueinander zu verstehen. Jede Landschaft könnte ihrer Erscheinung nach anders sein, obwohl nicht beliebig anders, sondern gemäß dem jeweiligen Geschick von Himmel und Erde; und wo man darauf achtet, wird sie als das Freie verstanden. Doch als ›imaginäres Pantagramm‹ ist Landschaft nicht auf ihre jeweilig geschichtlich bestimmte Erscheinungsweise reduzierbar, vielmehr wird diese so erst als landschaftliche verstanden. Ändert sich daher die besondere Weise dieses einander widersprechenden Zustimmens zueinander, so verändert sich wiederum die besondere Raumweise einer landschaftlichen Erscheinung. Denn für den Anblick einer Landschaft, wie uns zumal die Malerei lehrte, kann durchaus bestimmend sein, ob die Eiche auf dem Gipfel des Hügels, am Abhang oder auf dem Feld steht, doch gibt es kein Gesetz, das bestimmt, warum sie gerade hier und nicht dort steht. Denn so wenig erscheinende Landschaften aus einem Haufen zufällig zusammengekommener Dinge bestehen, so wenig bilden sie ein quasi-organisches, selbstbezügliches ökologisches System. Gewiß kann man die gerade faktisch erscheinenden Gestalten der Erde und des Himmels mit den Gezeiten ihrer Bezüge, der Berge und Täler, Wälder und Felder, Erden und Wasser, Pflanzen, Tiere und Men262 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Seinsweisen landschaftlicher Räume
schen daraufhin befragen, welchen Gesetzen sie gehorchen und warum die Buche, wie wir sie bisher kennen, nicht wie Mangroven im Salzwasser wachsen, die Seerose nicht im Wüstensand und Menschen nicht unter Wasser oder in der Luft gedeihen. Doch war es gerade Charles Darwin, der nachwies, daß es sich in der Entwicklung bestimmter Gestalten nicht um notwendige Gesetze handelt, die jedes Gegenteil als unmöglich ausschließen, sondern um Regeln, die nicht nur Ausnahmen zulassen, die vielmehr selbst von Ausnahmen verändert werden können. 6 Man sucht, wechselseitige Abhängigkeiten und Kräfteverhältnisse aufzudecken etwa zwischen Arten der Minerale und Erden, zwischen den Klimata, den Verbreitungen und Wirkungen von Pflanzen, Tieren und Menschen u. a., mit der Absicht, ihre ökologischen Zusammenhänge zu erkennen. Die traditionellen Naturwissenschaften gingen allerdings von der mechanistisch-technizistischen Annahme aus, daß unter gleichen Bedingungen stets gleiche Wirkungen erfolgten, was letztlich heißt, daß die Natur eine mechanische Maschine sei, deren Ergebnisse wiederholbar und berechenbar sind. Sie läßt als ›Erkenntnis‹ nur gelten, was reproduzierbar ist und einer ›Technik der Natur‹ folgt, die man zu beherrschen sucht. Gleichzeitig kommt eine mechanistisch-technizistische Wissenschaft an die Grenzen dieser Methode, sobald sie an komplexere Erscheinungen wie die Zusammenhänge landschaftlicher Erscheinungen gerät. Nicht einmal Berechnungen von Wahrscheinlichkeiten reichen hier aus, wo Regelhaftigkeit und Chaos ineinander gleiten. Man denke nur an die Probleme der Wetterprognosen. – Mit ›Wissenschaften‹ auf der engen Basis zweiwertig logischer Methoden ist keine landschaftliche Erscheinung zu verstehen, denn die Länder, deren Erscheinungen man auf Gesetze oder Wahrscheinlichkeiten hin befragen kann, liegen nicht etwa den Landschaften ›zu Grunde‹ ; sie gehen, wie bemerkt, aus bestimmten ›Verelendungen‹ und Verfallserscheinungen der Landschaften erst hervor. Diese beginnen dort, wo man glaubt, ihre unverfügbaren Raumweisen durch meßund berechenbare Räumlichkeiten und Kräfte ersetzen zu können, bis man nur noch seichte Oberflächlichkeiten vor sich hat, die man auf der Suche nach ihren vermeintlich ›inneren Geheimnissen‹ endlos aufspaltet, dabei aber statt auf ihre imaginäre Tiefe, nur auf immer kleinere
Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten, in: Gesammelte Werke, Übers. J. V. Carus, Frankfurt a. M. 2006.
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Der offene Raum und das Freie der Landschaft
Oberflächen stößt, deren Verhalten sich schließlich jeder kausalen Beschreibung entziehen. Das Freie der Landschaften steht nicht in einem Gegensatz zum Notwendigen, als sei das Freie nur unberechenbares Chaos. Es spricht vielmehr als imaginäre Wirklichkeit stets durch die bestimmten strittigen Zustimmungen der Erscheinungen zueinander hindurch, die weder von der Art zwingender Fesseln und Verkettungen noch von der Art zufälligen, überflüssigen Beiwerks sind. Es geht aber auch nicht darum, das Eine mit dem Anderen nur zusammenzupassen, sondern um ein widerstreitend bleibendes Zustimmen, das nicht in eine höhere gemeinsame Einheit des Übereinstimmens – und damit überhaupt nicht in das Eine der Natur – aufgehoben werden kann. ›Himmel und Erde‹, ›Berg und Tal‹ etc. ›ergänzen‹ sich nicht im ›höheren Dritten der Natur‹, sie stimmen einander strittig zu bezüglich des abgründig ›Dritten‹ der imaginären Wirklichkeit der Landschaft. Denn vom Imaginären aus ist das, was dem jeweils Anderen entgegengesetzt ist, eine schlechthin unangemessene Verbildlichung, auf die unser gewöhnlich zweiwertig logisches Denken scheint nicht verzichten zu können. Mythisch wurde, wie bemerkt, solches strittige Zustimmen vorgedacht in der Gestalt der Harmonia: die aus dem Bruch mit dem Gesetz hervorgehende Tochter von Ares und Aphrodite, die zugleich das Wesen ihrer Eltern, nämlich des auseinander und gegeneinander gehaltenen gewaltsamen Tötens und der lustvollen Umarmung, nicht etwa bloß ›sublimierte‹, sondern in etwas völlig Neues überführte: in das imaginäre harmonische Gefüge dessen, was als unvereinbar im Streit einander zustimmt und in dieser Zustimmung strittig bleibt, ohne daß ›Gegnerschaft und Zuneigung‹ in etwas Höherem seine Einheit findet oder in gleichgültige Gegensätze zerfällt. Solcher Art aber ist das imaginäre Pantagramm der Landschaft selbst. Anders als unentwegt zu lesen ist, gibt es in der Landschaft keine ›Einheit in der Mannigfaltigkeit‹, in welcher jede Erscheinung der anderen so nahe rückt, daß sie vor lauter Gemeinsamkeit ihren Bezug zu den anderen verliert. Solche ›ästhetischen Regeln‹ sind eher Beruhigungspillen für unsichere und verstörte Seelen denn ein Kriterium für ›Schönheit‹, die auf keinen anthropozentrisch psychologischen Sinn zurückführbar ist, wie Shaftesbury im Gefolge Platons geahnt hatte (4.2.). Das strittige einander Zustimmen landschaftlicher Erscheinungen wird völlig über264 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Seinsweisen landschaftlicher Räume
sehen, wenn man nur die ›ruhige Lage selbständiger oder abhängiger Dinge‹ auf einem Gelände im Blick hat, deren Anblick einen gerade mal wohlig entlastet, anstatt Mißbehagen zu bereiten oder als ›Natur-Katastrophe‹ zu bedrohen. Aus den verschiedenen Weisen des freien strittigen Zustimmens landschaftlicher Erscheinungen zueinander aber tauchen die Stimmungen der Landschaften als das überlogisch Allgemeine auf. Doch deren ›Erleben‹ in menschlichen Gefühlen ist bloß das Medium, durch welches sie leibhaftig erfahren anstatt nur abstrakt begriffen werden, keineswegs aber ist es deren ›Projektionsgrund‹. Und das strittige einander Zustimmen ist im Oszillieren dieser Stimmungen anwesend. Es macht das Freie der Landschaft in ihren Erscheinungen aus und verhindert, daß es bloß ins Gleichgültige oder in eine Leere zurückfällt, die allenfalls noch im Schauder eines trüben Abgrundes erfahren würde, und es vereitelt, daß das Freie mit zwangsläufigen Zusammenhängen zusammenstimmen muß. ›Notwendige Abhängigkeiten‹, die das Anderssein als unmöglich ausschließen, gehören nur den Phantasmen der Ungeduld an, von welchen die Länder unter den Zwängen ihres Gebietseins besessen sind. Erst eine gleichsam außermenschliche Geduld vermag in diesen Zwängen das Leiden einer Wirklichkeit angesichts offener Möglichkeiten zu sehen. Solcher Geduld entspricht die ›zärtliche Gleichgültigkeit‹, die Gelassenheit landschaftlicher Erscheinungen den Schicksalen jener gegenüber, die im Vorbeikommen und Vorübergehen als Gast bei ihnen zu verweilen vermögen. Eben deshalb vermögen Landschaften den Menschen ›auf freien Füßen‹ ein ›freies Geleit‹ unter ›freiem Himmel‹ zu geben, vorausgesetzt, sie vermögen sich von ihrer sogenannten ›Freizeit‹-Industrie verabschieden. 7 Denn in den Metropolen und ›Wohnmaschinen‹ (Corbusiers Postulat im Gefolge des Bauhauses), in denen der Menschentyp der Moderne nur noch sich selbst begegnet, ist dieser der Vorherrschaft eines unberechenbaren und unregierbaren Gemisches von Ordnungslosigkeit und Zwängen ausgesetzt, wovon ihn kein aufregendes oder erholsames ›Landschafts-Erlebnis‹ wird erlösen können. Aber auch dieser Menschentyp ist nur eine, wenn auch zäh verschwindende Möglichkeit in der Welt der Landschaften, als deren Gast er sich verstehen könnte, ließe er von der verbissenen Verzweiflung ab, mit der er an sich festzuhalten sucht, um nicht als Fremder in der Fremde zu gelten. 7
Vgl. hierzu vom Verfasser: Zeit der Muße – Zeit der Musen, Tübingen 2008.
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12. Die Landschaft der Dichtung
12.1. Sprachbilder der Landschaft Wir sahen, daß die Geographie zu sehr darin befangen ist, Landschaft als bloßes Land und Gebiet, als Teil der Erdoberfläche und als wissenschaftliches Terrain zu bestimmen, um sich überhaupt ihrer Wesensart nähern zu können (2.). Man könnte daher, vielleicht im Sinne Leonardo da Vincis, sagen, daß die wahre ›Wissenschaft‹ der Landschaft bisher die Malerei selbst ist. Denn sie offenbarte uns – durch die Darstellung ihrer Räumlichkeiten hindurch, sofern diese im Bild über das Meßund Berechenbare hinausgeht – das Freie in den Seinsweisen landschaftlichen Raumes. Sie lehrte uns, ausgehend von ihren Erscheinungen Landschaften von ihren verschiedenen, wandelbaren Horizonten aus zu sehen. Durch eine andere solche ›Wissenschaft‹ nun, nämlich durch die Dichtung, kommen die Bilderscheinungen der Landschaft zur Sprache. Denn dichterische Sprache zielt nicht auf die einzelnen landschaftlichen Erscheinungen in ihren Zusammenhängen, sondern entdeckt uns ganz neue Weisen ihres strittigen Zustimmens zueinander. Da ist zum einen die Erzählung, in denen landschaftliche Erscheinungen beschrieben werden in den Weisen, wie sie die Gemüter der Personen aufrufen, einbetten oder abwandeln, indem sie sich ›episch‹ in diesen auszudehnen scheinen oder sich ›dramatisch‹ in ihnen zusammenballen. Zum andern ist es die Lyrik, in welcher sich Landschaftsbilder weder ausbreiten noch zuspitzen, sondern sich in wenigen Nennungen verdichten und andere Arten strittigen Zustimmens offenbaren. In der Dichtung, wie in der Sprache überhaupt, haben wir es zunächst mit Stimmlauten sowie mit mono-, dia- und hologrammischen Stimmlautbildern (oder Schriftbildern) zu tun sowie mit den Regeln ihrer Verbindungen, so daß wir jede Lautfolge zugleich als Exempel eines nie im Ganzen präsentierbaren sprachlichen Pantagramms auffassen 266 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Sprachbilder der Landschaft
(9.). Auf dieselbe Weise, wie visuelle Wahrnehmungen den Sinn gerade nicht-empfundener anderer Sinneswahrnehmungen in sich tragen können, um uns damit ein komplexes Erscheinungsbild zu präsentieren, so können dies auch die auditiv vernommenen Stimmlaute und die uns bekannten Regeln ihrer Verbindungen, so daß wir bei deren Hören zumal auch visuelle Bilderscheinungen und deren Beziehungen untereinander erfassen können, die wir aktuell gar nicht empfinden. Erst wenn das geschieht, haben wir es mit ›Wortlauten‹ und ›Wortlautbildern‹ zu tun. Und mit Heidegger ließe sich auf die ›geheimnisvolle Landschaft‹ verweisen, ›wo dichterisches Sagen an den geschickhaften Quell der Sprache grenze‹. 1 – Während wir jedoch reflektierend eine visuelle Wahrnehmung auf dasselbe Objekt beziehen, etwa auf diesen Landstrich, ist das nicht der Fall bei vernommenen Stimmlauten, die wir zunächst auf eine menschliche Person beziehen, von deren Äußerungen wir annehmen, daß es sich um Wortlaute handelt, die den Sinn aktuell nicht-empfundener anderer Bilderscheinungen enthalten. Hören wir also den Stimmlaut ›Und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar‹ und ordnen ihn einer uns bekannten Sprache zu, dann enthält er bereits, neben seinem akustischen Rhythmus und seiner Melodie, den Sinn einer nicht-empfundenen visuellen Bilderscheinung. Denn wir hören gewöhnlich nicht erst Stimmlaute, die wir dann auf Bilderscheinungen beziehen, um jene als Wortlaute auszulegen. Das gilt selbst dann, wenn wir Stimmlaute hören, die wir abstrakt als Wortlaute einer uns unbekannten Sprache auslegen, obwohl sie in uns keine konkreten Bilderscheinungen wachrufen können. Lyrische Dichtung zeichnet sich nun dadurch aus, daß sie die Alltagssprache, die ständig den Bedeutungsreichtum verarmt, auf zwiefache Weise in Frage stellt: durch die achtsame Bildung ihrer Rhythmik, Melodie und Art des Zusammenklangs der Stimmlaute sowie durch die Aufdeckung ganz anderer dia-, poly- und hologrammisch gefügter Bilderscheinungen in der Abwandlung der Wortzusammenstellungen. Damit tauchen in jedem gelungenen Gedicht ›rätselhafte Züge‹ auf. Das heißt mitnichten, Alltagssprache sei ›verständlicher‹ ; vielmehr werden deren rätselhaften Züge nur durch die Pragmatik der Gewohnheiten, nämlich durch gedankenlose Banalität verdeckt.
Martin Heidegger, Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 171.
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Die Landschaft der Dichtung
Ich werde im Folgenden zunächst drei sehr verschiedene Beispiele von Landschaftserzählungen vorführen, um dann kurz auf drei Landschaftsgedichte einzugehen. Es gibt aber noch einen Weg zur Landschaft der Dichtung, der noch nie begangen wurde: Ich werde in der bestimmten Nennung einzelner Landschaftserscheinungen in der deutschen Lyrik zwischen dem Zeitalter des Barock und der Gegenwart eine Struktur aufdecken, um zu fragen, ob ihren rudimentären Bilderscheinungen ein mögliches Pantagramm von Landschaft überhaupt zugrunde liegen kann. Es handelt sich oft nur um einzelne Wortgebilde und Strophen, die aber nicht aus ›größeren Zusammenhängen‹ gerissen werden, weil sie in den Gedichten selbst nur wie ›Zitate‹ auftreten, in denen die genannten Erscheinungen auf die imaginär an- und abwesende Landschaft verweisen. Der Titel ›Die Landschaft der Dichtung‹ wird also nicht besagen, daß ich das Thema ›Landschaft‹ mittels der Gedichte ausführe, schon deshalb nicht, weil ein solches Thema in der Lyrik kaum existiert. Es sind eher kurze bildbeschwörende Wortgesten, durch welche bestimmte Schemata von Landschaftserscheinungen angesprochen werden. Auffallend aber ist, daß da eine fast durchgängige Wortpaarung bezüglich landschaftlicher Erscheinungen vorherrscht, ausgehend von Grundschemata wie Land und Meer, Stadt und Land, Himmel und Erde, Tag und Nacht, Sommer und Winter oder Herbst und Frühling, Berg und Tal, Wälder und Felder, Erden und Wasser – Wortpaare, die uns leicht dazu verführen, die gemeinten Erscheinungen als ›sich ergänzend‹ im Begriff ›der einen Natur‹ zusammenzufassen, wodurch dann allerdings ihr Charakter strittigen Zustimmens zueinander weitgehend nivelliert wird, indem man zudem von den Seinsweisen des Raumes als Horizonten der Landschaft absieht, um sie einer einzigen, meßbaren Räumlichkeit zu unterwerfen. Schon das erste große Gedicht der europäischen Antike über eine Welt möglicher Landschaften (13.), peri physeos von Empedokles, verdeckte im metaphysischen Begriff einer ewigen Anwesenheit der physis die offenen Horizonte landschaftlicher Seinsweisen des Raumes, kaum anders als die gegenwärtige Astrophysik das Problem des Raumes einer kosmischen ›Ausdehnung‹ (oder ›Zusammenziehung‹) im Begriff einer einzigen kosmischen Räumlichkeit mit ihren ›schwarzen Löchern, dunklen Energien, dunkle Materie‹ etc. verhüllt. – Wie aber, wenn diese landschaftlichen Paare einzig strittig einander zustimmen, ohne auf ein
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Sprachbilder der Landschaft
übergeordnetes Ganzes zu verweisen? Wie wenn die ›Welt der Landschaften‹ die Metaphysik ›der einen Natur‹ in Frage stellte? Ich werde die Ergebnisse der folgenden Ausführungen kurz vorwegnehmen, um zu verdeutlichen, daß sie nicht einen ›notwendigen Wesenszug‹, sondern nur bestimmte Möglichkeiten darstellen, das Pantagramm ›Landschaft‹ überhaupt zu erfassen: Ich gehe vom überlieferten Stadt-Land-Gegensatz aus, um nochmals die Bedeutung der Verschiebung hin zum Verhältnis Land-Landschaft zu unterstreichen, wie sie sich in der Dichtung immer schon durch die Entdeckung des Schweigens der Landschaft andeutete, eines Schweigens noch unterhalb der unzähligen Geräusche und Klänge, wie sie von landschaftlichen Erscheinungen ausgehen. Im Unterschied zum Land, als der Summe seiner Gestalten bezogen auf die Einheit ›Erde‹, ist dasjenige, was sich je als besondere Bilderscheinung ›Landschaft‹ durch die Erscheinungen präsentiert, immer nur das exemplarische Beispiel dessen, was sich als unrepräsentierbares, imaginäres Pantagramm ›Landschaft‹ nicht der Wahrnehmung gibt (9.). Das gilt nun für alle grundlegenden Erscheinungspaare: Das Irdische der Landschaft bezieht sich widerstreitend auf das Himmlische derselben, und dieses Verhältnis bringt nicht nur die zyklische Ordnung der Gezeiten, sondern zugleich auch das chaotische Moment der Wetter ins Spiel. Himmel und Erde sind nicht in Wechselwirkungen äquivalent, sondern verhalten sich asymmetrisch zueinander; könnte doch die Erde allein auch ein Steinhaufen ohne Licht und Wasser sein. Dem Blick in die unermeßliche Höhe mit seinen Wolken, mit dem Firmament und den Gestirnen, mit Sonne und Mond, vielleicht mit den fernen Gottheiten und Ahnen, diesem Blick entspricht der Blick auf die niederen irdischen Fluren. Was hier die Dichtung Berg und Tal nennt, drückt eine Verwandtschaft zu ihr selbst aus, nämlich die der Hebungen und Senkungen und deren Schwingungen zu Rhythmus, Melos und Zusammenklang dichterischer Sprache selbst. Wälder und Felder verhalten sich in den Dichtungen häufig wie ›dunkle, geheimnisvolle Tiefe‹ und ›offene, überschaubare Fläche‹ zueinander. Die Erden und die Wasser dagegen rücken in der Dichtung dem menschlichen Dasein so nahe, daß zumeist die Erden mit seinem Tod, die Wasser mit seinem Leben überhaupt verwandt scheinen. Es ist jedoch gerade diese poetische Auslegung, die dazu tendiert, Landschaft in eine Summe von Orten und Wegen und somit in ›Land‹ aufzulösen. Die Zier der landschaftlichen Erschei269 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Landschaft der Dichtung
nungen, wie sie in der Dichtung des 16. bis 18. Jahrhunderts häufig zur Sprache kam, gibt einen bestimmten Vorrang der Anmut, die entspannen läßt, vor der Erhabenheit wieder, durch welche Anspannungen genossen werden können. Beides bleibt dadurch jedoch menschlicher Nähe zu sehr verpflichtet. Nur wenige Zeugnisse der Dichtung konnte ich finden, die den Aufbruch zu Ferne und Weite hin thematisieren. Der weitaus größere Teil deutscher Dichtung scheint mehr der einseitigen archaischen Raumweise von Höhe und Niedrigkeit zugewandt, wodurch immerhin aber ein Abstand zur Aneignungssucht nicht ganz verdeckt wird. Abschließend werde ich mich daher der Frage zuwenden, wie die Weltweite landschaftlicher Erscheinungen zu verstehen sein könnte.
12.2. Erzählung der Landschaft Man wird vielleicht nicht bezweifeln, daß große Malerei uns das Wesen der Landschaften und ihre Zerstörung zu bloßen Oberflächen vor Augen zu halten vermag und gesteht wohl auch der Dichtung zu, daß sie auf ihre Weise immer schon unterwegs zur Landschaft sein könne. Nun behauptet man immer wieder, Erzählungen könnten Landschaften nur beschreiben, denn der Dichter richte sich dabei nach einem ›inneren Bild‹ von ihr, das von sich her in der Schilderung keine bestimmte Abfolge vorschreibe; zu erzählen seien dagegen nur äußere Begebenheiten oder Handlungen oder der Verlauf innerer Erlebnisse. Man orientiert also die sprachliche Schilderung von Landschaften an den sichtbaren Erscheinungsbildern und imaginierten Bilderscheinungen. – Ist das überhaupt zureichend? Wie wollte man denn jene wunderbar ›unausgemalten‹ Landschaftsbilder in den epischen und lyrischen Dichtungen seit Homer, seit Theokrit oder Vergil verstehen, die selbst durch das Mittelalter hindurch nicht unterbrochen worden waren? – Auch hier lassen sich wohl Entwicklungen beobachten, von einem anfänglichen Skizzieren göttlicher Berge, Bäume oder Gewässer hin zur nur vorübergehenden Anwesenheit der Götter auf Bergen und Wiesen, in Wäldern und an Flüssen, Quellen und unter Bäumen, hin zu jenen loci amoeni, die zum intimeren Innehalten und Verweilen einladen, hin zu den arkadischen Hirtenlandschaften, aber auch hin zu den Gräberfeldern, zu den blutigen Opferhainen, zu den Schlacht- und Mordfeldern
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Erzählung der Landschaft
und ihren Schädelstätten, 2 zu den Ufern, Abgründen und unterweltlichen Gefilden – Skizzen, die sich erweitern zu jenen ausführlichen Landschaftsbeschreibungen der Romandichtungen, die ihrerseits ebenso topographisch und chorographisch gemeinte Strukturen in sich aufnahmen, wie sie phantastische Landschaftsformationen erfanden. 3 Es konnten aber auch umgekehrt wirkliche Landschaften geschildert werden, als seien sie Teile einer großen Erzählung, und wer belegte das großartiger als Alexander von Humboldt: ›Am Fuße des hohen Granitrückens, welcher im Jugendalter unseres Planeten, bei Bildung des antillischen Meerbusens, dem Einbruch der Wasser getrotzt hat, beginnt eine weite, unabsehbare Ebene. Wenn man die Bergthäler von Caracas und den inselreichen See Tacarigua, in dem die nahen Pisang-Stämme (die der Bananenstauden, Anm. v. m.) sich spiegeln; wenn man die Fluren, welche mit dem zarten und lichten Grün des tahitischen Zuckerschilfes prangen, oder den ernsten Schatten der Cacao-Gebüsche zurückläßt: so ruht der Blick im Süden auf Steppen, die scheinbar ansteigend, in schwindender Ferne, den Horizont begrenzen.‹ 4 – Kann man im Ernst behaupten, man hätte es hier mit dem visuellen ›Abbild‹ einer Landschaft in der Vorstellung zu tun, das irgendwie einer ›realen‹ Landschaft entspräche, für deren wirkliches Bestehen sich einige Eigennamen verbürgten? Eine solche Auffassung mag sich einstellen, wenn ›ernste‹ Zweifel auftauchen, ob diese Schilderung das ›richtige‹ Vorstellungsbild der gemeinten Landschaft angedeutet oder hervorgerufen habe, oder ob nicht vielleicht das Erinnerungsbild Humboldts trüge oder ob dieses Landschaftsbild gar von ihm erfunden sei. Dann erst würde man vielleicht vergleichend überprüfen, ob das ›Vorstellungsbild‹, das wir uns von dieser venezuelischen Landschaft machen können, mit ihrem Erscheinungsbild übereinstimmt oder nicht. Aber auch wenn uns rein dichterische Phantasie das Bild einer Landschaft vorführt, haben wir es zunächst nicht mit einer schematischen Vision unserer Einbildungskraft zu tun, um dann zu überlegen, Ingo Zechner, Landschaften des Todes und der Erinnerung, in: Im Garten der Philosophie, Hg. O. Erdogan und D. Koch, (S. 279–283), München 2005. 3 Bruno Snell, Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg 1949; Romano Guardini, Landschaft der Ewigkeit. Dante-Studien, München 1958; Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Hamburg 1993; Kurt Garber, Hg., Europäische Bukolik und Georgik, Darmstadt 1976. 4 Alexander von Humboldt, Ansichten der Natur mit wissenschaftlichen Erläuterungen, 1. Bd., a. a. O., S. 3. 2
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Die Landschaft der Dichtung
ob sie einer wirklichen Landschaft ähnlich sei oder als erfundene gänzlich fremd anmute. Nicht anders als große Malerei wird uns die dichterische Erzählung bestimmte Wesenszüge einer Landschaft aufdecken: Noch inmitten der ›glücklichen Tage‹ des jungen Werther sprengen schon Sehnsüchte die erfüllende Anwesenheit der Landschaft auf, um in einer verborgenen Art trauender Verächtlichkeit ihren möglichen Verlust vorwegzunehmen: ›Es ist wunderbar: wie ich hierher kam und vom Hügel in das schöne Tal schaute, wie es mich rings umher anzog. – Dort das Wäldchen! – Ach könntest du dich in seine Schatten mischen! – Dort die Spitze des Berges! – Ach könntest du von da die weite Gegend überschauen! – Die ineinander geketteten Hügel und vertraulichen Täler! – O könnte ich mich in ihnen verlieren! – Ich eilte hin, und kehrte zurück, und hatte nicht gefunden, was ich hoffte. O es ist mit der Ferne wie mit der Zukunft! Ein großes dämmerndes Ganze ruht vor unserer Seele, unsere Empfindung verschwimmt darin wie unser Auge, und wir sehen uns, ach! unser ganzes Wesen hinzugeben, uns mit aller Wonne eines einzigen großen herrlichen Gefühls ausfüllen zu lassen. – Und ach! wenn wir hinzueilen, wenn das Dort nun Hier wird, ist alles vor wie nach, und wir stehen in unserer Armut, in unserer Eingeschränktheit, und unsere Seele lechzt nach entschlüpftem Labsale.‹ 5 So scheint es, als habe die Mächtigkeit dieses Landschaftsbildes darin bestanden, schon von Sehnsüchten durchtränkt gewesen zu sein, so daß mit der Erfüllung des Begehrens die Kraft der Bilder und ihre Verschiedenheiten zu verblassen begannen. Der verzweifelte Traum, in der reinen Anwesenheit einer Landschaft durch die Zeiten hindurch einen Aufschub zu finden, wurde meisterhaft von Hölderlin im Hyperion dargestellt. Inmitten der Trauer um den Verlust einer großen Geschichte und ihrer gewaltigen Mythen ruft Hyperion in einem Brief an Bellarmin aus: ›Ach! die ausgestorbenen Tale von Elis und Nemea und Olympia, wenn wir da an eine Tempelsäule des vergeßnen Jupiters gelehnt, umfangen von Lorbeer, Rosen und Immergrün, ins wilde Flußbett sahen, und das Leben des Frühlings und die ewig jugendliche Sonne uns mahnte, daß auch der Mensch einst da war und nun dahin ist, daß des Menschen herrliche Natur jetzt Johann Wolfgang von Goethe, Die Leiden des jungen Werther, in: Werke Bd. 23, Hg. R. Müller-Freienfels, Berlin 1923, S. 33.
