Kunstfreiheit und Zensur in der Bundesrepublik Deutschland 9783110259995, 9783110259988

For the first time, people are questioning the sustainability of a state-centered understanding of censorship that harke

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German Pages 333 [334] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Kunstfreiheit und Zensur in der BundesrepublikEinleitende Thesen zu einem gegenwartsbezogen problematisierten Zensurverständnis
I. Aufsätze
Kontinuität im Neuanfang: Verlagspolitik in der Gründungsphase der Bundesrepublik am Beispiel der Britischen Zone
Postzensur und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik
Erotik und Kommunismus im Visier: Der Staat gegen Bertolt Brecht und gegen die ‚Schundliteratur‘
Das Ende des ‚Index der verbotenen Bücher‘
Kunstfreiheit = Impotenz der Kunst?
Schriftsteller als Hüter der MeinungsfreiheitZensurdiskurse in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich seit den 1970er Jahren
Dort die Genossen, hier die Quote? Jurek Becker zu Zensur in Ost und West
Autorinszenierung und Zensurprovokation
Medienfreiheit, Persönlichkeitsschutz, Zensur und demokratische Öffentlichkeit
Literaturkritik und informelle Zensur
Die Debatte um Bourdieus Kritik an der Qualität des Fernsehens, die informelle Zensur und die Ökonomie der Medienkultur
Das zwangsfinanzierte ‚Nullmedium‘: Zensur, Literatur, Markt und das öffentlich-rechtliche Fernsehen
II. Zeitzeugenschaft
Zur Düsseldorfer Bücherverbrennung
Ersuchen eines Landgerichtsrats an das Erzbistum
Günter Grass und die Zensur
Trouble und der Versuch, Fassbinders Stück Der Müll, die Stadt und der Tod aufzuführen
Der Jude von Frankfurt (eine Reportage)
Der deutsche Bilderstreit – zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung
Kunstfreiheit als Phrase: Literaturverbote in der Bundesrepublik Deutschland
Über deutsche Gegenwart schreiben? Nicht ohne meinen Anwalt! Zu einigen Folgen des Esra-Urteils
Offener Brief an Angela Merkel: Deutschland ist ein Überwachungsstaat32 Schriftsteller fordern von der Bundeskanzlerin Aufklärung in der Prism-Affäre
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Kunstfreiheit und Zensur in der Bundesrepublik Deutschland
 9783110259995, 9783110259988

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Kunstfreiheit und Zensur in der Bundesrepublik Deutschland

Kunstfreiheit und Zensur in der Bundesrepublik Deutschland Herausgegeben von York-Gothart Mix

ISBN 978-3-11-025998-8 e-ISBN 978-3-11-025999-5 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck: CPI buch bücher.de GmbH, Birkach ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Danksagung Der vorliegende Band versammelt die Beiträge der 2010 im Deutschen Literaturarchiv Marbach realisierten Tagung ‚Kunstfreiheit und Zensur in der Bundesrepublik Deutschland‘. Zusätzlich aufgenommen wurden exemplarische Quellen zur Zensurgeschichte und die Beiträge von Stephan Buchloh sowie von Hubert Wolf und Holger Arning. Der Herausgeber dankt Ulrich Raulff und Marcel Lepper vom Deutschen Literaturarchiv, Carolina Kapraun und der Fritz Thyssen Stiftung für die engagierte Unterstützung dieses Unternehmens. Marburg, im Juli 2013

York-Gothart Mix

Inhalt Danksagung

V

York-Gothart Mix Kunstfreiheit und Zensur in der Bundesrepublik Einleitende Thesen zu einem gegenwartsbezogen problematisierten Zensurverständnis 1

I Aufsätze Judith Joos Kontinuität im Neuanfang: Verlagspolitik in der Gründungsphase der Bundesrepublik am Beispiel der Britischen Zone 19 Josef Foschepoth Postzensur und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik

43

Stephan Buchloh Erotik und Kommunismus im Visier: Der Staat gegen Bertolt Brecht und gegen die ‚Schundliteratur‘ 67 Hubert Wolf und Holger Arning Das Ende des ‚Index der verbotenen Bücher‘ Peter Jelavich Kunstfreiheit = Impotenz der Kunst?

96

119

Ernst Fischer Schriftsteller als Hüter der Meinungsfreiheit Zensurdiskurse in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich seit den 1970er Jahren 132 Markus Joch Dort die Genossen, hier die Quote? Jurek Becker zu Zensur in Ost und West Friederike Reents Autorinszenierung und Zensurprovokation

150

165

VIII

Inhalt

Christian Eichner Medienfreiheit, Persönlichkeitsschutz, Zensur und demokratische Öffentlichkeit 187 Thomas Anz Literaturkritik und informelle Zensur

201

Joseph Jurt Die Debatte um Bourdieus Kritik an der Qualität des Fernsehens, die informelle Zensur und die Ökonomie der Medienkultur 212 York-Gothart Mix Das zwangsfinanzierte ‚Nullmedium‘: Zensur, Literatur, Markt und das öffentlich-rechtliche Fernsehen 228

II Zeitzeugenschaft Otto Dibelius Zur Düsseldorfer Bücherverbrennung

247

Schreiben an das Ordinariat des Erzbistums München-Freising Ersuchen eines Landgerichtsrats an das Erzbistum 249 Helmut Frielinghaus Günter Grass und die Zensur

250

Günter Rühle Trouble und der Versuch, Fassbinders Stück Der Müll, die Stadt und der Tod aufzuführen 261 Ulrich Greiner Der Jude von Frankfurt (eine Reportage)

269

Eduard Beaucamp Der deutsche Bilderstreit – zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung Georg Oswald Kunstfreiheit als Phrase: Literaturverbote in der Bundesrepublik Deutschland 296

279

Inhalt

IX

Uwe Wittstock Über deutsche Gegenwart schreiben? Nicht ohne meinen Anwalt! Zu einigen Folgen des Esra-Urteils 305 Juli Zeh u.a. Offener Brief an Angela Merkel: Deutschland ist ein Überwachungsstaat Register Personen 313 Verlage 321 Fernseh- und Rundfunksender, Kabel- und Fernsehkanäle Digitale Medien, Anbieter und Programme, Internethandel Orte 323

322 322

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Kunstfreiheit und Zensur in der Bundesrepublik Einleitende Thesen zu einem gegenwartsbezogen problematisierten Zensurverständnis Die Opinio communis versteht unter Zensur zunächst einmal die Überprüfung von Texten oder Bildern nach staatlich oder kirchlich verfügten Normen, um gegebenenfalls eine Modifizierung des Monierten oder ein Verbot zu erwirken. Literaturverbote, die wie die Indizierung von Klaus Manns Mephisto zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes erwirkt werden, scheinen auf den ersten Blick nicht dieser Kategorie anzugehören und werden deshalb häufiger nicht in diesem Kontext angeführt. Diese Einschätzung erweist sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive als genauso wenig schlüssig wie eine allein auf staatliches oder kirchliches Handeln fixierte Zensurdefinition. Grundsätzlich ist zu fragen, ob ein auf die Tradition des Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts1 rekurrierendes, staatsfixiertes Zensurverständnis angesichts diskursbestimmender Aktivitäten weniger Globalplayer im World Wide Web,2 supranational oder lokal agierender

1 Vgl. Wolfram Siemann: „Zensur im Übergang zur Moderne: Die Bedeutung des ‚langen 19. Jahrhunderts‘“. In: Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte-Theorie-Praxis. Hg. v. Wilhelm Haefs u. York-Gothart Mix. Göttingen 2007, S. 357–387, hier S. 362f., 377. 2 Vgl. Götz Hamann u. Marcus Rohwetter: „Vier Sheriffs zensieren die Welt. Wie Apple, Facebook, Amazon und Google dem Internet ihre Gesetze aufzwingen“. In: Die Zeit v. 2.8.2012, S. 19–20. – Martin U. Müller u. a.: „Der Türsteher“. In: Der Spiegel 43 (2012), S. 86–94, hier S. 87, 93: „Was relevant ist und was die beste Antwort, das entscheidet einzig und allein die Firma. […] Das von Google selbst verbreitete Bild einer neutralen und objektiven Suchinstanz ist dabei schon deshalb falsch, weil der Konzern seine Trefferlisten möglichst gewinnbringend vermarkten will, das ist der Kern seines Geschäftsmodells.“ „Auf das Vorhaben Frankreichs, von Suchmaschinen ähnlich dem auch in Deutschland geplanten Leistungsschutzrecht eine Abgabe zu verlangen, reagierte die Firma mit einer eindeutigen Drohung. Sollte das Gesetz kommen, werde man französische Medien künftig einfach nicht mehr listen.“ – Bernd Graff: „McCarthys Werk, Apples Beitrag“. In: Süddeutsche Zeitung v. 24./25.11.2012, S. 13. (Zur Zensurierung des dänischen Journalisten Peter Øvig Knudsen durch Apple.) – Thomas R. Köhler: Die Internetfalle. Google+, Facebook, Staatstrojaner – Was Sie für den sicheren Umgang mit dem Netz wissen müssen. Frankfurt a. M. 2012, S. 104–176. – Uwe Jochum: „Vernichten durch Verwalten. Der bibliothekarische Umgang mit Büchern“. In: Verbergen – Überschreiben – Zerreißen. Formen der Bücherzerstörung in Literatur, Kunst und Religion. Hg. v. Mona Körte u. Cornelia Ortlieb. Berlin 2007, S. 106–119, hier S. 117ff. – Miriam Meckel: „Links. Rechts. Halt. Zurück. Im Netz gibt es alles für jeden – immer und überall. Und vor  



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Pressuregroups3 und Religionsgemeinschaften,4 massiver Konzentrationsprozesse im Buch- und Printmedienbereich oder der quotengerechten Anpassung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens an das Privat-TV5 durch Gesetz, Staatsvertrag sowie Parteienproporz qualifizierte, eher abhängige als unabhängige Aufsichtsgremien6 heute noch tragfähig ist. Nicht nur für Thomas Bauckhage, der mit seinem Social Media-Startup www.moviepilot.de zwei Millionen Filmliebhaber erreicht, steht fest, wie einschränkend sich das Diktat der Quote auswirkt: Die Vielfalt der Produktionen „nimmt rapide ab“, die „Rendite-Überlegungen der Finanzabteilungen dominieren zunehmend den kreativen Prozess“ und unter den wenigen erfolgreichen Filmen dominieren „Sequels, Prequels oder Bestseller-Verfilmungen“.7

allem gibt es Transparenz, Grenzenlosigkeit und Freiheit. So denkt man sich das. Bis uns die Maschine unsere Grenzen aufzeigt“. In: Süddeutsche Zeitung v. 3./4.11.2012, S. V 1. – Philipp Löpfe: „Die schamlose Elite“. In: Tages-Anzeiger v. 27.8.2012, S. 9. – Constanze Kurz: „Wer liest, der wird gelesen“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23.11.2012, S. 33: „Die Daten geben – bei korrekter Auswertung – weit mehr her als die Analyse der Gewohnheiten des Einzelnen. Wenn ein Leser über Dutzende Bücher hinweg beobachtet wird, lassen sich sein Geschmack und seine Präferenzen gut kategorisieren, aber auch vorhersagen.“ – Alexandra Borchardt: „Die Mär vom freien Netz“. In: Süddeutsche Zeitung v. 3.12.2012, S. 2. 3 Vgl. Frances Stonor Saunders: Who paid the Piper? The CIA and the Cultural Cold War. London 1999, S. 329ff. – Stephan Buchloh: ‚Pervers, jugendgefährdend, staatsfeindlich‘. Zensur in der Ära Adenauer als Spiegel des gesellschaftlichen Klimas. Frankfurt a. M., New York 2002, S. 287–290. – „Eine Erklärung von 15 Bundestags- und 30 Landtagsabgeordneten“. In: Kunst oder Pornographie? Der Prozeß Grass gegen Ziesel. Eine Dokumentation. München 21969, S. 66. – Anita Blasberg u. Kerstin Kohlenberg: „Die Klimakrieger. Wie von der Industrie bezahlte PR-Manager der Welt seit Jahren einreden, die Erderwärmung finde nicht statt. Chronologie einer organisierten Lüge“. In: Die Zeit v. 22.11.2012, S. 17–19, hier S. 17: „Die Frage ist: Kann einer Demokratie die Wahrheit abhandenkommen? Kann es sein, dass die Antwort auf eine Menschheitsfrage käuflich ist?“. 4 Vgl. u. a. Hubert Wolf: Index. Der Vatikan und die verbotenen Bücher. München 2006. – „‚An der Front des Bilderweltbürgerkrieges. Wie das antiislamistische Hetz-Video wirkt.‘ Interview von Kia Vahland mit Horst Bredekamp“. In: Süddeutsche Zeitung v. 19.9.2012, S. 11. – Sabine Leucht: „Kühl und beherrscht. ‚Der Müll, die Stadt und der Tod‘ in einer Prager Inszenierung beim Fassbinder-Festival“. In: Süddeutsche Zeitung v. 19.3.2012, S. R 9. 5 Vgl. Claudia Tieschky: „Ratlos in der Zirkuskuppel. Wenn die ARD Geld ausgibt, dann investiert sie es besonders gern in gekauftes Profil statt in eigene Originalität – jetzt sind die Grenzen der Einfallslosigkeit erreicht“. In: Süddeutsche Zeitung v. 20.4.2012, S. 2. 6 Zur unmittelbaren Einflussnahme der Politik auf das öffentlich-rechtliche Fernsehen vgl. u. a. Detlef Esslinger: „Anruf genügt“. In: Süddeutsche Zeitung v. 29.10.2012, S. 4. – Angesichts offenkundiger Einflussnahmen seitens der Politik forderte der ehemalige Chefredakteur des ZDF, Nikolaus Brender, in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin Angela Merkel im Oktober 2012 den ‚Rückzug aller Politiker aus den öffentlich-rechtlichen Aufsichtsgremien‘. 7 Tobias Bauckhage: „Ausbruch aus dem Teufelskreis“. In: Süddeutsche Zeitung v. 4.12.2012, S. 13.  





Kunstfreiheit und Zensur in der Bundesrepublik

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Zensur als Reduktion von Komplexität Die in vielen Verfassungen – so auch im Grundgesetz – verankerte Ächtung der Zensur hat in der Regel mit der Verfassungswirklichkeit nur bedingt etwas gemein. Zensur reglementiert soziales Verhalten nach der Maßgabe einer soziokulturellen und politischen Ordnung, einer postulierten Moral, der dominanten Religion, einer implantierten Ideologie oder einer zum monokratischen Dogma erhobenen Ökonomie. Ihr Augenmerk richtet sie auf die vermutete Wirksamkeit von Textzeugnissen oder Ideologemen, ihr Ziel ist die Konformität eines für verbindlich erklärten Kulturhorizonts – ergo rückt auch die rigorose Verpflichtung staatlich protegierter Leitmedien (ARD, ZDF) auf einen marktkonformen Mainstream in den Fokus.8 Zensur ergreift stets Partei und setzt an die Stelle einer komplexen Wirklichkeit die Reduktion von Komplexität. Seit jeher kommt den Instanzen der Zensur, ganz gleich ob es sich um aktive Lobbyisten, um staatliche oder kirchliche Eliten9 handelt, auch der Einfluss zu, die angestrebte Konformität durch Privilegierung oder Verhinderung zu etablieren. Zensur ist auch in der Bundesrepublik ein viel diskutiertes Thema künstlerischer, kulturwissenschaftlicher und historischer Reflexion,10 Text- und Bilderverbote sind umgangen oder

8 Hier offenbart sich die eklatante, medientypische Differenz zwischen der Mischkalkulation des „über sein unternehmerisches Selbstverständnis hinaus von seiner Kulturmission“ (Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. München 1991, S. 279) überzeugten Literaturund Kulturverlegers und der durch kostenintensives Entertainment, Quote und Werbeeinnahmen bestimmten Finanzierung des Fernsehens. Die selbstgewählte Fixierung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens auf diese von einer Ökonomie trendiger Aufmerksamkeit bestimmten Marktdynamik garantiert indes nicht die selbstpropagierte Unabhängigkeit, sondern die zunehmende Marktabhängigkeit sowie die systematische Ausgrenzung des nicht bildungsfernen Publikums und ambitionierter Produktionen. Kultur wird so nicht zur intellektuellen, sondern vor allem zur numerischen Frage, der Auftrag einer kulturellen Grundversorgung wird ignoriert oder in das Nischenfernsehen abgedrängt. 9 Vgl. Stefan Mayr: „Sündhafter Erfolg“. In: Süddeutsche Zeitung v. 14./15.7.2012, S. R 19. 10 Vgl. u. a. Eberhard Spangenberg: Karriere eines Romans. Mephisto, Klaus Mann und Gustav Gründgens. Ein dokumentarischer Bericht aus Deutschland und dem Exil 1925–1981. München 1982. – Michael Kienzle: „Logophobie. Zensur und Selbstzensur in der BRD. Ein geschichtlicher Abriß“. In: Zensur in der BRD. Fakten und Analysen. Hg. v. Michael Kienzle u. Dirk Mende. München, Wien 1980, S. 15–46. – Bodo Plachta: „‚Zahnlücken der Zeit‘. Zur Sichtbarkeit von Zensur“. In: Zensur im 19. Jahrhundert. Das literarische Leben aus Sicht seiner Überwacher. Hg. v. Bernd Kortländer u. Enno Stahl. Bielefeld 2012, S. 45–77, hier S. 71ff. (Friedrich Christian Delius; Klaus Mann, Maxim Biller). – In dem von Beate Müller herausgegebenen Sammelband Zensur im modernen deutschen Kulturraum (Tübingen 2003) ist die Zensur in der Bundesrepublik erstaunlicherweise kein Thema.  

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lautstark gefordert worden, wenn es um die Bekämpfung missliebiger und konkurrierender Ideen ging. In diesem Kontext spielt auch die über jahrzehntelang verfassungswidrige, aber von staatlichen Stellen geduldete und betriebene Missachtung des Postgeheimnisses11 eine bedeutende Rolle. Die jüngst durch den früheren Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden bekannt gewordenen Abhöraktionen sind eine effektivere Fortsetzung früherer Praxis. Das „im Grundgesetz 10 enthaltene Post- und Fernmeldegeheimnis“ gibt es, de facto, so Joseph Foschepoth, „nicht mehr“.12 Im Visier ist mittlerweile fast jede „normale Sprachverwendung“, wenn „Begriffe wie ‚U-Bahn‘, ‚krank‘, ‚elektrisch‘, ‚Schwein‘, ‚Schnee‘, ‚Blitz‘, ‚Heilung‘, ‚Grenze‘, ‚Welle‘, ‚Wolke‘, ‚Symptome‘, ‚Grippe‘, ‚Antwort‘, ‚Telekommunikation‘, ‚Rotes Kreuz‘, die Nennung Mexikos, der Stadt Tuscon in Arizona“,13 zahlreiche Abkürzungen, Angaben und Kommentare Verdacht erregen. Vergegenwärtigt man sich die Tatsache, dass nur wenige Tausend Wörter zur Alltagskommunikation benutzt werden, so macht dieser Anteil von insgesamt 377 als suspekt erachteter Begriffe einen erklecklichen Prozentsatz aus. Historisch neu ist in diesem Kontext aber vor allem die Kollusion zwischen drei, vier weltweit agierenden Big-Data-Marktführern und

11 Vgl. Josef Foschepoth: Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik. Göttingen 2012, S. 7: „Der Umfang der westdeutschen Postüberwachung war immens. Von den Anfangsjahren der Bundesrepublik bis zum Beginn der Siebzigerjahre wurden nachweislich über 100 Millionen Postsendungen aus der DDR beschlagnahmt, geöffnet und zum großen Teil vernichtet. Hinzu kam eine nicht näher quantifizierbare Zahl von Postsendungen, die in der Bundesrepublik aufgegeben und ebenfalls aus dem Verkehr gezogen wurde. Ihre Zahl kann aufgrund einzelner Quellenangaben nur geschätzt werden. Sie dürfte um die 100000 Postsendungen pro Jahr, mal mehr, mal weniger, betragen haben.“ – Zur aktuellen Situation vgl. Franziska Augstein: „Die nie ganz souveräne Republik“. In: Süddeutsche Zeitung v. 13.11.2012, S. 15: „Der Verzicht auf Souveränität, den Adenauer begann und der 1968 mit dem G-10-Gesetz fortgesetzt wurde, ist in einem geheimen Dokument festgeschrieben, das Foschepoth einsehen konnte: Die Rechte der Alliierten, die Deutschen auszuforschen, sind durch das 1959 abgeschlossene Zusatzabkommen zum Nato-Truppenstatut verbürgt, das immer noch in Kraft ist. Bis heute ist die Bundesrepublik nicht ganz souverän.“ – Franziska Augstein: „Das ausspionierte Grundrecht“. In: Süddeutsche Zeitung v. 14.11.2012, S. 4: „Die Bundesrepublik ist ein Überwachungsstaat. Das Grundrecht des Post- und Fernmeldegeheimnisses kann man mit den Worten des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Jürgen Kühling ‚als Totalverlust abschreiben‘.“ – Heribert Prantl: „Das eingesaugte Grundrecht. Filtern, rastern, speichern: Warum E-Mails und sonstige Telekommunikationen keinen Schutz mehr haben“. In: Süddeutsche Zeitung v. 27.2.2012, S. 4. 12 Oliver das Gupta: „‚Viel Heuchelei im Spiel‘. Historiker Foschepoth kritisiert Dulden der USAbhöraktionen.“ In: Süddeutsche Zeitung v. 10.7.2013, S. 6. 13 Bernd Graff: „Nach gefährlichen Wörtern. Mit den 377 in den Wortwolken auf dieser Seite durchsuchen US-Behörden das Netz. Natürlich auch ‚Terror‘ und ‚Angriff‘, aber warum nach ‚Schwein‘ und ‚Schnee‘?“ In: Süddeutsche Zeitung v. 13./14.7.2013, S. 16.

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staatlichen Stellen, deren Aktivitäten einer kritischen Öffentlichkeit verborgen bleiben, unter dem sich propagandistisch blähenden Banner gesellschaftlicher und individueller Freiheit. Die Transformation einer Grundwerten verpflichteten Marktwirtschaft zur digital überwachten Marktgesellschaft zum Nutzen weniger ist hier evident. Letztlich ist „der gläserne Bürger in einem intransparenten Staat entstanden.“14

Varianten der Zensur Unter der „Berücksichtigung temporärer Merkmale“15 lässt sich der zensorische Eingriff als Vorzensur, Nachzensur und Rezensur oder auch als Präventiv- oder Prohibitivzensur charakterisieren. Unter Rezensur versteht man die „wiederholte Zensur“16 bereits erschienenen Schrifttums, die Präventivzensur zielt als umfassendste Form der Kontrolle auf eine Überwachung vor der Verbreitung eines Textes. Diese für totalitäre Staaten symptomatische Variante17 ist in der Bundesrepublik verboten und existiert de facto nicht. Die Selbstzensur als subtilste Variante kann als Unterdrückung eines eigenen Werkes oder als Korrektur einzelner Passagen definiert werden, die „von einem Autor entgegen seiner ursprünglichen Intention im Wissen der Geltung einer ihm fremden Norm (und im Bewusstsein der Sanktion im Falle ihrer Nichtbeachtung)“18 vorgenommen wird. Für die Selbstzensur, die nicht mit der Selbstkritik eines Autors verwechselt werden sollte, ist bedeutsam, dass die Veränderung des Textes „von seiten der normmächtigen Instanz noch nicht erfolgt“ ist, das Werk „aber in der Vorstellung der Kontrolle durch diese Instanz“19 umgeschrieben wird. Schadenersatzforderungen in ungewöhnlicher Höhe oder Unterlassungsansprüche gegen die Veröffentlichung, Verbreitung und Bewerbung eines Buches wie im Fall Esra sind als Beweggründe der Selbstzensur ebenso denkbar wie wirtschaftlicher

14 Johannes Boie: „Nach allem. Dass so gut wie alles an Daten von den Internetriesen und den Geheimdiensten gesammelt wird, hat man schon vor Edward Snowden gewusst. Aber nun werden die Nutzer selbst sich allmählich der Komplexität des Netzes bewusst.“ In: Süddeutsche Zeitung v. 13./14.7.2013, S. 17. 15 Ulla Otto: Die literarische Zensur als Problem der Soziologie der Politik. Stuttgart 1968, S. 115. 16 Ebd. 17 Vgl. u. a. York-Gothart Mix: „DDR-Literatur und Zensur in der Honecker-Ära (1971–1989)“. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) 23 (1998) H. 2, S. 156–198. 18 Klaus Kanzog: „Literarische Zensur“. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hg. v. Werner Kohlschmidt u. Wolfgang Mohr, Bd. IV. Berlin, New York 21984, S. 998–1049, hier S. 1001. 19 Ebd.  

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Druck20 oder die Androhung sozialen Zwangs. De facto nachweisbar ist ein selbstzensorischer Akt nur durch explizite Äußerungen eines Autors, die über die Genese des betreffenden Werkes Aufschluss geben. Denkbar ist allerdings auch, dass die restriktiven Normen „schon so weit internalisiert“ worden sind, dass keine „Variantenspuren“21 auffindbar sind oder entsprechende Hinweise vom Autor selbst vernichtet wurden. Im Gegensatz zur formellen Zensur, die juristisch legitimiert und durch administrative Zwangshandlungen durchgesetzt wird, basiert die informelle Zensur auf Vorbehalten, die „mit Hilfe psychologischen, ökonomischen, politischen oder sonstigen sozialen Druckes“22 geltend

20 Zur informellen Zensur aufgrund wirtschaftlichen Drucks im Printmedienbereich vgl. Bettina Wündrich: „Do. Don’t. Doof“. In: Süddeutsche Zeitung v. 24./25.11.2012, S. V 1. Wündrich war stellvertretende Chefredakteurin von Elle sowie Gründerin und Chefredakteurin von Glamour und Vogue Business. Zur Heftkonzeption schreibt sie: „Da werden Hefte mithilfe der Marktforschung nach einem genau berechneten Baukastenprinzip zusammengesetzt. Jede einzelne Seite eines jeden Heftes wird bis hin zur Bildunterschrift mit den Verkaufszahlen korreliert, die Ergebnisse dann schnellstmöglich in der laufenden Heftproduktion umgesetzt.“ 21 Kanzog: Literarische Zensur, S. 1002. 22 Otto: Die literarische Zensur, S. 119. – Als besonders krasser Fall informeller Zensur hat die 1999 in einer ungeeigneten, renovierungsbedürftigen Mehrzweckhalle in Weimar als „Schmähkritik“ organisierte diffamierende Parallelisierung von NS-Ästhetik und in der DDR entstandener Kunst Skandal gemacht. Ähnlich wie in der 1937 in München gezeigten Schau Entartete Kunst realisierte der Kurator Achim Preiß in Weimar eine durch Bildformate bestimmte, enge und summarische Hängung auf grauer Müllbeutelfolie, um in einer „Zusammenschau“ die beiden „Komplexe der Antimoderne, die Kunst des Dritten Reiches und die Kunst der DDR“ (Achim Preiß: „Die Debatte um die Weimarer Ausstellung ‚Aufstieg und Fall der Moderne‘“. In: Der Weimarer Bilderstreit. Szenen einer Ausstellung. Eine Dokumentation. Hg. v. d. Kunstsammlungen zu Weimar. Weimar 2000, S. 9–26, hier S. 9) zusammenzubringen und suggestiv zu entsorgen. Auf die Ähnlichkeiten zwischen den 1937 und 1999 realisierten Ausstellungskonzeptionen wies Eduard Beaucamp am 15.5.1999 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hin. (Vgl. Preiß: Debatte um die Weimarer Ausstellung, S. 9–26, hier Abb. S. 23. – Hanns Wershoven: „Chronik“. In: Der Weimarer Bilderstreit. Hg. v. d. Kunstsammlungen zu Weimar, S. 27–35, hier S. 27. – MarioAndreas von Lüttichau: „Dokumentation“. In: Die ‚Kunststadt‘ München 1937. Nationalsozialismus und ‚Entartete Kunst‘. Hg. v. Peter-Klaus Schuster. München 21988, Abb. S. 143, 145, 155, 167). Zu den erklärten „Absichten“ von Preiß gehörte es, die „Kunst des 20. Jahrhunderts“ „als Krieg [!] zwischen einem konservativen, antimodernen, populären und einem avantgardistischen, modernen, institutionellen Selbstverständnis“ (Preiß: Debatte um die Weimarer Ausstellung, S. 9–26, hier S. 10f.) zu inszenieren. Vgl. dazu Eduard Beaucamp: „Weimar, die Kunst und der Schrott. Wie man Ästhetik nicht entsorgen darf: ‚Aufstieg und Fall der Moderne‘ in drei Akten“. In: Der Weimarer Bilderstreit. Hg. v. d. Kunstsammlungen zu Weimar, S. 165–167, hier S. 166: „Eine infame Regie packt die dressierte NS-Kunst mit jedweder Malerei aus der DDR zusammen. Sie suggeriert damit Verwandtschaften und bezichtigt beide Lager der gleichen Modernitätsfeindschaft. […] Die NS-Malerei ist hohl und tranquillierend, die DDR Kunst bizarr, unruhig, exaltiert bis zur Hysterie, vielfältig und zerrissen, kurz: weit entfernt vom Einheitsstil.“

Kunstfreiheit und Zensur in der Bundesrepublik

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gemacht werden. Diese Form der Zensur spielt gegenwärtig in der Bundesrepublik die größte Rolle.23

„Die Konfrontation dient dem demagogischen Effekt. Gegenüber einer im Parterre betulich behandelten NS-Malerei wird mit den Ostdeutschen rüder und verächtlicher umgegangen. […] Die schiere Masse der DDR-Bilder soll Abscheu erregen, die verwirbelten Sujets lächerlich gemacht werden. Diese Praxis erinnert an die Horrortechnik, mit der die Nazis die ‚Entarteten‘Ausstellung inszenierten.“ Das Verdikt von Preiß ist allerdings charakteristisch für die Sicht einer Mehrheit westdeutscher Museumsdirektoren und Kuratoren, die ungeachtet des späten Revisionsversuches Abschied von Ikarus. Bildwelten in der DDR im Neuen Museum Weimar nach wie vor jedwede vor 1989 entstandene Kunst aus dem Osten ausgrenzen. (Vgl. Jens Bisky: „Ikarus stellt die Flügel in die Ecke. Dem kleinen Land Großes abgewinnen: Das Neue Museum Weimar zeigt ‚Bildwelten in der DDR‘. Ein überraschendes und befreiendes Schlusswort zum deutsch-deutschen Bilderstreit“. In: Süddeutsche Zeitung v. 20./21.10.2012, S. 17.) – Ob dagegen die jahrzehntelang als Inbegriff gesellschaftlicher Freiheit gefeierten Documenta-Ausstellungen tatsächlich als Ausdruck künstlerischer Freiheit anzusehen waren, bezweifelten auch bundesrepublikanische Kritiker spätestens seit der zweiten Schau 1959: „Gegenständliche Positionen fehlten fast völlig. Der dogmatischen Auswahl widersprachen zwar auch zahlreiche BRD-Journalisten, wie etwa Susanne Carwin in der Deutschen Zeitung und Wirtschaftszeitung: ‚Offenbar ging es von Anfang an um eine These, die bewiesen werden sollte. Könnte aus der Freiheit, die wir allzu konformistisch handhaben, nicht schon eine Art Diktatur geworden sein, die zu ähnlicher Zweckentfremdung im Künstlerischen zu führen droht wie etwa das Diktat des ‚sozialistischen Realismus im feindlichen Lager‘?‘“ (Zitiert nach: Laura Weissmüller: „‚Je schreckensvoller die Welt, desto abstrakter die Kunst‘. In den Schützengräben ideologischer Kunstkritik: Wie die ersten Documenta-Ausstellungen in Zeiten des Kalten Krieges von Ost und West bewertet wurden“. In: Süddeutsche Zeitung v. 6./7.6.2012, S. 11). – Hanno Rauterberg: „‚Geht ja gar nicht!‘ Auf der Suche nach der Kreativität: Wie eine Künstler-Casting-Show auf Arte den selbstgefälligen Kunstbetrieb aufmischt“. In: Die Zeit v. 22.11.2012, S. 63: „Von dem einstigen Aufbegehren gegen die Übermacht der Tradition, das lange berechtigt war, ist nur noch reflexhafte Abwehr geblieben: gegen jede Art von Handwerklichkeit, jede Art von Rückbesinnung und Neubewertung, von Auftragskunst. Viele Künstler gerieren sich als autonom, einzig ihrem ästhetischen Gewissen verpflichtet – und sind doch bei näherer Betrachtung überaus abhängig. Große Teile der Gegenwartskunst werden im Auftrag produziert, von Biennalen, Sammlern, Galerien. Es gibt Themenvorgaben, es gibt ortsspezifische Bedingungen, die berücksichtigt werden müssen. Und es gibt, natürlich, dezidierte Geschmacksvorstellungen, denen ein Künstler, der erfolgreich sein will, genügen muss. Allerdings werden diese Vorstellungen nur selten formuliert. […] Denn vor allem präsentiert Arte den seltsamen Kult um das selbstbestimmte, selbstoptimierte, sich aus sich selbst schöpfende Ich der Kreativwirtschaft. Dieses Ich lebt in einer Gesellschaft, die nichts so sehr preist wie die Konvention des Unkonventionellen. Und sie erblickt im Kunstbetrieb ihr Ebenbild: auf ähnliche Weise undurchlässig und machtverkrustet, bestimmt von ängstlich-freier Unfreiheit.“ 23 Vgl. Bodo Plachta: Zensur. Stuttgart 2006, S. 218.

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Persönlichkeitsrecht und Zensur Das Verbot des Romans Esra ist kein Fall staatlich-exekutiver Zensur im formellen Sinne, die gemäß Art. 5 Absatz 1 Satz 3 Grundgesetz verfassungsmäßig verboten ist. Dennoch fügt sich auch ein von der Judikative ausgesprochenes Bücherverbot mit definierbaren Modifikationen in die Phänomenologie der Zensur ein: Auf Initiative von Privatpersonen entscheidet ein staatliches Gericht unter Abwägung der betroffenen Verfassungsgüter, dass im konkreten Fall die Kunstfreiheit von Autor und Verlag hinter das allgemeine Persönlichkeitsrecht der beiden Klägerinnen zurückzutreten hat. In diese Entscheidung fließen für die Phänomenologie der Zensur bedeutsame Erwägungen ein: Es wird über die Fragen ‚Was ist Kunst?‘ und ‚Was ist Literatur‘ ebenso geurteilt wie über das Problem, wie Literatur im außerliterarischen Bereich wirkt und bis zu welchem Grad „ein Kunstwerk auch auf der sozialen Ebene Wirkungen entfalten“24 darf. Sind – und wenn ja welche – Grenzen für die Reportage, Personalsatire, den Schlüsselroman oder das Pamphlet denkbar?25

Zensur und soziokultureller Normenhorizont Zensorische Maßnahmen können nicht allein durch einzelne Textaussagen, sondern nur in einer „historisch fixierbaren kollektiven Ordnung“26 und im Kontext ihrer medialen Vermittlung konkretisiert werden. Jedes Literaturverbot zielt auf die „durch die Literaturproduktion erschlossenen Möglichkeiten an literari24 BVerfGE 30, S. 173, 193 (‚Mephisto‘. Zitiert nach: Christian Eichner u. York-Gothart Mix: „Ein Fehlurteil als Maßstab? Zu Maxim Billers ‚Esra‘, Klaus Manns ‚Mephisto‘ und dem Problem der Kunstfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland“. In: IASL 32 (2007) H. 2, S. 183–227, hier S. 195.). 25 Vgl. Eichner, Mix: Ein Fehlurteil, S. 220ff. – In welchem Maße das Esra-Verbot des Bundesverfassungsgerichts vom 13.6.2007 Autoren und Journalisten mit der Notwendigkeit einer der Selbst- und Vorzensur nicht unähnlichen Praxis konfrontiert, belegen unmissverständliche Paratexte: „Schon vor Erscheinen dieses Artikels gab es juristische Auseinandersetzungen zwischen einem Protagonisten des beschriebenen Gerichtsstreits und dem SZ-Magazin. Im Kern ging es dabei um Persönlichkeitsrechte […]. Um diese zu wahren, wurden Namen, Wohnort und Berufe der wichtigsten Beteiligten sowie wesentliche Daten unkenntlich gemacht.“ (Rainer Stadler: „Sein Wille geschehe“. In: Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 44 v. 2.11.2012, S. 44–59, hier S. 46.). 26 Reinhard Aulich: „Elemente einer funktionalen Differenzierung der literarischen Zensur. Überlegungen zu Form und Wirksamkeit von Zensur als einer intentional adäquaten Reaktion gegenüber literarischer Kommunikation“. In: ‚Unmoralisch an sich…‘ Zensur im 18. Und 19. Jahrhundert. Hg. v. Herbert G. Göpfert u. Erdmann Weyrauch. Wiesbaden 1988, S. 177–230, hier S. 179.

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scher Kommunikation,“27 provoziert aber eine öffentliche Aufmerksamkeit, die dem ursprünglichen Ziel der Indizierung zuwiderläuft. Das gilt auch für Werke, die wie Klaus Manns Mephisto oder Maxim Billers Esra aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes verboten sind. Nicht die literarästhetische Relevanz Esras, sondern der Rechtsstreit hat den Text in das Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt. So wie von einer soziokulturellen, nationalen und temporären Diversität der Zensurpraxis auszugehen ist, so ist aber auch der Normenhorizont des Persönlichkeitsschutzes kein „kohärentes, statisches Wertesystem.“28 Dennoch sind die Motive, die interpersonale Kommunikationsmodi reglementieren und zwischen der Anstandsregel und dem sozial und historisch variablen Tabu oszillieren, von den an die Literaturvermittlung gebundenen Formen der Zensur abgrenzbar.

Kulturelles Gedächtnis und Zensur Während sich die Erforschung der Zensurverhältnisse im Biedermeier, wilhelminischen Deutschland, NS-Staat und in der DDR zu einem weit gefächerten Arbeitsfeld29 entwickelt hat, weist die Beschäftigung mit diesem Thema für die

27 Ebd., S. 181. 28 Wolfram Siemann: „Normenwandel auf dem Weg zur ‚modernen‘ Zensur: zwischen ‚Aufklärungspolizei‘, Literaturkritik und politischer Repression (1789–1848)“. In: Zensur und Kultur. Zwischen Weimarer Klassik und Weimarer Republik mit einem Ausblick bis heute. Censorship and Culture. From Weimar Classicism to Weimar Republic and Beyond. Tübingen 1995, S. 63–86, hier S. 65. – Vgl. Juli Zeh: „Zur Hölle mit der Authentizität. Der Echtheitswahn der Unterhaltungsindustrie verführt dazu, auch in der Literatur nach wirklichen Personen und Vorgängen zu fahnden. Dabei geht verloren, was Literatur ist. Ein Zwischenruf“. In: Die Zeit v. 21.9.2006, S. 59– 60. 29 Vgl. u. a. Ernst Fischer: „Geschichte der Zensur“. In: Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. 1. Teilbd. Hg. v. Joachim-Felix Leonhard u. a. Berlin, New York 1999, S. 500–513. – Werner Fuld: Das Buch der verbotenen Bücher. Berlin 2012. – Bodo Plachta: Damnatur – Toleratur – Admittitur. Studien und Dokumente zur literarischen Zensur im 18. Jahrhundert. Tübingen 1994. – Peter Höyng: Die Sterne, die Zensur und das Vaterland. Geschichte und Theater im späten 18. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien 2003. – Haefs, Mix: Zensur im Jahrhundert der Aufklärung, S. 425–438. – Claude D. Conter: „Personalsatire im Vormärz – Literatursatire und Persönlichkeitsrechtsverletzung“. In: Georg Weerth und die Satire im Vormärz. Referate des internationalen Kolloquiums im 150. Todesjahr des Autors. Hg. v. Michael Vogt. Bielefeld 2007, S. 37–68. – Kortländer, Stahl: Zensur im 19. Jahrhundert. – Der ‚Giftschrank‘. Erotik, Sexualwissenschaft, Politik und Literatur – ‚REMOTA‘: Die weggesperrten Bücher der Bayerischen Staatsbibliothek. Hg. v. Stephan Kellner. München 2002. – Das Feige(n)blatt… Millenniumsausstellung. Konzeption: Raimund Wünsche. München: Staatliche Antikensammlungen und Glyptothek  



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Geschichte der Bundesrepublik alarmierende Defizite auf. Viele Indizierungsverfahren sind wie der Streit um Vladimir Nabokovs Lolita, Jean Genets Querelle und Notre Dame des Fleurs, Christiane Rocheforts Le repos du guerrier, David Herbert Lawrence Lady Chatterley’s Lover, Henry Millers Opus Pistorum, Ulrich Schamonis Dein Sohn läßt grüßen, Friedrich Christian Delius’ Unsere SiemensWelt oder Bret Easton Ellis American Psycho bewusst bagatellisiert worden. Prominentere Beispiele wie der Verbotsantrag gegen Günter Grass’ Novelle Katz

2000. – Hintergrund. Mit den Unzüchtigkeits- und Gotteslästerungsparagraphen des Strafgesetzbuches gegen Kunst und Künstler 1900–1933. Hg. v. Wolfgang Hütt. Berlin 1990. – Klaus Petersen: Zensur in der Weimarer Republik. Stuttgart 1995. – Klassiker in finsteren Zeiten. 1933–1945. Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. Hg. v. Bernhard Zeller. 2 Bde. Marbach 1983. – Jan-Pieter Barbian: Literaturpolitik im ‚Dritten Reich‘. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. Frankfurt a. M. 1993. – Christian Adam: Lesen unter Hitler. Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich. Berlin 2010. – Hubert Wolf: Papst und Teufel. Die Archive des Vatikan und das Dritte Reich. München 2008. – Literatur in der Diktatur. Schreiben im Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus. Hg. v. Günther Rüther. Paderborn, München, Wien, Zürich 1997. – ‚Als der Krieg zu Ende war‘. Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im SchillerNationalmuseum Marbach am Neckar. Ausstellung u. Katalog: Gerhard Hay u. a. Marbach 1986, S. 141–188. – Literarisch-politische Publizistik 1945–1950. Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente. Hg. v. Günter Agde. Berlin 1991. – Siegfried Lokatis: „Verlagspolitik zwischen Plan und Zensur. Das ‚Amt für Literatur und Verlagswesen‘ oder die schwere Geburt des Literaturapparates der DDR“. In: Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien. Hg. v. Jürgen Kocka. Berlin 1993, S. 303–325. – Simone Barck: „Das Dekadenz-Verdikt. Zur Konjunktur eines kulturpolitischen ‚Kampfkonzeptes‘ Ende der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre“. In: Ebd., S. 327– 344. – Ein ‚Oberkunze darf nicht vorkommen‘. Materialien zur Publikationsgeschichte und Zensur des Hinze-Kunze-Romans von Volker Braun. Hg. v. York-Gothart Mix. Wiesbaden 1993. – Manfred Jäger: Kultur und Politik in der DDR 1945–1990. Köln 1994. – Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1996. – Das Loch in der Mauer. Der innerdeutsche Literaturaustausch. Hg. v. Mark Lehmstedt u. Siegfried Lokatis. Wiesbaden 1997. – Christian Bergmann: Die Sprache der Stasi. Ein Beitrag zur Sprachkritik. Göttingen 1999. – Franz Huberth: Aufklärung zwischen den Zeilen. Stasi als Thema in der Literatur. Köln, Weimar, Wien 2003. – Simone Barck u. Siegfried Lokatis: Zensurspiele. Heimliche Literaturgeschichten aus der DDR. Halle 2008. – York-Gothart Mix: „Avantgarde, Retrogarde oder zurück zu Gutenberg? Selbst- und Fremdbilder der unabhängigen Literaturszene in der DDR“. In: Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Hg. v. Markus Joch u. a. Tübingen 2009, S. 123–138. – Art Outside the Lines. New Perspectives on GDR Art Culture. Hg. v. Elaine Kelly u. Amy Wlodarski. Amsterdam, Atlanta 2011. – Literatur vor dem Richter. Beiträge zur Literaturfreiheit und Zensur. Baden-Baden 1988. – Anja Ohmer: Gefährliche Bücher? Zeitgenössische Literatur im Spannungsfeld zwischen Kunst und Zensur. Baden-Baden 2000. – ‚Ab 18‘ – zensiert, diskutiert, unterschlagen: Beispiele aus der Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Hg. v. Roland Seim u. Josef Spiegel. Münster 1995. – Fakten und Fiktionen. Werklexikon der deutschsprachigen Schlüsselliteratur 1900–2010. Hg. v. Gertrud Maria Rösch. I. Halbbd. Stuttgart 2011. – Buchloh: ‚pervers, jugendgefährdend, staatsfeindlich‘, S. 327f. – Siemann: Normenwandel, S. 63. – Kanzog: Literarische Zensur, S. 1031ff.  





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und Maus sind nur unzureichend dokumentiert.30 Grundsätzlich stellt sich, ganz gleich, ob um es um Jugendschutz oder den Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts geht, die Frage nach der Literarizität und das Problem einer Abgrenzung von juristischer und literarischer Kompetenz. Das gilt auch für die neueren Fälle: Maxim Billers Esra, Alban Nikolai Herbsts Meere und Reinhard Liebermanns Das Ende des Kanzlers – Der finale Rettungsschuss. Die Zensurgeschichte der Bundesrepublik ist in starkem Maße, vor allem in der sogenannten Adenauer-Ära, eine Geschichte der Verdrängung. Wer weiß beispielsweise, dass 1965 unter einer Koalitionsregierung von CDU und FDP mit behördlicher Genehmigung am Düsseldorfer Rheinufer eine öffentliche Bücherverbrennung stattgefunden hat, die ungeachtet massiver Kritik beim Berliner Bischof und ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Otto Dibelius, Zuspruch gefunden hat und bei der neben anderen Texten Nabokovs Lolita, Erich Kästners Herz auf Taille, die Erzählung La chute von Albert Camus auch der Roman „Die Blechtrommel von Günter Graß [sic!]“ als besonders „unappetitliches Buch“31 verbrannt worden ist? Wer erinnert sich an das Ergebnis des 1952 in Wiesbaden durchgeführten „dreimonatigen Mammut-Prozesses, in dessen Verlauf 158 Zeugen gehört“ worden sind, bei dem die Journalisten Michael Heinze-Mansfeld, Rudolf Sievers und Karl Beckmeier ungeachtet ihrer Geldstrafen erstmals dem Recht zu einer „investigativen“ Berichterstattung über die „inhumanen Methoden“32 der durch das NS-Euthanasieprogramm berüchtigten Heilanstalt Eichberg Geltung verschafft haben? Wo sind „Äußerungen von kirchlicher Seite“, nämlich Nabokov, Grass, Camus, Kästner und ihre Verleger jahrelang als „Pestmenschen“ oder „Schmutzverleger“33 zu diskreditieren, mit ähnlicher Akribie und Verve dokumentiert worden wie vergleichbare Injurien von Funktionären der DDR? Wer spricht heute noch über die 1954 von der Bundesprüfstelle „mit ähnlichem Vokabular und unter ausdrücklichem Bezug

30 Das gilt besonders für die 1969 im J. F. Lehmanns Verlag publizierte Dokumentation Kunst oder Pornographie? Der Prozeß Grass gegen Ziesel. 31 „‚Man muss Mut beweisen‘. Bischof Dibelius zur Düsseldorfer Bücherverbrennung.“ [Brief von Otto Dibelius an Raimund le Viseur]. In: Der Spiegel 46 (1965), S. 61: „Mir persönlich ist es wichtig, daß auf diese Weise ein kleines Protestzeichen gegen eine gewisse Literatur deutlich geworden ist, mit der wir heute überschwemmt werden. Auch nach meiner Meinung ist Die Blechtrommel von Günter Graß [sic!] ein unappetitliches Buch. Für meine Kinder und Enkelkinder wünsche ich mir andere Lektüre. Das ist kein literarisches Urteil, sondern ein Urteil des sittlichen Empfindens, das nicht weiter zu diskutieren ist! Die ganze Angelegenheit ist so unbedeutend, daß man sich nur darüber verwundern kann, was für einen breiten Raum sie in der Presse eingenommen hat.“ 32 Tim Tolsdorff: „Der erste Enthüller – als der Stern seine Spiegel-Affäre hatte“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 9.11.2012, S. 35. 33 Ohmer: Gefährliche Bücher?, S. 21.

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auf das nationalsozialistische Verbot“34 erwirkte Indizierung von Pitigrillis (alias Dino Serge) Zeitroman Kokain? Systematisch gesehen ist die Zensurgeschichte der Bundesrepublik nach wie vor Terra incognita.

Die Erforschung der Zensur in der Bundesrepublik Ein Kompendium zur Geschichte der Zensur in der Bundesrepublik und ihren Filiationen ist ein Desiderat. Michael Kienzles und Dirk Mendes 1980 erschienene Publikation Zensur in der BRD erweist sich vor dem Hintergrund jüngster Theoriediskussionen als problematisch, da sie sich unkritisch an Michel Foucaults Vorlesung Die Ordnung des Diskurses35 und seine These von der Entmündigung36 anlehnt. Foucaults Terminus der Logophobie37 ist jedoch für die Analyse von Indizierungen, die wie der Fall Mephisto oder Esra mit den Argumenten des Persönlichkeitsschutzes begründet werden, zu vage. Ähnliches gilt für den von Pierre Bourdieu als Grenze des gesellschaftlich Benennbaren entworfenen Zensurbegriff.38 Die durch Benimmregeln oder einen Verhaltenskodex begründete Reglementierung interpersonaler Kommunikation ist von der auf die Produktion, Distribution und Rezeption fixierten Praxis der Literaturverbote in praxi und per definitionem abzugrenzen. Gerade auch in diesem Kontext zeigt sich, dass ein auf die Tradition des Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts rekurrierendes, staatsfixiertes Zensurverständnis angesichts massiv eingeschränkter Produktionsmöglichkeiten im Bereich bundesdeutscher Film- und Fernsehwirtschaft nicht mehr tragfähig ist.39 Es geht nicht mehr primär um staatliche Indizierungen, 34 Ebd. 35 Michel Foucault: L’ordre du discours. Leçon inaugurale au Collège de France prononcèe le 2 décembre 1970. Paris 1971. 36 Zensur in der BRD. Fakten und Analysen. Hg. v. Michael Kienzle u. Dirk Mende. München, Wien 1980, S. 28, 231. – Vgl. Dieter Breuer: Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland. Heidelberg 1982, S. 9ff. 37 Foucault: L’ordre du discours, S. 37f.: „La discipline est unprincipe de contrôle de la production du discours. Elle lui fixe des limites par le jeu d’une identité qui a la forme d’une réactualisation permanente des règles.“ 38 Pierre Bourdieu: „Die Zensur“. In: Ders.: Soziologische Fragen. Frankfurt a. M. 1983, S. 131–135, hier S. 131ff. 39 Vgl. Charlotte Frank: „Sendeschluss“. In: Süddeutsche Zeitung v. 20.9.2012, S. 3: „Das Geld, welches die öffentlich rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland verteilen – jedes Jahr etwa 7,5 Milliarden Euro – gehört ihnen nicht. Es ist das Geld der Gebührenzahler. Und doch verteilen die Sender es gleichsam unter Ausschluss der Öffentlichkeit: Ausschreibungen für Produktionen gibt es so gut wie keine, obwohl sie im öffentlich-rechtlichen Sektor sonst zwingend vorgeschrieben sind.“ – Andreas Groth: „Transparente Aufträge. Produzenten fordern Kodex für ARD und  

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sondern um eine tagtägliche, ökonomisch, ergo auch ästhetisch motivierte informelle Zensur, die sich nicht allein gegen einzelne Werke, sondern auch gegen ein Genre40 in toto richten kann. Auch diese Form der Zensur zielt prinzipiell auf die Elimination der durch eine „Literaturproduktion erschlossenen Möglichkeiten an literarischer Kommunikation.“41 Bedeutsam ist dabei, dass alle angeführten

ZDF“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23.10.201, S. 29: „Nach Ansicht der vier Verbände, der AG Dokumentarfilm (AG Dok), des Film & Fernsehproduzentenverbandes NRW, des Verbandes Deutscher Filmproduzenten und des Verbandes der Fernseh-, Film-, Multimedia- und Videowirtschaft bevorzugen ARD und ZDF bei der Auftragsvergabe ihre eigenen Tochterunternehmen, beherrschten so in vielen Genres den Markt und verzerrten den Wettbewerb. ‚Diese Marktsituation bedroht die Existenz vieler unabhängiger Produktionsunternehmen und Produktionsdienstleister‘, sagt Gerhardt Schmidt, Vorstand des Film & Fernsehproduzentenverbandes NRW. Die Vielfalt und Qualität der deutschen Produktionslandschaft werde ernsthaft gefährdet. Die unabhängigen Produzentenverbände kritisieren, dass das Netz sendeeigner Unternehmen immer weiter ausgebaut werde. Die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (Kef) zählte in ihrem jüngsten Bericht insgesamt 180 ARD- und ZDF-Tochterfirmen (150 ARD, 21 ARD und ZDF gemeinsam, neun ZDF) mit einem jährlichen Umsatz von mehr als 1,6 Milliarden Euro. Welche dieser Firmen welche Geschäfte betreiben, heißt es in der Mitteilung der vier Verbände, erschließe sich in vielen Fällen nicht. Die Verbände rügen überdies die Ausschreibungspraxis. Zu neunzig Prozent gebe es keine Ausschreibungen.“ [Hervorhebungen vom Verfasser, Y.-G.M.]. 40 So haben beispielsweise Dokumentarfilme im quotenbestimmten Fernsehen immer geringere Chancen, überhaupt Beachtung zu finden. Marc Widmann: „Was Ideale kosten. Sie haben es immer geahnt, nun belegt es eine Studie: Dokumentarfilmer sind das Prekariat im TV-Geschäft“. In: Süddeutsche Zeitung v. 26.10.2012, S. 31: „Diese Woche hat [Thomas] Frickel als Vorsitzender der AG Dokumentafilm, die mehr als 850 Filmer vereint, in Frankfurt eine Studie mit erschreckenden Zahlen vorgestellt. Sie passt so gar nicht zu dem Wunsch der Ministerpräsidenten, wonach die öffentlich-rechtlichen Sender ihre freien Filmautoren fair behandeln sollen. Oder wie soll man es sonst verstehen, dass 85 Prozent der befragten Autoren und Regisseure von ihrer Arbeit nicht leben können und sich etwas dazu verdienen müssen? Dass 43 Prozent noch finanzielle Unterstützung von der Familie oder Freunden brauchen? Glaubt man den Zahlen dieser Studie, dann gibt es im glitzernden deutschen Fernsehgewerbe ein Prekariat: die Dokumentarfilmer. Im Schnitt arbeiten sie 82 Tage im Jahr ohne Vergütung, recherchieren und verhandeln umsonst, was umgerechnet etwa vier Arbeitsmonaten entspricht. Im Schnitt bleiben ihnen im Monat 1380 Euro zum Leben, wobei Gutverdiener eingerechnet sind. 18 Prozent der Autoren und Regisseure müssen mit weniger als 636 Euro auskommen, also mit weniger als dem, was in Deutschland das Existenzminimum genannt wird. […] Längst laufen anspruchsvolle Dokumentarfilme vor allem dann, wenn normale Menschen schlafen. Oder eben in den Sparten- oder Digitalkanälen. Man kann durchaus bezweifeln, ob es den Öffentlich-Rechtlichen überhaupt noch wichtig ist, den Zuschauern das echte Leben zu zeigen.“ – Vgl. auch Franziska Augstein: „Brot mit Holz. Ein sehenswerter Film über russische Kriegsgefangene findet keinen Sender. Warum eigentlich?“ In: Süddeutsche Zeitung v. 20.1.2012, S. 15. 41 Aulich: Elemente einer funktionalen Differenzierung, S. 181. – Bastian Obermayer: „Wahrheit ohne Vorschuss. Seit 1997 recherchiert Thomas Kuban unter Neonazis, er hat mit versteckter

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Exempel auch eine ungenügende Auseinandersetzung mit den Problemen der Literarizität, Fiktionalität oder der Phänomenologie der Zensur seitens der Justiz belegen.42

Kamera eine Dokumentation gedreht, die auf der Berlinale gezeigt wurde. Pleite ist er trotzdem – kein Sender wollte den Film bisher kaufen. Begegnung mit einem Unverstandenen“. In: Süddeutsche Zeitung v. 3./4.11.2012, S. 42. 42 Das gilt nicht nur für die prominenten Beispiele (Klaus Manns Mephisto, Maxim Billers Esra), sondern auch für anders gelagerte Fälle wie beispielsweise die Causa Doris Heinze. Die Einschätzung des Vorsitzenden Richters am Hamburger Landgericht, Volker Bruns, die wegen Bestechlichkeit und Betrugs in Tateinheit mit Untreue verurteilte ehemalige Fernsehspielchefin des NDR habe einfach nur „gute Filme machen“ (Zitiert nach Charlotte Frank: „Gewundene Wege. Milde Urteile in der Drehbuchaffäre um die frühere NDR-Fernsehspielchefin Doris Heinze“. In: Süddeutsche Zeitung v. 9.10.2012, S. 31) wollen, zeugt angesichts der systematischen Ausgrenzung ambitionierterer Produktionen in der Façon des ARD-Papiers zur Optimierung bei Fernsehfilm und Hauptabendserie (dokumentiert in: epdmedien 43/44 (2000), S. 23–24) sowie sich häufender wirtschaftskrimineller Praktiken im öffentlich-rechtlichen Fernsehen von medienpolitischer Ahnungslosigkeit und ignoriert Praktiken, die informeller Zensur nahe kommen. Das System Heinze diente nicht nur der persönlichen Bereicherung, sondern der rigiden Durchsetzung eben dieses medienästhetischen Vorschriftenkatalogs. Auffallend ist, dass sich Ablehnungen von explizit positiv bewerteten Filmen wie Beate Lehr Metzgers Keine Kameraden oder Daniela Agostinis The Tree Workers Case bei öffentlich-rechtlichen Fernsehstationen (WDR, NDR, Rundfunk BerlinBrandenburg u. a.) häufen. (Vgl. Augstein: Brot mit Holz, S. 15.) Der Fall des früheren MDRUnterhaltungschefs Udo Foht weist deutliche Parallelen zur Causa Doris Heinze auf. (Vgl. Katharina Riehl: „Ein freihändiger Sender. Untersuchungsbericht deckt das Skandalsystem MDR auf“. In: Süddeutsche Zeitung v. 16.11.2011, S. 17.) – Christiane Kohl: „Problemfall MDR. Radio-Unterhaltungschef hielt offenbar Anteile an Auftragsfirma“. In: Süddeutsche Zeitung v. 26./27./28.5.2012, S. 23. – Michael Jürgs: „Schunkeln, bis die Anstalt kracht“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.9.2011, S. 33. Hier heißt es resümierend: „Die Formel der ARD und des ZDF darf eben nicht wie bei der Konkurrenz lauten: Qualität oder Quote, sondern Qualität und Quote und im Zweifelsfall auch Qualität ohne Quote.“ Zu den Konsequenzen für Filmemacher vgl. „‚Arm filmt gut? Das gefällt mir nicht‘. Ein Gespräch mit dem Regisseur über die Abhängigkeit der Autorenfilmer vom Geld, das große Geschäft mit den Gefühlen und seinen neuen Film ‚Jerichow‘“. In: Die Zeit v. 8.1.2009, S. 41. – Die vielfach zu beobachtende Abstinenz der Rechtspflege gegenüber basaler literaturwissenschaftlicher Einsicht führt auch in anderen Fällen zu einem problematischen Schutz vor rechtsstaatlich gebotener Zensur, eine besondere Rolle kommt in diesem Kontext dem Sachverhalt des sogenannten Verbotsirrtums zu. Ist die bewusst auf die Fehldeutung ironischen Sprechens setzende Interpretation einer „szenebekannten Hamburger Rechtsanwältin Gisa Pahl“, der rechtsterroristische „‚Döner-Killer‘-Song“ beziehe sich „in ironischer Weise um das ‚Killen‘ von Dönern, also das Aufessen von Würsten“, mäeutisch überhaupt diskutabel? (Vgl. Bastian Obermayer: „Die Stimmungskanone. Der Musiker ‚Gigi‘ ist der Held der Neonazis. Was wusste er vom NSU? Am Montag stand er vor Gericht“. In: Süddeutsche Zeitung v. 16.10.2012, S. 3.) – Harald Weinrich: Linguistik der Lüge. Heidelberg 1996.  

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Paradoxien der Zensur Die Indizierungspraxis in der Bundesrepublik zeigt, dass man literarische Texte ungeachtet ihres Kunstwerkcharakters immer wieder nur als bloße Meinungsäußerung versteht und „im Falle ‚unliebsamer‘ Meinungen verfolgt hat.“43 Das gilt für Manns Mephisto, Grass’ Katz und Maus oder Genets Querelle ebenso wie für Billers Esra. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht sind alle oben genannten Zensurierungsverfahren nicht zu legitimieren. Das relevanteste Literaturverbot, die Indizierung von Mephisto, wird zwar in einschlägigen Materialsammlungen zur Zensur44 gar nicht thematisiert, ist aber dennoch als „repräsentativer Fall von Nachzensur“45 anzusehen und hat ungeachtet der Tatsache, dass der Text mittlerweile frei zugänglich ist, eine paradoxe normative Wirkung entfaltet, die jede Jurisdiktion zum Thema nach wie vor maßgeblich beeinflusst. Die Rechtsprechung, das traditionalistische Zensurverständnis und die gesellschaftliche Wirklichkeit stehen somit in einem latenten Widerspruch.

43 Kanzog: Literarische Zensur, S. 1044. 44 Vgl. Literaturzensur in Deutschland. Hg. v. Bernd Ogan. Stuttgart 1988. 45 Breuer: Geschichte der literarischen Zensur, S. 249.

I Aufsätze

Judith Joos

Kontinuität im Neuanfang: Verlagspolitik in der Gründungsphase der Bundesrepublik am Beispiel der Britischen Zone Für den bundesrepublikanischen Literaturbetrieb ist die Besetzung durch die alliierten Siegermächte nicht nur Vorgeschichte; sie ist seine Vorbedingung: Die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg waren, besonders in den Westzonen, auch im Hinblick auf eine kulturelle Neuordnung reich an Möglichkeiten und Varianten. Dass die Entscheidungen, die die westlichen Alliierten für den Wiederaufbau des deutschen Kulturlebens trafen, jedoch nicht zu einer Zäsur führten, vielmehr stärkere personelle und institutionelle Kontinuitäten zuließen als erwartet, hat viele, auch überraschende Gründe. Vor allem in der britisch besetzten Zone Deutschlands1 haben, in viel stärkerem Maß als bisher angenommen, individuelle Entscheidungen und persönliche Kontakte den Charakter der Literaturlandschaft der frühen Bundesrepublik, ihre Entwicklungschancen, ihre institutionellen und auch informellen Limitierungen bestimmt. Die Kulturpolitik der einzelnen Siegermächte war im Wesentlichen eigenständig, sodass sich erhebliche Unterschiede ergaben.2 In London waren die Planungen für den Kulturbereich bereits 1942/43 im Bereich der für die psychologische Kriegsführung zuständigen Organisation ‚Political Warfare Executive‘ (PWE) begonnen worden. Sie wurden, in Abstimmung mit dem ‚Foreign Office‘ und dem ‚War Office‘, als Teil der gesamten britischen Deutschlandplanung diskutiert und als integraler Bestandteil der britischen Sicherheitspolitik betrachtet. Kulturpolitik war daher mehr als ein ästhetisches Mittel, das zur Milderung der Härten der Besatzungspolitik eingesetzt werden sollte. Ihr fiel die Aufgabe zu, das, wie angenommen wurde, in der Bevölkerung zunächst noch vorherrschende nationalsozialistische und militaristische Gedankengut durch demokratische, humane und Frieden schaffende Ideen zu ersetzen – Garantien für die langfristige Einbindung Deutschlands in die westeuropäische Kultur und die Verhinderung erneuter

1 Die britische Besatzungszone umfasste den Westteil Preußens mit den Provinzen Hannover, Schleswig-Holstein und Westfalen, den Nordteil der Rheinprovinz, außerdem die historischen Länder Braunschweig, Hamburg, Lippe, Oldenburg und Schaumburg-Lippe. 2 Vgl. Gabriele Clemens: „Die britische Kulturpolitik in Deutschland: Musik, Theater, Film und Literatur“. In: Kulturpolitik im besetzten Deutschland. Hg. v. ders. Stuttgart 1994, S. 200–218, hier S. 201.