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Erzählung der Landschaft
kaum noch da ist, wie das Bruchstück eines Tempels oder im Gedächtnis wie ein Totenbild – da saß ich traurig spielend neben ihm (dem Freund Adamas, Anm. v. m.), und pflückte das Moos von eines Halbgottes Piedestal, grub eine marmorne Heldenschulter aus dem Schutt, und schnitt den Dornbusch und das Heidekraut von den halbbegrabenen Architraven, indes mein Adamas die Landschaft zeichnete, wie sie freundlich tröstend den Ruin umgab, den Weizenhügel, die Oliven, die Ziegenherde, die am Felsen des Gebirges hing, den Ulmenwald, der von den Gipfeln in das Tal sich stürzte; und die Lacerte (eine Eidechsenart, Anm. v. m.) spielte zu unseren Füßen, und die Fliegen umsummten uns in die Stille des Mittags – Lieber Bellarmin! ich hätte Lust, so pünktlich dir, wie Nestor, zu erzählen; ich ziehe durch die Vergangenheit wie ein Ährenleser über die Stoppeläcker, wenn der Herr des Lands geerntet hat; da liest man jeden Strohhalm auf.‹ 6 Das Bild, das Pantagramm einer großen Geschichte, von der einzig noch unergänzbare Bruchstücke als Spuren auf sie zurückweisen, zeigt sich dann nur noch wie ein ›Totenbild‹, wenn der Wunsch, ihre Möglichkeiten wiederzugewinnen, einer resignierenden Verabschiedung weichen muß. Die Landschaft aber, die sich durch die Zeiten hindurch hielt, ist samt ihrer eigenen Geschichte in ihrer je voll-kommenen Anwesenheit außerhalb menschlicher Geschichte gemeint und poetisch ins Bild gebracht, wie auch immer sie selbst nur die Passage einer Naturgeschichte sein mag. Und doch: Als ob sie bereits mit ihrem Verschwinden drohte, verfertigte Adamas zeichnerisch ein Monogramm von ihr. Ein ›Totenbild‹ auch der Landschaft? Bildliche Schilderungen, die uns in die Anwesenheit von Landschaften versetzen, können bereits durch das Eindringen anderer Gebilde, zumal solcher unserer Wünsche, abgeschwächt und gleichsam brüchig werden. Großartig schilderte uns Georg Büchner die Spannung zwischen ausdrucksstarker und verblassender Bildlichkeit, wenn er im Lenz schreibt: ›Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war naßkalt; das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, Friedrich Hölderlin, Hyperion, in: Das Meisterwerk, Hg. E. Müller, Stuttgart 1952, S. 29.
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Die Landschaft der Dichtung
aber alles so dicht – und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte.‹ 7 Anfangs habe auch Lenz noch nach verlorenen Träumen gesucht, aber nichts gefunden: ›Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß; er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen‹. 8 Nur manchmal, wenn Sturm aufgekommen sei, die Wolken aufrissen, so daß die Berggipfel scharf und fest weit über das Land hin glänzten und blitzten – da ›riß es ihm in der Brust‹ : ›Er stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich ins All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe tat; oder er stand still und legte das Haupt ins Moos und schloß die Augen halb, und dann zog es weit von ihm, die Erde wich unter ihm, sie wurde klein wie ein wandelnder Stern und tauchte sich in einen brausenden Strom, der seine klaren Fluten unter ihm zog. Aber es waren nur Augenblicke; und dann erhob er sich nüchtern, fest, ruhig, als wär ein Schattenspiel vor ihm vorübergezogen – er wußte von nichts mehr.‹ 9 – Es ist, als walteten, gestalteten und entstalteten sich in solchen Augenblicken Züge der Landschaft durch ihn hindurch, anstatt ihm nur ihren Anblick zu bieten.
12.3. Von der Poesie der Landschaft zur Landschaft der Poesie Man spricht manchmal von der Poesie einer Landschaft. Es ist damit nicht wörtlich die Natur (physis) gemeint, die sich selbst in ihr hervorbringe (poiein), sondern etwas der poetischen Sprache Analoges, daß in ihr aufscheint. Der metaphorische Gebrauch von ›Poesie‹ wird sich im Folgenden nicht unterschiedslos auf ›Dichtung‹ überhaupt beziehen. Es geht mir hier nicht um das ›Dramatische‹ etwa eines Vulkanausbruchs, eines Erdbebens, einer Flutwelle oder einer von Orkanen gepeitschten Gewitterlandschaft, nicht einmal vorrangig um das ›Erzählerische‹ der Naturgeschichte einer Landschaft oder einer von Monumenten der Ge7 8 9
Georg Büchner, Lenz, in: Werke und Briefe, Leipzig 1952, S. 83. Ebd. Ebd., S. 84.
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Von der Poesie der Landschaft zur Landschaft der Poesie
schichte geprägten Kulturlandschaft mit ihren Mauern, Terrassenfeldern, Klöstern oder Burgen. Die Rede von der Poesie einer Landschaft bringt zumeist eine bestimmte ›Lyrik‹ ins Spiel, die in manchen Grundstimmungen aufzuscheinen vermag: hymnisch oder elegisch, idyllisch, fröhlich, wehmütig, liedhaft oder tänzerisch, welche dann entsprechende Gemütsstimmungen in Menschen hervorrufen können. Es muß sich nicht um träumerische oder zärtlich versöhnende Stimmungen handeln; die Rhythmik solcher Landschaften kann zugleich von unversöhnlichen Härten und Brüchen, von ›Ungereimtem‹ und Mißklängen geprägt sein. All dieses begegnet uns dort, wo es um die Landschaft der Poesie geht, wobei ›Landschaft‹ hier nicht – wie im Ausdruck ›Schul- oder Parteienlandschaft‹ – im übertragenen Sinn zu verstehen ist, sondern als Sujet zumal der lyrischen Poesie. – Betrachtet man deutschsprachige Gedichte, werden uns bestimmte Grundzüge auffallen: Das Wort ›Landschaft‹ wird erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts endgültig die politische Bedeutung ›Gesamtheit der Landesstände‹ ablegen, da diese im Zuge der Napoleonischen Kriege abgeschafft wurden. Beide Wortverwendungen parallel finden wir kurz zuvor noch bei Fichte und Hegel, ehe man damit nur noch das Aussehen eines bestimmten Landstriches im Blick hatte. 10 – Selbst wo bestimmte Landschaften namentlich genannt werden, schildert lyrische Dichtung keine geographisch-topographischen Zusammenhänge. Zumeist wird mit bestimmten Worten eine landschaftliche Welt angerufen, die den Zusammenhalt ihrer Gestalten nicht in den Kombinationen von ›Elementen‹, sondern im versam-
Daß ein Hans Sachs unter ›Landschaft‹ die Ständevertretung des Landes versteht (Historia: Herzog Heinrich der löw, Geistliche und weltliche Lieder Bd. 2, Nürnberg 1558, S 196) oder Paracelsus von der ›löblichen Landschaft Kärntens und ihres Mäzenatentums‹ spricht (Das Buch Paragranum Bd. 2, Frankfurt-M. 1565, S. 531), ist nicht verwunderlich. Diese Bedeutung von Landschaft erhielt sich aber noch, solange es Landstände gab, nämlich bis zur Zeit der Napoleonischen Kriege. Johann Gottlieb Fichte spricht noch von den ›Besitzern der Landschaft und ihren Landschaftscassen‹ (Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publicums über die französische Revolution, Danzig 1793, S. 182) und Georg Wilhelm Friedrich Hegel berichtet von den ›Deputierten der Landschaft bei den Landtagen‹ und von der ›vormaligen württembergischen Landschaft‹ (Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg im Jahre 1815 und 1816, in: Aufsätze aus den Heidelbergischen Jahrbüchern der Literatur, Heidelberg 1817, Nr. 66–77).
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melnden Flair ihrer widerstreitenden Atmosphären und Stimmungen findet, ob diese jeweils gerade erfühlt werden oder nicht.
12.3.1. Friedrich Hölderlin: Hälfte des Lebens Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser. Weh mir, wo nehm’ ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen. 11 Ich halte eine Deutung, wonach es in dem Gedicht um die Allegorie zweier Lebensabschnitte gehe – etwa des sommerlichen Glücks des blühenden und reifen Alters einerseits und der eisigen Erstarrung im trostlosen Alter andererseits – nicht nur für banal, sondern für verfehlt. Hölderlin scheint mir vielmehr die strittige Zustimmung zweier grundlegender Weisen landschaftlichen Erscheinens im Blick zu haben, die im Verhältnis einer Zerrissenheit zueinander stehen, die im ›Wehe mir‹ erlebt wird. Da drängt sich auch nicht inmitten landschaftlich sommerlicher Freuden das vorwegnehmende Bild des Verblühten, der kommenden Kälte, der ins Grau nivellierten, sonnen- und schattenlosen Erde des erst kommenden Winters auf, schon deshalb nicht, weil die Sprache des Gedichts durchgängig den Präsens beibehält. – Auf den ersten Blick scheint es sich hier nicht um eine Landschaft, sondern um
Friedrich Hölderlin, Hälfte des Lebens, in: Gedichte, Hg. G. Kurz, Stuttgart 2000, S. 361.
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zwei recht verschiedene Orte zu handeln: Zum einen wird da ein Küstenlandstrich am See angesprochen, von dem aus sich Zweige mit gelben, sommergereiften Birnen und Rosen dem See zuneigen, auf dem Schwäne schwimmen. Indem Hölderlin wörtlich nicht von der Klarheit und Reinheit, sondern von einem ›heilig-nüchternen‹ Wasser spricht, deutet er die Anwesenheit eines bestimmten Gottes an, welchem zudem der Schwan, ähnlich dem Dichter, durch seinen Gesang huldigt: Apollon. 12 Mit der Nennung der weißen Schwäne tauchen nicht nur deren Lebenselemente mit auf: die Luft der fliegenden, das Wasser der schwimmenden und eintauchenden, die Erde der ruhenden Vögel. Hölderlin fügt ihrem ›apollinischen‹ Wesen noch ein heilig rauschhaft-feuriges hinzu: In ihrem ›Trunkensein von Küssen‹ deutet sich Dionysisches an, gemäßigt durch das Apollinische ihrer lebenslangen Treue zum Geschlechtspartner. – Durch ihren Gesang also gehören die Schwäne wie die Dichter Apollon an und ›wahrsagerisch erkennen sie im Voraus das Gute im Hades‹, meint Platon. 13 Im schönklingenden Gesang geben der Dichter und der Schwan das göttlich Schöne kund, indem sie zugleich in solchem Schönen Schönes verkünden, das über den gegenwärtigen Gesang hinausgeht. Sie sind ›wahrsagend‹, indem sie das Wahre des Schönen sagen. Aber damit sprechen sie zugleich eine äußerste Schwelle mit an: den Tod, der zugleich als absolutes Ende sterblichen Lebens wie als ein Überschreiten dieses Endes durch ein unsterbliches Leben der Seele verstanden wird. Die Schwäne singen am meisten und vorzüglichsten, wenn sie sterben sollen – so läßt Platon den Sokrates vor seiner Hinrichtung sagen –, weil sie sich freuen, ›daß sie zu dem Gott gehen sollen, dessen Diener sie sind‹. 14
›Phoibos, hell besingt dich der Schwan, und mit tönenden Schwingen, / senkt er zum Ufer der wirbelnden Flut des Peineios sich nieder. / Aber der Sänger, der süßberedte, besingt dich als ersten / und letzten zugleich und immer zur tönenden Laute. / Heil also dir auch, Herrscher!‹ (Homer, An Apollon, Hymne 21, in: Homerische Hymnen, Hg. A. Weber, München und Zürich 1986, S. 123). 13 Platon, Phaidon, in: Werke Band 3, Übers. F. Schleiermacher, a. a. O., S. 36. Platon erwähnt auch die Sage, wonach die Seele des ermordeten Orpheus ein Schwanenleben gewählt habe (Politeia 620 a, ebd., S. 309). 14 Platon, Phaidon, a. a. O., S. 36. Sokrates noch übertreibend meint auch Cicero, Schwäne seien nicht ohne Grund Apollon heilig, weil sie die Sehergabe zu haben scheinen, mit der sie vorausschauen könnten, was der Tod an Gutem mit sich bringe, weshalb sie mit Gesang und Freude in den Tod gingen (M. Tullius Cicero, Tusculanae disputationes, Übers. E. A. Kiefel, 1. Buch 73, Stuttgart nach 1945, S. 103). 12
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Der Tod selbst nun zeigt sich im Gedicht Hölderlins im Bild eines landschaftlichen Ortes, der dem zuvor genannten mit seinen Elementen bewegten Lebens zum Äußersten entgegengesetzt ist: Im Bild des landschaftlich Toten gibt es weder Blumen noch Sonne und Schatten, die von der Körperlichkeit der Dinge sprechen, und das gefrorene Wasser nimmt den Charakter unfruchtbaren Gesteins an. Diesem Ort gehört nur noch an, was von Menschen gemacht wurde. Doch das Soziale dieses Gemachten erscheint selbst tot. Die Mauer, die vielleicht einem Schutz diente und doch gewöhnlich irgendwo einen überschreitenden Zugang offen hält, ist hier ›schweigend‹, das heißt, sie besagt nicht einmal ihre Begrenzung und damit Durchschreitbarkeit, sondern zeigt stumm ihre absolute Verschlossenheit und abweisende Kälte. Die klirrende Fahne scheint mir das eigentlich Anti-Dichterische überhaupt. Als Wetterfahne sagt sie stets nur dasselbe und sie sagt allein das nach, was ihr vorgesprochen wird: die launischen Richtungen wehenden Windes. An einem solchen verstummten, erstarrten, toten Ort verlieren sogar die von Menschen gemachten Dinge ihre Bedeutung. Was könnte der Sprache des Dichters und dem Gesang der Schwäne schärfer entgegengesetzt sein als das Klirren dieses anzeigenden Geräts? Hölderlin geht in diesem Gedicht nicht versöhnend auf ein Jenseits zu. Es sind diese beiden äußerst entgegengesetzten Orte, die von der Zerrissenheit und ›Hälftigkeit‹ ein und derselben Landschaft sprechen. Ist es aber nicht die Kraft einer großen Dichtung, daß sie noch den Aspekt der Landschaft zu besingen weiß, der von sich aus zur Dichtung nicht einlädt?
12.3.2. Paul Celan: Unstetes Herz Unstetes Herz, dem die Heide die Stadt baut inmitten der Kerzen und Stunden, du steigst mit den Pappeln hinan zu den Teichen: im Nächtlichen schnitzt dort die Flöte den Freund ihres Schweigens und zeigt ihn den Wassern. Am Ufer wandelt vermummt der Gedanke und lauscht: denn nichts 278 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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tritt hervor in eigner Gestalt, und das Wort, das über dir glänzt, glaubt an den Käfer im Farn. 15 Wohl lassen sich da einige vertraute Muster aus diesen Bildern herausschauen, aber man glaube nicht, damit ein Skelett des Gedichtes vor sich zu haben; es sind nur einige Gewebefetzen, die an das erinnern mögen, was einem anderen Wehen folgte: Ein ›unstetes Herz‹ ist es, das nicht wie ein Pilger über Land, schon gar nicht wie ein Nomade durch das Land wandert, wohl aber auf städtische Weise getrieben umherschweift durch die Landschaft der Heide, deren Blüten nicht mehr aus sich heraus, sondern abendlich wie Kerzen in den Stuben oder auf Friedhöfen leuchten. ›Inmitten der Stunden‹ scheint die Zeit nicht zu vergehen, und doch ist sie nicht vergessen. Hier ist nicht mehr der Hirte angesprochen, der Flöte spielend seine Herde hütet und mit seinen Schafen die Heide durchzieht. Dieses unstete, ›land-streichende‹ Herz steigt aber ›hinan‹ – wohl also ›hinauf‹ ? – zu Teichen, die demnach ihre Wasser in Mulden auf einem Hügel oder am Hang eines Berges sammelten. Das unstete Herz bahnt sich nicht allein seinen Weg, es nimmt das Geleit der Pappeln an. Schon im Nächtlichen begegnet es dem Schweigen, das sich zugleich über das Wasser legt, nämlich dem bestimmten Schweigen, wie es – hier wohl nicht nur dem Auftauchen der einzelnen Flötentöne unterlegt und zudem zwischen ihnen ›mitklingend‹, sondern vor allem ein Schweigen, wie es nach dem vergangenen Ertönen der Flöte folgt, ohne in bloßes Verstummen zu fallen. Der verhüllt wandelnde und von sich nichts wissende Gedanke lauscht auf dieses Schweigen, zumal sich in diesem Dunkeln nichts mehr von sich her zeigt. Doch schwebt da am Ufer ein Wort über das unstete Herz hin, zu dem es vielleicht hinaufhört – ein Wort, das seinen Glanz über eine fast intime Szene gießt: den Käfer im Farn. Der Farn kommt auf uns aus paläozoischer Urzeit und bewahrte sich vielleicht auch deshalb, weil er für so viele grasfressende Tiere ungenießbar ist. Wer sich mit ihm bedecke, so glaubte man einst, werde unsichtbar. Der Käfer aber hat sich auf dem Farn sichtbar gemacht, als er sein Puppenstadium verließ. – Ist dieser Käfer im Bund mit dem Farn Hüter des Schweigens geworden? Kommt vielleicht an ihm, dem scheinbar Kleinen und Nahen, einst das unstete Herz, anstatt nur zu irren, wieder 15
Paul Celan, Unstetes Herz, in: Mohn und Gedächtnis, Stuttgart 1958, S. 69.
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Die Landschaft der Dichtung
zu jenen Horizonten, die es aus der Enge der Ländergrenzen und von der Oberflächlichkeit und Erniedrigung durch die Öde der Bauweisen wieder befreit zu den Weiten und Fernen, Höhen und Tiefen der Landschaften in ihrer Fremde?
12.3.3. Karin Knobel: Behaust an rauchigem Gestade Behaust an rauchigem Gestade, sich der große Segler in den Abschied kehrt. Da bricht er reisend unsere Stimme, scheidet von der Hand des Seilers streitend, eine wild gereifte Blüte ungeborener Libellen. 16 Den Andeutungen folgend, setze ich das Gedicht hinüber in einen unsicher bleibenden Text: Da ist die Rede vom ›Abschied des großen Seglers‹. Ist er ›groß‹, weil er aufbricht zu einer weiten, ungewissen Reise, oder ist er ›groß‹ in seinem Geschick, die wechselnden Winde zu seinen Gunsten zu steuern? Von was nimmt er Abschied? Was wird er zurücklassen? Die Behausung an rauchigem Gestade. Ist es der Rauch der Schornsteine oder der Fabrikschlote oder fürchterlicher Brände? Jedenfalls durchziehen seine Schwaden wohl bewohntes Küstenland, ein Gebiet, das der große Segler zurücklassen wird, indem er sich der ›Meerschaft‹ anvertraut. Aber er geht nicht einfach weg, er wendet sich dem Scheiden selbst zu und so wird er mit sich nehmen, wovon er sich als Gast trennt. Und während sein Aufbruch zur Reise ›uns‹, den Zurückbleibenden, die Stimme bricht, hält der Seiler – mit der Trennung streitend – die den Abschied grüßende Hand des großen Seglers zurück, der Seiler, der wohl zusammen mit den Zimmerleuten und Segeltuchwebern das Boot des großen Seglers mit seinem Takelwerk und seinen Segeln erstellt hatte. – Wohin wird dieser aufbrechen? Ist er auf der Karin Knobel, Behaust, in: Mein heimliches Auge. Jahrbuch der Erotik Nr. 27, Hg. C. Gehrke, Tübingen 2013, S. 328.
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Die Stadt und das Land
Suche nach der an das Land und Gebiet verlorenen Küstenlandschaft, sich anvertrauend dieser Wind-Wasser-Maschine mit ihren schwimmenden Planken statt dem festen Boden unter den Füßen? Oder ist er selbst die ›wild gereifte Blüte‹, die als Libelle noch ungeborene Wasserlarve, die im Augenblick des Abschieds – nun selbst der große Segler werdend – in die Luft schwingen und sich den Winden zu unbekannten Landschaften hin überlassen wird?
12.4. Die Stadt und das Land Ich werde nun dazu übergehen, solche Mono- und Diagramme landschaftlicher Erscheinungen aus den Dichtungen herauszulösen, die, inmitten der unübersehbaren Mannigfaltigkeit ihrer Aspekte, einander widerstreitende Paare bilden. Die Beschränkung auf deutsche Lyrik wird eine bestimmte mythische Tradition kenntlich machen: Bis in die Gegenwart hinein dominieren in diesen Dichtungen die Seinsweisen der – zumal göttlichen – Höhe und der– zumal menschlichen – Niedrigkeit vor denen der Ferne und Nähe und der Weite und Enge. Die Seinsweisen des landschaftlichen Raumes konnten sich daher in deutscher Dichtung nur andeutungsweise entfalten. Zu sehr blieb man der Nähe und Vertrautheit der paarweisen Erscheinungen verpflichtet, durch die sich noch der Eros der heimischen landschaftlichen Erscheinungen manifestiert (5.). Zu Beginn werde ich die Frage wieder aufgreifen, wie Dichtung den alten Gegensatz von Stadt und Land erfaßte (2.) und wie sie heute die ›Begrabung‹ des einst sie umgebenden offenen Landes unter den trostlosen Überbauungen sieht, und wie das durch die Vorherrschaft des Gebietes zerstörte Land gleichsam in globalen Vermüllungen und Verlärmungen, in Klima- und Umweltkatastrophen zurückschlägt. Durch die das Land verzehrende Stadt selbst verschwindet ihr Gegensatz zum Land. Damit aber wurde die Differenz zwischen Land und Landschaft denkbar. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte man das Land wie eine Alternative zur Stadt gesehen, was sich darin ausdrückte, daß Landschaft derart mit Stille, Ruhe und Schweigen in Verbindung gebracht werden konnte, daß man dazu neigte, bis auf markante Ausnahmen die Geräusche und Klänge der Landschaften zu überhören. Anschließend werde ich die typischen Mono- und Diagramme der 281 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Landschaft der Dichtung
paarweise auftretenden landschaftlichen Erscheinungen darstellen, deren befremdlich widerstreitende Zustimmung zueinander im Ausdruck ›Zierde‹ näher gebracht wurde. Schließlich werde ich zu der Frage zurückzukehren: Wie stellte Dichtung Ferne, Weite, Tiefe, Höhe dar, um den Horizonten des Freien ausgesetzt zu sein? Es fällt zwar auf, daß große Landschaftsdichtung vorwiegend Nähe-Beziehungen menschlichen Daseins thematisierte, dies jedoch auch deshalb, um sich von deren Oberflächen aus geheimnisvollen Tiefen auszusetzen. Zumeist scheinen das Örtliche, die Umgegend und das Umgebende zu ermöglichen, sich der Ruhe und Stille, der Freude oder Trauer überlassen zu können, welchem zum andern die unbekannten exotischen Örtlichkeiten entsprechen, die durch das Wandern und über das Weghafte erkundet werden. Der unbemerkten Entferntheit der Ferne, der Verengung der Weite entspricht dagegen ein verstärkter Zug in die himmlisch göttliche Höhe, dem in der Wertung die Niedrigkeit des Irdischen (und damit dessen Vergänglichkeit) entspricht. Es ist das Erbe archaischer Mythen, die den Gegensatz zwischen den Unsterblichen in ihren unerreichbaren Höhen und den Sterblichen auf den niedrigen Gefilden hervorheben. Die Götter bewohnten schlechthin die Höhe, selbst wo diese sich ins Unterirdische verkehrte. Es gab auch die Götter der Ferne, aber sie schienen nicht zu berühren. Entsprechend wurde auch in den Dichtungen die Rolle von Sonne, Mond und Sternen und noch deren Jenseits betont: Man könnte sagen, sie sind uns unerreichbar nahe geworden. * * * Ich werde zunächst auf einige Strophen aufmerksam machen, die, wie ich bereits andeutete (4.1.), die Distanz des Landes gegen die Stadt und die Flucht aus letzterer betonen. Doch kein Land eröffnet uns per se schon eine Landschaft. Menschliches Dasein bleibt gewöhnlich auch auf dem Land sich selbst zu nah. Es gibt Gedichte, die das Dasein auf dem Lande unmittelbar als Befreiung vom Leben in den Städten feiern, so wenn Georg Philipp Harsdörffer in Der Wald ausruft: ›Wol dem der weit von großen Städten / ein dienstbefreytes Leben führt.‹ Oder Andreas Gryphius in Einsamkeit von einem ›öden, wüsten, unbebauw’ten Land‹ sagen kann: ›Hier fern von dem Palast; weit von deß Pövels lüsten / Betracht ich: wie der 282 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Stadt und das Land
Mensch in Eitelkeit vergeh’, / Wie auff nicht festem grund’ all unser hoffen steh’.‹ Georg Neumark bemerkt in Loblied des Feld- und Waldlebens: ›Die Stadt ist reich von hohen Dingen, / Doch voll von Falschheit und von List.‹ Und Friedrich von Hagedorn dichtet in Die Vögel: ›In diesem Wald, in diesen Gründen / Herrscht nichts als Freiheit, Lust und Ruh‹ ; oder in Die Landflucht: ›Geschäfte, Zwang und Grillen, / Entweiht nicht diese Trift, / Ich finde hier im Stillen / Des Unmuts Gegengift / … / Verleumdung, Stolz und Sorgen, / Was Städte sklavisch macht.‹ Und Ewald Christian von Kleist ruft uns in Das Landleben zu: ›Selig zu preisen, der fern von Purpur und Wechselbänken, Schlössern und Höfen.‹ Im Gedicht Der Morgen von Johann Friedrich von Croneck taucht dann das Schäferidyll auf: ›O stiller Hain! O lieblich kühle Haiden! / O angenehme Flur! / Hier schwebt der Geist verirrt, hier seh ich voller Freuden / Den Schauplatz der Natur. / Statt stolzer Städte Lärm seh ich die Lämmer spielen, / Beim Klange der Schalmei. / Hier kann ich in mir selbst des Lebens Wollust fühlen: Hier bin ich endlich frei.‹ Von Matthias Claudius stammen die Verse aus Ein Lied vom Reifen: ›Ihr Städter habt Viel schönes Ding, / Viel Schönes überall / Kredit und Geld und goldnen Ring, / Und Bank und Börsensaal; // Doch Erle, Eiche, Weid und Ficht / Im Reifen nah und fern – / So gut wird’s euch nun einmal nicht, / Ihr lieben reichen Herrn!‹ Was dem Stolz der Stadt entgegengesetzt wird, ist aber nicht das harte bäuerliche Leben auf dem Lande, sondern die Muße in der ländlichen Einsamkeit, für welche das Bild vom Flöte spielenden Hirten steht. Die spätere ›Anbetung der Natur‹ (Vgl. 6.3.) klingt schon an in Das Landleben von Ludwig Christoph Heinrich Hölty: ›Wunderseliger Mann, welcher der Stadt entfloh! / Jedes Säuseln des Baums, jedes Geräusch des Baches, / Jeder blinkende Kiesel, / Predigt Tugend und Weisheit ihm! / Jedes Schattengesträuch ist ihm ein heiliger / Tempel, wo ihm sein Gott näher vorüberwallt; / Jeder Rasen ein Altar, / Wo er vor dem Erhabnen kniet.‹ – In der deutschen Klassik tritt, soweit ich sehe, das Motiv der Stadtflucht zurück, um in der Romantik geradezu als Flucht vor den Menschenmassen wiederaufzutauchen: ›O könnt ich einmal los / Von all dem Menschentreiben / Natur! In deinem Schoß / Ein herzlich Kind verbleiben‹, heißt es in Sehnsucht von Justinus Kerner. Das kann sich, wie in Eduard Mörikes Am Walde, steigern bis hin zum Ausdruck tiefster Abneigung: ›Da ist mir wohl, und meine schlimmste Plage / Den Fratzen der Gesellschaft mich zu fügen, / Hier wird sie mich doch endlich nicht bekriegen, / Wo ich auf eigne Weise mich be283 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Landschaft der Dichtung
hage … / Indes die Augen in der Ferne weiden‹. – In Max HerrmannNeißes Gedicht Großstadtrand kündigt sich dann eine Wende an: Nun ist es die Stadt selbst, die aufs Land drängt, um es mehr und mehr zu vereinnahmen: ›Trostlos in Wüsten an der Großstadt Rand / Steht roh und öd die gräßliche Kaserne, / ein häßliches Geschwür im Gartenland, / nie leuchten über ihr des Abends Sterne // Der Bahndamm sperrt die Stätte wie ein Wall, / die Züge laufen Wette mit dem Wind. / Wo ist ihr Ziel? Die Welt grüßt überall, / nur hier nicht, wo die Tage Selbstmord sind. / Gelassen strömt der ölige Kanal / Vorüber an den Zwingern der Fabriken.‹ Die sterbenden Flüsse von Theodor Kramer werden wie die Zungen der Stadt gesehen, die nach dem Land gieren und es zu zersetzen beginnen: ›Die Speicher am Ursprung verderben, / schon weicht von den Ufern der Sand; / es geht ein gewaltiges Sterben / allerorts durch die Flüsse im Land. / … / Die Landschaft der Bäche und Flüsse / Ist heute schon vielfach dahin; / Bald werden, trotz reichlicher Güsse, / dem Meer zu nur Fahrrinnen ziehn.‹ Während Bertolt Brecht in Über das Frühjahr bemerkte: ›Lange bevor / Wir uns stürzten auf Erdöl, Eisen und Ammoniak / Gab es in jedem Jahr / Die Zeit der unaufhaltsam und heftig grünenden Bäume‹, schildert Erich Kästner in Misanthropie ironisch das Vordringen der Touristenmassen auf das Land, was das Ende seiner Ruhe und Stille bedeutet. 17 Zu einer Grunderfahrung des 20. Jahrhunderts werden die Verse: ›Aus kalten Höfen, Schuppen und Fabriken, / An die das Leben sich verkauft und kettet‹ (Reinhold Schneider, Der Park). Der Spaziergang kann zu einer Art Spießrutenlauf durch den Müll der Städte werden, 18 ›Schöne Dinge gibt es dutzendfach. / Aber keine ist so schön wie diese: / eine ausgesprochen grüne Wiese / und paar Meter veilchenblauer Bach // Und man kneift sich. Doch das ist kein Traum. / Mit der edlen Absicht, sich zu läutern, / kniet man zwischen Blumen, Gras und Kräutern. / Und der Bach schlägt einen Purzelbaum. // Also das, denkt man, ist die Natur? / Man beschließt, in Anbetracht des Schönen, / mit der Welt sich endlich zu versöhnen. / Und ist froh, daß man ins Grüne fuhr. // Doch man bleibt nicht lange so naiv. / Plötzlich tauchen Menschen auf und schreien. / Und schon wieder ist die Welt zum Speien. / Und das Gras legt sich vor Abscheu schief. // Eben war die Landschaft noch so stumm. / Und der Wiesenteppich war so samten. / Und schon trampeln diese gottverdammten / Menschen wie in Sauerkraut herum. // Und man kommt, geschult durch das Erlebnis, / wiedermal zu folgendem Ergebnis: / Diese Menschheit ist nichts weiter als / Eine Hautkrankheit des Erdenballs.‹ 18 Karl Krolow, Warnung des Sommers: ›Man geht im Regenmantel geradeaus / Durch eine Gegend mit Falläpfeln / Und vergessener Müllabfuhr, / die man nicht zitieren kann / in richtigen Landschaftsgedichten.‹ 17
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Die Stadt und das Land
und sogar der Vogelgesang wird zum Lärm neben anderem Lärm. 19 Langsam beginnt jeder Unterschied zwischen Stadt und Land zu verwischen. Günter Kunert sagt in Unterwegs nach Utopia II: ›Auf der Flucht / vor dem Beton / geht es zu / wie im Märchen: Wo du / auch ankommst / er erwartet dich / grau und gründlich. // Auf der Flucht findest du / Vielleicht / Einen grünen Fleck. / Am Ende / Und stürzest selig / In die Halme / Aus gefärbtem Glas.‹ Und in Vom Wohnen auf dem Lande heißt es: ›Über die Natur gibt es ja / Nicht mehr viel zu sagen: / Jeden Morgen um neun / Erscheinen drei Rehe / In Blickweite: Eine Weile / Sehe ich ihnen durchs Fenster zu / Bevor ich abschalte.‹ Jürgen Becker bemerkt in seinem Natur-Gedicht: ›In der Nähe des Hauses, / der Kahlschlag, Kieshügel, Krater / erinnern mich daran – / nichts Neues; kaputte Natur, / aber ich vergesse das gern, / solange ein Strauch steht.‹ Reiner Kunze schließlich verkehrt in Tagebuchblatt 80 das alte idyllische Bild der Landschaft, als könne sie nur noch durch das Grauen der Städte, der Länder und ihrer Kriege gesehen werden: ›Die kletterrosen blühn, als verblute die landschaft / Als habe sie sich die adern geöffnet / Als wisse sie, was kommt. / Auch die landschaft, werden sie behaupten, dürfe / Nicht mehr nur sein, / auch sie / Müsse dafür sein oder dagegen.‹ Landschaft wird, wie in Durchgearbeitete Landschaft von Volker Braun, zu einer Art Schlachtfeld der Städte: ›Hier sind wir durchgegangen / Mit unseren verschiedenen Werkzeugen / Hier stellten wir etwas Hartes an / Mit der ruhig rauchenden Heide / Hier lagen die Bäume verendet, mit nackten / Wurzeln, der Sand durchlöchert bis in die Adern / Und ausgepumpt, umzingelt der blühende Staub / Mit Stahlgestängen, aufgerissen die Orte, weggeschnitten / Überfahren der Dreck mit roten Kisten, abgeteuft die / Schächte mitleidslos.‹ Jürgen Theobaldy spricht nicht einmal mehr von der vergangenen Landschaft: ›Silbriges Blau im September, / die Steine zerfallen im Dunst der Arzneimittel, / Wolken aus Benzin über den Plätzen, / Rauchwolken aus der Vorstadt; / Was vollkommen war, ist längst geteilt‹ (In den Rauch hinein). So bleibt der Dichtung am Ende nur eine Art auflistendes Stottern übrig, wo sie über Landschaft spricht: ›I verrußter Baum, / nicht mehr zu bestimmen / I Autowrack, 19 Hans Carl Artmann in Landschaft I: ›Eine linie nach der lerche der höhe, eine linie nach / Der lerche des nestes gelärme im silberhaus der luft / Die bahn kommt das dampfroß die eiserne sache ah / Rechts biegt der rauch ab die sonne grast überm tunnel.‹
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Die Landschaft der Dichtung
Glasscherben / I künstliche Wand, schallschluckend / Verschiedene kaputte Schuhe / Im blätterlosen Gestrüpp / ›was suchen Sie da?‹ / I Essay, ein Ausflug in die Biologie / Das Suchen nach Köcherfliegenlarven, das gelbe / Licht 6 Uhr nachmittags / I paar Steine / I Warnschild ›Privat‹ / I hingekarrtes verfaultes Sofa / I Sportflugzeug / Mehrere flüchtende Tiere, der Rest einer Strumpfhose an / einem Ast, daneben / I rostiges Fahrradgestell / I Erinnerung an / I Zenwitz‹ (Rolf Dieter Brinkmann, Landschaft). – Aus dem Untergang des Ländlichen aber zeigt sich am Horizont das Wesen der Landschaft.
12.5. Das Schweigen der Landschaft Was Dichtung noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts anspricht, ist nicht allein das, was noch einige wenige Menschen auf dem Lande zu finden suchen: nämlich Einsamkeit, Ruhe, Stille, Schweigsamkeit; vielmehr werden das Einsame, Ruhige, Stille und das Schweigen zu geheimnisvollen Eigenschaften der Landschaft selbst, aus denen heraus sie sich als Landschaft erst zu erkennen gibt. Damit wird also nicht nur ausgesprochen, was im Gegensatz dazu die Stadt auszeichnet: die dichte Menge unentwegt bewegter Menschen, deren Rast- und Ruhelosigkeit, ihre friedlose, ständige Erregung, ihre redseligen und geschwätzigen Lautstärken, ihr ohrenbetäubender Maschinenlärm. – In der Gegenwart – zumindest was ein so überdicht bevölkertes Land wie Deutschland betrifft – sind diese städtischen Eigenschaften längst auch zu solchen des Landes geworden: Man wird kaum mehr einen Winkel finden, zu welchem das ununterbrochene Kreischen der Autoreifen, der ständige Fluglärm über einem, der forst- und landwirtschaftliche Motorenlärm neben einem, das Gegröle der Fußballfans etc. nicht durchdringen. – Hat man in den letzten Jahrzehnten ›auf dem Lande‹ je erlebt, daß ein Nachdenken aus dem Schweigen heraus gelang? Was aber hatte die Dichtung im Blick, wenn sie von den ›stillen Hainen‹ sprach, von denen aus Natur zu erschauen war (Croneck, Der Morgen, Hagedorn, Die Landlust, Hölty, Die Ruhe), von den ›stillen Landen‹, die eine Seele zu durchfliegen vermochte (Joseph von Eichendorff, Mondnacht), von den ›stillen Feldern in stiller Welt‹ (Detlev von Liliencron, Haidebilder), von der ›stillen‹, ›lautlosen‹, gar ›schläfrigen‹ oder ›entschlafenen‹ Landschaft (Gottfried Keller, Der Nachtschwär286 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Das Schweigen der Landschaft
mer, Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien, Nikolaus Lenau, Auf eine holländische Landschaft)? Läßt solche Stille nur von einem ›Leben in Fried und Ruh‹ träumen (Hans Aßmann von Abschatz, Thüringer Wald) oder will man ›Freiheit, Lust und Ruh‹ genießen (Hagedorn, Die Vögel)? Friedrich Hölderlin sprach von der ›süßen Ruhe in den Wäldern‹ (Der Spaziergang), Goethe von der ›Ruhe über allen Gipfeln‹ (Wanderers Nachtlied), Richard Dehmel sagte von der Flur selbst, ›sie wolle ruhen‹ (Stimme des Abends). Und einsam sind nicht nur Menschen, die allein sind, sondern sogar allein stehende Häuser (Liliencron, Abseits), sogar Felder (Stefan Zweig, Graues Land), Wege (Dehmel Eva und der Tod) oder Bäume (Ferdinand von Saar, Die Pappeln). Ihre Einzelheit allein allerdings wäre nicht zureichend, um von ihrer Einsamkeit zu sprechen. Was also ist ›einsam‹ an ihnen? Menschen und Dinge müssen nicht isoliert sein, um einsam zu scheinen. Es gibt da eine Ent-Fernung, welche alle Ferne in Nähe und Enge verwandelt. – Das Schweigen gar schreibt man gewöhnlich nur dem zu, der sich verlauten lassen und sprechen kann. Doch sogar Vögeln ließ sich ein ›Schweigen im Walde‹ nachsagen (Goethe, Wanderes Nachtlied), auch dem Wind (Theodor Storm, Meeresstrand) oder dem unbewegten See (Heinrich Leuthold, Trauer); denn diese können auch Laute und Geräusche von sich geben, die etwas mitzuteilen scheinen. Um was für ein Schweigen aber geht es, wenn die Auen (Saar, Liebliche Landschaft), die Flur, wenn schwerer Schnee (Dehmel, Eva und der Tod) oder die einbrechende Nacht schweigt? Wie kann man von einem ›Schweigen der Landschaft‹ selbst sprechen (Liliencron, Abseits, Hugo von Hofmannsthal, Botschaft)? Könnte es denn im Gegenzug Landschaften geben, die nicht schweigen, die also irgendwie redselig, gesprächig, mitteilsam, gar geschwätzig und plappernd sind? Sind das nicht vielmehr die präparierten Landstriche des Massentourismus, die kaum noch den Anschein von Landschaften ausstrahlen? – Man kann mit der Dichtung wohl sagen, daß das Schweigen, die Einsamkeit, die Ruhe, die Stille zur anwesenden Abwesenheit der Landschaft selbst gehören. Fehlten sie, vernähme man von der Landschaft nicht mehr als das, was uns irgendein Landstrich, ein Gelände kundtut. Dann allerdings wäre das Schweigen der Landschaft nicht nur demjenigen ›beredt‹, der zu hören vermag; es wäre überhaupt Voraussetzung dafür, ihr begegnen zu können, eine Voraussetzung, die der Dichter mitbringt und dem mitzuteilen vermag, der mit ihm lauscht.
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Die Landschaft der Dichtung
12.6. Das Rauschen und die Klänge der Landschaft Große Dichtung vermag aber nicht nur das Schweigen der Landschaft selbst zur Sprache zu bringen, sondern auch das Schweigen, welches anwesend bleibt, wenn es gebrochen wird von einem Schall, wenn vorübergehend ein Dröhnen oder Rauschen, ein Wispern oder Säuseln, ein Plätschern oder Rieseln, ein Bellen, Blöken oder Wiehern, ein Pfeifen oder Zwitschern, ein Jauchzen oder Schluchzen, ein Gesang, Saitenoder Flötenspiel ertönt. Manchmal ist da nur ein ›gleich getöntes Wellenplätschern‹ zu vernehmen (Hofmannsthal, Stille) oder ein Auftauen, mit dem sich der Winter zurückzieht: ›Kleine Wasser ändern die Betonung‹ (Rilke, Vorfrühling), oder ›ein schöner Quell’, auß welchem Wasser quillt‹ (Martin Opitz, Vom Wolfsbrunnen), ›Und es hat der silberklare Bach / Den Harnisch ausgezogen / Es jagt die Flut der Flute nach / Durch bunten Kies gezogen‹ (Harsdörffer, Der Frühling). Dann schließlich: ›Ströme rauschen herab dir in das finstre Tal‹ (Novalis, Der Harz) und ›wo aus dämmernder Geklüfte Schoß / der Titanensang der Ströme schallte / Und die Nacht der Wolken mich umschloß, / Wenn der Sturm mit seinen Wetterwogen / Mir vorüber durch die Berge fuhr / Und des Himmels Flammen mich umflogen‹ (Hölderlin, An die Natur). Da werden der milden Witterung einer Landschaft plötzlich Wolken bereitet, ›gebildet wölbig und grau, / Mit sengenden Blitzen und Rollen / Des Donners, mit Reiz des Gefilds / Mit Schönheit, die gequollen vom Quell ursprünglichen Bilds‹ (Hölderlin, Der Spaziergang). Und schon bricht bedrohlich der gewaltige Donner herein, genannt oder ungenannt: ›Ein Blitz, / Zwei schwarze Rosse bäumen sich / Die Peitsche knallt‹ (Conrad Ferdinand Meyer, Erntegewitter). Rilkes Der Schauende ist zugleich ein Hörender, von dem es heißt: ›Ich seh den Bäumen die Stürme an / … / Da geht der Sturm, ein Umgestalter / geht durch den Wald und durch die Zeit, / und alles ist wie ohne Alter: / die Landschaft, wie ein Vers im Psalter, / ist Ernst und Wucht und Ewigkeit.‹ Dem aber scheint ein zuversichtlicher, ›neuer Klang‹ entgegenzutreten, der verkünde, nun müsse sich ›alles alles wenden‹ : ›Die linden Lüfte sind erwacht‹ (Ludwig Uhland, Frühlingsglaube). Doch beginnt nicht gleich, sich alles schon erkenntlich zu zeigen: ›Es läuft der Frühlingswind / Durch kahle Alleen, / Seltsame Dinge sind / In seinem Wehn‹ (Hofmannsthal, Vorfrühling). Ein Wispern geht durch die Halme, ein Rascheln durch die Blätter, ein Pfeifen durch die Äste, 288 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Das Rauschen und die Klänge der Landschaft
ein Heulen an den Felskanten, ein Zerbersten von Bäumen und Dächern. Den Geräuschen der Winde können sich die der Regen zugesellen; leise zunächst: Dem winterlichen Rieseln des Schnees entspricht vielleicht vage noch ein Nieseln des Regens. Tröpfeln kann es oder ›wilder Regen träuft hernieder‹ (August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Ein Raudener Abendbild), der zum rauschenden Dauerregen (Isolde Kurz, Landregen) werden kann, zu schüttenden, prasselnden, peitschenden Niederschlägen, fast unabhängig von den Jahreszeiten der Landschaften. Gleichwohl scheint vor allem der Frühling die Zeit, die mit dem nur eisigen Schweigen des Winters bricht, eine Zeit, da ›die Vögel Lieder singen‹ (Friedrich von Logau, Der Frühling). ›Hört ihr, wie die Lerche singet / Singend sich gen Himmel schwinget‹ (Simon Dach, Frühlingslied). ›Die hochbegabte Nachtigall / Ergötzt und füllt mit ihrem Schall / Berg, Hügel, Tal und Wälder / … / Die Bächlein rauschen in dem Sand / … / Die Wiesen liegen hart dabei / Und klingen ganz von Lustgeschrei / Der Schaf und ihrer Hirten‹ (Paul Gerhardt, Sommergesang). ›Und die Blätter rauschen, / Und die Lämmer blöken / Und dort fern am Hügel / Singt die Nachtigall‹ (Claudius, Mailied). – Aber es geht nicht nur um ›aller Vöglein Fröhlichkeit / Die zu dieser Frühlingszeit / Ihre Stimmlein lassen klingen‹ (Johann Rist, Auff den herannahenden Frühling). Etwas noch Dunkles kann sich mit ihm ankündigen: ›Im Frühling fliegt in mittelnächtiger Stunde / Die Wildgans noch in raschem Flug. / Das alte Gaukelspiel: in weiter Runde / Hör’ ich Gesang im Wolkenzug.‹ (Liliencron, Haidebilder). Und: ›Bläulich dämmert der Frühling; unter saugenden Bäumen / Wandert ein Dunkles in Abend und Untergang, / Lauschend der sanften Klage der Amsel‹ (Georg Trakl, Siebengesang des Todes). Es scheint, als ob die Frühlingslieder, die ›hinaus ins Weite klingen‹ (Heinrich Heine, Leise zieht …), mit dem Gesumme der ›Bienenschar‹ (Gerhardt, Sommergesang) in das Surren von ›trunknen Wespen‹ (C. F. Meyer, Fülle) eintauchen müssen, ehe man unbarmherzig sagen kann: ›Die Krähen schrein / Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: – bald wird es schneien, / Weh dem, der keine Heimat hat!‹ (Friedrich Nietzsche, Vereinsamt). Das Schweigen im Anhören der Landschaften kann, wo diese ihre Schönheiten der Freude von Menschen anbieten, zur Wonne und zum Wohlklang werden, aber auch umschlagen in das Tosen der Stürme und in das Donnern der Gewitter, in das Rauschen der Regen und Brüllen der fallenden Gewässer, in den Angst- oder Todesschrei der Tiere und 289 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Landschaft der Dichtung
in das Kriegsgebrüll der Menschen. Oder winterliches Klirren und Verstummen bildet von vornherein die andere Seite der Landschaft, wie Hölderlin es in Hälfte des Lebens dargestellt hatte. – Liegt nicht in dieser Kehrseitigkeit, mit der die Erscheinungsweisen der Landschaften uns ansprechen, schon der Verweis auf das imaginäre An-Wesen wie Ab-Wesen der Landschaft selbst, das erst jenseits der Belange der Menschen zum beredten Schweigen wird?
12.7. Himmel und Erde Selten wird bedacht, daß Landschaften nicht nur irdische Gebilde sind, sondern allein in strittiger Zustimmung von Himmel und Erde zueinander zu erscheinen vermögen. Dem alten Verständnis nach galt dabei als ›Himmel‹ alles, was sich unerreichbar über den Menschen auf Erden befand: von der Lufthülle an mit ihren Dünsten und Regen spendenden Wolken, über die Licht spendenden Gestirne am Firmament und zumal die Sonne, die zudem auch Feuer und Wärme gab, bis hin zu den unsichtbaren Göttern und Ahnen. Ohne ihren ›Streit in der Zustimmung zueinander‹ erschienen uns keine Landschaften. Haben sie denn ihrerseits einen Ursprung? * * * Zumal zwei große Mythen der Entstehung von Himmel und Erde gingen in die abendländischen Dichtungen ein: wie Hesiod und wie Moses sie dichteten. Der Genesis nach schuf Gott am Anfang Himmel und Erde. 20 Doch scheint es, als ob noch vor diesem Anfang der ›Geist Gottes auf dem Wasser schwebte‹, schweigend gleichsam über einem unstet und ungeordnet Bewegten. Der Ursprung vor dem Anfang besteht demnach in einer Urdifferenz zwischen dem einzigen Gott und dem ›Wasser‹. Die erschaffene Erde war anfangs ›wüst und leer und finster‹. Sie differenzierte sich erst durch die Erschaffung des Unterschieds zwischen Licht und Finsternis, Tag und Nacht. Doch erst als Gott durch eine (nicht weiter erklärte) ›Feste‹ (das ›Firmament‹) einen ›Unterschied zwischen den Wassern‹ schuf und das Wasser ›unter der Feste‹ von dem Wasser ›über der Himmelsfeste‹ schied und dem unteren 20
Das erste Buch Moses, Kap. 1. V. 1, Die Bibel, a. a. O., S. 5.
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Himmel und Erde
Wasser ›besondere Örter‹ derart zuwies, ›daß man das Trockene sehe‹ – erst damit tauchte unter der Himmelsfeste der Unterschied zwischen der ›Erde‹ als Land und den Gewässern als Meer, See oder Fluß auf, die ihrerseits vom Regen, dem ›Wasser über der Himmelsfeste‹, gespeist wurden. Die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks ›Erde‹ hat sich bis heute bewahrt: die Erde als bestimmte ›Welt‹, dann als das trockene ›Land‹ gegen die Gewässer und schließlich als mehr oder weniger fester Stoff. Nun erst nimmt der anfänglich erzeugte Unterschied zwischen Licht und Finsternis Gestalt an: ›Und Gott sprach: Es werden Lichter an der Feste des Himmels, die da scheiden Tag und Nacht und geben Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre und seien Lichter an der Feste des Himmels, daß sie scheinen auf Erden … Und Gott machte zwei große Lichter: ein großes Licht, das den Tag regiere, und eine kleines Licht, das die Nacht regiere, dazu auch Sterne.‹ 21 Während die mosaische Schöpfungsgeschichte gleichsam von der Urdifferenz zwischen einem ordnenden Gott und einem entropisch verstandenen, ungeordneten und spannungslosen Medium ›Wasser‹ ausging (und nicht, wie erst Augustinus es auslegte, von einem ›absoluten Nichts‹), um es durch Setzung von Unterschieden zu bestimmen, so verstand Hesiod in seiner Dichtung Theogonia das Chaos von vornherein als ein ›Aufklaffen‹ des Unterschieds selbst, als ursprünglichste Macht einer Genesis der Ordnungen: 22 ›Chaos gebar das Reich der Finsternis: Erebos und die schwarze Nacht, und diese das Himmelsblau und den hellen Tag, von Erebos schwanger, dem sie sich liebend vereinigt.‹ 23 Erst also ein Aufklaffen der ›Finsternis‹, die sich zu sich in den Unterschied setzt und so als begrenzte ›Nacht‹ bestimmt, ermöglicht demnach das Auftauchen von Dämmerung (aither) und Tag. Aither setzt, noch bevor eine Lichtquelle auftauchte, alles Seiende als unterschiedenes, das sich als einzelnes zu allem anderen in Beziehung setzen kann. Die Erde, Gaia, die wenig später als ›aller Unsterblichen ewig sicherer Sitz‹ gleichursprünglich dem Chaos entstand, gebar im Akt einer Selbstunterscheidung den an Größe ihr gleichen sternenbedeckten Himmel, Uranos, ›damit er sie völlig umhülle und den seligen Göttern ein sicherer Sitz sei für ewig‹. Und sie gebar die ›großen Berge‹, die ›reizende Wohnstatt der Nymphen‹, die in ihren Schluchten hausen. 21 22 23
Ebd., V. 15–17. Hesiod, Theogonia V. 116 f., Übers. A. v. Schirnding, Düsseldorf 2007, S. 15. Ebd., V. 122.
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Die Landschaft der Dichtung
›Auch die öde Meerflut gebar sie, die wogengeschwellte, Pontos, ganz ohne Liebe.‹ 24 Okeanos jedoch, wie auch Hyperion, der Vater des Helios und dieser selbst als Sonne, sie entstanden, neben anderen Titanen, aus der Vereinigung von Gaia und Uranos. Der Himmel gehörte demnach anfangs der Erde zu und erst durch deren Selbstunterscheidung wird sie als der Grund auch des Wassers gegen das trockene Land erscheinen, das nun aber zum durchaus ›schwankenden Sitz‹ der Sterblichen wird. – Auch hier zeigt sich die Mehrdeutigkeit der Erde, die zum einen als weltlicher, kosmischer Urgrund auch den Himmel über ihr enthält, und eine von diesem unterschiedene Erde, die dann durch die Vereinigung mit jenem zur Mutter der Wasser und Himmelsfeuer wird, von denen sie sich zugleich als verborgener Grund und sichtbarer Boden abgrenzt, während, wie bereits erwähnt, der eifersüchtig tyrannische Uranos, der seine Kinder im Bauch der Erde gefangen hielt, schließlich von seinem Sohn Kronos entmannt wird und damit niemals wieder die Erde wird befruchten können. Dem mosaischen Mythos nach scheinen Himmel und Erde zugleich von Gott aus einem ›wässrig‹ entropischen Chaos erschaffen, bevor er das sich selbst fortpflanzende Getier und den Menschen erzeugte sowie die Speise liefernden, ›sich selbst besamenden‹ Kräuter und Bäume. Aber es sind natürlich die Wasser nicht nur ›unter‹, sondern auch ›über der Himmelsfeste‹, welche das erdig Trockene befeuchten, um die Samen aufgehen zu lassen – wie blaß auch das alte Bild ihrer hochzeitlichen Vereinigung geworden sein mag. * * * Länder und Landstriche, so sagt man, ›beruhen‹ nicht nur auf statischen Reliefs einer trockenen Erdoberfläche, über welche ›dynamische‹ Prozesse der Tages- und Jahreszeiten und der Wetter hinweggehen. Wir haben es letztlich, wie die Naturgeschichte lehrt, allenfalls mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten im Wandel ihrer Gestalten zu tun. Dieser Wandel aber, so hieß es bis vor kurzem, gehorche ewigen Gesetzen. Doch die metaphysische Konstruktion einer gesetzmäßigen Natur weicht nun auch in den Naturwissenschaften mehr und mehr der Annahme, daß man höchstens von den Graden der Wahrschein-
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Ebd., V. 132.