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Aggressionen.3 Dem Medium Buch wurde bereits in der Planungsphase eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung dieser langfristigen Werte in der deutschen Gesellschaft zugedacht. Für die detailliertere Ausarbeitung dieser Kulturpolitik für Deutschland waren hauptsächlich die schon während des Krieges für die psychologische Kriegsführung eingesetzten Akademiker zuständig, in der Mehrzahl Absolventen der traditionellen britischen Eliteinstitutionen, die das von dort geprägte Kulturverständnis einbrachten.4 Mit einbezogen wurden jedoch auch unabhängig agierende Akteure des britischen kulturellen Lebens, vornehmlich renommierte britische Autoren und Verlage, aber auch der Dachverband der britischen Verleger, ‚The Publishers’ Association‘, und ‚The British Council‘, die für die auswärtigen Kulturangelegenheiten zuständige Organisation in London. Ihre Nachkriegsplanungen sahen im Bereich der Demokratisierung des Buchhandels eine Entwicklung in drei Phasen vor: In der 1. Phase sollte ein Verbot der vorhandenen deutschen Verlage und eine Zensur aller noch vorhandenen Bücher gemäß dem Gesetz Nr. 191 der Alliierten Militärregierung durchgesetzt und kontrolliert werden. In der 2. Phase sollte ein von britischer Seite initiiertes Buchprogramm zum Einsatz kommen. Außerdem sollten alliierte Medien mit einer Sondergenehmigung von deutschen Verlagen hergestellt werden. Die 3. Phase sollte der allmählichen Übergabe der Verantwortung dienen: Die Kontrolle für die Vergabe der Lizenzen zur Führung eines Verlages sollte dann von der Besatzungsmacht auf einen deutschen Buchausschuss übertragen werden. Nach der Kapitulation lag die Umsetzung der Pläne hauptsächlich in der Verantwortung des ‚Foreign Office‘ (‚Political Intelligence Department‘) in London, das in Absprache mit dem ‚War Office‘ wöchentliche Direktiven erstellte, in denen der Wiederaufbau des Kultur- und Informationsbereichs in der britischen

3 Mit diesem Ansatz unterschied sich die britische Kulturpolitik von der ihrer Alliierten. Ab 1944 kam es zu gemeinsamen Planungen mit den USA im Rahmen der ‚Psychological Warfare Division‘ innerhalb des ‚Supreme Headquarter, Allied Expeditionary Force‘ (SHAEF). Zur Kulturpolitik der USA in der Besatzungszeit vgl. Ernst Umlauff: Der Wiederaufbau des Buchhandels: Beiträge zur Geschichte des Büchermarktes in Westdeutschland nach 1945. Frankfurt a. M. 1978 sowie Bernd R. Gruschka: Der gelenkte Buchmarkt: Die amerikanische Kommunikationspolitik in Bayern und der Aufstieg des Verlages Kurt Desch 1945 bis 1950. Frankfurt a. M. 1995. Frankreich hatte bis zum Kriegsende keine vergleichbaren Grundsätze festgelegt vgl. Joseph Jurt: „Ein transnationales deutsch-französisches literarisches Feld nach 1945?“ In: Am Wendepunkt. Hg. v. Patricia Oster u. Hans-Jürgen Lüsebrink. Bielefeld 2008, S. 189–230, hier S. 217f. Die Sowjetunion hatte sich für ein sehr viel restriktiveres Vorgehen entschieden vgl. Siegfried Lokatis: „Das Verlagswesen der Sowjetisch Besetzten Zone“. In: Buch, Buchhandel und Rundfunk 1945–1949. Hg. v. Monika Estermann u. Edgar Lersch. Wiesbaden 1997, S. 112–124. 4 Vgl. Clemens: Britische Kulturpolitik, S. 201.  



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Zone und dessen Kontrolle im Einklang mit den von den Alliierten gemeinsam herausgegebenen SHAEF-Direktiven dargelegt wurde. In Deutschland lag die Kontrolle direkt bei der ‚G (Information Control)‘ der 21. Armeegruppe, deren Hauptquartier unter Feldmarschall Bernard Law Montgomery die de-facto-Regierung der britischen Zone Deutschlands bildete. Sie wurde in den einzelnen ‚Corps Districts‘, in die die Zone aufgeteilt war, in gesondert gebildeten ‚Information Control Units‘ ausgeführt, die wiederum aus Abteilungen bestanden, von denen jede mit einem bestimmten Medium betraut wurde. Die ‚Publications Section‘ war für Bücher zuständig. Am Beginn des Aufbaus einer Kontrollbehörde für den deutschen Buchhandel stand die Suche nach geeignetem Personal. Weder die Verantwortlichen in London noch die Offiziere, die in der britischen Besatzungszone den Weg des deutschen Buchhandels in der Nachkriegszeit vorzeichneten, waren für ihre Aufgabe aufgrund vorangegangener militärischer Meriten oder aufgrund politischen Einflusses ausgewählt worden: Die Personalakten des ‚War Office‘ wurden auf Offiziere hin durchsucht, die nicht nur deutsch sprachen, sondern auch Verlagserfahrung hatten. Die meisten von ihnen gehörten zu dem Teil der Armee, der bereits in Deutschland stand.5 In der Mehrzahl handelte es sich um bekannte Größen des britischen Kulturlebens, die im Zusammenhang mit ihrem Beruf mit dem Buchhandel vertraut oder sogar Teil der britischen Verlagswelt der Vorkriegszeit gewesen waren. Sie waren daher häufig auch mit dem deutschen Buchhandel, teilweise sogar mit deutschen Verlegern vertraut oder bekannt. Das Zusammentreffen des ‚Old Boys’ Network‘ des britischen Verlagslebens mit den Vertretern des deutschen Buchhandels sollte für das Kulturleben der Bundesrepublik mindestens ebenso prägend werden wie die offiziellen Vorgaben. Zu Gesprächen wurden Verleger und ihre Mitarbeiter eingeladen, auch Spencer Curtis Brown, der Inhaber der berühmten Londoner Literaturagentur. Ausgewählt wurde am Ende Charles Furth, Lektor im Verlag Allen and Unwin, der seinen von den Plänen der Regierung gewonnenen Eindruck seinem Chef, Stanley Unwin, im Anschluss so wiedergab: Nach der Befreiung solle Deutschland in Regionen aufgeteilt werden, in denen jeweils ein ‚Publications Control Officer‘ alle Drucksachen kontrollieren werde, ausgenommen die Tageszeitungen, die getrennt behandelt werden sollten. Diese geplante Zensur betraf alles, also Handelsbroschüren ebenso wie die Veröffentlichungen wissenschaftlicher Gesellschaften. Dabei war nicht beabsichtigt, dem Zensuroffizier einen englischen Assistenten zur Seite

5 21. Armeegruppe. Vgl. The Publishers’ Archives, University of Reading, Allen and Unwin Archive (AUC) 221/14 Furth, Charles A. 1945: Capt. C. A. Furth (Information Control) an Stanley Unwin (Allen and Unwin, London), 7.3.1945.

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zu stellen, es war vielmehr beabsichtigt, ihn mit ausgewählten Deutschen zusammenarbeiten zu lassen. Die Suche nach solchen vertrauenswürdigen Deutschen sah Furth als umfangreichsten und schwierigsten Teil der Arbeit an, denn die Nationalsozialisten hatten bekanntlich jeden liberal gesinnten Deutschen aus dem Berufsleben entfernt.6 Der Einsatz deutscher Emigranten war nicht vorgesehen, obwohl auch einige von ihnen, die in den Jahren vor 1939 nach England gekommen waren, Erfahrungen im Verlagswesen aufweisen konnten.7 Zurückhaltend waren die offiziellen britischen Stellen aus mehreren Gründen: Exilanten, die in fachlicher Hinsicht etwas vom Buchhandel verstanden, erschienen ungeeignet, weil sie in vielen Fällen den Kontakt sowohl zu den deutschsprachigen Verlagen, als auch zu den Schweizer Verlagen und sogar den Exilverlagen außerhalb Englands verloren hatten. Entscheidender war jedoch, dass die deutschsprachige Emigration in Großbritannien mit ganz verschiedenen Stimmen sprach: Sie war wenig organisiert und in sich zersplittert. Weder im Bereich des politischen Exils8 noch auf kulturellem Gebiet war ihr in den Jahren nach 1933 eine fruchtbare Zusammenarbeit mit der Londoner Regierung gelungen.9 Ein Zusammengehen der in ihren

6 Vgl. ebd. 7 Unter ihnen waren die Wiener Verleger Paul Zsolnay und Eugen Prager, der Bruder des Schriftstellers Lion Feuchtwangers, Ludwig Feuchtwanger, Adolf Aber, der Geschäftsführer des Musikverlags Novello and Co., Kurt L. Maschler vom Atrium/Williams Verlag, der nun Inhaber eines Exilverlags war, Rudolf Ullstein, der nach seiner Ankunft 1939 dem ‚Ministry of Information‘ über die Lage im deutschen Buchhandel Bericht erstattet hatte. Der vormalige Inhaber der (internationalen) Buchhandlung ‚Unter den Linden‘ in Berlin, Hans Preiss, hatte ebenso ein Geschäft in London gegründet wie der Antiquar Fritz Homeyer; der Autor Robert Neumann betreute die deutsche Abteilung des Verlags Hutchinson. Mit Charles Furth im Verlag Allen and Unwin arbeitete Richard Landauer zusammen, der ehemalige Inhaber des Kunst- und Literaturbuchverlags Delphin in München; zum gleichen Unternehmen gehörte auch der emigrierte Phaidon Verlag, der von den ehemals Wiener Verlegern Bela Horovitz und Ludwig Goldscheider geführt wurde. 8 Vgl. Werner Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien 1940–45. Ein Beitrag zur Geschichte des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Bonn-Bad Godesberg 2 1973. – Anthony Glees: „Das deutsche politische Exil in London 1939–1945“. In: Exil in Großbritannien. Zur Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Hg. v. Gerhard Hirschfeld. Stuttgart 1983, S. 62–79. – Jennifer Taylor: „Hans Vogel, The Flight of the Exiled German Social Democrats from France, 1940–41, and the British Labour Party“. In: German-speaking Exiles in Great Britain: The Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies 2 (2000), S. 123–142. – Lothar Kettenacker: „Der Einfluss der deutschen Emigranten auf die britische Kriegszielpolitik“. In: Exil in Großbritannien: Zur Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Hg. v. Gerhard Hirschfeld. Stuttgart 1983, S. 80–105. 9 Vgl. Public Record Office, London (PRO), FO 371/23105. – Judith Joos: Trustees for the Public? Britische Buchverlage zwischen intellektueller Selbstständigkeit, wirtschaftlichem Interesse und patriotischer Verpflichtung zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Wiesbaden 2008, S. 445f.

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Zielen differierenden Exilgruppen hatte bereits im Oktober 1939 das ‚Foreign Office‘ als unerlässlich für die Einbeziehung deutscher Emigranten in die britische Kriegspolitik und Nachkriegsplanung gefordert,10 doch erwies sich die Einigung als schwierig. Schließlich überwog im ‚War Office‘ die Meinung, dass die deutschen Emigranten eine verdächtige Neigung hätten, übermäßige Sympathie für Deutschland zu wecken; zudem war man zuversichtlich, im besiegten Deutschland genügend unbelastete Verleger und Buchhändler für den Wiederaufbau zu finden. Als einer der ersten ‚Publications Control Officers‘ kam Charles Furth Ende Mai 1945 zur ‚Information Control Unit‘ nach Bünde in Westfalen. Hier hatte die ‚Public Relations/Information Services Control‘ (PRISC) unter Generalmajor Alec Bishop als Teil des britischen Hauptquartiers ihren Sitz.11 Damit er sich bei den Deutschen leichter Respekt verschaffen konnte, war Charles Furth zuvor in den Rang eines Majors erhoben worden.12 Bereits kurze Zeit später entwickelte sich die beratende Sektion der ‚Informationskontrollkommission‘ in Richtung eines Buchbüros; besetzt mit Furth, später R[.] H[.] Unwin, einem entfernten Verwandten Stanley Unwins, und Hermann Augustine Piehler, einem Autor und Übersetzer des Verlags Allen and Unwin. Der Verleger Stanley Unwin in London, zu dem diese Offiziere von Deutschland aus Kontakt hielten und dessen Rat sie einholten, bekleidete eine Schlüsselrolle − verdientermaßen, denn er war einer der erfahrensten Kenner des deutschen Buchhandels in Großbritannien.13 Stanley Unwin war von 1933 bis 1935 Vorsitzender der britischen ‚Publishers’ Association‘ gewesen, außerdem jahrelang in verantwortlicher Stellung des ‚British Council‘ und von 1935 bis 1938 Präsident des Internationalen Verlegerkongresses. Als solcher geriet er auf den Verlegertagungen 1936 in London und 1938 in Berlin und Leipzig in historische Konflikte der internationalen Kulturpolitik hinein. Da er aufgrund der offiziellen und inoffiziellen Gespräche am Rand der Kongresse über die politische Haltung der deutschen Verleger außerordentlich gut informiert war,

10 Vgl. FO 371/23105, Sir Campbell Stuart an Sir Alexander Cadogan, 12.10.1939. [Anhang: Memorandum für das ‚War Office‘ bezüglich deutscher Flüchtlinge.] 11 Das Zonenhauptquartier befand sich in einer Gruppe von kleinen, dicht benachbarten Städten Westfalens, hauptsächlich in Herford, Minden, Lübbecke und Bünde (vgl. Walter Först: Geschichte Nordrhein-Westfalens, Bd. 2. Köln, Berlin 1970, S. 82, 142). 12 Dies hatte Unwin dem ‚War Office‘ vorgeschlagen, weil die „Deutschen durch Armeehierarchien so beeindruckbar seien“. Vgl. auch AUC 221/14: Charles A. Furth 1945, Stanley Unwin (Allen and Unwin, London) an C. A. Furth (Special Wireless Section, Royal Signals, B.L.A.), 7.3.1945. 13 1947 war Unwin auf Einladung der ‚Control Commission‘ zur Eröffnung der ersten NachkriegsBuchausstellung am 7.6.1947 auch selbst in Berlin. Vgl. Sir Stanley Unwin: „Eröffnungsansprache bei der Deutschen Buchausstellung Berlin“. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel (Frankfurter Ausgabe) 3 N. F. 11/12 (1947), S. 210f.

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verfügte er über ein Wissen, das sich die offiziellen britischen Stellen bei Fragen der Entnazifizierung und Lizenzierung nach dem Krieg zunutze machten.14 Seit Stanley Unwin 1904 Volontär in der J. C. Hinrich’schen Sortimentsbuchhandlung in Leipzig gewesen war, war er zudem in, den Krieg allerdings nicht immer überdauernder, Freundschaft mit einigen alteingesessenen Familien des deutschen Buchhandels verbunden. Bleibenden Kontakt, privat wie geschäftlich,15 pflegte er mit Felix Meiner und Hans Baedeker.16 Seinen Mitarbeiter Charles Furth hatte Unwin in der Zeit vor 1933 auf eine von diesem später als denkwürdig bezeichnete Reise nach Leipzig mitgenommen: Er hatte nicht nur die damals auch im Ausland gelobte Organisation des deutschen Buchhandels kennengelernt, sondern war mit vielen deutschen Verlegern in Kontakt gekommen. Einige davon traf er nun, nach 1945, unter veränderten Umständen und in einer neuen Machtkonstellation wieder. Mit persönlichem Engagement, sogar herzlicher Anteilnahme, versuchte sich Furth zusammen mit seinen Kollegen ein Bild von der Lage des deutschen Buchhandels zu machen. Mithilfe des Adressbuchs des Deutschen Buchhandels hatte er etwa 25 Druckereien und Verlage von Braunschweig und Göttingen bis Köln ausfindig gemacht. „Our great difficulty, of course, is that there is hardly any way of getting at the Germans, as yet, short of getting into a jeep and driving out to see them. One cannot just write to them, even from here.“17 Am Anfang standen, wie in den anderen Besatzungszonen, Verbot und Zensur: Unter Androhung harter Strafen, von der Freiheits- bis zur Todesstrafe, wurde „das Drucken, Erzeugen, Veröffentlichen, Vertreiben, Verkaufen und gewerbliche Verleihen von Zeitungen, Magazinen, Zeitschriften, Büchern, Broschüren, Plakaten, Musikalien und sonstigen gedruckten oder mechanisch vervielfältigten Veröffentlichungen“ für das gesamte deutsche Gebiet untersagt.18 Die mit der Überprüfung der Einhaltung dieses Druckverbots verbundenen Schwierigkeiten − nur der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen war nicht von Bomben getroffen worden − beschreibt lebendig ein Bericht, den Furth aus Bünde an seine Frau richtete:

14 Eine ausführliche Würdigung Stanley Unwins und seiner Rolle als Vorsitzender des ‚Internationalen Verlegerausschusses‘ findet sich in: Joos: Trustees for the Public?, Kap. 2.1 u. Kap. 3. 15 Zu Allen and Unwins deutschen Autoren zählten Heinrich von Treitschke, Walter Rathenau, Sigmund Freud, Jakob Wassermann, Lion Feuchtwanger und Emil Ludwig. 16 Mit dem Karl Baedeker Verlag ging Stanley Unwin als der englische Verleger der gleichnamigen Reiseführer eine besonders enge und lange Jahre andauernde Kooperation ein. Gleichzeitig unterstützte er jedoch auch viele der seit 1933 nach Großbritannien emigrierten Autoren und Buchhändler. 17 AUC 221/14 Furth, Charles A. 1945, C. A. Furth (Information Control, Main Headquarter, H.Q., 21st Army Corps, B.L.A.) an Stanley Unwin (Allen and Unwin, London), 14.7.1945. 18 Alliierte Militärregierung, Gesetz Nr. 191 v. 24.11.1944.

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Wir haben entweder die Firmen gefunden, die wir aufgeschrieben hatten, oder recht glaubhafte Beweise dafür gefunden, dass sie nicht mehr existieren. […] Es war schwierig, den Weg mit einem großen Auto zu finden – Schlaglöcher, an die wir ja seit einem Jahr gewöhnt sind, aber auch Straßenbahngleise, die in schier unglaublicher Weise nach oben gebogen sind. […] Schließlich fanden wir das Werk, still und menschenleer. [George] Thompson und ich stiegen durch ein Fenster ein. Es war die Firma einer katholischen Druckerei und des mit ihr verbundenen Verlags. Das Dach war abgetragen und der Ort mehr oder weniger geplündert worden. Wir standen knöcheltief in Christusbildern, katholischen Kalendern, ungebundenen Gebetbüchern, vergoldeten heiligen Texten, ausgestreut wie Federn aus einem Federbett und feucht unter den Füßen. Wir gingen durch die Buchbinderei und drängten uns durch die halb-ausgehängte Tür in den großen Maschinenraum, die Pressen standen rostig, still, verlassen unter freiem Himmel. […] In Dortmund war die Straße, in die wir wollten, eigentlich alles, was zu sehen war, in Trümmern. Wir suchten uns einen Weg durch die geräumte Spur, suchten nach Nummern an Häusern, die noch so hoch standen, dass sie Nummern trugen, und fanden endlich das Haus. […] Es war interessant dort, denn der Chef war nach Hause gegangen und wir konnten einigen Untergebenen ein paar weiterführende (oder irreführende) Fragen stellen. Schließlich bekamen wir einen Führer, der uns zum Haus des Chefs brachte. […] Der Chef war ein brutaler Kerl und ein Schwein. Ich ließ es für ein paar Minuten zu, dass er mich hinters Licht zu führen versuchte, während unser Führer, der wusste, dass wir wussten, dass er log, die Gesichtsfarbe wechselte und heftig schwitzte, dann brach ich das Gespräch ab. […] Mit den Informationen, die wir bereits von anständigen Leuten anderswo erhalten haben, haben wir mittlerweile eine ganz gute Technik von in die Irre führenden Fragen entwickelt, und Thompson, dessen Deutsch gut ist, ist eine echte Hilfe, denn er klügelte sehr geschickt ein System aus, mit dem er durch Fragen das Gespräch unterbricht – manche von ihnen sind ziemlich unerheblich – immer dann, wenn er merkt, dass ich eine Pause brauche, um mir die nächste Frage auszudenken. […] Mit so einem wie diesem alten Mann in Dortmund hat man kein Mitleid. Aber es ist schwer, nicht mit den gewöhnlichen armen Teufeln mitzufühlen, die in diesen Ruinen leben und sich einen Weg über die kaputten Bürgersteige suchen.19

Auf ihren Reisen stießen die Besatzungsoffiziere vereinzelt auch auf Verlage, die trotz des Verbots weiter produzierten und auch hier war Furth über die Akteure gut informiert. In der Regel waren dies solche, die nach 1933 mit eindeutig nationalsozialistischer Produktion in der Öffentlichkeit standen. Sie hatten die Wochen vor dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus zu nutzen versucht, „um innerlich und auch technisch gerüstet zu sein für einen neuen Absprung“, wie es Benno Ziegler formulierte, der Verlagschef der Hanseatischen Verlagsanstalt, einem Aushängeschild der nazistischen ‚Deutschen Arbeitsfront‘ (DAF).20 19 AUC 221/14 Furth, Charles A. 1945: Auszug eines Briefes von Capt. C. A. Furth (Information Control) an seine Frau Ayleen Furth (Northwood), Beilage zum Brief von Ayleen Furth an Philip Unwin (Allen and Unwin, London), 21.7.1945. [Übersetzung von J.J.] 20 Der HAVA-Chef Benno Ziegler war zeitweise der führende Verleger im ‚Dritten Reich‘, er war mit Autoren wie Hans Friedrich Blunck, Richard Euringer, Heinz Steguweit und Josef Magnus

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In Erwartung der britischen Armee hatte er am 10. April 1945 einer Druckerei den Auftrag gegeben, das Manuskript Der Friede von Ernst Jünger in einer Auflage von 50 000 Stück zu drucken, einen „Aufruf an die Jugend der Welt“, der seit Mitte 1943 in oppositionellen Kreisen zirkulierte, bisher aber nicht gedruckt worden war.21 Die britischen Behörden ließen sich wenig beeindrucken: Ziegler wurde wegen Missachtung des Publikationsverbots verhaftet, gegen seinen Verlag ein Liquidationsverfahren eingeleitet. Anbiederung als Überlebensstrategie war jedoch nicht auf die Hanseatische Verlagsanstalt und auch nicht auf die britische Zone begrenzt. In der US-Zone war es zum Beispiel der Carl Winter Universitätsverlag in Heidelberg, dessen Verlagsleiter, als Nationalsozialist bekannt, 5000 Exemplare eines Gedichtbandes mit dem Titel Die Anti-Panzer Faust druckte. Furth bemerkte dazu:   

Seine Politik erklärt sich von selbst und bestätigt die Gerüchte, die in Darmstadt umgehen, dass er eine komplette Wendung von der Veröffentlichung von Nazi-Literatur zur Publikation von Anti-Nazi-Literatur vollführen möchte und versucht, mit Hilfe dieser Methode eine mögliche Unterbrechung oder Schließung der Firma zu umgehen.22

Bei taktisch geschickterem Handeln konnte eine solche Strategie allerdings auch aufgehen. Nur wenige Stunden nach der Kapitulation hatte der Vertriebsleiter des Bertelsmann Verlags, Fritz Wixforth, der Militärverwaltung in Gütersloh die Zwänge dargelegt, denen der Verlag im Nationalsozialismus ausgesetzt gewesen war: Als einer der größten deutschen Buchverlage habe er es dennoch vermieden, irgendwelche nationalsozialistische Literatur zu verlegen und sei deshalb vom Reichspropagandaministerium kritisch überwacht worden.23 Ehe die strengeren Entnazifizierungsmaßnahmen der britischen Behörden zum Zweck eines radikalen Neuanfangs durchgesetzt wurden, gelang es Bertelsmann, auch aufgrund seines aus dem Krieg geretteten umfangreichen Materiallagers, sich eine Spezial-

Wehner Teil des NS-Massenbuchmarkts, veröffentlichte aber auch Bücher für das traditionelle bürgerliche Lesepublikum und betreute sogar Autoren, die als oppositionell stilisiert wurden (Werner Bergengruen, Ernst Jünger). Vgl. Siegfried Lokatis: Hanseatische Verlagsanstalt: Politisches Buchmarketing im ‚Dritten Reich‘. Frankfurt a. M. 1992, S. 188. 21 Ebd., S. 168f. 22 AUC 221/14 Furth, Charles A. 1945 Vertraulicher Bericht der US-Militärbehörden, Beilage zum Brief von Capt. C. A. Furth (Information Control) an Philip Unwin (Allen and Unwin), 24.8.1945. [Übersetzung von J.J.] Der Verlag wurde Mitte 1946 lizenziert, Lizenznehmer war Lambert Schneider. 23 Vgl. Sammlung UHK, I.2/1007, Fritz Wixforth an Alliierte Militärregierung Gütersloh, 9.5.1945. Zitiert nach: Bertelsmann im Dritten Reich. Hg. v. Saul Friedländer, Norbert Frei, Trutz Rendtorff u. Reinhard Wittmann. München 2002, S. 519.  

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lizenz für lukrative Regierungsaufträge zu sichern, die sonst nur politisch unbelasteten oder verfolgten Verlegern zuteil wurde. Den meisten Firmen wurde indes jegliche Publikationstätigkeit untersagt. Außerdem erging die Forderung an sie, Naziliteratur innerhalb ihrer Bestände zu beseitigen. Was darunter fiel, war in der Nachrichtenkontrollanweisung Nr. 1 der Militärregierung in Deutschland (Kontrollgebiet des obersten Befehlshabers) allgemein beschrieben. Der ‚Director of Publications‘ der britischen ‚Information Control‘ fügte ihr konkretere Erläuterungen hinzu:24 Verboten wurden Bücher, die „nationalsozialistische oder ähnliche ‚völkische‘ Ideen (einschließlich Rassenkunde und Rassenhass)“ verbreiteten. Verdächtig waren ebenso „Veröffentlichungen seit 1933 über Anthropologie, Sozialwissenschaften und Eugenik“, sowie Titel, die faschistische oder antidemokratische Ideen verbreiteten. Darunter fielen Veröffentlichungen seit 1933 über politische Theorie und Praxis, sowie offizielle Veröffentlichungen von Nazi-Organisationen, aber auch alle in dieser Zeit veröffentlichten Schulbücher. Besondere Aufmerksamkeit sollte auch auf die Entfernung solcher Bücher gerichtet werden, die die preußische soldatische Tradition verherrlichten, also alle, die militärische, großdeutsche oder deutschimperialistische Ideen verbreiteten. Dazu gehörten Erinnerungen deutscher Generäle, Bücher über Friedrich den Großen, aber auch Kinderbücher und Bilderbücher, die das Soldatenleben verherrlichten. Volkstümliche Geschichtswerke über Europa oder die Welt, Reisebücher, die nach 1932 erschienen waren und Bücher, die deutsche Kolonialansprüche unterstützten, waren ebenso ‚unerwünscht‘ wie solche, die Begriffe wie ‚Lebensraum‘, ‚Drang nach Osten‘ oder ‚Deutschland als Herz Europas‘ unkritisch verwendeten. Unter die Zensur fielen darüber hinaus Bücher, die Uneinigkeit zwischen den Vereinten Nationen schaffen oder zu ihrer Geringschätzung beitragen konnten, etwa herabsetzende Veröffentlichungen, insbesondere seit 1932, über Zustände in England, den USA oder Russland, über die britische, amerikanische und russische Geschichte oder die britischen Dominien oder Kolonien (v. a. Indien und Südafrika), also insbesondere solche Bücher, durch die der Machtverfall des Empires deutlich wurde. Diese „zum Aufruhr oder zur Unruhe anstiftende Titel“,25 die auf die Tätigkeit der Militärregierung in irgendeiner Weise störend einwirken konnten, näher zu bestimmen, lehnten die britischen Buchzensoren ab. Die eher vage gehaltene Bestimmung war beabsichtigt, um die Vorsicht und die Bereitschaft zur Selbstzensur zu erhöhen. Maßgebend war in jedem Fall das Buch, und  

24 Archiv des Norddeutschen Verleger- u. Buchhändler-Verbands (NVBV), Archivalien aus dem Hauptarchiv 1945–1970: Richtlinien für unerwünschtes Schrifttum, 21.7.1945. 25 Ebd.

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weniger der Verfasser. So galt zum Beispiel ein Buch über Schach nicht allein deshalb als ‚bedenklich‘, weil der Verfasser als Nationalsozialist bekannt war. Da so grundsätzlich jedes Buch, nicht nur Sachbücher, sondern auch Romane und Kinderbücher, einen ‚gelegentlichen Inhalt unerwünschter‘ Art oder ‚unerwünschte Absichten‘ enthalten konnte, wurde die Verantwortung für den Inhalt den deutschen Verlegern, Buchhändlern und Bibliothekaren übertragen. Was also an Literatur den Krieg überstanden hatte (obwohl ein großer Teil der Bestände bei Bombenangriffen zerstört worden war, betrug die Produktion im letzten Kriegsjahr immer noch fast 40% der Produktion von 1938) wurde nun aufgrund seines Inhalts von den Deutschen dezimiert. Um sich weitgehend von der totalitären NS- und autoritären sowjetischen Kulturpolitik abzusetzen, waren die britischen Besatzungsbehörden bestrebt, dies nicht selbst zu unternehmen: Zu sehr hätte dies an einen Index verbotener Bücher oder an eine öffentliche Bücherverbrennung erinnert. Michael Balfour, der spätere Leiter der ‚ISC Branch‘, kommentierte in den 1950er Jahren: Solch ein Vorgehen wäre nur dazu angetan gewesen, Märtyrer zu schaffen und in vielen Fällen ein Ausweichen zu fördern. […] So verfolgte man anfänglich die Politik, Verkauf, Nachdruck oder sonstige Verbreitung von Nazi-Material […] zu verbieten, darüber hinaus aber […] die Deutschen […] zu ermuntern, bei der Ausmerzung die Auswahl ihrerseits zu treffen.26

Diese Form einer ‚freiwilligen‘ Selbstzensur wurde von den deutschen Verlegern und Buchhändlern öffentlich begrüßt. Sie zu befolgen versprach, die verlorene Achtung wieder erringen zu können, „die Achtung vor uns selbst, vor unserm Volk, vor der ganzen Welt, letzten Endes aber vor der jetzigen britischen Regierung.“27 So hatte es der Hamburger Sortimentsbuchhändler Waldemar Heldt in seiner Eröffnungsrede bei der 1. Versammlung der Buchhändler am 10.7.1945 formuliert. Mit dem Angebot der Durchführung einer Selbstkontrolle war die Absicht verbunden, von den Briten die Genehmigung zur Neugründung einer Berufsorganisation zu erhalten. Schon am 23. Mai 1945 hatte bei Ernst Hauswedell eine Ausschusssitzung zur Neuordnung des Buchhandels in Gross-Hamburg stattgefunden, bei der eine Gruppe von elf Verlegern und Buchhändlern und zwei Rechtsanwälten, „nach einem Weg für die Zukunft“ suchten, „um von der Militärregierung Verständnis für unsere berufliche Lage und die Genehmigung zur Neu-

26 Michael Balfour: Vier-Mächte-Kontrolle in Deutschland 1945–1946. Düsseldorf 1959, S. 335f. Balfour war ab Oktober 1947 Leiter der ‚ISC Branch‘. 27 NVBV, Archiv 1945, Protokoll der Versammlung der Buchhändler in Hamburg, 10.7.1945.

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ordnung zu erhalten.“28 So war es nicht zufällig, dass der mittlerweile von den Besatzungsoffizieren als Sprecher des Berufsstandes autorisierte Verleger Christian Wegner, der neben einer politisch unbedenklichen Vergangenheit auch vorweisen konnte, Verleger der englischsprachigen Tauchnitz Edition zu sein, bei der ersten Versammlung seine Kollegen zur Vernichtung ihrer Altbestände aufrief: Ich bitte Sie, selbst dafür zu sorgen, dass Bücher dieser Art aus den Beständen Ihrer Lager sowie aus den Leihbüchereien unverzüglich entfernt werden. Bitte bedenken Sie, dass auch das schöngeistige Schrifttum der letzten zwölf Jahre in weitem Umfange von nationalsozialistischer Weltanschauung beeinflusst wurde, dass wir, um unsere Jugend zu einem neuen Typus von deutschen Menschen zu erziehen, eine völlige Änderung unserer Jugendliteratur vornehmen müssen, dass beispielsweise selbst Kinderlieder wie Bübchen, wirst du ein Rekrut oder Wer will unter die Soldaten keinen Platz mehr in unserer Jugendliteratur und in unseren Lesebüchern haben werden.29

Stichproben zeigten den britischen Behörden tatsächlich eine hohe Kooperationsbereitschaft und auch Eigenverantwortlichkeit der Deutschen bei der Zensur.30 Auch Beschwerdebriefe über Buchhändler, die noch nationalsozialistische Titel anboten, beim Norddeutschen Verleger- und Buchhändler-Verband, wurden bearbeitet, beantwortet und insgesamt ernst genommen.31 Das Vakuum, das durch die Zensur und das Druckverbot für deutsche Verleger entstand, sollte mit einem von britischer Seite organisierten Buchprogramm gefüllt werden, das als integraler Bestandteil der ‚Re-education Policy‘ insgesamt geplant worden war. Dass gerade dem Buch eine besondere Bedeutung zukam, lag am Charakter der Propagandapolitik des britischen ‚Ministry of Information‘ während des Krieges, die sich zunächst fast hauptsächlich an die Bildungselite im Land gerichtet hatte. Das Leitmotiv lautete: „The information should always flow downward.“32 Aus dieser elitären Tradition heraus setzte auch die britische ‚Re-

28 NVBV, Archivalien aus dem Hauptarchiv 1945–1970, Rede Christian Wegners in der Versammlung der Buchhändler am 10.7.1945 in der Handwerkskammer Hamburg. 29 Ebd. 30 So etwa beim Verlag Walter de Gruyter, bei dem es ein ziemliches Hin- und Her gegeben hatte, bevor der Verlagsleiter Herbert Cram lizenziert wurde. Die Überprüfung führte der 1939 nach England emigrierte Schriftsteller Martin Beheim-Schwarzbach durch (vgl. Anne-Katrin Ziesak: Der Verlag Walter de Gruyter 1749–1999. Berlin, New York 1999, S. 259). Beheim-Schwarzbach war während des Krieges im Auftrag der britischen Regierung als Radiojournalist für den Propagandasender Calais tätig, der sich an deutsche Soldaten richtete. Von 1946 bis 1949 arbeitete er für die britische ‚Control Commission‘ in Hamburg (vgl. Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Hg. v. Werner Röder, Bd. 2,1. München 1983, S. 69f.). 31 NVBV, Archivalien aus dem Hauptarchiv 1945. 32 PRO, INF 1/727 Memorandum by H. V. Rhodes, 16.11.1938.

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education Policy‘ bei der Förderung einer demokratischen deutschen Kultur und Geisteshaltung besonders auf das Medium Buch: „Was nun benötigt wird, ist nicht direkte Propaganda, sondern Bücher, die dafür geeignet sind, eine hoch gebildete Öffentlichkeit anzusprechen“,33 erklärte Gerard Hopkins, der Leiter der ‚Book Division‘ im ‚Foreign Office‘, im Juli 1945. Er war im zivilen Leben Übersetzer französischer Literatur und Lektor der Verlage Oxford University Press34 und Chatto & Windus.35 Für dieses ‚Bücher für Deutschland‘ genannte Programm sollten britische Verlage unbelasteten deutschen Firmen eine Übersetzungslizenz für Bücher, die während des Krieges in England erschienen waren, gewähren. Die Lizenzen waren zeitlich begrenzt; die Möglichkeit für langfristige Verträge mit deutschen Firmen sollte bestehen bleiben. Aus wirtschaftlichen Gründen wurde auch ausgeschlossen, englische Übersetzungen auf dem weniger lukrativen Markt außerhalb Deutschlands, etwa durch Verlage der deutschsprachigen Emigration oder der neutralen Schweiz herstellen zu lassen. Da unter dem Trading with the Enemy Act von 1939 die Verlage nicht direkt miteinander verhandeln konnten, wurde das Buchprogramm über die britischen Behörden organisiert. Die Titelauswahl hatte sich das ‚Political Intelligence Department‘ des ‚Foreign Office‘ vorbehalten. Vorschläge der Verlage wurden aber bereits im August 1944 angefordert. Zwischen Sommer 1945 und Oktober 1947 wurden über ein extra eingerichtetes ‚Book Selection Committee‘ Verträge mit britischen Verlagen für 223 Titel abgeschlossen. Ausgewählt wurden auch in sprachlicher Hinsicht ausgezeichnete, aber eher traditionelle Romane (wie die von Edith Sitwell oder Robert Graves), die besonders geeignet erschienen, die positiven Aspekte des ‚British Way of Life‘ herauszustellen, etwa die Leistungen der britischen Armee. Die britische Regierung war auch darauf bedacht, Mitgefühl für die Kriegserfahrungen der englischen Zivilbevölkerung zu vermitteln.36 Diese Betonung war im Hinblick auf die

33 AUC 221/10 Allen and Unwin 1945 letters file: FO-, Gerard Hopkins, Book Division, Political Intelligence Department of the Foreign Office, German and Austrian Division, London, 24.7.1945. 34 Oxford University Press hatte vor und während des Krieges u. a. eine deutschsprachige Reihe Flugschriften zur Weltpolitik herausgegeben. 35 Bei Chatto and Windus waren u. a. Werke von Hans Fallada, Oskar Maria Graf, Irmgard Keun, Hans Liepmann und B. Traven erschienen, Zusammenarbeit bestand beispielsweise mit Anton Kippenberg vom Insel-Verlag, dem Frankfurter Prestel Verlag oder mit Gottfried Bermann Fischer vom S. Fischer Verlag. Umgekehrt erschienen zwischen 1933 und 1938 Übersetzungen von acht bei Chatto and Windus verlegten Werken von Autoren wie Ann Bridge, David. Garnett, John PopeHennessy, Theodore F. Powys und Lytton Strachey in den im NS-Deutschland verbliebenen deutschen Verlagen Koehler und Amelang, R. Piper, Die Rabenpresse, Rowohlt und Marion von Schröder. 36 Vgl. Clemens: Britische Kulturpolitik, S. 152–159.  



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Besatzungsziele verständlich, doch wurde versäumt, der deutschen Bevölkerung ein Buchprogramm zu Verfügung zu stellen, das neuere literarische Entwicklungen und geistige Strömungen aus Großbritannien vorgestellt, unbekannter Exilliteratur eine Öffentlichkeit in Deutschland ermöglicht oder mit Hilfe politischer Analysen zur Aufklärung der jüngsten Vergangenheit beigetragen hätte. Überraschende Ausnahmen im britischen Buchprogramm waren Fenner Brockways Abrechnung mit der marxistischen Independent Labour Party unter dem Titel Inside the Left, die auch deutliche Kritik an der Sowjetunion enthielt und Arthur Koestlers Arrival and Departure. Das Porträt eines Widerstandskämpfers gegen das spanische Franco-Regime konnte als allgemeine Warnung vor Diktaturen gelesen werden. Die negativen Seiten der deutschen Zeitgeschichte berührten nur Christopher Isherwoods Berliner Erzählungen (Goodbye to Berlin) aus den 1930er Jahren. Insgesamt lehnte die ‚Book Division‘ im ‚Foreign Office‘ wirklichkeitsnahe Darstellungen und treffende Analysen des besiegten nationalsozialistischen Regimes ab, die von britischen Verlegern nun vorgeschlagen wurden. Darunter war Irmgard Littens eindrucksvolles Buch A Mother Fights Hitler über die Verfolgung und KZ-Haft ihres Sohnes Hans Litten, eines Kollegen von Rudolf Olden am Berliner Kammergericht, das in England Aufsehen erregt hatte und vom Ministry of Information als Kriegspropaganda genutzt worden war, nachdem Graham Greene, der zeitweilig dort dafür verantwortlich gewesen war, geäußert hatte: „It is a most remarkable book; the first I have read dealing with concentration camps which does not leave a feeling of depression and defeatism behind.“37 Die Bedenken, dass Darstellungen der ‚weniger angenehmen‘ Aspekte der nationalsozialistischen Zeit, wie sie vorsichtig genannt wurden, als ‚antideutsche‘ Propaganda empfunden werden und so den alliierten Interessen schaden konnten, waren stärker als diese Empfehlung. Die weitgehende Vermeidung negativer Emotionen war eine bereits bewährte Strategie der britischen Propagandapolitik, auch des ‚Ministry of Information‘ während des Krieges, das besonders bei der Buchpropaganda darauf geachtet hatte, die hauptsächlich an die gebildeten Schichten gerichtet war.38 Das britische Vorgehen war langfristig erfolgreich und hatte Auswirkungen auf den deutschen Buchhandel bis in die 1960er Jahre hinein: Eine empirische Auswertung der belletristischen Publikationen zeigt: Noch 1950 stammten bei einer Gesamtzahl von knapp 2200 Titeln die Mehrzahl der Übersetzungen (die ihrerseits ein Viertel der Gesamtproduktion ausmachten),

37 AUC 93/11 Ministry of Information 1940, Graham Greene (Ministry of Information) an Stanley Unwin, 27.5.1940. 38 Vgl. Joos: Trustees for the Public?, Kap. 5.

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nämlich 158 Titel, aus Großbritannien. Auf Frankreich entfielen 91, auf die USA nur 41 Titel, aus dem Russischen wurden 42 Übersetzungen gezählt. Erst 1955 erreichten die Übersetzungen aus dem Amerikanischen die Menge der französischen und näherten sich dann 1960 der Zahl der Titel aus England an.39 Die britische Lizenzierungspolitik war zunächst sehr strikt: Wer nach 1945 die Genehmigung zur Eröffnung oder Wiedereröffnung eines Verlags erhalten wollte, musste eine erfolgreiche Entnazifizierung vorweisen. Für die Führung eines Verlages waren offiziell nur Personen geeignet, die keine leitende Funktion in der NSDAP oder einer ihrer Organisationen, in der öffentlichen Verwaltung zur Zeit des ‚Dritten Reiches‘, einer kulturellen NS-Institution oder einem der NS-Verlage innegehabt hatten. Ausgeschlossen von verantwortlichen Positionen im Buchhandel waren alle Personen, die vor dem 1.4.1933 der NSDAP beigetreten waren oder, auch ohne aktive Sympathisanten des NS-Regimes gewesen zu sein, im Verdacht standen, den Zielen der Alliierten zu schaden. Grundbedingung für die Lizenzierung war bei denen, die dafür in Betracht kamen, auch der Nachweis der beruflichen Eignung und der Besitz eines entsprechenden Kapitalvermögens. Dass den britischen Offizieren neben der Wahrung des Ansehens auch ein organisierter Zugang zum Berufsstand wichtig war, lag an ihrer eigenen beruflichen Herkunft aus dem Buchhandel: Den Wunsch der alteingesessenen deutschen Verlage und Sortimente, neuen Firmen und damit neuer Konkurrenz den Zugang zum Buchmarkt zu erschweren, konnten sie selbst gut nachvollziehen. Doch war damit politisch unbelasteten Personen, wenn sie keine buchhändlerische Ausbildung oder berufliche Erfahrung von mindestens fünf Jahren vorweisen konnten, die Möglichkeit zur Gründung eines Verlages genommen. In den ersten Jahren dauerte die Bearbeitung von Lizenzanträgen unterschiedlich lang. Nicht nur politisch unsichere, auch den britischen Behörden unbekannte Antragsteller mussten teilweise zwei oder mehr Jahre warten, bis ihnen eine Lizenz erteilt wurde. Einzelpersonen ohne ausreichendes Kapital, selbst Verleger, die in der NS-Zeit durch nicht konformes Verhalten wirtschaftliche Verluste erlitten hatten, hatten dadurch eine geringere Chance, einen Verlag (wieder) zu gründen. In der Anfangsphase der britischen Besatzung wurden die Anträge auf Erteilung einer Lizenz genau und vorsichtig geprüft. Die politische Vergangenheit eines Verlegers wurde aufgrund vorhandener Informationen beurteilt, die dem Buchbüro von den ‚Publications Officers‘ der Regionen und vom Alliierten Hauptquartier zugingen oder aufgrund von Befragungen verschiedener Personen ermittelt worden waren. Außerdem musste jedem Lizenzantrag ein

39 Vgl. Günter Häntzschel, Adrian Hummel u. Jörg Zedler: Deutschsprachige Buchkultur der 1950er Jahre: Fiktionale Literatur in Quellen, Analysen und Interpretationen. Wiesbaden 2010, S. 6f.

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umfangreicher Fragebogen beigelegt werden, der zunächst an den Entnazifizierungsausschuss und anschließend an die ‚Book Section‘ der ‚ISC Branch‘ zur Beurteilung weitergeleitet wurde. Bei der Suche nach geeigneten Verlegern machte Stanley Unwin dem Major Furth Mut: Gleich zu Beginn seiner Tätigkeit schrieb er ihm: Ich meine, dass es möglich ist, eine ganze Reihe Verleger zu finden, die sich dem Regime nicht gebeugt haben. Auf jeden Fall gibt es einen oder zwei, in deren Integrität Sie komplettes Vertrauen setzen können. […] Sie werden, glaube ich, etwa sehen, dass die theologischen Verleger eine recht gute Akte haben.40

In der Tat waren unter den ersten rund 70 Verlagen, die noch im selben Jahr von der britischen Book Section lizenziert wurden, 18 (also ein Viertel) Verlage mit theologischem Programm, wogegen nur 13 Verlage ein belletristisches Programm aufwiesen. Unter den theologischen Verlagen waren Aschendorff und Regensberg in Münster, Schoeningh in Paderborn, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen, Friedrich Wittig in Hamburg und Schwann/Patmos in Düsseldorf. In der Firmengeschichte des Verlags Aschendorff heißt es: Die Unterdrückung des Verlages unter den NS-Machthabern und die aufrechte Haltung, mit der er dabei die Traditionen des Hauses zu wahren suchte, waren, wie man damals mit Erstaunen erfuhr, in England genau beobachtet worden.41

Tatsächlich schrieb Furth bereits im Juli 1945 an Unwin: Wie Sie es angedeutet hatten, haben die katholischen und protestantischen religiösen Verlagshäuser, mit einer Ausnahme, ihre Hände sauber gehalten. Tatsächlich habe ich Eduard Schoening vom gleichnamigen katholischen Unternehmen richtiggehend bewundert.42

Den größten Anteil der in der Britischen Zone erschienenen neuen Bücher stellten dann auch religiöse und theologische Schriften (25%).43 Sie entsprachen jedoch nicht den Lesebedürfnissen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung, die unverändert der Unterhaltungsliteratur den Vorzug gab.44

40 AUC 221/10 Allen and Unwin 1945 letters file: FO-, Stanley Unwin (Allen and Unwin, London) an Capt. C.A. Furth, 14.3.1945. [Übersetzung von J.J.] 41 Gottfried Hasenkamp: Dem Worte verpflichtet: 250 Jahre Verlag Aschendorff. Münster 1970, S. 25. 42 AUC 221/14 Furth, Charles A. 1945: Capt. C. A. Furth (Information Control) an Stanley Unwin (Allen and Unwin, London), 14.7.1945. [Übersetzung von J.J.] 43 Vgl. Clemens: Britische Kulturpolitik, S. 225. 44 Nach in Bibliotheken durchgeführten Umfragen, vgl. Clemens: Britische Kulturpolitik, S. 227.

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Im Herbst 1945 kehrte Furth nach England zurück. In den folgenden Jahren war der häufige personelle Wechsel in der Buchbehörde ein Problem. Zwar waren weiterhin Offiziere mit Erfahrungen im Verlagswesen in Deutschland tätig, etwa Lieut. Col. Kenneth Kirkness, ein ehemaliger Lektor des Verlags Hutchinson, aber für kürzere Zeit. Bald entstand der Eindruck, dass von der eigenen Behörde nicht mehr genau genug geprüft wurde und in der Praxis nicht verhindert werden konnte, dass politisch belastete Personen wieder kulturelle Schlüsselpositionen besetzten: 1947 lästerte ein Mitarbeiter der Public Relations Abteilung der ‚Information Services Branch‘, die Entnazifizierungsausschüsse hätten nur sehr selten den Beweis erbracht, dass ihnen der Unterschied zwischen einem politischen Verleger und einem Fabrikvorarbeiter bewusst war.45 In dieser Phase konnten sich neben eindeutig unbelasteten Verlagen allmählich wieder solche mit nationalsozialistischer Vergangenheit etablieren, immer wieder auch mit Hilfe der mit der Lizenzierung betrauten Offiziere. Die Studie über den Bertelsmann Verlag zeigt, dass auch ein Leiter der ‚Book Section‘, W[.] H[.] Paget-Brown46 wider besseren Wissens dem Verlag, der in der NS-Zeit mit Feldausgaben in Massenauflagen ein Vermögen verdient hatte, zu einer weißen Weste verhalf. Lediglich „erheitert-beifälliges Erstaunen“47 verriet er über die Art, wie Reinhard Mohn sich als Aufklärer gerierte, nachdem sein Vater in Verdacht geraten war, sich die Lizenz erschlichen und die Entnazifizierungsbögen gefälscht zu haben. Während des Genehmigungsverfahrens zeigte er sich überraschend kooperativ: Ihm war es lediglich wichtig, eine Persönlichkeit im Verlag zu wissen, die für alle Geschäftsvorgänge verantwortlich sei.48 Für die Publikation von Kriegsbüchern in der Vergangenheit zeigte er sogar „aus geschäftlicher Sicht“ Verständnis.49 Bertelsmann ist nicht der einzige Verlag, der sich aus nationalsozialistischer Zeit in demokratische Verhältnisse herüberretten konnte. Auch am Leipziger Verlag E. A. Seemann wird deutlich, dass die restaurativen Tendenzen des deutschen Beratenden Ausschusses für das Buchverlagswesen, in dessen Hände die Lizenzierung der Verlage mittlerweile übergegangen war,50 von der britischen Besat-

45 Vgl. PRO, FO 1056/268, Sely an Chief PR/ISC, 15.12.1947. Zitiert nach: Ebd., S. 213. 46 Nachfolger von Furth waren Geoffrey Halliday, außerdem Kenneth Kirkness, ein ehemaliger Lektor und Scout des Verlags Hutchinson, der die ‚Information Services Control Branch‘ in Bünde insgesamt leitete. Zeitweilige Mitarbeiter waren außerdem George Thompson, Hermann Augustine Piehler und Elliot Viney. 47 Zitiert nach: Bertelsmann im Dritten Reich. Hg. v. Friedländer, Frei, Rendtorff u. Wittmann, S. 532. 48 Vgl. ebd., S. 531. 49 Ebd., S. 534. 50 Der ‚Beratende Zonenausschuss für das Buch-Verlagswesen‘ war aufgrund der am 15. Oktober 1947 von der ‚Militärregierung Deutschland – Britisches Kontrollgebiet‘ erlassenen Verordnung

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zungsbehörde stillschweigend geduldet wurde, solange wirtschaftlicher Erfolg garantiert schien. Elert Seemann (1892–1989), Inhaber des Verlags, hatte sich schon frühzeitig der NSDAP angeschlossen. In der Folge gab er dem kunstwissenschaftlichen Profil des Verlages einen eindeutig nationalsozialistisch-propagandistischen Charakter.51 In der sowjetisch besetzten Zone war Seemann nach 1945 nicht wieder zugelassen worden. 1948 ging er nach Köln. Hier gelang es ihm, aufgrund des renommiertesten Titels des Verlags, des ‚Thieme-Becker‘ (Lexikon der bildenden Künstler), die Unterstützung der Kunstfachleute der ‚Information Services‘52 zu gewinnen. Im, von der ‚Control Commission‘ nicht widersprochenen, Prüfbericht war folgende Einschätzung zu lesen: Seemann „ist ein alter Fachmann und wirtschaftlich gut fundiert. Seine politische Einstufung […] wird dadurch ausgeglichen, daß die Kunstabteilung der britischen Militärregierung ihn nachdrücklich empfiehlt.“ Interessant ist der folgende Hinweis: „Das frühere Schrifttum ist nicht nazistisch verseucht gewesen. Das neue Verlagsprogramm ist gut.“53 Nach dem Abschluss ihrer Entnazifizierungsverfahren kehrten auch solche Verleger in den Buchhandel zurück, die in der NS-Zeit erfolgreich tätig gewesen waren. Ihren alten Autoren, die bis vor kurzem noch die gerühmten ‚Kulturträger des Dritten Reiches‘ gewesen waren, gaben sie aus Vorsicht noch keine öffentliche Plattform: Alle Verleger trugen aufgrund der Lizenzbestimmungen die volle Verantwortung für die Integrität ihrer Autoren und ihre Arbeit wurde von der Buchbehörde in verschiedenen Stadien überwacht und kontrolliert.54 Von den ca.

Nr. 106 am 15.6.1948 in Hannover konstituiert und danach im Kultusministerium in Düsseldorf angesiedelt worden. Eine Gruppe von zwölf bis zwanzig deutschen Branchenvertretern war nun für die Erteilung und Entziehung von Verlagslizenzen und die Zuteilung von Material verantwortlich, die britische ‚Control Commission‘ hatte sich jedoch ein allgemeines Vetorecht vorbehalten. 51 Im Bereich der Kunstgeschichte erschienen z. B. von Wilhelm Pinder: Vom Wesen und Werden deutscher Formen sowie Hans Weigert: Kunst von heute als Spiegel der Zeit und Paul SchultzeNaumburg: Kunst aus Blut und Boden. 52 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland (LA NRW), NW 14/1230, L. G. Perry (Chief MFA & A Officer, Land Monuments, Fine Arts & Archives Dept., Land North Rhine Westphalia, Düsseldorf), 8.6.1948. 53 LA NRW, NW 14/1230, Aktennotiz von ORR Schmitt (Kultusministerium NRW), o. D. [Okt. 1948]. 54 So hatte beispielsweise Heinrich Mohn, der Leiter des Bertelsmann Verlags, 1946 versucht, ein Buch von August Winnig zu veröffentlichen, von W[.] H[.] Paget-Brown, zu diesem Zeitpunkt Chef der Buchbehörde, allerdings die Antwort erhalten, dieser Autor sei unerwünscht und es sei nicht gestattet, irgendwelche Werke von ihm zu publizieren (vgl. Deutsches Literatur Archiv Marbach (DLA), R. A. Schröder: Dokumente anderer, Information Control Division über Winnig, August, Information Control Unit, Publications Control Section an Verlagsbuchhandlung H. Mohn, Gütersloh, 13.7.1946).  



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8600 Fahnenabzügen, die in den ersten zwei Jahren dem ‚Book Censorship Bureau‘ zur Prüfung vorgelegt worden waren, waren 233 Titel zurückgewiesen worden.55 Hans Grimm, der Autor eines Bestsellers der NS-Zeit, Volk ohne Raum, sprach 1947 von einer Vereinsamung, von der „wir alle sprechen [können], die vor dem Kriege etwas galten.“56 Da er immer noch glaubte, zu denjenigen zu gehören, „die das geistige Deutschland weitgehend beeinflussen“57 könnten und sollten, begann er gleich nach dem Krieg einen Lebens- und Rechenschaftsbericht unter dem Titel Leben in Erwartung.58 Mehr als auf einen deutschen Verlag, richtete Grimm seine Arbeit auf die britische Besatzungsmacht aus. Er drängte, wie er sagte, „sehr auf die Verbindung“59 zu Großbritannien – selbst mit einem offenen Brief an den Erzbischof von Canterbury, „einem […] Versuch, die Dinge richtig darzustellen und richtig erkennen zu lassen. Ich bin sehr neugierig, was die Engländer dazu sagen werden, und ob Sie mir wenigstens einen Privatdruck gestatten.“60 Für seine 1938 bei Bertelsmann erschienene Englische Rede61 hatte er bereits Ende 1945 versucht, eine Publikationserlaubnis zu erhalten, obwohl sein ehemaliger Verleger Heinrich Mohn ihn gewarnt hatte, nicht zu rasch vorstellig zu werden. Mohn hielt sich auch aus eigenem Interesse zurück, da er fürchten musste, sein Lizenzantrag werde abgelehnt wenn bekannt würde, dass er ein Programm mit belasteten Autoren plane.62 Dies verkennend, bat Grimm August Winnig für ihn festzustellen, „wer nach Hamburger Meinung an der Spitze der deutschen kulturellen Dinge bei den Engländern steht? Ich möchte an die richtige Persönlichkeit schreiben“,63 – so der Autor. Doch Winnigs Empfehlung erwies sich als zwecklos. Die Englische Rede wurde von der Buchbehörde höflich als ‚nicht mehr im Einklang mit der heutigen Zeit stehend‘ abgelehnt, was Grimm dann folgendermaßen kommentierte: „Leider scheint der zuständige Engländer ein Jude zu sein. Ich habe nichts gegen die Juden, aber aus irgendeinem Grund

55 Vgl. Monthly Report of the Control Commission for Germany (British Element), September 1946, S. 39. 56 DLA, Grimm, Hans: 1933–48, Hans Grimm an Edwin Erich Dwinger, 17.4.1946. 57 Ebd., Waltraut Dwinger an Hans Grimm, 31.1.1946. 58 Vgl. ebd., Hans Grimm an Edwin Erich Dwinger, 9.2.1946. Grimm hatte keinen Verleger mehr, hatte aber, wie er Dwinger schrieb „auch noch nicht gesucht. Ich möchte mit dem Buch beginnen und dann alles folgen lassen.“ 59 Ebd., Hans Grimm an August Winnig, 8.10.1945. 60 Ebd., Hans Grimm an Edwin Erich Dwinger, 25.2.1946. 61 Diese Rede enthielt einen Appell an England, eine Allianz der ‚Nordischen Völker‘ gegen den Rest der Welt einzugehen. Im angelsächsischen Raum las man den Text 1938 als eindeutiges Zeichen des deutschen Rassismus. 62 Vgl. Bertelsmann im Dritten Reich. Hg. v. Friedländer, Frei, Rendtorff u. Wittmann, S. 544. 63 DLA, Grimm, Hans: 1933–48, Hans Grimm an August Winnig, 3.12.1945.

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haben die Juden anscheinend irgend-etwas gegen mich.“64 Der englische Zensor legte Reinhard Mohn den Titel vor und bat ihn um seine Einschätzung: Es war ein Test für Mohns politische Einstellung im Rahmen eines erneuten Lizenzprüfverfahrens.65 Edwin Erich Dwinger, der an einem politischen Tagebuch, einem 5-bändigen Werk mit dem Titel Das verlorene Paradies,66 saß, erging es ähnlich: „Diederichs ist noch nicht so weit, die neuen Herrschaften aber meiden mich wie einen ansteckenden Bazillus – solange ich noch nicht denazifiziert bin… Aber man merkt es sich.“67 Werke von Grimm und Dwinger wurden erst nach der Gründung der Bundesrepublik wieder veröffentlicht. Doch für andere unter dem NS-Regime erfolgreiche Autoren lockerten sich, ähnlich wie für die Verleger, nach und nach die Bestimmungen. Immer mehr der ‚alten Bekannten‘, wie Grimm seine Kollegen nannte, konnten, wie Wilhelm Schäfer oder Paul Alverdes, bereits 1946 wieder ‚frei auftreten‘, was Hans Grimm verstimmt bemerkte: Wer diese Dinge bestimmt, ahne ich nicht. Ich weiß nur, daß noch vor kurzem ein EuropaUnion Aufsatz von mir am Erscheinen gehindert wurde, und weiß weiter, daß ein Lizenzband, den die Engländer genehmigt hatten, angeblich bei weiterem Verfolge Schwierigkeiten begegnet.68

Den Charakter der britischen Zensurpolitik kommentierte er allerdings zutreffend: „Ich glaube, es ist falsch, von einer Stellungnahme der Militärregierung zu sprechen, es handelt sich da wohl immer um die Stellung einzelner Männer und Zensoren.“69

64 Ebd., Hans Grimm an August Winnig, 28.12.1945. 65 Mohn meinte vieles, was Grimm gesagt habe, möge jetzt von der Geschichte überholt sein, manches jedoch sei seines Erachtens mit großer Berechtigung gesagt. Felix konnte ihm in keinem einzigen Punkt zustimmen. Die Englische Rede zeugte nach seiner Meinung vor allem von dem Missverständnis, dem sich die deutsche Nation gegenüber der englischen hingegeben habe und noch immer hingebe (vgl. Bertelsmann im Dritten Reich. Hg. v. Friedländer, Frei, Rendtorff u. Wittmann, S. 700, Anm. 121). 66 Grimm bemerkte dazu: „Sie haben doch sehr viel Energie, dass Sie schon jetzt an der Hand Ihres Tagebuches das ganze Ereignis der letzten 5 Jahre zusammen zu fassen wagen. Ich werde nur mit dem Titel nicht fertig. Denn welches Paradies ging verloren? Ich hoffe sehr, dass es Ihnen möglich sein wird, das ganze Geschehen mehr aus den Ursachen als aus dem Nationalsozialismus her zu entwickeln. So unsympathisch mir die Partei war, so empfindlich bin ich geworden gegen den Mißbrauch der Partei bei den gegenwärtigen Erklärungen.“ (DLA, Grimm, Hans: 1933–48, Hans Grimm an Edwin Erich Dwinger, 25.2.1946.) 67 DLA, Grimm, Hans 1933–48, Dwinger an Hans Grimm, 17.4.1948. 68 Ebd., Hans Grimm an Edwin Erich Dwinger, 17.4.1948. 69 Ebd., Hans Grimm an August Winnig, 31.12.1946.

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Tatsächlich richtete sich mit dem sich verschärfenden Ost-West-Konflikt das Interesse der britischen Behörden auf kommunistische Publikationen. Die bei Kriegsende vorherrschende, tiefe Skepsis gegenüber der Demokratiefähigkeit der Deutschen änderte sich auf oberster Regierungsebene wenig; es blieb das Misstrauen, dass die nur oberflächlich pazifizierte deutsche Bevölkerung für antidemokratische Richtungen anfällig sei.70 Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen war die britische Militärregierung in der ersten Nachkriegszeit bemüht gewesen, möglichst unparteiisch aufzutreten und damit weder die eigene moralische Position zu schwächen, noch sich dem Vorwurf der Illiberalität vonseiten der sowjetischen Besatzungsmacht auszusetzen. Im Verlauf der Verschlechterung der Beziehungen zum sowjetischen Alliierten wurden solche Vorsichtsmaßnahmen zurückgenommen und antikommunistische Maßnahmen deutlicher: Nachdem britische Berichterstatter im Verlauf des Jahres 1946 immer wieder auf die gute herstellerische Qualität der Publikationen der KPD hingewiesen hatten, war im Herbst eine Verordnung ergangen, die die Einfuhr von Drucksachen aus der SBZ verbot, ein Eingriff, der dazu gedacht war, die Chancengleichheit zwischen den politischen Parteien zu wahren, zunächst aber wenig angewandt wurde.71 Nach der Verschärfung der interalliierten Spannungen und nachdem sich erwiesen hatte, dass die oppositionellen Kräfte in der sowjetisch besetzen Zone aus einer liberalen Behandlung der westdeutschen kommunistischen Gruppierungen keinen Nutzen ziehen konnten, gingen seit Frühjahr 1947 die britischen Behörden offensiver vor: Die britischen Offiziere waren zunächst auch zurückhaltend gewesen, Verlagen, die bereits in einer anderen Zone eine Lizenz erhalten hatten, für ihr Gebiet ebenfalls die entsprechende Erlaubnis zu erteilen. Die in der sowjetischen Zone verbliebenen nicht-kommunistischen Verlage sollten nicht der Gefahr von Repressionen ausgesetzt werden. Diese Vorsichtsmaßnahmen galten nun nicht mehr; Hilfe für liberal ausgerichtete Privatverlage in Berlin oder Leipzig, die versuchten mit ihrem Betriebskapital in die Westzonen umzusiedeln, wurde nun verstärkt gewährt: so den Verlagen Gustav Kiepenheuer oder Felix Meiner. An beiden Rettungsaktionen war ein Autor und Mitarbeiter des Verlags Allen and Unwin, Hermann Augustine Piehler, beteiligt.72 Felix Meiner floh zwar erst 1951 aus Leipzig nach Hamburg, hatte sich aber bereits ab 1946 mit der Gründung einer West-Dependance abzusichern versucht: Zu groß waren die Hindernisse,

70 Vgl. Till Kössler: Abschied von der Revolution. Kommunisten und Gesellschaft in Westdeutschland 1945–1968. Düsseldorf 2005, S. 126f. 71 Vgl. ebd., S. 130. 72 Hermann Augustine Piehler war Autor der englischsprachigen Ausgaben des ‚Baedeker Reiseführers‘ und hatte nach 1946 die Tätigkeit eines ‚Publications Officers‘ in Bünde übernommen.

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die der „einseitig auf kommunistisches Schrifttum eingestellte“73 ‚Kulturelle Beirat‘ in der SBZ dem liberalen Verleger in den Weg gestellt hatte: „Übelwollende werden vielleicht sagen, das wäre eben dann doch eine Zensur.“74 Unter Umgehung der Bestimmung, dass nur Personen mit Berufserfahrung eine Tätigkeit als Verleger aufnehmen durften, erhielt Meiners Sohn Richard die Lizenz für die Gründung eines Verlags, obwohl er noch in der Ausbildung bei einer Sortimentsbuchhandlung war. Dass so ein Teil des Vermögens und der Rechte des philosophischen Verlags nach Hamburg gerettet werden konnte, lag insbesondere an der Empfehlung Stanley Unwins,75 mit der Richard Meiner bei „Mr. Piehler in Bünde und Mr. Baring in Hamburg […], eine sehr freundliche Aufnahme gefunden“ hatte. Dass der Verlag im Frühjahr 1948 die Lizenz erhielt,76 war „zu einem erheblichen Teil“ Unwins Äußerung über Felix Meiners „persönliche Haltung in der Nazizeit“77 zu verdanken. Meiner war kein Einzelfall. Auch bei der zunächst geplanten Verlegung des Gustav Kiepenheuer Verlags (später: westdeutscher Teil Kiepenheuer & Witsch) nach Köln war Piehler maßgeblich daran beteiligt, dass der Lizenzantrag „als außerordentlich dringlich“ eingestuft wurde und „unter Verzicht auf einige der sonst notwendigen Formalitäten so schnell wie möglich“ genehmigt wurde: Um einer drohenden Annexion durch die kommunistischen Behörden zuvorzukommen, wurde Josef Witsch „in Erkenntnis der für jeden freien Privatverlag tödlichen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Ostzone“78 in weniger als zwei Monaten eine Lizenz für eine Neugründung in der britischen Zone erteilt.79 Neben der Förderung von Verlagen bürgerlicher Prägung griff die britische Militärregierung nun immer wieder auch ein, wenn kritische Druckschriften verbreitet wurden: Die Barrieren für Kommunikationsmittel über die Zonengrenzen

73 Archiv des Felix Meiner Verlags im Besitz des Verlags in Hamburg, Kultureller Beirat: Allgemeines und Hegel-Gesamtausgabe, Dr. Felix Meiner an Schulrat Wolf (LDP, Berlin), 22.12.1949. 74 Archiv des Felix Meiner Verlags im Besitz des Verlags in Hamburg, Schriftwechsel zwischen Richard Meiner und Felix Meiner, August 1945–November 1948, Dr. Felix Meiner an Richard Meiner, 21.12.1947. 75 Wie weit Meiner von der Politik der Nationalsozialisten entfernt war, geht aus der Korrespondenz zwischen Felix Meiner und Stanley Unwin nach 1933 deutlich hervor (vgl. Archiv des Verlags Allen and Unwin in: The Publishers’ Archives, University of Reading). 76 Vgl. AUC 362/12 Felix Meiner Verlag, Leipzig, 1933, Felix Meiner (Felix Meiner Verlagsbuchhandlung, Leipzig) an Stanley Unwin (Allen and Unwin, London), 9.3.1948. 77 AUC 37/13 Felix Meiner Verlag, Leipzig, 1933, Felix Meiner (Felix Meiner Verlagsbuchhandlung, Leipzig) an Stanley Unwin (Allen and Unwin, London), 3.10.1947. 78 LA NRW, NW 14/1263, Lizenzantrag des Gustav Kiepenheuer Verlags, 27.11.1948. 79 Ebd., 21.2.1948.