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Himmel und Erde
lichkeit gewisser Regeln sprechen könne, wo es um uns zugängliche natürliche Vorgänge geht. Man wird also nicht mehr ohne weiteres sagen, das ›ewige Werden‹ der Dinge sei selbst das absolute Gesetz. Was dann?, fragt Gottfried Benn: ›Noch einmal die goldenen Herden / Der Himmel, das Licht die Flur / Was brütet das alte Werden / unter den sterbenden Flügeln vor?‹ (Astern). Für Schiller schien es noch einen Ort zwischen Himmel und Erde zu geben: ›Zwischen Himmel und Erde trägt mich ein Zackenfels‹ (Hymne an den Unendlichen), weil er die Berge der Erde nicht zu ihrer Niedrigkeit zählte, sondern nach alter Vorstellung zu den Vermittlern zwischen Erde und Himmel. – Wo aber bleibt der Himmel, wenn ›die Erde bebt von der Schlacht‹ (Ricarda Huch, Kriegswinter) und wenn das, was im Staub liegt, zugleich ›dem Rauche gleich ist, / der stets nach kältern Himmeln sucht‹ (Nietzsche, Vereinsamt)? Gibt es noch das ›Verlangen nach den Reizen der Erde‹ (Hölderlin, Neckar), wenn gesagt werden muß: ›Die letzte Erde / Der Erde letzter Tag / Die letzte Landschaft / Die eines letzten Menschen Auge sieht‹ (Hilde Domin, Ziehende Landschaft)? Zu sagen, ›die Erd eröffnet ihre Brust‹ (Harsdörffer, Frühling), war nur möglich gewesen, weil sich ihr ein strahlender Himmel wieder zeigte und sich ›das reiche Himmelszelt‹ (Gerhardt, Sommergesang) wieder ausgebreitet hatte. Ab dem 20. Jahrhundert scheint die uralte Beziehung von Himmel und Erde zusammenzubrechen: ›Die Erde dehnt sich schmerzlich schwarz und weit‹ (Alfred Lichtenstein, Landschaft). Im Blick der Dichter waren Himmel und Erde, ohne welche Landschaft nicht erschiene, noch bis zu Beginn der Moderne die dunkle Grundmetapher einer vermeintlich endlosen Beständigkeit geblieben, weil der Anfang ihres Entstehens, durch göttliche Schöpfung aus dem Nichts, ebenso wie ihr apokalyptisches Ende viel zu fern lagen. ›Erde‹ war, was ›beständig unter einem‹ ist, nämlich zunächst der Boden, auf dem man selbst mit vielem anderen sich befindet und der alles begleitet, was sich bewegt; und dann ›unter dem Boden‹ jener dunkle Grund, der alles zu sich zieht und schwer macht. Der ›Himmel‹ war dagegen, wie gesagt, alles, was sich ›über einem‹ befindet. Die Erde konnte mit ihren Bergen zum Himmel aufragen, der Himmel neigte sich mit seinen Wassern und Winden ebenso wie mit seinen Lichtern und Dunkelheiten der Erde zu, und sie nahmen sich auf, ohne sich zu vermischen.
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Die Landschaft der Dichtung
Heute scheinen Himmel und Erde selbst nur noch vorübergehende Momente in einer unermeßlich werdenden Mannigfaltigkeit. Die Bilder aus dem Weltall belegen uns ja anschaulich, was die Menschen seit Kopernikus nur abstrakt mathematisch zu wissen vermochten: daß die Erde bloß ein nicht von sich her leuchtendes, kugelartiges Gestirn unter anderen ist in der schwarzen Weite eines Kosmos, dessen Endlichkeit grenzenlos scheint.
12.8. Die Gezeiten der Tage und Jahre und die Wetter Dem mythischen wie dem logischen Denken aller menschlichen Kulturen nach waren Himmel und Erde beständig aufeinander bezogen und dies blieb auch bis an die Schwelle zur Moderne Thema der Dichtung. Denn ohne den Himmel und seine wandelnden Erscheinungen gäbe es für die Erde keine einheitlich berechenbare Zeitlichkeit. Die Spuren der Umarmung von Gaia und Uranos sind auch noch dort zu finden, wo Eichendorff das poetische Bild prägt: ›Es war als hätt der Himmel / Die Erde still geküßt‹ (Mondnacht), und sogar in Rilkes Worten: ›Zärtlichkeiten ungenau / Greifen nach der Erde aus dem Raum‹ (Vorfrühling). Oft begegnet man dem Bild, wonach der ›Himmel selber der Erde zu fließe‹ (E. C. v. Kleist, Frühling), in der Weise des leuchtenden, wärmenden oder verbrennenden Lichts der Sonne oder in der des alles befeuchtenden, befruchtenden oder ertränkenden Gewölks. Wenn aber das Tagesblau des Himmels waltet, kann die geheimnisvoll bewegliche Berührungslinie zwischen Himmel und Erde sichtbar werden, die niemals als Schranke zu erreichen war: der waagrechte Horizont, von dem aus es schien, als wölbte sich der Himmel wie eine Halbkugel über die Erde. Die Gezeiten der Tage und Jahre und ihre dämmernden Übergänge zeigen sich nicht nur als regelmäßig wechselnde Berührungspunkte von Himmel und Erde. Ihr ursprünglicheres Hervorgehen aus dem Chaos blieb anwesend. Das Goethe’sche ›Warte nur balde / ruhest auch du‹ (Wanderers Nachtlied) könnte Drohung oder Verheißung sein. Die Stimme des Abends (Dehmel) kann verlauten lassen: ›Die Flur will ruhen‹, als ginge es nur um ein Ausruhen von den Regungen des Tages. Doch ist der Abend stets auch der Vorbote eines Endes, vielleicht des Todes: Es ›streicht der Dämmerung kühler Flügel‹ (Saar, Es streicht …) 294 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Gezeiten der Tage und Jahre und die Wetter
und: ›Der Abend läuft den lauen Fluß hinunter‹ (Ernst Stadler, Fluß am Abend), oder ›Wolke aus hartem Schiefergrau / Schwimmt in die blanke Weite des Abends‹ (Hermann Kasack, Fließend), gar: ›Bläulich dämmert der Frühling; unter saugenden Blumen / Wandert ein Dunkles in Abend und Untergang‹ (Trakl, Siebengesang des Todes). Die Nacht kann beunruhigend, düster und finster, aber auch bergend sein und einladend als ›sternenklare Mondnacht‹ (Eichendorff, Mondnacht). Novalis dagegen spricht weit darüber hinaus von den ›unendlichen Augen, / die die Nacht / in uns geöffnet‹, diese ›heilige, unaussprechliche geheimnisvolle Nacht fernab der Welt‹ (Hymnen an die Nacht). – So wenig wie Abend und Nacht, so wenig wurde in der Dichtung der Morgen nur begrüßt und der kommende Tag so besungen, wie Ludwig Tieck es tat: ›Wenn Morgenrot den Himmel säumt‹ (Blumen), oder Mörike: ›O flaumenleichte Zeit der dunklen Frühe! / Welch neue Welt bewegest du in mir? / … / Dort sieh, am Horizont lüpft sich der Vorhang schon! / Erträumt der Tag, nun sei die Nacht entflohen‹ (An einen Wintermorgen). In das Glück eines klaren Tages läßt sich mit Goethe hineinrufen: ›Wie glänzt die Sonne!‹ (Maifest), eine Sonne, die sogar dem Schnee ein ›Prachtgeschmeide‹ leihen kann (Liliencron, Heidebilder). Doch die Sonne kann auch ›stechend‹ oder ›brütend‹ werden und sogar ›an unserm Blute saugen‹ (Goethe, Mahomets Gesang). Fragt keiner nach dem ›Fiebergesicht der Sonne / entbrannt am See‹ (Rose Ausländer, Heu)? Die mild erwärmende oder erbarmungslos brennende Sonne verweist in mitteleuropäischen Breitengraden weit über den Tag hinaus auf ihren veränderlichen Stand am Himmel und somit auf den Unterschied der Jahreszeiten. Doch schimmert auch hier noch die alte Regellosigkeit des Chaos hindurch, ehe sie im Bild launischen Wetters von den ›Regeln‹ wiederkehrender Jahreszeiten abgehoben wurde. In Hundstage schrieb Hermann Hesse: ›Wo eben noch in frohen Schauern / Das Leben feucht und spielend rann, / Keucht Sommer wütend hügelan / Der Höhe zu. Rausch und Opferglück, / Ihn rief der Tod: auf hagrem Pferde / Jagt er voran und läßt die Erde / Erschöpft, verblüht, verbrannt zurück‹. Das ist allerdings ein ganz anderer Sommer als der, den Paul Gerhardt im Blick hatte, als er aufforderte: ›Geh aus, mein Herz, und suche Freud / In dieser lieben Sommerzeit‹ (Sommergesang). Umgekehrt wird auch nicht jeder den Winter verdammen wie Johann Wilhelm Simler: ›Der kürtzest tag und längste nacht / den grawen winter 295 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Landschaft der Dichtung
bringen / … / melancholey / wohnt allem bey / und alle freud zerstöret‹ (Wintergesang). Dem konnte Richard Dehmel in Eva und der Tod einen Winter entgegensetzen, ›der ein Frühlingsmärchen schien‹. Gegen das Schreckensbild des Winters bekennt Johann Christian Günther gar: ›Verzeiht, ihr warmen Frühlingstage, / Ihr seyd zwar schön, doch nicht vor mich. / Der Sommer macht mir heiße Plage, / Die Herbstluft ist veränderlich; / Drum stimmt die Liebe mit mir ein: / Der Winter soll mein Frühling seyn‹ (Lob des Winters). Dichtung verharrt nie einfach in den Gegensätzen von starrem, kaltem Winter und lebhaftem, warmem Sommer, von Frühling und Herbst, von Winter und Frühling usf. Der Herbst zumal zeigt sich im Zwiespalt zwischen dem Reichtum an Früchten, Gerüchen, Farben und bunt fallenden Blättern zum einen, den sterbenden Blumen, wachsenden Stürmen, Regen und Kälte zum andern. Während Mörike in ihm noch einen ›Aufklärer‹ feierte: ›Im Nebel ruhet noch die Welt, / Noch träumen Wald und Wiesen: / Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, / Den blauen Himmel unverstellt, / Herbstkräftig die gedämpfte Welt / In warmen Golde fließen‹ (Septembermorgen), so spürt Stefan Zweig die Vergänglichkeit an ihm auf: ›Wolken in dämmernder Röte / Drohn über dem einsamen Feld, / Wie ein Mann mit trauriger Flöte / Geht der Herbst durch die Welt // Du kannst seine Nähe nicht fassen / Nicht lauschen der Melodie. / Und doch: in dem fahlen Verblassen / Der Felder fühlst du sie‹ (Graues Land). Landschaft im Spätherbst heißt für Ferdinand von Saar: ›Über kahle, fahle Hügel / Streicht der Dämm’rung kühler Flügel / Dunkel, wie erstarrte Träume, / Steh’n im Thal entlaubt die Bäume.‹ Der Frühling scheint dagegen die Jahreszeit der Landschaft zu sein, die uneingeschränkt begrüßt wird: ›Ey nun will ich lassen schwinden / Alle Sorg’ vnd Trawrigkeit / Weil die schöne Frühlingszeit / Sich nun bald wird lassen finden.‹ (J. Rist, Auff den heran-nahenden Frühling). ›Jetzo liebet, was nur lebet, / Was in Luft und Wasser schwebet, / Jetzo singet, scherzt und küßt, / Was der Himmelraum umschließt‹ (S. Dach, Frühlingslied). Zumeist wird der Frühling als ein Kommender begrüßt, wie in Mörikes Er ist’s: ›Frühling läßt sein blaues Band / Wieder flattern durch die Lüfte; / Süße, wohlbekannte Düfte / Streifen ahnungsvoll das Land. / Veilchen träumen schon, / Wollen balde kommen. / – Horch, von fern ein leiser Harfenton! / Frühling, ja du bist’s! / Dich hab ich vernommen!‹ Und in Uhlands Frühlingsglaube wird der kom296 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Gezeiten der Tage und Jahre und die Wetter
mende Frühling zugleich Metapher einer umwälzenden Erneuerung: ›Die Linden Lüfte sind erwacht, / Sie säuseln und Weben Tag und Nacht, / Sie schaffen an allen Enden. / O frischer Duft, o neuer Klang! / Nun, armes Herze, sei nicht bang! Nun muß sich alles, alles wenden. // Die Welt wird schöner mit jedem Tag, / Man weiß nicht, was noch werden mag, / Das Blühen will nicht enden. / Es blüht das fernste, tiefste Tal: / Nun, armes Herz, vergiß die Qual! / Nun muß sich alles, alles wenden.‹ Eine uneingeschränkte Bejahung des Frühlings, der die Jahreszeit liedhaften Dichtens überhaupt zu sein scheint, ist sanft auch noch in Rilkes Vorfrühling zu spüren: ›Härte schwand. Auf einmal legt sich Schonung / an der Wiesen aufgedecktes Grau. / Kleine Wasser ändern die Betonung. Zärtlichkeiten, ungenau, // greifen nach der Erde aus dem Raum. / Wege gehen weit ins Land und zeigens, / Unvermutet siehst du seines Steigens / Ausdruck in dem leeren Baum. // Schon kehrt der Saft aus jener Allgemeinheit, / die dunkel in den Wurzeln sich erneut, / zurück ans Licht und speist die grüne Reinheit, / die unter Rinden noch die Winde scheut. // Die Innenseite der Natur belebt sich, / verheimlichend ein neues FreuetEuch; / und eines ganzen Jahres Jugend hebt sich, / unkenntlich noch, ins starrende Gesträuch. // Des alten Nußbaums rühmliche Gestaltung / füllt sich mit Zukunft, außen grau und kühl; / doch junges Buschwerk zittert vor Verhaltung / unter der kleinen Vögel Vorgefühl.‹ In Hofmannsthals Vorfrühling taucht dagegen bereits etwas unheimlich Untergründiges mit auf: ›Es läuft der Frühlingswind / Durch kahle Alleen, / Seltsame Dinge sind / In seinem Wehn. // Er hat sich gewiegt, / Wo Weinen war, / Und hat sich geschmiegt / In zerrüttetes Haar. // Er schüttelte nieder / Akazienblüten / Und kühlte die Glieder, / Die atmend glühten. // Lippen im Lachen / Hat er berührt, / Die weichen und wachen / Fluren durchspürt. // Er glitt durch die Flöte / Als schluchzender Schrei, / An dämmernder Röte / Flog er vorbei. // Er flog mit Schweigen / Durch flüsternde Zimmer / Und löschte im Neigen / Der Ampel Schimmer. // Es läuft der Frühlingswind / Durch kahle Alleen, / Seltsame Dinge sind / In seinem Wehn. // Durch die glatten / Kahlen Alleen / Treibt sein Wehen / Blasse Schatten // Und den Duft, / Den er gebracht, / Von wo er gekommen / Seit gestern Nacht.‹ Befremdliches also kann der Frühling des Kommenden andeuten. In dem Gedicht Der Frühling gar von Friedrich von Logau zeigt er sich zugleich als wirkliche Bedrohung inmitten der überall ausgebrochenen Freude, nämlich als die Jahreszeit, in welcher die im Winter ruhenden 297 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Landschaft der Dichtung
Kriegszüge wieder aufgenommen werden: 25 ›O so muß für trübem kräncken / Bloß der Mensch die Stirne sencken! / Weil zumal bey Frühlings-Lüsten / Mars erfrischet sein verwüsten / da er diß für Lust erkennet / Wann er raubet / schändet / brennet.‹
12.9. Die Fluren der Landschaft und ihre Gestalten Während sich der Sonnenbewegung die regelmäßigen Gezeiten von Tag und Nacht auf Erden und Sommer und Winter zuschreiben lassen, so scheint dagegen durch die Launen der Wetter hindurch noch das alte Chaos wirksam zu sein, dem jene Ordnung abgerungen scheint. Insofern liegen auch himmlische Erscheinungen im Streit miteinander. Diesem entsprechen der irdische Streit zwischen Land und Meer und der Streit der Fluren zwischen der Beständigkeit ihrer Erhebungen und Senkungen und dem vielfältigen Wandel, dem sie unterliegen. Wo die Dichtung von der ›fluor der erde‹ sprach, hatte sie zumal die relativ beständige Beschaffenheit der Landstriche im Blick, deren Veränderungen durch Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen, Orkane, Brände eher als die großen Ausnahmen, nämlich als ›Naturkatastrophen‹, verstanden wurden. Die Gestalt der Fluren zeigt sich in der Weise, wie Berge und Täler, Felder und Wälder, Gesteine und Gewässer, Pflanzen und Tiere, Kultivierungen und Siedlungen durch Menschen einander widerstreitend zustimmen und nicht nur räumlich geometrisch verteilt sind. Dichtung sieht nicht davon ab, ob sie klar unter wolkenlosem Himmel stehen oder in Nässe, Nebel und Düsterheit verschwimmen. Landschaftliche Fluren zeigen sich zunächst in der Mannigfaltigkeit ihrer Gestalten. In Paul Gerhardts Sommergesang ist von ›Berg, Hügel, Tal und Felder‹ die Rede; in Daniel Casper von Lohensteins Lobgesang der Blumengöttin von ›Berg und Tal, Gebirg und Wiesen‹. Friedrich von Hagedorn ruft diese Gestalten wie Personen an: ›Ihr Täler und ihr Höhen, Felder und Wälder, Berg und Land‹ (Die Landlust), und so auch Johann Peter Uz: ›Ihr Wälder, ihr belaubte Gänge! / Und du, Gefilde! Stille Flur‹ (Der Weise auf dem Lande). In Johann Wilhelm Noch im 20. Jahrhundert waren Schlachten bei Eis und Schnee schwerer durchzuführen und die großen ›Offensiven‹ suchte man auf das Frühjahr zu verlegen.
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Die Fluren der Landschaft und ihre Gestalten
Ludwig Gleims Gedicht An die Sonne ziehen Sonne, Bäche und Ufer, Täler und Berge, Eis und Schnee, Klippen, Eichen, und Gefilde am Leser vorbei; in Andreas Gryphius’ Einsamkeit sind es die Gestalten eines ›ungebawten Landes‹ : ›wildes Kraut‹ und ›bemoßte See‹, ›Thal‹ und ›Felsen‹, ›der rawe Wald‹ und der ›Stein‹. In Angelus Silesius Gedicht (Sie muntert sich aus dem Getöne der Kreaturen zu seinem Lobe auf) ›erklingt die ganze Welt‹ : Vöglein und Winde, und im Widerhall sind sogar alle Berge und Täler, Wälder und Felder voller Stimmen. In einem Gedicht von Barthold Heinrich Brockes wird sogar die irdische Landschaft mit einer ›Landschaft‹ aus Himmelserscheinungen konfrontiert: ›Bald hohe Berge, flache Felder / Bald niedre Büsche, dicke Wälder, / Ja bald ein Meer voll kleiner güld’ner Wellen / Bald Tier und Vögel vorzustellen‹ (Die, durch eine schöne Landschaft in der Luft vermehrte Schönheit einer irdischen Landschaft). – Wohl in Kenntnis der Häufung dieser Figuren konnte in der Gegenwart Gerhard Rühm in naturbeschreibung die Reihung fortsetzen und zugleich ihren inhaltlichen Verfall festhalten: ›die wolken ziehen in falten / die blumen erbleichen / die wiesen wenden sich ab / die wege verkriechen sich / die steine starren vor sich hin / die berge versinken in schweigen / die täler erschauern / ein windstoß entringt sich den lüften / die flüsse treten aus den ufern / die büsche raufen sich die blätter / die bäume schlagen die äste über den wipfeln zusammen // die erde taumelt in die nacht‹. Ich werde im Folgenden auf die auffälligsten Paare irdischer Flurgestalten in der Dichtung eingehen, denn über ihre Erscheinungen gewinnt der landschaftliche Raum erst seine denkbaren Seinsweisen. Gerade in ihrer gedeuteten Besonderheit jedoch verweisen diese Paare auf die Mannigfaltigkeit anders möglicher landschaftlicher Erscheinungen.
12.9.1. Berg und Tal ›Berg und Tal‹ sind zumal in der vormodernen Dichtung wohl das am meisten genannte Paar landschaftlicher Flurgestalten. Dabei können die Berge auch unbestimmter als ›Höhen‹ (Goethe, Maifest) oder als ›ferne blaue Höhen‹ (Wilhelm Müller, Der Einsame) bezeichnet werden oder nur als blaue oder als ›graue Hügel‹ (Liliencron, Haidebilder) gegenüber den Mulden- oder Flußtälern, frühlingshafte vielleicht, wie im Mailied von Matthias Claudius: ›Freude dort am Hügel, / Und im 299 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Landschaft der Dichtung
Tale Freude‹. Berge und Täler bilden, wie Dichtung sie sieht, große Wogen und Wellenbewegungen in den Fluren, ohne sich allerdings nur zu ›ergänzen‹ als Bestandstücke einer Erdoberfläche, wie sie gewöhnlich in Hinsicht auf ein Land gedacht werden. Im Widerstreit vielmehr stimmen sie einander zu. Flachländer ohne Bodenerhebungen werden ja nicht dadurch schon zu Tälern, daß sich aus ihnen eine Anhöhe, ein Berg oder ein Gebirge erhebt, so wie eine Ebene nicht zum Berg wird, wenn ein Tal, etwa ein Flußlauf, sie durchschneidet. Wenn Dichtungen also gerne von Bergen und Tälern sprechen, dann wohl deshalb, weil sie in solchen landschaftlichen Erscheinungen einen Rhythmus, eine Melodie, einen Zusammenklang aufdecken, der dem ihrer eigenen Sprache verwandt ist. Äußerlich mögen es die Lieder der Dichter sein, deren Echo einst in Berg und Tal ertönten: ›Was für Lieb ich damals sangk, / Daß Gethäl und Berg erklangk‹ (S. Dach, Jacob Sahm und Dorothea Wolder). Gottfried Keller aber sah in der Zustimmung von Berg und Tal ein ›musikalisches‹ Zusammenspiel: ›Dein Saitenspiel im Tale liegt / die feinen Silberbrünnlein all; / Den Tann, der auf den Höhen sich wiegt / Laß rauschen drein, wie Orgelschall‹ (So spiele du zu meinem Singen). Oft wird die Ferne zu den Bergen durch ihr Blau betont, während Grün zumeist die näher liegenden Täler auszeichnet. Selten wird in einem Atemzug von ›grünem Berg und grünem Tal‹ gesprochen (Opitz, Vom Wolfsbrunnen bei Heidelberg). Der Farbunterschied verweist daher wohl auf einen bedeutsameren Unterschied: Der hohe Berg in bestimmter Ferne ragt gleichsam mit dem alltäglichen Schein des Ungewöhnlichen aus dem Alltäglichen heraus und man konnte seinen Gipfel noch für einen einsamen Ort halten, wogegen das Tal die Menschen in ihre Alltäglichkeit hinein versammelt, welche durch die Feste der Blüten oder Ernten durchbrochen wurde. Heute aber geht es immer weniger darum, auf Bergesgipfeln Einsamkeit zu suchen; Bergsteiger erproben ihre sportlichen Leistungen und Touristen lassen sich in Massen durch Lifte zu den Gipfeln hinauf fahren. Erschwerte Zugänglichkeit und die weite Umsicht auf ihrem Gipfel machten Berge mittlerer Höhe einst geeignet für den Stand von Wachtürmen und herrschaftlicher Burgen. Errichtete man Tempel auf ihnen, so sollten diese, wie später auch die Kapellen und Kirchen, weithin sichtbar sein: ›Ein Berg ist außerlesen / Ein mächtig grosser Berg, auff 300 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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dem ein Tempel steht / … / Hier hat der Götzendienst viel Bilder auffgerichtet‹ (S. Dach, Trostgedichte). Auf den unerreichbar scheinenden Gipfeln weit höherer Berge aber, denen gegenüber die Täler schlechthin zu ›Niederungen‹ werden, wohnen die Götter oder ein Gott. 26 ›Steig, o Herr, vom Berg hernieder‹, heißt es in Clemens Brentanos Gedicht Am dritten Sonntag nach Epiphania. Am Fuße mancher Berge und in den einsameren Tälern und Schluchten leben die kleineren Geister: ›Dort am quelligen Berge, / Wo Feuerwürmer glühn, / Die Elfen, Nixen und Zwerge / den ringelnden Reigen ziehn‹ (Heinrich Christian Boie, Die Wahnsinnige). Anstatt den Gott zu bitten, vom Gipfel herabzukommen, fordert Angelus Silesius: ›Ein Ungrund zwar ist Gott, doch wem er sich soll zeigen, / Der muß bis auf die Spitze der ew’gen Berge steigen‹ (Man muß die Tiefe auf der Höhe betrachten). Solche beschwerlichen Besteigungen dienten in vielen Religionen zudem als Bußen und Reinigungen. – Noch bei Ernst Moritz Arndt ist zu lesen: ›Wie stehn in Kraft die mächtigen Berge / Fern in dem dämmernden Blau, Lehrer des Ewigen, da‹ (Lug ins Leben). Und ›Pfeiler des Himmels‹ nennt sie Ewald Christian von Kleist (Alpen). Das Bild solcher Bergesmacht kann sogar einer Todessehnsucht Ausdruck verleihen: ›O ihr hohen Berge / Fallet auf mich zu / Und den Müden berget / In der kühlen Ruh‹ (Achim von Arnim, Das glaubst du nur nicht). In Albrecht von Hallers Die Alpen geht es weniger um den Blick von den Gipfeln in die Täler, als umgekehrt vom Tale zu ihnen hinauf. Berge können in den Regenwolken ›so fern und so fahl‹ werden (Isolde Kurz, Landregen), dann wiederum: ›Jetzt entwölkt sich fern silberner Alpen Höh‹ (Friedrich Gottlieb Klopstock, Der Zürichersee). Auch Annette von Droste-Hülshoff spricht in Die Schenke am Meer vom ›Angesicht der stolzen Alpenbühne‹. Wo dagegen die Berge bestiegen werden, ändert sich das Verhältnis zu den Tälern, denn mit der Ferne von menschlichen Lebensräumen wird Einsamkeit betont, etwa um auf diesen ›edlen blauen Bergen‹ zu träumen (Christian Morgenstern, Allein im Gebirg). ›Ich trete auf des Berges Rücken / Einsam ins offene Waldestor / Und beuge mich mit trunknen Blicken / Hoch in die stille Landschaft vor‹ (Gottfried Keller Von heißer Lebenslust erglüht). Adelbert von Chamisso hat mehr die Seite der Verlassenheit und Kälte im Nichts hat mehr das Bild hierarchischer Unterschiede geprägt als ›Bergesgipfel‹ und ›Talsohle‹ und noch heute spricht man vom ›hohen‹ oder ›niederen‹ Stand der Personen, von den ›oberen‹ und ›unteren‹ sozialen Schichten etc.
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Blick und spricht von den ›starren Zinnen des Gebirgs‹, schimmernd in rötlich heller Pracht, aber ›lebensleer und kalt‹ (Deutsche Barden). Rudolf G. Binding schreibt dann die Einsamkeit dem längst gottverlassenen Berge selbst zu: ›Bergeinsamkeit, die du von blauen Thronen / Die Stirn mit Eis bewehrst, hinüberschaust / und in die Täler … herniedertaust‹ (Oberbayerische Landschaft). ›Zutiefst‹ können solche Täler liegen (Uhland, Frühlingsglaube) oder sogar dort, ›wo die Schlucht in das Gestein sich drängt‹ (Annette von Droste-Hülshoff, Die Schenke am Meer). Die Aussicht vom Gipfel des Berges in die Täler – ›Aus dem Tal / Glänzte die bläuliche Silberwelle‹ (Hölderlin, Heidelberg) – drückte immer auch eine Distanz zu den sozialen Bindungen der Menschen aus. Vielleicht konnte Paul Fleming nur deshalb vom ›Lusttal der Natur‹ sprechen (Schäferei), weil er einen Höhenabstand zum Leben da unten gefunden hatte? In einem späten Gedicht rief der schon kranke Hölderlin aus: ›Ihr lieblichen Bilder im Tale / Zum Beispiel Gärten und Baum / Und dann der Steg, der schmale / Der Bach zu sehen kaum‹ (Der Spaziergang). Davor aber war nicht von den Bergen, sondern von den Tälern zu sagen ›In deinen Tälern wachte mein Herz mir auf / Zum Leben‹ (Hölderlin, Der Neckar).