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hinweg wurden erhöht, außerdem der Druck auf die kommunistische Presse und deren Verlage verstärkt. War der Import von Literaturerzeugnissen aus dem Ausland und den übrigen Zonen 1947 zunächst gelockert worden,80 wurde bereits kurze Zeit später die Öffnung nach außen schrittweise, anfangs durch Einzelverbote, wieder zurückgenommen. Diese betrafen vor allem im Ostsektor Berlins gedruckte Titel, die im Verdacht standen, die Politik der Westmächte anzugreifen. Aus heutiger Sicht betrachtet, sind Titel wie Die Männer hinter den Kulissen von A[.] Leonidow81 wenig mehr als eine Kritik an der Macht global agierender Banken. Andere Titel, etwa Robert Willers: Hinter dem seidenen Vorhang82 oder die Ausgaben der ebenfalls verbotenen Sozialistischen Bildungshefte, waren radikalere und auf Affekte zielende Veröffentlichungen, die mit Anklagen gegen ‚die Reaktion‘, die die Vernichtung der Einheit Deutschlands anstrebe oder den Marshall-Plan zur Beherrschung der Weltmärkte benutze, als eindeutig rufschädigende und gegen die englische und amerikanische Militärregierung in Deutschland aufwiegelnde Lektüre betrachtet wurden. Im Sommer 1948 wurden Überlegungen laut, die Veröffentlichungen der KPD, anders als die der übrigen Parteien, generell einer Vorzensur zu unterwerfen.83 Am 1.1.1949 erging von den britischen Behörden ein rückwirkendes Verbot der Einfuhr aus der SBZ oder jedem Gebiet außerhalb Deutschlands in die britische Zone, das sich auf „sämtliche sowjetisch lizenzierten deutschen Zeitungen, Broschüren, Anschläge, Magazine, Zeitschriften, Filme, Bücher und sonstiges gedrucktes Material oder […] jede sowjetische Veröffentlichung in deutscher Sprache“ erstreckte, sofern eine solche Einfuhr nicht ausdrücklich von der Militärregierung genehmigt wurde.84 Alle Waren, die nach dem 10.11.1948 eingeführt worden waren, unterlagen der Beschlagnahme; Verstöße gegen diesen Befehl wurden als Vergehen gemäß § 21, Art. II der Military Government Ordinance Nr. 1 geahndet. Ab 1949 verringerte die britische Besatzungsmacht kontinuierlich ihr Personal in Deutschland. Dass mit der Gründung der Bundesrepublik und der Verabschiedung des Grundgesetzes eine umfassende Meinungsfreiheit gewährleistet war, stand fest. Die britischen und französischen Streitkräfte stimmten der Aufhebung ihrer Eingriffsbefugnisse allerdings erst im September 1949 zu und auch dann nur teilweise: Das Gesetz Nr. 5 der Alliierten Hohen Kommission vom 21. Sep-

80 Einfuhren aus der amerikanischen und französischen Zone waren ab 1947 möglich, aus der sowjetisch besetzten Zone ab Anfang 1948. 81 A. Leonidow: Die Männer hinter den Kulissen. Berlin 1947. 82 Robert Willers: Hinter dem seidenen Vorhang. Berlin 1948. 83 Vgl. PRO, FO 1049/1363: Censorship on KPD-Pamphlets. – Kössler: Abschied von der Revolution, S. 134. 84 NVBV, Rundschreiben Nr. 22 (Januar 1949), 14.1.1949.

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tember 1949 hob zwar alle durch das Gesetz Nr. 191 vom 24.1.1944 und seine Folgebestimmungen verfügten Beschränkungen für den deutschen Verlagsbuchhandel auf, doch behielten sich die ehemaligen Besatzungsmächte Eingriffsmöglichkeiten vor, die dem „Schutz der Sicherheit und des Ansehens der alliierten Streitkräfte“85 dienten. Auch das Importverbot für Publikationen aus der sowjetisch besetzten Zone blieb nach der Gründung der Bundesrepublik bestehen. Auch in der westdeutschen Gesellschaft vollzog sich eine Wende: Waren es zunächst die britischen Militärbehörden, die darauf hinarbeiteten, den vielfältiger und zahlreicher werdenden kommunistischen Propagandaaktionen härter zu begegnen, übernahm spätestens ab Herbst 1950 die deutsche Exekutive die Führung in der antikommunistischen Politik. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich zurückgehalten, um die Teilung Deutschlands nicht zu zementieren. Die radikalisierte Stimmung bekamen selbst Vertreter bürgerlicher Verlage zu spüren, wenn sie sich ihr nicht anschlossen. Der Hamburger Verleger Ernst Rowohlt etwa sah sich massiver informeller Zensur der bundesdeutschen Politik und Öffentlichkeit gegenüber, nachdem er in seiner Eigenschaft als Vorstandsmitglied des ‚Norddeutschen Verleger- und Buchhändler-Verbands‘ im Sommer 1950 am ostzonalen Schriftsteller-Kongress teilgenommen hatte. Er hatte dort, unbedachterweise, wie er später öffentlich äußerte, eine Erklärung gegen den Einsatz der Atombombe unterschrieben. In der bundesrepublikanischen Presse wurde ihm daraufhin so heftig Parteinahme und anti-westdeutsche Haltung vorgeworfen, dass die offizielle Politik reagierte: Am 28.7.1950 rief Senatsdirektor Lüth auf Betreiben des schockierten Hamburger Bürgermeisters Max Brauer (SPD) den Verband an und machte ihm klar, dass der Senat die Haltung Ernst Rowohlts als „einen Affront und eine Solidarisierung mit den Sowjets empfinde“ und sich „künftig in allen Fällen vom Verband distanzieren werde, bzw. ihn nicht unterstützen könne, wenn Herr Rowohlt weiterhin in offizieller Eigenschaft auftrete.“86 Der Vorstand des Verbands vereinbarte, Rowohlt schriftlich nahezulegen, seine Ämter bis zur Klärung mit dem Senat zur Verfügung zu stellen.87 Diese Vorgehensweise war mit Rowohlt abgestimmt worden. Ebenso wurde vereinbart, dass der Vorsitzende Ernst Hauswedell eine Stellungnahme Rowohlts dem Ersten Bürgermeister vorlegen sollte. Rowohlt gab sich in diesem Schreiben sehr zurückhaltend und bedauerte seine „offensichtlich allgemein missverstandene Haltung“, die lediglich das Ziel gehabt habe, „die Verbindung zu manchen Autoren, die in der Ostzone wohnen, nicht abreißen zu lassen.“ Resümierend heißt es: 85 Alliierte Hohe Kommission, Gesetz Nr. 5 v. 21. September 1949. 86 NVBV, Aktennotiz: Betrifft: Senat – Rowohlt, 14.8.1950. 87 Vgl. NVBV, Ernst Hauswedell (1. Vorsitzender des Norddt. Verleger- u. Buchhändler-Verbands) an Ernst Rowohlt, 10.8.1950. Rowohlt blieb im Anschluss weiterhin im Amt.

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„Rückblickend kann ich wohl sagen, dass […] ich mir […] nicht bewusst war, damit eine etwa politische Handlung begangen zu haben, die sich als anti-westdeutsch auslegen ließe.“88 Ab Mai 1951 wurde im Bundesinnenministerium intensiv diskutiert, wie gegen politisch unerwünschte Druckerzeugnisse vorgegangen werden könnte, obwohl das Grundgesetz, das die Meinungsfreiheit schützte, eine Zensur ausschloss. Höhepunkt dieser Debatte war der Antrag auf ein Verbot der KPD und der in ihrem Umfeld entstandenen Publikationen, der einige Monate später, im November 1951, gestellt wurde.89 Tatsächlich konnten die im Grundgesetz garantierten Rechte in Übereinkunft mit den britischen Besatzungsbehörden bis 1955, als der ‚Deutschlandvertrag‘ von 1952 in Kraft trat, unberücksichtigt bleiben, wenn sich Verbote auf die ebenfalls garantierten Sonderrechte der Siegermächte stützen ließen.90 Die Frage bleibt vorerst offen, ob (und falls ja, wie) diese besondere Rechtslage ausgenutzt wurde, um mit polizeilichen Maßnahmen gegen Druckereien, Verlage und Buchhandlungen vorzugehen. Ebenso ist bislang unerforscht, ob die alliierten Militärbehörden auch nach 1955 ihr Vorbehaltsrecht zum Schutz ihrer in Deutschland stationierten Truppen (Art. 5, Abs. 2) anwandten, um zusammen mit der Regierung der Bundesrepublik kritische politische Veröffentlichungen zu verhindern.91

88 NVBV, Entwurf eines Schreibens von Herrn Rowohlt an Herrn Dr. Hauswedell in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Verbandes, 10.8.1950. 89 Vgl. Edgar Wolfrum: Die Bundesrepublik Deutschland 1949–1990. Stuttgart 102001, S. 103– 105. 90 Maßnahmen zur Zensur von Publikationen gab es im Einflussbereich der Westmächte bis zum Sommer 1951 vgl. Kössler: Abschied von der Revolution, S. 274. 91 Näheres dazu findet sich in Josef Foschepoths Beitrag Postzensur und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik im vorliegenden Band.

Josef Foschepoth

Postzensur und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik Postzensur und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik, also in den Jahren zwischen 1949 und 1989: Hat es so etwas überhaupt gegeben? War das nicht die Domäne des Staatssicherheitsdienstes der DDR? Hat die Bundesrepublik nicht die freiheitlichste Verfassung, die die Deutschen jemals hatten? Sind nicht die Würde des Menschen, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Freiheit der politischen Weltanschauung, die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und nicht zuletzt das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis verfassungsrechtlich garantiert und geschützt? Beim Blick in die zeitgeschichtliche wissenschaftliche Literatur kann die Antwort nur lauten: Nein, eine Überwachung des Post- und Telefonverkehrs hat es in der alten Bundesrepublik wohl nicht gegeben. Keine einzige zeitgeschichtliche Spezialstudie1 und keines der zeitgeschichtlichen Standardwerke, keine der Gesamtdarstellungen und ‚Meistererzählungen‘ zur Geschichte der Bundesrepublik thematisieren eine solche Fragestellung. Angesichts der Fülle und Vielfalt, mit der sich die zeitgeschichtliche Forschung Jahr für Jahr beschäftigt, müsste doch ein Beitrag dabei sein, wenn Postzensur und Telefonüberwachung ein Thema der bundesrepublikanischen Geschichte gewesen wäre. De facto ist es ein Thema, allerdings ein Thema, das sich in seiner ganzen Dimension und Bedeutung für die innere Entwicklung der Bundesrepublik erst durch intensive Archivforschungen und hartnäckiges Ringen um bislang nicht zugängliche Akten und Geheimdokumente im Bundesarchiv und in den Registraturen der Geheimschutzabteilungen der Bundesregierung vom Kanzleramt über das Auswärtige Amt, den Bundesministerien des Innern, der Justiz, der Finanzen und für Wirtschaft als zuständiges Ministerium für das aufgelöste Bundesministerium für Post- und Fernmeldewesen eröffnet. Allein das Bundesamt für Verfassungsschutz hat bislang den Zugang zu seinen Akten verweigert und das ausgerechnet bei einem für die Entwicklung von Verfassung und Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik so wichtigen Thema.2

1 Vgl. hierzu Josef Foschepoth: Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik. Göttingen 2012. 2 Das Thema ‚Postzensur und Telefonüberwachung‘ ist Teil eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekts mit dem Titel: ‚Kalter Krieg in Deutschland. Rolle und Bedeutung der KPD im deutsch-deutschen Systemkonflikt, 1949–1968‘. Wegen der Größe und

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Das Post- und Telefongeheimnis im Grundgesetz Formal zeichnet sich eine Demokratie durch bestimmte rechtsstaatliche Prinzipien und Verfahren aus, zu denen Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Wahlen, politische Herrschaft auf Zeit und anderes mehr gehören. Rechtsstaatlich im ‚materiellen Sinn‘, wie Juristen sagen, ist eine Demokratie erst, wenn sie sich nicht nur an bestimmte rechtsförmige Verfahren hält, sondern sich auch zu einer vorstaatlichen, über dem Gesetz stehenden, ‚überpositiven‘ Wertordnung bekennt, die zum Beispiel die Wahrung der Menschenrechte als Grundrechte garantiert. Grundrechte sind Persönlichkeitsrechte, die als Freiheits-, Gleichheits- und Unverletzlichkeitsrechte den Einzelnen vor Übergriffen des Staates schützen. Aufgrund der historischen Erfahrung mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft genießen die Grundrechte im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland einen besonderen Rang. Als überpositives Recht kann der Staat die Grundrechte nicht gewähren, sondern nur gewährleisten.3 Die Grundrechte stehen über dem Staat und sind gemäß Artikel 1 des Grundgesetzes unmittelbar geltendes Recht, das alle drei Gewalten bindet. Aufgrund ihres vorstaatlichen und überpositiven Charakters dürfen und können sie durch keine Verfassungsänderung abgeschafft werden.4 Einige von ihnen können zwar durch ein allgemeines Gesetz, nicht aber in ihrem Wesensgehalt eingeschränkt werden.5 Werden sie verletzt, können Sie von Jedermann auf dem Rechtsweg bis zum Bundesverfassungsgericht eingeklagt werden.6 Eine Aberkennung von Grundrechten ist prinzipiell zwar möglich, faktisch aber auf Ausnahmefälle begrenzt. „Nur wer die Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.“7 Eine Verwirkung von Grundrechten hat das höchste deutsche Gericht trotz ver-

Bedeutung des Themas für die Geschichte der Bundesrepublik ist auch zu ‚Postzensur und Telefonüberwachung‘ eine eigenständige Monographie erschienen. Ich danke an dieser Stelle der DFG für die bisherige Förderung und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesarchivs und der Geheimschutz-abteilungen der verschiedenen Bundesministerien für die große Unterstützung meines Forschungsprojektes, insbesondere durch die bereitwillige Bearbeitung meiner zahlreichen Anträge auf Benutzung und Herabstufung von Geheimakten der Bundesregierung. 3 Vgl. Josef Foschepoth: „Staatsschutz und Grundrechte in der Adenauerzeit“. In: Geheimschutz transparent? Verschlusssachen in staatlichen Archiven. Hg. v. Jens Niederhut u. Uwe Zuber. Essen 2010, S. 27–58, hier bes. „Grundrechte und Staatsschutz im Grundgesetz“, S. 31ff. 4 Vgl. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG), Art. 79, Abs. 3. 5 Vgl. ebd., Art. 19, Abs. 2. 6 Vgl. ebd., Abs. 4. 7 Ebd., Art. 18.

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schiedener Verfahren in seiner sechzigjährigen Geschichte nicht ein einziges Mal ausgesprochen. Die Hürden, die das Grundgesetz zum Schutz der Grundrechte errichtet hat, sind also sehr hoch. Dies gilt auch für Artikel 10 des Grundgesetzes, der klar und unmissverständlich formuliert: „Das Briefgeheimnis sowie das Postund Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich. Beschränkungen dürfen nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet werden.“8 Nicht nur das Verfassungsrecht, sondern auch das allgemeine Recht spricht eine eindeutige Sprache. Eingriffe in das Post- und Fernmeldegeheimnis sind streng verboten. Laut damaligem Postgesetz durften Briefe und sonstige Postsendungen weder geöffnet, noch gelesen oder deren Inhalt an Dritte mitgeteilt werden. Annahme und Beförderung von Postsendungen konnten nicht verweigert werden. Die Post hatte im Gegenteil eine Beförderungspflicht.9 Nicht zustellbare und verweigerte Sendungen mussten laut Postordnung an den Absender zurückgeschickt werden. Eine Beschlagnahme durfte und darf nur vom Richter verfügt werden.10 Selbst bei Gefahr im Verzug hatte der Staatsanwalt die beschlagnahmten Postsendungen dem Richter ungeöffnet vorzulegen. Bei Eingriffen in das Postgeheimnis drohte das Strafrecht harte Strafen an. Postbeamte, die sich eines solchen Vergehens schuldig machten, oder deren Vorgesetzte, die dies duldeten oder nicht dagegen vorgingen, konnten „mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft“11 werden. Bei dieser klaren und eindeutigen Rechtslage, so möchte man meinen, konnte es in der alten Bundesrepublik eigentlich weder Postzensur, noch Telefonüberwachung geben. Es sei denn, ein allgemeines Gesetz hätte, wie vom Grundgesetz gefordert, entsprechende Beschränkungen definiert. Ein solches Gesetz wurde jedoch erst 1968, fast 20 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland, vom Deutschen Bundestag verabschiedet. Demnach dürfte es zumindest vor 1968 keine Einschränkungen und Verletzungen des Post- und Telefongeheimnisses gegeben haben. Das war jedoch nicht der Fall. Im Gegenteil: Seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland wurden seitens des Staates jährlich Millionen von Postsendungen aufgebrochen, beschlagnahmt und vernichtet und ebenso viele Telefone abgehört, Fernschreiben und Telegramme abgeschrieben, und zwar von den ehemaligen Besatzungsmächten ebenso wie von den Westdeutschen selbst.

8 Ebd., Art. 10, Abs. 1 u. 2. 9 PG (Postgesetz), § 3, Abs. 1 lautet: „Die Annahme und Beförderung von Postsendungen darf von der Post nicht verweigert werden.“ 10 Vgl. StPO (Strafprozessordnung), § 100, Abs. 1. 11 StGB (Strafgesetzbuch), §§ 354, 357–359.

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Die Postzensur der Besatzungsmächte und der deutschen Dienststellen Bei ihrer Gründung stand die Bundesrepublik unter zweierlei Recht; unter dem Grundgesetz, das jeden Eingriff in das Post- und Fernmeldegeheimnis untersagte und unter dem Besatzungsstatut, das den Besatzungsmächten faktisch freie Hand ließ, den gesamten Post- und Telefonverkehr im Westen Deutschlands zu überwachen. Von ihrem Kontrollrecht machten die Siegermächte extensiven Gebrauch. In der französischen Zone wurde die gesamte Post grundsätzlich den französischen Behörden zugeleitet. Die Postkontrolle erfasste alle Sendungen aus Bonn, einschließlich der Korrespondenz der Bundesregierung und der Bundestagsabgeordneten. Auch Telegramme und Telefonanschlüsse wurden kontrolliert und überwacht. „Ich weiß,“ so der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag Heinrich von Brentano in einem Brief an Bundeskanzler Adenauer, dass beispielsweise in Mainz die Landesregierung, der Landtag, die Gerichtsbehörden, die politischen Parteien, die konfessionellen Verbände, der Bauernverband, das Regierungspräsidium, die Verlage, die Bischöfliche Kanzlei, der Bischof selbst, eine Anzahl von Anwälten, Landtags- und Bundestagsabgeordneten, bestimmte Firmen und Zeitungen usw. dieser ständigen Kontrolle unterliegen.12

Ein großer Kontrollapparat war nötig, um den großen Umfang der Post- und Telefonüberwachung bewältigen zu können. Allein in Düsseldorf waren in der britischen Überwachungsstelle 90 Leute beschäftigt.13 Die deutschen Behörden waren verpflichtet, bei der Überwachung der eigenen Bevölkerung aktiv mitzuwirken. Alles, was sie sahen und hörten, mussten sie jedoch geheim halten. In 20 Post- und Fernmeldeämtern von Bremen bis München und von Kaiserslautern bis Hof wurden alliierte Überwachungsstellen eingerichtet. Vor allem die Amerikaner führten intensive Kontrollen durch. Diese betrafen insbesondere den Postund Fernmeldeverkehr mit dem kommunistischen Machtbereich:

12 BArch (Bundesarchiv), B 136/20691, Schreiben v. 9.11.1951. 13 Vgl. „Walter Hallstein an die AHK (Alliierte Hohe Kommission), 26.8.1952“. In: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1952. Hg. v. Hans-Peter Schwarz u. a. München 2000, S. 580.  

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Abb. 1: Die Postzensur in der Bundesrepublik Deutschland 1950–1968

Die Deutschen beschränkten sich keineswegs nur auf Zulieferdienste für die Alliierten, sondern wurden auch selbst aktiv, als sich mit Beginn der Fünfzigerjahre der Propagandakrieg zwischen beiden deutschen Staaten verschärfte. 1951 wurde das politische Strafrecht, das die Siegermächte 1945 erst abgeschafft hatten, wieder eingeführt und verschärft. Danach musste jede politische Handlung, die als ‚staatsgefährdend‘ eingeschätzt wurde, strafrechtlich verfolgt werden. Hierzu gehörten auch die Einfuhr und Verbreitung ‚verfassungsverräterischer‘ bzw. ‚staatsgefährdender‘ Schriften und Materialien.15 Diese kamen in der Regel aus der DDR, wurden aber auch in der Bundesrepublik auf die Post gegeben. Die beschlagnahmten Brief- und Postsendungen beliefen sich laut 14 Foschepoth: Postzensur und Telefonüberwachung, S. 415. 15 Vgl. „1. StrÄG (1. Strafrechtsänderungsgesetz), §§ 88, 93“. In: Reinhard Schiffers: Zwischen Bürgerfreiheit und Staatsschutz. Wiederherstellung und Neufassung des politischen Strafrechts in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1951. Düsseldorf 1989, S. 347–361, hier S. 349, 351.

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Monats- und Jahresberichten des Bundesamtes für Verfassungsschutz allein in den Jahren 1955 bis 1968 auf 100 Millionen Sendungen.16 Halten wir fest: Mit Blick auf die Fünfziger- und Sechzigerjahre müssen wir 1. zwischen Postzensur und Telefonüberwachung, 2. zwischen alliierter und deutscher Zensur, 3. zwischen Einzelüberwachung und allgemeiner Überwachung unterscheiden. Die Einzelüberwachung (Post und Telefon) machte nur einen Bruchteil der allgemeinen oder auch strategischen Post- und Telefonüberwachung aus. Das strategische Interesse der Besatzungsmächte zielte seit dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland zunächst auf eine doppelte Eindämmung, eine Eindämmung der deutschen und eine Eindämmung der kommunistischen Gefahr. Dieses Interesse spiegelte sich auch in der alliierten Überwachungspraxis der frühen Fünfzigerjahre wider. Die Westdeutschen kritisierten zum einen die Zensur der Alliierten ihnen gegenüber auf das Heftigste, nutzten zum anderen aber bereitwilligst das Besatzungsrecht, um unter Umgehung des Grundgesetzes, Postsendungen auf einen möglichen staatsgefährdenden Inhalt kontrollieren zu können. Die westdeutschen Dienststellen waren somit nicht nur Dienstleister für die Alliierten, sondern auch Zensor in eigener Sache, um die Bundesbürger vor der ‚Infiltration‘ tatsächlicher oder vermeintlicher kommunistischer Propaganda zu schützen, obwohl das Grundgesetz das Post- und Fernmeldegeheimnis für unverletzlich erklärte.17 Mit großer Perfektion entwickelten die Deutschen ein ‚Aussonderungssystem‘, dem kein ‚staatsgefährdender Brief‘ entkommen sollte. Seit 1951 gab es in Hannover eine so genannte ‚zentrale Aussonderungsstelle‘. Weitere Stellen wurden in Hamburg, Bebra und Hof und zwischendurch auch noch in Braunschweig und Nürnberg eingerichtet. Die Zensur eingehender Post aus der DDR begann bereits an der so genannten Zonengrenze. Postbeamte bestiegen die Postzüge und sortierten verdächtige Postsendungen aus.18 Angesichts der Masse der beschlagnahmten Postsendungen wurde die Vernichtung eingezogener Postsendungen schon bald gängige Praxis. Nicht nur so genannte staatsgefährdende Briefe, sondern auch mancher ‚liebe Brief‘ aus Ostberlin und der DDR landeten, wie der Spiegel schrieb, nicht beim Adressaten, sondern im Gefängnis von Hannover. Hier stand ein Reißwolf, in dem Strafgefangene die beschlagnahmten Postsendungen vernichteten.19 Die deutsche Zensur der im Inland aufgegebenen Post erfolgte in der Regel über das so genannte Bestimmungspostamt.

16 Vgl. BArch, B 443/529, B 443/531, B 137/16514, B 443/559. 17 Vgl. GG, Art. 10, Abs. 1. 18 Vgl. BArch, B 141/83687, Staatsanwalt Kaul, Überwachung von eingeschleustem Propagandamaterial, Vortrag auf der Staatsschutzreferententagung 1962. 19 Vgl. „Postkontrolle. Letzte Instanz.“ In: Der Spiegel 34 (1964), S. 26–27, hier S. 26.

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Angesichts der Fülle der beschlagnahmten Briefe und Pakete verlief die staatliche Postzensur keineswegs geräuschlos. Einige beschwerten sich oder reichten Klage ein, in der Regel vergeblich. Wissenschaftler erhielten die abonnierten Zeitschriften aus Osteuropa nicht mehr und protestierten. Abgeordnete vermissten ihre Briefe, Zeitungen und sonstigen Informationen aus der DDR. „Tatsächlich“, so der SPD-Bundestagsabgeordnete Adolf Arndt in einem Brief vom 4. Januar 1956 an den bayerischen Staatsminister der Justiz, „üben die Postbehörden im Zusammenwirken mit den Staatsanwaltschaften und den Amtsgerichten eine verfassungswidrige Zensur aus.“ Im Gegensatz zu früher hätten ihn schon lange keine Sendungen aus der sowjetisch kontrollierten Zone mehr erreicht, auch keine Sitzungsprotokolle der Volkskammer. „Ich habe Grund zu der Vermutung“, so Arndt weiter, dass irgendwo ein Postsekretär oder der Assessor einer Staatsanwaltschaft sitzen, die ihrerseits mit gottbegnadetem Unverstand darüber entscheiden, ob ein Bundestagsabgeordneter durch den Empfang dieser Drucksachen Schaden an seiner demokratischen Seele nehmen kann.20

‚Gesetzlose Verwaltungspraxis‘ und rechtliche Legitimierung In der Bundesrepublik Deutschland gab es zwischen 1949 und 1968 keine grundgesetzkonforme Beschränkung des Postgeheimnisses, sondern eine ‚gesetzlose Verwaltungspraxis‘, wie die leitenden Ministerialbeamten es durchaus selber sahen. Ein Gesetz zur Beschränkung des Post- und Telefongeheimnisses kam trotz verschiedener Anläufe nicht zustande. Die deutsche Teilhabe an alliiertem Recht, das über dem Grundgesetz stand, bot die Lösung. Bereits im November 1950 stellten die Besatzungsmächte fest, dass immer mehr Propagandamaterial auf dem Postweg in die westlichen Besatzungszonen gelangte. Innerhalb von vierzehn Tagen seien es allein 500.000 Sendungen gewesen. Es schien dringend erforderlich, so die Einschätzung, ‚diese Propagandaflut einzudämmen‘. Da eine Verschärfung der deutsch-deutschen Postzensur natürlich ein Politikum war bzw. werden konnte, baten die Besatzungsmächte Konrad Adenauer um dessen Zustimmung.21

20 BArch, B 141/17358. Eine Kopie des Schreibens ging auch an Bundesjustizminister Fritz Neumayer. Die Zitation der Quelle folgt der neuen Rechtschreibung. 21 Vgl. Adenauer und die Hohen Kommissare 1949–1951. Hg. v. Hans-Peter Schwarz u. a., Bd. 1. München 1989, S. 400f., Dokument 140, 3.11.1950.  

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Der Bundeskanzler erklärte sich mit der „vorgeschlagenen Verstärkung der Briefzensur einverstanden“.22 Daraufhin erließen die Besatzungsmächte im Dezember 1950 die so genannte 3. Durchführungsverordnung zum AHK-Gesetz Nr. 5, wonach Veröffentlichungen, die das Ansehen oder die Sicherheit der alliierten Streitkräfte bedrohten, künftig „von jedem zuständigen alliierten oder deutschen Beamten beschlagnahmt werden“23 konnten. Die Verordnung war vor allem deshalb erlassen worden, um „den Deutschen und den alliierten Dienststellen eine ausreichende Handhabe gegen die östliche Propaganda zu geben“.24 Alliierte und Deutsche zensierten nun gemeinsam nach alliiertem Besatzungsrecht und damit außerhalb des Grundgesetzes. Die eigentliche Frage, wie man ‚staatsgefährdende Postsendungen‘ überhaupt erkennen könne, war damit nicht gelöst. Entsprechend drängte der Postminister immer wieder auf eine gesetzliche Regelung, die mit dem Grundgesetz und dem Postgesetz vereinbar zu sein schien. Vergeblich, so dass sich die Bundespost immer mehr „in die Rolle einer Zensurbehörde gedrängt“25 sah. Mit Dienstanweisungen und Verfügungen des Postministers, die immerhin das Recht und die Pflicht der Beamten vorsahen, geschlossene Postsendungen zu öffnen und „an Ort und Stelle“26 zu vernichten, sollte die neue Rolle der Post, die später auf den Zoll überging, wenigstens halbwegs legitimiert werden. Ein allgemeines Gesetz zur Einschränkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses war aber politisch nicht durchsetzbar. Weder in Bundestag und Bundesrat, noch in der Öffentlichkeit war mit einer mehrheitlichen Unterstützung für ein Zensurgesetz zu rechnen. Möglich schien allenfalls ein Gesetz mit hohen restriktiven Auflagen, was wiederum von der Exekutive nicht gewollt war. Es konnte den erklärten Kampf des Staates gegen den Kommunismus nur erschweren. So versuchte man durch Anweisungen, Verordnungen, Rechtsgutachten und Einzelregelungen, versteckt in verschiedenen Gesetzen, gleichsam um das Grundgesetz herum einen rechtlichen Rahmen zu zimmern, der das Handeln der Exekutive absichern und legitimieren sollte. Aus diesem Bedürfnis heraus entstand ein juristisches Konstrukt, das im Wesentlichen auf folgenden politischen und rechtlichen Überlegungen basierte: 1. Besatzungsrecht: Angesichts der eindeutigen Gesetzeslage war der Kampf gegen die Verbreitung kommunistischer Propaganda auf dem Postwege nur im

22 Ebd., S. 401, Anm. 5, Notiz Vortragender Legationsrat Dittmann, 8.11.1950. 23 LAV NRW R (Landesarchiv Nordrhein Westfalen Abteilung Rheinland), NW 308/174, 21.12.1950. 24 BArch, B 136/5891, Bundesinnenminister Lehr an seine Länderkollegen, 21.2.1951. 25 BArch, B 106/16106, Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen, 27.11.1951. 26 BArch, B 137/16516, Vermerk Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen, 15.6.1951.

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Geheimen, ohne Öffentlichkeit und parlamentarische Kontrolle zu führen. Dazu bot das Besatzungsrecht, das über dem Grundgesetz stand, den willkommenen Rahmen.27 2. Verfassungsrecht: Um den Staatsschutz als vorrangig definieren und die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht relativieren zu können, wurde der „Grundsatz der Güterabwägung“ auch in das Verfassungsrecht eingeführt. Der Schutz der Grundrechte setzte nach Ansicht des Bundesjustizministeriums den Schutz des Staates als „höherwertiges Gut“ voraus.28 3. Strafrecht: Mit der Wiedereinführung des politischen Strafrechts Anfang der Fünfzigerjahre wurden Herstellung, Vervielfältigung, Verbreitung und Einfuhr hochverräterischen oder staatsgefährdenden Propagandamaterials unter Strafe gestellt. Da gleichzeitig das Legalitätsprinzip, der Verfolgungszwang auch für politische Straftaten eingeführt wurde, war der Staatsanwalt gezwungen, „staatsgefährdende Schriften“ strafrechtlich zu verfolgen.29 4. Zollrecht: Nach der ‚Interzonenhandelsüberwachungsverordnung‘ von 1951 waren sämtliche Postsendungen aus der DDR dem Zoll vorzuführen, sofern sie dem Anschein nach Waren enthielten. Auch Bücher, Broschüren, Zeitungen wurden jetzt als Waren definiert. Stießen die Zollbeamten bei der Suche nach Handelsware ‚zufällig‘ auf Propagandamaterialien waren diese dem Staatsanwalt zu übergeben.30 5. Beamtenrecht: Das wichtigste Glied in der Kette war der Beamte, der die eigentliche Zensur ausübte. Aus Treuepflicht dem Staat gegenüber war er gehal-

27 Vgl. BArch, B 141/17360, Bundesminister für Wirtschaft an Bundesminister für Justiz, 23.4.1957. Die Teilung Deutschlands sei von den Besatzungsmächten herbeigeführt worden, so die Argumentation. Das Gesetz Nr. 53 gelte „demnach auch heute noch als fremdes Recht fort“. So bestünden „keine politischen Bedenken dagegen, dass dieses Besatzungsgesetz zur Grundlage von Eingriffen in Grundrechte, insbesondere Art. 10 GG, gemacht wird“. Die Wiedergabe der Quelle folgt der neuen Rechtschreibung. 28 BArch, B 141/3834, Rechtsgutachten des BMJ über die postalische Behandlung staatsfeindlicher Schriften vom 2.4.1952. „Jeder Angriff auf die freiheitliche demokratische Grundordnung wird auch als Angriff auf den Bestand der Grundrechte angesehen. Die Gesamtheit – der Staat und seine Organe – ist daher nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, derartige Angriffe abzuwehren“. 29 StGB, § 93. Danach wurden Einfuhr und Verbreitung staatsgefährdender „Schriften, Schallaufnahmen, Abbildungen oder Darstellungen“ mit Gefängnis bestraft. Schon der Versuch war strafbar. 30 Vgl. BArch, B 106/16106, 27.11.1951. Der Bundespostminister erkannte durchaus die Unvereinbarkeit der Beschlagnahme, Öffnung oder gar Vernichtung von Postsendungen mit dem Grundgesetz. Die „Vorführung an Zollstellen beeinträchtigt allerdings das Postgeheimnis. Diese Beschränkung wird aber durch die auf Besatzungsrecht beruhende Interzonenhandelsüberwachungsverordnung gedeckt.“

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ten, jede mögliche strafbare Handlung abzuwenden und dem Vorgesetzten Mitteilung zu machen. Dieser hatte unverzüglich Anzeige zu erstatten. Die Treuepflicht wurde zur Anzeigenpflicht und damit zum wichtigsten Instrument einer grundgesetzwidrigen Postzensur und Telefonüberwachung. Auf einer Bund-Länder-Konferenz wies der Vertreter des Bundesjustizministeriums darauf hin, dass der Staatsschutz vornehmste Aufgabe jedes Beamten sei. Die Verpflichtung zur Treue gegen den Staat zwänge ihn bei jedem Bekanntwerden von staatsfeindlichen Angriffen, z. B. in der Form von Propagandaschriften zur Meldung an die Staatsanwaltschaft. Beamte, die das nicht täten, verstießen gegen die Dienstpflichten und könnten disziplinarisch belangt werden.31  

Der Kampf gegen den Kommunismus war somit nicht nur Aufgabe der Post- und Zollbeamten, sondern aller Beamten der jungen Bundesrepublik Deutschland. In der Praxis galt folgendes Verfahren: Die Postbeamten sonderten bei Verdacht auf staatsgefährdendes Propagandamaterial Drucksachen, Pakete oder andere Postsendungen aus, reichten diese bei Sendungen aus der DDR an den Zoll, bei Inlandssendungen sofort an die Polizei bzw. Staatsanwaltschaft weiter. Der Staatsanwalt leitete ein Strafverfahren ein und erwirkte einen richterlichen Beschluss zur Beschlagnahme der Postsendung und stellte zumeist danach das Verfahren ein. Die nicht beschlagnahmten Briefe und Pakete – der weitaus geringere Teil – kehrten in den Postkreislauf zurück und erreichten in der Regel beschädigt und mit bis zu einem Jahr Verspätung den Empfänger. Von den beschlagnahmten Sendungen wurde der größere Teil vernichtet, der Rest als Beweismaterial für Ermittlungs- und Strafverfahren genutzt. Das bis 1968 praktizierte Verfahren war rechtsstaatlich höchst bedenklich, da die Beschlagnahme nicht der Beweiserhebung und Einleitung eines Gerichtsverfahrens diente, sondern lediglich einer, wie auch immer zu bewertenden ‚Gefahrenabwehr‘. „Es ist der Gerichte nicht recht würdig“, beschwerte sich Amtsgerichtspräsident Friedrich Heim aus Hannover auf dem Dienstweg, „in ein solches Verfahren eingeschaltet zu sein, zumal das, was sie hier verrichten sollen, im Grunde mit Rechtspflege nichts mehr zu tun hat“.32

31 BArch, B 106/16106, Referentenbesprechung der Landesminister des Innern im Bundesinnenministerium, 11.6.1952. 32 BArch, B 141/3837, Schreiben an den Oberlandesgerichtspräsidenten in Celle, 14.4.1955.

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Vom Besatzungsrecht zum Vorbehaltsrecht der Alliierten Seit den Verhandlungen im Frühjahr 1952 über die so genannten Westverträge, die bekanntlich aufgrund der Ablehnung Frankeichs erst in einem zweiten Anlauf zu einem erfolgreichen Abschluss geführt werden konnten und am 5. Mai 1955 in Kraft traten, hatten die Besatzungsmächte auf eine gesetzliche Regelung gedrungen, die es den alliierten Streitkräften auch nach dem Ende der Besatzungszeit ermöglichte, allgemeine Überwachungs- und Zensurmaßnahmen durchzuführen. „Die Streitkräfte hier in Deutschland“, so der britische Hochkommissar Hoyer Millar an Konrad Adenauer, legen großen Wert auf die Überwachung des Nachrichtenverkehrs mit dem Ausland zur Beschaffung von strategischen Informationen sowie auf ein gewisses Maß von Überwachung des Inlandverkehrs aus Gründen der Sicherheit der Streitkräfte.33

Die Siegermächte waren nur bereit, den westdeutschen Staat in die Souveränität zu entlassen und auf ihre Rechte zu verzichten, wenn vorher sichergestellt war, dass die Deutschen aufgrund eines Gesetzes in der Lage waren, die von den Besatzungsmächten bislang ausgeübte Zensur künftig im Auftrag der Alliierten selbst durchzuführen. Da die Bundesregierung aus politischen Gründen hierzu weder willens noch in der Lage war, erklärten die drei Hohen Kommissare in einem geheim gehaltenen Schreiben vom 23.10.1954 an Bundeskanzler Adenauer, dass die alliierte Post- und Fernmeldezensur nicht beendet werde, sondern künftig unter die Vorbehaltsrechte der Drei Mächte nach Artikel 5 des Deutschlandvertrages fiele. Sinn und Zweck dieser Vorbehaltsrechte war es, durch eine allgemeine Überwachung des Post- und Telefonverkehrs mit der DDR und den diktatorischen Staaten vor allem Osteuropas strategische Informationen zu erhalten. Wie ein Brief des Auswärtigen Amtes an das Bundesinnenministerium belegt, war „der Wortlaut des Schreibens vorher mit den Alliierten ausgehandelt worden“.34 Rechtsgrundlage für die alliierte Zensur in Deutschland waren künftig: der ‚Deutschlandvertrag‘ (Art. 5, Abs. 2) und der ‚Truppenvertrag‘ (Art. 4, Abs. 1 u. 2) vom 5.5.1955 und später auch noch das ‚Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut‘ vom 3.8.1959 (Art. 3, Abs. 2a). In diesen Verträgen verpflichten sich die Vertragsparteien immer wieder zu enger Zusammenarbeit, die sich „namentlich

33 PA AA (Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes), B 130/5701, F. R. Hoyer Millar an Bundeskanzler Adenauer, 29.7.1954. 34 PA AA, B 130/5701, Auswärtiges Amt an Bundesministerium des Innern, 7.2.1964.

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auf die Sammlung, den Austausch und den Schutz aller Nachrichten“ bezog, „die zur Förderung und Wahrung der Sicherheit und des Schutzes der Bundesrepublik, der Entsendestaaten und der Truppen, von Bedeutung waren“.35 Wie eng diese Zusammenarbeit war, geht aus einem Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz hervor. Darin heißt es: Die Nachrichtendienste der verbündeten Staaten lassen sich in den die gemeinsame Sicherheit betreffenden Angelegenheiten nahezu als einheitlicher nachrichtendienstlicher Organismus kennzeichnen; daher die gegenseitige Verpflichtung zum umfassenden Informationsaustausch.36

Die enge Zusammenarbeit der Alliierten und Deutschen auf dem Gebiet der Postund Telefonüberwachung hatte somit eine doppelte Rechtsgrundlage: Vorbehaltsrecht der Alliierten und Bündnisverpflichtung der Westdeutschen. Hinsichtlich Art und Ausmaß der Überwachungsmaßnahmen blieb alles weitgehend beim Alten. Einer Aufstellung der Bundespost von 1958 zufolge wurden seitens der Alliierten täglich die Dienste von 353 Postämtern in Anspruch genommen, um sämtliche einund ausgehende Post „aus und nach dem östlichen Machtbereich“ den alliierten Stellen vorzulegen.37 Während Briten und Franzosen nach und nach ihre Überwachungsmaßnahmen reduzierten, waren die Amerikaner zu keinerlei Einschränkungen bereit, sondern dehnten bei Bedarf ihre Überwachungen sogar noch aus, etwa auf den Post- und Fernmeldeverkehr mit Kuba, China oder Jugoslawien. Es waren die Amerikaner, die ihre Vorbehaltsrechte nicht nur im Postverkehr, sondern auch im Fernmeldeverkehr intensiv nutzten, wie das folgende Schaubild zeigt:

Abb. 2a

35 URL: http://www.abg-plus.de/abg2/ebuecher/abg_all/index.htm (Stand: 14.6.2010). 36 BArch, NL Brentano, N 1239/83, Der Nachrichtenaustausch zwischen dem Bundesamt für Verfassungsschutz und den alliierten Nachrichtendiensten, 25.9.1963. 37 PA AA, B 130/5535, Bundesminister für das Post und Fernmeldewesen, Anlage, 4.3.1958.

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Abb. 2a, b: Alliierte Telefonüberwachung in der Bundesrepublik, Stand 1.2.195838

Zwei Unterschiede werden deutlich. Erstens ist der Umfang der Einzelüberwachung deutlich geringer als der der allgemeinen oder ‚strategischen‘ Überwachung. Zweitens gibt es hinsichtlich des Umfangs der Überwachung einen deutlichen Unterschied zwischen den Amerikanern auf der einen und den Briten und Franzosen auf der anderen Seite. Wie bei der Postüberwachung waren die Amerikaner auch auf dem Gebiet der Telefonüberwachung besonders aktiv. An den zentralen Überwachungsstellen der USA in Frankfurt und Nürnberg wurden sämtliche Fernsprech-, Fernschreib- und Telegrafenleitungen (Telegramme) in die DDR und das östliche Ausland abgehört bzw. mitgeschrieben. Auffallend ist, dass auch Leitungen in das westliche Ausland und internationale Durchgangsleitungen kräftig abgehört wurden. Hierzu zählten zum Beispiel die Leitungen von Amsterdam nach Prag oder von Budapest nach London. Auch Durchgangsleitungen von und in neutrale Länder wie Schweden, Österreich oder die Schweiz wurden abgehört. Die Überwachung von Durchgangsleitungen stand in deutlichem Widerspruch zu internationalen Abkommen, die die Bundesrepublik unterzeichnet hatte. Die Amerikaner betonten jedoch, „gerade aus diesen Verbindungen sehr wichtige Erkenntnisse für die Sicherheit ihrer Streitkräfte ziehen zu können“ und dasselbe gelte für Leitungen in westliche Staaten, „da Agentenverbindungen häufig auf dem Umwege über das westliche Ausland in die Bundesrepublik führten“ – den Wunsch, bestimmte Fernschreibleitungen zu überwachen, be-

38 PA AA, B 130/5535, Bundesminister für das Post und Fernmeldewesen, Anlage, 4.3.1958.

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gründeten die Amerikaner damit, „dass sie hierdurch Erkenntnisse über den illegalen Ost-West-Handel gewönnen“.39 Die Post- und Telefonüberwachung als Vorbehaltsrechte der Alliierten zu deklarieren, hatte Vorteile für beide Seiten, für Alliierte und Deutsche. Die Alliierten konnten weiterhin überwachen, abhören und zensieren wie bisher. Die Westverträge verpflichteten die Deutschen nicht nur zu engster Zusammenarbeit mit den ehemaligen Besatzungsmächten, sondern auch zur Geheimhaltung sämtlicher Maßnahmen im Interesse der alliierten Sicherheit gegenüber Öffentlichkeit und Parlament sowie gegenüber Strafverfolgungsbehörden und Gerichten.40 Die Verantwortung für die ungeliebten Überwachungsmaßnahmen konnte in der Öffentlichkeit vor allem den Drei Mächten zugewiesen werden, weniger den deutschen Behörden. Zensur und Überwachung, die vor allem gegenüber dem kommunistischen Machtbereich von beiden Seiten für richtig und notwendig gehalten wurden, konnten trotz massiver Verletzung des Grundgesetzes uneingeschränkt fortgesetzt werden. Unter dem alliierten Vorbehaltsrecht konnte sich die Bundesregierung mit der Vorlage eines ‚Gesetzes zur Einschränkung des Postund Telefongeheimnisses‘, wie das Grundgesetz es forderte, Zeit lassen und einen politisch günstigen Zeitpunkt abwarten.

Schritte zur Legalisierung der Postzensur Wie stand es nun mit der Verantwortung der Westdeutschen selbst für die millionenfache Zensur von Brief- und Postsendungen aus der DDR, aber auch dem Ausland und dem eigenen Land? Die mit der Bekämpfung staatsgefährdender Propaganda begründete Zensur der westdeutschen Exekutive hatte keine andere rechtliche Legitimation als die Berufung auf das Besatzungs- und Vorbehaltsrecht der Alliierten. Bundesinnenminister Gerhard Schröder (CDU) erkannte die politische Brisanz und weigerte sich konstant, die Verantwortung für einen entsprechenden Gesetzentwurf zu Artikel 10 GG zu übernehmen. Wenn bekannt würde, so der Minister „dass die Bundesregierung, offenbar auf Druck der früheren Besatzungsmächte, die ausländische Zensur durch eine deutsche ersetzt, würde die gegen die erstere geübte Kritik von neuem ent-

39 BArch, B 136/50279, Vermerk für Staatssekretär Stolzhäuser (Bundeskanzleramt), 24.11.1958. 40 Gemäß Art. 38 des „Zusatzabkommens zu dem Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrages über die Rechtsstellung ihrer Truppen hinsichtlich der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten ausländischen Truppen vom 3. August 1959“, waren die Vertragspartner zu strikter Geheimhaltung verpflichtet. Vgl. URL: http://www.abgplus.de/abg2/ebuecher/ abg_all/index.html (Stand: 5.1.2011).

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facht“.41 Auch die anderen Minister zauderten und zögerten. Allein der Postminister machte immer wieder Druck, um die lästige Frage im Sinne einer rechtlich einwandfreien Lösung aus der Welt zu schaffen: Seit Jahren bestehe „die Verwaltungspraxis, dass die Postdienststellen offen und verschlossen versandte Postsendungen, deren staatsgefährdender Inhalt erkannt wird, den Staatsanwaltschaften zum Zwecke der Strafverfolgung übergeben“, aber ein Gesetz, das diese Verwaltungspraxis decke, sei nicht vorhanden: Die zuständigen Resorts seien sich sehr wohl bewusst, „dass die bisherige Verwaltungspraxis ohne eine gesetzliche Grundlage vom rechtsstaatlichen Standpunkt aus auf die Dauer nicht tragbar und deshalb den Postbediensteten nicht zumutbar ist“.42 Dass etwas geschehen musste, war Konsens. Die Frage war nur wie. Da ein allgemeines Zensurgesetz zu Artikel 10 GG nicht durchsetzbar schien, suchte man in den einzelnen Ressorts nach Möglichkeiten eine entsprechende Regelung in anderen Gesetzen unterzubringen bzw. zu verstecken. Genannt wurden das Strafgesetzbuch, die Strafprozessordnung, das Postgesetz, ein eigenes Staatsschutzgesetz oder das geplante Außenwirtschaftsgesetz. Letzteres wurde verworfen, weil es die DDR als Ausland definiert hätte. Schließlich einigte man sich auf ein eigenes Gesetz, das den bemerkenswerten Namen Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote erhielt. Es war das erste vom Bundestag verabschiedete Gesetz, das die ‚Verbringung‘ staatsgefährdenden Propagandamaterials in das Gebiet der Bundesrepublik regelte. Oberster Zensor an der innerdeutschen Grenze wurde der Bundesfinanzminister. Die von Post und Bahn als ‚verdächtig‘ einbehaltenen Postsendungen mussten dem Zoll vorgelegt werden. Dieser durfte ‚zum Zwecke der Nachprüfung‘ Sendungen aller Art öffnen und durchsuchen. Da auch Privatbriefe, Eilund Einschreibesendungen verfassungsfeindliches Material enthalten konnten, unterlagen auch diese der Kontrolle. Erstmals wurde mit diesem Gesetz unter Bezug auf Artikel 10 GG eine Einschränkung des Brief- und Postgeheimnisses vorgenommen.43 Am 1. September 1961, kurz vor dem Ende der dritten Legislaturperiode und der absoluten Mehrheit der CDU/CSU und kurz nach dem Bau der Berliner Mauer, trat das ‚Verbringungsverbotsgesetz‘ in Kraft. Ein allgemeines Gesetz zur Ein-

41 BArch, B 106/200006, Schröder an Globke (Bundeskanzleramt), 14.1.1955. 42 BArch, B 257/5481, Bundesminister für Post und Fernmeldewesen, Vermerk v. 4.1.1961. Die Wiedergabe der Quelle folgt der neuen Rechtschreibung. 43 „Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote v. 1.9.1961“. In: Bundesgesetzblatt (BGBL), Teil I, S. 607. Ferner BArch, B 106/16105, Schreiben des Bundesministers der Finanzen an die Oberfinanzdirektionen v. 20.9.1961.

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schränkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses war dies natürlich nicht. Das Abhören von Telefongesprächen war ebenso wenig geregelt wie die Zensur von Postsendungen, die innerhalb der Bundesrepublik aufgegeben worden waren. Beides war und blieb verfassungswidrig. Parallel zur exzessiven Handhabung der ‚Verbringungsverbote‘ nahm die Zahl der in der Bundesrepublik aufgegebenen ‚staatsgefährdenden Post‘ deutlich zu und mit ihr die Häufigkeit der verfassungswidrigen Zensur der Inlandspost. Erst das Gesetz zur Beschränkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses von 1968 schuf eine Regelung, die Zensur und Überwachung durch die Deutschen legitimierte und durch eine geheime Zusatzvereinbarung zum ‚G 10 Gesetz‘ mit den Alliierten auch die Interessen der ehemaligen Besatzungsmächte wahrte, obwohl diese auf ihre bisherigen Vorbehaltsrechte verzichteten.

‚G 10 Gesetz‘ und geheime Zusatzvereinbarung 1968 war das Jahr, in dem nicht alles besser, aber manches anders wurde. Das politische Strafrecht wurde reformiert, eine Amnestie für Kommunisten ausgesprochen, das KPD-Verbot von 1956 zwar nicht aufgehoben, wie die Sowjetunion, die DDR und natürlich die KPD forderten, jedoch mit Billigung der Bundesregierung eine neue Kommunistische Partei gegründet, die DKP.44 Die Notstandsgesetze, ein Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, das so genannte ‚G 10 Gesetz‘, und eine Änderung des Grundgesetzes zu Art. 10 wurden mit der notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit verabschiedet. Alle drei Gesetze stellten eine erhebliche Beschränkung und Beeinträchtigung verschiedener Grundrechte dar, wobei die Notstandsgesetze nur für den Ausnahmezustand, das ‚G 10 Gesetz‘ und die Änderung des Grundgesetzes sowohl für den Ausnahmezustand, als auch für den Normalzustand galten. Die ehemaligen Besatzungsmächte stimmten den Entwürfen zu und waren bereit, auf ihre diesbezüglichen Vorbehaltsrechte zu verzichten. In gleichlautenden Noten erklärten sie, dass die in den Pariser Verträgen festgelegten Vorbehaltsrechte der westlichen Alliierten mit dem Inkrafttreten der Notstandsverfassung und der Beschränkung des Brief-, Post und Fernmeldegeheimnisses endgültig erlöschen.45

44 Vgl. Josef Foschepoth: „Rolle und Bedeutung der KPD im deutsch-deutschen Systemkonflikt“. In: ZfG 56 (2008), S. 989–909, hier S. 905. 45 Europa Archiv. Zeitschrift für Internationale Politik 23 (1968), Z 122, 27.5.1968.

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Die Ablösung der Vorbehaltsrechte war der politische Schlüssel, mit dem nicht nur die Notstandsgesetze, sondern auch das ‚G 10 Gesetz‘ über die parlamentarischen Hürden gebracht wurden. Mit Erfolg wurde öffentlich der Eindruck vermittelt, als habe es nur eine Rechtsgrundlage für die alliierte Überwachungspraxis gegeben, das Vorbehaltsrecht des Deutschland- und Truppenvertrags von 1955. Dieses Recht sei nun endgültig erloschen. Das ‚G 10 Gesetz‘ konnte so als eine Art Befreiung von den letzten Restriktionen der Besatzungszeit und somit als Souveränitätsgewinn für die Bundesrepublik gefeiert werden. Vor allem die SPD, für die die Durchsetzung der Notstandsgesetzgebung und des ‚Abhörgesetzes‘ ein wichtiger Ausweis ihrer Regierungsfähigkeit war, äußerte sich gern in diesem Sinne: Bis 1968 kontrollierten die USA, Großbritannien und Frankreich in der Bundesrepublik Postsendungen und hörten Telefone ab, wie dies Besatzungsmächte in eroberten Ländern zu tun pflegen: Von niemandem kontrolliert und nach eigenem freien Ermessen. Erst als Bundestag und Bundesrat eine eigene deutsche Regelung durch Ergänzung des Grundgesetzes und Schaffung eines besonderen Gesetzes (‚G 10 Gesetz‘) getroffen hatten, erloschen die alliierten Befugnisse.46

In der Tat, die alliierten Befugnisse gemäß Art. 5, Abs. 2 des Deutschlandvertrags erloschen. Das war jedoch nur die halbe Wahrheit. Von den beiden völkerrechtlichen Verpflichtungen, die die Bundesregierung 1955 mit dem ‚Deutschlandvertrag‘ und 1959 mit dem ‚Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut‘ eingegangen war, wurde 1968 gleichsam das eine durch das andere, das Vorbehaltsrecht durch die Bündnisverpflichtung ersetzt. Dazu, was die Bundesrepublik unter dem alliierten Vorbehaltsrecht gleichsam zu erdulden hatte, war sie als NATOBündnispartner seit 1959 ohnehin schon verpflichtet. Jetzt konnte bzw. musste sie dies ausschließlich freiwillig tun. Darin lag der große Souveränitätsgewinn. Die Tatsache, dass sich in der Sache selbst nicht nur nichts änderte, sondern die Kontrolle im alliierten Interesse fortgesetzt, das System der Überwachung flächendeckend ausgebaut und der Aufwand für Personal und Kosten im Vergleich zum amerikanischen Überwachungssystem verdoppelt wurden, musste dagegen öffentlich geheim gehalten werden. Dies lag nicht nur im alliierten, sondern auch im deutschen Interesse, nicht nur um Art und Ausmaß der vergangenen Überwachung, sondern auch und vor allem Art und Ausmaß der künftigen deutsch-alliierten Überwachung in der Öffentlichkeit nicht bekannt werden zu lassen.

46 BArch, B 257/68699, Sozialdemokratischer Pressedienst v. 11.9.1978, S. 4. Die Wiedergabe der Quelle folgt der neuen Rechtschreibung.

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Grundlage hierfür bildete eine geheime Zusatzvereinbarung zum ‚G 10 Gesetz‘ zwischen den Drei Mächten und der Bundesregierung, über die an dieser Stelle erstmals berichtet werden kann. In diesem Dokument wird der Anspruch der Alliierten ausdrücklich anerkannt, auch künftig alle Informationen zu beschaffen und auszutauschen, die – wie es immer hieß – für die eigene Sicherheit notwendig seien, konkret die deutsch-alliierte Überwachung des Post- und Telefonverkehrs in gegenseitigem Interesse und zum gegenseitigen Nutzen uneingeschränkt fortzusetzen. Im Einzelnen kamen die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Drei Mächte überein, dass die bisher innegehabten und ausgeübten Rechte (Vorbehaltsrechte) in Bezug auf den Brief-, Post- und Fernmeldeverkehr abgelöst werden, indessen nach Art. 3 Abs. 2 des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut vom 3. August 1959 die deutschen Behörden und die Behörden der Stationierungsstreitkräfte verpflichtet bleiben, in gegenseitiger Unterstützung und enger Zusammenarbeit die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, der Entsendestaaten und ihrer Truppen zu fördern und zu wahren, indem sie insbesondere alle Nachrichten, die für diese Zwecke von Bedeutung sind, sammeln, austauschen und schützen.47

Die Bundesregierung verpflichtete sich wie bisher, ‚alle Nachrichten‘ zu sammeln, auszutauschen und zu schützen. Der Unterschied bestand lediglich darin, dass jetzt die westdeutschen Nachrichtendienste im Auftrag und im Namen der Drei Mächte diese Nachrichten zu beschaffen hatten. Gemeinsame deutsch-alliierte Operationen waren jedoch auch künftig nicht ausgeschlossen. „Soweit es erforderlich werden sollte, dass ein Beauftragter des anregenden Entsendestaates bei der Anwendung einer Beschränkungsmaßnahme anwesend ist, wird das BfV bzw. der BND den Zutritt gestatten.“48 Beides war künftig möglich, überwachen und überwachen lassen, wie Außenminister Willy Brandt bei Erläuterung des geheimen Zusatzabkommens im Kabinett betonte: „Der deutsche Dienst stellt im Rahmen seiner Befugnisse gemäß dem Gesetz zu Artikel 10 GG seine Kontrollmöglichkeiten beziehungsweise deren Ergebnisse den Amerikanern auf Anforderung zur Verfügung.“49 Um die Übergabe der Überwachung von den Alliierten auf die Deutschen schnellstmöglich zu regeln, übernahmen die deutschen Nachrichtendienste Räume, Einrichtungsgegenstände, technisches Gerät und teilweise auch Personal von den alliierten, vor allem den amerikanischen Überwachungsstel-

47 PA AA, B 130/5761, Geheime Verwaltungsvereinbarung zum G 10 Gesetz, 22.10.1968, Präambel. 48 PA AA, B 130/5761, Geheime Verwaltungsvereinbarung, Art. 4, Abs 4. Die Wiedergabe der Quelle folgt der neuen Rechtschreibung. 49 PA AA, B 86/894, Ergänzender Sprechzettel für die Kabinettssitzung am 22. Mai 1968.

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len.50 In enger Zusammenarbeit von BfV (Bundesamt für Verfassungsschutz), LfV (Landesämter für Verfassungsschutz), BND (Bundesnachrichtendienst) und MAD (Militärischer Abschirmdienst) wurde in kurzer Zeit ein Verbundsystem aufgebaut, das eine effiziente und flächendeckende Kontrolle des Post- und Fernmeldeverkehrs in der gesamten Bundesrepublik ermöglichen sollte. Dieses System mit 20 bis 25 zentralen Überwachungsstellen war so üppig ausgestattet, damit es nicht nur individuelle, sondern auch allgemeine oder strategische Überwachungsmaßnahmen durchführen konnte. Für die Einzelüberwachung waren die Verfassungsschutzämter der Länder, für die allgemeine Überwachung BND und MAD zuständig. Das Bundesamt für Verfassungsschutz übernahm die Post- und Telefonüberwachung im Raum Köln-Bonn, insbesondere die Überwachung der Regierungsstellen, sowie koodinierende Funktionen. Die alliierten Behörden mussten künftig ihre Überwachungswünsche bei den jeweils zuständigen deutschen Stellen beantragen, für die Einzelüberwachung beim BfV, für die strategische Überwachung beim BND.51

Beschädigung des Grundgesetzes 1968 war ein Wendejahr, auch für den Ausbau der staatlichen Überwachungssysteme in der Bundesrepublik Deutschland. Post- und Telefonüberwachung wurden den westdeutschen Geheimdiensten übertragen, die mit den neuen Aufgaben im wahrsten Sinne des Wortes wuchsen und erheblich an Bedeutung und politischem Einfluss gewannen. Hauptgewinner war der BND, der die strategische Auslandsüberwachung übernahm und zusätzlich die DDR zu überwachen hatte. Wenigstens in diesem Sinne wurde der sozialistische Bruderstaat jetzt als Ausland, sogar als feindliches Ausland anerkannt. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte sich längst als operativer Geheimdienst etabliert, was dem Gesetz zwar widersprach, aber aufgrund der Konkurrenz der Dienste untereinander und der jeweils zuständigen Bundesministerien politisch durchaus gewollt war. Auch die Einbeziehung des MAD, der mit fünf Überwachungsstellen in Bremen, Münster, Koblenz, Saarbrücken und Würzburg einen nicht unbeträchtlichen Beitrag zur Überwachung der bundesdeutschen Zivilbevölkerung leistete, war im Grunde genommen verfassungswidrig. „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“52 50 Vgl. Barch, B 257/68698, Vermerk des Bundesministers für Post und Fernmeldewesen, 7.5.1968. 51 Vgl. PA AA, B 130/5761, Geheime Verwaltungsvereinbarung zum G 10 Gesetz, 22.10.1968. 52 GG, Art. 87a, Abs. 2.

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Der Preis für die Ablösung der Vorbehaltsrechte war die Beibehaltung und Ausweitung der Überwachung des Post- und Telefonverkehrs in der Bundesrepublik. Die Quellen sprechen eine klare Sprache.53 Die Zahl der Einzelüberwachungen lag bei den Alliierten im Schnitt bei 300 bis 400 Personen. Mit Blick auf den deutschen Bedarf ging man von 300 Fällen pro Jahr aus. Das Wichtigste für die Alliierten, insbesondere die Amerikaner, war jedoch von Anfang an die allgemeine Überwachung gewesen. Die Zahlen dafür konnten nur geschätzt werden. Die Amerikaner rechneten im Postverkehr mit rund 650.000 Sendungen pro Monat, eine Summe, die sich immerhin auf 7,8 Millionen Postsendungen pro Jahr addierte, die stichprobenartig kontrolliert werden mussten. Hinzu kam wiederum der deutsche Bedarf. Belegt sind 5,7 und 4 Millionen Postsendungen allein aus der DDR für die Jahre 1968 bis 1970, die aus dem Verkehr gezogen wurden.54 Hinzu kamen weitere im Ausland und im Inland aufgegebene Postsendungen. Auch die Zahl der zu überwachenden Telefonate, Fernschreiben und Telegramme, die allein bei den Amerikanern bei 300 Leitungen gelegen hatte, dürfte mehrere Millionen pro Jahr ausgemacht haben. Die deutsche Organisation, rechnete das Bundesamt für Verfassungsschutz seinem Dienstherrn vor, müsse „etwa mit dem doppelten Aufwand der Amerikaner rechnen, wenn das gesamte Bundesgebiet erfasst werden soll“.55 Wie hoch die tatsächlichen Zahlen waren, lässt sich mit Gewissheit nicht mehr ermitteln, da das Gesetz nicht nur strikte Geheimhaltung vorsah, wie das Zusatzabkommen zum NATO-Vertrag es forderte, sondern auch bestimmte, „die durch die Maßnahmen erlangten Unterlagen über einen am Post- und Fernmeldeverkehr Beteiligten […] zu vernichten“ – nur über die Vernichtung war „eine Niederschrift anzufertigen“.56 So konnten alle Spuren, auch die unrechtmäßigen Handelns diskret und rechtlich korrekt verwischt werden. Da die Überwachten weder einen Anspruch darauf hatten, über die Überwachung informiert zu werden, noch die Möglichkeit, den Rechtsweg zu beschreiten, der laut Grundgesetz jedem Bürger offensteht, der „durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt“57 wird, erhielt die Exekutive quasi ‚diktatorische‘ Vollmachten, die unter Aufhebung der Gewaltenteilung nur von der Exekutive selbst und der ‚G 10 Kommission‘, einem Ausschuss von drei bzw. fünf Parlamentariern kontrolliert werden konnten.58

53 Zum Folgenden vgl. BArch, B 106/204180, BfV an Bundesminister des Innern, 22.5.1967. 54 Vgl. BArch, B 141/-4021/1–8 – 23/72 –, Vermerk v. 18.7.1972. 55 BArch, B 106/204180, BfV an BMI, 22.5.1967. 56 „Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz) ‚G 10 Gesetz‘ v. 13.8.1968, Art.1, § 7, Abs. 4“. In: BGBL, Teil I, S. 949–952. 57 GG, Art 19, Abs. 4. 58 Vgl. G 10 Gesetz, Art.1, § 9, Abs. 1–3, S. 951.

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Um so weit gehende Eingriffe in das Grundgesetz zu ermöglichen, musste das Grundgesetz selbst geändert werden. Dies erfolgte im Rahmen der Notstandsgesetzgebung, ohne deren Anwendungsmöglichkeit auf den Ausnahmezustand zu beschränken. Damit wurde das ‚G 10 Gesetz‘ das einzige Gesetz, das sowohl für den Notstand, als auch für den Normalfall galt. Da es täglich angewendet wurde, wurde der permanente Ausnahmezustand gleichsam zum Normalzustand. So lautete die 1968 mit Zwei-Drittel-Mehrheit verabschiedete Ergänzung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit des Post- und Fernmeldegeheimnisses: Beschränkungen dürfen nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet werden. Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, dass sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und dass an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt.59

Zwanzig Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes erfolgte der bislang schwerwiegendste Eingriff in die Grundfreiheiten des nach voller Souveränität strebenden westdeutschen Teilstaates. In den Entwürfen der verfassunggebenden Versammlung des Parlamentarischen Rates hatte Art. 10 Abs. 2 des Grundgesetzes noch gelautet: „Beschränkungen können nur durch Gesetz, jedoch nicht zu Zwecken der politischen Überwachung angeordnet werden.“60 Wie ist diese Entwicklung des jungen Weststaates zu erklären? Die ehemaligen Sieger- und Besatzungsmächte, allen voran die Amerikaner, waren nicht bereit, auf den Nutzen, den sie aus dem geteilten Deutschland zogen, und die daraus abgeleiteten Rechte zu verzichten. Die Strategie der doppelten Eindämmung der deutschen und der kommunistischen Gefahr galt auch weiterhin. Ohne feste Einbindung des Weststaates in den Westen war dieses Ziel nicht zu erreichen. Andererseits wollten die administrativen und politischen Eliten in der Bundesrepublik die Alliierten, allen voran den mächtigsten Verbündeten, die USA, nicht verstimmen, sondern für die Ausweitung des eigenen politischen Handlungsspielraums nach innen und außen, auch und gerade nach Osten, gewinnen. Als die SPD bereit war, die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit für die Notstands- und Überwachungsgesetze einschließlich der Änderung des Grundgesetzes zu beschaffen, um ihre Regierungsfähigkeit endlich unter Beweis zu stellen, war die historisch einmalige Chance gegeben, den gordischen Knoten von alliierter Kontrolle und deutscher Souveränität zu durchschlagen. Politisch war

59 GG, Art 10, Abs. 2. 60 Klaus Engels: Die Grenzen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses. Diss. Jur. Universität Essen 1972, S. 53.

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dieser ‚Deal‘ nur durch höchste Geheimhaltung des tatsächlichen Ausmaßes der von den Alliierten gewünschten und von der Bundesregierung zur Erlangung größerer Handlungsfreiheit nach innen und außen gewollten Überwachung möglich. Die Ablösung alliierter Vorbehaltsrechte bedeutete daher nicht die Beendigung alliierter Kontrolle und Überwachung, sondern deren Fortsetzung, wenn auch auf anderer völkerrechtlicher Grundlage, nämlich des Zusatzabkommens zum NATO-Truppenstatut. Auch ging es nicht nur um Einzelüberwachung, sondern auch und vor allem um eine allgemeine Überwachung, ausgeführt von den nach mehr Zuständigkeit und Einfluss strebenden deutschen Geheimdiensten, allen voran dem BND. Wenn die Notstandsgesetze die schärfste Kritik und die größten Proteste auf sich zogen, war das in gewissem Sinne durchaus gewollt, um das Überwachungsgesetz, einschließlich der Änderung von Art. 10 des Grundgesetzes, gleichsam im ‚Huckepack-Verfahren‘ über die Hürden der öffentlichen und parlamentarischen Kritik zu heben. Es war die SPD, die auf diesem Junktim bestanden hatte,61 um mit dem ‚nationalen Argument‘ der Ablösung aller Vorbehaltsrechte (mit Ausnahme der Vorbehaltsrechte in der Deutschland- und Berlin-Frage) ‚volle Souveränität‘ für die Bundesrepublik zu gewinnen, um die Kritiker der Notstandsgesetze in den eigenen Reihen und den Gewerkschaften zu besänftigen. In der Rückschau zeigt sich einmal mehr, dass die größere Beschädigung des Grundgesetzes nicht von den Notstandsgesetzen, sondern von dem ‚G 10 Gesetz‘ und der Grundgesetzänderung von Art. 10 ausgegangen ist, da Postund Telefonüberwachungen nicht nur im Ausnahmefall, sondern tagtäglich durchgeführt werden konnten. Vor der damit bestehenden Schädigung des Grundgesetzes, stellt sich die Frage, inwieweit ‚G 10 Gesetz‘ und Grundgesetzänderung verfassungsgemäß bzw. verfassungswidrig waren, ist die geheime deutsch-alliierte Zusatzvereinbarung zum ‚G 10 Gesetz‘ von entscheidender Bedeutung. Aufgrund einer Verfassungsbeschwerde der Hessischen Landesregierung befasste sich zunächst das Bundesverfassungsgericht und aufgrund einer Individualklage später auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit dem Überwachungsgesetz. Die geheime Zusatzvereinbarung spielte allerdings weder in dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, noch in dem vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Rolle, da sie auch gegenüber den beiden höchsten Gerichten geheim gehalten wurde.

61 Vgl. BArch, B 106/101835, Saarbrücker Erklärung der Führungsgremien der SPD zu einem G 10 Gesetz v. 29.5.1965.

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Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts62 von 1970 und die vom Europäischen Gerichtshof63 von 1978 bescheinigten dem ‚G 10 Gesetz‘ und der Grundgesetzänderung, dass sie prinzipiell nicht gegen die Verfassung bzw. die Menschenrechtskonvention verstoßen würden. In einem Minderheitsvotum äußerten jedoch drei von acht Richtern des Bundesverfassungsgerichts schwerste Bedenken und hielten die Änderung von Artikel 10 des Grundgesetzes für verfassungswidrig und daher für „nichtig“.64 Der Europäische Gerichtshof verband seine Entscheidung mit der Einschränkung, dass sich die Überwachung „nur gegen den Verdächtigen selbst oder gegen seine mutmaßlichen Kontaktpersonen“ richten dürfe: „Die angegriffenen Vorschriften gestatten somit keine so genannte ‚erkundende‘ oder allgemeine Überwachung.“65 Gegenstand der geheimen Zusatzvereinbarung war jedoch genau dies, nämlich auch in Zukunft eine allgemeine Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs in der Bundesrepublik zu ermöglichen und im gemeinsamen deutschalliierten Interesse durchzuführen. Andernfalls wären die Alliierten nicht bereit gewesen, ihre Vorbehaltsrechte aufzugeben und hätten die Überwachungen in ihrem Interesse weiterhin selbst durchgeführt. Dass die allgemeine Überwachung auch tatsächlich durchgeführt wurde, geht nicht nur aus den Akten deutlich hervor, sondern kam in verschiedenen ‚Schnüffelaffären‘ und ‚Abhörskandalen‘ auch immer wieder ans Licht der Öffentlichkeit. So berichtete Der Spiegel 1978 von den formaljuristisch durchaus legalen Praktiken des BND. Danach lasen die Geheimdienstler „Hunderttausende von Briefen, die in den Osten gehen.“ Der Stern sprach laut Spiegel sogar von 1,6 Millionen Briefen, die vom BND pro Jahr gelesen würden, „deren Absender und Empfänger in Ostblockländern sitzen“.66 Die geheime Zusatzvereinbarung der Bundesregierung mit den Regierungen der Drei Mächte enthält keine Kündigungsklausel. Sie ist somit in ihrer Geltungsdauer an das Zusatzabkommen des NATO-Truppenstatuts von 1959, auf die sie sich ausdrücklich bezieht, und dieses wiederum an das NATO-Truppenstatut von 1951, gebunden. Sie ist somit bis heute in Kraft. Sinn und Zweck der NATO war es,

62 Vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Hg. v. den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 30. Urteil v. 15. Dezember 1970. Tübingen 1971, S. 1–47. 63 Vgl. „Entscheidungen – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte. Kein Verstoß des G 10 gegen die Menschenrechtskonvention, EGMR, Urteil v. 6.9.1978“ In: NJW (Neue Juristische Wochenschrift) 35 (1979), S. 1755–1760, hier S. 1757. 64 Entscheidungen. Hg. v. den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 30, S. 33. 65 Entscheidungen – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, S. 1757. 66 Zitiert nach: „Geheimdienste. ‚Ausgesprochene Dämlacke‘“. In: Der Spiegel 47 (1978), S. 24– 25. URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40606271.html (Stand: 17.9.2010). Der Stern wird hier nach Spiegel zitiert.

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um ihren ersten Generalsekretär Lord Hastings L. Ismay zu zitieren, „to keep the Soviets out, the Americans in, and the Germans down.“67 Spuren und Folgen dieser NATO-Strategie sind bis heute, insbesondere aufgrund der Gesetze zur Einschränkung des Post- und Telefongeheimnisses von 1968, im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wie in keiner anderen Verfassung eines freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats verankert. Wie sehr sich die jahrzehntelange Überwachung strukturbildend auf die innere Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland ausgewirkt hat, dürfte daran deutlich werden, dass wohl kaum ein deutscher Nachrichtendienst dafür zu gewinnen wäre, auf das aus dem Besatzungsrecht ererbte Privileg einer allgemeinen Überwachung wieder zu verzichten, um die mit der Grundgesetzänderung von 1968 erfolgte Beschädigung des Grundgesetzes wieder rückgängig zu machen. Das ist aber eine politische und keine historische Frage.

67 Zitiert nach: Siegfried Schwarz: „Pariser Verträge – Besiegelung deutscher Zweistaatlichkeit“. In: APuZ (Aus Politik und Zeitgeschichte) 17 (2005). URL: http://www.bpb.de/publikationen/ W0291E.html (Stand: 28.12.2010).

Stephan Buchloh

Erotik und Kommunismus im Visier: Der Staat gegen Bertolt Brecht und gegen die ‚Schundliteratur‘ Ich glaube, wir müssen uns alle schämen, wenn unsere Brüder und Schwestern aus dem Osten zu uns kommen und sehen, was wir im Westen mit unserer Freiheit anfangen. Auch das bildet ja laufend ein Argument und einen Propagandaschlager im Kalten Krieg der SED.1

Mit diesen Sätzen rechtfertigte der CSU-Bundestagsabgeordnete Emil Kemmer im Jahr 1952 die Einführung eines Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften, von dem allgemein als ‚Jugendschutzgesetz‘ gesprochen wurde. Dass es an westdeutschen Zeitungskiosken ‚Schmutz- und Schundliteratur‘ zu kaufen gebe, nutze die DDR aus, um der Bundesrepublik Sittenverfall vorzuwerfen und das westliche System herabzusetzen. Der Westen müsse der DDR diesen Angriffspunkt nehmen, indem er solche Schriften aus der Öffentlichkeit verbanne. Es mag überraschen, dass ein Parlamentarier ein Gesetz, das sich vorwiegend gegen ‚Schmutz und Schund‘ und nicht gegen politische Propaganda richtete, mit Argumenten stützte, die den Ost-West-Gegensatz heranzogen. Hier wurde schon deutlich, wie sehr der Kalte Krieg zwischen der Bundesrepublik und den Staaten des Ostblocks das politische Klima in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts prägte. Alles, was der DDR hätte nützlich sein können, galt als verdächtig. Wer gar Sympathie für die DDR oder nur kritische Distanz zur bundesrepublikanischen Regierungspraxis erkennen ließ, konnte mit besonderem Argwohn rechnen. Dass sich dieses Misstrauen auch in handfesten staatlichen Maßnahmen niederschlagen konnte, zeigen mehrere Eingriffe in die Arbeit mit Theaterstücken von Bertolt Brecht. Im Folgenden möchte ich Aktionen staatlicher Stellen gegen Literatur, Presse und Theater in den Regierungsjahren Konrad Adenauers, also in der Zeit von 1949 bis 1963, an zwei Gegenständen näher beleuchten: einmal am Beispiel von Schritten gegen die Aufführung von Brecht-Stücken, ein andermal an der Auseinandersetzung um das Jugendschutzgesetz und an der Tätigkeit der ‚Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften‘, die aufgrund dieses Gesetzes ins Leben gerufen

1 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte und Drucksachen, 1. Wahlperiode, 230. Sitzung, 17.9.1952, Kemmer (CSU), S. 10543–10546, hier S. 10545.

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wurde.2 Diskutieren möchte ich, inwiefern man bei solchen staatlichen Akten von ‚Zensur‘ sprechen kann.3 Dazu erscheint es sinnvoll, zunächst den Zensurbegriff zu erörtern. Weitere Fragen sind: Welche konkreten Maßnahmen trafen staatliche Stellen? Wie wurden diese begründet? Welche Staatsauffassung, welches Kunstverständnis, welches Menschen- und Gesellschaftsbild leiteten die staatlichen Stellen? Welche Rückschlüsse auf das politische Klima in der Ära Adenauer lassen die Maßnahmen gegen Brecht und gegen die ‚Schmutz- und Schundliteratur‘ zu?4 2 Vgl. „Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften. Vom 9. Juni 1953“. In: Bundesgesetzblatt (BGBl.) I (1953), S. 377–379. 3 Vgl. hierzu aus theoretischer Sicht u. a.: Stephan Buchloh: „Überlegungen zu einer Theorie der Zensur. Interessen – Formen –,Erfolgsfaktoren‘“. In: Publizistik. Sonderheft 4. Die Kommunikationsfreiheit der Gesellschaft. Die demokratischen Funktionen eines Grundrechts. Hg. v. Wolfgang R. Langenbucher. Wiesbaden 2003, S. 112–135. – Stephan Buchloh: „Eingriffe in die Freiheit des Journalismus und der Kunst. Eine Typologie von Zensurformen“. In: Chancen und Gefahren der Mediendemokratie. Hg. v. Wolfgang Donsbach u. Olaf Jandura. Konstanz 2003, S. 82–94. 4 Zu Fragen der Zensur gibt es zahlreiche Arbeiten, die freilich andere Epochen behandeln, andere Schwerpunkte setzen oder nicht speziell auf die Maßnahmen gegen Bertolt Brecht und gegen die ‚Schmutz- und Schundliteratur‘ eingehen. Beispielhaft seien genannt: Reinhard Aulich: „Elemente einer funktionalen Differenzierung der literarischen Zensur. Überlegungen zu Form und Wirksamkeit von Zensur als einer intentional adäquaten Reaktion gegenüber literarischer Kommunikation“. In: ,Unmoralisch an sich …‘. Zensur im 18. und 19. Jahrhundert. Hg. v. Herbert G. Göpfert u. Erdmann Weyrauch. Wiesbaden 1988, S. 177–230. – Dieter Breuer: Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland. Heidelberg 1982. – Stephan Buchloh: „Gotteslästerung oder Meinungsfreiheit? Die Debatte um Herbert Achternbuschs Film ‚Das Gespenst‘. Ein Blick in die Geschichte bundesrepublikanischer Kommunikationspolitik vor dem Hintergrund des ,Karikaturenstreits‘“. In: Großbothener Vorträge zur Kommunikationswissenschaft. Hg. v. Stefanie Averbeck, Arnulf Kutsch u. Susanne Voigt, Bd. VIII. Bremen 2008, S. 37–65. – Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis. Hg. v. Wilhelm Haefs u. York-Gothart Mix. Göttingen 2007. – Klaus Kanzog: „Zensur, literarische“. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hg. v. Klaus Kanzog u. Achim Masser, Bd. 4. Berlin, New York 21984, S. 998–1049. – 100 Banned Books: Censorship Histories of World Literature. Hg. v. Nicholas J. Karolides, Margaret Bald u. Dawn B. Sova. New York, N.Y. 1999. – Der ‚Giftschrank‘. Erotik, Sexualwissenschaft, Politik und Literatur. ,Remota‘: Die weggesperrten Bücher der Bayerischen Staatsbibliothek. Hg. v. Stephan Kellner. München 2002. – Matthias N. Lorenz: Literatur und Zensur in der Demokratie. Die Bundesrepublik und die Freiheit der Kunst. Stuttgart 2009. – Zensur in der BRD. Fakten und Analysen. Hg. v. Michael Kienzle u. Dirk Mende. München, Wien 1980. – Zensur im 19. Jahrhundert. Das literarische Leben aus Sicht seiner Überwacher. Hg. v. Bernd Kortländer u. Enno Stahl. Bielefeld 2012. – Zensur und Kultur. Zwischen Weimarer Klassik und Weimarer Republik. Hg. v. John A. McCarthy u. Werner von der Ohe. Tübingen 1995. – Zensur im modernen deutschen Kulturraum. Hg. v. Beate Müller. Tübingen 2003. – Ulla Otto: Die literarische Zensur als Problem der Soziologie der Politik. Stuttgart 1968. – Bodo Plachta: Zensur. Stuttgart 2006. – ,Ab 18‘. Zensiert, diskutiert, unterschlagen. Beispiele aus der Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Hg. v. Roland Seim u. Josef Spiegel. Münster 1994. – The Handbook of Mass Media Ethics. Hg. v. Lee Wilkins u. Clifford G. Christians. New York, London 2009.  

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Juristen und Journalisten über Zensur „Eine Zensur findet nicht statt.“ Dieser Satz des Grundgesetzes (Artikel 5 Absatz 1 Satz 3) ist so entschieden formuliert, dass man sich fragen könnte: Warum schreibt überhaupt jemand über Zensur in der Bundesrepublik, wenn Zensur vom Grundgesetz verboten ist und es also gar keine Zensur geben kann? Allerdings: Selbst das Grundgesetz kann übertreten werden, und die juristische Interpretation des Zensurverbots ist sehr eng gefasst. In der Sprache des Journalismus und der Alltagssprache wird ‚Zensur‘ umfassender verstanden als in der ‚herrschenden Meinung‘ der Rechtswissenschaft. Die Mehrheit der Juristen vertritt die Auffassung, dass es sich bei der Zensur im Sinne des Grundgesetzes um eine Kontrolle von Meinungsäußerungen oder Medienprodukten durch eine staatliche Instanz im Rahmen eines systematischen Verfahrens vor ihrer Veröffentlichung handele, um die sogenannte ‚Vorzensur‘. Eine Definition gibt das Bundesverfassungsgericht: Als Vor- oder Präventivzensur werden einschränkende Maßnahmen vor der Herstellung oder Verbreitung eines Geisteswerkes, insbesondere das Abhängigmachen von behördlicher Vorprüfung und Genehmigung seines Inhalts (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt) bezeichnet. […] Schon die Existenz eines derartigen Kontroll- und Genehmigungsverfahrens lähmt das Geistesleben.5

Demnach wäre nicht von Zensur zu sprechen, wenn erst im Nachhinein gegen ein Medienwerk eingeschritten wird – also nachdem es veröffentlicht ist –, wenn eine nicht-staatliche Stelle tätig wird oder wenn es um eine Einzelmaßnahme geht, die nicht auf ein umfassendes Kontrollverfahren folgt. Mit Blick auf Filme verdeutlicht das Bundesverfassungsgericht das herrschende Zensurverständnis: Bezogen auf Filmwerke bedeutet danach Zensur das generelle Verbot, ungeprüfte Filme der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, verbunden mit dem Gebot, Filme, die öffentlich vorgeführt werden sollen, zuvor der zuständigen Behörde vorzulegen, die sie anhand von Zensurgrundsätzen prüft und je nach dem Ergebnis ihrer Prüfung die öffentliche Vorführung erlaubt oder verbietet (sog. formeller Zensurbegriff).6

5 „Beschluss des Ersten Senats vom 25. April 1972–1 BvL 13/67“. In: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Hg. v. den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 33. Tübingen 1973, S. 53–78, hier S. 71f. Vgl. auch: Horst von Hartlieb: Handbuch des Film-, Fernseh- und Videorechts. München 31991, S. 2ff. – Udo Branahl: Medienrecht. Eine Einführung. Opladen 1992, S. 25f. – Marian Paschke: Medienrecht. Berlin, Heidelberg, New York u. a. 1993, S. 64f. 6 Beschluss des Ersten Senats vom 25. April 1972 – 1 BvL 13/67, S. 71f. Hervorhebung im Originaltext.  

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Nach der herrschenden Lehre der Rechtswissenschaft ist der Zensurbegriff des Grundgesetzes also ein formeller Zensurbegriff, und Zensur wird als Vorzensur verstanden.7 Es gibt innerhalb der juristischen Debatte auch abweichende Auffassungen. So vertreten die Medienrechtler Martin Löffler und Wolfgang Hoffmann-Riem, der als Bundesverfassungsrichter tätig war, die Ansicht, dass das Grundgesetz ebenso die Nachzensur verbiete.8 Hoffmann-Riem betrachtet als „Zensur“ eine „systematische[…] Kontrolle im Kommunikationsbereich“9 und hält diese selbst dann für problematisch, wenn sie schon veröffentlichte Werke in den Blick nehme: Eine solche Nachzensur könne ebenfalls die Öffentlichkeit einschüchtern und die Verbreitung mancher Publikationen behindern.10 Roman Herzog wiederum, auch er Richter am Bundesverfassungsgericht und danach Bundespräsident, versteht unter Zensur im Sinne des Grundgesetzes nur die Vorzensur. Er definiert sie als „die vorherige staatliche Überprüfung einer beabsichtigten Meinungsäußerung“.11 Allerdings kann man nach Herzog auch dann von Zensur reden, wenn eine staatliche Stelle nur einzelne Meinungsäußerungen überprüfe, behindere oder verbiete, ohne dass dies mit einem umfassenden und systematischen Vorprüfungsverfahren verbunden werde. Manche Autoren beziehen Gegenpositionen zum formellen Zensurbegriff der herrschenden juristischen Meinung. So tritt die Juristin Johanne Noltenius für einen ‚materiellen Zensurbegriff‘ ein. Sie schreibt,

7 Auch wenn es (wie in den folgenden Absätzen dargelegt) in der Rechtswissenschaft abweichende Auffassungen gibt, hat sich die herrschende Lehre zum Zensurbegriff bis in die Gegenwart erhalten. Vgl. z. B. Wolfgang Hoffmann-Riem: „Medienregulierung als objektiv-rechtlicher Grundrechtsauftrag“. In: Medien & Kommunikationswissenschaft 50 (2002), S. 175–194. – Thomas Westerhoff: „Abgrenzung: strafbare Handlung, Jugendgefährdung, Recht auf freie Meinungsäußerung“. In: BPJM-Aktuell 14 (2006) H. 3, S. 3–12. 8 Vgl. Martin Löffler: Presserecht. Kommentar, Bd. I. Die Landespressegesetze der Bundesrepublik Deutschland. München 31983, S. 103ff. 9 Wolfgang Hoffmann-Riem: „Art. 5 Abs. 1, 2“. In: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in zwei Bänden. Bearb. v. Axel Azzola u. a. Gesamtherausgeber Rudolf Wassermann. Neuwied 21989, S. 408–533, hier S. 458. 10 Vgl. ebd., S. 458f. 11 Roman Herzog: „Art. 5 Abs. 1, 2“ (1992). In: Kommentar zum Grundgesetz. Hg. v. Theodor Maunz, Günter Dürig u. a., Loseblattsammlung. München, 2. Ergänzungslieferung zur 7. Auflage, 31. Lieferung 1994 (zuerst 1958), S. 1–93a, hier S. 91a, Randnummer 298.  





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daß Zensur im materiellen Sinne eine Beeinflussung der öffentlichen Meinung darstellt, dergestalt, daß ein möglicher Beitrag zum Prozeß der Meinungsbildung der Öffentlichkeit durch eine intervenierende Instanz entzogen oder verändert zugänglich gemacht wird.12

In diesem Zensurverständnis kommt es nicht auf ein formelles Prüfverfahren an, und es ist keine systematische Überwachung des Geisteslebens nötig. Vielmehr geht es um bestimmte Inhalte von Meinungsäußerungen, und nicht-staatliche Einrichtungen können ebenfalls Zensur ausüben. Neben den verschiedenen juristischen Deutungen des Zensurbegriffs, wie ihn das Grundgesetz verwendet, stehen Zensurbegriffe, die im Journalismus oder in der Alltagssprache verwendet werden. Diese umfassen mehr Phänomene als der juristische Zensurbegriff der herrschenden Lehre. So betrachtet Hannes Heer als Zensur „alle Maßnahmen, die auf die Unterdrückung oder Behinderung von Meinungsäußerungen vor oder nach ihrer Veröffentlichung abzielen und dazu staatliche oder private Machtmittel einsetzen“.13 Dieser Zensurbegriff ähnelt sehr stark dem materiellen Zensurbegriff. Auch hier werden einzelne Medienverbote oder -behinderungen als Zensur aufgefasst, und zwar unabhängig davon, ob dafür staatliche Instanzen verantwortlich sind oder nicht. Schließlich gibt es innerhalb der Systematik des Grundgesetzes Eingriffe in die Freiheit der Medien und der Kunst, die zwar nicht im engeren Sinne als Zensur charakterisiert werden, aber dennoch Verbote sind. Die Meinungs- und Informationsfreiheit darf nur durch allgemeine Gesetze, durch Jugendschutzgesetze oder durch das Recht der persönlichen Ehre eingeschränkt werden, und diese Einschränkungen müssen wiederum mit Blick auf die große Bedeutung der Meinungsfreiheit geprüft werden.14

12 Johanne Noltenius: Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft und das Zensurverbot des Grundgesetzes. Göttingen 1958, S. 107f. 13 Hannes Heer: „Die Zensur in den öffentlich-rechtlichen Medien (Rundfunk und Fernsehen) der Bundesrepublik“. In: Zensur. Zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland. Hg. v. der Jury, dem deutschen Beirat und dem Sekretariat des 3. Internationalen RussellTribunals, Bd. 3. Gutachten, Dokumente, Verhandlungen der 2. Sitzungsperiode, Teil 1. Zensur. Berlin 1979, S. 156–174, hier S. 157. 14 Vgl. „Urteil des Ersten Senats vom 15. Januar 1958–1 BvR 400/51“. In: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Hg. v. den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 7. Tübingen 1958, S. 198–230, hier S. 198, 208f.

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Maßnahmen gegen Brecht-Aufführungen In der Ära Adenauer waren Brecht und seine Werke häufig die Zielscheibe von politischen Angriffen – nicht alle gingen von staatlichen Instanzen aus. Nach dem gescheiterten Aufstand in der DDR am 17. Juni 1953, nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956 und nach der Errichtung der Berliner Mauer am 13. August 1961 weigerten sich manche deutschen Theater, Stücke von Brecht aufzuführen. Diese Brecht-Boykotte waren Entscheidungen der Schauspielhäuser selbst, obwohl einige Intendanten damit vielleicht auf den Druck der Medienberichterstattung reagierten.15 Von formeller Zensur konnte man hier schwerlich reden: Es gehörte zu der künstlerischen Freiheit von Intendanten, sich für oder gegen eine Inszenierung von Stücken zu entscheiden. Anders sah es dagegen aus, wenn Theater ein Stück spielen wollten, aber staatliche Stellen eingriffen, um die Aufführung zu verhindern. Drei solcher Fälle wurden bekannt und sollen näher beleuchtet werden. Die Maßnahmen richteten sich gegen Aufführungen der Stücke Die Dreigroschenoper, Pauken und Trompeten sowie Mutter Courage und ihre Kinder. Nicht untersucht werden hier dagegen Fälle, bei denen sich Art und Umfang staatlichen Eingreifens nicht klar rekonstruieren lassen, wie bei der Auseinandersetzung um eine Aufführung der Mutter Courage im Jahr 1956 in Göttingen, oder bei denen Fernsehsender Stücke von Brecht aus politischen Gründen vom Programm absetzten.16

15 Vgl. André Müller: Kreuzzug gegen Brecht. Die Kampagne in der Bundesrepublik 1961/62. Darmstadt o. J. [1962]. – Autorenkollektiv: „Brecht in der Öffentlichkeit der BRD: Bühne, Presse, Parlamente“. In: Alternative 16 (1973) H. 93, S. 275–283. – Josef Hohnhäuser: „Brecht und der Kalte Krieg. Materialien zur Brecht-Rezeption in der BRD“. In: Bertolt Brecht II. Sonderband aus der Reihe Text + Kritik. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1973, S. 192–203, bes. S. 194. – Jürgen Hofmann: „Der observierte Brecht. Oder: Von der epochalen Werktreue des Polizeistandpunkts“. In: Vorgänge 19 (1980) H. 4, S. 83–100, bes. S. 92ff. – Henning Müller: Theater der Restauration. Westberliner Bühnen, Kultur und Politik im Kalten Krieg. Berlin (Ost) 1981, bes. S. 216–225. 16 Vgl. Josef Schmidt: „Beim Pförtner hing ein Brief von Brecht … Göttingens Deutsches Theater gerät in ein politisches Intrigenspiel / In der Hauptrolle: die Wehrpflicht“. In: Süddeutsche Zeitung v. 21.9.1956. Vgl. auch die folgenden Zeitungsartikel: „Politisches Theater in Göttingen“. In: Stuttgarter Zeitung v. 22.9.1956. – „Demonstration gegen Heinz Hilpert. Wegen einer Brecht-Aufführung“. In: Nürnberger Zeitung v. 22.9.1956. – „Reaktion wütet gegen Hilpert. Grund: Auftreten gegen Wehrpflicht / Brecht-Ehrungen finden doch statt“. In: Berliner Zeitung (Berlin Ost) v. 23.9.1956. – „SFB schaltet Brecht-Schauspiel ab. Übertragung des Westdeutschen Rundfunks nicht für Berlin“ (sign. ‚dw‘). In: Die Welt v. 3.11.1961. – „Doch noch: ‚Leben des Galilei‘“ (sign. ‚lupus‘). In: Die Zeit 17 (1962) H. 3, S. 16. – „Ball im Parterre. Brecht“. In: Der Spiegel 16 (1962) H. 38, S. 85.

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Die Dreigroschenoper-Inszenierung des Bochumer Schauspielhauses Das Theater der Stadt Bochum plante 1957, sich an einem internationalen Theaterfestival in Paris zu beteiligen und dort die Stücke Die Dreigroschenoper von Brecht und Der Marquis von Keith von Frank Wedekind zu geben. Das Haus stellte zu diesem Zweck beim Auswärtigen Amt einen Antrag auf eine Ausfallbürgschaft. Das Ministerium lehnte den Antrag ab. Der SPD-Parlamentarier Georg KahnAckermann machte im Bundestag auf die Entscheidung des Ministeriums aufmerksam – es schloss sich eine öffentliche Kontroverse an, an der sich zunächst der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Walter Hallstein, und später Außenminister Heinrich von Brentano und Brechts westdeutscher Verleger Peter Suhrkamp beteiligten.17 Staatssekretär Hallstein antwortete dem Abgeordneten Kahn-Ackermann, dass das Auswärtige Amt nur wenig Geld für die Förderung von Auslandsaufführungen zur Verfügung habe und nur den besten künstlerischen Leistungen eine Finanzhilfe zukommen lassen könne. Die vom Bochumer Theater ausgewählten Stücke erfüllten diese hohen Ansprüche jedoch nicht: Daher muß die Unterstützung von Gastspielreisen im Ausland im allgemeinen auf solche beschränkt bleiben, die sich nicht nur durch die Qualität der Darstellung auszeichnen, sondern auch als besonders gültige Zeugnisse klassischer oder moderner deutscher Kunst angesehen werden können. Diese Qualifikation kann den genannten Stücken nicht zuerkannt werden.18

Hallstein stellte den Vorgang so dar, als habe das Ministerium im Rahmen der Kulturförderung nach Qualitätsgesichtspunkten entschieden und deshalb die Stücke von Brecht und Wedekind nicht berücksichtigen können. Die Verantwortung vor dem Bürger gebiete es, einen knappen Etat nach strengen Kriterien zu verwalten: Das einzige, was das Auswärtige Amt in diesem Fall getan hat, ist, gewissenhaft über Mittel zu verfügen, die vom Steuerzahler aufgebracht werden, und bei der Verfügung über diese Mittel sich zu bemühen, sachliche Kriterien anzuwenden.19

17 Vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte und Drucksachen, 2. Wahlperiode, 201. Sitzung, 4.4.1957, Hallstein (Staatssekretär des Auswärtigen Amts), Kahn-Ackermann (SPD), S. 11391–11392. 18 Ebd., Hallstein (Staatssekretär des Auswärtigen Amts), S. 11391. 19 Ebd., Hallstein (Staatssekretär des Auswärtigen Amts), S. 11392.

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Hallstein sagte weiter, bei Anträgen auf Mittel aus dem Kulturfonds des Auswärtigen Amtes arbeite normalerweise ein Referent eine Beschlussvorlage aus und der Abteilungsleiter entscheide dann. Die Ablehnung des Bochumer Antrags habe der Minister des Auswärtigen selbst angeordnet.20 Kahn-Ackermann kritisierte die Entscheidung des Auswärtigen Amtes als Form von „Intoleranz“ und „Spießbürgertum“.21 Im Bundestag brachte er Bundesaußenminister von Brentano (CDU) dazu, die Rechtfertigungsstrategie seines Staatssekretärs zu durchkreuzen. Hatte Hallstein sich allein auf ästhetische Maßstäbe berufen, so sprach von Brentano nun ausdrücklich auch von politischen Überlegungen: „Ich habe Ihnen aber gesagt, daß ich im Fall Bert Brecht allerdings auch politische Erwägungen angestellt habe. Das mögen Sie mir übelnehmen, aber Sie können mich nicht davon überzeugen, daß ich unrecht habe.“22 Zugleich versuchte der Außenminister, Brecht künstlerisch zu diskreditieren: Sie waren der Meinung, daß Bert Brecht einer der größten Dramatiker der Gegenwart sei. Man mag darüber diskutieren. Aber ich bin wohl der Meinung, daß die späte Lyrik des Herrn Bert Brecht nur mit der Horst Wessels zu vergleichen ist. Ich bin nicht in der Lage und habe nicht die Absicht, Mittel des Kulturfonds zur Verfügung zu stellen, um den Politiker Bert Brecht im Ausland zu fördern.23

Der Außenminister stellte Brecht auf eine Stufe mit der NSDAP-Kultfigur Horst Wessel. Die Nationalsozialisten ließen das Lied Die Fahne hoch, welches auf einem Text von Horst Wessel beruht (‚Horst-Wessel-Lied‘), neben dem Deutschlandlied als zweite Nationalhymne singen.24 Peter Suhrkamp, der die Werke Brechts in der Bundesrepublik verlegte, wies in einem offenen Brief an den Außenminister den Horst-Wessel-Vergleich und das Urteil von Brentanos über die Lyrik Brechts entschieden zurück. Der Verleger schrieb, von Wessel kenne er außer dem Sturmlied der SA überhaupt keine Gedichte. Suhrkamp kritisierte, dass von Brentano einen Exilanten und NaziGegner wie Brecht auf eine Stufe mit einem Idol der Nationalsozialisten stelle. Brecht habe Deutschland verlassen müssen und mit seiner Dichtung gegen den von Hitler-Deutschland begonnenen Krieg zu kämpfen versucht. Demgegenüber habe von Brentano in Deutschland ungestört weiterarbeiten können. Überdies sei

20 Vgl. ebd., Hallstein (Staatssekretär des Auswärtigen Amts), S. 11392. 21 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte und Drucksachen, 2. Wahlperiode, 208. Sitzung, 9.5.1957, Kahn-Ackermann (SPD), S. 11988–11994, hier S. 11990. 22 Ebd., von Brentano (Bundesminister des Auswärtigen), S. 11994–11997, hier S. 11996. 23 Ebd., von Brentano (Bundesminister des Auswärtigen), S. 11995. 24 Vgl. „Wessel, Horst“. In: Die Zeit – das Lexikon: in 20 Bänden, Bd. 16. Hamburg 2005, S. 219–220.

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es seltsam, wenn der Außenminister die Lyrik Brechts anführe, während es bei dem Antrag um die Unterstützung eines Theaterstücks gehe.25 Minister von Brentano reagierte auf die Stellungnahme von Peter Suhrkamp gleichfalls in einem offenen Brief. Der Minister machte zunächst deutlich, dass man von dem Verleger Brechts keine objektive Bewertung erwarten könne. Wichtiger seien dagegen die Leser, die über ‚Wert und Unwert‘ der Suhrkamp-Autoren urteilten.26 Der Minister erwähnte sodann zwei Gedichte Brechts, Lob des Kommunismus und Lob der Partei, und bemerkte dazu: „Ich kritisiere, was Herr Bertold [sic!] Brecht schrieb“ – in dem Brief schrieb von Brentano Brechts Vornamen kontinuierlich falsch.27 Brecht hatte diese Gedichte übrigens in den Jahren 1930 und 1931 verfasst – sie gehören somit nicht zur ‚späten Lyrik‘, die von Brentano im Bundestag angegriffen hatte.28 Des Weiteren brandmarkte von Brentano eine Solidaritätserklärung Brechts gegenüber dem SED-Generalsekretär Walter Ulbricht aus Anlass der Ereignisse vom 17. Juni 1953.29 Zum Brechtschen Exil und zu Brechts Verhältnis zum ‚Dritten Reich‘ äußerte sich der Außenminister so: Sie schreiben, daß Herr Brecht als Feind des Nationalsozialismus ins Exil gehen mußte und daß er einen leidenschaftlichen Kampf gegen dieses System geführt habe. Es ist, sehr geehrter Herr Suhrkamp, nicht diese Tätigkeit, die ich Herrn Brecht vorwerfe; und ich glaube, daß Sie das selbst wissen sollten. Wer gegen das Dritte Reich kämpfte, weil er Recht und Freiheit wiederherstellen wollte, hat meine volle Sympathie. Aber Herrn Brecht kam es doch offenbar nur darauf an, die Unfreiheit des Dritten Reiches durch die Sklaverei des Bolschewismus, die Schändung des Rechts im Nationalsozialismus durch die Herrschaft des Verbrechens im Kommunismus zu ersetzen. Erwarten Sie ernstlich, daß ein Mensch, der sich

25 Vgl. Peter Suhrkamp: „An den Bundesminister des Auswärtigen in der Deutschen Bundesrepublik, Herrn Dr. von Brentano, Bonn“. Unter der Überschrift „Bert Brecht und Horst Wessel. Offener Brief des Verlegers Peter Suhrkamp an den Bundesaußenminister“ veröffentlicht in: Die Welt v. 22.5.1957. 26 Vgl. Heinrich von Brentano: „Ich bleibe dabei“. Offener Brief an Peter Suhrkamp. Als Leserbrief veröffentlicht in: Die Welt v. 7.6.1957. 27 Ebd. 28 Vgl. „Chronologisches Register“. In: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 10. Gedichte 3. Frankfurt a. M. 1967, S. 33*–67*, hier S. 44*. Die Gedichte selbst sind zu finden in: Ebd., Bd. 9. Gedichte 2., S. 463f. 29 Vgl. „Bertolt Brecht an Walter Ulbricht“. In: Vorwärts v. 21.6.1953. – Bertolt Brecht: „‚An Walter Ulbricht‘ Brief v. 17. Juni 1953“. In: Ders.: Briefe. 1913–1956, Bd. 1. Texte. Berlin (Ost), Weimar 1983, S. 655, Brief 725. Vgl. auch Dieter Thiele: „Brecht und der 17. Juni 1953“. In: Aktualisierung Brechts. Argument-Sonderband AS 50. Hg. v. Wolfgang Fritz Haug, Klaus Pierwoß u. Karen Ruoff. Berlin 1980, S. 84–100, hier S. 94.  

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leidenschaftlich zur freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung bekennt, zu solchen Vorstellungen schweigt?30

Weil Brecht nicht nur den Nationalsozialismus ablehnte, sondern einen Sieg des Kommunismus über den Nationalsozialismus herbeisehnte, fielen Brechts Exil und sein Engagement gegen das ‚Dritte Reich‘ für den Minister nicht ins Gewicht. Die Wortwahl von Brentanos zeigt, dass der CDU-Politiker den Kommunismus als schlimmer erachtete als den Nationalsozialismus. ‚Sklaverei‘ ist noch gravierender als ‚Unfreiheit‘, und eine ‚Herrschaft des Verbrechens‘ ist umfassender als eine ‚Schändung des Rechts‘. In den Darlegungen des Ministers wird deutlich, wie sehr der Antikommunismus das politische Klima der fünfziger Jahre prägte: Wer als Sympathisant des Kommunismus galt, musste damit rechnen, ins gesellschaftliche Abseits gestellt zu werden. Der Minister setzte sich weder mit den Werken Brechts auseinander, noch diskutierte er seine politischen Aussagen. Als Freund der DDR galt Brecht in den Augen des Ministers von vornherein als gefährlich. Diese Sichtweise brachte es mit sich, dass die Haltung zum Nationalsozialismus keine wichtige Rolle spielte, solange man sich in der Gegenwart nur klar gegen den Kommunismus und die DDR aussprach. Ehemalige Mitläufer oder Unterstützer des nationalsozialistischen Regimes konnten ihre Vergangenheit vergessen machen, wenn sie sich als Antikommunisten profilierten. Das Staatsverständnis von Brentanos trat in der Kontroverse um die Förderung des Brecht-Gastspiels ebenfalls hervor. Für den Minister durfte der Staat in Kunst und Kultur eingreifen und als Kunstrichter tätig werden. Die Kulturförderung sollte sich an den politischen Überzeugungen der Regierung orientieren. Selbst wenn ein Werk nach Maßstäben der künstlerischen Qualität eine Unterstützung verdient hätte – wenn das Werk oder sein Autor der politischen Linie der Regierung nicht folgten, dann durfte der Staat der Arbeit eine Förderung verweigern. Im Staatsverständnis des Außenministers war es dem Staat erlaubt, der Kunst politische Leitlinien vorzugeben. Hält man sich an den Grundgesetzkommentar des Verfassungsrechtlers Rupert Scholz (der übrigens ebenfalls der CDU angehört), dann drängt sich der Schluss auf, dass das Staatsverständnis von Brentanos und die Ablehnung der Förderung des Brecht-Gastspiels nicht im Einklang mit dem Grundgesetz standen. Es handelte sich um einen Verstoß gegen die Kunstfreiheitsgarantie, die in Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes garantiert wird: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Scholz erläuterte, dass das Grundgesetz vom Staat keineswegs verlange, bei Fördermaßnahmen alle Anträge zu befür-

30 von Brentano: Ich bleibe dabei.

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worten und alle möglichen Werke zu unterstützen. Auch hätten staatliche Einrichtungen das Recht, begrenzte künstlerische Werturteile zu fällen. Allerdings müsse der Staat bei der Auswahl der zu fördernden Arbeiten „die Grundsätze der Eigengesetzlichkeit, Autonomie und Pluralität der Kunst sowie das Prinzip der staatlichen Neutralität (Verbot politischer, weltanschaulicher, ideologischer oder sonstiger kunstfremder Förderungsziele) einhalten“. Wenn dem Staat der Sachverstand fehle, um selbst künstlerische Entscheidungen zu treffen, dann müsse er das Auswahlverfahren so gestalten, dass „gesellschaftlich-pluraler Kunstsachverstand“ beteiligt werde.31 Im Fall der Ablehnung des Brecht-Gastspiels konnte weder von staatlicher Neutralität noch von künstlerischem Sachverstand die Rede sein: Minister von Brentano entschied alleine, nannte politische Gründe als maßgebend und bezog sich bei dem Beschluss über ein Theaterprojekt auf Gedichte, die er zeitlich falsch einordnete. Von formeller Zensur im Sinne der herrschenden juristischen Lehre konnte hier allerdings nicht gesprochen werden. Es gab keine staatliche Instanz, die alle Theaterinszenierungen vor der Premiere kontrollierte und die Aufführungen als Ergebnis einer solchen Prüfung hätte verbieten können. Legte man demgegenüber einen materiellen oder alltagssprachlichen Zensurbegriff zugrunde, dann musste die Entscheidung des Ministers sehr wohl als Zensur bezeichnet werden. Indem die Bundesregierung dem Bochumer Theater eine Förderung verwehrte, versuchte sie, (wie bei Johanne Noltenius definiert) einer (Teil-) Öffentlichkeit einen möglichen Beitrag zum Prozess der Meinungsbildung zu entziehen. Sie benutzte (wie in der Definition von Hannes Heer) staatliche Machtmittel, um künstlerische Äußerungen zu behindern. Schließlich fiel auf, dass von Brentano die Zensur als Mittel symbolischer Politik verwendete: Durch die Maßnahme gegen Brecht und das Bochumer Schauspielhaus wollte er ein deutliches antikommunistisches Zeichen setzen.32

31 Rupert Scholz: „Art. 5 Abs. 3“ (1977). In: Kommentar zum Grundgesetz. Hg. v. Maunz, Dürig u. a., S. 94–208, hier S. 118f., Randnummern 40 und 42; einschließlich der wörtlichen Zitate. 32 Vgl. zur symbolischen Funktion politischen Handelns: Murray Edelman: Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns. Frankfurt a. M., New York 1976 (amerikanische Originalausgaben 1964 und 1971).  



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Die Pauken und Trompeten-Inszenierung der Lübecker Bühnen Die Bühnen der Hansestadt Lübeck hatten für den 17. September 1961 eine Premiere angesetzt: Unter der Regie des DDR-Regisseurs Carl Maria Weber sollte das Stück Pauken und Trompeten von Brecht zum ersten Mal in der Bundesrepublik gezeigt werden.33 Gemeinsam mit Benno Besson und Elisabeth Hauptmann hatte Brecht 1955 die von dem Iren George Farquhar geschriebene Komödie The Recruiting Officer bearbeitet. Farquhars Stück erlebte seine Uraufführung im Jahr 1706 – es geht um die Rekrutierungsmethoden der britischen Armee während des Spanischen Erbfolgekrieges, der im Jahr 1701 begonnen hatte. In der Brechtschen Bearbeitung ist die Handlung in den Jahren des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges von 1775 bis 1783 angesiedelt. Das Berliner Ensemble im damaligen Ost-Berlin hatte die Brechtsche Version des Stückes im September 1955 erstmals aufgeführt; dabei übernahm Benno Besson die Regie.34 Der Kultusausschuss der Hansestadt Lübeck beschäftigte sich am 7. September 1961 mit der geplanten Premiere von Pauken und Trompeten und traf den einstimmigen Beschluss, dem Intendanten des Stadttheaters, Arno Wüstenhöfer, zu empfehlen, das Stück vorerst nicht aufzuführen. Diese Empfehlung fand auch die Unterstützung der Lübecker Kultussenatorin Luise Klinsmann, die der SPD angehörte.35 Die für den 17. September vorgesehene Erstaufführung fiel aus. Am 20. September machte der Senat von Lübeck aus der Empfehlung des Kultusausschusses ein Verbot: Mit einer Stimme Mehrheit beschloss der Senat, dem Städtischen Theater eine Aufführung des Brecht-Stückes zu verbieten. Eine Rechtsgrundlage für das Verbot nannte die Stadt nicht. Die SPD-Mitglieder des Senats, unter ihnen die Kultussenatorin, stimmten gegen das Verbot, das so formuliert war: „Eine Aufführung des Stückes hat wegen der politischen Lage in Berlin nicht stattzufinden.“ Kurze Zeit später vernahm man, eigentlich hätte in

33 Vgl. „Ohne Pauken und Trompeten. Vorläufig kein Berthold [sic!] Brecht im Lübecker Theater?“ (sign. ‚H. Schr.‘). In: Lübecker Nachrichten v. 10.9.1961. – Sonja Luyken: „Mit ,Pauken und Trompeten‘. Deutsche Erstaufführung der Brecht-Bearbeitung in Lübeck“. In: Mannheimer Morgen v. 13.1.1962. 34 Vgl. Bertolt Brecht: „Pauken und Trompeten. Bearbeitung von George Farquhar’s [sic!] ,The Recruiting Officer‘“. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 6. Stücke 6, S. 2617–2710. – Jan Knopf: Brecht-Handbuch Theater. Eine Ästhetik der Widersprüche. Stuttgart 1980, S. 343–347. – Klaus Völker: Brecht-Kommentar zum dramatischen Werk. München 1983, S. 296–299. – Walter Kluge: „The Recruiting Officer“. In: Kindlers Literatur Lexikon im dtv. 25 Bände. Hg. v. Wolfgang von Einsiedel, Bd. 18. München 1974, S. 8053. 35 Vgl. Ohne Pauken und Trompeten. – Luyken: Mit ,Pauken und Trompeten‘.

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dem Beschluss das Wort ‚vorerst‘ stehen sollen, doch der Protokollant habe sich verhört.36 Die Öffentlichkeit reagierte auf das Vorgehen des lübischen Senats unterschiedlich. Die Lübecker Nachrichten meinten, Brecht sei trotz mancher kritischer Stellungnahmen ein Aushängeschild des SED-Regimes gewesen. Nach dem Mauerbau am 13. August 1961 könne man es den Bürgern Lübecks nicht zumuten, dass die Städtischen Bühnen ein Stück des Kommunisten Brecht spielten, auch wenn es gegen seine Stücke unter künstlerischen Gesichtspunkten keine Einwände gebe. Das Blatt plädierte freilich nicht für ein Verbot, sondern legte dem Intendanten Wüstenhöfer nahe, das Stück Pauken und Trompeten von sich aus vom Spielplan zu entfernen.37 Die Tageszeitung Die Welt bemerkte, dass sie die politischen Einstellungen Brechts scharf verurteile und einen Verzicht auf die Aufführung für gut hielte. Andererseits lehnte sie staatliche Eingriffe in Theaterspielpläne entschieden ab: „Es ist grotesk und wider allen Sinn der Kunst, wenn anonyme Gremien – Parteien […], Behörden, Regierungen – mit Mehrheitsbeschlüssen eine individuelle Entscheidung (für oder gegen Brecht) torpedieren wollen.“38 Viele Mitarbeiter der Lübecker Bühnen protestierten in einem offenen Brief an den Lübecker Senat gegen den Verbotsbeschluss. Sie warfen der Stadt vor, sie schränke damit die von der Verfassung garantierte Kunstfreiheit ein.39 Bühnenleiter aus der ganzen Bundesrepublik publizierten im Oktober 1961 eine Erklärung gegen staatliche Eingriffe in die Theaterarbeit. In dem Text wurden die Lübecker Vorgänge zwar nicht ausdrücklich genannt; nach Einschätzung der Wochenzeitung Die Zeit war der Verbotsbeschluss der Hansestadt Lübeck indes einer der Anlässe für die Erklärung, die von 66 Intendanten unterzeichnet wurde. Die Theaterleiter kritisierten eine „tendenziöse[…] Beeinflussung der Spielpläne durch Gruppen außerhalb des Theaters“. Wenn staatliche Instanzen

36 „Mit Pauken und Trompeten. Lübecker Schauspieler protestieren gegen Brecht-Verbot“. In: Der Tagesspiegel v. 24.9.1961. – Lore Lorenzen: „Krach um Brecht mit Pauken und Trompeten. Auch Lübeck hat seinen ,Kulturkampf‘ / Attacke auf die Senatorin“. In: Frankfurter Rundschau v. 4.10.1961 (dort findet sich auch das wörtliche Zitat). – „Theaterkrise wegen Brecht-Verbot. In Lübeck“. In: Norddeutsche Neueste Nachrichten v. 6.10.1961. 37 Vgl. Ohne Pauken und Trompeten. 38 „Zwang?“ (sign. ‚jn‘). In: Die Welt v. 29.9.1961. 39 Vgl. „Lübecker Künstler gegen Brecht-Verbot“ (sign. ‚–hl–‘). In: Lübecker Morgen v. 23.9.1961. – „Protest gegen Brecht-Verbot“. In: Telegraf v. 24.9.1961. – „Brecht – ja oder nein? Lübecker Intendant und ‚Pauken und Trompeten‘“. In: Westfälischer Anzeiger und Kurier v. 4.10.1961. – Der Tagesspiegel: Mit Pauken und Trompeten. – Zwang?

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in die Programmgestaltung eingriffen, dann schränkten sie die Kunstfreiheit ein und bevormundeten die Öffentlichkeit.40 Auch die politischen Entscheidungsträger Lübecks diskutierten weiter über die Angelegenheit. Am 28. September 1961 griffen die Vertreter von CDU, FDP und GDP (der Gesamtdeutschen Partei) in einer Sitzung der Lübecker Bürgerschaft die SPD-Kultussenatorin Klinsmann an und riefen zu ihrer Abwahl auf: Die Senatorin habe den Verbotsbeschluss eine Woche zurückgehalten und ihn erst dann dem Intendanten Wüstenhöfer zugeleitet.41 Der CDU-Abgeordnete Hanns Ullrich Pusch bereicherte die Debatte durch einen Hinweis auf den ungarischen Volksaufstand: „Brecht stand nicht auf, als Ungarn niedergeworfen wurde!“42 Da der Aufstand in Ungarn am 23. Oktober 1956 begann, wäre es für den Dichter auch nicht ganz leicht gewesen, sich zu erheben: Brechts Todestag war der 14. August 1956. Am 25. Oktober 1961 stimmte der Lübecker Senat erneut ab: Eine knappe Mehrheit votierte nun gegen das Verbot, welches damit aufgehoben wurde. Wüstenhöfer könne Pauken und Trompeten am 11. Januar 1962 herausbringen. Klinsmann blieb Kultussenatorin, allerdings war sie fortan nicht mehr für die Bühnen der Stadt zuständig.43 Tatsächlich fand die Lübecker Premiere des Brecht-Stückes am 11. Januar 1962 statt.44 Der Intendant Wüstenhöfer erfüllte also die Wünsche der Stadt Lübeck. Die genauen Motive des Theaterleiters lassen sich aus der Presseberichterstattung nicht klar rekonstruieren. Einmal hieß es, der Intendant habe die Aufführung aus eigenem Antrieb wegen des Mauerbaus auf Oktober 1961 verschoben.45 Ein andermal las man, Wüstenhöfer habe ‚technische Gründe‘ genannt, derentwegen er das Stück nicht vor dem 1. November 1961 auf die Bühne habe bringen können.46 Zugleich wurde Wüstenhöfer im Lübecker Morgen mit der Stellungnahme zitiert:

40 „66 Intendanten protestieren“ (einschließlich des wörtlichen Zitats). In: Die Welt v. 20.10.1961. – Johannes Jacobi: „Theaterabende ohne ,Ruhestörungen‘. Zwischenbilanz im Kampf um Brecht“. In: Die Zeit 17 (1962) H. 3, S. 16. Die Zeit spricht von 68 Intendanten. – Müller: Kreuzzug gegen Brecht, S. 44ff. 41 Vgl. „Höhepunkt der Vertrauenskrise. Lübecks Kultussenatorin soll abgewählt werden“. In: Union in Deutschland. Informationsdienst der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Union 15 (1961) H. 43, S. 5. 42 Lorenzen: Krach um Brecht (einschließlich des wörtlichen Zitats). 43 Vgl. „Jetzt doch Brechts ‚Pauken und Trompeten‘ auf Lübecker Bühne“. In: Frankfurter Rundschau v. 28.10.1961. – „Der Lübecker Senat …“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 28.10.1961. 44 Vgl. Günther Rühle: „Pauken und Trompeten. Westdeutsche Erstaufführung in Lübeck“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 13.1.1962. – Hermann Dannecker: „Westdeutsche Brecht-Premiere. ,Pauken und Trompeten‘ in Lübeck“. In: Hannoversche Presse v. 16.1.1962. 45 Vgl. Der Tagesspiegel: Mit Pauken und Trompeten. – Lorenzen: Krach um Brecht. 46 Vgl. Lübecker Künstler gegen Brecht-Verbot.

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„Ich meine, daß der Begriff der Freiheit unantastbar sein muß und sich im allgemeinen nicht taktischen Tageserwägungen unterwerfen darf. Brecht ist für mich ein Dichter, dessen Werke entweder immer spielbar sind oder nie.“47 Offenbar beugte sich der Intendant dem Druck der Politiker und wartete mit der Erstaufführung so lange, bis sich die ‚Tageserwägungen‘ geändert hatten. Das Verhalten der lübischen Politiker zeigte, dass antikommunistische Haltungen und der Kalte Krieg auch Anfang der sechziger Jahre das politische Klima in der Bundesrepublik bestimmten. Ein symbolischer Akt des Antikommunismus bedeutete dem Lübecker Senat mehr als die Autonomie der Theaterarbeit und die Freiheit der Kunst. Aus Sicht der Politiker durfte der Staat in die Kunst eingreifen – damit verband sich ein Bild des Bürgers, dem man bestimmte Dinge nicht ‚zumuten‘ könne, der mithin als eher unmündig und schutzbedürftig betrachtet wurde. Freilich gab es hier auch ‚Brüche‘: Das Aufführungsverbot hatte keinen Bestand, weil sich der Senat schließlich mit knapper Mehrheit dagegen aussprach. Pressestimmen teilten zwar die antikommunistische Grundeinstellung, standen aber – ebenso wie viele Theaterleute – staatlichen Eingriffen in die Freiheit des künstlerischen Schaffens skeptisch gegenüber. Aus rechtlicher Sicht konnte man den Verbotsbeschluss des Senates als Verstoß gegen die Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes einstufen. Was der Verfassungsjurist Rupert Scholz schrieb, ergab sich aus Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes: „So kann dem Künstler im öffentlichen Dienst (Dirigent, Regisseur, Schauspieler) kein bestimmter Inhalt seiner (dienstlichen) Kunsttätigkeit vorgeschrieben werden.“48 Von Zensur konnte im Sinne eines materiellen oder alltagssprachlich-journalistischen Begriffsverständnisses gesprochen werden: Ein staatliches Organ verhinderte (mit welchen Machtmitteln ist freilich unklar) die Verbreitung einer Meinungsäußerung, wobei es ihm jedoch nicht um den Inhalt ging, sondern um ein politisches Zeichen, mit dem man gegen die DDR und den Mauerbau ‚Flagge zeigen‘ wollte.

Die Mutter Courage-Inszenierung des Theaters Baden-Baden Auf dem Spielplan der Bühnen von Baden-Baden stand für den 28. Januar 1962 eine Premiere: Der Regisseur Eberhard Johows wollte seine Inszenierung des

47 Ebd. 48 Scholz: Art. 5 Abs. 3, S. 130, Randnummer 64.

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Brecht-Stückes Mutter Courage und ihre Kinder erstmals der Öffentlichkeit vorstellen. Doch dazu kam es nicht. Ernst Schlapper, CDU-Oberbürgermeister von Baden-Baden, gab dem Intendanten des Theaters, Hannes Tannert, am 10. Januar 1962 eine ‚Dienstanweisung‘: Die Aufführung dürfe nicht stattfinden. Der Politiker sprach dieses Verbot nicht in seiner Rolle als Oberbürgermeister aus; vielmehr wurde er als Vorsitzender der ‚Bäder- und Kurverwaltung‘ tätig. Das Schauspielhaus war organisatorisch eine Einrichtung der ‚Bäder- und Kurverwaltung BadenBaden‘ und keine Stadt- oder Landesbühne. Intendant Tannert hielt sich an die Anweisungen des Oberbürgermeisters und verzichtete erst einmal auf die BrechtPremiere.49 Als Begründung für das Aufführungsverbot nannte Elisabeth von Glasenapp, CDU-Stadträtin, politische Gründe: Bei Brecht handele es sich um einen „Propagandisten des kommunistischen Gewaltregimes des Herrn Ulbricht“, der nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 eine Solidaritätsadresse an Walter Ulbricht gesandt und 1955 den Stalin-Friedenspreis akzeptiert habe. Künstlerisch habe die CDU nichts gegen Brecht und die Mutter Courage einzuwenden. Aber es ist ein Mißbrauch der Freiheit, in dem Augenblick, in dem die Schandmauer mitten durch Berlin geht, durch die Deutsche von Deutschen getrennt sind, in dem Augenblick, in dem in der Zone auf Deutsche, die in die Freiheit wollen, von Deutschen geschossen wird, ein Stück eines solchen Autors wie Brecht hier aufzuführen.50

Nach dem Verbot der Premiere in Baden-Baden boten die Theater von Straßburg, Colmar und Mülhausen den Baden-Badener Bühnen an, sie könnten das Stück dort herausbringen. Daraufhin erweiterte Oberbürgermeister Schlapper am 1. Februar 1962 sein Verbot auf Gastspiele im Ausland. Wenige Tage später, am 5. Februar, hob er dieses Verbot wieder auf. Die Ablehnungsgründe, die für die Bundesrepublik gälten, träfen auf Auslandsaufführungen nicht zu, ließ das Rathaus wissen. Am 20. März kam das Stück schließlich auf die Bühne – allerdings

49 Vgl. „Verbot einer Brecht-Aufführung“. In: Neue Zürcher Nachrichten v. 11.1.1961. – „Verbot eines Brecht-Schauspiels“. In: Schaffhauser Zeitung v. 11.1.1962. – „Protest gegen Brecht-Verbot. Baden-Badener Theater untersteht der Bäder- und Kurverwaltung“ (sign. ‚F. R.‘). In: Der Tagesspiegel v. 12.1.1961. – „Empörung über Brecht-Verbot in Baden-Baden“. In: Badisches Tagblatt v. 13.1.1962. 50 Elisabeth von Glasenapp, zitiert nach: „Mißbrauch der Freiheit. Zu Debatten um die Absetzung einer Brecht-Aufführung in Baden-Baden“. In: Kommunalpolitische Blätter. Organ der Kommunalpolitischen Vereinigung der CDU und CSU Deutschlands 14 (1962) H. 3, S. 91–92 (einschl. des wörtlichen Zitats). Siehe auch: „Kommunale Kurage gegen ‚Mutter Courage‘. Aus einer lokalen Demonstration gegen die Schandmauer soll man keinen deutschen Theaterskandal machen“. In: Badische Neueste Nachrichten v. 13.1.1962.

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in Straßburg und nicht in Baden-Baden.51 Das Aufführungsverbot durch den Oberbürgermeister wurde öffentlich kritisiert. Erwin Stein, Richter am Bundesverfassungsgericht und bis zu seiner Wahl in das höchste Gericht Mitglied der CDU, schrieb einen offenen Brief an Schlapper.52 Stein hielt das Verbot für rechtsund verfassungswidrig. Schlapper schränke aus politischen Gründen die Freiheit der Kunst und der Meinungsäußerung ein. Artikel 5 des Grundgesetzes schütze auch die freie Verbreitung der Kunst, gleichgültig, von wem das Kunstwerk stamme. Das Grundgesetz gelte auch für Schlapper, ob er das Verbot des BrechtStückes nun als Oberbürgermeister oder Vorstand der Bäder- und Kurverwaltung verhängt habe. Als Anstalt des öffentlichen Rechts sei auch die Bäder- und Kurverwaltung an das Grundgesetz gebunden.53 Verschiedene Autoren, die in Baden-Baden lebten, wandten sich ebenfalls gegen das Aufführungsverbot durch Schlapper. Darunter waren Peter Bamm, Otto Flake, Dieter Hasselblatt und Horst Krüger. Sie sahen in der Entscheidung des Oberbürgermeisters einen „Angriff auf die geistige Freiheit“ und einen Ausdruck von Provinzialismus. Das Werk des international bedeutenden Dramatikers dürfe nicht „aus politischen Augenblicksaspekten heraus“ bewertet werden.54 Derartige Hinweise auf Recht und Gesetz brachten den Oberbürgermeister nicht von seiner Haltung ab. Schlapper sagte, bei den Äußerungen des Bundesverfassungsrichters handele es sich um eine „anfechtbare Auslegung des Grundgesetzes“ und die Autoren sollten „künftig ihre geistigen Produkte in der Sowjetzone schreiben“. Er wisse selbst am besten, was geistige Freiheit bedeute.55 Erst als der Suhrkamp-Verlag mit Regressforderungen drohte, änderte Schlapper seine Meinung. Der Suhrkamp-Verlag hatte mit den Baden-Badener Bühnen einen Ver51 Vgl. „Neues aus Schlappers Stadt“. In: Rhein-Neckar-Zeitung v. 2.2.1962. – „Brecht-Gastspiel im Elsaß verboten“. In: Holsteinischer Courier v. 2.2.1962. – „‚Mère Courage‘ interdit à Strasbourg“. In: Les Dernières Nouvelles d’Alsace v. 2.2.1962. – „Gastspielverpflichtungen für nichtig erklärt“. In: Stuttgarter Zeitung v. 2.2.1962. – Pressestelle des Rathauses Baden-Baden, zitiert nach: „,Nur auf französischen Bühnen!‘ Baden-Badens Brecht-Affäre nimmt groteske Züge an“. In: Göttinger Presse v. 6.2.1962. – Hans Wilfert: „Baden-Badener Premiere in Straßburg. Das Theater der Stadt Baden-Baden gastierte am Dienstag mit Bert Brechts ,Mutter Courage und ihre Kinder‘ in Straßburg“. In: Badisches Tagblatt v. 22.3.1962. 52 Vgl. Erwin Stein. In: Der Spiegel 46 (1992) H. 35, S. 242. – „Die Freiheit der Kunst geht vor. Bundesverfassungsrichter Dr. Stein zu dem Baden-Badener Verbot der Brecht-Aufführung“ (sign. ‚wm‘). In: Stuttgarter Zeitung v. 24.1.1961. 53 Erwin Stein, zitiert in: Die Freiheit der Kunst geht vor. 54 Peter Bamm u. a.: „Offener Brief an den Baden-Badener Oberbürgermeister Ernst Schlapper“. Unter der Überschrift „Baden-Badener Autoren an Herrn Oberbürgermeister Dr. Schlapper“. In: Badisches Tagblatt v. 13.1.1962. 55 Mitteilungen und Diskussionen 3 (1962) H. 5. Hg. v. Arbeitskreis Bertolt Brecht, S. 1–4, hier S. 3 (einschließlich der wörtlichen Zitate).  