12.9.2. Wälder und Felder Während der Dichtung nach ›Berg und Tal‹ die stimmungsvollen landschaftlichen Schwingungen auszeichnen, verhalten sich ›Wälder und Felder‹ oft wie ›schattendunkle Tiefe‹ und ›offene, aussichtsreiche Fläche‹ zueinander. Auf mannigfaltige Weise wendet Dichtung sich einzelnen Pflanzen und Pflanzenarten zu: seien es einzelne Bäume wie die ›Eichen‹ (Hölderlin, Die Eichbäume), die ›alten Riesenulmen‹ (Liliencron, Kalter Augusttag), die ›hohen Tannenbäume‹ (Rilke, Duineser Elegien) oder die ›klagenden Trauerweiden‹ (R. Ausländer, Heu), mit ihren grün belaubten oder kahlen Ästen und ›welkem Laub, das niederschauert‹ (Johann Heinrich Voß, Der Herbstgang); seien es einzelne Blumen: das ›Blümlein Vergißmeinnicht‹ (B. H. Brockes), das Heidenröslein Goethes oder die Rosen, mit denen ›der junge Tag spaziert‹ (C. F. Meyer, Morgenlied): Selbst wenn es Pflanzen einer Art sind, bleiben sie als Individuen angesprochen, im Unterschied zum ›Blütenschimmer‹, in den die Erde sich hüllt (Eichendorff, Mondnacht), oder zu den Halmen 302 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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und Ähren, den Gräsern und Kräutern der Wiesen und Wälder. – Doch was für ein Bild gibt uns die Dichtung von Wäldern und Feldern? In Schillers Gedicht (Um mich summt …) heißt es: ›In duftende Kühlung / Nimmt ein prächtiges Dach schattender Buchen mich ein / In des Waldes Geheimnis entflieht mir auf einmal die Landschaft‹ – ehe dem Wanderer der ›geöffnete Wald überraschend des Tages blendenden Glanz zurückgibt‹. So wird der Wald sogar zum ›Bestandteil einer Natur‹, welcher den offenen Gefilden widerstreitet, die hier zudem mit ›Landschaft‹ überhaupt gleichgesetzt werden. Doch ist der Wald ja nur dem orientierenden Blick in die Ferne, Weite und Höhe verschlossen; dafür aber um so offener dem Blick in eine Tiefe, wie sie ein Feld selten zu bieten vermag. Versteht man nun, wie gewöhnlich, mit den Grammatikern unter ›Wald‹ einen ›Sammelnamen (collectivum)‹, der gleichgeartete oder verschiedene Bäume wie Tannen, Buchen, Eichen zusammenfasse, also Bäume, die auf einer größeren Bodenfläche hoch und dicht zusammen wachsen; so ließe sich fragen, warum sich dafür nicht der Sammelbegriff ›Ge-bäum‹ gebildet hat entsprechend dem Ge-äst, dem Gesträuch und Ge-büsch, dem Ge-filde oder Ge-birge und Ge-wölk u. a. Könnte es sein, daß man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht? Ich meine damit nicht das Übersehen des Allgemeinen aus lauter Fixierung auf Einzelheiten, sondern umgekehrt das Übersehen komplexer Mannigfaltigkeiten ungleicher Arten, zu welcher im Wald ja ebenso Sträucher, Farne, Kräuter, Pilze, Moose, Flechten etc. gehören und eine umfangreiche Tierwelt? – Vielleicht trifft eher eine Vermutung mancher Etymologen zu, wonach ›Wald‹ mit ›wild‹ verwandt sei, wonach also der ›Wald‹ ursprünglich als ›Wildnis‹ verstanden war, die einen ebenso verbergen und schützen konnte wie sie bedrohlich war. Seit eh und je wurde der Wald von nomadischen Sammlern und Jägern genutzt, ehe ansässige Bauern auch zu Holzfällern wurden und Hirten ihre Tiere in ihnen weiden ließen. Während man die ›Geister‹ der Bäume oder die Bäume, die als Aufenthaltsorte einzelner Götter, Halbgötter und Dämonen galten, nur als einzelne verehren konnte, konnte durch die Hirten ein arkadischer Gott wie Pan zu einem allgemeinen Wald- und Flurgott werden. Ihm und auch den lateinischen Göttern wie Silvanus und Faunus widmete man besonders anmutige Haine, um ihnen zu opfern.
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Zusammen erschaut werden Wälder und Felder natürlich nicht im Wald, sondern vom Feld her: ›Das helle Grün beblühmter Wiesen, am Fusse dunkelgrüner Wälder‹ (Brockes, Hirtengedicht) oder: ›Das reich durchflossne Thal die stets besäten Felder / das immer grüne Haar der unverletzten Wälder‹ (Paul Fleming, An Herrn Hartmann Graham). Ein Blick in die Weite verliert sich in der Tiefe der ›dunklen Wälder hohe Pracht‹ (Brockes, Belis). Und wer ausruft: ›Ihr Wälder! Wo kein Licht durch finstre Tannen strahlt, / Und sich in jedem Busch die Nacht des Grabes malt‹ (Haller, Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit); den umgibt der Wald schon gänzlich und es kann diese Dunkelheit zu einem furchtbaren Schlund werden, aus dem nichts wiederkehrt: ›Könntet ihr nur widerhallen / Dunkle Wälder, meinen Ruf‹ (Arnim, Dichter Wald der Dichter: der Verzweifelnde). Und doch kann ein solcher Wiederhall plötzlich geschehen: ›Lustgesang dringt durch die Wälder‹ (Tieck, An einen Liebenden im Frühjahr 1814). Bezogen auf ein Ereignis wie die Geburt des Gottessohnes ruft Angelus Silesius aus: ›Jetzt lachen die Felder, / Es jauchzen die Wälder, / Jetzt ist man voller Fröhlichkeit‹ (Sie jauchzt über die Geburt Christi). Aber es reicht auch die Ankunft des Frühlings, um auszurufen: ›Es tanzen alle Wälder, / Es hüpfen alle Felder‹ (Silesius, Die Psyche muntert sich mit dem Frühling zu einem neuen Leben auf). Und Reinhold Lenz drückt einen Glückwunsch mit den Worten aus: ›Mit froherm Ohr werdt ihr aufs Lied der Wälder lauschen‹ ; wogegen Eichendorff (Stimmen der Nacht) bemerkt, ›daß die Wälder nah und fern / Schauernd rauschen in den Gründen‹. Die Wälder lassen sich selbst anrufen: ›Ihr Wälder, ihr belaubten Gänge!‹ (Uz, Ihr Wälder) oder ›Ihr Wälder schön an der Seite / Am grünen Abhang gemalt‹ (Hölderlin, Der Spaziergang). Schnell aber kann das Jauchzen der Waldeslust verhallen und Ruhe, Einsamkeit, Schweigen breiten sich aus: ›Ein tiefes mildes Schweigen / Liegt über Flur und Wald‹ (Saar, Ein Anderes), und: ›O stille Schauer, wunderbares Schweigen, / Wenn heimlich flüsternd sich die Wälder neigen‹ (Eichendorff, Mahnung). Solche Ruhe jedoch – ›In allen Wipfel hörest du / kaum einen Hauch‹ (Goethe, Wanderers Nachtlied) – kann in das Beunruhigende umschlagen: ›Wälder, Felder schweigen still, / und niemand ist, der mit mir sprechen will‹ (Arnim, Ständchen). Nacht vermag vielleicht die Ruhe zurückbringen: ›Nun ruhen alle Wälder‹ (Gerhardt, Nun ruhen alle Wälder) oder: ›Die ruhenden, stillen Felder, / Darüber der Vollmond steht, / Die weiten schweigenden Wäl304 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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der / Daher ein Schauer weht‹ (Gustav Falke, Nach Jahren). Doch anstatt sich zum Gefühl des Feierlichen, gar Heiligen (Hölderlin, Heimkunft) oder wenigstens zum unheimlich Geheimnisvollen eines ›Zauberreichs‹ (Franz Grillparzer, Abschied von Wien) zu wenden, gar mit Drachen, die ›überall der Wälder Wunder hüten‹ (Rilke, Die Zaren), kann der ›Mitternacht heiliges Grauen / Bang durch die dunklen Wälder‹ schleichen (Clemens Brentano, Szene aus meinen Kindertagen) und können ›die Toten durch die Wälder fahren bis es tagt‹ (Meyer, Das Geisterroß). – Das scheint lange her: ›Die Nymphen haben die goldenen Wälder verlassen‹ (Trakl, Psalm), und nur ›mit toten Heldengestalten / Erfüllst du Mond / die schweigenden Wälder‹ (Trakl, Der Abend). Längst gibt es jedoch daneben ein anderes Grauen, das durch die Wälder greift: Sanft packt es vielleicht manchmal noch denjenigen, der ›durch die Wälder irret‹ (Brentano, Auf einen grünen Zweig) und jede Orientierung verlor, denn ›endlos ist der Wälder Labyrinth‹ (Eichendorff, Nachts 2). Heute wird sich ernsthaft wohl niemand mehr in den mitteleuropäischen Restwäldern verlieren, geschweige von wilden Tieren und Räuberbanden bedroht sein. Der friedlich Wandernde wie der Flüchtende mußte früher zur Abwehr bereit sein, wie zum überraschenden Angriff der beutegierige Räuber und Mörder oder der Krieger und sein Spion. Sie waren in jedem ihrer Schritte auf Spurenlese und Witterung angewiesen und lauerten darauf zu ›sehen‹, ohne ›gesehen‹ zu werden. ›In der Nacht dichter Wälder, / Wo der spähende Feind sie nicht ahndete‹, heißt es im Gedicht Timur der Karoline von Günderrode und in Johann Peter Hebbels Dicker Wald: ›Seid ihr’s wieder, finstre Wälder, / Voll von Mord und Tod und Gift, / Wo man keine Gränzen-Wächter / Doch zu weilen Räuber trifft.‹ Und wo es, wie nicht nur einst im Teuteburger Wald, zum tödlichen Kampf der Heere im Wald kam, konnte der Dichter sogar von den ›schwarzen blutbetrieften Wäldern‹ sprechen (Hagedorn, Der Wein). Wohl kann sich die Ruhe wieder über die Wälder gelegt haben, als in sie hinein plötzlich das Schlagen der Bäume vernehmbar wird. Die Dichter früherer Zeiten waren noch nicht über das Kahlschlagen der Wälder beunruhigt: ›Diese Wälder dienen uns zur Höltzung‹ (Harsdörffer, Pegnesisches Schäfergedicht); ›Haut die Wälder aus / Macht uns ein Tobacksfeld draus!‹ (J. C. Günther, Lob des Knastertobacks); ›Sind die Wälder erst gelichtet / … / Dann zur reinen Sonne richtet / 305 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Landschaft der Dichtung
Sich das Auge, fromm gerührt‹ (Uhland, Aussicht). Bedrohlicher klingen da schon Friedrich Rückerts Worte: ›Bäume der Wälder! Ihr alle werdet, lichte Frühlingsbilder, / Des Winters Brennstoff später oder bälder‹ (Ritornelle). – Menschliche Ansiedlungen, die sich des Holzes bedienen, sind ja längst nicht mehr Lichtungen im Wald – wie einst und wie noch in einigen verschwindenden Flecken des Amazonas oder auf Borneo. Die Wälder, und sogar noch als beschriftete, mit Wegen durchzogene und bewirtschaftete, sind heute umgekehrt diejenigen, welche vereinzelte ›Lichtungen‹ in der Trübe der betonierten Gelände darstellen. Wer heute ohne ökonomische Kalküle oder sogar ohne bloßen Wunsch nach Erholung oder Vergnügen in den Wald geht, sucht vermutlich gerade dort Weitsicht und Klarheit. – Es jagen allerdings auch andere Füße durch die Wälder (August Stramm, Die Menschheit), eingeladen einst durch den Klang der Waldhörner ›zum fröhlichen Jagen‹, während das Wild in panischer Todesangst durch den Wald hetzt: ›Am Abend tönen die herbstlichen Wälder / Von tödlichen Waffen‹ (Trakl, Grodek). Es gibt allerdings auch Stürme, die den Zerstörungen durch die Menschen nicht nachstehen: Wenn das Rauschen der Wälder übergeht in ein Brausen und Heulen und ›Wälder überall ächzen‹ (Eichendorff, Herbst), ehe sie mit Krachen zusammenbrechen. ›Es stürzt ein Sturm die Wälder‹ (Arnim, Die Wahrsagerin). Auch die gewaltige Flut eines Wassers ›stürzt und raubt die dicksten Wälder‹ (Brockes, Das Wasser). Umgekehrt kann ein Blitz in die Dürre fahren, die den Wald vertrocknete, um Brände auszulösen (Arnim, Die Tamburinschlägerin): ›Feuer verzehret gantze Wälder‹ (Brockes, Irdisches Vergnügen in Gott 122) und ›eine rote Feuerlilie schreitet / riesig durch die Weltennacht / … / Auf der Erde rast ihr Licht als Mord / sengend frißt es Wälder‹ (Dehmel, Venus Mors). – Die Wucht solcher Zerstörungen zeigt auf eine seltsame Verletzlichkeit und Ohnmacht der Wälder dort, wo man auf Menschen- und Naturgewalten stößt. Heute ist das Sterben der Wälder gewöhnlich geräuscharmer geworden. Müssen wir mit Lenau sagen, ›die Wälder sind gestorben‹ (Herbstlied)? Oder gar mit Klabund: ›Die Hände vor dem Antlitz / Träumt / Der Gott. / Seine Wälder sind tot‹ (Oden 4)? Bereits im 18. Jahrhundert und teilweise im 19. und 20. Jahrhundert erinnern nur noch wenige Dichter an die einst realen Gefahren und Ängste im Walde: ›Im schwarzen wald wo unheil haust / War ich ver306 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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strickt in tiefen nesseln‹ (Stefan George, Der Waffengefährte). Man spricht kaum mehr von dessen ›rauher‹ Wildnis (Gryphius, Einsamkeit), auch wenn das verblaßte Echo noch zu vernehmen ist: ›Daß alle Schönheit doch ein Etwas, welches wild, / Und rauh und fürchterlich, zugleich uns zeigte‹ (Brockes, Betrachtung einer sonderbar schönen Winter-Landschaft). Angesichts wirklich gefahrvoller Wälder hätte ja wohl keiner mehr ausgerufen: ›Wohl dem, der in den Wäldern lebt!‹ (G. Neumark, Loblied des Feld- und Waldlebens), obgleich der Dichter da wohl weniger an ein ständiges Hausen einiger Eremiten, Waldweiblein oder Köhler denkt, sondern an ein vorübergehendes Durchwandern und Durchstreifen der Wälder. Manche meinten ja, im Walde lasse sich die ›Traurigkeit eine zeitlang beiseite tun‹ (Johann Peter Titz, Wald-Gesang). Die Moderne dagegen hat ›Nacht und Schrecken versunkener Wälder / und der sengenden Wildnis des Tiers‹ im Blick (Trakl, Siebengesang des Todes), die ›Schwermut, daß wir die Waldblößen sehen‹ (Günter Eich, Veränderte Landschaft) oder daß sich da vielleicht längst nur mehr ›wesenlose Wälder, Brücken über Leeres‹ (Rilke, Der Schauende) vor uns auftun. Oder gibt es noch die mannigfaltig verschlungenen und geheimnisvollen Weisen des An-wesens der Wälder, die doch einst so sehr zu den mitteleuropäischen Erscheinungen der Landschaften gehörten und durchwebt waren von sagen- und märchenhaften Erzählungen? * * * Man denkt gewöhnlich beim Ausdruck ›Felder‹ zunächst wohl an die der Land- und Viehwirtschaft, nicht an die inhaltsleeren Flächen der Mathematiker, nicht an die aller Stofflichkeit entblößten ›Kraftfelder‹ der Physiker noch an die ›Wortfelder‹ der Linguisten. Der Bauer geht aufs Feld, um auf ihm zu arbeiten, nämlich auf dem Acker den Boden zu bereiten, Nutzpflanzen anzupflanzen, zu hegen und zu ernten; der Viehhalter mäht das Gras auf den Feldern, den Wiesen; der Hirte läßt seine Tiere auf die Felder, auf die Weiden. Und so spricht man von ›Rüben-, Weizen- oder Grasfeldern‹. Bei Rilke heißt es: ›Draußen bei der alten Arbeit der Wiesen und der Felder‹ (Landschaft). Doch findet man auch dort ›Felder‹, wo es nicht um Landwirtschaft geht: Man spricht von Schnee-, Stein- oder Geröllfeldern, wogegen man bei unfruchtbaren Heiden, Dünen, Steppen oder Wüsten kaum von ›Feldern‹ 307 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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spricht, auch wenn sie besondere Flurlandschaften oder ›Gefilde‹ bilden und vielleicht zu ›Ölfeldern‹ werden. Schon gar nicht zählen Sümpfe und Moore oder Gewässer zu unserem Verständnis von Feldern, denn man scheint letzteren stets einen tiefer reichenden, letztlich festen, steinernen Erdgrund zu unterstellen, auf dem sie liegen und dessen erdige Oberfläche sie bilden. Doch nenne ich diese Unterscheidungen nur, um darauf hinzuweisen, daß Dichtung sich nicht auf sie einläßt. Heiter zeigen sich ihr manchmal die Felder im Bund mit anderen landschaftlichen Gestalten: ›Ich sah vom stillen haus am hainesrand / Die grünen und die farbenvollen felder / Zur sanften halde steigen und den weissdorn / Der blüten überfluss herniederstreuen‹ (Stefan George, Flurgottes Trauer). Zumeist aber geraten zwei andere Arten von Feldern in ihren Blick: die bebauten Felder und die Schlachtfelder. Bebaute Felder erforderten früher, wenn man um das Gedeihen der Anpflanzungen besorgt war, einen von Priestern angeführten ›Feldumgang‹ der Dorfbevölkerung, auf dem man Demeter, Ceres oder den christlichen Gottessohn um Gedeihen und Schutz anflehte. Solche Sorge galt weniger den Weiden und Wiesen. Diese wurden manchmal nächtlich noch von Satyrn und Nymphen, Feen und Elfen aufgesucht und eigneten sich auch zu Tanzund Kultplätzen. Jedes Schattengesträuch sei dem wunderseligen Mann, welcher der Stadt entfloh, ein ›heiliger Tempel, wo ihm sein Gott näher vorüberwallt; / Jeder Rasen ein Altar, / Wo er vor dem Erhabnen kniet‹ (Hölty, Das Landleben). ›Und zu Tänzen / Auf neuen Wiesen schickt / der Jüngling sich‹ (Goethe, Ein zärtlich-jugendlicher Kummer). ›Grünt nur ihr holden Gefilde, ihr Wiesen und schattigen Wälder!‹, ruft Ewald Christian von Kleist ihnen zu (Gedicht vom Verfasser des Frühling). Geschieht da das Gehen ›der Luft durch die Felder‹ (Eichendorff, Mondnacht) und das ›Schweifen durch Feld und Wald‹ (Goethe, Musensohn) nicht noch im Schatten des verstorbenen großen Pan? ›Komm zum Sitz der Freuden / In seine Weiden!‹ (E. C. v. Kleist, Das Landleben). – Vielleicht aber zeigen sich bereits, statt ein ›Dämmern des neuen Grün‹ (Hölderlin, Der gefesselte Strom) nur mehr ›Wolken in dämmernder Röte über dem einsamen Feld‹ oder gar ein ›fahles Verblassen der Felder‹ (St. Zweig, Graues Land). ›In grauer Luft, unübersehbar, lag / Der Wiesen grünes Flachland ausgebreitet (Liliencron, Kalter Augusttag). Schon macht sich der Winter bemerkbar: ›Auf braunen Äckern schimmert die Wintersaat hervor‹ (Saar, Ein 308 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Fluren der Landschaft und ihre Gestalten
Anderes). Blieb von den ›anmutsvollen Gefilden und der smaragdenen Flur‹ (Uz, Der Frühling) nur ein ›ödes Feld‹ (Goethe, Ein zärtlich-jugendlicher Kummer) zurück, gar bloß das Gelände ›erstorbener Gefild und grausenvolle Gründe‹ (Haller, Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit)? – Doch der Frühling kommt zurück. Aber er ist es nicht allein, der in den Feldern Gestalten der Landschaft aufscheinen läßt. Wenn auch nur erblickt werden ›von fern des Lands beglückte Felder, wo Ruh und Frieden blühn‹ (Hölderlin, Dankgedicht an die Lehrer) wenn ›Liebreiz rings die Felder schmücket‹ (Tieck, Heimliche Liebe), wenn wir ›der Felder schwangren Schoß‹ (Fleming, Auch auf eine) bemerken und durch die gedeihenden, saatenreichen Felder hindurchwandeln (Arndt, Lebenstraum der Künftigen) und von den ›lachenden Feldern‹ (Silesius, Sie jauchzet über die Geburt Christi) begrüßt sind: Dann scheinen die Schlachtfelder vergessen. Nicht selten ist, im Unterschied zu den Tiefen der Wälder und ihren Geheimnissen, von ›offenen Feldern‹ in der Dichtung die Rede (z. B. Hölderlin, Griechenland und Mörike, Nächtliche Fahrt). Sind aber die Felder wirklich offener, geheimnisloser, sagenloser? Gewiß sind sie zumeist von niedrigerem Bewuchs verglichen mit den hohen Bäumen eines Waldes, obgleich nicht erst Hecken und Buschwerk sondern auch Schilf- oder Maisfelder die Sichtweiten mehr noch wie im Wald begrenzen können, ganz abgesehen davon, daß Felder ja nicht nur auf überschaubaren ebenen Flächen liegen, sondern ebenso auf den gerade nicht sichtbaren Seiten der Hügel- und Berghänge vorkommen. – Woher kommt also die verbreitete Auffassung, Felder seien vorrangig offen und ermöglichten die großen ›Durch- und Überblicke‹ ? Ist es die weitgehend verdrängte Erinnerung an die Schlachtfelder, an die ›blutigen Felder‹ (Georg Herwegh, Herbst 1840) und daran, ›als wir vor der toten Sonne / Über die leuchtenden Felder marschierten‹ (Alfred Liechtenstein, Soldatenlieder)? Sind jene kriegerischen Zerstörungen vergessen, ›die, auf den Wink verfluchter Ehre, / Das Antlitz der Natur verderbt / Und Felder, selbst die Meere / Mit Menschenblute färbt‹ (Uz, Gott der Weltenschöpfer)? – Stets scheint auch schon irgendeine neue Schlacht bevorzustehen: ›Nur unser Held durchschritt / Voll Anstalt zu der nahen Schlacht, / Die Felder, Schritt vor Schritt‹ (Johann W. L. Gleim, Siegeslied nach der Schlacht bei Roßbach). Und wieder wird es ›durch kahle Felder in das große Grab‹ gehen (Georg Heym, Die Gefangenen). – Wann ließe sich je mit Goethe sagen: ›Ja, es sind 309 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Landschaft der Dichtung
die bunten Mohne, / Die sich nachbarlich erstrecken / Und, dem Kriegesgott zum Hohne, / Felder streifweis freundlich decken‹ (Liebliches)? Bleiben da nicht überall ›Felder blühender Wehmut‹ zurück (Rilke, Duineser Elegien)?
12.9.3. Die Erden und die Wasser Wälder und Felder widerstreiten sich in den Weisen, wie ihre dunkle Tiefe und helle Fläche, ihre unheimliche Nähe und lichte Ferne einander zustimmen, und von ferne erinnern sie noch an den alten Gegensatz der nomadischen und ansässigen Lebensformen. – Wie aber steht es mit den landschaftlichen Gestalten, die weniger in den Zustimmungen von Höhe und Niedrigkeit oder in der von Weite und Enge stehen, sondern sich innerhalb einer Sphäre greifbarer Nähe auftun? Da sind die Erden und Wasser nicht nur zu unseren Füßen, sondern vor allem ›zu unseren Händen‹ und deren Sinn erfassen wir auch dann, wenn wir sie etwas entfernter von uns sehen. Es ist dann die Nähe in der Ferne, aber weder eine Ferne der Nähe noch die Nähe einer Ferne. Was nun die Dichtung angeht, so werden wir hier eine gewaltige Asymmetrie feststellen: Zu den Erden der Äcker und Wiesen findet sie kaum einen Zugang, während sie in den mannigfaltigen Erscheinungen der Wasser eine große Verwandtschaft zu ihrem eigenen Wesen entdeckt. Die ›Erden‹ scheinen der Dichtung stets dem Tod nahe, die ›Wasser‹ aber dem Leben. Beide werden so zu Metaphern irdischen menschlichen Daseins. * * * Von alters her regen bestimmte Mineralien, wie Gold und Silber, Edelsteine und Kristalle, die mehr im Erd-Inneren als auf ihr zu finden sind, die mythische und dichterische Phantasie an: Ihre Härte, Reinheit und Unverweslichkeit, ihre Farben und ihr Glanz schienen auf etwas Todenthobenes und Göttliches zu verweisen, im Gegensatz zu jenen Erden, die sich mit Feuchtem zu Schlamm und Dreck vermengen und im Trokkenen ›gierigen Sand öder Wüsten‹ (Goethe, Mahomets Gesang) oder Staub bilden. 27 Sonstiges hartes Gestein schwebt gleichsam zwischen
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Vgl. dazu: Karin Knobel, Poetik des Staubes bei Goethe und Hafis, Nordhausen 2013.
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Die Fluren der Landschaft und ihre Gestalten
dem Edlen und Gemeinen, so etwa das Grundgestein unter der lokkeren Erde oder, sich über sie erhebend, pflanzenlose Felsen der Hochgebirge. Kein Gestein, das aus dem Erdboden herausragt, entgeht jedoch der Verwitterung und dem Zerfall. Felsbrocken werden zum Thema der Dichtung (Schiller, Hymne auf die Unendlichkeit), das Geröll mancher Steilhänge, die steinigen Äcker und steinigen Pfade (Saar, Landschaft im Spätherbst), die Kieselsteine der Flußbetten, der Sand mancher Ufer. Das harte Gestein, das die Erden zusammenzuhalten scheint, nannte man auch der Erde ›Knochengerüst‹, das manchmal bebt und erschüttert oder sich gar in rotglühende Lavaflüsse auflöst. Das Steinerne konnte, in Form des Berges, der Felsen, der Steine noch zum Sinnbild des Todes wie der Ewigkeit werden, in Form des Sandes und Staubes aber zum Sinnbild des Toten und der Unfruchtbarkeit allein: ›Die Welt – ein Tor / Zu tausend Wüsten stumm und kalt‹ (Nietzsche, Vereinsamt). Ganze Landschaften können gleichsam versteinern: ›Rund um mich war die Landschaft wild und öde, / Kein Morgenrot, kein solcher Abendschein / Kein kühler Wind durch dunkle Wipfel wehte, / Es grüßte mich kein Sänger in dem Hain /Auch aus dem Tale schallte keines Hirten Flöte. / Die Welt schien mir erstarrt zu sein‹ (Brentano, Rund um mich). Verwittert aber werden sich die Erze, Metalle, Silikate, Sulfide, Oxyde, die kalkigen und salzigen Mineralgemische mit den Aschen und dem Humus verwester Pflanzen und Tiere vermengen, um die fruchtbaren Wald-, Wiesen- und Ackerböden zu bilden. Warum aber wurden solche Erden zumeist als ›unrein‹ befunden? Ist es, weil sie an Verwesung und Tod erinnern oder weil man Tierarten, die in ihr leben, verachtete und sich vor ihnen als dem ›Gewürm‹ und ›Schlangengezücht‹ ekelte? – Andererseits war schwer zu leugnen, daß es gerade diese Erden waren, die den ›fruchtbaren Schoß der Erde‹ (Fleming, Auf eine Leichenbestattung und Brockes, Aria) und überhaupt die mater materia bilden, durch welche Menschen sich pflanzlich ernähren können. ›Es deckt sich der Acker / Voll gärender Wunderkraft‹ (Brokkes, Lieblichkeit des Frühlings) – eine Kraft, welche sich dann an den Früchten zeigen wird: ›Leise rauscht im Acker das gelbe Korn‹ (Trakl, Stundenlied). Der Widerstreit im Verständnis der Erden verweist uns auf den biblischen Schöpfungsmythos: Der ›Himmels Döpfer‹ hat alles aus ›ErdenThon‹ gemacht (Sigmund von Birken, Was Gott tuht ist wolgethan). 311 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Landschaft der Dichtung
Seltsamerweise aber scheint diese Tat den erdigen Staub, Ton oder Lehm selbst niemals zu adeln, auch wenn er die zu feiernde Fruchtbarkeit der Erden als ihr Bestandteil ausmacht: ›Die Schönheit steigt millionenhaft / Empor aus schwarzer Erde‹ (Otto Julius Bierbaum, Mai). Zu aufdringlich herrscht das Gegenbild vor, welches zudem die Wirkung einer Verfluchung durch Gott ist, wonach nämlich die Menschen als Strafe dafür, daß Adam und Eva gegen ein Gebot Gottes verstoßen haben sollen, zu sterben und mit dem Tode wieder zu Erde zu zerfallen hätten. Tote finden ihr Grab in der Erde, so daß diese selbst ›ein offenes Grab scheint‹ (Arnim, Einzelne Stimme); sie werden aber auch selbst zu der Erde, aus der sie angeblich gemacht scheinen: ›Was entlehnt ist von der Erden / das muß ihr hin wieder werden‹ (Fleming, Auf Frau Helenen Ilgens Ableben), und: ›Der Leib von Erden her wird wiederum zu Erden‹ (Silesius, Alles kehrt wieder in seinen Ursprung). Doch diese Totenerde, schien sie auch ein fruchtbarer Bestandteil, hatte nicht mehr die mineralische Reinheit des Tons, aus dem der Mensch geformt worden war. Vermengt ist sie mit Verwesung. Gleichwohl muß dieser ›Todten-Acker‹ (Tieck, Pisa) zum ›Gottes-Acker‹ (Dach, Gottes-Acker) werden, damit der Ruf erschallen kann: ›Ihr Todten in der Erden, / Steht auf‹ (Dach, Ein hertzlich Klag- und Trauerlied), und zwar erdhaftig leibhaftig. Gleichwohl konnte auch die christlich-paulinische Lehre von der leibhaftigen Wiederauferstehung nach dem Tode – ›Und Leben blühet aus dem Toten / Still in der Zeiten Wechsellaufe‹ (Silesius, Epistel an Elisa) – diese erdigen Stoffe nicht wirklich adeln, was geschichtlich wohl zu einer der Voraussetzungen der geistigen Wende zum technokratischen Menschentyp geworden ist: Der Wert der Erden scheint nun ausschließlich in ihrer Brauch- und Verbrauchbarkeit zu liegen, in ihrem ›Dienst am Menschen‹. Man wollte die ›Fruchtbarkeit‹ der Erden, sofern sie noch amorph so mannigfaltige Möglichkeiten enthalten, gar nicht auf das Zur-Erde-Werden seiner selbst beziehen, und zog es vor, entweder – sich den Gedanken eines Sokrates und Platon anschließend – als derselbe und zwar als körperlose Seele ewig weiterzuleben oder aber gänzlich als dieser Leib zu nichte zu werden. – Bis heute werden gewöhnlich die Erden, sofern sie nicht durch auffällige Farben prangen, kaum als Art der Gestaltung von Landschaft überhaupt wahrgenommen und in dichterische Sprache aufgenommen – als glaubte man sie längst verloren an das technisch verfügbar gemachte, physika-
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lische und chemische Wissen über die Eigenschaften und Verhaltensweisen ›bloßer‹ Stoffe. * * * Ganz anders verhält es sich mit den Wassern, in deren unruhigen und sich wandelnden Erscheinungsbildern Dichtung eine tiefe Verwandtschaft zu ihren eigenen Milieus gefunden zu haben scheint, anstatt wie der Geist Gottes über dem Wasser zu schweben. Verführerisch scheint Wasser das räumliche Medium des Lebens wie des Todes, die Erden befruchtend oder auflösend. Da gibt es diejenigen, ›die den Geist des Vaters und Sohnes in dem heiligen Wasser / Zu dem ewigen Leben empfangen‹ (Klopstock, Der Messias), und die anderen, die Lebensmüden, die sich aufgefordert fühlen: ›Von der Brücke hinunter / Schau, spähe / … / siehst du das Wort nicht, / das meine Finger / ins Wasser schreiben? / Friede … Friede! … Beuge dich tiefer! / Komm!!!‹ (Morgenstern, Der Tod und der Müde). Droste-Hülshoff ruft gar das Wasser an: ›Du, der Erde köstlich Blut‹ (Wasser). So beunruhigend erscheinen die mannigfaltigen Weisen und Wandlungen der Wasser, daß es mancher Dichtung ein Anliegen wurde, in dessen Bewegungen den Hauch einer lebendigen Ordnung zu sehen, wie in Goethes bekanntem Gesang der Geister über den Wassern: ›Des Menschen Seele / Gleicht dem Wasser: Vom Himmel kommt es, / Zum Himmel steigt es, / Und wieder nieder / Zur Erde muß es, / Ewig wechselnd // strömt von der hohen, / Steilen Felswand / Der reine Strahl, / Dann stäubt er lieblich / In Wolkenwellen, / Zum glatten Fels, / Und leicht empfangen, / Wallt er verschleiernd, / leis rauschend / Zur Tiefe nieder. // Ragen Klippen / Dem Sturz entgegen, / Schäumt er unmutig / Stufenweise / Zum Abgrund. // Im flachen Bette / Schleicht er das Wiesenthal hin, / Und in dem glatten See / Weiden ihr Antlitz / Alle Gestirne. // Wind ist der Welle / Lieblicher Buhler; / Wind mischt vom Grund aus / Schäumende Wogen. // Seele des Menschen, / Wie gleichst du dem Wasser! / Schicksal des Menschen, / wie gleichst du dem Wind!‹ – Es ist nicht klar, ob Goethe auf einen Kreislauf der Wasser anspielen will, etwa im Sinne, wie Brockes ihn beschrieb: ›Alles Wasser, was sich sencket, / Wieder aufwärts treibt und lencket‹ (Das Wasser 48). Dem Bild des Zyklus aber steht das Bild der unumkehrbaren Richtung gegenüber: ›Ihr Sterblichen, erweg’t, bey jedem Wasser-Guß, / Daß Euer Leben auch ein Fluß, / Der stetig vor – nie rückwärts fliesset‹ (Brockes, Ario313 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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sa). Wie weit auch immer die Analogie von Wasser und Leben reichen mag: Da liegt etwas in seinem Fließen, worin sich Dichtung selbst zu sehen scheint: ›Euch, die ihr nie mein Gefühl verließt, / grüß ich, antikische Sarkophage, / die das fröhliche Wasser römischer Tage / als ein wandelndes Lied durchfließt‹ (Rilke, Sonette an Orpheus 10). Das Sarghafte, die Hülle des Toten scheint dessen restloses Vergehen wie ein Lied zu verzögern, und das zeigt sich, wo Wasser seinerseits flüchtige Gestalten bildet: ›Schöpft des Dichters Hand, / Wasser wird sich ballen‹ (Goethe, Lied und Gebilde), ehe es weiterfließen wird: ›Verfließet, vielgeliebte Lieder / … / Ihr wart ins Wasser eingeschrieben, / So fließet denn auch mit ihm fort‹ (Goethe, Am Flusse). Was fortfließt, stirbt und verläßt doch das eine, um das andere zu erreichen. Das läßt sich auf viele Weise sagen: ›Perlen gleiten durch meine Hand –: / Das war Wasser, das verschwand; / Gold kam über mich hergelaufen –: / Wolkenberge, Wolkenhaufen; Nichts ist mehr in meiner Hand‹ (O. J. Bierbaum, Reichtum) und: ›Ein plötzlicher Wind erbaut hier / Thürm’ und Städte aus Wasser, die er im Augenblick einreißt‹ (Jakob Michael Reinhold Lenz, Die Wassernoth). Die Haltlosigkeit des Wassers scheint zugleich die Voraussetzung seines Fließens, wie die Haltlosigkeit der Worte erst das Lied bilden. Dazwischen scheint der Quell des Mythischen noch selbst zu murmeln: ›Uralte Wasser steigen / verjüngt um deine Hüften, Kind‹ (Mörike, Gesang Weylas). – Was sagen diese Wasser über die Landschaft? Noch über deren Fließen hinaus blickte Dichtung zudem auf das ›ÜberFließen‹ aller Zustände der Wasser selbst: vom steinern Festen des Eises über das Rieseln der Schneeflocken und über den Reif und den Tau, der sich staubhaft über alle Dinge legt – ›Der Himmel träufelt seinen Tau / Auf manchen Acker, Feld und Au‹ (Silesius, Sie beklagt sich) – hin zum Fallen der Regentropfen, welche die Wasser nicht nur zu den Durstigen bringen: ›Tun die Himmel sich auf und regnen, so träufelt das Wasser / Über Felsen und Gras / Mauern und Bäume zugleich‹ (Goethe, Weissagungen des Bakis). Und Wasser fließt hinüber zu jenem Fließen, das die Wasser sammelt, das sich jeder starren Form anzuschmiegen versteht und in allem Porösen zerfließt: ›Wie wenn eine Wolke treufft / Es nicht groß gemerckt kan werden, / Daß das Wasser sich verläufft / In der dürren Schohs der Erden: / Also schluckt das weite Grab / Uns, sein Mast-Vieh, stets hinab‹ (S. Dach, Herr, es mangelt nicht an dir). Und weiter fließt es über zu den Nebeln und Wolken oder zu den siedenden 314 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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Dämpfen, sie sich im Dunst und schließlich in klarste Luft scheinen auflösen zu können. Ein Zustand des Wassers scheint vom andern verzehrt zu werden: ›Siehe, schon nahet der Frühling; das strömende Wasser verzehret / Unten, der sanftere Blick oben der Sonne das Eis‹ (Goethe, Vier Jahreszeiten). Von solchem Verzehrtwerden scheint sogar die Sonne selbst nicht ausgenommen: ›Ich seh die Sonne / Morgens Wasser trinken, / Und Abends wieder in die Wogen sinken‹ (Liliencron, Verbannt). Es scheint, als wisse sich der Dichter besonders nahe der Quelle und zwar nicht nur der Quelle als Gleichnis: ›Mensch, in dem Ursprung ist das Wasser rein und klar, / Trinkst du nicht aus dem Quell, so stehst du in Gefahr‹ (Silesius, Cherubinischer Wandersmann Sprüche 119). Bei dem Wort ›Quelle‹ denkt man nicht an die Wasser, die in den Hochgebirgen aus der Schmelze von Schnee und Gletschern entstehen, noch an Quellen, deren Wasser wie artesische Brunnen aus der ebenen Erde in die Höhe gedrückt werden, noch gar an heiße Quellen tief aus dem Erdinnern; vielmehr haben die Dichter vorrangig Quellen im Blick, die an bestimmten Stellen eines Abhanges kühl aus dem Grundwasser entspringen und meist schon einen kleinen Teich und einen Bach bilden, als welcher das Wasser in eine bestimmte Richtung nach unten fließt. Nur über den Augenblick des Entquellens läßt sich sagen, daß ›die Wasser aus den Tiefen / Zum Himmel schäumend sprühn‹ (Arndt, Das Lied vom heiligen Deutschen Lande); dann fließt es schon hinab. Quellwasser sind gewöhnlich klar, weil rein von toten organischen Bestandteilen, aber reich an Mineralien, und man entdeckte in ihnen auch heilende Wirkungen. Nicht ohne leisen Spott gegen jene, die das Weintrinken verurteilten, bemerkte Friedrich von Hagedorn: ›Der Welt das Wasser anzupreisen, / Erlaubt man Aerzten oder Weisen‹ (Grenzen der Pflicht). – Kaum allerdings spricht Dichtung je von den trüben, schmutzigen, gar faulen Wassern. An die Quelle denkend, bleibt die Reinheit ihres meist ›munteren‹ Wassers im Blick: ›Grüne Tannen, bunte Blumen, / Blauer Himmel, Luft und Duft, / Silberhelle Wasser rieseln / Aus der grauen Felsengruft‹ (Christen, Visionen 1); ›Woher die süße Quelle / Die verborgne Wasser führt?‹ (Mörike, Frage und Antwort). Und solche Reinheit und Lauterkeit kann die Wasser zum ›Heiligen‹ und ›Wunderbaren‹ steigern, wie die Wasser der Segnungen, ihre Verwandlung in Wein durch Jesus von Nazareth, in ›ewiges Leben‹ durch die Taufe. ›Heilige Scheu‹ herrschte einst, die Wasser zu besud315 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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eln (Goethe, Ältere Perser). Die Moderne aber verwandelte sie oft in stinkende, tote Brühen: ›Der Stadtnacht Spüllicht treibt / Wie eine weiße Haut im Strom‹ (G. Heym, Die Tote im Wasser). Doch wo die reinen Wasser der Quelle mit der Erde in Berührung kommen, da ›blühen schöne Veilchen‹ auf (Hagedorn, Mirene) und da ›sprießen blaue Blumen‹ (Fontane, Am Waldrand). ›Du kleine, grünumwachsne Quelle / … / Dein Wasser war so still, so helle‹ (M. Claudius An eine Quelle). Es ist, als behüteten noch die Blumen, Gräser, Kräuter die Quelle vor den Verunreinigung und Verschmutzungen. Quellwasser aber bleiben nicht stehen: ›Beweglicher eilt schon die wache Quelle‹ (Hölderlin, Der Morgen), ehe sie enteilt, sogar in Leid befangen: ›Leise klagt die Quelle fort‹ (Lenau, Einsamkeit). Und die Schatten des Todes dringen zu ihren Wassern vor: ›Riesle mir, murmelnde Quelle, bis trübe / Lethe mir reicht den traurigen Trank‹ (Arndt, Lied). – Wird nun die Quelle, oder auch ein Grundwasser, zu einem Brunnen gefaßt, ist sie mehr als der Ort des besinnlich Einsamen, der zu sich sagt: ›Es ist als tät’ der Brunnen kund, / Was tief in deiner Seele klingt‹ (G. Keller, Am Brunnen); sie wird zum Ort von Zusammenkünften. Von den jungen Mägden sagt Trakl: ›Oft am Brunnen, wenn es dämmert, / Sieht man sie verzaubert stehen / Wasser schöpfen, wenn es dämmert, Eimer auf und niedergehen‹ (Die junge Magd). Und sogar das Eingießen von Wasser kann zur Quelle werden: ›Als du Wasser mir ins Becken / Gossest, meint ich, in der Welle / Aus dem Krug in deinen Händen / Spräng lebendig eine Quelle‹ (Hofmannsthal, Gute Stunde). – Die Fassung der Quelle als Brunnen kann sich schließlich gänzlich von ihrem Nutzen emanzipieren, um zum Wasserspiel zu werden, etwa im Schloßhof, ›wo Wasser spielet‹ (Arnim, Die Pfalz), oder in Gestalt der Römischen Fontäne, von der Rilke dichtete: ›Zwei Becken, eins das andre übersteigend / aus einem alten runden Marmorrand, und aus dem oberen Wasser leis sich neigend / Zum Wasser, welches unten wartend stand‹. Dann aber scheint die Quelle schon einzubüßen, ein Moment der Landschaft selbst zu sein. Einmal ›aus dem Stein geronnen‹ (Arndt, Der Götter Adel), ›murmelt und rauschet [sie] immer fort‹ (Marie Luise Büchner, Kind an der Quelle). ›Die frische Quelle rinnt herab am Steingesenke‹ (Lenau, Das Roß und der Reiter). Dem Gebirge entsprungen, wo ›das blaue Wasser im Felsen tönt‹ (Trakl, Kindheit), kann es von ihm heißen: ›Im Wildbach kollerte vom Berg / Gekiesel, unterm Wasser klangs / Wie Glok316 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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kenläuten‹ (Bierbaum, Nachtwandel zum Glück). Solche Wasser vereinigen sich mit anderen und werden zum Bergbach, dessen Rauschen anschwillt: ›Felsen stehen gegründet, es stürzt sich das ewige Wasser / Aus der bewölkten Kluft schäumend und brausend hinab‹ (Goethe, Euphrosyne). Auf diese Weise ergeben die Wasser ein ganz anderes Bild menschlichen Schicksals: ›Es schwinden, es fallen / die leidenden Menschen / Blindlings von einer / Stunde zur anderen, / Wie Wasser von Klippe / Zu Klippe geworfen / Jahrlang ins Ungewisse hinab‹ (Hölderlin, Hyperions Schicksalslied). Überall scheint hier das fließende Wasser nicht einfach der Schwerkraft zu folgen, sondern sich einen Weg zu bahnen und eine Richtung einzuschlagen, als hätte es das Ziel, sich selbst aufzugeben. Gleichwohl reicht das Bild solcher Wasser nicht zurück bis zu den barocken Melancholien über die Vergänglichkeit alles Irdischen, wie sie noch in Achim von Arnims Lehrbrief des Schicksal wiederklingen: ›Gott aus Wasser schuf die Erde / Daß zu Wasser alles werde‹. Dort aber, wo der Bach ein gemächlicheres Gefälle findet, kann der Dichter ausrufen: ›Vergiß der Traurigkeit, die sich verlor / Ins ferne Spiel der Wasser‹ (G. Heym, Der Tod der Liebenden) oder: ›Und die Wasser werden murmelnd lachen / und rauschend jauchzen um die hellen Lande‹ (Dehmel, Vision); vielleicht, um noch zärtlicher zu werden: ›Hell im Silberlichte flimmernd / Zieht und singt des Baches Welle, / Goldengrün und tiefblau schimmernd / küßt sie flüchtig die Libelle‹ (Keller, Am fließenden Wasser). Schließlich mögen die Wasser ruhiger werden: ›Leise tönen die Wasser im sinkenden Nachmittag / Und es grünet dunkler die Wildnis am Ufer, Freude im rosigen Wind‹ (Trakl, Frühling der Seele). Vielleicht fließen sie schon dem Styx entgegen: ›Das rinnende, rauschende Wasser / Berauschte verwirrend die Stimmen / Der Träume, die blasser und blasser / Im schwebenden Nebel verschwimmen‹ (Hofmannsthal, Regen in der Dämmerung). Die Bäche, in welchen die Quellströme zusammenlaufen, versammeln Tiere und Menschen, die trinken, sich reinigen oder kühlen, die Fische fangen oder nur dem fröhlichen Plätschern lauschen. Die Menschen holen auch Wasser in Gefäßen, um anderes zu tränken, zu kochen, zu reinigen, um zu bauen oder um Bränden zu löschen. Bäche, die zu Strömen anschwellen, ließen an ihren Ufern Siedlungen und Brükken entstehen (Hölderlin, Aussicht: ›Und über Wasser gehet / Der Mensch zu Örtern dort die kühn erhöhten Stege‹) sowie Mühlen (vgl. Arnim, Müllers Abschied und Goethe, Der Jungesell und der Mühl317 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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bach). Doch auch schauerlich und unheimlich können die Wasser werden: ›Im kühlen Wasser fließet / Sein rosarotes Blut‹, das Blut nämlich eines erstochenen Kindes (Arnim, Des Pfarrers Tochter von Taubenheim) oder das Blut derjenigen, die um die Wasserstelle gekämpft hatten (Liliencron, Kampf um die Wasserstelle). Dann auch mögen die Wasser der Augen, die Tränen, fließen: ›Deiner Augen dunkele Wasser, / Laß mich tauchen darein, / Laß mich zur Tiefe gehen‹ (G. Heym, Deine Wimpern, die langen). Das Fließen der Wasser kann übergehen in ein ›müdes Dahinschleichen‹ (Lenau, Auf eine holländische Landschaft), oder der Bach ›zieht vorüber / Eintönig unterm Eis‹ (Saar, Winterabend) oder entgleitet in ›öde Sümpfe und erstorbenes Gefild‹ (Haller, Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit) und endet ›in der Stille des Moores‹ (Trakl, Am Moor). Oder es bilden die Wasser der Bäche dunkle Teiche und Seen im Tal: ›Es dämmert, es dämmert den See herab, / Die Wasser sind gar so dunkel‹ (Keller, Abends 2). In Heyms Gedicht Der Garten des Irren heißt es: ›Am roten Teiche stehen viele Schatten / Bei dünner Bäume schwächlichem Gesichte, / In Stille fort. Nur selten daß sich einer / Herunter zu dem trüben Wasser bücket.‹ Und Bierbaum schreibt: ›Feucht war die Luft und blaß des Himmels Blau, / Wie flüssig Blei das Wasser‹ (Ein Traum). Dem Trauernden gar kann sich der See gänzlich verschließen: ›Gleich einer dunkelgrünen Gruft / Gähnt schweigend mir der See entgegen‹ (Heinrich Leuthold, Stimmungsbilder). Solche Wasser können bedrohliche Gestalten gebären, – ›Ich seh ein weißes Todtengesicht / Auf dem Wasser im Sturme schwanken‹ (Christen, Visionen) – und mythische Figuren wie Satyrn oder Faune: ›Sinne nach, ich alter Faun am braunen Wasser, / Sinne nach wozu dies wirre Menschengewimmel / Immerfort beklebt, befleckt die bunte Erde‹ (Bierbaum, Faunsmonolog); oder Wassernymphen, Sirenen, Nixen, welche den, der sie verlangend erblickt, in die Tiefe ziehen (vgl. Goethe, Der Fischer und Dehmel, Dann). Und über den Dichter mag man mit Rilke vielleicht sagen wollen: ›Diese Tiefen, diese Wiesen / Und diese Wasser waren sein Gesicht‹, des Dichters Gesicht nämlich (Der Tod des Dichters). Wasser sammeln sich aber auch in ›klaren unfruchtbaren Bergseen‹ (Morgenstern, Allein im Gebirg), werden zu ›kühlem Wasser‹ eines Weihers (Mörike, Auf ein altes Bild), die ›glänzen still und kühl‹ (Keller, Aus der Brieftasche). Die Wasser waren so ›still und helle / Und 318 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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Daphnes Bild darin so schön‹ (Claudius, An eine Quelle). Solche Seen können eine wunderbare Symbiose mit dem umgebenden Land eingehen und sich diesem doch im Winter verschließen, wie Hölderlin es in Hälfte des Lebens zeigte. Oder es spiegeln sich in ihren glatten, ruhenden Oberflächen die Bewegtheiten des Himmels wider: ›Licht kämpft mit Wolken über Forst und See / Durchs Wasser jagen Schatten, wie Centauren / aufbäumend an den düstern Kiefermauern, / die rings im Bodenlosen schauern‹ (Dehmel, Vorgänge 3). Die Wasser der Bäche können sich oder durch die Seen hindurch zu Flüssen sammeln: ›Der Berge Quellen eilten hinab zu dir‹ (Hölderlin, Der Neckar); oder sie stürzen über Kaskaden und Wasserfälle (Friedrich von Matthisson, Der Wald) hinab, um mit anderen zu großen Strömen zu werden, die auf Anruf des Frühlings die Ketten des Winters zerbrechen: ›Und schaudernd regt im / Busen der Erde sich Freude wieder‹ (Hölderlin, Der gefesselte Strom). Weithin vernehmbar ist des ›Stromes Tosen / der seine Wogen talwärts trägt‹ (Keller, Des Stromes Tosen), um vielleicht in einer Mondnacht gleichsam eine Weihe zu empfangen: ›Silbernd vom Gewölk ins Land, / kühlend fließt die Flut / aus des Mondes milder Hand, / dämpfend alle Glut // Durch den Wald ein Schimmer schwebt, / tauchet in den Fluß, / und das schwarze Wasser bebt / unter seinem Kuß‹ (Dehmel, Mondnacht). Der Tag über den Fluren mag begonnen haben mit ›freundlichen Morgenwolken auf jenen Höhn‹ (Goethe, Maifest), als plötzlich ein Wetter aufzieht ›hoch in der Lüfte Meer / In der Wiege des Sturms‹ (Schiller, Hymne an die Unendlichkeit). ›Des Donners Widerhall schlägt durch Gebirge Lücken / Und reißt die Schluchten in Unendlichkeiten / Und schleppt die Berge weit auf seinem Rücken‹ (Oskar Loerke, Wintergewitter). ›Im Zickzack zuckt ein Blitz und Wasserfluten / Entstürzen gierig feuchtem Zelt‹ (Liliencron, Haidebilder). Nicht immer aber reinigt ein Gewitter die Fluren von staubig schwüler Luft. Zurück kann bleiben ein ›Himmel wie graues Packpapier‹ (Lichtenstein, Landschaft). ›Nebel schleichen in die Höh‹ (Goethe, Parabase) und: ›Über Gelände, matt gedehnt / hat Nebelhauch sich wimmelnd gelegt‹ (Droste-Hülshoff, Am Bodensee). ›Wüste Nebel und Wolken / Ziehn über die zakkigen Berge / Durch die öde Landschaft: weithin alles trüb und finster / Kein Sonnenschein bricht / Die schweren Wolkenmassen / Wie ausgebrannte Gebirge, wie eine gestorbene Welt‹ (Tieck, Radicofano). ›Ich sah nur graue Todesnebel‹ (Liliencron, Kalter Augusttag). 319 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Landschaft der Dichtung
Nebel aber gehören zu den Fluren ebenso wie die liebliche Bläue: ›Alle Landschaften haben / Sich mit Blau gefüllt. / Alle Büsche und Bäume des Stromes, / Der weit in den Norden schwillt. // Blaue Länder der Wolken / Weiße Segel dicht, / Die Gestade des Himmels in Fernen / Zergehen in Wind und Licht‹ (G. Heym, Träumerei in Hellblau). So breiten sich die Fluren zu einladender Landschaft aus: ›Das Wasser braust durch Wald und Feld, / In tausend Arme nimmts die Welt‹ (Gottfried August Bürger, Die Elemente). ›Weit an dem Stromtal zieht das Hügelland / Sich fern hinab, mit bunten Wäldern voll / Und voll von Sonne, bis es hinten weit / Verschwimmend tief in blaue Schatten taucht‹ (G. Heym, Autumnus). – Dann wiederum ist es der Winter, der Schnee, der die Gestalten der Fluren langsam vergehen läßt: ›Ihr Birken / Koreanische Trauergäste / gebeugt im Schnee / schattenlos beweinend / den Tod des großen Gottes / der hinter Nebeln / langsam dem Grabe / der Erde zuwelkt. / Es klirren die Nadeln / aus Eis von den Lärchen. / Bald ist alles vollendet / und der Weg ins Tal / versinkt im Meer / das sich grau emporwirft / und niederkniet / vor den unbewegten Eichen‹ (Karl Otten, Im Wald). Schmilzt aber der Schnee, schmelzen die vereisten Wasser (Arnim, Wassernoth), schwellen die Flüsse an durch endlose Regenfälle, bis sie schließlich ›die Dämme brechen‹ (Brentano, Das Wasser), über alle Ufer treten, alles überschwemmend: ›Ich seh die aufrührischen Wasser / Ueber die niedergebükten Häupter der Blumen hinwegfliehen‹ (J. M. R. Lenz, Die Wassernoth) und: ›Wasser stürzt, uns zu verschlingen‹ (Hofmannsthal, Reiselied). ›Kein Damm, kein Feld! Nur hier und dort / Bezeichnet ein Baum, ein Turm den Ort. / Bedeckt ist alles mit Wasserschwall‹ (Goethe, Johanna Sebus). ›Sieben Tage hats gedauert, / sieben Nächte blieb das Wasser, / Bis der große Länderhasser / Der stets vor den Deichen lauert, / sich verlaufen hat, verloren, / Und sein altes Bett erkoren‹ (Liliencron, Vun de erschröckliche Springflut: Christnacht). Und solchen Wassern gleich tun es die Kriege der Menschen, welche die Länder überschwemmen (Hölderlin, Frieden), und die menschlichen Massen überhaupt: ›Die Menge wälzt herab sich zu dem Strande, / Was in den Weg ihr kommt, das tritt sie tot. / Ins Wasser stürzt sie, wie ein Strohm vom Lande‹ (G. Heym, Marathon). Zieht sich schließlich, wie nach der Sintflut, die Überschwemme zurück, beginnt sich wieder der Reichtum landschaftlichen Gestalten zu zeigen: ›Kaum sproßten aus den Wassern, o Erde, dir / Der jungen Berge Gipfel und dufteten / Lustatmend, immergrüne Haine / Voll, in des 320 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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Ozeans grauer Wildnis / … / Die ersten holden Inseln‹ (Hölderlin, Der Mensch) – da heißt es auch schon: ›Von seines Ufers duftender Wiese muß / Ins blütenlose Wasser hinaus der Mensch‹ (ebd.). Vom großen Fluß aber, sofern er in seinen Ufern bleibt, hatte Hölderlin gesagt, daß er nirgends zu bleiben vermag als da ›wo / Ihn in die Arme der Vater aufnimmt‹ (Hölderlin, Der gefesselte Strom). Ergibt er sich am Ende vielleicht nicht dem Meer, das ›aufgor zu gischtbestäubten Hügeln‹ (Storm, Ostern), nicht den Brandungen des Meeres (Fontane, Auf dem Meer), wo der ›Meereswellen wild bewegter Reigen / In ewig ruhelosen Tänzen tobt‹ (Felix Dörmann, Abbadon triumphans)? Oder löst er sich nicht auf in abgründige Meeresstille: ›Tiefe Stille herrscht im Wasser / Ohne Regung ruht das Meer … Todesstille fürchterlich‹ (Goethe, Meeresstille)? ›Nichts, nichts, so weit dein Auge sieht, / Nur: Himmel und Wasser‹ (Arno Holz, Tagebuchblätter 25). Wer sonst als dieses Nichts nimmt den mündenden Fluß auf, wenn Menschen Gott getötet haben? Hölderlin sprach in seiner Hymne Der Ister: ›Umsonst nicht gehen / im Trockenen die Ströme. Aber wie? Sie sollen nemlich / Zur Sprache seyn‹. 28 Gilt dies nicht von allen Gestalten der Landschaft, daß sie zur dichterischen Sprache sein sollen? ›Länder‹, ihre Stoffe und Kräfte mögen durch das technisch verfahrende Wissen vieler Naturwissenschaften zugänglicher werden; ›Landschaften‹ kommen zur Sprache erst durch Dichtungen, deren Worte an unsere Sprachlosigkeit rühren.