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trag über die Aufführung der Mutter Courage geschlossen – der Verlag teilte mit, er wolle wegen Vertragsbruchs klagen, wenn das Theater das Stück nicht herausbringe. Daraufhin rückte Schlapper von seinem Verbot ab und gestattete eine Aufführung für Mai 1962.56 Das Verbot der Brecht-Premiere kann als Zensur im Sinne des materiellen und alltagssprachlichen Zensurbegriffs betrachtet werden: Ein möglicher Beitrag zum Prozess der Meinungsbildung wurde der Öffentlichkeit durch eine intervenierende Instanz entzogen. Es handelte sich um einen Verstoß gegen die Kunstfreiheitsgarantie des Artikels 5 des Grundgesetzes. Dabei trat hervor, mit welcher Geringschätzung Politiker den Grundrechten gegenüberstanden: Schlapper und die Baden-Badener CDU missachteten die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die doch gegenüber dem Unrechtsstaat DDR verteidigt werden sollte. Wie in den anderen Fällen kam es auch in Baden-Baden nicht auf den Inhalt des Stückes an, sondern es drehte sich um einen Akt symbolischer Politik, mit dem sich Politiker als Antikommunisten profilieren wollten. Dem Staat wurde das Recht zugesprochen, in den Kunstsektor einzugreifen, und der Kunst wurde ihre Autonomie aberkannt. Die Kunst hatte sich tagespolitischen Zwecken unterzuordnen. Auch die Informationsfreiheit der Bürger spielte eine geringe Rolle. Im Menschen- und Gesellschaftsbild der CDU-Kommunalpolitiker mussten sich die Bürger den Entscheidungen der Behörden fügen. Gleichwohl waren im politischen Klima dieser Zeit Gegensätze zu bemerken: Einerseits befolgte der Intendant Tannert die politischen Vorgaben, und man konnte in einer Zeitung die Aussage eines Theaterleiters lesen, dass „jeder Intendant, der heute Mut hat, unter die Selbstmörder einzureihen“ sei.57 Der Mann wollte anonym bleiben. Andererseits gab es auch von bürgerlicher Seite Kritik an dem staatlichen Eingriff, die juristisch-politisch und ästhetisch begründet wurde.

Das Jugendschutzgesetz und die Arbeit der Bundesprüfstelle Während mit Brecht ein Autor im Visier staatlicher Instanzen stand, der als Künstler hohes Ansehen genoss, war das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften (‚GjS‘, kurz ‚Jugendschutzgesetz‘ oder auch ‚Schmutz- und

56 Vgl. Günther Rühle: „Courage“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 28.3.1962. Siehe auch: Ball im Parterre, S. 85. 57 Rühle: Courage.

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Schundgesetz‘ genannt) gegen eine Form von Literatur gerichtet, mit der sich kaum jemand offen identifizieren mochte und deren fehlende Respektabilität sich schon in der für sie gefundenen Bezeichnung ausdrückte: die ‚Schmutz- und Schundliteratur‘. Ergriffen die Politiker die Maßnahmen gegen Brecht-Stücke aus politischen Motiven, so spielten bei der Aktivität gegen ‚jugendgefährdende Schriften‘ Fragen der Sexualmoral die zentrale Rolle – doch auch diese hatten politische Bezüge, und über das Jugendschutzgesetz wurde im Deutschen Bundestag heftig diskutiert. Auf Initiative der Fraktion der CDU/CSU hatte der Bundestag bereits im Oktober 1949 erste Bemühungen für ein Gesetz gegen ‚Schmutz und Schund‘ unternommen.58 Im September 1952 stimmte der Bundestag mehrheitlich für einen Gesetzentwurf: Die Unionsparteien votierten für die Vorlage, SPD und KPD dagegen, und in der FDP gab es sowohl Zustimmung als auch Ablehnung.59 Der Entwurf wurde nach Einsprüchen des Bundesrates noch leicht geändert. Bundestag und Bundesrat nahmen eine vom Vermittlungsausschuss vorgelegte Gesetzesversion an; diese wurde am 9. Juni 1953 verkündet.60 Auf der Grundlage dieses Gesetzes über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften begann im Mai 1954 eine ‚Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften‘ als ‚Bundesoberbehörde‘ mit ihrer Arbeit. Aufgabe der Bundesprüfstelle, die auf Antrag tätig wurde, war es, Schriften auf eine mögliche Jugendgefährdung zu untersuchen und solche, die sie als jugendgefährdend ansah, auf eine Liste zu setzen, zu ‚indizieren‘. Diese ‚Indizierung‘ bedeutete, dass die Schriften nicht mehr an Jugendliche verkauft oder verliehen werden durften. Damit waren weitreichende Werbe- und Vertriebsverbote verbunden.61 Die Stellungnahmen, die Politiker verschiedener Parteien in den Debatten abgaben, sollen hier näher beleuchtet werden, da sie Einblicke in die Gedankenund Gefühlswelten der Entscheidungsträger und in das gesellschaftlich-politi-

58 Vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte und Drucksachen, 1. Wahlperiode, Drucksache Nr. 103: Antrag der Abgeordneten Dr. von Brentano und Fraktion der CDU/CSU betr.: Vorlage eines Gesetzentwurfs gegen Schmutz und Schund, 14.10.1949. 59 Vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte und Drucksachen, 1. Wahlperiode, 230. Sitzung, 17.9.1952, S. 10532–10556. Siehe auch: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte und Drucksachen, 1. Wahlperiode, Drucksache Nr. 1101: Entwurf eines Gesetzes über den Vertrieb jugendgefährdender Schriften, 28.6.1950. 60 Vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte und Drucksachen, 1. Wahlperiode, 265. Sitzung, 12.5.1953, S. 12991–12992. – „Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften. Vom 9. Juni 1953“. In: BGBl. I (1953), S. 377–379. 61 Vgl. Rudolf Stefen: „Jugendmedienschutz“. In: Medienrecht. Stichwörter für die Praxis. Hg. v. Peter Schiwy u. Walter J. Schütz. Neuwied, Darmstadt 1977, S. 75–82.

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sche Klima der Adenauerzeit eröffnen. Ebenso möchte ich einen kurzen Blick auf die Praxis der Bundesprüfstelle werfen.

Bundestagsdebatten über das ‚Schmutz- und Schundgesetz‘ Im Deutschen Bundestag trat für die Unionsfraktion besonders der Bamberger CSU-Abgeordnete Emil Kemmer in den Debatten hervor, die im Juli 1950 und im September 1952 stattfanden. Kemmer begründete die Notwendigkeit eines Gesetzes gegen ‚Schmutz und Schutz‘ zunächst mit dem „widerliche[n] Zustand“ der Öffentlichkeit, wie er sich an den Zeitungskiosken und in den Schaufenstern von Buchhandlungen zeige. Er forderte, dass „endlich eine Bereinigung dieser giftigen Atmosphäre vorgenommen“ werde.62 Die Bevölkerung wünsche ein Gesetz gegen solche Schriften. Diese hätten eine große schädliche Wirkung auf Jugendliche. Man könne das einerseits aus der Vielzahl solcher Schriften herleiten und andererseits aus deren Inhalt. Die etwa 50 Verlagsobjekte verteilen sich auf 9 Magazine, 7 Aktbildsammlungen, 15 Sittenromanreihen, 4 sogenannte Witzblätter, 7 FFK-Zeitschriften [sic!], 4 sexualreformerische und 4 sexualpathologische Zeitschriften. Zu diesem vorwiegend erotisch-sexuellen Schrifttum kommt noch eine Flut von Wildwest- und Kriminalromanserien; dazu kommen aber auch noch – das beruht auf einer ganz neuen Statistik – 145 Versandgeschäfte, die in Reklamesendungen für die eben angeführten Schriften und darüber hinaus für SexualStimulantien und ähnliche Erzeugnisse werben.63

Jugendpsychologen hätten bestätigt, dass die Darstellung von Verbrechen die Bereitschaft bei Jugendlichen erzeuge oder fördere, selbst Straftaten zu begehen. Die Jugendkriminalität habe erschreckend zugenommen. Zudem sei die ‚Schmutzliteratur‘ für einen Werteverfall verantwortlich: „Die vielfache Zerstörung der seelischen, geistigen und auch religiösen Werte ist doch eine ebenso traurige Folge und oft die Ursache eines verpfuschten Lebens.“64 Den Wirkungsbehauptungen, die Kemmer aufstellte, entsprach ein Verständnis vom Jugendlichen als labilem, schwachem Menschen, der vor Medieneinflüssen geschützt werden müsse. „Die heutigen Sexualaufklärungsschriften, Magazine und Akt62 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte und Drucksachen, 1. Wahlperiode, 230. Sitzung, 17.9.1952, Kemmer (CSU), S. 10543–10546, hier S. 10543. 63 Ebd., S. 10543f. 64 Ebd., S. 10544.

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bildhefte bieten ihm bestimmte Reize an, die zu überwinden ihm größte Schwierigkeit bereiten muß.“65 Kemmer vertrat hier eine Vorstellung von Pädagogik, die als ‚Bewahrpädagogik‘66 bekannt wurde: Jugendliche sollten vor angeblich schädlichen Medieneinflüssen bewahrt werden. Warum die ‚Reize‘ von Aktheften ‚überwunden‘ werden müssen, erläuterte Kemmer nicht. Dass Jugendliche durch Selbstbefriedigung oder sexuelle Kontakte ihre sexuellen Bedürfnisse befriedigen, war für den CSU-Politiker ein Verstoß gegen die „sittliche Ordnung“.67 Mit dem Jugendschutz sollte diese ‚sittliche Ordnung‘ verteidigt werden – es ging also auch und gerade darum, bestimmte Normen und Werte besonders für die Sexualmoral durchzusetzen, die Jugendliche und später Erwachsene befolgen sollten. Auf diese Weise machte die Jugendschutzgesetzgebung das intime Zusammenleben der Menschen und den gesellschaftlichen Umgang mit Sexualität ausdrücklich zum Gegenstand von Politik.68 Darüber hinaus zogen Kemmer und mit ihm sein CDU-Kollege Ferdinand Friedensburg die schon erwähnten Verbindungen zur Tagespolitik: ‚Schmutz und Schund‘ in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit böten der ‚Sowjetzone‘ eine Möglichkeit, gegen den Westen zu agitieren, und diese Möglichkeit müsse man ihr nehmen.69 Die Oppositionsparteien SPD und KPD lehnten das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften ab. Die KPD glaubte ebenso wie die CDU an große Gefahren, die von jugendgefährdenden Schriften ausgingen, und befürwortete einen Schutz der Jugend. Allerdings erkannte die KPD diese Gefahren vor allem in den Western und Kriminalfilmen aus den USA. Die Abgeordnete Grete Thiele wandte sich gegen die „amerikanische Gangster-Kultur, die hier eingeführt wird“ und rief zum „Kampf gegen den Amerikanismus“ auf.70 Ihre Kollegin Gertrud Strohbach sah die deutsche Kultur bedroht: „Unsere Aufgabe muß es sein, die Jugend in ihrem Widerstand gegen die Überfremdung der deutschen

65 Ebd. 66 Vgl. Bernward Hoffmann: „Bewahrpädagogik“. In: Handbuch Medienpädagogik. Hg. v. Uwe Sander, Friederike von Gross u. Kai-Uwe Hugger. Wiesbaden 2008, S. 42–50. 67 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte und Drucksachen, 1. Wahlperiode, 230. Sitzung, 17.9.1952, Kemmer (CSU), S. 10545. 68 Vgl. zum Thema der Sexualität als Gegenstand von Politik allgemein: Rüdiger Lautmann: „Sexualität als Politikfeld“. In: Lust und Liebe. Wandlungen der Sexualität. Hg. v. Christoph Wulf. München, Zürich 1985, S. 132–147, bes. S. 136. 69 Vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte und Drucksachen, 1. Wahlperiode, 230. Sitzung, 17.9.1952, Kemmer (CSU), S. 10545; Friedensburg (CDU), S. 10547. 70 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte und Drucksachen, 1. Wahlperiode, 74. Sitzung, 13.7.1950, Frau Thiele (KPD), S. 2670–2671, hier S. 2670.

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Kultur mit amerikanischem Kitsch und Schund zu unterstützen.“71 Man wollte „die vorbildliche Jugendliteratur aus der Deutschen Demokratischen Republik in Westdeutschland“ einführen. Auf ein Jugendschutzgesetz könne die Bundesrepublik getrost verzichten, wenn sie sich an der DDR orientiere: Es ist allgemein anerkannt, daß es in der Deutschen Demokratischen Republik das Problem, mit dem wir uns heute hier zu beschäftigen haben, nicht gibt. Dort finden Sie keine Zeitungskioske mit solch üblen Veröffentlichungen, wie sie hier bei uns üblich sind.72

In der Ablehnung von ‚Schmutz und Schund‘ waren sich KPD und CDU also einig, nur dass die KPD nicht nur eine teilweise Einschränkung der Meinungs- und Informationsfreiheit zum Schutz der Jugend empfahl, sondern gleich eine umfassende Staatskontrolle über sämtliche Medien. Für die SPD sprach die Abgeordnete Irma Keilhack in den Bundestagsdebatten. Sie erachtete das Gesetz als gefährlich, überflüssig und nicht wissenschaftlich fundiert.73 Die Gefahr bestand für die Parlamentarierin in den unklaren Formulierungen des Gesetzes. Es lege nicht fest, welche Texte oder Bilder geeignet seien, „Jugendliche sittlich zu gefährden“ – so könne man das Gesetz zu einem „kulturpolitischen Kampfmittel“ machen. Auch die Regelung, eine Schrift dürfe nicht „allein wegen ihres politischen, sozialen, religiösen oder weltanschaulichen Gehalts“ indiziert werden, erschien der Abgeordneten problematisch. Von den weitgehenden Werbeverboten seien auch Erwachsene betroffen. Damit würden die Grundrechte der Meinungs- und Informationsfreiheit beschnitten.74 Den Vorwurf, das Gesetz sei überflüssig, gründete die SPD-Politikerin darauf, dass das Strafgesetzbuch schon die Verbreitung unzüchtiger Schriften und die Verbreitung schamloser Schriften an Jugendliche unter Strafe stelle, und zwar in den Paragraphen 184 und 184a. Der Staat verfüge daher bereits über Mittel, um gegen pornographische Schriften einzuschreiten. Keilhack befürchtete, dass sich der Einfluss kirchlicher Kreise auf das gesellschaftliche Leben ausdehnen und das Jugendschutzgesetz in diesem Sinne eingesetzt werden könne. Statt ein neues Gesetz zu verabschieden, wäre es besser, wenn Verleger-, Buchhändler- und Zeitschriftenverbände Selbstkontrollinstanzen einrichteten.75

71 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte und Drucksachen, 1. Wahlperiode, 230. Sitzung, 17.9.1952, Frau Strohbach (KPD), S. 10542–10543. 72 Ebd., S. 10543. 73 Vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte und Drucksachen, 1. Wahlperiode, 230. Sitzung, 17.9.1952, Frau Keilhack (SPD), S. 10540–10542. 74 Ebd., S. 10540f. Hervorhebung von Irma Keilhack. 75 Vgl. ebd., S. 10541.

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Schließlich äußerte Irma Keilhack Zweifel an den Wirkungsbehauptungen der Gesetzesverfechter. Die Annahmen einer starken und gefährlichen Wirkung der ‚Schmutz- und Schundliteratur‘ entbehrten der wissenschaftlichen Grundlage. Der Bundestagsausschuss für Fragen der Jugendfürsorge habe Psychologen, Richter, Erzieher und Autoren eingeladen – niemand habe belegen können, dass die Schriften, auf die sich das neue Gesetz beziehe, tatsächlich für Jugendliche gefährlich seien.76 Die Sozialdemokraten nahmen mithin beim Jugendschutz eine erkennbar liberalere Haltung ein als die Politiker der CDU/CSU. Freilich unterstützte auch die SPD die Jugendschutzidee als solche und das Verbot bestimmter Texte und Bilder. Ebenso wie die anderen Parteien vertrat die SPD die Auffassung, man müsse die Jugendlichen vor schädlichen Medieneinflüssen schützen, jedoch zog sie die Grenze zwischen Erlaubtem und Verbotenem anders. Alle Parteien lehnten den freien Vertrieb von Texten und Bildern ab, die sie als ‚schamlos‘ oder als ‚unzüchtig‘ einstuften. Medien, die Menschen zum Ausleben ihrer Sexualität anregen könnten, sollten keinen Zugang zum öffentlichen Raum bekommen. Die Bundestagsdebatten erlaubten gute Einblicke in das politische und gesellschaftliche Klima der Adenauerzeit: Es herrschte eine kirchlich definierte ‚sittliche Ordnung‘ mit restriktiven Sexualnormen, die gegen ‚Schmutz und Schund‘ verteidigt werden sollte. Ein Denken in Kategorien des Ost-West-Konfliktes war allgegenwärtig und beeinflusste selbst Diskussionen, die sich um Aktbilder und erotische Literatur drehten.

Beispiele aus der Praxis der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften In einem Bericht zur Lage der Jugend gab die Bundesregierung einen Überblick über die Indizierungen der Bundesprüfstelle in der Zeit von 1954 bis 1963. Demzufolge setzte die Prüfstelle 1.600 Objekte auf den Index. Betroffen waren Bücher, Heftromane, Zeitschriften, Comics, Schmalfilme, Dias, Schallplatten und ‚figürliche Darstellungen‘. Die Bundesprüfstelle indizierte weitere 1.568 Schriften, welche Gerichte als unzüchtig oder schamlos im Sinne des Strafgesetzbuches angesehen hatten. Sie lehnte 140 Anträge auf Indizierung ab und nahm 196 Schriften

76 Vgl. ebd.

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nicht in die Liste jugendgefährdender Schriften auf, da es sich um Fälle von geringer Bedeutung gehandelt habe.77 Unter den 1.600 Objekten, die die Bundesprüfstelle aufgrund eigener Betrachtung auf den Index setzte, fanden sich 602 Bücher und 998 Zeitschriften und andere Veröffentlichungen. Bei den Büchern bildeten ‚verrohende oder gewaltverherrlichende Kriminal- und Abenteuerromane‘ aus privaten Büchereien die Mehrzahl. Vertreten waren auch sogenannte ‚Sittenromane‘. Bei den Zeitschriften und anderen Publikationen standen ‚ausländische Akt-, Strip-, SexMagazine oder Serien‘ an erster Stelle. Am zweithäufigsten wurden ‚sexbetonte Pin-up-Magazine‘ auf den Index gesetzt. An dritter Stelle folgten ‚inländische Akt-, Strip-, Sex-Magazine oder Serien‘. Am vierthäufigsten indizierte die Prüfstelle ‚Periodika homosexueller Tendenz‘ und am fünfthäufigsten ‚Aktbild-DiaSerien‘. Außerdem setzte die Bundesprüfstelle unter anderem Comics, ‚Sexualaufklärungsschriften‘, ‚Greuelmagazine‘, ‚Crime- and Sex-Schriften‘, ‚Nackt- und Strip-Schmalfilme‘ und ‚Nudistenmagazine‘ auf die Liste jugendgefährdender Schriften.78 Schaut man sich die Statistiken des Jugendberichts im Zusammenhang an, dann wird deutlich, dass Schriften, die erotische Inhalte hatten oder nackte Menschen abbildeten, die Mehrzahl der indizierten Schriften stellten. Bei den 1.600 Werken, die die Bundesprüfstelle selbst prüfte, fielen 837 in Kategorien, die sich ausdrücklich auf Nacktheit oder Sexualität bezogen.79 Die Zahl dürfte noch höher gewesen sein, weil der Bericht nicht bei allen Kategorien angab, worum es in den Büchern ging, etwa in der Kategorie ‚Taschenbücher‘. Hinzu kommt, dass die Prüfstelle zusätzlich zu den 1.600 Schriften annähernd genauso viele ‚unzüchtige‘ oder ‚schamlose‘ Werke nach Gerichtsbeschlüssen auf den Index setzte. Die Liste jugendgefährdender Schriften setzte sich somit größtenteils aus Publikationen zusammen, die in irgendeiner Form mit Sexualität zusammenhingen. Man kann festhalten: Im Zentrum der Arbeit der Bundesprüfstelle in der Ära Adenauer stand die Sexualmoral. Einen guten Einblick in die Vorstellungswelten, welche die Tätigkeit der Bundesprüfstelle prägten, geben zwei Indizierungen, die hier beispielhaft erwähnt werden sollen. So setzte die Prüfstelle das als ‚Sexualaufklärungsschrift‘

77 Vgl. Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte und Drucksachen, 4. Wahlperiode, Drucksache IV/3515: Bericht über die Lage der Jugend und über die Bestrebungen auf dem Gebiet der Jugendhilfe. Bonn, 14.6.1965, S. 155f., 182f. (Tabelle 14: Indizierungen der Bundesprüfstelle bis 1964); eigene Berechnungen auf der Grundlage von Tabelle 14. 78 Vgl. ebd., S. 182f. 79 Vgl. ebd. eigene Berechnungen.

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eingeordnete Buch Die Kunst der erotischen Lustvollendung von Eugen Seiler auf den Index.80 Die Behörde kritisierte, der Band biete eine Reihe von Anweisungen, Hinweisen und Beschreibungen, die über die im natürlichen Rahmen bleibende sexuelle Erfüllung erheblich hinausgehen und z. T. in das Gebiet der Perversitäten hineinreichen. Es handelt sich dabei nicht mehr um eine dem natürlichen Empfinden entsprechende Steigerung der sexuellen Genußmöglichkeiten, sondern um Übersteigerungen.81

Argumentiert wurde mit der ‚Natur‘ und dem ‚natürlichen Empfinden‘ – was davon abwich, wurde als ‚pervers‘ charakterisiert. Konkret bemängelte die Bundesprüfstelle, dass der Autor den Oralverkehr empfehle und außerdem behaupte, derartige Sexualpraktiken seien verbreitet. Für die Bundesprüfstelle fielen solche Praktiken „in das Gebiet der Sexualpathologie“.82 Eine staatliche Behörde legte Normen für das intime Zusammenleben der Menschen fest und bezeichnete Übertretungen dieser Normen als krankhaft. Mit der Indizierung des Buches von Seiler wollte die Behörde dazu beitragen, dass die von ihr gewünschten Normen und Werte sich schon bei Jugendlichen durchsetzten. Der scheinbare Rückgriff auf die Natur ersetzte Argumente: Daß derartige Darstellungen, also sowohl die Einführung in die ,höheren Stufen des sexuellen Raffinements‘ als auch die Beschreibung sexueller Ausgefallenheiten nicht nur jugendungeeignet sondern schwerstens jugendgefährdend sind, bedarf als selbstverständlich und unbestreitbar keiner näheren Begründung.83

In einem anderen Indizierungsfall bestand die Bundesprüfstelle auf einer bestimmten Sicht der Wirklichkeit und versuchte, Gesellschaftskritik zu unterdrücken. Im Jahr 1962 indizierte die Prüfbehörde den Roman Dein Sohn läßt grüßen von Ulrich Schamoni. Sie teilte mit: Schwerstens jugendgefährdend ist aber die Konzeption des Romans, die einseitige und dadurch verzerrte Darstellung der ,intellektuellen Jugend von heute‘ und der gleichaltrigen weiblichen Jugend sowie der ,guten Gesellschaft von heute‘ […]. Gleich ob es sich um einen

80 Vgl. „Auszug aus der Liste der jugendgefährdenden Schriften (Stand: 31.7.1959)“. In: Robert Schilling: Literarischer Jugendschutz. Theorie und Praxis – Strategie und Taktik einer wirksamen Gefahrenabwehr. Berlin, Darmstadt, Neuwied/Rh. 1959, S. 234 sowie: Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften: „Entscheidung Nr. 599 über ein aus sexualethischen Gründen zu beanstandendes Sexualaufklärungsbuch des Versandhandels für Erotika“. Keine Datumsangabe. In: Schilling: Literarischer Jugendschutz, S. 210–213. 81 Ebd., S. 212. 82 Ebd., S. 212f. 83 Ebd., S. 211. Kommafehler bereits im Originaltext.

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ehemaligen Stadtrat und Bauunternehmer oder um den Intendanten der städt. Bühnen handelt, ob um den Großgrundbesitzer oder um den Kulturdezernenten der Stadtverwaltung, alle Personen, die in dieser Schrift als Repräsentanten der ,guten Gesellschaft von heute‘ vorgeführt werden, sind negative Typen, Scheinheilige, Opportunisten, kalte Rechner, Heuchler, Korrupte, kulturlose Genußmenschen oder Kümmerlinge.84

Das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften verbietet es, Schriften, die der Kunst dienen, auf den Index zu setzen. Die Prüfstelle bestritt, dass es sich bei dem Roman von Schamoni um Kunst handele; sie gab ein ästhetisches Urteil über den Roman ab: „Es kann der Kunstvorbehalt nicht so weit ausgedehnt werden, daß auch nicht gelungene künstlerische Versuche darunter fallen.“85 Die Indizierung durch die Bundesprüfstelle hatte vor zwei gerichtlichen Instanzen Bestand: Das Verwaltungsgericht Köln und das Oberverwaltungsgericht Münster bestätigten die Listenaufnahme. Das Oberverwaltungsgericht argumentierte, Schamonis Roman stelle die deutsche Gesellschaft negativ und verzerrt dar und sei geeignet, Jugendliche sittlich zu gefährden. Ulrich Schamoni rechtfertige sexuelles Fehlverhalten Jugendlicher, indem er es als Folge einer ‚verkommenen‘ Gesellschaft schildere. Erst beim Bundesverwaltungsgericht scheiterte die Bundesprüfstelle: Das Gericht hob das Urteil des Oberverwaltungsgerichts auf und verwies den Fall nach Münster zurück. Freilich kritisierte das Bundesverwaltungsgericht nicht die Argumentation als solche, sondern führte aus, die Interpretationen der unteren Instanzen und der Bundesprüfstelle entsprächen nicht dem Inhalt des Romans.86 Was die Einstufung der Tätigkeit der Bundesprüfstelle als Zensur anging, so war sich die Behörde mit der herrschenden juristischen Meinung einig: Zum einen werde die Prüfstelle nur auf Antrag tätig, nehme also keine systematische Überwachung der öffentlichen Kommunikation vor, zum anderen trete sie erst nach der Veröffentlichung eines Werkes auf den Plan. Deshalb könne von Zensur im Sinne des Grundgesetzes nicht die Rede sein. Rudolf Stefen, von 1969 bis 1991 Vorsitzender der Bundesprüfstelle, bezeichnete ihre Tätigkeit indes als ‚Nachzensur‘, was nachvollziehbar war, wenn man darunter das Vorgehen gegen einzelne Medienerzeugnisse nach ihrer Veröffentlichung verstand. Es müsse

84 Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften: „Entscheidung Nr. 1162 vom 5. Oktober 1962“. Mit geringfügigen Kürzungen abgedruckt in: Vorgänge 2 (1963) H. 2, S. 58–61, hier S. 59. 85 Ebd., S. 60. 86 Vgl. „Urteil des V. Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Dezember 1966 – BVerwG V C 47.64“. In: Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts. Hg. v. den Mitgliedern des Gerichts, Bd. 25. Berlin 1967, S. 318–330, bes. S. 323ff.

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möglich sein, im Nachhinein zu überprüfen, ob Schriften gegen Gesetze verstießen.87 Verwendet man einen materiellen oder alltagssprachlich-journalistischen Zensurbegriff, dann kann man bei der Arbeit der Bundesprüfstelle sehr wohl von Zensur sprechen. Was Noltenius über Zensur schrieb, traf hier zu: Eine intervenierende Instanz entzog der Öffentlichkeit einen möglichen Beitrag zum Prozess der Meinungsbildung, wobei Meinungsbildung in einem weiteren Sinne zu fassen war. Die Prüfbehörde ging gegen bestimmte Publikationen mit dem Ziel vor, ein System von Normen und Werten zu verteidigen, das vor allem das sexuelle Verhalten der Menschen regeln sollte. Betroffen von den Indizierungen war de facto nicht nur die Teilöffentlichkeit der Jugendlichen. Wenn die Bundesprüfstelle eine Schrift auf den Index setzte, dann wirkte sich das vor allem bei Büchern wie ein allgemeines Verbot aus, das Erwachsene einbezog. Gab es keine Werbung für ein Buch und durften Buchhändler es nicht in ihren Geschäften zeigen, dann konnte das Buch Erwachsene ebenfalls kaum erreichen – sie wussten nicht einmal, dass es überhaupt existierte. (In den Zeiten des Internets haben sich die Informationsmöglichkeiten indes erweitert.) Auch das Bundesverwaltungsgericht wies im Jahr 1966 auf die Nähe von Indizierungen und Verboten hin: Die Indizierung einer jugendgefährdenden Schrift kommt dagegen fast ihrem Verbot gleich. Sie bedeutet also einen schweren Eingriff in die Rechte des Verfassers und des Verlegers. Darüber hinaus stellt sie eine empfindliche Beschränkung des Informationsrechts der Erwachsenen dar.88

Schlussbetrachtung In der frühen Bundesrepublik Deutschland griffen staatliche Stellen in die Freiheit von Theater, Presse und Literatur ein. Das Auswärtige Amt unter Führung von Minister von Brentano (CDU) verweigerte dem Theater der Stadt Bochum 1957 eine Finanzhilfe für eine Auslandsaufführung der Dreigroschenoper mit der Begründung, Brechts späte Lyrik sei nur mit der von Horst Wessel zu vergleichen, Brechts Stücke seien keine Zeugnisse moderner deutscher Kunst und man wolle den Politiker Brecht nicht fördern. Der Senat der Hansestadt Lübeck verbot dem Städtischen Theater 1961 ‚wegen der politischen Lage in Berlin‘ nach dem Bau der Mauer, das Brecht-Stück Pauken und Trompeten auf die Bühne zu bringen. In 87 Vgl. Rudolf Stefen: „Literatur vor dem Richter – aus der Sicht der Bundesprüfstelle“. In: Literatur vor dem Richter. Beiträge zur Literaturfreiheit und Zensur. Hg. v. Birgit Dankert u. Lothar Zechlin. Baden-Baden 1988, S. 123–154, hier S. 125. 88 Urteil des V. Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Dezember 1966, S. 323.

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Baden-Baden untersagte Oberbürgermeister Ernst Schlapper (CDU) 1962 dem Schauspielhaus die Aufführung von Brechts Mutter Courage und ihre Kinder. Das Verbot wurde mit der politischen Haltung Brechts und mit dem Mauerbau gerechtfertigt. Bei den Maßnahmen gegen Brecht ging es nicht darum, der Öffentlichkeit die Inhalte der Stücke vorzuenthalten. Vielmehr kam es den Politikern auf einen Akt der symbolischen Politik an: Sie wollten sich als aufrechte Antikommunisten profilieren und ein Zeichen im Kalten Krieg gegen den Ostblock setzen. Der Deutsche Bundestag beschloss 1953 auf Initiative der CDU/CSU ein Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften und die Einrichtung einer Behörde, der ‚Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften‘, die das Gesetz durchsetzen sollte und auf Antrag Bücher und Zeitschriften auf einen Index setzen konnte. Damit verbundene umfassende Werbe- und Vertriebsverbote hatten fast die Wirkung eines generellen Verbots. Die Prüfstelle nahm in zehn Jahren mehr als 3.000 Publikationen in die Liste jugendgefährdender Schriften auf, darunter überwiegend Veröffentlichungen mit sexueller Thematik. Ziel war es, schon bei Jugendlichen allgemeinverbindliche Normen für sexuelles Verhalten durchzusetzen, die mit ‚der Natur‘ begründet wurden und den Moralvorstellungen der CDU/CSU entsprachen. Zudem sollte die bundesrepublikanische Öffentlichkeit ein Bild der Sauberkeit bieten und nicht länger Zielscheibe für Angriffe aus dem Osten sein. In den Maßnahmen gegen Stücke von Brecht und gegen die ‚Schmutz- und Schundliteratur‘ kam eine Geringschätzung des Grundgesetzes und der dort garantierten Grundrechte zum Ausdruck. Dass es sich bei den Stücken von Brecht um Kunstwerke handelte, war den Politikern gleichgültig. Obwohl die Kunstfreiheit laut der Formulierung in Artikel 5 nicht einmal durch allgemeine Gesetze eingeschränkt werden kann, hatten Minister von Brentano, Oberbürgermeister Schlapper und andere Politiker keine Bedenken, Brecht-Aufführungen zu behindern oder zu verbieten. Die Vorstellung einer Autonomie der Kunst war diesen Leuten fremd – die Kunst hatte sich der Politik unterzuordnen. Auch die Meinungsfreiheit von Autoren und Theaterleuten und die Informationsfreiheit der Bürger standen nicht hoch im Kurs. Im Menschen- und Gesellschaftsbild der herrschenden politischen Akteure galten die Bürger als eher unmündig und unreif, sie sollten Vorgaben von Regierung und Behörden folgen, und zwar sogar, was ihre Liebesbeziehungen und ihre Sexualität anging. Im Staatsverständnis der Regierenden kam dem Staat eine starke Position zu – er durfte die Kommunikationsfreiheiten der Bürger beschränken und das intime Zusammenleben der Menschen regeln. Als Zensur konnte man die Maßnahmen gegen Brecht-Aufführungen und gegen die ‚Schmutz- und Schundliteratur‘ insofern ansehen, als sie auf die Unterdrückung oder Behinderung von Meinungsäußerungen im weiteren Sinne zielten

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und dazu staatliche Machtmittel anwandten. Legte man also diesen alltagssprachlich-journalistischen Zensurbegriff zugrunde, dann handelte es sich um Zensur. Die Kriterien des Zensurbegriffs im Sinne der herrschenden juristischen Lehre erfüllten die staatlichen Eingriffe dagegen nicht: Es gab kein systematisches Prüfverfahren, dem sich alle Theaterstücke oder alle Bücher und Zeitschriften vor ihrer Veröffentlichung hätten unterziehen müssen. Gleichwohl konnte man die Maßnahmen gegen die Brecht-Aufführungen als Verstöße gegen das Grundgesetz und die Kunstfreiheitsgarantie einstufen. Die Tätigkeit der Bundesprüfstelle galt und gilt demgegenüber als grundgesetzkonform, auch wenn man die Rolle dieser Behörde kritisch betrachten mag. Nicht alle ihre Beschlüsse hatten überdies vor Gericht Bestand. Die Maßnahmen gegen Bertolt Brecht und gegen ‚Schmutz und Schund‘ erlauben Einblicke in das politisch-gesellschaftliche Klima in der Adenauer-Ära: Es war gekennzeichnet von antikommunistischer Ideologie und einem Denken in Kategorien des Kalten Krieges, von einer restriktiven Sexualmoral und von einer Geringschätzung bürgerlicher Freiheitsrechte. Ganz einheitlich wirkte das Klima jener Jahre freilich nicht: Das ‚Schmutz- und Schundgesetz‘ war im Deutschen Bundestag umstritten, und staatliche Eingriffe stießen auf die Kritik von Schriftstellern, Theaterleitern und Journalisten.

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Das Ende des ‚Index der verbotenen Bücher‘ Vier Jahrhunderte lang versuchte die römische Buchzensur mit dem ‚Index der verbotenen Bücher‘ das Leseverhalten der Katholiken zu steuern. Angetreten war sie mit dem Anspruch, die vollständige Kontrolle über den Buchmarkt zu erlangen und die Hoheit der katholischen Kirche über die Weltdeutung zu verteidigen – ein Vorhaben, das in der Geschichte seinesgleichen sucht. Das Wort ‚Index‘ wurde, auch und gerade im konfessionell gemischten Deutschland, zum Inbegriff der Zensur überhaupt, der rücksichtslosen Unterdrückung des Menschenrechts auf Meinungsfreiheit. Wer heute von der römischen Buchzensur spricht, hat unwillkürlich brennende Bücher auf dem Scheiterhaufen vor Augen. Der Index ist zum Mythos geworden, zur Chiffre eines dunklen Zeitalters, in dem die Religion den gesellschaftlichen Fortschritt und die Wissenschaft unterdrückte.1 Die Verbotsliste umfasste unzählige berühmte Namen: von Honoré de Balzac, George Sand, Alexandre Dumas, Gustave Flaubert, Victor Hugo und Heinrich Heine über Hugo Grotius, Duns Scotus, Giordano Bruno, René Descartes, Auguste Comte, Immanuel Kant, Blaise Pascal und Friedrich II. bis John Stewart Mill, Jean-Jacques Rousseau, Voltaire, Montesquieu, Thomas Hobbes, Moses Maimonides, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Kritiker schmähten den Index als „Friedhof katholischen Geisteslebens“.2 Umso überraschender ist es, wie beiläufig dieses ursprünglich so ehrgeizige Zensurvorhaben in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufgegeben wurde. Mit einem einzigen Wort besiegelte Papst Paul VI. am letzten Sitzungstag des Zweiten Vatikanischen Konzils das Ende des Index, und zwar im Rahmen seiner großen Kurienreform. In dem Motu propio Integrae servandae vom 7. Dezember 1965 ging es zunächst um das Heilige Offizium, die Nachfolge-Organisation der Römischen Inquisition, die der Papst damals noch persönlich leitete.3 Paul VI. wertete sie ab, indem – wie in den übrigen Kongregationen auch – ein Kardinal

1 Vgl. Hubert Wolf: „Inquisition“. In: Erinnerungsorte des Christentums. Hg. v. Christoph Markschies u. Hubert Wolf. München 2010, S. 547–560. 2 Johann Baptist Scherer: Vierhundert Jahre Index romanus. Ein Gang durch den Friedhof katholischen Geisteslebens nebst einer zeitgemäßen Betrachtung über Autorität und Freiheit. Düsseldorf o. J. [1957]. 3 Vgl. Paul VI.: „Motu propio Integrae servandae v. 7. Dezember 1965“. In: Acta Apostolicae Sedis (AAS) 57 (1965), S. 952–955. Deutsche Übersetzung unter URL: http://www.vatican.va/holy_fat her/paul_vi/motu_proprio/documents/hf_p-vi_motu-proprio_19651207_integrae-servandae_ge. html (Stand: 22.12.2011).

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als Präfekt zum Chef dieser Behörde wurde. Zugleich unterstellte der Papst die Kongregation für die Glaubenslehre – so der neue Name des Heiligen Offiziums – wie alle anderen kurialen Ämter und Einrichtungen dem Staatssekretariat. Zwei Aufgaben der obersten römischen Glaubensbehörde, die im geltenden Kirchenrecht, dem Codex Iuris Canonici von 1917 beschrieben waren,4 erwähnte Paul VI. schlicht und einfach nicht mehr: die Untersuchung gefährlicher Schriften von Amts wegen und die Verpflichtung der Bischöfe, ‚schlechte‘ Bücher beim Heiligen Stuhl zur Anzeige zu bringen. Die Kongregation für die Glaubenslehre werde weiterhin Anzeigen von Büchern entgegennehmen und die inkriminierten Werke überprüfen, hieß es zwar in dem Erlass, jedoch war – und das ist entscheidend – nicht mehr vom ‚Verbieten‘, sondern nur noch vom ‚Verurteilen‘ oder ‚Missbilligen‘ (reprobare) die Rede.5 In diesem „unscheinbaren Wort“ lag, wie Herman H. Schwedt treffend formuliert, „das Ende der kirchlichen Bücherverbote versteckt“.6 Da die Glaubenskongregation nicht mehr die Kompetenz hatte, Bücher zu verbieten, gab es – das ist die logische Folge – auch keine Liste der von dieser Kongregation verbotenen Bücher mehr. Am 7. Dezember 1965 endete deswegen die Geschichte des ‚Index der verbotenen Bücher‘ – eine Tatsache, die auch vielen Fachleuten zunächst verborgen blieb.

Von der Totalkontrolle zur Emanzipation von Staat, Wissenschaft und Literatur Begonnen hatte diese Geschichte am 21. Juli 1542, als Papst Paul III. mit der Apostolischen Konstitution Licet ab initio die Heilige Römische und Universale Inquisition gründete.7 Deren Hauptaufgabe war es, die ‚protestantische Häresie‘ zu bekämpfen und das Medium Buch konsequent zu überwachen. Von 1571 bis 1917 stand der Inquisition dabei die eigens für die Buchzensur gegründete ‚Index-

4 Codex Iuris Canonici Pii X Pontificis Maximi iussu digestus, Benedicti Papae XV auctoritate promulgates. Hg. v. Pietro Gasparri. Rom 1917. 5 „Delatos sibi libros diligenter excutit, et eos, si oportuerit, reprobat […].“ (Paul VI.: Integrae servandae, S. 954.) 6 Herman H. Schwedt: „Papst Paul VI. und die Aufhebung des römischen Index der verbotenen Bücher in den Jahren 1965–1966“. In: Papst Paul VI. Zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages 1897–1997. Vorträge des Studientages am 29. November 1997 in Aachen. Hg. v. Geschichtsverein für das Bistum Aachen. Neustadt a. d. Aisch 1999, S. 45–111, hier S. 49f. 7 Die Bulle ist abgedruckt in: Magnum Bullarium Romanum seu ejusdem Continuatio, Bd. 1. Rom 1638, S. 762f.

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kongregation‘ zur Seite. Aber schon im 16. Jahrhundert erwies es sich als unmöglich, die gesamte vorhandene Literatur und die Flut der Neuerscheinungen überhaupt zu prüfen. In ihrer ersten Arbeitsphase von 1572 bis 1584 versuchte sich die ‚Indexkongregation‘ noch an einem gigantischen ‚Reinigungsprogramm‘ von Büchern. Von den geplanten ‚Expurgationen‘ betroffen waren neben vielen weiteren Werke von Kirchenvätern wie Ambrosius und Thomas von Aquin, von Medizinern wie Hippokrates, Galenos, Avicenna und Paracelsus, von Philosophen wie Aristoteles und Platon, von Historikern wie Herodot und Thukydides, von Mathematikern wie Euklid und von Klassikern wie Homer, Cicero und Tacitus, ja selbst die Aesop-Fabeln.8 Doch kaum eine der vielen angefangenen ‚Bücher-Reinigungen‘ wurde wirklich zum Abschluss gebracht. Das Projekt eines Index expurgatorius mit Korrekturanweisungen für vorläufig verbotene, aber im Grunde ‚nützliche‘ Bücher, erwies sich sogar als völliger Fehlschlag.9 Mit der Aufklärung bekam der Begriff ‚Zensur‘ über die konfessionelle Polemik hinaus grundsätzlich einen negativen Klang. Zwar nutzten auch viele Aufklärer die Zensur, um die Effizienz der staatlichen Einrichtungen zu steigern, die Moral zu heben und den „Aberglauben“ zu bekämpfen, kurz: als Mittel des „Projekt[s] der Modernisierung“.10 Gegen eine kirchliche und staatliche Kontrolle des Wissens ging es jetzt aber auch prinzipiell um Presse- und Meinungsfreiheit als Grundrecht der einzelnen Bürger. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass die römische Buchzensur die Französische Revolution, die Besetzung des Kirchenstaats durch napoleonische Truppen, die Säkularisation und das Ende des Kirchenstaats relativ unbeschadet überstand. Um ihre Verbote gegenüber Katholiken durchzusetzen, war sie nicht unbedingt auf ein enges Bündnis mit der staatlichen Gewalt angewiesen, denn sie verfügte über ganz spezifische Sanktionsmittel: Wer ein indiziertes Buch las, es verkaufte oder auch nur erwarb, verfiel der Strafe der Exkommunikation. Diese bedeutete den Ausschluss von den heilsnotwendigen Sakramenten, was bei gläubigen Katholiken Gewissensqualen und Höllenängste nach sich ziehen konnte. Zudem waren Exkommunizierte oft auch

8 Vgl. Archivio della Congregazione per la Dottrina della Fede, Index Protocolli B, Bl. 205–209. 9 Der erste und einzige Index expurgatorius zu etwa 50 Werken wurde 1607 vorgelegt, aber bereits 1612 von der römischen Inquisition suspendiert (vgl. Hubert Wolf: Index. Der Vatikan und die verbotenen Bücher. München 2006, S. 41). 10 Wilhelm Haefs: „Zensur im Alten Reich des 18. Jahrhunderts. Konzepte, Perspektiven und Desiderata der Forschung“. In: Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis. Hg. v. Wilhelm Haefs u. York-Gothart Mix. Göttingen 2007, S. 389–424, hier S. 392. Vgl. auch Wolfram Siemann: „ Normenwandel auf dem Weg zur ,modernen‘ Zensur. Zwischen ,Aufklärungspolizei‘, Literaturkritik und politischer Repression (1789–1848)“. In: Zensur und Kultur. Zwischen Weimarer Klassik und Weimarer Republik mit einem Ausblick bis heute. Hg. v. John A. McCarthy u. Werner von der Ohe. Tübingen 1995, S. 63–98, hier S. 72–77.

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gesellschaftlich und politisch stigmatisiert, sie riskierten also nicht nur ihr ewiges Seelenheil, sondern setzten auch ihr weltliches Glück aufs Spiel. Und wer als katholischer Autor selbst auf den ‚Index librorum prohibitorum‘ kam, dem wurde die Rechtgläubigkeit abgesprochen. Für Theologieprofessoren bedeutete das nicht selten das Ende ihrer akademischen Karriere. Wie wirksam die römische Buchzensur im Besonderen sowie Zensur und Literatur im Allgemeinen letztlich waren, ist allerdings kaum zu beantworten;11 in der Forschung überwiegen dazu recht apodiktische Urteile, die beispielsweise „Zensur als Mißerfolg“12 beschreiben oder von der Wirksamkeit der Literatur im Vorfeld der Französischen Revolution ausgehen.13 Bemerkenswert ist, dass der Vatikan selbst die Kritik am Index durchaus zur Kenntnis nahm und diese sogar Auswirkungen auf die Verfahrensformen der römischen Buchzensur hatte, vor allem durch die Indexreform Leos XIII., die in die Konstitution Officiorum ac munerum vom 25. Januar 1897 mündete,14 aber auch schon durch die Konstitution Sollicita ac provida Benedikts XIV. von 1753.15 Seit die von Deutschland ausgegangene Reformation den Anlass zur Gründung des Index geliefert hatte, war Mitteleuropa allerdings mehr und mehr aus dem Fokus der römischen Zensoren geraten. So liegen zahlreiche Indizierungen von Literaten vor, die in den ‚Kultursprachen‘ Französisch und Italienisch schrieben, während nur wenig deutsche Belletristik auf den Index kam – Heine,16 Gotthold Ephraim Lessing und Nicolaus Lenau bilden Ausnahmen von der Regel. Dennoch gab es weiter Indi-zierungen, die in Deutschland Wellen schlugen und

11 Vgl. den Überblick über die kommunikationswissenschaftliche Medienwirkungsforschung bei Stephan Buchloh: „Pervers, jugendgefährdend, staatsfeindlich“. Zensur in der Ära Adenauer als Spiegel des gesellschaftlichen Klimas. Frankfurt a. M. 2002, S. 35–46. Grundsätzlich auch: Michael Schenk: Medienwirkungsforschung. Tübingen 32007. – Heinz Bonfadelli u. Thomas N. Friemel: Medienwirkungsforschung: Grundlagen und theoretische Perspektiven. Stuttgart 42011. 12 Stephan Fitos: Zensur als Mißerfolg. Die Verbreitung indizierter deutscher Druckschriften in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2000, S. 1. Vgl. auch Armin Biermann: „,Gefährliche Literatur‘ – Skizze einer Theorie der literarischen Zensur“. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 13 (1988), S. 1–28, hier S. 9–11. 13 Vgl. z. B. Robert Darnton: The Forbidden Best-Sellers of Pre-Revolutionary France. New York, London 1995, S. 169–246. Erste Überlegungen zur Wirkung der Zensur auf die Psyche der Opfer finden sich bei Siemann: Normenwandel, S. 369f., ein kurzer Überblick über den Forschungsstand bei Haefs: Zensur im Alten Reich, S. 415–422. 14 Vgl. Hubert Wolf: „Die ‚deutsche‘ Indexreform Leos XIII. Oder: Der ausgefallene Fall des Altkatholiken Franz Heinrich Reusch“. In: Historische Zeitschrift 272 (2001), S. 63–106. 15 Vgl. Hubert Wolf u. Bernward Schmidt: „Sollicita ac provida“. Die Indexreform Benedikts XIV. Paderborn u. a. 2010. 16 Vgl. Hubert Wolf u. a.: Die Macht der Zensur. Heinrich Heine auf dem Index. Düsseldorf 1998. – Ders.: Index, S. 96–118.  









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die Öffentlichkeit polarisierten. In der sogenannten Modernismuskrise zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte der ‚Index der verbotenen Bücher‘ als Waffe in innerkatholischen Auseinandersetzungen noch einmal eine Renaissance.17 Im Streit um die Frage, ob katholische Kirche und Moderne grundsätzlich miteinander versöhnbar waren, wurden die Werke zahlreicher katholischer Reformtheologen verboten. Politisch brisant waren schließlich die römischen Bücherverbote in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, vor allem die Indizierung von Alfred Rosenbergs Mythos des 20. Jahrhunderts, einer der Hauptschriften der NS-Ideologie, im Jahr 1934.18 Adolf Hitlers Mein Kampf landete allerdings trotz eingehender, langjähriger Begutachtung durch das ‚Sanctum Officium‘ nie auf dem Index. Auch die Namen von Benito Mussolini, Wladimir Iljitsch Lenin oder Josef Stalin sucht man in den Listen vergeblich.19

Konkurrenz für das Buch: Film und Fernsehen Im 20. Jahrhundert traten neue Medien wie Film, Hörfunk und Fernsehen an die Seite der vom Index erfassten Druckwerke. Zunächst zog der Film die Aufmerksamkeit und die Besorgnis der Päpste auf sich. Pius XI. betonte 1936 in der richtungsweisenden Enzyklika Vigilanti cura, es gebe „kein stärkeres Mittel als das Kino, um die Massen zu beeinflussen“.20 In seinem Bestreben, „den Film moralisch zu machen“, lobte er den „heiligen Kreuzzug“ der US-amerikanischen ‚Legion der Anständigen‘ (Legion of Decency) gegen „die Mißbräuche in den 17 Vgl. „In wilder zügelloser Jagd nach Neuem“. 100 Jahre Modernismus und Antimodernismus in der katholischen Kirche. Hg. v. Hubert Wolf u. Judith Schepers. Paderborn, München, Wien u. a. 2009. – Judith Schepers: „Widerspruch und Wissenschaft. Die ungleichen Brüder Wieland im Visier kirchlicher Zensur (1909–1911)“. In: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 25 (2006), S. 271–290. Einblicke in die Kontroverse um den ‚Antimodernisteneid‘ bieten zudem die Beiträge der Tagung: „Zensur abweichender Meinungen durch Kirche und Staat“. In: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 28 (2009). 18 Vgl. Dominik Burkard: Häresie und Mythus des 20. Jahrhunderts. Rosenbergs nationalsozialistische Weltanschauung vor dem Tribunal der Römischen Inquisition. Paderborn, München, Wien u. a. 2005. 19 Vgl. Hubert Wolf: „Pius XI. und die ‚Zeitirrtümer‘. Die Initiativen der römischen Inquisition gegen Rassismus und Nationalsozialismus“. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53 (2005), S. 1–42. – Ders.: Papst und Teufel. Die Archive des Vatikan und das Dritte Reich. München 2008, S. 253–306. 20 Pius XI.: „Enzyklika Vigilanti cura v. 29. Juni 1936“. In: AAS 28 (1936), S. 249–2623, deutsche Übersetzung unter URL: http://www.vatican.va/holy_father/pius_xi/encyclicals/documents/ hf_p-xi_enc_29061936_vigilanti-cura_ge.html (Stand: 22.12.2011). Danach auch die folgenden Zitate.  



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Kinovorstellungen“. Dieser katholischen Boykott-Bewegung hatten sich mehrere Millionen Menschen angeschlossen, es war ihr gelungen, eine strengere Einhaltung der Regeln zu erzwingen, die sich die amerikanische Filmwirtschaft 1930 mit dem Production Code selbst auferlegt hatte.21 Die katholische Kirche entdeckte, dass Protest und Boykott wirksame Mittel der Kommunikationskontrolle sein konnten. Pius XI. ging zudem auf die Möglichkeiten der „positiven“ Filmarbeit ein und forderte, vor allem über „Mitarbeiter in den Reihen der Katholischen Aktion“22 Einfluss auf die Filmproduktion zu nehmen: ‚Warum soll man in der Tat nur an die Unterdrückung des Bösen denken?‘ Doch er sparte das Thema Filmzensur keineswegs aus. ‚Mit Genugtuung‘ erinnerte er daran, ‚daß manche Regierungen […] rechtschaffene und ehrenhafte Personen beriefen, insbesondere Familienväter und -mütter, und so Zensurbehörden schufen sowie Ämter zur Regelung der Filmproduktion‘. Es sei zudem die Pflicht der Bischöfe, den Film zu überwachen. Als ‚Beweggrund ihrer Verbote‘ sollten sie geltend machen: ‚die Beleidigung des sittlichen und religiosen [sic!] Empfindens und alles dessen, was dem christlichen Geist und seinen ethischen Prinzipien zuwiderläuft, was dazu beiträgt, den Sinn für gute Sitte und Ehre im Volk zu schwächen‘. Die Seelsorger wies Pius XI. an, sie sollten von den Gläubigen ‚das Versprechen zu erhalten suchen, niemals einer Kinodarstellung beizuwohnen, die Glaube und Sitte des Christentums beleidigt‘. Um dieses Versprechen einlösen zu können, müsse das Volk darüber unterrichtet werden, ‚welche Filme erlaubt sind für alle, welche nur mit Vorbehalt, welche schädlich oder positiv schlecht sind‘. Das erfordere ‚die Veröffentlichung von regelmäßigen, häufig erscheinenden und sorgfältig hergestellten Listen, die man allen leicht zugänglich machen muß durch besondere Mitteilungen oder durch andere geeignete Publikationen‘. Der Papst hielt es für wünschenswert, ‚eine einzige Liste für die ganze Welt‘ aufzustellen. Plante Pius XI. also einen ‚Index der verbotenen Filme?‘ Nein, denn wie er einräumen musste, konnte das Urteil über einen Film ‚nicht überall das gleiche sein in jedem Fall und unter jeder Rücksicht‘. Deswegen forderte er statt eines weiteren Indexes, ‚daß in jedem Land die Bischöfe ein permanentes nationales Revisionsbüro schaffen, das die guten Filme fördern, die übrigen klassifizieren und das Urteil Priestern und Gläubigen zugänglich machen kann‘. Ansätze dazu hatte es bereits in der Weimarer Republik gegeben. Schon 1924 gründeten etwa

21 Vgl. Richard A. Brisbin Jr.: „Censorship, Ratings, and Rights: Political Order and Sexual Portrayals in American Movies“. In: Studies in American Political Development 16 (2002), S. 1–27. 22 Zur ‚Katholischen Aktion‘ nach 1945 vgl. aktuell Klaus Große Kracht: „Die katholische Welle der ,Stunde Null‘. Katholische Aktion, missionarische Bewegung und Pastoralmacht in Deutschland, Italien und Frankreich 1945–1960“. In: Archiv für Sozialgeschichte 51 (2011), S. 163–186.

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die Brüder Hermann und Friedrich Muckermann, beide Jesuiten, die Zeitschrift Film-Rundschau.23 Nach dem Ende des Dritten Reichs wurden die Vorgaben Pius’ XI. in Deutschland dann systematischer aufgegriffen.24 1947 erschien erstmals die katholische Zeitschrift Filmdienst der Jugend, die 1949 in Filmdienst (ab 1964: film-dienst) umbenannt wurde und das Bewertungsschema des ‚Office Catholique International du Cinématographe‘ (OCIC) übernahm, eines seit 1928 bestehenden internationalen Zusammenschlusses der katholischen Filmdachorganisationen.25 Der film-dienst vergab dementsprechend bis 1969 Noten zwischen 1 („Für alle geeignet“) und 4 („Abzulehnen“).26 ‚Filmbischof‘ Wilhelm Berning stellte jedoch klar, dass es sich dabei nur um einen Rat handele, nicht um ein Gebot oder Verbot, was die Ergebnisse der Filmbewertung vom ‚Index der verbotenen Bücher‘ unterscheide.27 Ein Handeln gegen die Empfehlungen war demnach nicht zwangsläufig sündhaft, aber schädlich.28 Eine weitere Vorgabe der Enzyklika Vigilanti cura wurde in Deutschland 1951 bis 1965 umgesetzt, als nach dem Vorbild der ‚Legion of Decency‘ mehr als zwei Millionen Deutsche das ‚Filmliga-Versprechen‘ abgaben.29 Pius XII. zeigte sich deutlich technikbegeisterter als sein Vorgänger, wie schon der Titel seiner Enzyklika Miranda prorsus erahnen lässt, die er 1957 den „geradezu wunderbaren Erfindungen der Technik“ widmete:30 Er sprach sich aber entschieden gegen die Instrumentalisierung der damals neuen Medien durch Politik, Propaganda oder Wirtschaft aus und wandte sich gegen alle, die „auf einer Freiheit bestehen, daß man alles darstellen und verbreiten dürfe, obwohl es

23 Vgl. Thomas Schatten: Geschichte der katholischen Zeitschrift ‚film-dienst‘. Düsseldorf 1999, S. 36–43. 24 Vgl. – auch zum Folgenden – ebd., S. 46–81. Für die Filmarbeit auf regionaler Ebene: Daniel Polreich: Die katholische Filmarbeit im Bistum Münster. Münster 2007, S. 12. – Christian Kuchler: Kirche und Kino. Katholische Filmarbeit in Bayern (1945–1965). Paderborn, München, Wien u. a. 2006. 25 Die OCIC wurde 2001 mit der katholischen Organisation für Radio- und Fernseharbeit zur katholischen Weltorganisation für Medienarbeit ‚SIGNIS – The World Catholic Association for Communication‘ zusammengefasst. URL: http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_coun cils/laity/documents/rc_pc_laity_doc_20051114_associazioni_en.html (Stand: 22.12.2011). 26 Vgl. Schatten: Geschichte, S. 62f., 96–98. – Polreich: Filmarbeit, S. 30f., 37–39. 27 Vgl. Hermann Wilhelm Berning: „Geleitwort“. In: Katholischer Film-Dienst v. 2.8.1948, zitiert nach Polreich: Filmarbeit, S. 41. 28 Vgl. Polreich: Filmarbeit, S. 42. 29 Vgl. ebd., S. 32–36. – Schatten: Geschichte, S. 75–81. 30 Pius XII.: „Enzyklika Miranda prorsus v. 8. September 1957“. In: AAS 49 (1957), S. 765–805, deutsche Übersetzung unter URL: http://www.vatican.va/holy_father/pius_xii/encyclicals/docu ments/hf_p-xii_enc_08091957_miranda-prorsus_ge.html (Stand: 22.12.2011). Danach die folgenden Zitate.  

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doch offen zutage liegt, welch großes Verderbnis für Leib und Seele in den vergangenen Jahren aus solcher Voraussetzung erwachsen ist“. Die staatliche Gewalt sei „ohne Zweifel schwer verpflichtet“, die neuen Techniken zu kontrollieren, „eine Art Selbstkontrolle der betreffenden Berufsgruppe“ könne der Tätigkeit der öffentlichen Behörden entgegenkommen. Notwendig sei es, dass „die Kirche, der Staat, die beruflich Beteiligten in richtiger Ordnung mit vereinten Kräften“ arbeiteten. Besonders hob er den Jugendschutz hervor. Neben den Schauspielern, Kinobesitzern, Filmvertreibern, Kritikern und Zuschauern trügen Autoren und Regisseure eine besondere Verantwortung – notfalls sei es Aufgabe der Bischöfe, sie „zu mahnen, und wo nötig auch geeignete Sanktionen zu verhängen“. In der deutschen Übersetzung dieses Textes ist ausdrücklich von einer ‚Wertung und Zensur der Filme‘ durch die Sachverständigen die Rede, die darauf abziele, ‚die öffentliche Meinung richtig zu bilden‘. Ergänzend zu seinem Vorgänger ging Pius XII. vor allem auf den Rundfunk und das Fernsehen ein, für deren Kontrolle er ebenfalls kirchliche Stellen auf nationaler Ebene favorisierte. Zugleich regte er an, die einzelnen Ämter in einer vom Heiligen Stuhl anerkannten ‚internationalen Zentrale‘ zusammenzufassen. Über das Fernsehen zeigte er sich besonders besorgt, da dieses direkt in das ‚Heiligtum der Familie‘ eindringe, auch wenn es ‚den sicher heilsamen Vorteil‘ mit sich bringe, dass ‚Jung und Alt eher geneigt sind zu Hause zu bleiben‘. Eindringlich appellierte der Papst an die Pflichten der Eltern und Erzieher. Zugleich musste er einsehen, dass die Möglichkeiten der unmittelbaren Kontrolle des Rundfunks beschränkt waren. Eine ‚beurteilende Vorschau‘, so Pius XII., werde ‚nicht überall möglich sein und sich häufig auf einen Hinweis beschränken müssen, der den Charakter mancher dieser Sendungen schwer erkennen läßt‘. Ein ‚Index der verbotenen Hörfunk- und Fernsehsendungen‘ kam also nicht infrage. Für die neuen Medien mussten neue, konstruktivere Formen der Kommunikationslenkung gefunden werden, die gerade an der katholischen Basis schon lange und mit beträchtlichem Erfolg gepflegt wurden31 – was den altehrwürdigen ‚Index der verbotenen Bücher‘ buchstäblich alt aussehen ließ. Drei Entwicklungen sind besonders hervorzuheben: Zum einen verlagerte sich die katholische Medienarbeit, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend, von der römischen Zentrale auf die nationale Ebene. Dort übernahmen auch Laien Verantwortung, die oft eine positivere Einstellung gegenüber den neuen Medien hatten, ein professionelles Selbstverständnis als Kritiker entwickelten und schon aufgrund ihrer Berufsrolle zu autonomeren Entscheidungen neigten.32 Zum zwei31 Vgl. zu den vielfältigen Aktivitäten der katholischen Filmarbeit Schatten: Geschichte. 32 Das zeigte sich beispielsweise in der Auseinandersetzung um Ingrid Bergmanns Film Das Schweigen, von dem der film-dienst trotz entsprechender Forderungen nicht abriet (vgl. Schatten: Geschichte, S. 127–133 u. Polreich: Filmarbeit, S. 201–207).

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ten versuchte der Vatikan, seine Vorgaben nicht mehr durch pauschale Exkommunikationsdrohungen durchzusetzen, sondern die Gläubigen durch individuelle, auf einer bewussten Entscheidung beruhende Versprechen zu einer moralischen Selbstverpflichtung zu bewegen. Das bedeutete durchaus einen ersten Schritt in Richtung mehr Eigenverantwortung. Zum dritten erfolgte die katholische Kommunikationskontrolle zunehmend mittelbar, indem Einfluss auf die staatliche Zensur und die Selbstkontrolle der Medien genommen wurde. Das versprach mehr Effizienz, stand dem Staat doch ein breites Spektrum von Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung, von der Beschlagnahme verbotener Medien bis zur gerichtlichen Verurteilung der Verantwortlichen. Allerdings kannte der Staat auch andere Kriterien zur Legitimation von Zensur als die Kirche. Die Gewalten trafen sich im Kampf für den Jugendschutz, vor allem mit Blick auf Pornografie und Gewalt. Blasphemie hingegen verlor in der Neuzeit als Straftatbestand rapide an Bedeutung. Zumindest bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil forderte die katholische Kirche vom Staat außerdem, mit seinem Recht die von der Kirche vorgegebene Moral und das Seelenheil der Bürger zu schützen – ein Anspruch, der in der pluralistischen Moderne, wie Ernst-Wolfgang Böckenförde schon 1968 schrieb, „prinzipiell sozial unverträglich“ war.33

Nachkriegszeit und Zweites Vatikanum: Die letzten Jahre des Index Spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stand eine grundsätzliche Reform der römischen Buchzensur auf der Tagesordnung. Die Zahl der Indizierungen ging drastisch zurück; überdies traf der römische Bannstrahl zumeist ‚nur‘ noch als progressiv wahrgenommene katholische Theologen wie die deutschen Reformer Georg Koepgen, Matthias Laros (1941), Ernst Michel (1952) und Joseph Thomé (1955). Einige intellektuelle Schriftsteller und Philosophen fanden ihre Namen ebenfalls noch auf dem Index wieder, beispielsweise Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, dessen gesamtes Werk das Heilige Offizium unter dem Datum des 27. Oktobers 1948 ebenso verbot wie das von André Gide am 2. April 1952. Aber diese Indizierungen blieben eher die Ausnahme. Nachdem der letzte ‚Index librorum prohibitorum‘ 1948 erschienen war, publizierte die vatikanische

33 Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Einleitung“. In: Zweites Vatikanisches Ökumenisches Konzil: Erklärung über die Religionsfreiheit. Lateinisch und Deutsch. Münster 1968, S. 5–21, hier S. 9.