12.9.4. Der Landschaft Zierde Mit den Erden und Wassern sind uns landschaftliche Erscheinungen nicht nur in die Nähe, sondern gleichsam auf den sterblichen Leib gerückt. Und es bedarf erst wieder des Abstandes, um die räumlichen Seinsweisen der Landschaften zurückzugewinnen. Doch selten nur gab deutsche Dichtung zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert den VorVgl. dazu: Martin Heidegger, Hölderlins Hymne ›Ister‹, in: Gesamtausgabe Bd. 53, Frankfurt-M 1993. S. 39 deutet Heidegger: ›Der Strom ist die Wanderschaft des geschichtlichen Heimischwerdens am Ort der Ortschaft. Der Strom ist Ortschaft und Wanderschaft.‹
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Die Landschaft der Dichtung
rang des Heimatlichen preis. Landschaftliche Erscheinungen zeigten sich zumal in ihrer ›Zier‹, nicht in der Erhabenheit der Höhe und der gewaltigen Größe. Von Simon Dach stammt die Klage eines verliebten Schäfers vber die Vntrew seiner Phyllis: ›Gehabt euch wol, ihr Berg’ und Felder, / Mit eurer wol-begrünten Zier! / Ihr Quellen, Felsen, Püsch’ und Wälder, / Ihr Wilden und ihr Zamen Thier, / Ihr Wiesen, reich an klahren Bächen! / Kein Mensch soll mich mehr sehn und sprechen!‹ – Was aber hatten das 17. und 18. Jahrhundert unter der ›Zier‹ landschaftlicher Erscheinungen verstanden – ein Wort, das schließlich im 19. Jahrhundert aus der Dichtung zu verschwinden begann? Man sprach ebenso von der Zier einzelner Gestalten: ›Ist dies die Schädelstätt? Wie kommt es dann, daß hier / Die Ros und Lilie steht in unverwelkter Zier?‹ (Silesius, Die Schädelstätte). Und noch Droste-Hülshoff sah ›vielfarb’ger Blumen bunte Zier‹ (Der Säntis. Frühling). Ganze Landstriche, ›Himmel und Erde‹ (Brockes, Der Fisch-Teich) und ›alle Creatur (zeigt) Glantz, Ordnung, Pracht und Zier‹ (Brockes, Der verstockte Chrysander). Nicht nur berief man des ›rauhen Berges Zier‹ (Brockes, Betrachtung des Blanckenburgischen Marmors), die Zier der Sonne und der Sterne, des Frühlings Zier, ›die ganze Welt mit ihrer Zier‹ (P. Gerhardt, Geh aus mein Herz und suche Freud). Gryphius konnte in einem Atemzug von ›der Bäume neuer Zier‹ und von ›Jesu meine Zier‹ sprechen (Über die Nacht meiner Geburt). Man redet von ›der Frauen hohe Zier‹ (Leopold Jacoby, Es werde Licht) wie von ›der Musen stille Zier‹, ›der Wahrheit Zier‹ (Haller, Die Alpen) oder von der ›Zier deutscher Sprache‹ (Gleim, Bei Eröffnung des Feldzuges 1756 sowie Uhland, Die Deutsche Sprachgesellschaft). ›Was ist Welt, Tag und Lentz, wo nicht ist meine Zier?‹ (Opitz, Glükwundschungs-Lied). Und noch August von Platen frug: ›Ward nicht dieselbe Kraft / die dort im Sterne flammt / Bestimmt, als Rose hier die Zier der Flur zu sein?‹ (Ghaselen). Brentano sprach von ›des Geistes Zier‹ (Die drei Namen der Liebe des Östreichers). Der Tugend und des Friedens Zier (Logau, Des Friedens Zier) überbietet sogar noch die ›ewge Freud und Zier‹ des Verstorbenen im Himmel (Gerhardt, Nun, du lebest, unsre Krone). Die geistliche Dichtung befand sich in einem Zwiespalt: Zum einen huldigte sie die ganze Schöpfung als Zier, zum andern entwertete sie Welt und Erde als verderbt und vergänglich zugunsten der jenseitigen Zier des Himmels und der ›Zierde der Zier Gottes‹. Verglichen mit ihr ist die vergänglich irdische nur eine ›schnöde Zier‹ (Harsdörffer, 322 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Fluren der Landschaft und ihre Gestalten
Der Frühling). – Doch dieser latente Platonismus reichte nicht aus, den Niedergang der Bedeutung von ›Zier‹ zu erklären, mit der man einst die Nutzlosigkeit landschaftlicher Erscheinungen ehrte. Mit dem Ende der Romantik beginnt die Zier als dichterisches Wort zu verstummen und man sprach nicht mehr von der ›Zier‹ ganzer Landschaften und ihrer Gestalten, sondern von ihrer ›Schönheit‹. Manche Etymologen sehen im Wort ›Zier‹ – althochdeutsch ›ziari = Pracht, Schmuck, Prunk‹ – eine Verwandtschaft mit dem lateinischen Wort dies = ›Tag‹ und deus / zeus = ›Gott‹, – Ausdrücke, die auf eine indoeuropäische Wurzel ›die = scheinen, schimmern‹ verweisen. Darin zeigt sich eine, wenn auch unfamiliäre Verwandtschaft mit dem ›Schönen‹ als dem ›Ansehnlichen‹, das man liebt zu schauen, wie es ist. Zier ist, was sich von sich selbst her schimmernd oder glänzend gibt und darin sich selbst feiert, nicht aber nur der Träger für die Bedeutung von etwas anderem ist. In der Zier vollendet sich der Anblick der Dinge und Geschehnisse, wie sie selbst sind. Und nur eine zusätzliche, äußerliche Reflexion setzt die Zier in Beziehung zu Menschen, die daran Freude fühlen. ›Zier‹ ist insofern niemals als das Ergebnis einer ›Verzierung‹, ›Verschönerung‹, gar ›Beschönigung‹ einer eintönigen oder unansehnlichen Oberfläche zu verstehen, wie man es dann ab dem 20. Jahrhundert tat. Zier war so wenig das Resultat beabsichtigter Verzierungen, daß Heinrich Christian Boie in seinem Gedicht An Bürger über sie ausrufen konnte: ›Absicht nie!‹. Doch psychologistische Grundauffassungen stellen ›Zier‹ plötzlich so dar, als wäre sie ein Mittel, durch ›Zierliches‹ angenehme Gefühle hervorzurufen. Entsprechend wurde ihm das ›Gigantische‹ entgegengesetzt, um lustvoll schaurige Gefühle genießen zu können. Es ist kennzeichnend für das Aufkommen der Technokratie, ›ästhetische Erscheinungen‹ und ihre künstlerische Herstellung bloß als Instrument zu verstehen, um damit Wohlgefallen auszulösen und Lust zu bereiten. In solcher Auffassung bahnt sich bereits die Ersetzung von Zier und Schönheit durch den Kitsch der Massengesellschaft an. Das paßt zudem zu der Auffassung, das Interesse von Menschen an der Darstellung schauriger Abgründe, deformierter Gestalten, schmerzhafter und tragischer Geschehnisse, blutiger Auseinandersetzungen wäre nur erklärbar durch latente sadistische Neigungen, nämlich durch die Lust am Anblick von Zerstörung und dem Leiden anderer. Daß auch die Zier einst schrecklich und furchtbar sein konnte, wie die Schönheit, das hat sich unserem Sprach323 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Landschaft der Dichtung
gebrauch vollkommen entzogen. Nichtssagend sagen wir noch heute über manche Schönheit, sie könne schrecklich und furchtbar sein, ja sogar zerstörend und tödlich wirken. Immerhin bleibt damit erinnert, daß sie, über unser Gefallen oder Mißfallen hinaus, uns einen Blick in das Wesen der Dinge und Geschehnisse ermöglicht, indem diese sich zeigen als frei von sich her, statt abhängig vom Blickwinkel und von der jeweiligen Gemütslage der Menschen, wenn auch deren Gefühle ihnen das Erfreuliche oder Grauenvolle zu erschließen vermögen. – In diesem Sinne sagte ich, Landschaft sei schlechthin das Freie. Wie ich darlegte, haben gerade die Dichter nicht nur von wohlgefälligen landschaftlichen Erscheinungen gesprochen. Sie brachten auch solche landschaftliche Zier und Schönheit ins Spiel, die noch sehr viel weiter gingen als später die des majestätisch Erhabenen: nämlich die düster grauen, naßkalten, nebelverhangenen, von Wassern, Orkanen, Beben und Bränden erschütterten, in Stein und Eis erstarrten Landschaften. Sie lösen keine angenehmen oder erhebenden Gefühle aus, wohl aber Gefühle, durch welche wir das Wesen auch des Unförmigen und Zerstörerischen zu verstehen vermögen durch die Art, wie sie ›zur Sprache sind‹ (Hölderlin). – Doch passen solche Gedanken nicht zur allgemeinen Verniedlichung der Natur als ›Landschaft‹ und touristisches Warenangebot. Der Ausdruck ›Zier‹ unterlag noch einem andersartigen Sterben: Unter ›Zier‹ verstehen wir heute kaum mehr als einen Aufputz zur Verschnörkelung oder Einfärbung ansonsten öder, langweiliger Oberflächen. Das aber war dort nicht nötig, wo nicht das eintönige, texturlose Grau von Beton, Wellblech und Zink, sondern Natursteine mit ihren Texturen Gebäude schmückten. Wenn darüber hinaus ›Verzierungen‹ im Sinne des Ornaments angebracht wurden, so sollte sich damit der vorübergehende Betrachter und nicht nur der Besucher eingeladen fühlen. Solchen architektonischen Grußformen aber erklärte die technokratische Moderne und ihre Vorliebe für Bunkerbau und Glaspalast den Krieg. Adolph Loos belegte die ›Zier‹ mit dem rassistisch untermalten Schlagwort, Ornament sei Verbrechen. 29 Entsprechend wurde zierund ornamentloses Bauen zum doktrinären Programm des Bauhaus und seiner nur noch profitorientierten Nachfolger, den Ingenieuren, Industrieunternehmungen und staatlichen Behörden in Ost und West. 29
Adolph Loos, Ornament und Verbrechen, Wien 1908.
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Aufbruch in die Ferne und Weite
Noch während des Zweiten Weltkriegs hatten die Vertreter des Bauhauses, die sich in den USA aufhielten, beschlossen, sämtliche Lehrstühle für Ästhetik an den wiederaufzubauenden europäischen Architektur-Fakultäten zu schließen. Die ›Ästhetik‹ – weniger des Häßlichen als des monumental Monotonen öffentlicher Klotzbauten – war damit allerdings nicht getilgt, da schließlich jede wahrgenommene Fläche auch an das Wohlgefallen oder Mißfallen appelliert; nur ihre Wertung wurde pervertiert. – In diesem Geiste war es leicht, auch die ›Zier‹ der Landschaften zu ignorieren und sie mehr und mehr auf die gleiche Weise durch Mono-›Kulturen‹ zu überbauen. Wie antiquiert klingen da bereits die Zeilen von Brockes: ›Der Natur Buch gebt mir hier, / Voller Wunder, Glantz und Zier, Deine Herrlichkeit zu lesen‹ (Die, durch eine Landschaft in der Luft, vermehrte Schönheit einer irdischen Landschaft). Darin scheint mir etwas angesprochen geblieben, was unter all dem Recycling-Müll nur schweigt: Ist nicht die Zier landschaftlicher Erscheinung die Weise, wie sich die endlichen Dinge selbst zur voll-endeten An-Wesenheit bringen? Das aber hieße keineswegs: zur perfekten und vollständigen! Als Zier sind Landschaften, welche die Gestalten der Himmelserscheinungen und der irdischen Fluren ineinander spielen lassen, in ihrer Gelassenheit enthoben und frei von den Begierden und Interessen der Menschen, auch wenn deren Freude oder Trauer, Begeisterung oder Niedergeschlagenheit Weisen sind, die Schönheit und ›Zier‹ landschaftlicher Erscheinungen spürend erfassen zu können.
12.10. Aufbruch in die Ferne und Weite Gewinnt man einen auch nur groben Überblick über die deutsche Dichtung des 17. und 18. Jahrhunderts, so stoßen wir, wie bemerkt, auf eine bestimmte Eigenart: Diese Dichtung privilegiert die Höhe und die Niedrigkeit, Himmel und Erde, die himmlische Ferne und Tiefe, aber nicht die irdische Ferne und Weite. ›Fern‹ kann daher schon sein, was gerade nicht hier ist: ›Und dort fern am Hügel / Singt die Nachtigall‹ (Claudius, Mailied); oder was als das Unerreichbare in die Nähe scheint: ›Tritt, Hesperus, tritt auf und stelle dich ins Ferne‹ (Fleming, An den Abend-Stern). Ferne taucht auch schon dort auf, wo eine lichte Nähe ins Dunkle verschwindet: ›Dämmerung senkte sich von oben, / Schon ist alle Nähe fern‹ (Goethe, Parabase); oder: ›Es lagen / Die Täler 325 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
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tief und fern in dunkler Nacht‹ (Chamisso, Deutsche Barden). Eine Entfernung der Ferne kann schon durch einen Dauerregen geschehen: ›Und die Berge, so fern und fahl, / Steckst du ins Wolkenfutteral‹ (I. Kurz, Landregen). Ferne, die uns als Ferne nahe kommt, zeigt sich an landschaftlichen Erscheinungen, die sich in blauem Licht verlieren: ›Die Gestade des Himmels in Fernen / Zergehen in Wind und Licht‹ (G. Heym, Träumerei in Hellblau). Letztlich, so scheint es, ereignete sich der Aufbruch in die Ferne und Weite erst zaghaft in der Romantik. Noch bei Hölderlin ist es vorrangig die Ferne, die aus der Ferne in die Nähe kommt, ohne sich als Ferne zu tilgen: ›Wie schön aus heiterer Ferne / Glänzt einem das herrliche Bild … / Der Landschaft‹ (Der Spaziergang); ›Und herein in die Berge / Mir die reizende Ferne schien‹ (Heidelberg). Ferne scheint sich also von bestimmten Orten aus zu geben: ›Endlich ist sie erreicht die Fernen eröffnende Stelle‹ (Saar, Winterabend). Aber eröffnen kann sich auch eine Ferne anderer Art: ›Das erfuhrst du nicht in frohen Tagen, / Daß so ferne dir die Heimat liegt‹ (Hölderlin, An die Natur). Zwei Weisen sind es, der Ferne zu begegnen; zum einen durch einen Anblick hindurch: ›Ich ließ den Blick am Horizonte gleiten‹ (Storm, Meeresstrand). Bei Mörike heißt es: ›Die Augen in der Ferne weiden‹ (Am Wald). Ich erinnere hier nochmals an Georg Heyms Autumnus: ›Weit an dem Stromtal zieht das Hügelland / Sich fern hinab mit bunten Wäldern voll / Und voll von Sonne, bis es weit / Verschwimmend tief in blaue Schatten taucht.‹ Die andere Weise bezieht sich nicht auf die Ferne, die aus der Ferne kommt, sondern in eine Ferne geht, die einen unwiderstehlichen Sog zu ihr auszuüben scheint: ›Und der Wandrer geht vorüber / An den Lauben, an den Spielen / Nach den fernen blauen Höhen / Muß er schauen, muß er ziehen‹ (Wilhelm Müller, Der Einsame). An die Sehnsucht nach Ferne erinnern noch die Zeilen von Nelly Sachs: ›In der blauen Ferne: / Wo die rote Apfelbaumallee wandert / Mit himmelbesteigenden Wurzelfüßen / wird die Sehnsucht destilliert / Für Alle, die im Tale leben. // Die Sonne, am Wegrand liegend / Mit Zauberstäben, / gebietet Halt den Reisenden‹ (In blauer Ferne). Ferne und Nähe bieten sich leicht den erträumten oder erwanderten Ausrichtungen an. Dem aber verwehrt sich die a-tentionale Weite. Den ›Weiten der ungeheuren Landschaft hingegeben‹ (Morgenstern, Allein im Gebirg), ist der Betrachter schon nicht mehr der Mittelpunkt, 326 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Aufbruch in die Ferne und Weite
um den herum ›rings die weite Landschaft‹ liegt (Schiller, Pallast in Mantua). Wer von ›der Landschaft weitem Kreis‹ spricht (Saar, Winterabend), nimmt sich als Mittelpunkt selbst von der Landschaft aus. Man bleibt konzentriert auf den Wandersmann, der ›in die weite Welt‹ erst noch geschickt wird (Eichendorff, Der frohe Wandersmann). Doch ein ›Ort‹, ›wo übermächtig sich die Landschaft breitet‹ (Droste-Hülshoff, Die Schenke am See), ist bereits entortet, nämlich ein Aufbruch aus aller Enge. Und der ist wie das ›kleine Frühlingslied‹, das nicht nur hinaus ins Weite klingt (Heine, Leise zieht …), sondern alles Enge selbst schon weitet: ›Da findet mein Verwundern kaum / In diesem weiten Raume Raum‹ (J. C. Günther, Lob des Winters). Aber über solche Weite kann sich noch eine Enge legen: ›Der Schleier, blutig rot aus Dunst gewoben / Auf ebne, weite Landschaft ausgebreitet‹ (Chamisso, Deutsche Barden). Ludwig Tieck ist es, so weit ich sehe, der das Vermissen von Ferne und Weite, die selbst schon nur im räumlich Fernen liegen, in seinem Gedicht Bologna thematisierte: ›Seit ich Florenz verließ / Vermiß ich Italien, Alle Berge dünken mir klein, / Alle Formen der Landschaft beengend: O wie sehnt sich mein Auge nach dir / Du erhabene römische Ferne, / Mit deinen hochschwebenden Gebirgen, / Der weiten, ausgedehnten Landschaft. // Tot nennen sie deine Natur? / Noch immer ruhen, wie liebliche Träume, / Deine dämmernden Gestalten vor den Augen meines Geistes, / Und wie man nach langem, innigen Gespräch, / In der Versammlung der Fremden den Freund vermißt, / So erseufz ich nach Roms Gegenwart / Wenn man mir dieses wohl und jenes schön will nennen.‹ Mit solcher Aussage beginnt der sehnsüchtig erstrebte Vorrang der Höhe vor der Niederung gegenüber den Zustimmungen von Fläche und Tiefe zu wanken. Doch leidet deutsche Kultur stärker als je an der Fremde von Ferne und Weite, mehr als an der Übernähe und Enge des Eigenen und Heimischen. Denn der Massentourismus hat die Welt nur klein gemacht. Es scheint, als sei diesem Land nach dem politischen Nihilismus der Nationalsozialisten eine Sucht nach Gebieten und Verwalten verblieben, durch den jeder Sinn für Landschaft verloren gegangen ist. Wird zeitgenössische Dichtung ihn wiederfinden können?
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13. Die Welt der Landschaften
Das am weitesten Entfernte in die Nähe des Denkens zu bringen und zwar unter Wahrung dieser Ferne und Fremde, wird erfordert, wenn Landschaften in ihrer ›Weltlichkeit‹ überhaupt unser Verstehen angehen sollen. Unter ›Welt‹ verstehe ich allerdings, im Unterschied zum überlieferten metaphysischen Verständnis, nicht den ›ganzen Kosmos‹, kein endliches oder unendliches Uni-versum noch ›die‹ Natur überhaupt, sondern die Weise von Landschaften, ihren Räumen nach weltweit zu sein, im Unterschied zum herrschenden Gebiet der Länder und der durch ihre Reiche immer schon ›besiegten‹ Provinzen (pro / vincere = siegen). – Was ließe sich unter solcher Welt-Weite verstehen, zu welcher immer schon die Horizonte der Landschaften aufbrechen? Gab es im frühen Denken der physis, nämlich der Seinsweisen, wie sie sich von sich her zeigen, Ansätze zu einem Verständnis von Landschaft, sofern sie nicht vom Landesgebiet noch von der vorhandenen Natur her gedacht wurde? Noch bis zum 18. Jahrhundert stellte man sich die Natur der Landschaft vor, als bestünde sie vorwiegend aus den vier allgemeinen unorganischen Elementen ›Erde, Wasser, Luft und Feuer / Licht‹, auf welche die Pflanzen-, Tier- und Menschenreiche angewiesen bleiben; auch wenn diese nicht mehr, wie noch im Gedicht Über die Natur des Empedokles, als ›letzte, unzerlegbare (a-tomare) Grundstoffe‹ galten und diese auch nicht mehr, wie Aristoteles glaubte, hierarchisch geordnete ›natürliche Orte‹ einnahmen, aus denen sie nur gewaltsam entfernt werden könnten. Ab dem 19. Jahrhundert vermehrten sich die chemisch nicht weiter zerlegbaren Grundstoffe auf fast hundert Elemente, bis schließlich die Atomphysik überhaupt auf die Umwandelbarkeit aller Materie in Energie und umgekehrt stieß. Dadurch wurde die alte Vorstellung aufgegeben, der zufolge es im Raum unzerlegbare Grundstoffe gäbe, die sich äußerlich teils anzögen, um sich zu vermengen, teils abstießen, um sich zu trennen. Ein umwälzendes Umdenken be328 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Welt der Landschaften
züglich der Seinsweisen des Raumes haben allerdings die Naturwissenschaften bisher deshalb nicht vollzogen, weil sie an der Idee der einen Natur ›im Raum‹ als immer schon vorhandener festhalten: Sie denken deren offene Möglichkeit (possibilitas) vorrangig nur als latent vorhandenes Vermögen (potenzia). Fragt man also im Rahmen der überlieferten Metaphysik, soweit sie im Anschluß an Parmenides ›Sein‹ und damit auch ›Natur‹ als absolute Anwesenheit bestimmt, nach einem allgemeinen und grundlegenden Wesen der Landschaft, wird man wohl immer noch hören, Landschaften seien bestimmte Ausprägungen dieser einen Natur der Erdoberfläche. Im Aristotelischen Verständnis heißt das, ihre irdischen Flurgestalten und himmlischen Erscheinungen seien Formen eines (›mütterlichen‹) Grundstoffes, der – unabhängig von diesen gedacht – nur als ›reines Vermögen (dynamis)‹, durch Formen geprägt zu werden, zu verstehen sei. Um wirklich (energeia und entelechia) zu sein, müsse dieser Stoff (hyle) immer schon Gestalt angenommen haben. Die allgemeinsten Formen aber – als die grundlegenden Seinsweisen alles natürlich Seienden – erscheinen als die vier Elemente (stoicheia) ›Erde, Wasser, Luft und Feuer bzw. Licht‹. Schon Platon hatte im Timaios diesen vermeintlichen Gedanken des Empedokles aufgegriffen. Aristoteles aber hatte gegen die platonische Verdopplung der Welt in Materielles und Ideelles das gestaltende Formen in die mater materia selbst hineinverlegt. In diesem allgemeinsten Sinne bestünden demnach ›Landschaften‹ aus den besonderen Ausprägungen der vier Elemente: Erde, Wasser, Luft und Feuer (verzehrende Wärme und Licht), die dann von Pflanzen und Tieren genutzt wurden; und wo in aller Welt es auch Landschaften gebe, müßten sie aus diesen Elementen kombiniert sein, welche besondere Gestalt sie auch annähmen. – Standen die Dichter nicht weitgehend in der Tradition des Empedokles, wenn sie von ›Landschaften‹ sprachen? Was aber hat es überhaupt mit den vier Elementen auf sich? Bekanntlich erschien bereits das Wasser des Thales nicht einfach als der flüssige Aggregatzustand der Ströme und Seen, der Regentropfen und des Taus, sondern ebenso als Härte des Eises, als das Pulvrige des Schnee, das Dunstige der Nebel in der Luft, ehe es unserem Blick als Gasförmiges entschwindet: Als Element ›fließt‹ demnach das Wasser, unsichtbar von Kräften getrieben und nur durch Denken erfaßbar, durch seine eigenen verschiedenen Aggregatzustände hindurch. Und in solchem 329 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Die Welt der Landschaften
Entstehen und Vergehen liegt ständiger Streit zwischen ›Zuneigung‹ (›Freundschaft‹) und Abneigung (›Haß‹). Diese Umwandlungen der Aggregatzustände des Wassers ineinander mögen der Ausgangspunkt des grundlegenderen Gedankens des Thales gewesen sein, der die möglichen sinnlichen Erscheinungen in diesen selbst überschreitet, ohne sie zu verlassen. Denn einem Bericht des Hippolytos zufolge nahm er an, ›Ursprung und Endziel des Alls sei das Wasser, aus dem alle Dinge zustande kämen‹ und in das sie wieder zurückkehrten: ›Und alle Dinge bewegten sich und seien im Fluß, weil sie mit der Natur des ersten Urhebers ihres Werdens übereinstimmten.‹ 1 Thales deutete so den ›fließenden Wandel‹ aller Erscheinungen überhaupt, ihr Werden im Entstehen und Vergehen. – Indem nun Anaximenes den Anfang und die Rückkehr aller Dinge in einem Medium annahm, das gleichsam auch dem unberührbar ›Unkörperlichen‹ näher rückt, nämlich aer, das unbegrenzt Offene des ›Äthers‹, zu dem auch die Luft gehört, konnte er zudem Seele und Geist als pneuma in das Verständnis des Ganzen der Dinge mit einbeziehen. Aetios zufolge behauptete Anaximenes, unsere Seele sei Äther, der durch seine rhythmische Kraft uns Menschen wie auch den ganzen Kosmos zusammenhalte. 2 In anderen Fragmenten heißt es, sich abkühlend verfestige sich die Luft im Wind, in den Wolken, schließlich in Wasser, Erde und Gestein oder erwärmend verdünne sie sich zu Feuer und Licht hin. 3 Aer ist demnach so wenig wie das Wasser des Thales nur ein allgemein geformter ›Stoff‹, sondern selbst das Wesen einer inneren Verwandlung, das sich als das zu denken gibt, was Körperliches wie Unkörperliches umfaßt. – Heraklit schließlich, so läßt sich aus den Fragmenten deuten, steigert den ›Äther‹ in das, was er pyr, Feuer und Licht nennt, und nimmt in es die Dialektik des ›unsichtbaren‹ Logos selbst mit hinein, um die anfänglich erste und grundlegende Ordnung aller Dinge, den Kosmos, zu benennen. Nicht nur entstünden Wasser und Erde aus Feuer und vergingen in dieses und als ewig lebend entflamme und erlösche dieses selbst nach Maßen, Mangel und Sättigung in Einem; sondern das Feuer selbst sei vernünftig denkend, urteilend und verurteilend. 4 Man wird zwar später diesem Feuer und Licht des Denkens im erleuchtenden und ver1 2 3 4
Thales, Fragment 18, in: Die Vorsokratiker, Übers. J. Mansfeld, Stuttgart 1999, S. 53. Anaximenes, Fragment 2, in: Die Vorsokratiker, a. a. O., S. 89. Ebd., Fragment 5, S. 91. Heraklit, Fragmente 62, 69 und 72, in: Die Vorsokratiker, a. a. O., S. 263 und S. 265.