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Druckerei am 5. Januar 1954 lediglich noch ein Beilageblatt, das die seither erfolgten 15 Indizierungen auf einer Seite auflistete. Zudem war man in Rom seit Beginn der vierziger Jahre dazu übergegangen, offiziöse Kommentare zu den eben erfolgten Indizierungen im Osservatore Romano oder anderen römischen Zeitschriften zu publizieren – zumeist freilich anonym. Damit antwortete das Heilige Offizium auf Kritik daran, dass seine Dekrete der Öffentlichkeit lediglich die Tatsache eines Buchverbotes verkündeten, ohne die Gründe zu erläutern. Hinter den Verfassern dieser Darlegungen wird man deswegen Mitarbeiter der Kongregation selbst vermuten dürfen, eventuell sogar die mit den Gutachten betrauten Konsultoren. Unterdessen akzeptierte die katholische Bevölkerung, Priester wie Laien, die römischen Buchverbote immer weniger. In den deutschen Diözesanarchiven sind aus diesem Zeitraum nur noch vereinzelt Dispensgesuche überliefert, mit denen Studierende der Germanistik, Romanistik, Philosophie und anderer Fächer ihren zuständigen Bischof baten, für Seminararbeiten verbotene Bücher lesen zu dürfen. Die überwiegende Mehrzahl, vor allem der gebildeten Katholiken, hatte Werke der ‚schwarzen Liste‘ selbstverständlich in ihrem Bücherschrank. Das katholische Milieu verlor in Deutschland nach einem Aufschwung in der unmittelbaren Nachkriegszeit wahrscheinlich schon seit den fünfziger, auf jeden Fall aber seit den sechziger Jahren schnell an Geschlossenheit.34 Trotz dieser Großwetterlage spielte das Thema Index nur eine untergeordnete Rolle in den Voten, mit denen sich die Bischöfe in den Jahren 1959/60 dazu äußerten, welche Themen ihrer Meinung nach auf dem bevorstehenden Zweiten Vatikanischen Konzil zu behandeln waren. Wenn sie den Index und die Buchverbote überhaupt ansprachen, ging es vor allem um Verfahrensfragen. Nur ein einziger Bischof, Wilhelm Kempf aus Limburg, verlangte ausdrücklich, den Index abzuschaffen. Entsprechend ging das von der ‚Kommission für die Disziplin von Klerus und Volk‘ im Juli 1961 vorgelegte Schema von einem grundsätzlichen Fortbestand der kirchlichen Bücherverbote aus. Die Kirche habe die Pflicht zu verhindern, dass Katholiken ‚schlimme‘ Bücher läsen, die gegen Glaube und Moral verstießen, lautete die Argumentation. Künftig sollten lediglich die Gründe für ein Buchverbot ausführlich dargelegt und zugleich die Dispenspraxis liberaler gehandhabt werden.35

34 Vgl. zusammenfassend Christoph Kösters u. a.: „Was kommt nach dem katholischen Milieu? Forschungsbericht zur Geschichte des Katholizismus in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. In: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), S. 485–526, hier S. 486f. 35 Text des Schemas in: Acta et Documenta Concilio Oecumenico Vaticano II Apparando, Ser. II, Vol. II, Pars III. Rom 1968, S. 842–844.  

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Manche Kardinäle hofften zwar, das Konzil werde zum Index Grundsätzliches beschließen, aber bei ihren Beratungen im Petersdom befassten sie sich nie ausdrücklich mit dieser Thematik. Allerdings stießen die Tätigkeit des Heiligen Offiziums insgesamt und damit indirekt auch die Buchzensur auf heftige Kritik. Am meisten Aufsehen erregte die Rede, die der Kölner Kardinal Josef Frings am 8. November 1963 über die Römische Kurie und die Notwendigkeit ihrer umfassenden Reform hielt. In scharfen Worten, die Frings selbst der Redevorlage seines theologischen Konzilberaters Joseph Ratzinger hinzufügte, prangerte er Praktiken des Heiligen Offiziums, der ‚Suprema Congregatio‘ an: Ich weiß wohl, wie schwer, wie schwierig und dornenreich die Aufgabe derer ist, die über viele Jahre hin im Heiligen Offizium arbeiten, um die offenbarte Wahrheit zu schützen, doch scheint mir die Forderung angebracht zu sein, dass auch in diesem Dikasterium niemand deswegen seines rechten oder nicht rechten Glaubens angeklagt, gerichtet oder verurteilt wird, ohne vorher gehört zu werden, ohne zuvor die Argumente zu kennen, die gegen ihn oder gegen das von ihm geschriebene Buch streiten, bevor ihm die Gelegenheit gegeben wurde, sich oder das Buch, das ihm zum Verhängnis zu werden scheint, zu korrigieren.36

Hier wurden neuzeitliche Standards für den Ablauf eines Gerichtsverfahrens wie Akteneinsicht und Verteidigungsmöglichkeiten für die Angeklagten gefordert. Mit den ‚sozialen Kommunikationsmitteln‘ beschäftigte sich das Zweite Vatikanische Konzil grundsätzlich im Dekret Inter mirifica, das auf den 14. Dezember 1963 datiert.37 Deutlich wird eine höchst ambivalente Einstellung gegenüber den Medien: Der Kirche ist sehr wohl bekannt, daß die Sozialen Kommunikationsmittel bei rechtem Gebrauch den Menschen wirksame Hilfe bieten, denn sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Erholung und Bildung des Geistes; sie dienen ebenso auch der Ausbreitung und Festigung des Gottesreiches. Die Kirche weiß ebenfalls, daß die Menschen diese technischen Erfindungen gegen Gottes Schöpfungsplan und zu ihrem eigenen Schaden mißbrauchen können. Die Sorge einer Mutter erfüllt sie wegen des Unheils, das durch deren Mißbrauch häufig der menschlichen Gesellschaft erwachsen ist.

Grundsätzlich bekannte sich das Konzil auch in diesem Dokument zur Pressefreiheit. Die öffentliche Gewalt habe „im Rahmen ihrer Zuständigkeit“ die „wahre und rechte Freiheit der Information, deren die heutige Gesellschaft zu ihrem Fortschritt

36 Zitiert nach Norbert Trippen: Josef Kardinal Frings (1887–1978), Bd. 2. Sein Wirken für die Weltkirche und seine letzten Bischofsjahre. Paderborn, München, Wien u. a. 2005, S. 384. 37 Zweites Vatikanisches Konzil: Dekret Inter mirifica v. 4. Dezember 1963, deutsche Übersetzung unter URL: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/ vatii_decree_19631204_inter-mirifica_ge.html (Stand: 22.12.2011). Danach die folgenden Zitate.  

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bedarf, zu verteidigen und zu schützen“, das gelte „besonders für die Pressefreiheit“. Von Zensur war nur noch implizit die Rede, und zwar ebenfalls mit Blick auf die „öffentliche Gewalt“: Diese habe „durch Erlaß und sorgfältige Durchführung von Gesetzen schwere Schäden für die öffentliche Sitte und den Fortschritt der Gesellschaft“ zu verhindern, „die durch Mißbrauch der Sozialen Kommuni-kationsmittel entstehen könnten“, insbesondere mit Blick auf den Jugendschutz. Grundsätzlich sondiert das Dekret aber eher die Möglichkeiten, die gesellschaftliche Kommunikation durch Förderung des Erwünschten statt durch Verbote zu lenken und die Medien für die eigenen Ziele zu nutzen. So fordert es unter anderem, die „gute Presse“ zu unterstützen, Journalisten, Autoren, Schauspieler und Kritiker in „christlichem Geist“ auszubilden, Jugendlichen Medienkompetenzen zu vermitteln und allgemein das Gewissen der Gläubigen zu schulen. Paul VI. argumentierte zwei Jahre später in Integrae servandae ganz in diesem Sinne: „Weil aber die Liebe ,die Furcht vertreibt‘ (1 Joh 4,18), wird der Glaube heute besser dadurch verteidigt, dass man seine Lehre fördert, so dass die Verkünder des Evangeliums neue Kraft gewinnen, während man die Irrtümer korrigiert und die Irrenden behutsam zum Guten zurückführt.“ Deutlich sprach er sich gegen die bisherige Praxis des Heiligen Offiziums aus, Entscheidungen nicht weiter zu rechtfertigen: Der Fortschritt der menschlichen Kultur, dessen Bedeutung im religiösen Bereich nicht unterschätzt werden darf, trägt zudem dazu bei, dass die Gläubigen mit größerer Anhänglichkeit und Liebe den Weisungen der Kirche folgen, wenn ihnen, soweit dies auf dem Gebiet von Glaube und Sitten möglich ist, die Begründungen der Definitionen und Gesetze klar verständlich gemacht werden.38

Reaktionen auf das Ende des Index Die Abschaffung des Index blieb jedoch wegen der wenig expliziten Formulierungen Pauls VI. zunächst unentdeckt. Die Bombe platzte erst ein gutes Vierteljahr später: In einem Interview mit der Illustrierten Gente vom 13. April 1966 erklärte der Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Alfredo Ottaviani, der Index besitze nun keinerlei rechtliche Geltung mehr, er werde nie mehr neu aufgelegt und bleibe lediglich ein „historisches Dokument“.39 Vielleicht spricht aus diesen Worten die Enttäuschung Ottavianis, der sich auf dem Konzil und gegenüber Paul

38 Paul VI.: Integrae servandae. 39 Zitiert nach: „Aus dem Vatikan. Zwei Interviews des Kardinal Ottaviani“. In: Herder Korrespondenz 20 (1966), S. 260f.

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VI. mit seiner eher intransigenten Haltung nicht hatte durchsetzen können, und der mit anderen ‚Hardlinern‘ an der Römischen Kurie befürchtete, im Gefolge des Zweiten Vatikanums würde die katholische Kirche vollends der Moderne ausgeliefert und eherne Grundsätze falschen Reformen geopfert. Nach diesem Interview häuften sich die Anfragen in Rom. Die Kongregation für die Glaubenslehre sah sich deshalb zu einer offiziellen Stellungnahme veranlasst, die eine authentische Interpretation des Erlasses von Paul VI. bedeutete. In einer ‚Bekanntmachung‘ stellte die Glaubenskongregation im Juni 1966 klar, dass der ‚Index der verbotenen Bücher‘ keinen verbindlichen Charakter mehr besitze. Auch die kirchlichen Strafen wie die Exkommunikation infolge des Lesens eines verbotenen Werkes seien entfallen.40 Erst nach dieser ‚Bekanntmachung‘ wurde die deutsche Öffentlichkeit auf die Sensation aufmerksam. Die großen Tageszeitungen und Lokalblätter berichteten Mitte Juni 1966 ebenso über das Ende des Index wie die Kirchenzeitungen der Diözesen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung titelte „Der Vatikan hebt den Index auf“ und stellte mit dem in Mailand erscheinenden Corriere della Sera fest: Der Kardinal Frings kann zufrieden sein […] Der Erzbischof von Köln hatte in seinem Rededuell mit Kardinal Ottaviani auf dem Konzil am 8. November 1963 diese Frage im Zusammenhang mit der Reform des Heiligen Offiziums mit aller Entschiedenheit gestellt.41

Die Welt teilte ihren Lesern die Neuigkeit unter der Überschrift Index nicht mehr bindendes Kirchenrecht mit;42 die Frankfurter Rundschau brachte eine kurze Meldung unter dem Titel Index verteidigt – und eingestellt.43 Die Westfälischen Nachrichten widmeten dem ‚Ende des Index‘ am 16. Juni 1966 sogar den Tageskommentar. Das zeigt, für wie wichtig man im katholischen Münsterland dieses Thema immer noch hielt: Katholische Christen dürfen, auch wenn sie dazu keine besondere bischöfliche Erlaubnis eingeholt haben, fortan Kants Kritik der reinen Vernunft oder Das Sein und das Nichts von Sartre lesen, ohne kirchliche Strafen auf sich zu ziehen. Der Index, Stein des Anstoßes bei vielen Katholiken und Nichtkatholiken, ist mit einer Verlautbarung der römischen Glaubenskongregation praktisch abgeschafft. [Der Kommentator zog daraus den Schluss:] Die Kirche nimmt es ernst mit der vielberufenen Mündigkeit ihrer Glieder. Das legalistische Denken wird abgebaut; ein Gestaltwandel der kirchlichen Autorität kündigt sich an, bei dem

40 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre: „Notificatio v. 14. Juni 1966“. In: AAS 58 (1966), S. 445. 41 Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 16.6.1966, S. 3. 42 Die Welt, Ausgabe D v. 16./17.6.1966, S. 3. 43 Frankfurter Rundschau v. 16.6.1966, S. 8.

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allerdings nicht übersehen werden darf, daß ein größeres Maß an Freizügigkeit auch ein größeres Maß an Verantwortung mit sich bringt.44

Die Kirchenzeitung für das Bistum Hildesheim gab unter der Überschrift Der ‚Index‘ starb eines natürlichen Todes ein Interview Kardinal Ottavianis mit dem Osservatore della Domenica in deutscher Übersetzung wieder. Auf die Frage „Wie soll der Durchschnittsleser wissen, welche Werke und Sitten gefährden, nachdem es den Index nicht mehr gibt?“, zog der Glaubenswächter nüchtern die Bilanz einer vierhundertjährigen Geschichte: Die meisten Bücher, die auf dem Index stehen, stammen aus vergangenen Jahrhunderten, sind wenig bekannt, und, außer von wenigen Fachleuten, nicht mehr gelesen worden. Darum hat auch der Index zu diesem Zweck nicht viel genützt. [Ottaviani fuhr fort:] Die riesige Buchproduktion unserer Zeit wird vom Index nicht erfaßt, und zwar nicht böswillig oder aus Nachlässigkeit, sondern weil die entsprechende Organisation völlig fehlt und zudem Mittel erfordert, über die auch die Kongregation für die Glaubenslehre nicht verfügt.

Die Kirche wolle mit der „heutigen Welt“ in passender Form ins Gespräch kommen, Dialog aber vertrage kein Klima der Unterdrückung. Das geschriebene Wort sei überdies nicht mehr „einziger Ideenvermittler“; ein „verschärftes Zensursystem“ sei „nicht mehr zeitgemäß, sondern ein Anachronismus“.45 Eine Woche später erläuterte das Bistumsblatt die pastoralen Konsequenzen dieser Entwicklung: Die Abschaffung des Index bedeute, dass jetzt jeder Christ selbst „vor Gott und seinem Gewissen“ die Verantwortung für das trage, was er lese. Die neue Regelung wolle „also bewußt an das selbständige Verantwortungsbewußtsein der Christen appellieren“.46 Unklar blieb nach dem Ende des Index zunächst der Status der Bücher, die durch die allgemeinen Indexregeln – also ohne ausdrückliches Zensurverfahren – verbotenen waren. Solche allgemeinen Indexregeln waren erstmals infolge des Konzils von Trient erarbeitet und dem Index Pius’ IV. von 1564 vorangestellt worden. Durch sie waren etwa ‚obszöne‘ Bücher und Werke über Magie, Astrologie oder Wahrsagerei grundsätzlich verboten. Bis zur Indexreform Leos XIII. galt das per se auch für Bücher von Protestanten und für volkssprachliche Bibelausgaben. Zahlreiche Autoren und Titel, die man in der Liste der verbotenen Bücher vergebens sucht, waren also durch diese Grundsätze automatisch indiziert. Diese Bücherverbote wurden jedoch durch ein weiteres Dekret der Kongregation vom

44 Westfälische Nachrichten v. 16.6.1966, S. 8. 45 Kirchenzeitung für das Bistum Hildesheim, Nr. 25 v. 19.6.1966. 46 Ebd., Nr. 26 v. 26.6.1966.

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15. November 1966 ebenfalls außer Kraft gesetzt.47 Die Kongregation für die Glaubenslehre wollte sich mit der päpstlich verordneten Abschaffung des Index nicht so ohne Weiteres zufriedengeben. Als Ersatz für den Index strebte sie eine Liste mit abzulehnender Literatur an, die dreimal jährlich erscheinen und in allen Kirchenzeitungen nachgedruckt werden sollte, um die Gläubigen bei der Beurteilung gefährlicher Bücher zu unterstützen. Dieser Plan war jedoch zum Scheitern verurteilt. Von der zu diesem Zweck gegründeten Zeitschrift Nuntius erschien im Frühjahr 1967 die erste Ausgabe – sie sollte die einzige bleiben.48

Die Gründe Pauls VI. Es ist schwierig, die Motive Pauls VI. für die eher en passant erfolgte Abschaffung des Index dingfest zu machen, insbesondere, weil die Akten seines Pontifikats noch auf absehbare Zeit im Vatikanischen Geheimarchiv verschlossen bleiben dürften. Sicher scheint immerhin zu sein: Der Montini-Papst wollte durch seine Kurienreform vor allem das Heilige Offizium entmachten, das sich immer mehr als Staat im Staate aufgespielt hatte. Da Buchzensur zu dessen Aufgaben und Selbstverständnis gehörte, war sie mit betroffen – sie stand aber kaum im Mittelpunkt des päpstlichen Interesses. Giovanni Battista Montini hatte als leitender Mitarbeiter und Pro-Staatssekretär im päpstlichen Staatssekretariat in den vierziger und fünfziger Jahren die Obstruktionspolitik Ottavianis und der ‚Suprema‘ mehrfach am eigenen Leib erfahren. In der Kurie standen sich damals in fast klassischer Weise wieder einmal ‚Politicanti‘ (Tauben) und ‚Zelanti‘ (Falken) unversöhnlich gegenüber – eine Konstellation, die die neuere Papstgeschichte fast durchgängig prägt.49 Der Politicante Montini wurde 1954 Erzbischof von Mailand. Dadurch entledigte man sich eines unbequemen Widersachers in der Kurie durch Wegbeförderung. Montini erhielt jedoch nicht den Kardinalspurpur, der normalerweise mit dem Amt des Mailänder Erzbischofs verbunden war. Daher schied er von vornherein als möglicher Kandidat für die Nachfolge Pius’ XII. aus, als dieser 1958 verstarb. Der neue Papst Johannes XXIII. machte das Unrecht an Montini jedoch in seinem ersten Konsistorium umgehend wieder gut und ernannte ihn am 5. Dezember 1958 zum

47 Kongregation für die Glaubenslehre: „Decretum v. 15. November 1966“. In: AAS 58 (1966), S. 1186. 48 Nuntius. Sacrae Congregationis pro Doctrina Fidei nutu et cura editus 1 (1967), 52 Seiten. 49 Vgl. zur Begriffsbestimmung Roger Aubert: „Die katholische Kirche nach dem Wiener Kongreß“. In: Handbuch der Kirchengeschichte. Hg. v. Hubert Jedin, Bd. 6,1. Freiburg 1985, S. 105–127, hier S. 112f.

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Kardinal. Nach dem Tod Johannes’ XXIII. wurde Montini am 21. Juni 1963 im fünften Wahlgang zu seinem Nachfolger gewählt. Paul VI. wollte seine päpstliche Souveränität offenbar nicht länger durch die Suprema einschränken lassen. Deshalb entmachtete er sie. Über die Frage, ob er sich damit zugleich an Ottaviani und dessen Gesinnungsgenossen im Heiligen Offizium, die ihn ein Jahrzehnt zuvor nach Mailand abgeschoben hatten, ‚rächte‘, darf spekuliert werden. Den Index erledigte er gleichsam nebenher, nachdem die Gläubigen sich seiner schon zuvor durch Nichtbefolgung entledigt hatten.

Was bleibt – Zensur ohne Index? Die Kirche brauchte lange – genauer: bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil – um die Eigenständigkeit und Autonomie weltlicher Sachbereiche zu akzeptieren und damit die grundsätzliche Freiheit von Wissenschaft und Literatur in nichttheologischen Bereichen einzuräumen. Bezeichnenderweise trägt Integrae servandae das gleiche Datum wie die Erklärung Dignitatis humanae,50 mit der sich das Zweite Vatikanische Konzil zur Religionsfreiheit bekannte, und wie die Pastorale Konstitution Gaudium et Spes,51 derzufolge die Regierungsform der Demokratie den Staatsbürgern die günstigsten Voraussetzungen für die Entfaltung von Initiativen und Gemeinsinn bietet. In den pluralistischen, demokratischen Gesellschaften war der Index zum Anachronismus geworden. Vertreter der katholischen Kirche nutzen jedoch auch als Akteure in der pluralistischen Gesellschaft zahlreiche Mittel der Kommunikationslenkung: angefangen bei der eigenen Pressearbeit und eigenen Medienstellen und Büchereien über die Ausbildung des katholischen ‚publizistischen Nachwuchses‘, Kritiken in katholischen Medien bis hin zu Protesten und Boykottaufrufen.52 Einfluss nimmt die Kirche auf nationaler Ebene, zumindest in Deutschland, auch auf Lenkungs- und Kontrollgremien des Staates und der Filmwirtschaft selbst: So wirkt sie an der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft mit, schlägt ehrenamtliche Beisitzer für die ‚Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien‘ vor und benennt Mitglieder für den Ver-

50 Zweites Vatikanisches Konzil: Erklärung Dignitatis humanae v. 7. Dezember 1965, deutscher Text unter URL: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/ vat-ii_decl_19651207_dignitatis-humanae_ge.html (Stand: 22.12.2011). 51 Zweites Vatikanisches Konzil: Pastorale Konstitution Gaudium et spes v. 7. Dezember 1965, deutscher Text unter URL: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/do cuments/vat-ii_const_19651207_gaudium-et-spes_ge.html (Stand: 22.12.2011). 52 Vgl. z. B. die Reaktionen auf den Film „The Da Vinci Code“, Spiegel online v. 28.4.2006. URL: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,413810,00.html (Stand: 22.12.2011).  

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waltungsrat der Filmförderungsanstalt (FFA). Von den Bundesländern benannte katholische Filmkritiker gehören der ‚Deutschen Film- und Medienbewertung‘ an, und in den Rundfunk- und Fernsehräten sind die Kirchen ebenfalls vertreten. Der film-dienst und das darauf basierende Lexikon des internationalen Films erscheinen bis heute, ihr hohes Renommee verdanken sie inzwischen jedoch gerade auch ihrer Unabhängigkeit von der katholischen Hierarchie.53 Die Römische Kurie betreibt ebenfalls eine aktive Medienpolitik. Der ‚Päpstliche Rat für die sozialen Kommunikationsmittel‘ widmet sich Film, Rundfunk und der Presse. Zu seinen Aufgaben zählt, neben der Medienarbeit des Vatikans selbst, die Medienlandschaft zu beobachten und zu analysieren sowie die zahlreichen nationalen katholischen Medienstellen zu koordinieren und zu beraten. Das erste Vorgängergremium wurde schon im Januar 1948 gegründet, die ‚Pontificia Commissione di Consulenza e di revisione Ecclesiastica dei films a soggetto religioso o morale‘.54 Nach wie vor fordert die katholische Kirche vom Staat ein rigides Vorgehen gegen Pornographie und Gewaltdarstellungen,55 aber auch, was konfliktträchtiger ist, in einem weiteren Sinne den ‚Schutz der Familie‘. Johannes Paul II. beklagte etwa 2004, in den Medien werde „allzu oft ein sehr unangemessenes Bild“ von Familie und Familienleben gezeichnet: Untreue, außereheliche sexuelle Handlungen und das Fehlen einer sittlich-geistlichen Auffassung vom Bund der Ehe werden kritiklos in den Raum gestellt, während Ehescheidung, Empfängnisverhütung, Abtreibung und Homosexualität nicht selten positive Unterstützung erfahren. [Es sei deswegen] dringend erforderlich, daß die öffentlichen Stellen, ohne deshalb von der Zensur Gebrauch zu machen, Grundsatzprogramme und regelnde Maßnahmen festlegen, die sicherstellen, daß die Massenmedien nicht gegen das Wohl der Familie handeln.56

53 Vgl. Antonius Liedhegener: „Katholische Filmarbeit in Deutschland seit den Anfängen des Films. Probleme der Forschung und der Geschichtsschreibung“. In: Communicatio Socialis 30 (1997), S. 28–39. 54 Vgl. die Selbstdarstellung URL: http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/ pccs/documents/rc_pc_pccs_pro_14101999_it.html (Stand: 22.12.2011). 55 Vgl. Päpstlicher Rat für die Sozialen Kommunikationsmittel: Pornographie und Gewalt in den Kommunikationsmedien – eine pastorale Antwort, 7. Mai 1989. URL: http://www.vatican.va/ro man_curia/pontifical_councils/pccs/documents/rc_pc_pccs_doc_07051989_pornography_ge. html (Stand: 22.12.2011). 56 Johannes Paul II.: Die Medien in der Familie: Risiko und Reichtum. Botschaft zum 38. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel, 23. Mai 2004. URL: http://www.vatican.va/holy_father/ john_paul_ii/messages/communications/documents/hf_jp-ii_mes_20040124_world-communica tions-day_ge.html (Stand: 22.12.2011).

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Bei der Bewahrung der reinen Lehre ist die Kirche auf sich selbst gestellt. Bücher spielen dabei nach wie vor eine zentrale Rolle. Die Kongregation für die Glaubenslehre erlässt zwar keine Bücherverbote mehr, im Rahmen seiner Kurienreform betonte Johannes Paul II. 1988 in der Apostolischen Konstitution Pastor Bonus jedoch, es zähle nach wie vor zu ihren Pflichten, zu verlangen, daß Bücher und andere Schriften, die Gläubige herausgegeben wollen und welche Glauben und Sitten berühren, der vorgängigen Prüfung durch die zuständige Autorität vorgelegt werden. [Die Kongregation selbst prüft demnach] Schriften und Lehrmeinungen, die als dem rechten Glauben entgegengesetzt und gefährlich erscheinen, und, wenn feststeht, daß sie der Lehre der Kirche entgegen [sic!], weist sie diese rechtzeitig zurück, nachdem sie ihrem Urheber die Gelegenheit gegeben hat, seine Auffassung umfassend darzulegen, und nachdem sie den Ordinarius, in dessen Zuständigkeitsbereich das fällt, vorher benachrichtigt hat, und, wenn es denn gelegen sein sollte, sorgt sie für geeignete Abhilfe.57

Ihren Grundauftrag, die Glaubens- und Sittenlehre der katholischen Kirche zu fördern und zu schützen und zu diesem Zweck auch Bücher zu prüfen, nimmt die Glaubenskongregation vor allem im Rahmen von Lehrüberprüfungen wahr.58 Wenn durch ein Buch die Verbreitung lehrmäßiger Irrtümer droht, leitet die Kongregation je nach Dringlichkeit das ordentliche oder das dringliche Lehrprüfungsverfahren ein. Beide beruhen auf einer ersten Prüfung der betreffenden Schrift durch das ‚Ufficio‘,59 die dazu dient, die Authentizität festzustellen und die Beeinflussung der Gläubigen durch das Werk einzuschätzen. Das ordentliche Lehrprüfungsverfahren besteht aus einer internen Phase, in der von Gutachtern, einem von der Congresso der Glaubenskongregation bestimmten Pflichtverteidiger (‚relator pro auctore‘), dem Ortsordinarius des betreffenden Autors und gegebenenfalls verschiedenen Fachleuten das fragliche Buch geprüft, begutachtet und diskutiert wird, und einer externen Phase, die im Wesentlichen die Stellungnahme des Autors und den Dialog zwischen Autor und Kongregation umfasst; die Möglichkeit einer persönlichen Begegnung des Autors mit Vertretern der Kongre-

57 Johannes Paul II.: Apostolische Konstitution Pastor bonus v. 28. Juni 1988. URL: http://www. vatican.va/holy_father/john_paul_ii/apost_constitutions/documents/hf_jp-ii_apc_19886028_ pastor-bonus_ge.html (Stand: 22.12.2011). 58 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre: „Nova agendi ratio in doctrinarum examine, 15. Januar 1971“. In: AAS 63 (1971), S. 234–236, und dies.: „Agendi ratio in doctrinarum examine, 29. Juni 1997“. In: AAS 89 (1997), S. 830–835. 59 Die Kongregation für die Glaubenslehre hat für bestimmte Themenfelder drei ‚Uffici‘: das ‚Ufficio dottrinale‘ (für Fragen zur Lehre), das ‚Ufficio disciplinare‘ (zum Bußsakrament und verwandten Themen) und das ‚Ufficio matrimoniale‘ (für Probleme im Zusammenhang mit Eheschließungen, Privilegium Petrinum und Privilegium Paulinum) (vgl. Niccolò Del Re: La Curia Romana. Lineamenti storico-giuridici. Vatikanstadt 1998, S. 105).

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gation ist ‚vorgesehen‘. Der ‚relator pro auctore‘ hat, anders als der Autor selbst, das Recht auf Einsicht in alle den Fall betreffenden Akten, mit Einverständnis seines Ordinarius darf der Autor zudem einen Ratgeber bestimmen, der am Gespräch mit der Glaubenskongregation teilnimmt. Das Verfahren wird abgeschlossen durch einen Beschluss der ‚Sessione ordinaria‘ der Kardinäle der Kongregation, welche die Lösung des Falles feststellen oder weitergehende Maßnahmen anordnen kann. Sollte durch eine Schrift schwerer Schaden für die Gläubigen drohen, setzt die Kongregation eine Kommission ein, die sich mit dem betreffenden Buch befasst und ihre Meinung der ‚Sessione ordinaria‘ vorlegt. Diese kann den Autor auffordern, als irrig beurteilte Meinungen innerhalb von zwei Monaten richtigzustellen. Im äußersten Fall kann die Kongregation zu dem Schluss kommen, der Autor habe sich der Häresie, Apostasie oder des Schismas schuldig gemacht. Da er sich damit außerhalb der kirchlichen Gemeinschaft gestellt hat, wird konsequent die Exkommunikation verkündet, gegen diese Erklärung ist keine Beschwerde zugelassen. In weniger schweren Fällen, in denen Autoren den Positionen des kirchlichen Lehramts nicht zustimmen wollen oder können, kann ihnen verboten werden, theologischen Unterricht (zum Beispiel an Universitäten) zu erteilen. Betrachtet man die ‚Ordnung für die Lehrüberprüfung‘ genauer, fallen einige Verfahrenselemente auf, die noch auf Sollicita ac provida zurückgehen: die Existenz eines Pflichtverteidigers, das Bemühen um eine sorgfältige Prüfung der inkriminierten Schrift, die Mehrstufigkeit des Begutachtungsverfahrens mit einer Konsultorenversammlung und der Sitzung der Kardinäle, schließlich auch eine Einbeziehung des Autors. Dass die Verfahren der Glaubenskongregation den juristischen Standards der heutigen Zeit entsprechen, wird jedoch immer wieder bezweifelt. Als die Glaubenskongregation im Jahr 2007 nach einem dringlichen Lehrprüfungsverfahren Aussagen aus zwei Büchern des salvatorianischen Befreiungstheologen Jan Sobrino verurteilt hatte,60 reagierte unter anderem der Dogmatiker Peter Hünermann mit heftiger Kritik: Als Nachfolgeorganisation des Heiligen Offiziums habe die Glaubenskongregation „im Grunde immer noch die Struktur einer frühneuzeitlichen Zensurbehörde“; dem „Komplexitätsgrad“ der heutigen ratio fidei sei sie „organisationstechnisch nicht gewachsen“. Und weiter:

60 Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre: „Notificatio de operibus P. Jon Sobrino S. I.: Jesucristo liberador. Lectura histórico-teológica de Jesús de Nazaret (Madrid, 1991) y La fe en Jesucristo. Ensayo desde las víctimas (San Salvador, 1999), 26. November 2006“. In: AAS 99 (2007), S. 181–194.

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Moderne Qualitätssicherung im Bereich der Wissenschaften ist anders strukturiert, arbeitet wesentlich mit den Wissenschaften zusammen und bezieht – nach Möglichkeit – die wissenschaftlichen Autoritäten in die Entscheidungsprozesse wissenschaftspolitischer und wissenschaftsadministrativer Art mit ein.61

Besteht die römische Buchzensur also auch noch 55 Jahre nach Ende des Index in gewandelter Form fort? Auf jeden Fall bedeutete das Ende des Index den Abschluss einer langwierigen Entwicklung, in deren Verlauf die katholische Kirche den Anspruch auf Totalkontrolle des Buchmarktes und Zuständigkeit in allen Wissensgebieten aufgab und sich auf ihr Kerngebiet, die ‚Reinerhaltung der Lehre‘ zurückzog. Während katholischen Amtsinhabern als Autoren nach wie vor Sanktionen drohen, hat der Leser verurteilter Bücher – zumindest im Diesseits – nichts mehr zu befürchten. Presse- und Meinungsfreiheit haben seit dem Zweiten Vatikanum einen hohen Stellenwert erhalten. Die Kommunikationspolitik des Vatikans selbst ist zunehmend durch Förderung des Erwünschten,62 fehlende Sanktionsdrohungen und die Konzentration auf die Mitglieder der Kirche gekennzeichnet und damit in den meisten Fällen nicht mehr als Zensur zu bezeichnen.63 Allerdings ist es im Überschneidungsbereich der sozialen Systeme Religion und Wissenschaft schwer zu entscheiden, welche Prozesse den negativ besetzten Begriff ‚Zensur‘ verdienen und welche neutraler als ‚organisationsinterne Konformierung‘,64 selbstregulative Steuerungsprozesse „eines diskursiven Feldes“65 oder „sachimmanente[] Qualitätsbewertung“66 betrachtet werden können. Auf Zensur im engeren Sinne nimmt die Kirche auch nach der neuesten Medienrevolution durch das Internet mittelbar über die Mitwirkung in staatlichen Gremien, Appelle und Proteste Einfluss. „Vorherige Zensur durch die Regierung

61 Alle angeführten Zitate: Peter Hünermann: „Moderne Qualitätssicherung? Der Fall Jon Sobrino ist eine Anfrage an die Arbeit der Glaubenskongregation“. In: Herder Korrespondenz 61 (2007), S. 184–188, hier S. 188. 62 Vgl. beispielsweise auch den Päpstlicher Rat für die sozialen Kommunikationsmittel: „Pastoralinstruktion Aetatis novae v. 22. Februar 1992“. In: AAS 84 (1992), S. 447–468. 63 Vgl. zu den Eingrenzungen des Zensurbegriffs Holger Arning: „Zensur und Zensuren. Kommunikationskontrolle in der Moderne“. In: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 28 (2009), S. 39–66. 64 Vgl. ebd., S. 44–46. 65 Beate Müller: „Über Zensur: Wort, Öffentlichkeit und Macht. Eine Einführung“. In: Zensur im modernen deutschen Kulturraum. Hg. v. ders. Tübingen 2003, S. 1–30, hier S. 6. 66 Stephan Buchloh: „Überlegungen zu einer Theorie der Zensur. Interessen – Formen – ,Erfolgsfaktoren‘“. In: Die Kommunikationsfreiheit der Gesellschaft. Die demokratischen Funktionen eines Grundrechts. Hg. v. Wolfgang L. Langenbucher. Wiesbaden 2003, S. 112–135, hier S. 116. Begriff auch im Original in Anführungszeichen.

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sollte vermieden werden“, schrieb der Päpstliche Rat für die Sozialen Kommunikationsmittel 2002 über „Ethik im Internet“,67 Zensur könne es „nur im äußersten Notfall“ geben.68 ‚Aber das Internet ist genauso wenig wie die übrigen Medien von vernünftigen Gesetzen gegen Haßparolen, Verleumdung, Betrug, Kinderpornographie und Pornographie im allgemeinen oder anderen Straftaten ausgenommen.‘ Eine Regulierung des Internets sei wünschenswert, und im Prinzip ‚Selbstregulierung durch den entsprechenden Wirtschaftszweig das Beste‘.

Was bleibt: Der Schatz im Archiv der Glaubenskongregation 400 Jahre ‚Index der verbotenen Bücher‘ haben der historischen Forschung einen einzigartigen Schatz hinterlassen. Im Archiv der Vatikanischen Kongregation für die Glaubenslehre (‚Archivio della Congregazione per la Dottrina della Fede‘, ACDF) ist für einen Zeitraum von 400 Jahren die Auseinandersetzung einer Institution mit der Neuzeit umfassend dokumentiert. In ihrer geographischen wie in ihrer zeitlichen Dimension ist die römische Buchzensur einmalig. Lange war es fast unmöglich, näheren Aufschluss über die römischen Indizierungsverfahren zu erhalten. Die Archive der Inquisition und Indexkongregation gehörten zu den bestgehüteten Geheimnissen der römischen Kirche. Es war außerordentlich schwierig, die amtliche katholische Position zu neuzeitlichen Entwicklungen in den verschiedenen Wissensbereichen zu eruieren oder die Lehrbeanstandungsund Indizierungsverfahren gegen verbotene Bücher und deren Autoren nachzuzeichnen. Über allem hing das ‚Secretum Sancti Officii‘, das Geheimnis der Inquisition, dem sich die Mitarbeiter per Eid verpflichten mussten. Wo die historischen Quellen fehlten, beherrschten romanhafte Historienschinken und pseudohistorische Schauergeschichten das Bild. Selbst die indizierten Autoren, ihre Verleger und die Händler der in Rom verhandelten Werke erfuhren nur dann

67 Päpstlicher Rat für die sozialen Kommunikationsmittel: Ethik im Internet, 22. Februar 2002, deutsche Version online unter URL: http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/ pccs/documents/rc_pc_pccs_doc_20020228_ethics-internet_ge.html (Stand: 22.12.2011). Danach die folgenden Zitate. 68 Ebd., mit Verweis auf: Päpstliche Kommission für die Instrumente der sozialen Kommunikation: „Pastoralinstruktion Communio et progressio v. 23. Mai 1971“. In: AAS 63 (1971), S. 593–656, deutsche Übersetzung online unter URL: http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/pccs/documents/rc_pc_pccs_doc_23051971_communio_ge.html (Stand: 22.12.2011), hier Artikel 86.

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etwas von den Zensurverfahren, wenn ihre Werke tatsächlich verboten wurden – zunächst durch die Urteilsplakate, dann durch die meist Jahre später erfolgte Aufnahme der Titel in den eigentlichen ‚Index der verbotenen Bücher‘. Publiziert wurden nur tatsächlich erfolgte Bücherverbote, doch keine ‚Freisprüche‘ von Werken, die an der Kurie zwar angezeigt und untersucht, aber letztlich nicht für gefährlich oder häretisch angesehen wurden. Von diesen Prozessen drang kaum etwas an die Öffentlichkeit: Viele Werke wurden in Rom verhandelt, ohne dass die Autoren jemals davon erfuhren. Es war deswegen eine kleine Sensation, als im Frühjahr 1998 die Bestände der römischen Dikasterien, die für die kirchliche Bücherzensur und -kontrolle zuständig gewesen waren, für die Forschung geöffnet wurden.69 Der Forschung bieten sich dadurch ungeahnte Möglichkeiten.70 Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Münsteraner Langfristvorhaben Römische Inquisition und Indexkongregation in der Neuzeit inventarisiert alle Buchzensurfälle von 1542 bis 1966, ediert alle Urteilsplakate und erfasst alle Zensoren biobibliographisch,71 wobei eng mit den römischen Archiven zusammengearbeitet und viel Wert auf den Austausch mit internationalen Fachkollegen gelegt wird.72 Diese aufwendige Grundlagenforschung bietet die Basis, um einzelne Fälle sachgerecht zu rekonstruieren. Letztlich ist es Ziel des Münsteraner Projekts, die Geschichte der institutionalisierten vatikanischen Zensur in die allgemeine Geschichte der Kommunikationskontrolle und -lenkung, in eine Kommunikations-

69 Dank einer Sondergenehmigung des damaligen Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre, Joseph Kardinal Ratzinger, konnten schon seit 1992 erste Studien im ACDF vorgenommen werden, die später für das Münsteraner DFG-Langfristvorhaben von Bedeutung waren. 70 Vgl. Joseph Ratzinger: „Das Archiv der Glaubenskongregation. Überlegungen anlässlich seiner Öffnung 1998“. In: Inquisition, Index, Zensur. Wissenskulturen der Neuzeit im Widerstreit. Hg. v. Hubert Wolf. Paderborn ²2003, S. 215–228. – Alejandro Cifres: „Das historische Archiv der Kongregation für die Glaubenslehre in Rom“. In: Historische Zeitschrift 268 (1999), S. 97–106. – Francesco Beretta: „Die frühneuzeitlichen Bestände des Archivs der Glaubenskongregation. Wesentliche Aspekte ihrer Geschichte und Forschungsperspektiven“. In: Verbotene Bücher. Zur Geschichte des Index im 18. und 19. Jahrhundert. Hg. v. Hubert Wolf. Paderborn 2008, S. 181–208. 71 Die Edition der Verbotsplakate (Bandi), die Aufarbeitung der Sitzungen der Inquisition und Indexkongregation sowie die Erstellung von Personenprofilen der Zensoren und Mitarbeiter der Kongregationen (Prosopographie) ist für das 19. Jahrhundert (1814–1917) und das 18. Jahrhundert (1701–1813) abgeschlossen, die Ergebnisse liegen inzwischen in 13 Bänden vor (vgl. grundsätzlich vor allem Hubert Wolf: Einleitung 1814–1917 in vier Sprachen (Römische Inquisition und Indexkongregation Grundlagenforschung 1814–1917). Paderborn, München, Wien u. a. 2005. Siehe außerdem die Homepage des Projekts URL: www.buchzensur.de). 72 Vgl. die Dokumentation dreier internationaler Tagungen in: Inquisition, Index, Zensur. Hg. v. Wolf. – Verbotene Bücher. Hg. v. dems. – Inquisition und Buchzensur im Zeitalter der Aufklärung. Hg. v. dems. Paderborn, München, Wien u. a. 2011.  



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geschichte ex negativo einzubetten. Daher sollen beispielsweise auch Zensurund Repressionsmechanismen innerhalb der Wissenschaftspraxis untersucht werden; zu denken ist vor allem an geisteswissenschaftliche Disziplinen wie Philosophie, Literatur und Geschichtsschreibung. Interesse verdient auch die Geschichte der Zensur als eine ‚kulturelle Praxis‘ außerhalb der institutionalisierten Verfahren, die mit anderen Wissenspraktiken der Ausschaltung und Eliminierung vergleichbar ist. Aus dieser Perspektive kommt auch der konstruktive und produktive Aspekt von Zensur in den Blick,73 wie er in Anlehnung an Michel Foucault und auf der Basis eines sehr weit gefassten Zensurbegriffes hervorgehoben wird.74

73 Vgl. zur Zensur als kultureller Praxis die Beiträge des dritten Teils in: Inquisition und Buchzensur. Hg. v. Wolf, S. 245–322. 74 Vgl. z. B. Robert C. Post: „Censorship and Silencing“. In: Censorship and Silencing. Practices of Cultural Regulation. Hg. v. dems. Los Angeles 1998, S. 1–12, hier S. 2. – Judith Butler: „Ruled Out. Vocabularies of the Censor“. In: Ebd., S. 247–260, hier S. 247. Eine zusammenfassende Kritik liefert Müller: Über Zensur, S. 3–6. Zur Problematik eines weiten Zensurbegriffs (mit weiterführenden Literaturangaben) auch: Arning: Zensur.  

Peter Jelavich

Kunstfreiheit = Impotenz der Kunst? Es scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland am 24.5.1949 die offizielle oder formelle Zensur der Künste aufgehoben wurde. Tatsächlich hat der Staat Kunstwerke beziehungsweise deren Produzenten danach auf Grund von Paragraphen des Strafgesetzbuchs wie beispielsweise Paragraph 166 (Gotteslästerung) und 184 (Unzucht) – eine Plage für Literaten und Künstler seit dem 19. Jahrhundert – äußerst selten angeklagt. Diese Tatsache wird oft damit erklärt, dass der generelle Wandel der Sittlichkeitsbegriffe auch im juristischen Bereich wahrgenommen wurde – in wegweisenden Gerichtsurteilen am Anfang der 1960er Jahre, und schließlich in der grundlegenden Novellierung des Strafgesetzbuchs am Ende des Jahrzehnts. Diese Zusammenhänge sind nicht zu bestreiten, ich möchte aber eine provokante These Alfred Döblins aufgreifen, um anzudeuten, dass die Freigabe der Kunst nicht unbedingt ein Zeichen der staatlichen Freizügigkeit war. Es kann nämlich auch sein, dass die Staatsanwälte und die Richter der Meinung waren, dass von der Kunst keine nennenswerte Gefahr mehr ausginge: Man könne sie also ruhig ‚frei laufen‘ lassen. In der bundesrepublikanischen Verfassung wird der Kunst ein besonderer Stellenwert beigemessen. Sie gehört zu den sogenannten Grundrechten und manche Juristen behaupten sogar, dass sie mehr Schutz genieße als Meinungsäußerungen. Der Grundrechtsartikel zur Meinungsfreiheit – „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern […]. Eine Zensur findet nicht statt“1 – findet seine „Schranken“ „in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre“.2 Die Kunst dagegen wird uneingeschränkt als „frei“ proklamiert.3 In der Tat ist aber auch Kunst mit denselben ‚Schranken‘ konfrontiert wie die Meinungsäußerung; diese richterliche Praxis ist jedoch unter Verfassungstheoretikern umstritten. Wie dem auch sei, die Sonderstellung der Kunst im Grundgesetz ist, wenn auch kein deutsches Unikum, jedenfalls eine Ausnahme innerhalb der Verfassungen der Welt. In der US-Verfassung – immerhin ein beredtes Dokument der Aufklärung – wird ‚art‘ überhaupt nicht erwähnt. Redeund Druckfreiheit werden im ‚first amendment‘ geschützt, dies galt aber lange

1 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG), Art. 5, Abs. 1. 2 Ebd., Art. 5, Abs. 2. 3 Vgl. ebd., Art. 5, Abs. 3.

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nur für politische Aussagen; erst im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde Kunst als Meinungsäußerung eingestuft und wurde folglich zensurfrei. Jedenfalls wird in den USA, wie auch in vielen anderen Ländern, Kunst nicht mehr geschützt als Nicht-Kunst. Es ist also nicht abwegig zu fragen: Soll Kunst überhaupt einen besonderen juristischen und verfassungsrechtlichen Status haben? Alfred Döblin hat dies verneint. Am 15. März 1929, in einer Sitzung der Sektion für Dichtkunst in der Preußischen Akademie der Künste, hielt er einen provokanten Vortrag zum Thema Kunst ist nicht frei, sondern wirksam. Ars militans. Darin wandte er sich gegen jene, die behauptet hatten, dass die Kunst frei sein solle, nur weil sie ‚Kunst‘ sei. Er kritisierte die Behauptung: [D]ie Gesinnung im Kunstwerk ist unangreifbar; im Augenblick, wo sicher und über jeden Zweifel festgestellt ist, das Tendenzwerk ist ein Kunstwerk, darf kein Verbot an das Werk heran. Denn die Kunst ist unantastbar, die Kunst ist heilig. [Döblin meinte dagegen:] Die Kunst ist aber nicht heilig, und Kunstwerke dürfen verboten werden.4

Das war aber kein Plädoyer für Zensur: Döblin war als Zensurgegner bekannt, und anderthalb Jahre später wurde er selbst deren Opfer, als die Sendung der Hörspielfassung des Berlin Alexanderplatz durch den ,politischen Überwachungsausschuss‘ der Berliner Funkstunde storniert und sein Schauspiel Die Ehe in München auf gesetzwidrige Weise polizeilich verboten wurde.5 Er wandte sich in der Tat gegen jede Zensur, egal ob ein Werk ‚Kunst‘ sei oder nicht. Fatal fand er aber die Meinung – der in der juristischen Praxis auch oft gefolgt wurde – dass ein Kunstwerk mehr Freiheit genießen sollte als eine gewöhnliche Meinungsäußerung. Döblin glaubte, diese Ausnahmestellung würde der Kunst nur zuteil, wenn sie nicht mehr relevant oder wirksam sei. Das ‚Freilassen‘ der Kunst sei ein Zeichen ihres Nicht-Ernst-Genommen-Werdens, ihrer Harmlosigkeit und Unschädlichkeit, also ein klares Zeichen ihrer ‚Verkrüppelung‘, ihrer gesellschaftlichen und politischen Impotenz. Döblin behauptete: „,Die Kunst ist heilig‘ bedeutet aber praktisch nichts weiter als: der Künstler ist ein Idiot, man lasse ihn ruhig reden.“6 Döblin ging so weit, diejenigen Gerichte zu loben, die Kunst bestraft hatten: Ich weiß, die Gerichte haben heute in Deutschland im großen ganzen die befangene, kunstfeindliche Haltung, die ich eben beschrieben habe: sie sprechen Künstler frei, wenn die

4 Alfred Döblin: „Kunst ist nicht frei, sondern wirksam. Ars militans“. In: Preußische Akademie der Künste. Jahrbuch der Sektion für Dichtkunst 1 (1929), S. 96–103, hier S. 98. 5 Vgl. dazu Peter Jelavich: Berlin Alexanderplatz: Radio, Film, and the Death of Weimar Culture. Berkeley 2006, S. 114–120, 174–177. 6 Döblin: Kunst ist nicht frei, S. 98.

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Stoffe durch die Bearbeitung so ,veredelt‘, genauer: abgeschwächt sind, daß eben ein Kunstwerk dasteht. Ich nenne das eine kunstfeindliche Haltung. Erfreulicherweise verurteilen und verbieten aber einige Gerichte; sie wissen besser als die ,Sachverständigen‘, daß wir eine gute und reale Existenz haben. Wir bedanken uns für unsere Freunde. Wir wollen ernst genommen sein. Wir wollen wirken, und darum haben wir – ein Recht auf Strafe.7

Döblin meinte, dass die ‚Verkrüppelung‘ der Kunst durch die damals noch herrschende idealistische Ästhetik verursacht werde: wie er sagte, durch die ‚Veredelung der Stoffe‘. Aber noch wichtiger war für ihn die soziale Dimension – die Tatsache, dass das kunstinteressierte Publikum aus einer „kleine[n] Gesellschaftsschicht“ bestand, die er als „Begüterte und ihren Anhang“ beschrieb. Viele Kunstinteressenten waren bereit, sogar eine aggressive und vermeintlich provokative Kunst käuflich zu erwerben. Dies blieb aber ohne soziale Folgen, da diese Kunstinteressenten nicht an einer gesellschaftlichen Umwälzung interessiert waren: Die Revolution verblieb im ästhetischen Bereich, auch wenn es um Tendenzkunst ging. Döblins Fazit: Diese Gesellschaftsschicht […] stellt die Situation vollkommen klar, indem sie die Kunst für – frei erklärt, nämlich für salonfähig und gänzlich unschädlich! Nun versteht man meine Warnung vor: ,Die Kunst ist frei.‘ Der Maulkorbzwang für die Kunst kann nunmehr aufgehoben werden. Das Tier hat keine Zähne mehr.8

Döblin war bekanntlich ein paradoxer Denker; er wollte mit dieser These provozieren, und damals hat er auch Aufmerksamkeit erregt.9 Seine Aussage ist herausfordernd in mehrfacher Hinsicht, aber zwei Vorwürfe sind besonders pointiert. Erstens: Döblin unterstellt dem Staat unlautere Absichten: Der Staat posaune seine eigene Liberalität heraus, wenn er der Kunst Freiheit zugestehe, er gewinne dadurch an Prestige; aber er tue dies nur, wenn er schon im Voraus wisse, dass die Kunst harmlos sei. Und zweitens: Döblins These unterstellt den Künstlern eben dieses – nämlich dass ihre Kunst de facto impotent sei. Trotz aller Übertreibungen kann Döblins These immer noch ernst genommen werden. Denn sie hatte bereits in den 1920er Jahren eine längere Vorgeschichte, und sie wirkte – so meine These – bis in die Bundesrepublik fort. Natürlich haben sich inzwischen sowohl die Kunst wie auch die Kunstinteressierten verändert: Die Kunst ist nicht mehr durch eine idealistische Ästhetik geprägt, und das kunstinteressierte Publikum gehört nicht mehr ausschließlich zu den begüterten

7 Ebd., S. 100f. 8 Ebd., S. 99. 9 Zum Thema Döblin als Provokateur siehe die Aufsätze in: Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Mainz 2005. Alfred Döblin zwischen Institution und Provokation. Hg. v. Yvonne Wolf. Bern 2007.

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Schichten (obwohl es immer noch quantitativ beschränkt ist). Es besteht aber immer noch der Glaube, von wenigen Ausnahmen abgesehen, dass sie wirkungslos sei, und gerade deswegen wurde sie von Richtern in den 1960er Jahren freigesprochen. Damals – in der „,Blütezeit‘ des Kampfes um die Freiheit der Kunst“10 – wurde der Kunst wesentlich mehr Freiheit eingeräumt, nachdem den Richtern klar wurde, dass das Tier, trotz aller Angriffsfreudigkeit, keine Zähne mehr hatte. Oder besser gesagt: Ihre Bisse taten niemandem weh. Döblins Befürchtungen können anhand einiger bekannter Zensurfälle illustriert werden. Dass die konventionelle Kunst des 19. Jahrhunderts weitgehend von einer idealistischen und unpolitischen Ästhetik geprägt war, ist bekannt. Dass Kunst – oder eher: was damals als ‚Kunst‘ galt – vorwiegend vom Bürgertum genossen wurde, ist auch bekannt. Interessanter ist wohl die Tatsache, dass auch die moderne, nicht-idealistische und sozialkritische Kunst in eine Dynamik der Entschärfung hineingezogen wurde, und zwar durch die Zensur. Fangen wir also am Anfang an: nämlich mit dem Leipziger Realistenprozess anno 1890. Es ist nicht abwegig, sich auf die Naturalisten zu beziehen, denn Döblin betrachtete sie als Vorbild für eine Erneuerung des künstlerischen Engagements. Im Oktober 1929, ein halbes Jahr nach seiner Kunst ist nicht frei-Rede, hielt er wiederum einen Vortrag in der Sektion für Dichtkunst, in dem er für einen „neuen Naturalismus“ plädierte (und mit seiner antielitären Forderung einer „Senkung des Gesamtniveaus der Literatur“, da „die gesamte höhere deutsche Literatur für noch nicht 10–20 Prozent des deutschen Volkes geschrieben“ werde, erneut provozierte).11 Vierzig Jahre zuvor fand die erste große Auseinandersetzung mit dem Naturalismus statt, als die Autoren Wilhelm Walloth und Conrad Alberti und der Verleger Wilhelm Friedrich wegen Unsittlichkeit (Paragraph 184 des Strafgesetzbuchs) in Leipzig vor Gericht zitiert wurden; Hermann Conradi starb noch vor der Gerichtsverhandlung, aber sein beschlagnahmter Roman Adam Mensch sollte auch verboten werden.12 Die Auseinandersetzungen sind aus vielen Gründen wegweisend, aus der Perspektive der Döblinschen These besonders interessant ist aber die Tatsache, dass die Autoren behauptet haben, dass ihre eigenen Werke keine nennenswerte Wirkung hätten, ja, gar nicht hätten haben können. Über seinen Roman Die Alten und die Jungen erklärte Alberti vor Gericht:

10 Joachim Würkner: Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst. München 1994, S. 41. 11 Alfred Döblin: „Vom alten zum neuen Naturalismus. Akademie-Rede über Arno Holz“. In: Das Tage-Buch 11 (1930), S. 101–106, hier S. 106, 103. 12 Zum Leipziger Realismusprozess siehe: Gary Stark: Banned in Berlin: Literary Censorship in Imperial Germany, 1871–1918. New York 2009, S. 196–200.

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[M]ein Buch ist ein zweibändiger dicker Roman, es ist sehr teuer, und es wird in ihm viel und eingehend über die wichtigsten Fragen gehandelt; viel über Musik, Philosophie, soziales Leben; es setzt, um nur zwei oder drei Bogen zu verstehen, bedeutende wissenschaftliche Kenntnisse voraus. Wer also ohne Bildung an mein Buch herangeht, wird es schon nach den ersten Seiten weglegen müssen, weil er es nicht versteht.13

Ferner nannte er sein Buch einen ernsten sozialen Roman, „der sich an ein der Zahl nach beschränktes Publikum wendet.“14 In Bezug auf den Roman des verstorbenen Hermann Conradi sagte der Verleger Friedrich: [E]s ist im gewissen Sinne eine Arbeit, einen solchen Roman zu lesen! […] Der Stil ist schwerfällig, ist zerhackt, der Autor spricht Gedanken nur halb aus, die Sprache ist durchsetzt von philosophischen Betrachtungen, Selbstkritiken, psychologischen Analysen u. s. w. Der Roman ist ohne Spannung. […] Ich glaube sogar, man könnte vom ästhetischen Standpunkt aus Conradi den Vorwurf machen, daß der Roman zum Teil langweilig ist, namentlich für den, der nicht auf dem Standpunkt des Realismus steht.15  



Das war keine gute Reklame für ein Buch, das Friedrich selber verlegt hatte. Selbstverständlich waren diese Äußerungen eine Verteidigungsstrategie: Der Verleger und die Autoren wollten Straffreiheit mit dem Argument erreichen, nur ein kleines, gebildetes, vor allem am Naturalismus interessiertes Publikum lese diese Texte. Streng juristisch gesehen war diese Argumentation damals aus vier Gründen prekär: (1) Kunst qua Kunst wurde damals nicht verfassungsmäßig geschützt, obwohl Richter in der Tat der Kunst mehr Freiraum gestattet haben; gegen die Naturalisten sprach aber die damalige Meinung, dass (2) ein unsittliches bzw. unzüchtiges Werk per definitionem kein Kunstwerk sein könne; (3) die Gesetze sollten theoretisch für alle Bürger gelten, d. h. es gab keine expliziten Ausnahmeregelungen für besonders gebildete oder kunstinteressierte Menschen, also war (4) das Sittliche bzw. Unzüchtige vom Empfinden des ‚Normalmenschen‘, einer juristischen Fiktion, abhängig. Die zweifache Verteidigungsstrategie der Naturalisten bestand zuerst aus der Behauptung, dass ihre Bücher sowohl künstlerisch als auch sittlich waren, denn die vermutlich unzüchtigen Stellen sollten eine pädagogische Wirkung haben; die dargestellten Unsittlichkeiten sollten sowohl solche Taten moralisch kritisieren wie auch Empörung im Leser hervorrufen (wohlgemerkt: gegen das Dargestellte, nicht gegen die Autoren!). Zweitens – und dies ist aus Döblins Perspektive wichtig – behaupteten die Naturalisten und ihre Anwälte, die Intellektualität der neuen Kunstrichtung schlösse das breite Publi 

13 Siehe die stenographische Abschrift der Gerichtsverhandlung: „Der Realismus vor Gericht“. In: Die Gesellschaf 6 (1890), S. 1141–1232, hier S. 1153. 14 Ebd., S. 1154. 15 Ebd., S. 1207.

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kum als Rezipienten aus. Diese Behauptung suggerierte, dass das Empfinden des ‚Normalmenschen‘ nicht als Bewertungsgrundlage in Frage kam, da dieser solche Bücher nie lese. In dieser Verteidigungsargumentation sieht man den Keim des juristischen Umschwungs der 1960er Jahre; hier wurde endgültig postuliert, dass nicht der ‚Normalmensch‘, sondern das kunstinteressierte Publikum der Rechtsprechung als Maßstab dienen solle – unter anderem, weil das in Frage kommende Publikum äußerst begrenzt sei. Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass diese Rhetorik und Logik schon in ihren Anfängen von der Zensur vorgeprägt waren: Die Freiheit, die der Kunst in den 1960er Jahren zugestanden wurde, wurde innerhalb der Schranken zugelassen, die Literaten ab 1890 für sich als Verteidigungsstrategie gegen die Zensur aufrichteten. Seiner Zeit, um 1890, blieb diese Strategie erfolglos; die inkriminierten Romane wurden indiziert und die Autoren mussten ein Bußgeld bezahlen (immerhin wurde die vom Staatsanwalt verlangte Gefängnisstrafe für Alberti von den Richtern nicht verhängt). Aber die Argumentation zeitigte in den folgenden Jahren Teilerfolge. Ein besonders berühmtes Beispiel war Gerhart Hauptmanns Die Weber.16 Bekanntlich wurde der Antrag, das Stück im Deutschen Theater zu spielen, 1892 vom Berliner Polizeipräsidenten abgelehnt: Bernhard von Richthofen sah in dem Stück ein revolutionäres Potential, das die sozialdemokratische Bevölkerung Berlins zu Ausschreitungen hätte verleiten können. Als der Fall dann ein Jahr später in Revision ging, behauptete aber der in Zensurfällen bewanderte Anwalt Richard Grelling, ein solches Publikum sei im Deutschen Theater gar nicht zu finden: Die Arbeiter „werden kaum Gelegenheit haben, das ,Deutsche Theater‘ mit seinen theueren Plätzen zu besuchen.“17 Das Preußische Oberverwaltungsgericht gab ihm recht: Das Stück durfte im Deutschen Theater aufgeführt werden. Zur Begründung hieß es: [Es] sind, wie bekannt, die Plätze im Allgemeinen so theuer und ist die Zahl der weniger theueren Plätze verhältnismäßig so gering, daß dieses Theater vorwiegend nur von Mitgliedern derjenigen Gesellschaftskreise besucht wird, die nicht zu Gewaltthätgkeiten oder anderweitiger Störung der öffentlichen Ordnung geneigt sind.18

Danach wurde Hauptmanns Die Weber in Preußen und im übrigen Reich für Theater, die ein bürgerliches Publikum hatten, zugelassen, für öffentliche Volkstheater jedoch verboten; diese Differenzierung ging so weit, dass die Freien Volks-

16 Vgl. Gerhart Hauptmanns ‚Weber‘. Eine Dokumentation. Hg. v. Helmut Praschek. Berlin 1981. – Das preussische OVG und Hauptmanns ‚Weber‘. Hg. v. Martin Pagenkopf. Köln 1988 und Stark: Banned in Berlin, S. 135–142. 17 Gerhart Hauptmanns ‚Weber‘. Hg. v. Praschek, S. 262. 18 Ebd., S. 277.

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bühnen, die ihrem Arbeiterpublikum Die Weber in geschlossenen Vorstellungen vorspielten, gezwungen wurden, sich zu öffentlichen Bühnen zu erklären und sich dadurch der Zensur zu unterwerfen. Der Kompromiss, der schon im Leipziger Realistenprozess zur Sprache kam, wurde in diesem berühmten Fall anerkannt: Nämlich, dass ein Kunstwerk, wenn auch eins mit sozialkritischem und sogar revolutionärem Inhalt, dann aufgeführt werden dürfe, wenn dies im Rahmen einer begrenzten bürgerlichen Kultursphäre stattfinde. Die Voraussetzungen des Weber-Prozesses waren in mancher Hinsicht das Gegenteil des Leipziger Realistenprozesses, aber das Resultat blieb dasselbe: Nur gebildete Bürger konnten oder dürften die beanstandeten Werke rezipieren. Einerseits behaupteten die in Leipzig angeklagten Naturalisten zur Entlastung, dass ihre Bücher nur eine kleine, gebildete Leserschaft erreichten. Andererseits war zu erwarten, dass Hauptmanns Weber ein grosses Arbeiterpublikum anziehen würde: Aber gerade um dies zu verhindern, wurden Aufführungen nur für begüterte Klassen zugelassen – eine juristisch nicht ganz einwandfreie Sonderregelung. Man kann natürlich behaupten, die Zensur sei an diesem üblen Kompromiss schuld; aber wichtig ist, dass Gerhart Hauptmann mitgespielt hat. Nachdem der Anwalt Richard Grelling in erster Instanz, vor dem Berliner Bezirksausschuss, für die Freigabe mit Hinweis auf den nicht-aufrührerischen Charakter des Publikums im Deutschen Theater plädierte, schrieb der fassungslose Sozialdemokrat Franz Mehring: Wir sind überzeugt, daß Herr Grelling, so wie er plädierte, gegen den Willen seines Mandanten plädiert hat, aber Herr Hauptmann wird nunmehr erkannt haben, daß es sich hier um ein Entweder – Oder! handelt. Er steht den Verhältnissen nahe genug, um zu wissen, daß der einfachste Redakteur des einfachsten Arbeiterblattes lieber das härteste Ungemach von Justiz und Polizei erdulden würde, ehe er sich mit dem advokatorischen Firlefanz des Herrn Grelling verteidigen ließe.19

Als Mehring dann doch erfuhr, dass Grelling vollkommen im Sinne des Autors handelte, war Hauptmann und der ganze Naturalismus für ihn erledigt: Er konnte ihn als keine große Kunstrichtung betrachten, „[d]enn eine große Kunst hat noch nie, solange die Welt steht, vor irdischen Tribunalen auf mildernde Umstände für ihr Dasein plädiert.“20 Große Kunst hin oder her: Die juristischen Strategien der Literaten im Leipziger Realistenprozess und im Weber-Prozess ähnelten sich in den folgenden Jah19 Franz Mehring: „Entweder – Oder“. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Hans Koch, Bd. 11. Aufsätze zur deutschen Literatur von Hebbel bis Schweichel. Berlin (DDR) 1961, S. 286–292, hier S. 292. 20 Franz Mehring: „Kunst und Proletariat“. In: Ebd., S. 134–140, hier S. 135.

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ren. Sowohl in der Wilhelminischen Ära wie auch der Weimarer Zeit wurde regelmäßig vor Gericht behauptet, ein Kunstwerk solle nicht bestraft werden – obwohl es vielleicht in religiöser, sittlicher, sexueller oder politischer Hinsicht anstößig sei – weil es als Kunstwerk nur ein kunstinteressiertes und gebildetes Publikum erreiche und eben nur von diesem rezipiert werde. Nicht immer offen ausgesprochen – so offen wie im Weber-Prozess – wurde der Hintergedanke: Ein solches Publikum ist zahm, selbst wenn die von ihm genossene Kunst sich aggressiv gibt. Es war diese Verteidigungsstrategie, gegen die Döblin sich wandte, als er darauf bestand, dass Kunst ein Recht auf Strafe haben solle. Sollte dies nicht der Fall sein und bliebe Kunst verschont, gerade weil sie Kunst sei – dann wäre die Verteidigungsstragie nicht bloß Rhetorik, sondern auch Realität: Diese Kunst bliebe in der Tat ein ungefährliches Tier. Die zukünftige juristische Entwicklung hätte Döblin sehr enttäuscht. Die Rhetorik des Freisprechens der Kunst aufgrund ihrer faktisch beschränkten Wirkung wurde in der Bundesrepublik wieder belebt, und sie erreichte 1961 dann allgemeingültige juristische Anerkennung im bekannten Döhl-Urteil. Der Göttinger Student Reinhard Döhl wurde wegen Gotteslästerung (Paragraph 166 des Strafgesetzbuchs) in erster Instanz verurteilt, dann aber vom Bundesgerichtshof freigesprochen. Die Entscheidung ist dafür bekannt, dass der ‚Normalmensch‘ als juristischer Maßstab durch den „künstlerisch aufgeschlossene[n] oder zumindest um Verständnis bemühte[n], wenn auch literarisch nicht besonders vorgebildete[n] Mensch“21 ersetzt wurde. Dieser Wandel war in vielerlei Hinsicht begrüßenswert, jedoch aus Döblinscher Perspektive zwiespältig, denn er wurde unter anderem damit begründet, dass die moderne Kunst nur von verhältnismäßig kleinen und begrenzten Gruppen rezipiert werde: Der ‚Normalmensch‘ sieht sich also normalerweise nicht in die Lage versetzt, sich mit Kunst zu konfrontieren. Der Bundesgerichtshof konstatierte: Im vorliegenden Falle kommt hinzu, daß das Gedicht in einer Studentenzeitung erschienen ist. Obwohl diese in Hochschulgebäuden, zu denen jedermann Zutritt hatte, zum Verkauf auslag, war sie ersichtlich in erster Linie für Studierende und Dozenten, also einen Per-

21 Zitiert nach Sieghart Ott: Kunst und Staat. Der Künstler zwischen Freiheit und Zensur. München 1968, S. 123. Zur Rechtssprechung über Kunstfreiheit in der Bundesrepublik, auch zu den hier besprochenen Prozessen (Döhl, Genet, Baselitz, Mephisto) siehe auch: Würkner: Das Bundesverfassungsgericht und die Freiheit der Kunst. – Wolfgang Knies: Schranken der Kunstfreiheit als Verfassungsrechtliches Problem. München 1967. – Literatur vor dem Richter. Beiträge zur Literaturfreiheit und Zensur. Hg. v. Birgit Danket u. Lothar Zechlin. Baden-Baden 1988. – Klaus Andreas Fischer: Die strafrechtliche Beurteilung von Werken der Kunst. Frankfurt a. M. 1995. – Anja Ohmer: Gefährliche Bücher? Zeitgenössiche Literatur im Spannungsfeld zwischen Kunst und Zensur. BadenBaden 2000 und Matthias Lorenz: Literatur und Zensur in der Demokratie. Göttingen 2009.  

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sonenkreis bestimmt, der im allgemeinen mit moderner Kunst vertrauter ist als ein durchschnittlicher Zeitungsleser.

Es wurde auch konstatiert, dass „das Wesen der zeitgenössischen Kunst“ „nicht ganz leicht verständlich“22 sei. Der erneute Rekurs auf das Empfinden des kunstinteressierten Publikums ging also davon aus, dass nur wenige Leute Zugang zur zeitgenössischen kritischen Literatur fänden und, dass diese Literatur – wie Conrad Alberti und Wilhelm Friedrich 70 Jahre zuvor vor Gericht behauptet hatten – nicht leicht begreiflich und deshalb kaum für ein größeres Publikum interessant sei. Diese Meinung wurde auch ausdrücklich vom Landgericht Hamburg vertreten, als Jean Genets Notre Dame des Fleurs 1962 ‚freigesprochen‘ wurde. Im Urteil ist zu lesen: „[E]rfahrungsgemäß [berühren] die Werke der modernen Literatur, insbesondere ausländischer Herkunft, den Interessentenkreis des ,Normalmenschen‘ i[m] S[inne] der bisherigen Rechtssprechung und -lehre in der Regel nicht oder nur wenig.“ Die Hamburger Richter übernahmen vom Bundesgerichtshof als Maßstab den „um Verständnis einer bestimmten Kunstrichtung bemühten Kunstinteressenten.“ Sie behaupteten weiter: „Diese Beurteilungsbasis erscheint im vorliegenden Fall umsomehr gerechtfertigt, als sich die Käufer und Leser des Buches Notre Dame des Fleurs aller Voraussicht nach aus dieser Personengruppe rekrutieren.“ Auch in diesem Urteil wurde bestätigt, dass der ‚Normalmensch‘, wenn er das Buch zur Hand nehme, nicht viel damit hätte anfangen können: Insbesondere sind „die unsittlichen Bestandteile gründlich hinter den Schwierigkeiten der Lektüre verschanzt“.23 Umgekehrt wurde konstatiert, dass kunstinteressierte Leser das Buch nicht anstößig fänden. In seinem Plädoyer für die Freisprechung von Notre Dame des Fleurs behauptete der Generalstaatsanwalt Ernst Buchholz: Es sind 4000 Exemplare des Romans verkauft worden. Aber kein einziger Leser hat eine Anzeige erstattet, und das in einer Zeit der gesteigerten Anzeigefreudigkeit. […] Ich glaube, der Schlüssel dieses Rätsels – denn es könnte als Rätsel erscheinen – ist, dass ein solches Buch nur von Menschen gekauft wird, die sich wirklich für derartige moderne Literatur interessieren und dass diese Menschen Fakten, wie sie Genet, künstlerisch geformt, bringt, mit gelassenem Interesse zur Kenntnis nehmen.24

22 Zitiert nach Ott: Kunst und Staat, S. 123. 23 „Landesgericht Hamburg, Entscheidung vom 31.7.1962“. In: Neue Juristische Wochenschrift 16 (1963), S. 675–676, hier S. 676. 24 „Generalstaatsanwalt Buchholz im Hamburger Genet-Prozeß am 31. Juli 1962“. In: Akzente. Zeitschrift für Dichtung 12 (1965), S. 244–251, hier S. 249.

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Dass das kunstinteressierte Publikum ein so provokantes Buch wie Genets Notre Dame des Fleurs „mit gelassenem Interesse“ zur Kenntnis nahm, war Teil der Dynamik, die Döblin zur Verzweifelung brachte – die aber der Kunst die Freiheit verschaffte. Dass einem Kunstwerk mehr Freiheit gewährt wurde aufgrund der numerischen Beschränkung und der besonderen Liberalität ihres Publikums galt nicht nur für Literatur, sondern auch für die bildende Kunst. Die Beschlagnahme zweier Bilder des Malers Georg Baselitz – Der nackte Mann und Große Nacht im Eimer – wurde 1965 vom Bundesgerichtshof aufgehoben, und zwar aus folgenden Gründen: [B]ei der Anwendung des Paragraph 184 StGB auf Kunstwerke [muss] die Bedeutung der grundgesetzlich anerkannten Freiheit der Kunst berücksichtigt werden […]; die Frage der Unzüchtigkeit [hängt] von dem Eindruck [ab], den ein künstlerisch aufgeschlossener oder zumindest um Verständnis bemühter, fachlich nicht besonders vorgebildeter Mensch von dem Kunstwerk hat. Dieser Maßstab ist hier jedenfalls deshalb berechtigt, weil es sich nicht um massenhaft hergestellte und verbreitete Abbildungen, sondern um Originalgemälde in einer Kunstausstellung handelt. Der durchschnittliche Besucher einer solchen Ausstellung pflegt von bildender Kunst wesentlich mehr zu verstehen als die Masse der Bevölkerung.25

Nach diesen und anderen Entscheidungen in der ersten Hälfte der 60er Jahre wurde der Kunst eine viel größere Freiheit eingeräumt, als es früher der Fall war. Dies lag unter anderem daran, dass die Künste ihre speziellen und begrenzten Teilöffentlichkeiten hatten, deren Träger sich explizit mit Kunst auseinandersetzten – auch mit einer Kunst die so tat, als sei sie anstößig. Dieser Wandel in der Rechtsprechung hing mit der Auffassung zusammen, dass nicht-kunstinteressierte Bürger faktisch selten in der Lage seien, zeitgenössische Kunst adäquat zu rezipieren. Diese Annahme ging so weit, dass die wenigen Bürger, die tatsächlich Anstoß genommen hatten, keinen Erfolg vor Gericht hatten, insbesondere dann, wenn sie gezielt in eine Ausstellung oder eine Aufführung gingen, um Strafanzeige zu erstatten, da sie ja schon im Voraus von einer Mißachtung ihres moralischen Empfindens ausgingen. Diese alte Strategie, die seit Jahrzehnten von moralisierenden Vertretern der Kirchen und der konservativen Parteien gegen ‚unsittliche‘ Kunst verwendet wurde, wurde in Gerichtsverhandlungen verworfen, so zum Beispiel vom Oberlandesgericht Hamburg 1971: Dort wurde entschieden, dass ein Besucher der Vorstellung des Musicals Oh! Calcutta! sich nicht als „Verletzter“ in sittlicher Hinsicht ansehen

25 „Bundesgerichtshof, Urteil vom 23.3.1965“. In: Neue Juristische Wochenschrift 18 (1965), S. 983–984, hier S. 983.

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könne, da er „vor dem Besuch der Aufführung, die er sich angesehen hatte“ wisse, „was zu erwarten war.“26 Die Paragraphen 166 und 184 des Strafgesetzbuchs wurden also in den 1960er Jahren durch eine veränderte richterliche Interpretation abgeschwächt; dies wurde zementiert mit der Novellierung der Paragraphen 166 und 184 des Strafgesetzbuches, die strafbare Handlungen weitgehend einschränkten. Der Tatbestand der Beschimpfung von Kirchen und Religionsgemeinschaften trat an die Stelle von Gotteslästerung oder sogenannte harte Pornographie an Stelle von unzüchtigen Schriften und Darstellungen. Da diese Paragraphen keine große Gefahr für die Kunst bedeuten, hat die Diskussion über Zensur ihre Akzente verschoben; neuerdings spielt jetzt der Persönlichskeitsschutz eine große Rolle. In solchen Fällen ist es nicht die sittlichen Normen verpflichtete Gemeinschaft, die geschützt wird, sondern einzelne Individuen, die sich angegriffen fühlen. Aber auch in diesen Rechtsstreitigkeiten sind die Prämissen von Döblins These immer noch zu finden. Döblin hätte möglicherweise gesagt, dass das bekannte Mephisto-Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1971 der Kunst wieder ein Recht auf Strafe zubillige. Das Verbot von Klaus Manns Roman wurde aufrechterhalten, weil die Hälfte der beteiligten Richter der Auffassung war, dass ein Kunstwerk nicht nur in einer ästhetischen Sphäre existiere, sondern auch soziale Wirksamkeit entfalte: [D]ie Kunstfreiheitsgarantie [kann] mit dem ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsbereich in Konflikt geraten, weil ein Kunstwerk auch auf der sozialen Ebene Wirkungen entfalten kann. Daß im Zugriff des Künstlers auf Persönlichkeits- und Lebensdaten von Menschen seiner Umwelt der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Dargestellten betroffen sein kann, ist darin begründet, daß ein solches Kunstwerk nicht nur als ästhetische Realität wirkt, sondern daneben ein Dasein in den Realien hat, die zwar in der Darstellung künstlerisch überhöht werden, damit aber ihre sozialbezogenen Wirkungen nicht verlieren.27

Das entsprach Döblins Meinung von vor vierzig Jahren: „Der Künstler ist ein lebendiger Mensch, Glied eines Staates, eines Volkes, einer Klasse,“ er hat „eine gute und reale Existenz.“28 Demnach sollen der Kunst auch keine Sonderrechte zugebilligt werden, denn der Kunst eine Sonderstellung zu geben jenseits der Zensur hieße, die Kunst nicht ernst zu nehmen, da man ihr nur eine Sphäre jenseits aller Gesellschaftlichkeit zubilligte.

26 „Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 14.9.1971“. In: Neue Juristische Wochenschrift 25 (1972), S. 117–118, hier S. 118. 27 „Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 24.2.1971“. In: Neue Juristische Wochenschrift 24 (1971), S. 1645–1655, hier S. 1646f. 28 Döblin: Kunst ist nicht frei, S. 98, 101.

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Der juristische Wandel der 1960er Jahre, der zur weitgehenden Befreiung der Künste führte, wurde aber auch im Mephisto-Prozess kontrovers diskutiert. Obwohl das Mephisto-Verbot wegen Stimmengleichheit im Bundesverfassungsgericht aufrechterhalten wurde, plädierten der Bundesverfassungsrichter Erwin Stein und Bundesverfassungsrichterin Wiltraut Rupp-von Brünneck sehr eloquent für die Aufhebung des Verbots, indem sie die besonderen Eigenschaften der ästhetischen Sphäre und die Bedeutung kompetenter Rezeption betonten. Stein behauptete, dass die beiden Vorinstanzen (bzw. seine Kollegen im Bundesverfassungsgericht) nicht genügend beachtet [haben], daß ein Kunstwerk, als das der ,Mephisto‘-Roman von ihnen ausdrücklich anerkannt worden ist, Realität nicht nur im außerkünstlerischen Wirkbereich, sondern vorwiegend auf der ästhetischen Ebene besitzt. […] Diese einseitige Betrachtung hat die Güterabwägung in ihrer Struktur beeinflußt und die Gerichte zu einseitigen Ergebnissen geführt: allein aus der Blickrichtung eines Leserpublikums, das den Inhalt des Romans für die Wirklichkeit nimmt, also dem Roman gegenüber eine nichtkunstspezifische Haltung einnimmt, haben sie Erscheinung und Verhalten der Romanfigur Hendrik Höfgen mit dem Persönlichkeitsbild von Gustav Gründgens so verglichen, als gehöre Hendrik Höfgen der realen Wirklichkeit an. [Nach dieser Rüge naiven Lesens fuhr Stein fort:] Die Beurteilung des Romans allein nach den Wirkungen, die er außerhalb seines ästhetischen Seins entfaltet, vernachlässigt das spezifische Verhältnis der Kunst zur realen Wirklichkeit. […] Ein Kunstwerk wie der Roman von Klaus Mann strebt eine gegenüber der realen Wirklichkeit verselbständigte ,wirkliche Wirklichkeit‘ an. […] Die künstlerische Darstellung kann deshalb nicht am Maßstab der Welt der Realität, sondern nur an einem kunstspezifischen, ästhetischen Maßstab gemessen werden. […] In der ästhetischen Realität ist […] alles […] freies, ,künstlerisches Spiel.‘29

Stein behauptete nicht nur, dass der Roman sich in einer anderen Realitätssphäre abspielte; er betonte auch, dass er in seiner ästhetischen Spezifik nur von einem kompetenten Publikum wahrgenommen werde, da der Roman heute nur noch auf das Interesse eines begrenzten, vor allem der Bildungsschicht angehörenden Leserkreises rechnen [kann], der weitgehend den Erfahrungsbereichen der Kunst nicht ungeschult gegenübersteht und weiß, daß ein Werk, das sich selbst als Roman bezeichnet, keinen Anspruch auf Wirklichkeitstreue im Sinne einer Dokumentation oder einer Biographie erhebt.30

In einem Punkt ging Bundesverfassungsrichter Stein fehl: Die Leserschaft des Romans war weit größer als er vermutete, nachdem das Buch 1981 de facto

29 Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 24.2.1971, S. 1649. 30 Ebd., S. 1652.

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freigegeben wurde – die Auflage erreichte eine halbe Million innerhalb weniger Jahre. Dies wäre aber wohl nicht geschehen, wenn Mephisto nicht vorher verboten gewesen wäre. Seit Jahrzehnten, wohl seit Jahrhunderten wissen Zensoren, dass sie mit ihrer Zensur Reklame für das Zensierte machen. Das war wohl auch ein Grund, warum deutsche Staatsanwälte und Richter in den 1960er Jahren aufgegeben haben, Literatur und Kunst zu verfolgen. Dies entspräche Döblins These: Eine ‚freilaufende‘ Kunst tummelt sich in ihrem eigenen, abgesonderten ‚Gehege‘ und bleibt von der breiten Gesellschaft unbeachtet – es sei denn, etwas wird zensiert, wodurch die Öffentlichkeit darauf aufmerksam wird. Diese kurze Erörterung von bekannten Literatur- und Kunstprozessen im Kaiserreich und in der Bundesrepublik hat gezeigt, dass Döblin nicht ohne Grund eine totale Freisetzung der Kunst mit ihrer (wie er sagte) ‚Verkrüppelung‘ gleichsetzte, und deswegen für die Kunst ‚ein Recht auf Strafe‘ proklamierte. Auch wenn man von seiner These nicht völlig überzeugt ist, muss man wohl doch seine Warnung ernst nehmen und die demonstrative Liberalität des Staates und die vermeintliche Macht der Kunst hinterfragen. Es ist kein Zeichen von Großzügigkeit – nur von taktischer Klugheit – wenn der Staat ein ungefährliches Tier laufen lässt; und eine Kunst, die so betrachtet wird – auch wenn sie sich Mühe gibt zu provozieren – ist mitunter zu bedauern. Zudem ist es nicht so leicht, Döblins These zu demontieren. Es ist oft einfacher festzustellen, warum bestimmte Schriften und Kunstwerke unterdrückt werden, als zu erklären, warum anderes frei zugänglich ist. Aber um Döblins These auszuhebeln, müsste man zumindest eine Frage beantworten können: Wie kann heutzutage eine Kunst aussehen, die es verdiente, bestraft zu werden?

Ernst Fischer

Schriftsteller als Hüter der Meinungsfreiheit Zensurdiskurse in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich seit den 1970er Jahren Schriftsteller fühlen sich seit jeher in besonderer Weise dazu berufen, in der Öffentlichkeit für die Freiheit des Wortes einzutreten, sind sie doch meist die Hauptbetroffenen von Maßnahmen der Kommunikationskontrolle. Allerdings treten sie in den Zensurdebatten keineswegs als bloße Propagandisten in eigener Sache auf, vielmehr entsprechen sie damit einem Rollenverständnis, das sich im 20. Jahrhundert verfestigt hat: Als Intellektuelle sehen sie sich zu Hütern und Verfechtern der allgemeinen Menschenrechte bestellt und betrachten es als eine ihrer vornehmsten Aufgaben darüber zu wachen, dass namentlich das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nicht durch Eingriffe politischer und anderer Instanzen eingeschränkt wird.1 Wenn nun die Schriftsteller als Anwälte gesellschaftlicher Freiheit und in dieser Eigenschaft auch als Diagnostiker gesellschaftlicher Unfreiheit verstanden werden können, so ließe sich thesenhaft die Erwartung formulieren, dass Verlauf und Intensität der von ihnen geführten Zensurdebatten nicht nur den Wandel in ihrem kollektiven Selbstverständnis reflektieren, sondern auch etwas über den Stand der Meinungsfreiheit in einer Gesellschaft aussagen. Die Rekonstruktion solcher Debatten erscheint unter dieser Prämisse durchaus lohnend und soll daher im Folgenden an einigen Beispielen aus der jüngeren Vergangenheit versucht werden. Das Exemplarische wird sich dabei insbesondere aus der vergleichenden Gegenüberstellung von Zensurdiskursen in Deutschland und in Österreich ergeben. Zu fragen ist, ob und welche spezifischen Diskursmuster sich jeweils ausgebildet haben und welche davon geeignet sind, unser Verständnis der Zensurproblematik auch im wissenschaftlichen Zusammenhang zu bereichern. In diachroner Perspektive, im Rückgang auf Debatten der 1970er und 1980er Jahre, wird sich zeigen, dass nicht nur

1 Vgl. Georg Jäger: „Der Schriftsteller als Intellektueller. Ein Problemaufriß“. In: Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. Hg. v. Sven Hanuschek, Therese Hörnigk u. Christine Malende. Tübingen 1999, S. 1–25. Auch als Online-Publikation zugänglich im IASLOnline Diskussionsforum, URL: http://www.iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/intel1.htm (Stand: 7.1.2011).

Zensurdiskurse

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der Zensurbegriff selbst, sondern auch die Sensibilität gegenüber den Bedrohungen der Meinungsfreiheit einem deutlichen Wandel unterliegt.

Zensurdiskurse in der Bundesrepublik: Die Vorgeschichte Zur Vor- und Frühgeschichte des bundesrepublikanischen Zensurdiskurses gehören im Prinzip schon die Erfahrungen mit der verfassungsmäßig garantierten Zensurfreiheit in der Weimarer Republik, mit dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes und, auf ganz andere Weise, nach 1945, mit der Informationspolitik der alliierten Militäradministrationen.2 Den natürlichen Anknüpfungspunkt bildet aber die Errichtung der Bundesrepublik Deutschland auf der Basis eines Grundgesetzes, das demonstrativ an die liberalen Traditionen der Paulskirchenbeschlüsse von 1848 und an jene der Weimarer Verfassung von 1919 anknüpfte. Wie schon in den 1920er Jahren sollte sich jedoch bald wieder eine Kluft zwischen Verfassungsideal und politisch-gesellschaftlicher Realität auftun, und diese Diskrepanzerfahrung avancierte in den Zensurdebatten erneut zu einer vorherrschenden Diskursfigur. Zu den Faktoren, die auf eine erneute Einschränkung der verfassungsmäßig garantierten Freiheit hingewirkt haben, gehörte zunächst schon die entschiedene Bindung der Bundesrepublik an das westliche Lager; die Spannungen mit dem Ostblock und namentlich die strikte Abgrenzung gegenüber der DDR gaben in den 1950er und 1960er Jahren Anlass zu scharfen Kontroll- und Verbotsmaßnahmen, die sich gegen alles richteten, was der Parteinahme für den Kommunismus verdächtig war (KPD-Verbot 1956, 100.000–150.000 staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren zwischen 1954 und 1956, faktische Zerschlagung des kommunistischen Pressewesens). Mit der Aufhebung der materiellen Zensurfreiheit wurden die Interventionsmöglichkeiten des Staates erneut wirkungsvoll demonstriert. Jenseits der weltpolitischen Spannungen im Kalten Krieg kam es in der AdenauerZeit aber auch zu einer Verschärfung des gesellschaftlichen Klimas im Lande.3 Charakteristisch dafür war die Anwendung der vom Bundestag 1953 verabschie-

2 Für einen summarischen Überblick über die Zensurepochen (mit Hinweisen auf Basisliteratur) vgl. Ernst Fischer: „Geschichte der Zensur“. In: Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. Hg. v. Joachim-Felix Leonhard u. a. Berlin 2000, S. 500–513. 3 Vgl. u. a. Stephan Buchloh: „Pervers, jugendgefährdend, staatsfeindlich“. Zensur in der Ära Adenauer als Spiegel des gesellschaftlichen Klimas. Frankfurt a. M. 2002.  





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deten gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend, auf deren Grundlage 1954 eine Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften eingerichtet wurde. Das Gesetz richtete sich mit guten Absichten gegen „unsittliche, verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhass anreizende, den Krieg verherrlichende Schriften“ und nahm Werke der Kunst und der Wissenschaft ausdrücklich aus; in der behördlichen Praxis wurden aber immer wieder über den Jugendschutz hinaus wirksame Verbreitungsbeschränkungen verhängt.4 Zwar setzte in den 1970er Jahren eine liberale Handhabung der Jugendschutzbestimmungen ein, doch kam es am Beginn der 1980er Jahre zu einer Welle von Beschlagnahmungen, zu hunderten Polizeieinsätzen u. a. gegen Bücher, die unter Pornographieverdacht gestellt wurden, so dass im September 1988 die Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT unwidersprochen erklären konnte, dass die Bundesprüfstelle zu einer „unfehlbaren Zensurbehörde“ herangewachsen sei, „deren Mitglieder freihändig von Bonner Politikern berufen werden und deren Sprüche endgültig sind.“5 Da die zum Schutz der Jugend indizierten Schriften in praxi auch Erwachsenen nicht mehr zugänglich waren, kam diese Form der Spezialindizierung einer Generalindizierung gleich; dies hatte bereits 1976 sogar der Verwaltungsgerichtshof festgestellt, der rückblickend von schweren Eingriffen in die Rechte der Verfasser und Verleger sowie von einer empfindlichen Beschränkung des Informationsrechtes für Erwachsene sprach. Einen schlagenden Beleg dafür lieferte Günter Grass’ Novelle Katz und Maus, die 1961 von hessischen Ministerialbeamten wegen Obszönität angezeigt worden war; Walter Jens, Hans Magnus Enzensberger und Joachim Kaiser mussten sich bemühen, den von der Anklage geleugneten Kunstcharakter nachzuweisen, bis der Antrag schließlich zurückgezogen wurde. Opfer von Verbreitungsverboten, die nicht auf dem Jugendschutz basierten, wurden Werke von Jean Genet oder Klassiker der erotischen Literatur wie Fanny Hill. Über die Verteidigung des Kunstcharakters literarischer Werke kamen nun allmählich Debatten in Gang, wobei in den 1960er und 1970er Jahren entscheidende Anstöße von Turbulenzen rund um die Aufführung von Werken Rolf Hochhuths, vor allem aber vom bekannten Fall des Mephisto-Romans von Klaus Mann ausgegangen waren.6  

4 Vgl. die in mehreren Beiträgen angesprochenen Problemfälle in dem Band: Literatur vor dem Richter. Beiträge zur Literaturfreiheit und Zensur. Hg. v. Birgit Dankert u. Lothar Zechlin. BadenBaden 1988. 5 Horst Albert Glaser: „‚Eine Zensur findet (nicht) statt‘. Über Pornographie, Jugendschutz und Verfassungsbeschwerden“. In: Die Zeit v. 23.9.1988, S. 53f. 6 Insbesondere zum Mephisto-Roman finden sich zahlreiche Hinweise auch im vorliegenden Sammelband.

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Von erheblicher zensurgeschichtlicher Relevanz waren indes auch die Radikalisierung der Studentenbewegung, die Herausbildung einer linken Gegenöffentlichkeit, das Auftreten einer außerparlamentarischen Opposition und schließlich der Terrorismus der ‚Roten Armee-Fraktion‘. Auf diese Entwicklungen antwortete der Staat 1968 mit einer Notstandsgesetzgebung und ab 1971/72 – vor allem durch den ‚Radikalenerlass‘ – mit weiteren Maßnahmen zur Rückgewinnung der Kontrolle. Polizeiliche Beschlagnahmungen in linken Buchhandlungen, Aktionen gegen Kleinverlage oder Druckereien und Kleinzeitschriften prägten das Bild jener Jahre. 1976 kam es zu einer markanten Verschärfung von Strafgesetzbestimmungen, in denen mit § 88a (Verfassungsfeindliche Befürwortung von Straftaten), § 126 (Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten), §130a (Anleitung zu Straftaten) und noch anderen Tatbeständen die Grenzen der Meinungsfreiheit im Sinne von Art. 5,2 des Grundgesetzes genauer gefasst wurden. 1977, im ‚Deutschen Herbst‘, kam es dann zu der vielleicht schwersten Krise der Bundesrepublik. Die Proteste der kritischen Linken, die das herrschende System schon zuvor unter allgemeinen Zensurverdacht gestellt hatte, blieben zwar ohne die erhoffte Wirkung, denn der Staat reagierte mit harten Gegenmaßnahmen, besondere Bedeutung gewann in dieser Situation aber die Haltung der Schriftsteller, die mit die Speerspitze des Protests bildeten und nicht wenig dazu beitrugen, dass der Diskurs über die Grundrechte, über Freiheit und Zensur in jenen Jahren, zwischen 1976 und 1980, eine neue Qualität gewann.

Zensurdiskurse in der Bundesrepublik: der Höhepunkt 1976–1980 Die Dichte der Diskussion ist in den zahlreichen einschlägigen Publikationen jener Jahre dokumentiert, u. a. mit dem von Henryk M. Broder herausgegebenen Band Die Schere im Kopf. Über Zensur und Selbstzensur7 von 1976; mit den von Freimut Duve, Heinrich Böll und Klaus Staeck zusammengestellten Briefen zur Verteidigung der Republik8 von 1977, denen 1978 Nachträge unter dem Titel Briefe zur Verteidigung der bürgerlichen Freiheit9 folgten; mit dem 1980 von Ingeborg Drewitz und Wolfgang Eilers edierten Taschenbuch Mut zur Meinung. Gegen die  

7 Die Schere im Kopf. Über Zensur und Selbstzensur. Hg. v. Henryk M. Broder. Köln 1976. 8 Briefe zur Verteidigung der Republik. Hg. v. Freimut Duve, Heinrich Böll u. Klaus Staeck. Reinbek b. Hamburg 1977. 9 Briefe zur Verteidigung der bürgerlichen Freiheit. Nachträge 1978. Hg. v. Freimut Duve, Heinrich Böll u. Klaus Staeck. Reinbek b. Hamburg 1978.

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zensierte Freiheit10 und dem im gleichen Jahr von Michael Kienzle und Dirk Mende bei Hanser herausgebrachten Versuch einer Zusammenschau Zensur in der BRD. Fakten und Analysen,11 die im darauffolgenden Jahr – bezeichnenderweise unter dem Titel Zensur in der Bundesrepublik12 – in einer neu bearbeiteten Taschenbuch-Ausgabe bei Heyne erschien.13 Alle diese Bände enthalten reichhaltiges Material zum Thema; Aufmerksamkeit verdient aber auch das 3. Internationale Russell-Tribunal ‚Zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland‘, das 1978/1979 in Deutschland tagte. In einer ersten Sitzungsperiode befasste es sich mit den Berufsverboten; eine zweite Sitzungsperiode fand vom 3. bis 8. Januar 1979 in Köln-Mülheim statt, um dort u. a. „die Einschränkung der Meinungsfreiheit mit dem Mittel verschieden ansetzender Zensur“ zum Gegenstand gerichtsförmiger Verhandlungen zu machen. Diese Verhandlungen sowie die Urteile der internationalen Jury sind in Publikationen des Rotbuch Verlags dokumentiert14 und sollen, als Beispiel eines besonders aufschlussreichen Diskurses, etwas genauer betrachtet werden. Das Russell-Tribunal war 1966 auf Initiative von Bertrand Russell und JeanPaul Sartre als internationales Vietnam-Kriegsverbrechen-Tribunal entstanden, hatte jedoch seine Tätigkeit nachfolgend auf die universelle Wahrung der Menschenrechte ausgedehnt. Dieser Intellektuellen-Gerichtshof war von Anfang an umstritten, erst recht das 3. Tribunal in Deutschland. Jürgen Habermas begründete in einem offenen Brief an Marion Gräfin Dönhoff seine Nichtteilnahme damit, dass die Institution zu viele Angriffspunkte biete:  

10 Mut zur Meinung. Gegen die zensierte Freiheit. Eine Sammlung von Veröffentlichungen zum Thema Zensur und Selbstzensur. Hg. v. Ingeborg Drewitz u. Wolfgang Eilers. Frankfurt a. M. 1980. 11 Zensur in der BRD. Fakten und Analysen. Hg. v. Michael Kienzle u. Dirk Mende. München, Wien 1980. 12 Zensur in der Bundesrepublik. Fakten und Analysen. Hg. v. Michael Kienzle u. Dirk Mende. München 1981. Bezeichnend ist hier im Titel die Nichtverwendung der Abkürzung BRD, die insbesondere rechtskonservativen Kreisen als Übernahme des DDR-Sprachgebrauchs gegolten hat. 13 Daneben war noch manche weitere kritische Dokumentation erschienen wie etwa: Eine Zensur findet nicht statt. Art. 5 GG. Dokumentation zu einer aktuellen Diskussion. Hg. v. der Arbeitsgemeinschaft der Verleger, Buchhändler und Bibliothekare in der Friedrich-Ebert-Stiftung – Gruppe Bibliothekare. Bonn 1978. 14 3. Internationales Russell-Tribunal. Zur Situation der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland. Hg. v. der Jury, dem deutschen Beirat und dem Sekretariat des 3. Internationalen Russell-Tribunals, Bd. 3. Gutachten, Dokumente, Verhandlungen der 2. Sitzungsperiode, Teil 1. Zensur. Berlin 1979. Vgl. auch ebd. Bd. 1. Dokumente, Verhandlungen, Ergebnisse. Berlin 1978, Bd. 2. Das Schlußgutachten der Jury zu den Berufsverboten. Berlin 1978 und Bd. 4. Gutachten, Dokumente, Verhandlungen der 2. Sitzungsperiode, Teil 2. Einschränkung von Verteidigungsrechten, Verfassungsschutz. Berlin 1979.  

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als selbsternanntes Tribunal; als Gericht über den Teil Deutschlands, in dem es so viel liberaler zugeht als in dem anderen Teil; und als Veranstaltung in einer Reihe von Tribunalen, die sich zuvor mit Vietnam und Südamerika [nämlich nach dem Chile-Putsch 1973] befasst hatten.15

Habermas war der Meinung, dass ein falscher Rahmen die richtige Sache politisch entwerte, rang sich aber doch zum Widerspruch gegen Marion Dönhoff durch, die das Tribunal als entbehrlich bezeichnet hatte. Was diese Veranstaltung so beachtenswert erscheinen lässt, ist jedoch genau diese Intention, einen scheinbar liberalen Staat vor der Weltöffentlichkeit auf die Anklagebank zu setzen, um ihn als Unrechtsstaat vorzuführen. Die im Tribunal zusammengeschlossenen Intellektuellen waren der Auffassung, dass sich eine Demokratie an ihren eigenen Ansprüchen messen lassen muss; als moralische Autoritäten wollten sie, wenn auch ohne jede Sanktionsgewalt, nicht nur die Berufsverbote, sondern auch die vielfältig beobachtbaren Formen von Zensur als fortgesetzte schwere Menschenrechtsverletzungen brandmarken, den Diskurs darüber internationalisieren und so die Bundesrepublik unter Druck setzen. Dass dieses Kalkül ernstgenommen wurde, zeigen Versuche aus Politik und Verwaltung, das Tribunal zu verhindern oder jedenfalls Experten und Zeugen von der Teilnahme abzuhalten.16 Als Berichterstatter bzw. Ankläger erschienen war u. a. Oskar Negt, der unter dem Titel Zensur trägt Züge einer Hydra den substanziellsten Beitrag zu dem Tribunal lieferte.17 Auch er setzt bei dem Zwiespalt zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit an, glaubt diesen aber nicht allein in Deutschland, son 

15 Jürgen Habermas: „Das ernstlich Fatale an diesem Tribunal ist, daß wir es brauchen“. In: Briefe zur Verteidigung der bürgerlichen Freiheit. Hg. v. Duve, Büll u. Staeck, S. 100–107, hier S. 101. Vgl. auch Russell-Tribunal, pro und contra. Dokumentation zu einer gefährlichen Kontroverse. Hg. v. Freimut Duve u. Wolf-Dieter Narr. Reinbek b. Hamburg 1978. 16 Vgl. 3. Internationales Russell-Tribunal. Hg. v. der Jury, dem deutschen Beirat und dem Sekretariat des 3. Internationalen Russell-Tribunals, Bd. 3 Teil 1, S. 10 (Eröffnungsrede des Präsidenten Vladmir Dedijer). Im Übrigen wurde das Ziel des Tribunals, die Öffentlichkeit für Probleme der Zensurbedrohung zu sensibilisieren, auch aus der Sicht der Beteiligten nicht erreicht: Im Vorwort dieses Teilbandes stellt die Jury mit Bedauern fest, dass das positive Echo „eher schwach schallte“; auch das negative Echo sei geringer ausgefallen als während der 1. Sitzungsperiode: „Verantwortlich dafür war und ist ein teils nachweisbarer, teils vermutbarer Konsens vieler amtlicher und halbamtlicher Stellen, das Russell-Tribunal, wenn man es schon nicht verhindern kann, doch wenigstens durch Nichtbeachtung leerlaufen zu lassen.“ (S. 6f.) 17 Oskar Negt: „Zensur trägt Züge einer Hydra“. In: 3. Internationales Russell-Tribunal. Hg. v. der Jury, dem deutschen Beirat und dem Sekretariat des 3. Internationalen Russell-Tribunals, Bd. 3 Teil 1, S. 17–34 (Diskussion S. 34–36).

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dern in fast allen Ländern und Gesellschaftsordnungen beobachten zu können. Bedenklich stimmt ihn allerdings die restriktive Auslegung des Bundesverfassungsgerichts, wonach vom grundgesetzlich verankerten Verbot der Zensur eigentlich nur die Vor-Zensur betroffen sei, wie sie staatliche Zensurbehörden früherer Epochen ausgeübt hätten. Genau diese Formen der Kommunikationskontrolle waren aber in seinen Augen im modernen Staat ohnehin irrelevant geworden; dieser kenne andere Methoden, um ein Klima der Verfolgung zu erzeugen, weshalb inzwischen das Problem der Zensur auf juristischer Ebene überhaupt nicht mehr zu fassen sei: „wer sich darauf einläßt, versinkt in eine Kasuistik von Fallbeschreibungen“.18 Das Problem Zensur verweise vielmehr auf einen gesellschaftlichen Gesamtzustand, in dem Zensur eine bestimmte Form der Einschränkung demokratischer Selbstorganisationsansätze der Menschen wie der kollektiven Artikulation ihrer Interessen und Bedürfnisse darstellt. Von diesem Gesamtzustand hängt es ab, welchen Stellenwert einzelne Zensureingriffe für den Prozeß der politischen Meinungsbildung und für die Aushöhlung der Bürgerrechte haben.19

Im Folgenden bezieht sich Negt daher auf den Begriff der ‚strukturellen Zensur‘, also auf ein umfassendes, vieldimensionales, gesamtgesellschaftliches Verständnis von Zensur – denn gerade in Deutschland, das keine stabilen und selbstbewussten demokratischen Traditionen kenne, sei Zensur nichts Isoliertes, das man, „abgetrennt von der Verteidigung aller anderen Grundrechte, ins Auge fassen und bekämpfen könnte“ Sie trägt die Züge einer Hydra, dieses vielköpfigen Schlangenwesens aus der Phantasiewelt der griechischen Mythologie; sobald ein Kopf abgeschlagen ist, wachsen unfehlbar zwei neue nach. Die giftigen Schlangenköpfe sitzen hierzulande überall und saugen, meist im Schutz institutioneller und rechtlicher Absicherungen, die demokratische Substanz der Gesellschaft aus. Unter diesen Bedingungen ist jede Institution auf dem Sprung, sich in eine Art eigene Zensurbehörde zu verwandeln: der Oberbürgermeister einer Kleinstadt ebenso wie der Verfassungsschutz; Intendanten eines Theaters oder einer Rundfunkanstalt ebenso wie Leiter von Bibliotheken, das städtische Ordnungsamt oder die Polizei. Die gefährlichste und, wo sie gelingt, bei weitem wirksamste Zensur besteht jedoch in den Angstreaktionen der Menschen, die in Selbstzensur enden, in der Furcht vor den Folgen des eigenen Wortes; besonders bedrohlich deshalb, weil ihnen durch ‚Verinnerlichung‘ der Zensurinstanz selbst noch der zweifelhafte Vorteil sich zu einem äußerlich bedrückenden, materiellen Objekt möglicher Auseinandersetzungen verhalten zu können, verloren gegangen ist.20

18 Ebd., S. 18. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 18f.

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Negt verweist darauf – und auch dies erscheint symptomatisch für die damals erreichte Stufe im Umgang mit dem Zensurthema –, dass „moralische Empörung, die sich an Einzelfällen entzündet und darauf beschränkt bleibt, nichts ausrichtet und eher geeignet ist, die Ohnmacht gegenüber diesen Erscheinungen zu verstärken“; es komme vielmehr darauf an, die Bedingungen aufzuzeigen, unter denen die beschriebene Vervielfältigung und Verlagerung der Zensur in die Gesellschaft der Bundesrepublik möglich geworden war.21 Negts politologische Analyse ergab in dieser Hinsicht, dass „eine in alle Poren des Lebens eindringende ‚Verstaatlichung‘ der Gesellschaft“ zum Kennzeichen der „gegenwärtigen Repressionsphase der Bundesrepublik“ geworden sei, begünstigt davon, dass „jene beiden bestimmenden, meist antithetisch gegeneinander stehenden Entwicklungslinien in der deutschen Geschichte, Rechtsstaat und Demokratie, wieder offen auseinandertreten“ und also „die stabileren Traditionen des preußischautoritären Rechtsstaates mit seiner schlagkräftigen Beamtenbürokratie gegenüber den demokratisch-liberalen Elementen sich durchzusetzen, sie aufzuzehren drohen.“ Dabei werde im Prozess der Verstaatlichung und auch der „Verrechtlichung“ der Verhältnisse der „Anschein erweckt, als gehe es hierbei ausschließlich um die Erhöhung der Rechtssicherheit der Bürger“.22 Für Negt war klar, dass solche Verschiebungen im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft spezifische krisenstiftende soziokulturelle Bedingungen haben. Zu diesen zählt er u. a. Arbeitslosigkeit und Erosionen des gesellschaftlichen Zusammenhalts (von Motivationskrisen der Jugendlichen bis zum Terrorismus), sowie den Verlust der kulturellen Hegemonie des konservativ-autoritären Lagers, letztlich auch eine aus „tiefsitzenden, antikommunistischen Vorurteilsstrukturen“ gespeiste Revolutionsfurcht, der er „der Tendenz nach das sozialpsychologische Potential einer kollektiven Paranoia“ unterstellt.23 Vor diesem Hintergrund könnten Aktivitäten unterschiedlichster Art – literarische Meinungsäußerungen, aber genauso kleine Akte zivilen Ungehorsams wie das Tragen einer Anti-Atom-Plakette im Schulunterricht – Anlass für Eingriffe in die persönliche Freiheit werden; die Anlässe seien letztlich beliebig auswechselbar, ja würden manchmal erst willkürlich herbeigeführt: „Durch diese Beliebigkeit der Anlässe entsteht eine offene Spirale der Sicherheitsvorkehrungen.“ Und gleichsam en passant streut Negt hier eine Definition von Zensur ein, die als eine Zwischenbilanz zu seinen vorangegangenen Überlegungen zu lesen ist:  

21 Ebd., S. 19. 22 Ebd., S. 20. 23 Ebd., S. 21.

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Zensur ist ein Herrschaftsinstrument, das dazu dient, das Symbolspektrum möglichen Denkens und kollektiven Verhaltens der Menschen einzuschränken, ihre eigene Erfahrungsfähigkeit zu fragmentieren und damit praktische und soziale Kontrolle über ihre Gesinnungen zu erlangen.24

Unter den gegebenen Umständen werde Zensur in erster Linie als indirekte Präventivzensur wirksam: sie richte sich nicht gegen Tatsachen, sondern gegen Tendenzen (wie dem Aufbau einer kritischen Gegenöffentlichkeit), nicht gegen Handlungen, sondern gegen Gesinnungen. Zensur habe die Aufgabe der Entpolitisierung oder Privatisierung, der Verdrängung gesellschaftlicher Konflikte, der Sicherung der Systemloyalität der Bürger, auch und gerade dann, wenn der gesellschaftliche Konsens durch wachsende Krisen für jedermann spürbar irreal werde und deshalb repressiv hergestellt werden müsse. An dieser Stelle nimmt Negt explizit Bezug auf Michel Foucault – womit er einen von vielen Belegen dafür liefert, dass die in Deutschland geführte Diskussion stark von dem französischen Poststrukturalisten beeinflusst ist. Ausgehend von Foucaults Feststellung, Herrschaft funktioniere nie global, sondern nur im Detail, müsse auch die Zensur in ihre Elemente zerlegt werden, um ihre spezifische Wirkungsweise studieren zu können. Negt tut dies anhand von verschiedenen Zensurmechanismen, u. a. der Selbstzensur, die er mit Peter Brückner „vorausschauenden Gehorsam“ nennt. Überraschenderweise zeigt er sich an dieser Stelle optimistisch: Selbstzensur sei einerseits zwar eine große Gefahr, andererseits könnten die durch Zensur erzeugten Ängste – wenn sie nicht Apathie gegenüber dem öffentlichen Geschehen bewirkten – „jederzeit in spontanen Protest und in Rebellion umschlagen.“ Für den dialektisch argumentierenden Negt weckten also gerade die von angesammelter Wut, Enttäuschung oder Kränkungen erzeugten Protestpotenziale die Hoffnung auf eine zukünftige Rückeroberung politischer Räume. Ihm selbst erschien dieser Ansatz zur Verknüpfung der Selbstzensur-Thematik mit dem Zensurmechanismus des Sprach- und Symbolverbots deshalb so erhellend, weil darin der systematische Ort der Literaturfreiheit in einem Klima der Repression zutage trete. Denn wie schon Immanel Kant in der ‚Freiheit der Feder‘ das einzige, deswegen unverzichtbare Palladium der Volksrechte erkannt habe, so sei noch heute Zensur als Form der Gegenaufklärung „auf die allgemeine Entmutigung [gerichtet], sich der eigenen Sprache und der orientierenden Symbole, als den entscheidenden Medien des Selbst- und Wirklichkeitsverständnisses des Menschen, angstfrei zu bedienen“.25 An diese Einsicht  

24 Ebd., S. 23. 25 Ebd., S. 32.

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schließt Negt eine Kapitalismuskritik an, die an Treffsicherheit seither eher noch gewonnen hat: Wo kritische Sprache und Symbole keine Öffentlichkeit mehr fänden, dagegen aber „die Bilder der Warenästhetik die Umwelt bestimmen, dann ist der Zustand erreicht, in dem eine Gesellschaft die Reste ihrer politischen Kultur verloren hat. Der Weg ist nicht weit, den Begriff Zensur selber unter Zensur zu stellen.“26 Überhaupt überzeugen viele Überlegungen Negts durch ihre unverminderte Aktualität, ebenso wie durch ihre Sensitivität gegenüber den vielfältigen Erscheinungsformen struktureller Zensur. Wichtigstes Resultat dieser auf hohem Reflexionsniveau angesiedelten, hervorstechend nichttrivialen Analysen war ein „erweiterter Zensurbegriff“, der sich nicht mehr aus den historischen Erfahrungen vergangener Jahrhunderte speist, sondern den Verhältnissen in den komplexen modernen Gesellschaften gerecht zu werden sucht, wie sie sich – nach widersprüchlich oder katastrophenhaft verlaufenen Prozessen – im 20. Jahrhundert herausgebildet haben. Gestützt wurde dieser erweiterte Zensurbegriff auch von anderen Berichterstattern des Tribunals, die Bereiche wie Literatur, Theater, Schule, die Medien u. a. m. fokussierten. Dieter Richter etwa, der Negt in mehreren Punkten sekundierte, betonte in seinen Ausführungen zum Thema Literaturfreiheit und Zensur, dass das Recht der freien Rede  

kein borniertes Recht von Schriftstellern und Künstlern [sei:] Es ist im Konstitutionsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft als Teil der allgemeinen Menschenrechte reklamiert und erkämpft worden. Die europäischen Aufklärer und radikalen Demokraten haben dieses Recht als ‚Naturrecht‘ gegenüber ‚gesetztem Recht‘ beansprucht.27

Diese Verklammerung der Literaturfreiheit mit der Menschenrechtsproblematik, die Weigerung, die Frage der literarischen Zensur abgetrennt von der gesellschaftlichen Gesamtproblematik zu behandeln, markiert gleichsam den archimedischen Punkt der Debatte. Ihre Teilnehmer wollten damit auch von der bis dahin vorherrschenden Fixierung auf den Einzelfall wegkommen, um desto entschiedener die Aufmerksamkeit auf die großen, politisch-historisch-soziologisch begreifbaren Zu-

26 Ebd., S. 33. 27 Dieter Richter: „Literaturfreiheit und Zensur“. In: 3. Internationales Russell-Tribunal. Hg. v. der Jury, dem deutschen Beirat und dem Sekretariat des 3. Internationalen Russell-Tribunals, Bd. 3 Teil 1, S. 36–44, hier S. 42. Richter zufolge kämen Rede- und Veröffentlichungsverbote Denkverboten gleich, erst recht im Bereich der Literatur, die Richter als „Ausdruck subjektiver Differenzerfahrung gegenüber der etablierten Ordnung“ betrachtet: D.h. der Schriftsteller beschreibt nicht nur die Verhältnisse, sondern er schreibt immer auch gegen die bestehenden Verhältnisse an, was ihn unweigerlich in Konflikt mit der Macht bringen müsse. Dieses ideologisch verengte Literaturverständnis war nun klar dem Zeitgeist geschuldet.

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sammenhänge zu lenken. Übrigens beruht auch die in dem Band Zensur in der Bundesrepublik verfolgte Linie explizit darauf, dass es eben nicht um die „spektakuläre Zensur“ gehe, sondern um die Erscheinungsweisen „struktureller Zensur“, die auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Alltags zu beobachten seien – wie allein schon ein von den Herausgebern angelegtes Archiv von ca. 2.800 Zensurfällen beweise.28 Institutionelle Zensur wurde als minder bedeutsam angesehen im Vergleich beispielsweise zur Kontrolle von Öffentlichkeit durch Kapital- und Medienkonzentration oder zu der Unfreiheit, die durch Sanktionen gegenüber Autoren in Gestalt von ökonomischen Nachteilen und sozialer Stigmatisierung entsteht. Als zentrales Anliegen dieses Bandes wird aber die Beschreibung von Zensur als Diskurskontrolle, als Ausübung semantischer Herrschaft benannt – einmal mehr wird so die Auseinandersetzung mit Problemen gesellschaftlicher Unfreiheit zu einer Domäne der Schriftsteller und Intellektuellen, als den Hütern des Wortes, erklärt.

Der Zensurdiskurs in Österreich Wie stellte sich der Verlauf der Zensurdebatten in Österreich dar? Hier ist zunächst von deutlich anderen politischen Rahmenbedingungen auszugehen: In Österreich wirkte die Erfahrung des Nationalsozialismus lange nicht so einschneidend nach wie in Deutschland, zumal sich das Land erfolgreich als ‚erstes Opfer‘ des Hitler-Expansionismus geriert und den Mantel des Vergessens über diese Zeit gebreitet hatte. Nicht annähernd so ausgeprägt war hier auch der Antikommunismus, unmittelbar nach dem Krieg waren die Kommunisten sogar für kurze Zeit an der Regierung beteiligt, und auch später war die KPÖ, die bei den ersten Wahlen zu einer unbedeutenden Größenordnung geschrumpft war, nie verboten. Dieser Nährboden für die Heranziehung einer neuen ‚Zensur-Hydra‘ fehlte also fast zur Gänze. Durch die Verpflichtung auf die immerwährende Neutralität 1955 war Österreich auch nicht in gleichem Maße als ‚Frontstaat‘ in den Kalten Krieg involviert, vielmehr suchte das Land in der Ost-West-Konfrontation eine vermittelnde Funktion zu entwickeln. Durchaus vergleichbar war dagegen das restaurative gesellschaftliche Klima der 1950er und 1960er Jahre, wobei die österreichischen Künstler lustvoll die Grenzen überschritten, die ihnen Kulturtradition und soziale Normen setzen wollten – man denke an die Wiener Gruppe und an den Wiener Aktionismus oder die legendäre Aktionsveranstaltung ‚Kunst und Revolution‘ an

28 Zensur in der Bundesrepublik. Hg. v. Kienzle u. Mende, S. 7f.

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der Wiener Universität 1968.29 Dementsprechend fehlte es auch nicht an Eingriffen staatlicher Organe. Dagegen gab es in Österreich keine 68er Bewegung, die diesen Namen verdiente; die Modernisierung der Gesellschaft wurde hier von ‚oben‘ organisiert, vor allem unter der Alleinregierung von Bruno Kreisky 1970– 1983, mit der eine Atmosphäre von Liberalität entstand, die ihrerseits wieder zur vertieften Auslotung der Freiheitsräume einlud. Paradigmatisch für diese Situation war der Skandal rund um die Staatsoperette, ein 1977 im Österreichischen Fernsehen gesendeter Film von Franz Novotny und Otto M. Zykan, der die österreichische Zwischenkriegszeit bis zum Bürgerkrieg 1934 – eine noch nicht geschlossene Wunde der jüngeren Nationalgeschichte – satirisch in Form einer Operetten-Persiflage behandelte und für große Aufregung sorgte, in kirchlichen und politischen Kreisen ebenso wie in der Bevölkerung.30 Ein bemerkenswertes Zeichen setzte die Kreisky-Regierung jedoch am 12. Mai 1982, als sie – im Grunde ohne äußeren Anstoß – der österreichischen Bundesverfassung einen neuen § 17a einfügte, der die besondere Freiheit der Kunst deklarierte: „Das künstlerische Schaffen, die Vermittlung von Kunst sowie deren Lehre sind frei.“ Das bedeutete gegenüber der bisherigen Rechtslage zwar kein neues Grundrecht, aber eine Loslösung der Kunstfreiheit von der Meinungsfreiheit und einen eigenständigen Schutz jeder Form künstlerischen Schaffens, und zwar ohne jeden Vorbehalt. Diese demonstrative Geste (die sich freilich auch als ein Statement des Staates zur angenommenen Wirkungslosigkeit der Kunst deuten ließ) konnte gleichwohl nicht verhindern, dass in den darauf folgenden Jahren, nach Ende der Ära Kreisky, eine ganze Reihe obrigkeitlicher Eingriffe für eine deutliche Klimaveränderung sorgten: 1983 durch ein österreichisches Aufführungsverbot von Herbert Achternbuschs Film Das Gespenst, 1985 durch Inkriminierung des Films von Werner Schroeter über Oskar Panizzas Liebeskonzil, durch Thomas Bernhard-Provokationen (1985 Alte Meister und Der Theatermacher, 1984 Holzfällen, 1988 Heldenplatz) und manches mehr.31 Unabweislich, aber rund zehn Jahre zeitversetzt, kam es dann auch in Österreich zu einer intensiven Zensurdebatte.

29 Vgl. Ernst Fischer u. Georg Jäger: „Von der Wiener Gruppe zum Wiener Aktionismus – Problemfelder zur Erforschung der Wiener Avantgarde zwischen 1950 und 1970“. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880–1980). Hg. v. Herbert Zeman. Graz 1989, Teil 1, S. 617–683. 30 Staatsoperetten. Kunstverstörungen. Das kulturelle Klima der 1970er Jahre. Hg. v. Evelyne PoltHeinzl. Wien o. J. [2010]. 31 Vgl. die Dokumentation von Gerhard Ruiss u. Johannes Vyoral: Der Zeit ihre Kunst. Der Kunst ihre Freiheit. Der Freiheit ihre Grenzen? Zensurversuche und -modelle der Gegenwart. Wien 1990.

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Im November 1988 veranstaltete die IG Autoren – die maßgebliche Interessenvertretung der österreichischen Schriftstellerschaft – eine Enquete ‚Der Zeit ihre Kunst. Der Kunst ihre Freiheit. Der Freiheit ihre Grenzen?‘; an fünf Tagen wurde jeweils eine Debatte mit je ca. 15–20 Vertretern aus Literatur, Kunst, Politik, Recht, Medien, Verlagswesen und Presse abgehalten.32 Die Themenschwerpunkte lauteten: Zensur und Rechtsprechung, Ökonomische Zensur, Zensur und Verwaltung, Zensur und Gesetzgebung, Die Schere im Kopf. Unter den geladenen Gästen befanden sich Schriftsteller und Künstler wie Peter Turrini, Hubert Kramar oder Marie-Thérèse Kerschbaumer, aber auch zahlreiche Vertreter von Einrichtungen, denen unterstellt wurde, direkt oder indirekt Zensur auszuüben: Abgeordnete des Nationalrats, unter ihnen die Justizsprecher der großen Parteien, die zuständige Bundesministerin, daneben Staatsanwälte, Ministerialbeamte, Rundfunkintendanten, Kolumnisten der meinungsmonopolistischen Kronen-Zeitung und nicht zuletzt die landesweit bekannten Exponenten eines Illiberalismus, wie der sogenannte ‚Porno-Jäger‘ Martin Humer, der Österreich über Jahrzehnte hinweg mit ungezählten polizeilichen Anzeigen überzogen hatte, und der kaum weniger berüchtigte Bischof Kurt Krenn, der damals in der katholischen Kirche Österreichs ex officio für die Bereiche Kunst und Wissenschaft zuständig war. Die Enquete beruhte somit auf einem eher ungewöhnlichen Konzept: Die von Zensurmaßnahmen tatsächlich oder potenziell Betroffenen setzten sich mit den Repräsentanten staatlicher, kirchlicher, institutioneller und publizistischer Macht zusammen, um sie mit ihren Anklagen zu konfrontieren und sie zur Stellungnahme zu zwingen. Diese Stellungnahmen erfolgten denn auch, überwiegend in einer Mischung aus Anbiederung und kühler Zurückweisung der Autorenstandpunkte; die später im Druck erschienenen Protokolle sind ein aufschlussreiches Dokument dieses Kommunikationsexperiments. Immer wieder und in großer Menge wurden Fallbeispiele genannt: wie Politiker ihre Stellung für die Verfolgung der ungeliebten oder auch rückhaltlos gehassten kritischen Autoren missbrauchten; wie Subventionen an Literaturzeitschriften, Theater etc. als Druckmittel verwendet wurden; wie auf dem Verwaltungsweg oder mittels Gewerbeordnung Auftritte verhindert wurden; wie sich die Machtkonzentration der Presse ausgewirkt oder wie der ORF seine Rolle als wichtiger Arbeitgeber der Schriftsteller ausgenützt hat. Das alles lieferte aufschlussreiches Anschauungsmaterial, doch bestätigten sich hier die Bedenken, wie sie Oskar Negt gegenüber einer kasuistischen Be-

32 Enquete Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit, der Freiheit ihre Grenzen? Redaktion: Gerhard Ruiss u. Johannes Vyoral unter Mitarb. v. Karin Kinast. Wien 1989.

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trachtung des Zensurproblems gehegt hatte. Die Debatten nahmen ihren vorhersehbaren Verlauf: Die Ankläger verfielen in Empörung, die Angeklagten in Verteidigungshaltung; in Redebeiträgen von z. T. bedenklichem Niveau wurden Quisquilien ausgebreitet, gegenseitige Aggressionen wurden nur mühsam unterdrückt; eine Reflexion grundsätzlicher Aspekte gelang allenfalls in Ansätzen. Der Veranstalter Gerhard Ruiss, Geschäftsführer der IG Autoren, bekannte selbst: „Unser Ansatz war daher zu versuchen, unseren Freiheitsbegriff aus der Situation heraus zu artikulieren, was sicherlich problematisch ist.“ Er stellte aber weiter fest: „Sinn dieser Enquete ist der Diskurs über Freiheitsbegriffe, über Zensur, über Frei- und Spielräume, weil dieser Diskurs einfach nicht stattfindet.“33 Unter einer solchen Perspektive wird man dieser fünftägigen Intensivkonfrontation das Verdienst nicht absprechen können, erstmals in der österreichischen Zweiten Republik eine Zensurdebatte mit möglicherweise kathartischer Wirkung in Gang gesetzt zu haben. Vor allem aber kann die Enquete im Sinne Foucaults als Versuch der Schriftsteller gewertet werden, die Diskursherrschaft an sich zu reißen. Eingedenk der von Foucault in L‘ordre du discours 1972 ausgearbeiteten These, dass Diskurse die Machtverhältnisse nicht bloß abbilden, sondern dass es bei Kämpfen um die Macht genau um die Beherrschung dieser Diskurse selbst geht, suchte die organisierte Autorenschaft als Gastgeber dieser Diskussionsrunden die Sprache vorzugeben, in der das Zensurproblem zukünftig zu behandeln sein würde. Vielleicht waren die Autoren als Anwälte in eigener Sache nicht beredt genug, um einem solchen, auf Erlangung der Diskurskontrolle gerichteten Plan durchschlagende Wirkung zu sichern. Dennoch handelte es sich bei dieser Veranstaltung um einen bemerkenswerten Versuch, den Diskurs nicht bloß im eigenen Lager (und damit mit absehbarer Wirkungslosigkeit) zu führen, sondern die Vertreter der Macht in diesen mit einzubinden. Die Politiker sollten, um wieder mit Foucault zu sprechen, in ihrer „Logophobie“ vorgeführt werden, jener „stumme[n] Angst […] vor allem, was es da Gewalttätiges, Plötzliches, Kämpferisches, Ordnungsloses und Gefährliches gibt, vor jenem großen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses“.34 Auf ein höheres Reflexionsniveau war der Zensurdiskurs auf diese Weise allerdings nicht zu heben. Rein fallbezogen blieb die Betrachtungsweise auch in den nachfolgenden Initiativen der IG Autoren.35 Generell blieb man in Österreich  

33 Ebd., S. 94. 34 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. München 1974, S. 34f. 35 1990 erschien, in expliziter Fortsetzung der Enquete-Dokumentation, ein von der IG Autoren herausgegebener Band, nochmal mit dem Titel Der Zeit ihre Kunst. Der Kunst ihre Freiheit. Der Freiheit ihre Grenzen?, diesmal mit dem Untertitel Zensurversuche und -modelle der Gegenwart (vgl. Anm. 31). Es handelt sich um eine mit genauen bibliographischen Hinweisen angereicherte

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stärker auf den Zensurskandal fixiert, der landesüblich immer mit einer gewissen Lust am Spektakel, an der Theatralisierung von zensurellen Eingriffen zelebriert wird. Dass die künstlerische Normverletzung in Österreich einen anderen, fast folkloristischen Stellenwert hat, findet seinen Ausdruck auch darin, dass die früher so heftig abgelehnte und auch justiziell verfolgte Kunst heute als „Staatskunst“ gilt – sei es die Wiener Gruppe, etwa mit Gerhard Rühm, der Wiener Aktionismus mit Günter Brus, Otto Mühl, Hermann Nitsch oder die benachbarte AvantgardeRichtung von Peter Weibel und Valie Export –, allesamt hochprämiert, haben manche von ihnen in den vergangenen Jahren eigene Museen erhalten. Mit Recht ist daher (am prägnantesten von Robert Menasse) auf die Identität von „Staatsfeind und Staatskünstler“ hingewiesen worden, insofern hier radikale Ablehnung des Staats und Alimentierung durch den Staat eine gut funktionierende Symbiose eingehen.36 Letztlich kann man in der staatsoffiziösen Umarmung der ehemaligen Normverletzer einen Triumph der eingeschlagenen Strategie erkennen: dass nämlich die so heftig bekämpfte Avantgarde die Diskurshoheit am Ende doch errungen hat. In der Langzeitperspektive entscheidet sich die Konfrontation mit der Repression und den politischen Mächten doch immer zugunsten der Kunst.

Zur Aktualität des Themas Kommunikationskontrolle in der Gegenwart Welchen Status hat der schriftstellerische Zensurdiskurs heute? Gibt es ihn, und falls nicht, was sind die Gründe dafür? Ist die Bedrohung der geistigen Freiheit verschwunden, oder die Bereitschaft, darüber zu diskutieren? Zweifellos bewegen wir uns in gesellschaftlichen und kulturellen Ordnungen, die uns subjektiv das Gefühl geben, in einer Welt zu leben, die so frei noch nie gewesen ist. Sollte es sich aber bei dieser Wahrnehmung um einen Trugschluss handeln, dann könnten sich die Zensurdebatten früherer Jahrzehnte als ein wertvolles Instrument erweisen, um diesen Trugschluss aufzudecken. Namentlich die von Oskar Negt vorgenommenen Analysen lassen sich vielfach passgenau auf ganz aktuelle Konstel-

Dokumentation von elf Skandalen. Die modellhafte Betrachtung bleibt allerdings dem Leser überlassen, denn neben einer kurzen Vorbemerkung der Herausgeber finden sich keine Analysen oder Bewertungen; das ausgebreitete Material, Ergebnis achtjähriger Beobachtung, sollte für sich sprechen. Vgl. auch An der Grenze des Erlaubten. Kunst und Zensur in Österreich. Klagenfurt, Celovec. Ein Projekt des Universitätskulturzentrums Unikum 1996. 36 Vgl. u.a. Robert Menasse: Das war Österreich. Gesammelte Essays zum Land ohne Eigenschaften. Frankfurt a.M. 2005, passim.