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brennenden Geist immer wieder begegnen, doch ist das mit dem Verständnis der absoluten Verschiedenheit des Geistes und des Stoffes, wie Platon und Aristoteles sie entfalteten, nicht mehr zu verstehen. Die ›vorsokratischen Naturphilosophen‹ nahmen nicht mehr mythischerweise an, daß die Elemente in ihren Verwandlungen selbst ›reine‹ Götter seien. Doch ebenso wenig sind sie ›reine Materie‹, denn sie enthalten auch Götter. Und keineswegs fehlen ihnen vorausliegend ausrichtende Ziele in ihren Bewegungen, so daß alles allein nur durch ewig vorhergehende Ursachen bestimmt sei. Die theologische Zurückführung aller natürlichen Erscheinungen auf einen ersten Verursacher, von dem her alle Veränderungen als Abstammungen zu erklären seien, das heißt, ihre Unterwerfung unter ein lückenloses Gesetz der Kausalität, finden wir, im Anschluß an Aristoteles, am konsequentesten durchgeführt erst in Newtons Himmelsmechanik. Kant, der gesagt haben soll, der ›Newton des Grashalms‹ sei noch nicht geboren, hatte noch, wider eine metaphysisch realistische Verwendung des aristotelischen Entelechie-Gedankens, in seiner Kritik der teleologischen Urteilskraft angesichts organisch-lebendiger Erscheinungen das Prinzip der Finalität als das einer der Sache angemessenen Beurteilungsweise bejaht, indem er vorsichtig das Problem von Endursachen, die angeblich in der Natur wirkten, als empirisch unbelegbar stehen ließ. 5 Mit Parmenides hatte nun Empedokles die Auffassung vertreten, daß es keinen Weg aus oder in das Nichts gebe und man daher nicht sagen könne, ›Nichts sei‹. Von ›Nichts‹ sei ›Sein‹ auf keine Weise aussagbar, so wenig wie man von einem unendlichen leeren Raum über das All
Vgl. dazu: Robert Spaemann, 1. Natur, 2. Naturteleologie und Handlung, in: Philosophische Essays, a. a. O. Whitehead spürte, wie ungenügend das kausalistische Erklärungsprinzip ist, und versuchte daher den Gedanken der Zielgerichtetheit natürliche Prozesse wieder stark zu machen: Alfred North Whitehead, Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie, a. a. O. Vorherrschend zeigt sich dagegen noch in der Biologie der Gegenwart die Neigung, jede Gerichtetheit auf ein Ende hin aus den natürlichen Vorgängen zugunsten ihrer stets nur vorhergehenden Verursachung zu eliminieren; denn dieses Denken ist besessen vom Gedanken einer ›technischen Reproduzierbarkeit‹ aller natürlichen Erscheinungen, auch wenn sie nur von ›der Natur‹ und (noch) nicht von Menschen bewerkstelligt würde. Denn auch das, was sich, wie lebende Organismen, als ›System‹ auf sich selbst beziehe, sich verändernd oder sich bewahrend, läßt sich ja auf Wechselwirkungen reduzieren – was allerdings die Entscheidung, was zuvor und was danach sei, in Krise brachte.
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hinaus sprechen könne. 6 Indem er jedoch die Ununterschiedenheit des einen omnipräsenten, unbewegten Seins von vornherein als ›Geviert einer Mannigfaltigkeit‹ zu verstehen suchte und zu den drei ›Elementen‹ die ›Erde‹ hinzufügte, brachte er eine Bewegung in das eleatische Sein, die nicht nur als trügerischer Schein abzutun sei. 7 Die kanonisch wirkende Lesart der ›vier Elemente‹ durch Aristoteles hat, wie ich meine, deren Sinn mehr verdeckt als erhellt: Denn er gab die tessara panton ›rizomata‹ proton des Empedokles, nämlich Feuer, Erde, Luft und Wasser, verfälschend mit stoicheia, Elemente, wieder. Im ersten Buch der ›Physik‹ des Empedokles, wie Aetios überliefert, heißt es aber: ›Die vier Wurzelgebilde (rizomata, Anm. v. m.) aller Dinge höre zuerst: leuchtend-heller Zeus (Feuer, Anm. des Übersetzers) und lebenspendende Hera (Erde, ders.) und Aidoneos (der ›Unsichtbare‹ – Luft, ders.) und Nestis (die ›Fließende‹ – Wasser, ders.), die mit ihren Tränen den sterblichen Quellstrom befeuchtet.‹ 8 Empedokles spricht also nicht von ›Elementen‹ (stoicheia). Bereits die metaphorische Benennung der vier rhizomata durch Gottheiten, die allerdings in keiner Weise analog zu Menschen als Personen zu verstehen sind, erschwert es, sie einfach als vier Grundformen aller Stofflichkeit zu verstehen, wie Aristoteles es tat. 9 Hegel nannte sie ›allgemeine NaturEmpedokles, Über die Natur der seienden Dinge, in: Die Vorsokratiker II, Übers. J. Mansfeld, Stuttgart 1999, Fragment Nr. 16, S. 75 und Nr. 23, S. 79. Liest man das Gedicht des Parmenides genau, findet man keine Leugnung des Problems des Nichts; er weist nur als Aporie zurück zu sagen, Nichts sei. Sagbar sei nur, daß Nichts nicht sei. Es ist also die bestimmte Unsagbarkeit, die ›Nichts‹ nicht als Sein verneinten Seins zuläßt, wohl aber es als ›seinslose Offenheit‹ ansprechen könnte. 7 Empedokles, Über die Natur der seienden Dinge, Fragment Nr. 13, Nr. 16 und Nr. 23, S. 79, a. a. O., S. 75 und S. 79. Vgl. auch: Jean Bernhardt, Empedokles von Agrigent, in: Geschichte der Philosophie Bd. I, Hg. F. Châtelet, Frankfurt a. M.-Berlin-Wien 1973, S. 47 f. 8 Empedokles, Fragment 13, a. a. O., S. 75. Aidoneus war Name auch für Hades, des Unsichtbaren; Nestis gilt als eine sizilianische Wassergöttin. Ohnehin paaren sich Streit und Liebe in Zeus und Hera als der Muttergottheit, sowie Gegensatz und Verwandtschaft in Zeus und Hades. Nestis wird vielleicht deshalb Poseidon vorgezogen, weil nur so eine gewisse Äquivalenz des Weiblichen und Männlichen gewahrt bleibt. 9 Für Empedokles offenbart sich das Göttliche nicht in menschlicher Gestalt: ›Nein, es war einzig und allein ein heiliger, unbeschreiblicher Sinn, der das ganze schöne Gebilde mit schnellen Gedanken durchsprang‹ (ebd., Nr. 149, S. 141). – Vom geforderten Prinzip einer vorgängigen Einheit und Ganzheit aus bemängelte Aristoteles an Empedokles die Annahme zweier Bewegungsprinzipien ›Freundschaft und Feindschaft‹, Anziehung und Abstoßung, Prinzipien der Naturkräfte, die sich jedoch über Lukrez und Newton bis zur 6
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existenzen‹ 10, Hölderlin aber ›Genien der wandelnden Natur‹. 11 Der metaphysische Dualismus hat uns Europäer gleichsam eines Wortes beraubt, das weder ›rein Stoffliches‹ noch ›rein Geistiges‹ bedeutet – der Grund, warum ich das (mathematisch verstandene) Imaginäre als dritte ›Wirklichkeit‹ übernahm, die weder ›setzend‹ noch ›tilgend‹ ist und daher weder positiv noch negativ zu verstehen ist. Mit Hegel kann man allerdings zu recht sagen, daß Empedokles nicht von dem Einen Wesen der Natur spricht, das sich in ›Elementen‹ vervierfältige. 12 Und bereits Empedokles sagte, der gemeinte Gedanke ließe sich mit den Sinnen und dem gewöhnlichen Verstand nicht fassen; 13 schon gar nicht, wenn man ›nur einen Pfad beschreite‹. 14 Unter rhizomata sind also weder nur stofflich atomare ›Grundbestandteile‹ noch vier Aggregatzustände ein und derselben Materie, noch vier qualitativ verschiedene allgemeine Medien verstanden. Empedokles weist den Gedanken, den später Platon im Timaios verfolgte, zurück, die rhizomata könnten sich, wie bloß verschiedene Aggregatzustände einer Stofflichkeit, ineinander verwandeln. In diesem Sinne sind sie ›a-tomar‹, nicht weiter zerlegbar, und doch nicht ›kleinst mögliche Bestandteile‹, wie Demokrit die Atome verstand. Denn anders als
gegenwärtigen Physik erhalten haben (Aristoteles, Metaphysik, 4. Kapitel des 1. Buches, 985 a 5, a. a. O., S. 27 ff.). Der Lehre des Empedokles, so Aristoteles, fehle es daher an innerer Übereinstimmung und er verwickle sich in Widersprüche, so daß gerade die ›Freundschaft entflechte und der Streit verflechte‹ : ›Denn während das All durch den Streit bis in die Elemente hinein inneren Abstand gewinnt, wird das Feuer zu einem verflochten – und ebenso jedes andere Element; wenn sich dann aber wieder alles durch die Freundschaft in das Eine verflicht, so müssen erst einmal wieder die Teile aus jedem Element entflochten werden‹ (ebd., S. 28). Die widerstreitende Differenz von Freundschaft und Feindschaft blieb allerdings auch in jener von natürlicher und gewaltsamer Bewegung bei Aristoteles wirksam. Doch denkt er die rhizomata nicht in der ›Dialektik‹ vier besonderer, sich ver- und entwebender ›Fasern‹, sondern als letzte Bestandteile, deren Entmischung zu einem homogenen Stoff und deren Vermischung zu getrennten Dingen nur einen logischen Widerspruch ausdrücke. Damit verliert er aber gerade die ›orphisch-pythagoreischen‹ Spuren in Empedokles’ Gedicht aus dem Blick, nämlich die Rhythmik der rhizomata mit ihren hemmenden Zäsuren und hinreißenden Weisen. 10 G. W. F. Hegel, Naturphilosophie, in: Werke Bd. 9, a. a. O., S. 135. 11 Friedrich Hölderlin, Der Tod des Empedokles, in: Dichtung. Schriften. Briefe, Hg. P. Bertaux, Frankfurt a. M. und Hamburg 1957, S. 130. 12 G. W. F. Hegel, Empedokles, in: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Werke Bd. 18, a. a. O., S. 351. 13 Empedokles, Fragment Nr. 7, a. a. O., S. 71. 14 Ebd., Fragment Nr. 11, S. 75.
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Anaxagoras will Empedokles deren Mannigfaltigkeit nicht als unbegrenzt denken. Doch die Menge der Möglichkeiten ihrer Vermischungen und Verbindungen läßt er offen. Jedenfalls seien die Dinge, mit denen allein wir es in unseren Erfahrungen zu tun haben, immer schon verschiedene Mischungen der rhizomata. In diesem Gedanken ihrer ›ewigen Unzerlegbarkeit‹ liegt, daß alle Veränderung nur in ihrer wechselnden Kombination oder Dekombination liegen kann: ›Natur‹ (physis) ist Eine in ihrer uneingeschränkten Präsenz. Es fällt auf, daß Empedokles nicht einfach von ›rhiza‹ spricht, was im Griechischen ebenso ›Trieb, Reis‹ heißen kann wie ›Wurzel‹. Und von daher wurde ja später das Wort ›Rhizom‹ abgeleitet, womit der Teil einer Pflanze gemeint ist, von dem aus sich ebenso Wurzeln wie Triebe bilden. Wir verwenden dagegen umgangssprachlich bis heute ›Wurzel‹ im Sinne von ›verborgener Ursprung‹, als habe darin etwas den ersten und letzten Grund seines Hervorgehens. Wenn jedoch das Altgriechische in diesem Sinne von ›Ursprung‹ spricht, verwendet es Ausdrücke wie arché, aitia, genesis, nicht aber rhiza. Das von Empedokles verwendete Wort ›rhizomata‹, als Pluralbildung von ›rhizoma‹, wurde aus dem Verb ›rhizoo = ich lasse wurzeln‹ gebildet und ist das zugleich passive wie aktive grammatische ›Medium‹, das unsere Sprachen heute nur noch durch Reflexivpronomen ausdrücken können. Das Grundwort wäre demnach ›ich wurzle mich‹ zugleich mit der Mitbedeutung ›ich sprosse mich‹, also ›ich sprosse und wurzle mich‹. Das Gemeinsame von Wurzel und Trieb ist, daß sie von einem ›Knoten‹ aus, dem Rhizom, sich spreizend ranken, wobei Wurzeln auch wieder zu Trieben und umgekehrt werden können. 15 – Wenn der Dichter Empedokles von vier, nicht weiter entmischbaren noch restlos ineinander verschwimmenden und somit qualitativ verschieden bleibenden ›rhizomata‹ (Erde, Wasser, Luft und Feuer) spricht, 16 dann doch von vornherein Vgl. dazu: Gilles Deleuze und Félix Guattari, Rhizom, Übers. D. Berger u. a., Berlin 1976. Sie nennen das Rhizom ein ›Prinzip der Konnexion und Heterogenität‹ : ›Jeder beliebige Punkt eines Rhizoms kann und muß mit jedem anderen verbunden werden. Ganz anders dagegen der Baum oder die Wurzel, wo ein Punkt und eine Ordnung festgesetzt werden‹ (ebd., S. 11). 16 Diese Grenzen der Vermischung verhindern eine entropische Beliebigkeit der Vermischungen. Jedes der rhizoma mag unterschiedliche Aggregatzustände in ihrer Dichte und Lockerheit kennen. Doch ist das ›Eis‹ nicht einfach schon ›Stein‹, das ›flüssige Wasser‹ nicht ›heißes Magma‹, der ›Nebel‹ nicht gleich dem ›staubigen Dunst‹ der Erde usf. 15
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in Hinsicht auf ihre möglichen Vermischungen, die auch aus einer causa finalis heraus, nicht nur aus der causa efficiens, geschehen, in denen sie aber niemals ihre letzten Differenzen preisgeben, um in Entropien zu verschwinden, sowie in Hinsicht auf ihre Entmischungen, die allerdings niemals unumkehrbar zu ihrer absoluten Vereinzelung in demokritisch gedachten ›Atomen‹ führen. Rhizomata fallen trotz ihrer Grundtendenzen zur Vermischung und Entmischung niemals wirklich in Eins zusammen, noch fallen sie in absolut Einzelne auseinander. Will man sich daher die rhizomata im statischen Bild von vier unterschiedenen Qualitäten des ›Fasrigen‹ derart vorstellen, daß Vermischungen als Verwebungen und Entmischungen als Entwebungen geschehen, dann muß doch dieses Erscheinungsbild in ein Bewegungsbild abgewandelt werden. Denn nach Empedokles setzen die Vermischungen der rhizomata, aus denen allererst erfahrbare Dinge hervorgehen, und ihre Entmischungen, durch welche sie erst voneinander unterschieden sind, ›Porosität‹ voraus. Soweit er aber mit Parmenides die Möglichkeit ›leerer Räume‹ ablehnt, durch welche Lücken, Löcher oder eine Art Rohr wie in einem schwammartigen Stoff vorgestellt würden, durch welche andere Stoffe eindringen könnten; soweit kann es konsequenterweise keine vorgebahnten und unbesetzten Wege (poros) geben. Vielmehr haben sich dann die rhizomata und ihre jeweiligen Vermischungen ihre Wege zueinander oder voneinander weg stets erst zu bahnen, indem sie bestimmte Arten ungastlich verdrängen, um sich anderen oder auch der eigenen Art gastfreundlich nähern zu können. – Doch ist gerade diese logische Inkonsequenz im Denken des ›Porösen‹ ein Anzeichen, daß sich die Seinsweisen des Raumes der Erscheinungen nicht gänzlich verdrängen lassen. Sofern rhizomata sich einander zuneigen und verweben, und zwar auch in den sterblichen Lebewesen selbst, 17 niemals aber unumkehrbar Die Eigenschaften der vier rhizomata sind nicht auf Eines reduzierbar noch ineinander beliebig verwandelbar. 17 Von sich selber sagt Empedokles in seinem Buch ›Reinigungen‹, Fragment 158, a. a. O., S. 145: ›Denn ich war schon einmal ein junger Mann, eine junge Frau, ein Gebüsch, ein Vogel und ein feuriger Fisch aus der Salzflut.‹ – Nach Empedokles gibt es kein bloß ›subjektives Erkennen‹ irgendwelcher ›objektiver Sachverhalte‹, die irgendwie einander entgegenstünden und sich aufeinander bezögen; denn es sei das Erdige im Erkennenden, welches die Erde verstehe, das Wässrige in ihm, welches das Wasser, das Luftige die Luft, das Feurige und Lichte das Feuer und das Licht etc. verstehe. Solche Sätze ergäben aber keinen Sinn, wenn rhizomata entweder nur kausal wirkende stoffliche Elemente wären noch nur rein geistige Gestalten. Der Mensch ist daher selbst nur eine
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zu Eins verschmelzen, ist ›Freundschaft‹, philotes, am Werk. Empedokles spricht auch verstärkend von ›Aphrodite‹ oder von ›Harmonia‹, um die Dämonie von Zuneigung und Streit im Gefüge der rhizomata zu verdeutlichen. Solche Verwebungen allerdings würden im Ganzen des Seins, im sphairos 18, immer wieder eine vollkommene kosmische Harmonie erreichen, während dessen sich die unversöhnlichen Gegensätze der rhizomata, wie Empedokles sagt, ›verbergen‹. Im Sphairos können sich demnach vorübergehend alle Wege entwegen, alle Gewebe entweben, indem sie einander ununterscheidbar gleich werden und keine Grenze mehr zeigen. In ihm ist alle Zwietracht, neikos, aufgehoben – doch niemals absolut: Sie ist nur vorübergehend an den Rand des Alls gedrängt. Sie kehrt also immer wieder zurück und entwebt gleichsam und teilt in wirbelnden Kämpfen wieder die rhizomata, die sich so ihren eigenen Weg bahnen: ›In Wut haben sie alle verschiedene Gestalt und sind einander entzweit; in Liebe jedoch kommen sie zusammen und sehnen sich nacheinander. Denn aus jenen ist alles, was war und ist und sein wird, sind Bäume entsprungen und Männer und Frauen und Tiere und Vögel und auch sich im Wasser ernährende Fische und Götter, langlebige, hoch in Ehren stehend. Denn was ist, sind eben jene; indem sie durch einander hindurch gehen, werden sie aber anders im Aussehen: So großen Unterschied bewirkt Mischung im Wechsel.‹ 19 Das Gemeinsame der in Zuneigungen und Abneigungen befindlichen rhizomata liegt demnach in der Geneigtheit überhaupt, nicht also nur, wie Platon im Timaios von den vier Elementen anführt, in ihren mathematisch elementaren Gestalten. Neigungen aber liegen in den Schwingungen, im Rhythmus des Kosmos als sphairos überhaupt, der jedoch nicht homogen und unterschiedslos nur ein einziger sein kann, sondern, entsprechend dem Geviert der rhizomata, aus vier Grundschwingungen besteht, die sich bei aller Vermischung ihre entgegensetzten Geneigtheiten bewahren. Durch dieses Spiel unterschiedlicher Grundschwingungen aber muß Empedokles weder eine Verursachung ›von hinten‹ (causa efficiens) noch einen Sog der Triebkräfte ›von vor-
besonders wirbelnde Mischung der rhizomata in den Schwingungen der Landschaften, nicht aber – bis zu seinem Tode – etwas ›rein Geistiges‹ vergraben in etwas ›rein Materielles‹. 18 Empedokles, Fragment Nr. 34, a. a. O., S. 88. 19 Ebd., Nr. 27, S. 83.
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ne‹ (causa finalis) bemühen, um Tendenzen zu erklären. Ausgehend zwar von einer pflanzlichen Metapher, deutet er doch den Kosmos nicht vom zweckgerichtet Organischen her, ohne deshalb in bloß kausalistisch mechanische Erklärungen zu verfallen. Wohl neigt sein eigenes Denken zur Idee einer geschlossenen, in sich pulsierenden Totalität der Natur als ewiger sphairos. Doch sofern er an einer letzten Eigenständigkeit der vier rhizomata festhält, die nicht ineinander verwandelbar seien, sprengt er doch die eine ›musikalische Grundstimmung‹ im pythagoreisches Denken auf: Es gibt gleichsam vier ›Grundstimmungen‹, die je ihre eigene Art von rhithmos, melos und harmonia in allen Vermischungen bewahren und somit Verschiedenheiten in sich halten, weil die ›Auswege‹ offen sind. Und zeigen sich diese nicht in jeder Landschaft? Entgegen seiner parmenidischen Ansichten spricht Empedokles von einem geheimnisvollen ›Rande‹ des sphairos, an welchen die rhizomata in trennendem, nur noch ›lieblosen‹ Zwist geraten und sich dort fast vollkommen gegeneinander vereinzeln, um weitgehend nur noch mit sich eins zu sein, wodurch sie aber nicht mehr erkennbar seien. Dennoch neigt er selbst dazu, den vierfachen Ursprung dieser bewegten Welt-Landschaft, mit ihren jeweils vielfach erst zu bahnenden und wieder verschwindenden Pfaden, einem einzigen ›beständigen‹ Weg zu unterwerfen, nämlich dem ›Kreislauf der Zeit‹. Die ›unaufhörlich wechselnden Pfade mit ihrem Hin und Her‹ 20 und somit auch die verschiedenen Landschaften, die sie erschließen, indem sie sich entwegen, würden dann allerdings nichts anderes sein als periodische Teile eines umfassenden Rundgangs der rhizomata, nämlich ihr ›Reigentanz‹ (choro). Würden aber ihre nie vorgebahnten Wege in einen festen Gang aufgelöst, der ein methodisch festgelegtes, folgerichtiges und berechenbares ›Schritt für Schritt‹ ermöglichte, bräche die poetisch-musikalische Vision einer bewegten Weltlandschaft, wie Empedokles sie in seinem philosophischen Gedicht auch gegen logisch zweiwertiges Denken vortrug, zusammen. Gegen diesen ›Kreislauf der Zeit‹ sei zum Abschluß die Frage gestellt, ob sich der äußerste Rand des sphairos nicht doch gegen alle Zyklen aufzuspreizen vermag, um die landschaftlichen Horizonte des Fernen und Hohen, Weiten und Tiefen zu eröffnen? – Dann allerdings kehrte, was als bloß ›leerer Raum‹ verworfen worden war, als das Offene und Freie der Landschaften zurück. 20
Empedokles, Über die Natur, Nr. 29, a. a. O., S. 85.
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15. Abbildungsverzeichnis
1.
Römischer Meister um 125 v. Chr., Landschaft zur Odyssee, etwa 60–40 v. Chr., Fresko, Höhe 150 cm (S. 203) 2. Sant’Apollinare in Classe, Mosaik der Apsis, um 500 n. Chr., Ravenna (S. 205) 3. Geburt Christi,Verkündigung an die Hirten, Sanktgaller Sakramentar, 11. J., Stiftsbibliothek Sankt Gallen, ms. 341 (S. 207) 4. Ambrogio Lorenzetti, Leben auf dem Lande, aus: Die Folgen der guten Regierung, Fresko im Palazzo Publico um 1337–1340, Siena (S. 209) 5. Gebrüder Limburg, Der Monat Februar, in den ›Très Riches Heures‹ des Duc de Berry, fol. 2v, um 1410–1416, Deckfarben auf Pergament, 29,4 21,5 cm (Blattformat), 14,4 13,6 cm (Bildformat) (S. 211) 6. Jan van Eyck, Die Taufe Christi im Jordan, fol. 93v des »TurinMailänder Stundenbuches« (Ausschnitt) um 1420/25, Deckfarben auf Pergament, 28,4 20,3 cm (S. 212) 7. Albrecht Dürer, Ansicht eines Felsenschlosses an einem Fluss, 1494, Aquarell und Deckfarben, 15,3 24,9 cm (S. 213) 8. Joachim Patinir, Landschaft mit dem heiligen Hieronymus, um 1515, Öl auf Holz, 74 91 cm (S. 214) 9. Joachim Patinir, Die Marter der Hl. Katharina, vor 1515, Eichenholz, 27 44 cm (S. 216) 10. Meister der weiblichen Halbfiguren, Landschaft mit Szenen aus dem Leben Johannes des Täufers, 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, Holz, 31,5 73 cm (S. 217) 11. Antwerpener Künstler (Matthys Cock?), Landschaft mit der Marter der Hl. Katharina, um 1540, von Pappelholz auf Sperrholz übertragen, 62,2 118,2 cm (S. 218) 12. El Greco, Ansicht von Toledo (Gewitter über Toledo), um 1600, Öl auf Leinwand, 121,3 108,6 cm (S. 219)
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Abbildungsverzeichnis
13. Jan Brueghel d. Ä., Überfall im Wald, um 1605, Öl auf Holz, 41 65,6 cm (S. 220) 14. Adam Elsheimer, Die Flucht nach Ägypten, 1609, Öl auf Kupfer, 31 41 cm (S. 221) 15. Josse de Momper, Gebirgslandschaft mit zerborstenen Bäumen, späte 1620er Jahre, Öl auf Leinwand, 157 213 cm (S. 222) 16. Hercules Segers, Das Tal, 1620er Jahre, Öl auf Leinwand, auf Holz aufgezogen, 29,3 45,7 cm (S. 223) 17. Rembrandt Harmensz van Rijn, Gewitterlandschaft, 1637/38, Öl auf Eichenholz, 52 72 cm (S. 225) 18. Jan van Goyen, Landschaft mit zwei Eichbäumen, 1641, Öl auf Leinwand, 88,5 110,5 cm (S. 226) 19. Philips Koninck, Panorama mit dunkler Wolke, um 1649, Öl auf Leinwand, 86 121 cm (S. 227) 20. Philips Koninck, Landschaftspanorama mit Stadt im Hintergrund, 1655, Öl auf Leinwand, 83,5 127,5 cm (S. 229) 21. Jacob von Ruisdael, Ansicht von Naarden, 1647, Öl auf Holz, 34,8 67 cm (S. 230) 22. Jacob von Ruisdael, Stürmisches Meer, 1650er Jahre, Öl auf Leinwand, 98,1 132 cm (S. 231) 23. Claude Lorrain, Die Verstoßung der Hagar, 1668, Öl auf Leinwand, 106,5 140,3 cm (S. 232) 24. Caspar David Friedrich, Böhmische Landschaft mit den zwei Bäumen, um 1810, Öl auf Leinwand, 70 104,5 cm (S. 235) 25. Caspar David Friedrich, Der Mönch am Meer, 1808–10, Öl auf Leinwand, 171,5 110 cm (S. 236) 26. William Turner, Regen, Dampf, Geschwindigkeit – Die große Eisenbahn nach Westen, 1844, Öl auf Leinwand, 91 122 cm (S. 237) 27. Vincent van Gogh, Die Sternennacht, 1889, Öl auf Leinwand, 73,7 92,1 cm (S. 239) 28. Paul Cézanne, La Montagne Sainte-Victoire, 1904–05, Öl auf Leinwand, 60 72 cm (S. 240) 29. Georges Braque, Landschaft (Das Tal), 1908, Öl auf Leinwand, 81 65 cm (S. 241) 30. Ernst Ludwig Kirchner, Tinzenhorn, Zügenschlucht bei Monstein, 1919/20, Öl auf Leinwand, 119 119 cm (S. 243) 31. Salvador Dalí, Der Geisterkarren, 1933, Öl auf Holz, 19 24,1 cm (S. 244) 350 https://doi.org/10.5771/9783495860595 .
Abbildungsverzeichnis
32. Anselm Kiefer, Märkische Heide, 1974, Öl, Acryl und Schellack auf Rupfen, 118 254 cm (S. 245) Sofern etwaige Inhaber von Rechten an Fotos nicht um ihr Einverständnis gebeten worden sind, bitten wir diese, sich an den Verlag zu wenden.
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