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lationen anwenden, denn viele Probleme sind ungelöst, manche haben sich verschärft. Nach wie vor behaupten Tageszeitungen mit bedingungslos populistischer Ausrichtung in Deutschland und in Österreich ihre demokratiepolitisch bedenklichen Positionen, und insgesamt hat die Macht der Medien weiter zugenommen. Weniger denn je wird man die Redaktionen von Presse, Rundfunk und Fernsehen als Horte individueller Gedankenfreiheit betrachten wollen, zumal Zensur heute nicht als Kommunikationsverhinderung auftritt, sondern in Gestalt mehr oder weniger subtiler Bewusstseinslenkung. Als Mediennutzer sind wir täglich den von Apparaten oder Lobbyisten gesteuerten Desinformationskampagnen ausgesetzt; die Methoden ‚positiver Kommunikationskontrolle‘ wurden inzwischen perfektioniert. Ebenso wenig wird man daran zweifeln können, dass sich in einem ökonomischen System, das allen Krisen zum Trotz seinen Anspruch auf Beherrschung der gesamten Lebenswelt heute ungebremster zur Geltung bringt als noch vor dreißig Jahren, die vielfältigen Formen struktureller Zensur – z. B. durch die selektiven Effekte von Märkten – gravierender auswirken denn je. Auch sind zu den bisher bekannten Bedrohungen der informationellen Grundrechte zahlreiche neue hinzugekommen, vor allem durch innovative Kommunikationstechnologien. Schon hat sich die Hoffnung zerschlagen, dass mit dem Internet eine wahrhaft demokratische Gegenmacht, ein Bollwerk der publizistischen Freiheit entstanden sein könnte, denn wir wissen inzwischen um die Kontrollierbarkeit und Manipulierbarkeit des Netzes und seiner diversen Dienste, auch um die damit einhergehende Fragmentierung der Öffentlichkeit und deren weit reichende Folgen. Noch weitgehend unbegriffen ist aber, wie Zensur qua Technik von großen Unternehmen praktiziert wird, über Geschäftsmodelle, die – wie im Falle von Apple – mit einer bestimmten, vom Publikum begehrten Hardware auch eine Kontrolle der Contents ermöglichen, indem sie nur geprüfte und genehmigte Inhalte zulassen und Unerwünschtes einfach aus ihren Verbreitungskanälen ausschließen – die von Amazon genutzte Möglichkeit, George Orwells 1984 und Animal Farm von den Kindle eReadern zurückzuziehen, war in jeder Hinsicht ein Fanal. Beunruhigen kann auch die Beobachtung, dass heute zwar allgemein bekannt ist, in welchem Umfang sich neben den großen InternetUnternehmen wie Microsoft auch Social Networks wie Facebook als Datensammler betätigen, dass aber nur wenige daraus Konsequenzen ziehen. Und von niemandem ernsthaft gehindert, strebt Google eine weltweite Monopolstellung in der Informationsbereitstellung an. Schließlich erleben wir auch, wie unter dem Vorwand eines ‚Krieges gegen den Terror‘ weltweit die Bürger- und Menschenrechte systematisch ausgehöhlt und eingeschränkt werden. Damit wiederholen sich, wie in den 1970er Jahren, aber jetzt im internationalen Maßstab, hysterische Reaktionen staatlicher Organe; mit Maßnahmen wie Vorratsdatenspeicherung, Online-Durchsuchung (‚Bundes 

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trojaner‘), biometrischem Reisepass, Videoüberwachung etc. entstehen aber auch perfekter denn je Grundlagen eines Überwachungsstaates.37 Widerstand gegen diese Maßnahmen, mit denen nun Freiheit gegen ‚Sicherheit‘ eingetauscht werden soll, gibt es kaum. Wie unempfindlich die Gesellschaft inzwischen geworden ist, lehrt der Blick auf die vergleichsweise harmlose Volkszählung in Deutschland, die 1983 durch eine massive Protestbewegung (an deren Spitze sich damals auch ein Günter Grass gefunden hat) verhindert wurde und erst 1987 unter teilweisem Boykott durchgeführt werden konnte. Zu fragen ist aber auch, ob nicht vielleicht die Gesellschaft, die Oppositionellen damals hypersensitiv gewesen sind. Ist der Zensurdiskurs jener Epoche als Ausdruck intellektuellentypischer Idiosynkrasien zu werten, handelte es sich um unangebrachten Alarmismus? Der Verdacht liegt nahe, dass es ein durch und durch utopischer Freiheitsbegriff war, der die Zeit beherrschte, und dass – wie auch im Ideal einer ‚antiautoritären Erziehung‘ – die Notwendigkeit von Normen für das Zusammenleben von Menschen nicht ausreichend mitreflektiert worden sind. Oder haben die Kassandren jener Zeit Recht behalten: Hat sich im Grunde alles so erfüllt wie befürchtet, ist also eine neue ‚Zensur-Hydra‘ entstanden – nur dass wir heute die uns auferlegten Einschränkungen der Freiheitsräume aus Blindheit oder Alternativlosigkeit akzeptieren? Leben wir in schweigender, wenn auch vielleicht verzweifelter Zustimmung zu unserer Deformation?38 Oder fehlt es heute nur an jenen kritisch-intellektuellen Geistern, die uns entsprechend wachrütteln? Der ideologiekritische Eifer oder auch Übereifer, der die Zensurdiskurse um 1980 kennzeichnet, ist uns heute fremd geworden und verdient, da selbst ideologisch, eine Betrachtung aus gehöriger Distanz. Und dennoch: Vieles deutet darauf hin, dass Schriftsteller damals tatsächlich wacher gewesen sind, offener für die Wahrnehmung latenter Gefährdungen der Freiheit. Aber, so könnte man an dieser Stelle einwenden, es gibt doch Autoren, die ihr gesellschaftliches Wächteramt engagiert ausüben! In der Tat zielt das im August 2009 von Ilija Trojanow und Juli Zeh im Hanser Verlag publizierte Buch Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte ganz direkt darauf ab, ein Bewusstsein über die aktuellen Gefährdungen zu erzeu-

37 Vgl. etwa Matthias Becker: Datenschatten. Auf dem Weg in den Überwachungsstaat? Hannover 2010. 38 Diese Formulierung lehnt sich an Überlegungen J. G. Herders an, die von H. Reinhardt referiert werden. Vgl. Hartmut Reinhardt: „‚… man weiß nicht, was man schreiben darf …‘. Die Weimarer Klassik und die Zensur: zwei Fallstudien zu Schiller und Herder“. In: Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis. Hg. v. Wilhelm Haefs u. York-Gothart Mix. Göttingen 2007, S. 203–223, hier S. 213.

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gen.39 Das Buch wurde vielfach rezensiert, Autorin und Autor wurden in den Medien herumgereicht, es hat also seinen medialen Kreislauf, später auch als Taschenbuch, kommerziell einigermaßen erfolgreich durchlaufen. Dem Erfolg korrespondierte aber eine bemerkenswerte Folgenlosigkeit, denn eine diskursstiftende Wirkung hat die Publikation nicht erzielt; insbesondere haben sich Schriftstellerkollegen nicht in die Debatte eingeschaltet.40 Am Autorenteam hat es nicht gelegen – beide sind Sympathieträger in der Welt der Literatur und absolut glaubwürdige Vertreter ihres Anliegens, als ausgebildete Juristin bringt Juli Zeh zusätzliche Fachkompetenz ein. In ihrer Kollegenschaft ist aber kaum noch die Neigung vorhanden, Diskussionsangebote wahrzunehmen oder gar sich zur Vertretung ideeller Anliegen zusammenzuschließen. Das Resümee kann im Blick auf diese Entwicklungen nur lauten: Die Schriftsteller sind in den wichtigen gesellschaftlichen Fragen keine Instanz mehr, sie haben ihre moralische Sprecherrolle verloren, sind nicht mehr kampagnenfähig. So scheint sich also der Befund einer „Intellektuellendämmerung“ zu bestätigen, der schon seit einiger Zeit in Umlauf ist.41 Die Begründungen für den offensichtlichen gesellschaftlichen Funktionsverlust der Schriftsteller erscheinen allesamt plausibel: die zunehmende Einbindung der Intellektuellen in Medienapparate und ihre Degradierung zu Entertainern; das Ende aller Utopien und das Scheitern globaler Ideologien; der Eintritt in ein Zeitalter des Wertepluralismus und Kulturrelativismus; die Herausbildung einer „Erlebnisgesellschaft“, die dem Intellektualismus grundsätzlich abträglich ist; der mediale Umbruch, der den klassischen Intellektuellen als typisches Produkt der Druckkultur ablöst durch den Netz-Intellektuellen, der in seinen Blogs nur noch Partial- oder Mikroöffentlichkeiten bedient; schließlich die Absolutsetzung des Ökonomischen, die jede Form moralischer Argumentation zu einem Störfaktor werden lässt. Im Rückspiegel wird es deutlich: Heute geht es vor allem um die Präsenz auf dem Markt, auf dem jeder für sich sein Glück sucht; dort zählt in erster Linie der Unterhaltungswert, gelegentliche Eingriffe von Gerichten werden daher als spannungsförderndes Element einer Inszenierung aufgenommen. Dagegen existiert kaum noch eine Öffentlichkeit, in der mit Mut und intellektueller Ernsthaftigkeit ein Diskurs über die schwindenden Freiheitsgrade unserer gesellschaftlichen Ordnung in Gang gebracht werden kann.

39 Ilija Trojanow u. Juli Zeh: Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte. München 2009. 40 Dem Hanser Verlag danke ich an dieser Stelle für die Zusendung der Pressedokumentation zu dem Buch von Trojanow und Zeh. 41 Vgl. zum Folgenden Jäger: Der Schriftsteller als Intellektueller, Kap. 4. „Intellektuellen-dämmerung?“ Ausblick auf die Mediengeschichte des Intellektuellen.

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Dort die Genossen, hier die Quote? Jurek Becker zu Zensur in Ost und West Als Grenzgänger zwischen DDR- und bundesdeutscher Literatur hatte Jurek Becker es mit denkbar unterschiedlichen Zensurformen zu tun. Grund genug, zwei Phasen seiner Laufbahn in Beziehung zu setzen: Zunächst skizziere ich die Drangsalierungen in der DDR, die den Autor 1977 zur Übersiedelung in die Bundesrepublik bewegten. Anschließend geht es darum, wie Becker die Effekte der DDR-Zensur nach 1989 resümierte und wie sich der Rückblick zu seinen Einschätzungen des westdeutschen Kulturbetriebs verhielt. Erinnernswert sind die Stellungnahmen des viel zu früh verstorbenen Erzählers nicht nur, weil sie die Auswirkungen der im Realsozialismus erlebten, formellen Zensur anders schilderten, als westdeutsche Leser es von Christa Wolf gewohnt waren. Dank seines couragierten Umgangs mit den Aufpassern der SED, des dadurch gewonnenen symbolischen Kapitals, konnte Becker es sich leisten, auch die in einer pluralistischen Demokratie wie der Bundesrepublik gängigen informellen Zensurformen anzusprechen. Dabei war/ist weder seinen Beobachtungen noch denen des Verfassers daran gelegen, die Verhältnisse in Ost und West auf eine Stufe zu stellen. Die subtileren Beschneidungen literarischer Meinungsfreiheit verweisen lediglich auf eine terminologische bzw. analytische Notwendigkeit. Die kurrente Definition des Begriffs ‚informelle Zensur‘ – Vorbehalte, die „mit Hilfe psychologischen, ökonomischen, politischen oder sonstigen sozialen Druckes“1 geltend gemacht werden – bedarf der Konkretisierung und Nuancierung. Worin genau kann solcher Druck bestehen, ab welchem Punkt ist er Zensur zu nennen, wann noch nicht? Ein Überdehnen der Rede von informeller Zensur ist wenig hilfreich, es kann nur dazu führen, den Terminus suspekt zu machen. Was eine ungute Folge wäre, denn wir sind auf ihn angewiesen, um neben administrativen Zwangshandlungen auch marktbezogene Pressionen beschreiben zu können. Die Lösung von einem etatistisch verengten Zensurverständnis ist angezeigt, wie die Einschränkungen literarischer Selbstbestimmung, die Becker zu spüren bekam, veranschaulichen dürften. 1. Der Zufall will es, dass Becker am 17. November 1976, dem Tag, an dem die von ihm mitunterzeichnete Protestpetition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns im Westen erscheint, eine Lesung im VEB Carl Zeiss Jena abhält. Kurz zuvor wird ihm, wie das MfS berichtet, „im engeren Kreis von Genossen klar

1 Ulla Otto: Die literarische Zensur als Problem der Soziologie der Politik. Stuttgart 1968, S. 119.

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gemacht, daß die Verantwortlichen dieser Veranstaltung keine Provokation von seiner Seite dulden werden. Daß also die Problematik Biermann nicht zur Diskussion steht.“2 Dennoch wagt es der Studienfreund des Liedermachers, das tabuisierte Thema anzuschneiden und seine Zuhörer im Buchklub Jena vom Protestbrief in Kenntnis zu setzen. Wobei es sich nicht um einen unvermittelten Akt der Zivilcourage handelt, sondern um die Fortsetzung eines bereits eingeschlagenen Wegs. Anfang November hat der Schriftstellerverband der DDR Rainer Kunze wegen der nicht autorisierten Veröffentlichung der Wunderbaren Jahre im Westen ausgeschlossen, und es ist Becker im Alleingang, der das Präsidium des DSV bittet, die Entscheidung zu revidieren. Gleich zwei Manifestationen des Nicht-Einverstandenseins erweisen sich als eine zuviel. Während Christa Wolf im Dezember mit einer ‚strengen Rüge‘ davonkommt, wird Becker aus der SED ausgeschlossen und verliert seine Position im Vorstand der Berliner Sektion des Verbands, dem er vier Monate später selbst den Rücken kehrt. Es folgt das Gezerre um den Roman Schlaflose Tage, dessen Protagonist, der Lehrer Simrock, einer Freundin das Recht auf Republikflucht bescheinigt und beiläufig erklärt: „Davon, wie Sozialismus um uns herum betrieben wird, sollte ein gescheiter Sozialist sich nicht abschrecken lassen“.3 Solche Töne alarmieren selbst den als vergleichsweise konziliant geltenden Hinstorff Verlag; Leiter und Cheflektor verschleppen die Publikation, fordern ‚Nachbesserung‘ um ‚Nachbesserung‘. Als sich abzeichnet, dass der Verlag blockiert,4 entscheidet sich Becker, durch Herstellung von Öffentlichkeit Gegendruck auszuüben. Auf einer Reise durch Westdeutschland ignoriert der Nationalpreisträger von 1975 die Anordnung der Partei, nicht aus seinem neuen Roman zu lesen; zudem bedient er sich jener westlichen Medien, zu denen Wolf glaubt Distanz halten zu müssen. In einem Gespräch mit dem Spiegel vom Juli 1977 kündigt Becker einen auch weiterhin kompromisslosen Publikationskurs an: Ich will in diesem Land [der DDR, M. J.] bleiben als jemand, der das veröffentlichen kann, was er schreibt; denn auf die Dauer ist das für einen Schriftsteller die einzig praktikable Methode sich einzumischen. Wenn es allerdings darum geht, den Mund zu halten, dann halte ich den Mund lieber auf den Bahamas.5

2 Zitiert nach Beate Müller: Stasi – Zensur – Machtdiskurse. Publikationsgeschichten und Materialien zu Jurek Beckers Werk. Tübingen 2006, S. 192. 3 Jurek Becker: Schlaflose Tage. Frankfurt a. M. 1978, S. 74. 4 Vgl. Müller: Stasi, S. 296ff. 5 Jurek Becker: „Ich glaube, ich war ein guter Genosse“. Interview mit Fritz Rumler u. Ulrich Schwarz. In: Der Spiegel 30 (1977), S. 128–133, hier S. 133.  

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Dass ihm Klaus Höpcke, der stellvertretende Kulturminister, daraufhin in einem Vier-Augen-Gespräch die Aussicht eröffnet, sich in der DDR zur „Anti-Person“6 zu machen, stachelt Becker nur dazu an, in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau nachzulegen: Die DDR komme ihm vor, „wie die Skizze für einen sozialistischen Staat, nach der das richtige Bild erst gemalt werden muß.“7 Damit handelt er sich einen Rüffel von Kurt Hager persönlich ein, der dem (abwesenden) Renitenten in einer Rede vor dem IX. Kongress des Kulturbunds Lebensfremdheit, Voreingenommenheit und Blindheit vorhält. Der Kommentar des Chefideologen hat Folgen; die Bedenken des Hinstorff-Verlags verwandeln sich flugs in Ablehnung; weil nunmehr als „objektiv schädlich“8 eingestuft, weigert sich der Verlag, das Manuskript bei der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel (HV) zur Druckgenehmigung einzureichen. Daraufhin siedelt Becker mit einem Dauervisum in den Westen über, Schlaflose Tage wird nur bei Suhrkamp veröffentlicht. Die von Beate Müller in ihrer Dissertation von 2006 sehr viel ausführlicher und kenntnisreich rekonstruierte Eskalationsgeschichte bestätigt im Detail wie strukturell, was York-Gothart Mix bereits in den frühen Neunzigern als Elemente DDR-typischer Zensur benannt und seinerzeit am Hickhack um Volker Brauns Hinze-Kunze-Roman exemplifiziert hat.9 Die prinzipielle Bereitschaft der in der DDR schreibenden Autoren, sich mit der als Druckgenehmigung firmierenden Vorzensur auseinanderzusetzen, ging bei den besseren mit hartnäckigen Versuchen einher, die Grenzen des literarisch Sagbaren zu erweitern. Es ist daher abwegig, die Autoren für die heteronomen Rahmenbedingungen haftbar zu machen, und sei es nur, indem man mit pejorativem Unterton von der Literatur der DDR spricht statt von Literatur in der DDR. Genauso falsch allerdings ist es, durch die unbekümmerte Rede vom ‚literarischen Feld DDR‘ die Heteronomie nachträglich zu vernebeln.10 Individuelle Versuche, die politischen und kulturellen Strukturen zu verändern, lösten staatliche Reaktionen aus, in denen sich nur die prinzipielle Reformunfähigkeit des Systems manifestierte. Beckers Manuskript etwa lastete man verlagsintern „politisch-negative Aussagen“11 an. Dies von 6 Zitiert nach Müller: Stasi, S. 364. 7 Jurek Becker: „Die Bevölkerung muß endlich so behandelt werden wie die Künstler“. Gespräch mit Wolfram Schütte. In: Frankfurter Rundschau v. 6.9.1977, S. 7. 8 Zitiert nach Müller: Stasi, S. 376. 9 Vgl. Ein „Oberkunze darf nicht vorkommen“. Materialien zur Publikationsgeschichte und Zensur des Hinze-Kunze-Romans von Volker Braun. Hg. v. York-Gothart Mix. Wiesbaden 1993. 10 Vgl. York-Gothart Mix: „Avantgarde, Retrogarde oder zurück zu Gutenberg? Selbst- und Fremdbilder der unabhängigen Literaturszene in der DDR“. In: Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Hg. v. Markus Joch, YorkGothart Mix u. Norbert Christian Wolf. Tübingen 2009, S. 123–138, hier S. 123f. 11 Zitiert nach Müller: Stasi, S. 305.

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Beginn an, obwohl die erste Fassung noch ein gewisses Entgegenkommen des Autors signalisierte. Zunächst hatte es geheißen: „Davon, wie Sozialismus um uns herum vorübergehend [Hervorhebung M. J.] betrieben wird, sollte ein intelligenter Sozialist sich nicht abschrecken lassen.“12 Als Verlagsleiter und Cheflektor selbst diese Formulierung, in der Gutwilligkeit und Ironie zusammenklingen, beanstanden, erklärt sich Becker zu einer Änderung bereit: Er streicht das „vorübergehend“.13 So ist es allerdings auch nicht recht. Die Unduldsamkeit seiner Erstleser verwundert wenig, wenn man ihre Nebenberufe berücksichtigt; sie belegen die Infiltration der Verlage durch das MfS. Beim Verlagsleiter Fauth handelte es sich um einen Gesellschaftlichen Mitarbeiter für Sicherheit, den GMS ,Buch‘, beim Lektor Simon um einen Inoffiziellen Mitarbeiter für einen besonderen Einsatz, den IME ,Schönberg‘. Und ungeachtet der Suggestion des Verlags, über das Manuskript selbständig entschieden zu haben, lässt sich auch im Fall Becker ein reibungsloser Informationsfluss, permanente Absicherung nach oben beobachten. Von der Konzeption der Arbeitsgespräche mit dem Autor bis zur Wahl der Gutachter: Der Verlag stimmt jeden seiner Schritte mit der HV ab, Höpcke wiederum hält Hager auf dem Laufenden. Symptomatisch waren zuvorderst die vom SED-Staat gezeigten Reaktionsmuster. Der zähe Prozess des Lektorierens, das monatelange ‚Ringen‘ um einzelne Formulierungen, beruhte auf einer kuriosen Text- und Buchgläubigkeit. Gewiss, in der DDR kam der Literatur potentiell die Funktion zu, die völlig gleichgeschalteten Medien als Austragungsort von Meinungsverschiedenheiten zu ersetzen. Doch konnten die Autoren von jener unkalkulierbaren Wirkungspotenz, die der Staat ihnen unterstellte, nur träumen. Beckers Auftritte in den Westmedien brachten eine weitere systemische Besonderheit an den Tag. In der Frankfurter Rundschau ließ er die Nomenklatura wissen: „Wir müssen uns daran gewöhnen, wenn uns kontrovers zumute ist, kontrovers und öffentlich miteinander zu sprechen.“14 Dem Spiegel gegenüber betonte er, „wie viel lieber ich dieses Interview dem Neuen Deutschland geben würde“.15 Kurz, er forderte vom Sozialismus eine Kultur der öffentlichen Auseinandersetzung. Damit stieß er bei den unteren Chargen, Fauth und Simon, auf taube Ohren, von Höpcke, dem vermeintlichen Fürsprecher der Schriftsteller, bekam er gar zu hören, er betreibe „psychologische Kriegsführung gegen den Sozialismus“.16 All dies weist über die angebbaren individuellen Ver-

12 13 14 15 16

Zitiert nach ebd., S. 333. Vgl. ebd., S. 375. Becker: Die Bevölkerung, S. 7. Becker: Guter Genosse, S. 131. Zitiert nach Müller: Stasi, S. 370.

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antwortlichkeiten hinaus. Das Problem bestand in der „Nichtexistenz eines eigenen Öffentlichkeitsbegriffs in der marxistischen Theorie“.17 2. Nach der Wende unterstreicht Becker, dass die vom Westen gewährte Öffentlichkeit bestimmten DDR-Autoren Schutz vor schwereren Repressalien bot, für den Zensor hingegen ein Ärgernis darstellte. In der Regel konnte er darauf bauen, dass seine guten Beziehungen zu den Sicherheitsbehörden und das schiere Bestehen des Druckgenehmigungsverfahrens die Autoren zur Selbstzensur bewegten, was offenen Druck entbehrlich machte. Die Schriftstellerprominenz hingegen war schwerer in den Griff zu kriegen. An die strukturelle Hilflosigkeit seiner Gegenspieler erinnert Becker nicht ohne Genuss, der sich, wie könnte es bei einem Erzähler anders sein, in erlebter Rede äußert. Der Zensor hatte es überhaupt nicht gern, verbieten zu müssen, lieber war es ihm, die Produktion verbotener Bücher zu verhindern; viel leichter konnte er dann behaupten, es herrsche im Land ein einziges Einverständnis. Und dann kommt so ein Autor daher, fordert ihn heraus, tanzt ihm auf der Nase herum, schreibt bösartige Texte und lässt sich dafür auch noch im Westen belobigen und verdient Geld! […] Man kann ihn nicht in Stücke reißen, wie man es am liebsten täte, die sogenannte Öffentlichkeit sieht zu, diese Erfindung des Feindes, andauernd sind sie mit ihren Westmikrophonen und Westkameras dabei und lauern nur darauf, dass man die Beherrschung verliert, das war die verfluchte Ost-West-Situation.18

Den Schutzmechanismus erwähnt Becker nach dem Mauerfall auch, um eine Heldenrolle in der Biermann-Affäre, eine moralische Überlegenheit gegenüber weniger couragierten DDR-Bürgern, zu bestreiten. „Ein ziemlich bekannter Schriftsteller ist ein ziemlich geschützter Schriftsteller: Der hat es leichter, die Klappe aufzureißen“.19 Der Satz von 1992 zeugt nur von realistischer Selbstbeobachtung. Es war kein Zufall, dass dieser Autor nach der Biermann-Petition ‚lediglich‘ das Parteibuch verlor und de facto Publikationsverbot erhielt, während weniger bekannte Unterzeichner wie Jürgen Fuchs verhaftet wurden. Becker wusste sich durch seinen 1969 mit Jakob der Lügner erworbenen Ruhm, die daraus resultierende Sichtbarkeit in den Medien der Bundesrepublik, vor drastischeren Pressionen in der DDR gefeit.

17 Lucian Hölscher: „Öffentlichkeit“. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck, Bd. IV. Stuttgart 1978, S. 413–467, hier S. 463. 18 Jurek Becker: „Die Wiedervereinigung der deutschen Literatur“. In: Jurek Becker. Hg. v. Irene Heidelberger-Leonard. Frankfurt a. M. 1992, S. 61–73, hier S. 66. 19 Jurek Becker: „Fortschritt kann auch in Ernüchterung bestehen“. Gespräch mit Frauke MeyerGosau. In: Ebd., S. 108–122, hier S. 112.  

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Für sich genommen war die Rede vom ziemlich geschützten Schriftsteller kaum geeignet, in der Bundesrepublik Anstoß zu erregen, zeugte sie doch nur von den Segnungen freier Medien. Heikel wurde sie erst, weil Becker nun seine relative Immunität in der DDR als eine privilegierte Position beschrieb und erklärte, deshalb „eigentlich nicht aus politischen Gründen die DDR verlassen zu haben“. Ausschlaggebend sei vielmehr der Erwartungsdruck seiner dortigen Leser gewesen. Ich hätte damals [1977] nicht gewagt, etwas zu schreiben, das nicht erkennbar politische und widerständlerische Züge trug. Weil ich gefürchtet hätte, wenn ich es tue, werden alle sagen: jetzt hat er aufgegeben, jetzt weicht er aus, jetzt haben sie ihn kleingekriegt […]. Das ist eine furchtbar unsouveräne Situation.20

Nur in der Bundesrepublik konnte Becker auch unpolitische und/oder unterhaltsame Stoffe wählen, ohne als ,Umfaller‘ zu gelten. In der DDR hingegen war jedes Buch entweder erlaubt oder verboten, etwas Drittes gab es nicht […]. Selbst wenn ein Autor etwas schreiben wollte, was die politische Zensur nicht berührte und worum sie sich daher nicht kümmerte, mußte er mit dem Verdacht fertig werden, daß er es nur deshalb tat, um der Zensur aus dem Weg zu gehen. Das ist ja eine der fatalsten Folgen von Zensur: daß alle nicht verbotene Literatur mit dem Geruch existieren muß, erlaubt zu sein.21

Solche Selbstbeobachtungen hoben sich von denen einer Christa Wolf markant ab. Während sie in Was bleibt und andernorts nur die geläufige Wirkung von Zensur beschrieb: die Selbstzensur, unterstrich Becker einen gegenteiligen Effekt: das vorbeugende Hochhalten der politischen Lautstärke, ehrenhalber, um bei den Lesern nicht in den Verdacht der Selbstzensur zu geraten. Die Entscheidung, der DDR den Rücken zu kehren, verdankte sich demnach nicht primär der politmoralischen Standhaftigkeit, sondern der Befürchtung des Künstlers, bei einem Bleiben den Erwartungen seiner Lesergemeinde nachzugeben, sich in einen Dauerkonflikt mit der Partei zu verwickeln und dadurch zum Pamphletisten zu regredieren. Er habe sich, so Becker im Rückblick, in der DDR zu einer Widerspruchsmaschine entwickelt, zu Lasten literarischer Qualität. Deshalb sei er gegangen. Eine Selbstdarstellung, mit der er sich zugleich von der in der Wendezeit tonangebenden Kritikerallianz Reich-Ranicki-Schirrmacher-Greiner absetzt, die die Frage von Bleiben oder Gehen der Ostautoren als Differenz zwischen Anpassung und Integrität definiert. Becker hingegen spricht von der Alternative zwi-

20 Ebd., S. 116. 21 Becker: Wiedervereinigung, S. 63f.

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schen Zwangsdissidenz und spezifisch künstlerischer, nicht auf moralischem Prestige beruhender Anerkennung. Die hoch distinktive Positionsnahme ist auch strategisch motiviert, zumal er sie erstmals in einer Sendung des Literarischen Quartetts medialisiert. Der Gast in der Runde vom 12. Februar 1990 nimmt ReichRanicki die Möglichkeit, ihn als Kronzeugen gegen die selbst nach der BiermannAffäre noch in der DDR gebliebenen Schriftsteller zu vereinnahmen. Dem Gastgeber wird der potentielle Trumpf aus der Hand geschlagen, eben weil der Übersiedler für seinen Weggang nicht vor allem politische Gründe anführt – solche würden auf die gebliebenen Kollegen ein schlechtes Licht werfen –, sondern mit dem Unbehagen an Zwangsdissidenz ein Motiv, das man verspüren kann, nicht muss. Die indirekte Verteidigung befreundeter Ostautoren wie Wolf und Stefan Heym vereindeutigt Becker noch durch die Bemerkung, seine Entscheidung von 1977 nicht für das Maß aller Dinge zu halten: Was Arbeitsbedingungen für einen Schriftsteller sind, das ist eine zutiefst persönliche Angelegenheit […]. Es ist ja nicht so, dass die Autoren, die heute in der DDR leben, aus Scham oder Faulheit den Schritt in den Westen scheuen. Sie meinen, dass die Situation, in der sie sind, diejenige ist, die sie freiwillig tragen möchten.22

Die Auskunft zum eigenen Übersiedelungsmotiv und mehr noch ihre nichtnormative Wendung entdramatisieren die Diskussion um Bleiben oder Gehen, Hellmuth Karasek und Sigrid Löffler pflichten der toleranten Position bei, Reich-Ranicki weiß ihr nichts entgegenzuhalten, gerät in die Defensive. Überhaupt verläuft die Diskussion an diesem Abend für den Gastgeber unerfreulich. Als er sich über den Starrsinn von Stephan Hermlin erregt, der seine Stalin-Ode von 1953 immer noch nicht zurückgenommen habe, wendet sich Becker beschwichtigend an Reich-Ranicki: „Ist Ihnen das Phänomen des Starrsinns so fremd?“23 Das allgemeine Gelächter, mit dem das Studiopublikum die Suggestivfrage quittiert, musste dem host missfallen, der Unterhaltungswert des Fernsehens hatte sich gegen ihn gekehrt. Besonders ärgerlich war, das Vorhaben, eine Staatsnähe der DDR-Schriftstellerelite zu skandalisieren, von Becker konterkariert zu sehen. Nicht allein, dass der vierte Gesprächsteilnehmer sich weigerte den Kronzeugen wider Wolf und andere zu spielen. Während Reich-Ranicki auf die Hinnahme literarischer Fremdbestimmung im Osten hinauswollte, hob Becker mit der Autorität desjenigen, der in der DDR literarische Autonomie unnach-

22 Das Literarische Quartett. Redaktion Peter Just, Pascal Pfitzenmaier u. Nicola Uther, Bd. I. Berlin 2006, S. 246f. 23 Ebd., S. 249.

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giebiger als Wolf verfochten hatte, zu Anfang der Sendung auf einen heteronomen Zug des Quartetts selbst ab. Es beginnt damit, dass eigentlich der neue Eco diskutiert werden soll. Becker aber hat ihn nicht gelesen, mit der Begründung, solche Wälzer kosteten ihn zu viel Lebenszeit. Im Übrigen sei die Lektüre der besprochenen Bücher im Quartett ohnehin nicht erforderlich. Die Einstiegspointe zündet, das Gelächter im Studiopublikum ist groß, worauf Reich-Ranicki seiner Verstimmung Luft macht („Diese Unterstellungen sind arg“), während Karasek den Souveränen herauszukehren weiß: „Woher wissen Sie das [lacht]?“24 Nach dem beiläufig geäußerten Zweifel an der Seriosität des Unternehmens erlaubt sich Becker, was seinen Gesprächspartnern, auch Karasek, noch weniger gefallen kann: Er problematisiert die Prinzipien der Literaturauswahl. Der Gast zeigt sich demonstrativ verwundert, dass in einer Sendung, die so selten stattfinde, ein „kalkuliertes Industrieprodukt“ wie Das Foucaultsche Pendel besprochen und damit nolens volens beworben werde. Es handele sich um Promotion für ein Buch, das „seit langer Zeit an der Spitze der Bestsellerliste steht, über das ich schon mehrere Fernsehsendungen gesehen habe und über das ich in jeder Zeitung, die ich aufschlage, einen Artikel lese.“25 Hier wagt einer darauf aufmerksam zu machen, dass die Buchauswahl ein unsichtbares Sieb darstellt, bei dem nur durchschlüpft, was Journalisten zu interessieren vermag, und die Fernsehrunde Titel favorisiert, die ohnehin Kassenschlager sind oder zumindest im Gespräch. Zumal durch den Hinweis auf die wenigen Ausstrahlungen pro Jahr gibt Becker dem Publikum zu verstehen, dass die selbst ernannten Anwälte der Literatur kostbare Sendezeit mit Autoren von der Bestsellerliste verschwenden, statt die Gelegenheit zur Förderung des Ausgefalleneren, womöglich Avantgardistischen zu nutzen; dass sie, wenn sie die Innovationsscheu bedienen, weniger bekannte, vielleicht spannendere Autoren dazu verurteilen, einer breiteren Öffentlichkeit weiterhin unsichtbar zu bleiben. Beckers Kritik an der Bestsellerfixierung ähnelt derjenigen Pierre Bourdieus, der dem Gros der Fernsehjournalisten 1996 nachsagen wird, eine Zensur durch Mainstream-orientierte Auswahl ganz unbewusst auszuüben, einfach indem sie nach dem selektieren, was „ihren Kategorien, ihren Wahrnehmungsschemata“ entspricht, und dafür „als unbedeutend oder gleichgültig symbolische Äußerungen zurückweisen, die es verdienen würden, alle zu erreichen“.26 Das Befremden des Schriftstellers und die Schelte des Soziologen zu parallelisieren liegt umso näher, als das von beiden gesehene Problem in unserem Zusammenhang offen

24 Ebd., S. 227. 25 Ebd. 26 Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen. Frankfurt a. M. 1998, S. 67.  

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zutage lag: Die televisionäre Literaturkritik befasste sich mit dem Foucaultschen Pendel, obwohl Reich-Ranicki und Karasek erklärtermaßen wenig davon hielten. Wäre es da nicht sinnvoller gewesen, einem Jungautor, sagen wir: dem damals aufstrebenden Satiriker Max Goldt, zu öffentlicher Bekanntheit zu verhelfen? Allerdings bezeichnet nicht Becker, nur Bourdieu dubiose Auswahlprinzipien schon als Zensur – eine anfechtbare Wortwahl. Als Beispiele für Relevantes, das journalistischer Ignoranz zum Opfer falle, nennt Über das Fernsehen wissenschaftliche Analysen, politische Manifeste, Demonstrationen und Streiks. Hinsichtlich letztgenannter Äußerungen von Zensur zu sprechen, scheint ex post noch vertretbar, da Demonstrationen oder Streiks, denen massenmediale Berichterstattung versagt wurde, in den Vor-Internet-Zeiten praktisch inexistent waren, über keine nennenswerte Öffentlichkeit verfügten. Manifesten und Analysen dagegen standen und stehen in pluralistischen Gesellschaften so viele und prominente Publikationsorte offen, dass selbst bei einem Nicht-Beachtetwerden durch AV-Medien der Zensurbegriff inadäquat ist. Aus dem gleichen Grund wäre es, was unseren Fall betrifft, verstiegen, Reich-Ranicki und die Seinen zu Zensoren zu stilisieren. Wer, wie erwähnter Max Goldt, auf eine Besprechung im Quartett verzichten musste, dem stand immer noch das Feuilleton offen, eine kleinere, aber eine Öffentlichkeit. Ein Grundrecht aufs Popularisiertwerden durch AV-Medien besteht nicht. Ungeachtet dessen erkennt Bourdieu an französischen Beispielen, wie schon Becker am deutschen, einen kaum bestreitbaren Sachverhalt: die konformistische Diskursverknappung respektive Lenkung öffentlicher Aufmerksamkeit. Dass „die sogenannten literarischen Sendungen, gerade die bekanntesten, die etablierten Werte [fördern], […] das, was gerade hoch im Kurs steht“, und zwar „immer dienstfertiger“,27 lässt sich an der generellen Auswahlpolitik des Quartetts bestätigen. Gleichgültig, ob man ein Buch verriss oder rühmte, in aller Regel handelte es sich um Neuerscheinungen bereits namhafter Autoren, denen man selbst durch Negativurteile noch zusätzliche Aufmerksamkeit verschaffte. In prästabilierter Harmonie mit Reich-Ranickis Vorliebe für traditionelles Erzählen, insoweit eher Resultat von Geschmackspräferenzen als von bösem Willen, war die Auswahlpolitik nur dazu angetan, die Kluft zwischen Best- und Lowsellern zu vertiefen. Beckers Gegenrede darf man schon deshalb verdienstvoll nennen, weil die sonstigen Kritiker der televisionären Literaturkritik sich für gewöhnlich darauf beschränkten, die inkohärenten Wertungsmuster zu beanstanden.28 Es gab noch ein weiteres, wenn auch weniger augenfälliges Manko.

27 Ebd., S. 65. 28 Vgl. Ludgera Vogt: „Die Hüter der Differenz. Über televisionäre Literaturkritik“. In: Merkur 49 (1995), S. 942–949.

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Aufschlussreich im Übrigen, wie Reich-Ranicki auf die Insinuation von Markthörigkeit reagierte: Herr Becker, ich darf ihnen etwas erklären: Dies ist keine Buchempfehlungssendung, sondern sie […] beschäftigt sich mit literarischen aktuellen Fragen. Wir stehen auf dieser Erde und schweben nicht in den Wolken. Dieser Roman […] ist außerordentlich erfolgreich. Ob es uns gefällt oder nicht, wir müssen uns darum kümmern.29

Auf Indifferenz gegenüber den Leistungen, die die Sendung für die Wirtschaft der Literatur erbringt, legt der Sprechende Wert; dies ist auch für einen ,bürgerlichen‘ Literaturvermittler ein Ehrenpunkt. Gleichwohl schließt er vom kommerziellen Erfolg des neuen Eco auf seine Bedeutung und räumt ein, die eigene Auswahl von solchermaßen beglaubigter Bedeutung abhängig zu machen – im Zweifelsfall auch contre coeur. Im Grunde das Eingeständnis einer Fremdbestimmung durch die Bestsellerliste, denn was, wenn nicht das Dogma, wonach hohe Verkaufsziffern per se Aufmerksamkeit verdienen, sollte ihn zur Besprechung zwingen? Vom Dogma steuern ließ er sich, ohne dass sich, wie bei informeller oder gar formeller Zensur, ein Personenkreis oder eine Institution angeben ließe, der/die auf ihn Druck ausgeübt hätte. Der Selbstbeobachtung und -legitimation bedarf die Einschaltquotenmentalität nur, wenn sie sich ausnahmsweise objektiviert sieht. Dann gilt es, die Alternative herabzuwürdigen, Gleichgültigkeit gegenüber den Marktinformationen zum weltfremd abgehobenen Programm zu erklären („in den Wolken schweben“), das, wenn auch nur implizit, Becker zugeschrieben wird. Allein, Becker attackierte nicht von einer marktfernen Stellung aus; im Gegenteil, in den Achtzigern hatte er als Drehbuch-Autor von Liebling Kreuzberg selbst für ansehnliche Einschaltquoten gesorgt. Der Erfolg enthob ihn des Verdachts, die Auswahlkriterien aus dem Ressentiment des Zukurzgekommenen zu bekritteln, immunisierte ihn gegen eine Neidunterstellung, die anderen Autoren gedroht hätte. So gesehen beruhte seine Renitenz nicht allein auf dem moralischen Kapital des SED-Dissidenten, sie bewies und beweist vor allem, dass das Bestehen am Markt die beste Voraussetzung für einen Einspruch gegen seine Anbetung bietet. Wie auch sonst wäre zu erklären, dass in 14 Jahren Literarisches Quartett nur dieser eine Gast, dessen symbolisches Kapital sich aus gleich zwei harten Währungen zusammensetzte, selbstbewusst genug war, die Geschäftsgrundlage der Veranstaltung zu beleuchten? 3. Der Erfolg als Drehbuch-Autor erlaubte es Becker zugleich, Eingriffe in seine Texte abzuwehren. 1992 berichtet er einem Redakteur der Weltwoche, bei der Produktion von Liebling Kreuzberg zweimal ‚politische Zensur‘ erlebt zu haben.

29 Das Literarische Quartett, S. 228.

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Becker: In der ersten oder zweiten Folge heuert Anwalt Liebling einen Kollegen an, einen jungen Mann, dessen Vater schon als Rechtsanwalt gearbeitet hat. Liebling und der junge Kollege gehen in ein Geschäft für Anwaltsbedarf, so was gibt’s wirklich in Berlin, da kann man Roben kaufen […]. Also, auf dem Weg dorthin fällt Liebling ein, dass der Vater des jungen Kollegen schon Anwalt gewesen ist, und er sagt zu ihm: ‚Hören Sie mal, Ihr Vater ist doch schon Anwalt. Können Sie nicht seine Robe nehmen?‘ Und darauf sagt der Junge: ‚Na ja, da sind aber noch die Nadelstiche von dem abgetrennten Hakenkreuz drauf zu sehen.‘ Weltwoche: Na und? Becker: Ja, sehen Sie das ist keine große Geschichte. Aber die Fernsehleute wollten diese Passage einfach streichen. Und als ich denen sagte: ‚Was fällt euch ein?‘, da haben Sie mir geantwortet: ‚Lieber Herr Becker, das ist ’ne Unterhaltungssendung! Wenn Sie PolitikBerichterstattung machen wollen, müssen Sie zum Heute-Journal oder zu Panorama gehen.‘ Das fand ich derart unverschämt, dass ich mich geweigert habe, die Sendung fortzusetzen. Weltwoche: Aber Sie haben doch noch weitere 21 Folgen geschrieben? Becker: Beim Fernsehen rennen alle hinter dem Fetisch Einschaltquote her, und weil die Serie so ein Renner war, wollten die, dass ich weitermache. Da habe ich natürlich Bedingungen gestellt! Und dazu gehörte, dass die Redaktion keinen Einfluß mehr auf das Drehbuch nehmen durfte. Seitdem konnte ich autonom arbeiten. Weltwoche: Es gab aber auch einen Eingriff wegen einer Szene, in der es um prügelnde Polizisten geht. Becker: Das war noch in der ersten Staffel. Da haben sie eine Passage gestrichen, in der jemand wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt vor Gericht stand, und es stellte sich während der Verhandlung heraus, dass er nicht Widerstand geleistet hat, sondern dass er von der Polizei verprügelt worden ist. Ein Vorgang, der damals in Berlin tausendfach in den Akten gestanden hat. Aber die Redakteure, die die erste Staffel gemacht haben, fühlten sich als verlängerter Arm der Berliner Fremdenverkehrswerbung, die wollten ein hübsches, friedliches, nettes Kreuzberg zeigen, wo die Nächte lang sind und wo’s die interessanten Restaurants gibt. Und daran wollte ich mich nicht beteiligen. Das wäre mir zu läppisch gewesen. Ich wollte keinesfalls für eine dieser belämmerten Unterhaltungsserien verantwortlich sein, denen man ansieht, daß die Macher ihr Publikum für Idioten halten.30

Klammern wir die Logik, die Beckers günstiger Verhandlungsposition zugrunde liegt, noch einen Moment aus und halten zunächst fest, dass es sich beim zweiten der genannten Eingriffe eindeutig um politische Zensur handelt – eine informelle.

30 Jurek Becker: „Ich kann meine Bücher nicht leiden“. Gespräch mit Günter Kaindlstorfer. In: Die Weltwoche v. 14.1.1993. Zitiert nach URL: http://www.kaindlstorfer.at/interviews/becker.html (Stand: 3.2.2012).

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Eines Justitiars oder Parteienvertreters, dem im Sender Freies Berlin Drehbücher zur Begutachtung vorgelegen und der bei prügelnden Polizisten den Daumen gesenkt hätte, bedurfte es nicht – dies der Unterschied zu SED-Methoden. Die Redaktion strich die Passage von sich aus. Als Dependance der Berliner Fremdenverkehrswerbung dürfte sie sich kaum wörtlich definiert haben, doch ahnt man, welchen Vorbehalt der Autor karikiert: Es werde ein allzu düsteres Bild von Kreuzberg gezeichnet, das Image beschädigt o. Ä. Der Hang zum Weichgezeichneten jedenfalls – passt denn die Vorstellung prügelnder Polizisten zum KlausDoldinger-Sound? – paarte sich mit einem auf der Hand liegenden Ablehnungsmotiv: Selbst wenn die Redaktion die Widerstands-Geschichte nicht für ein linkes Hirngespinst gehalten haben sollte, bei Versendung der betreffenden Passage war allemal Ärger in den Gremien zu erwarten. Eine so unvorteilhafte Darstellung der Polizei konnte, zumal in der von permanenter 1.-Mai-Randale geplagten Mauerstadt, weder einem CDU- noch einem SPD-Intendanten gefallen. Zensur liegt vor, da das der Versendung entgegenstehende politische Interesse, dem die Redaktion vorauseilend gehorchte, angebbar und der Anpassungsdruck im Sender nachvollziehbar ist. Binden wir den Zensurbegriff an die Merkmale Interesse und Druck, handeln wir uns jedoch, von Becker selbst benannte, Schwierigkeiten im Fall eins ein. Auf die Angelegenheit mit dem abgetrennten Hakenkreuz kommt er 1995 in einem Spiegel-Essay erneut zu sprechen, nunmehr, um auf die relative Harmlosigkeit seiner damaligen Pointe abzuheben. Ihre überschaubare Brisanz werfe die Frage auf, wie man die Streichung bewerten soll:  

In der DDR hätte mein Urteil sofort festgestanden: Zensur, arrogante politische Zensur! Hier lagen die Dinge anders, denn welche politische Gruppierung hätte sich schon daran stoßen können, wenn in einer Fernsehgeschichte erzählt worden wäre, der Vater eines heutigen Rechtsanwalts sei in der Nazi-Zeit ebenfalls Anwalt gewesen?31

In der Tat, während die Vorstellung knüppelnder und zu falschen Anschuldigungen bereiter Ordnungshüter zu den gesellschaftlich wie politisch umstrittenen zählt, ist der mit der Hakenkreuz-Anekdote angespielte Sachverhalt weder zu leugnen, noch dürften sich Politiker oder Juristen finden, die töricht genug wären, gegen die Allusion zu protestieren. Nichts leichter, als sich von ihr unbetroffen zu zeigen (,bedauerliches Kapitel, lange her‘). Von der 1992 noch gewählten Kategorie der politischen Zensur rückt der Autor ab, weil man mit ihr staatliche Instanzen, Parteien und/oder andere pressure groups zu assoziieren pflegt, die die kulturelle Produktion von außen regle-

31 Jurek Becker: „Die Worte verschwinden“. In: Der Spiegel 2 (1995), S. 156–161, hier S. 157.

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mentieren. Im vorliegenden Fall spielen sie keine plausible Rolle, mithin ist die vertraute Kategorie zu überdenken. Es zeichnet sich ein neuer Zustand ab; die externe Normierung weicht einem internen Diktat, das mit politischen Anschauungen wenig zu tun hat. Wie der zuständige Redakteur, ein Herr Finnern, die Hakenkreuz-Tilgung rechtfertigte, schildert Becker nun etwas näher: Ich hätte in der Eile sicher nicht daran gedacht, dass es sich bei unserer Arbeit um eine Serie handele, deren tiefster Sinn es sei, das Publikum zu unterhalten. Ich sagte, das hätte ich keineswegs vergessen, und ich fände gerade den beanstandeten Satz ziemlich unterhaltsam. Er sah mich streng an und sagte, an dieser Hakenkreuz-Anspielung sei weiß Gott nichts Vergnügliches; und sollte dies wirklich meine Meinung sein, dann unterläge ich einer monströsen Fehleinschätzung. Man dürfe etwas so Zerbrechliches wie eine Unterhaltungsserie nicht mit so schrecklichen Anspielungen belasten. Es sei mein gutes Recht, alle möglichen Probleme, unter denen ich offenbar litte, in die Welt hinauszuschreien, aber ich sollte damit lieber zum Spiegel [erste Version: Heute-Journal. Selbstkorrektur oder Verbeugung vorm Publikationsort?, M. J.] oder zu Panorama gehen und nicht in seine Redaktion.32

In der Eigenwahrnehmung ist Herr Finnern weit davon entfernt, Zensur auszuüben, er erinnert den begriffsstutzigen Ostdeutschen lediglich daran, dass freie Medien eine funktionale Binnendifferenzierung kennen: hier Unterhaltung, dort Politik. Der legitimatorische Hinweis auf Magazine mit politischer Berichterstattung, die der Autor konsultieren könne, ist geschickt – die Botschaft ,Das geht hier nicht‘ eleganter als ein ,Das geht überhaupt nicht‘ – und frech. Nimmt man es beim Wort, läuft das Delegationsargument – wenden Sie sich an andere – auf die Empfehlung hinaus, vom Drehbuch-Autor zum Journalisten umzuschulen. Vor allem aber setzt das der Ablehnung zugrunde liegende, arbeitsteilige Medienmodell die Unvereinbarkeit von Unterhaltung und politischen Bezügen voraus. Symptomatisch, dass sich Herr Finnern, wie die zweite Fassung berichtet, als Anwalt des Publikums geriert, den Eindruck erweckt, das zarte Band zwischen Produzenten und Zuschauern reiße, wenn man die Serie mit Funktionsfremdem belaste. An die Stelle der imaginären Größe ,Klasseninteresse‘, auf die sich die SED berief, tritt die ebenso imaginäre des ,Publikumsinteresses‘. Die eigentliche Anmaßung liegt darin, mit dem Autor auch die Zuschauer zu bevormunden, ihnen die eigene Präsupposition, Politik und Unterhaltung schlössen einander aus, unterzuschieben, kurz: in einer Publikumsverachtung, die sich als Nähe zum selben drapiert. Und die Rolle des Autors? Er erkennt die Unterhaltungsfunktion an, muss sich aber weigern, sie handzahm (‚belämmert‘) zu interpretieren, da er ansonsten Gefahr liefe, im literarischen Feld Prestige zu verlieren. Das als Schriftsteller

32 Ebd., S. 156f.

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gewonnene Ansehen schützt ihn zunächst nicht vor Missachtung im journalistischen Feld. Erst als er nachweisen kann, die Unterhaltungsfunktion bestens zu erfüllen, sprich: hohe Einschaltquoten erbringt, darf er autonom arbeiten, ungestört demonstrieren, dass so etwas wie politisch Unterhaltsames möglich ist. Man denke. So erfreulich der Konflikt für Becker ausgeht, er wirft ein Schlaglicht auf zwei Probleme. Die Spielregel, der der Autor glücklicherweise genügt und dank der er sich schlussendlich durchsetzt: Gute gleich quotentaugliche Unterhaltung steht in einer gewissen Spannung zum Bildungs- und Informationsauftrag der öffentlich-rechtlichen Sender, für die als gebührenfinanzierte die Quote der oberste Maßstab nicht sein dürfte. Realiter aber zeigen sie sich vom Legitimationskriterium der Privatsender schon Ende der achtziger Jahre affiziert. Und: Die Akzeptanz politischer Gehalte selbst der harmloseren Art war schon damals an Quote geknüpft, statt sich der Beachtung von Meinungsfreiheit zu verdanken. Das heißt: Schwächelt die eine, schwindet die andere. Politische Zensur findet durchaus statt, Außeninteressen sind für sie nicht erforderlich. Ob klassisch externe Regulierung oder rein interne im Namen des Publikumsinteresses, die Ergebnisse, das Verschwindenlassen politischer Gehalte, gleichen sich. Doch ist es an der Zeit, den Terminus ‚politische Zensur‘ nicht weiter an die Einflussnahme von/Einschüchterung durch politisch relevante Gruppierungen zu koppeln. Sie kommt vor, wie Fall zwei belegt, doch das Hauptproblem liegt bei Akteuren des journalistischen Feldes, die keiner Pression aus dem politischen Feld bedürfen, um politische Bezüge zu eliminieren, die vielmehr einem Dogma des eigenen Feldes folgen, dem Glauben, genau zu wissen, was beim Publikum ankommt. Wobei der Typus Finnern ignoriert, dass er sich mit der vorauseilenden Entpolitisierung womöglich um Quote bringt. Verfehlt er durch die Selbstnormierung die eigentliche Norm, ist neben unnötiger auch dysfunktionale Zensur am Werk. Stellt Beckers unschöne Erfahrung nur einen Einzelfall dar? Untypisch an ihr scheint allenfalls die komfortable Lage des Betroffenen, der als prominenter Autor Gelegenheit hatte, den erlebten Affront in einem Printmedium beträchtlicher Reichweite publik zu machen. Die Verbreitung der SFB-Anekdote durch den Spiegel, der sich als Korrektiv der AV-Medien bewährte (eine durch binnenjournalistische Konkurrenz begünstigte Tugendhaftigkeit), unterstreicht, was bundesrepublikanische Verhältnisse von realsozialistischen trennt. Allerdings ist zu bezweifeln, dass ein namenloser Autor die gleiche Chance öffentlicher Gegenwehr erhalten hätte. Auf eine publik gemachte Zensur der geschilderten Art dürften folglich etliche geräuschlose kommen. Zur Entwarnung besteht umso weniger Anlass, als die Publikumsvereinnahmung durch den SFB-Mitarbeiter nur eine marktgerechte Zensurierung kritischer Öffentlichkeit vorwegnahm, für die das von Mix attackierte ARD-Papier zur Optimierung bei Fernsehfilm und Haupt-

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abendserie das neueste und bizarrste Beispiel abgibt. Der Verzicht auf Projekte, „bei denen von vornherein absehbar“ sei, „dass sie das Interesse des großen Prime-Time-Publikums nicht finden werden“,33 schreibt den Kleinmut fest und stützt unfreiwillig den Befund eines französischen Soziologen: Je breiter das Publikum ist, auf das ein […] Kommunikationsmedium zielt, desto stromlinienförmiger muß es sich verhalten; es muß alles Kontroverse meiden und sich befleißigen, ,niemanden zu schockieren‘, wie es heißt, niemals Probleme aufzuwerfen, oder höchstens Scheinprobleme.34

Um ein Gesetz handelt es sich nicht, wie der Tatort oft genug beweist, wohl aber um eine Tendenz zur ängstlichen Glätte. Henning-Mankell-Verfilmungen zur besten Sendezeit taugen nicht wirklich als Gegenbeweis; sie spielen im fernen Schweden, niemand hierzulande muss sich von ihnen getroffen fühlen. Renommierprojekte wie Die Manns und Buddenbrooks erweisen sich als schwülstige Legitimationsästhetik im Dienste eines großen Namens. Die Fremdkörper im Programmfluss der Privaten wiederum, die Magazine Alexander Kluges, belegen ob ihrer mitternächtlichen Sendeplätze seit jeher nur, dass zur Zensur eine sanftere Variante der Entsorgung tritt, die auch bei den Öffentlich-Rechtlichen längst Schule gemacht hat: „leichte Kost zur prime time, Hermetisches zu vorgerückten Stunden.“35 Wie lautete noch der Kluge geltende Sat.1-Spott? Für Kultur ist es nie zu spät.

33 Vgl. den Beitrag von Mix in diesem Band, Zitat S. 234. 34 Bourdieu: Fernsehen, S. 62f. 35 Ebd., S. 75.

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Autorinszenierung und Zensurprovokation Anders als bei einem Rock- oder Popkonzert gehört im Bereich der klassischen Musik der pünktliche Beginn zum guten Ton. Insofern überrascht es nicht, dass sich im Zuschauerraum eines Konzertsaals für klassische Musik Unruhe und Ungehaltenheit ausbreiten, wenn die Musiker nicht zur vereinbarten Uhrzeit erscheinen. Wenn nun in dieser zunehmend gereizten Stimmung zwei abgerissen aussehende Besucher die Zuhörerschaft durch ihre Pöbeleien derart aufbringen, dass sie des Saals verwiesen werden, und wenn sich dann beim Betreten der nun endlich eingetroffenen Musiker herausstellt, dass diese, nunmehr im Frack, identisch sind mit den beiden Pöblern, die das bildungsbürgerliche Provinzpublikum offensichtlich nur provozieren wollten, dann ist diesen beiden eines sicher: Aufmerksamkeit.1 Ludwig Tieck erzählt von dieser unerhörten Begebenheit in seiner Lang-Novelle Der junge Tischlermeister, bei der nicht nur die Zuhörer, sondern auch die Begleitmusiker und „Lichterputzer“ in derart „ungewöhnliche[r] Stimmung“ sind, dass das nun einsetzende virtuose Spiel auf einen besonderen, wenn auch sehr gemischten Resonanzboden fällt.2 Grund der Provokation war, so die beiden im Anschluss, eine ästhetische Versuchsanordnung, man habe „aus der Ferne die Wirkung [der] eigenen Musik erfahren“ wollen.3 Dabei gelte es jedoch „niemals den Kopf zu verlieren“ und „unvermuteten Störungen […] mit einer gewissen festen Unverschämtheit entgegenzutreten“.4 Die Szene ist ein Beispiel der um 1800 forcierten Ausdifferenzierung kritischer und auch philologischer Kommunikation,5 hier unter Einbeziehung der rezeptionsästhetischen Dimension. Die Inszenierungspraxis spielt nicht nur im Theater, sondern auch im Konzert oder bei einer Lesung eine wichtige Rolle. Gefolgt wird einer weitgehend regelhaften, ritualisierten Inszenierung des Auftritts samt seiner Rahmung, wie etwa beim Konzert das Stimmen der Instrumente, das Dimmen des Lichts oder in der

1 Zum komplexen Phänomen der Aufmerksamkeitsökonomie vgl. Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München, Wien 1998. 2 Ludwig Tieck: „Der junge Tischlermeister. Novelle in sieben Abschnitten“. In: Ders.: Werke in vier Bänden. Nach dem Text der ,Schriften‘ von 1828–1854, unter Berücksichtigung der Erstdrucke. Hg. v. Marianne Thalmann, Bd. 4. Romane. München 1966, S. 204–538, hier S. 291. 3 Ebd., S. 294. 4 Ebd., S. 295. 5 Vgl. dazu zuletzt Michael Buschmeier: Poesie und Philologie der Goethezeit. Studien zum Verhältnis der Literatur mit ihrer Wissenschaft. Tübingen 2008. – Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Berlin, New York 2007.

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Oper auch das Heben des Vorhangs. Die Einstimmung oder, wie in Tiecks Konzertszene, die bewusste Störung dieser Atmosphäre dient als Voraussetzung für die Werkentfaltung und für dessen Rezeption. Wie kritische Kommunikation gerade auch den Literaturdiskurs prägt, oder, anders ausgedrückt, wie sich das Schreiben unter den Bedingungen von Kritik, Philologie und Literaturtheorie verändert hat, zeigt Steffen Martus in seiner Studie Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert.6 So wird, etwa ein Roman, durch die Kritik, systemtheoretisch gesprochen, zur „Kompaktkommunikation“ verdichtet und damit bis zu einem gewissen Grad zur sozialen Wirklichkeit.7 Die zunehmende Negativität der kritischen Kunstkommunikation, so Martus, sei ein „Effekt der konzeptionellen Durchsetzung der Schriftkultur“.8 Derrida habe in seiner Logozentrismus-Kritik das geschriebene Werk als „buchförmiges, totales Gebilde“ beschrieben, das in ein „dichtes Netz tief sitzender kultureller Überzeugungen eingebettet ist“, um Begriffe wie Präsenz, Wahrheit oder Wissenschaft zu hinterfragen.9 Beim schrittweisen Übergang von der Oralität zur Buchkultur geht es aber zu allererst um den Verlust der buchstäblichen Präsenz des Autors (oder vormals Sängers) sowie der damit verbundenen rhetorischen und klanglichen Möglichkeiten des mündlichen Vortrags. Ob die zunehmende Negativität in der kritischen Auseinandersetzung vielleicht auch mit dem körperlichen Verschwinden des Autors und, damit einhergehend, mit der abnehmenden Beißhemmung des Kritikers zu tun hat, mag auch eine Rolle spielen und bedarf einer gesonderten Untersuchung. Die zunehmend negativ ausgerichtete, distanzierte Kritik greift nun immerhin auf einschlägige Bildbereiche wie die der Gerichtsverhandlung, der Hofpolitik und den Krieg zurück.10

6 Martus: Werkpolitik. 7 Vgl. Niklas Luhmann: „Das Kunstwerk und die Selbstproduktion der Kunst“. In: Stil, Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1986, S. 620–672, hier S. 627f. Vgl. auch Martus: Werkpolitik, S. 44f. 8 Martus: Werkpolitik, S. 101. 9 Ebd., S. 37. Vgl. dazu Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt a. M. 1983, S. 11ff., 16ff. 10 Vgl. Martus: Werkpolitik, S. 88f. – Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992. – Rudolf Stichweh: Der frühmoderne Staat und die europäische Universität. Zur Interaktion zwischen Politik und Erziehungssystem im Prozess ihrer Ausdifferenzierung (16.–18. Jahrhundert). Frankfurt a. M. 1991, S. 72ff. – Herbert Jaumann: „Öffentlichkeit und Verlegenheit. Frühe Spuren öffentlicher Kritik in der Theorie des ‚plagium extrajudiciale‘ von Jakob Thomasius (1673)“. In: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und der Wissenschaften 4 (2000), S. 62–82. – Ders.: Critica, Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius.  





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Auch wenn jenseits der Buchkultur etwa im 19. Jahrhundert die poetische Improvisation vor Publikum11 auf die Präsenz des Autors ebenso setzt wie PoetrySlams12 oder Autorenlesungen13 in heutigen Zeiten, so sind insgesamt die schriftstellerischen Mittel der werk- und rezeptionsästhetischen Einstimmung des Lesers zu allererst auf die Sprache beschränkt. Mittel der Einstimmung wären etwa eine Rahmenhandlung, eine spezifische also überzeugungsstrategische Erzählhaltung oder auch eine bestimmte Darstellungsweise des jeweiligen Handlungskontextes, dies häufig im Hinblick auf eine spezifisch „werkpolitische Stimmung“14 Gleichzeitig bringen die Medien selbst neue Möglichkeiten hervor: Von Honoré de Balzac stammt die Befürchtung, mit jedem Foto verliere der Text eine substantielle Schicht,15 so dass sich die „Spur der Fotografie über die Spur der Texte“ legt16 – eine Konstellation, die den Text bis zu einem gewissen Grad an die Bild- und Medienwissenschaften abtritt. Die werk- und rezeptionspolitische Einstimmung setzt heute mehr denn je auf teils präsenzgebundene und teils medial vermittelte Autorinszenierung. Über die Textspur hat sich eine ganze Reihe von Spuren gelegt. Das dafür exemplarische Autorenfoto ziert nicht nur den Klappentext oder Leseplakate, sondern ist, wie das sonstige Auftreten des Autors, nur noch schwer vom Text zu lösen. Versucht ein Autor anonym zu bleiben, bleibt auch das nicht unbemerkt. Denn konsequenter Inszenierungsverzicht steht – aus guten Gründen – sofort selbst unter Insze-

Leiden, New York, Köln 1995, S. 246ff. – Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2. Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt a. M. 151990, S. 312–454. – Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 169ff. 11 Vgl. Angela Esterhammer: „,In einer schwankenden Stimmung‘. Poetic Improvisation and Audience Response in the Nineteenth Century“. In: Concordia discors. Ästhetiken der Stimmung zwischen Literaturen, Künsten und Wissenschaften. Hg. v. Georg von Arburg u. Sergej Rickenbacher. Würzburg 2011. Vgl. dazu auch Geselliges Vergnügen. Kulturelle Praktiken im langen 19. Jahrhundert. Hg. v. Anna Ananieva, Dorothea Böck u. Hedwig Pompe. Bielefeld 2011. 12 Vgl. Stephan Ditschke: „,Ich sei Dichter, sagen sie‘. Selbstinszenierung beim Poetry Slam“. In: Schriftsteller-Inszenierungen. Hg. v. Gunther E. Grimm u. Christian Schärf. Bielefeld 2008, S. 169– 184. 13 Vgl. Gunther E. Grimm: „,Nichts ist widerlicher als eine sogenannte Dichterlesung‘. Deutsche Autorenlesungen zwischen Marketing und Selbstpräsentation“. In: Schriftsteller-Inszenierungen. Hg. v. Grimm u. Schärf, S. 141–167. Das dem Beitrag vorangestellte Zitat entstammt – wenig überraschend – von Thomas Bernhard: Alte Meister. Komödie. Frankfurt a. M. 1988, S. 222f. 14 Martus: Werkpolitik, S. 371–444, hier S. 410ff., 424ff. 15 Vgl. Nadar: „Balsac et le Daguerréotype“. In: Ders.: Quand j’étais photographe (1900). Paris 1989, S. 7. 16 Christian Schärf: „Belichtungszeit. Zum Verhältnis von dichterischer Imagologie und Fotografie“. In: Schriftsteller-Inszenierungen. Hg. v. Grimm u. Schärf, S. 45–58, hier S. 48.  



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nierungsverdacht: Man kann sich nicht inszenieren. Im Bewusstsein dieses metakommunikativen Axioms à la Paul Watzlawick betritt also jeder einigermaßen reflektierte Schriftsteller die Bühne des Literaturbetriebs.17 Schriftstellerinszenierungen haben von Beginn des 20. Jahrhunderts an mit den gestiegenen technischen Möglichkeiten stark zugenommen und sich erheblich ausdifferenziert. Um in der Menge an Publikationen wahrgenommen zu werden, wird zu immer ausgefalleneren Mitteln gegriffen. Die Bandbreite erstreckt sich von Karl Mays Errichtung und Demontage der „Old-Shatterhand-Legende“18 über Raoul Hausmanns avantgardistische Selbst- und Fremdinszenierung des geistig verwirrten Johannes Baader, der mit ihm und Franz Jung die „ChristusGmbH“ gründete,19 bis hin zum blutigen Auftritt von Rainald Goetz 1983 in Klagenfurt, der ein literarisches Pendant zu sich selbst in seinem Roman Irre geschaffen hat, den Assistenzarzt der Psychiatrie namens Raspe.20 Ein aktuelles, aber inzwischen auch schon wieder normales und damit in aller Regel kein Aufsehen mehr erregendes Phänomen sind Autoren-Blogs. Einen solchen unterhielt etwa Goetz von 2007–2008 auf der Internetseite der damals noch existierenden deutschen Ausgabe der Illustrierten Vanity Fair. Blogs und auch Plattformen wie Twitter oder Facebook haben für den Künstler den Vorteil, die Selbstinszenierung und Meinungsäußerung ungefiltert zu steuern, aktuell auf Vorkommnisse zu reagieren und mit dem Publikum per digitaler Pseudo-Präsenz zu kommunizieren. Meistens ist die mediale Inszenierung dabei nicht nur Ausdruck narzisstischer Neigung, sondern geht mit ökonomischen Interessen einher und dient dem künstlerischen Ausdruck, wie etwa bei den Surrealisten oder bei Goetz, der Gesellschaftskritik und inzwischen auch der Medienkritik.

17 Zur medialen Inszenierungspraxis im Literatur- und Kulturbetrieb mit Beiträgen etwa zu Peter Handke, Elfriede Jelinek, Rainald Goetz, Hans Magnus Enzensberger, Daniel Kehlmann oder Robert Menasse vgl. den Sammelband Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Hg. v. Markus Joch, York-Gothart Mix u. Norbert Christian Wolf. Tübingen 2009. 18 Helmut Schmiedt: „Karl May – ein früher Popstar der deutschen Literatur“. In: SchriftstellerInszenierungen. Hg. v. Grimm u. Schärf, S. 59–70, hier S. 60. Vgl. dazu auch: Claus Roxin: „,Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand‘. Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen“. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (1974), S. 15–73, hier S. 20f. 19 Vgl. Yvonne-Patricia Alefeld: „Raoul Hausmann – Pose Poesie Performance“. In: Schriftsteller-Inszenierungen. Hg. v. Grimm u. Schärf, S. 117–139, hier S. 127. Ein Doppelporträt von Baader und Hausmann befindet sich auf S. 126. 20 Reinald Goetz: Irre. Frankfurt a. M. 1983. Vgl. dazu Petra Gropp: „,Ich/Goetz/Raspe/Dichter‘. Medienästhetische Verkörperungsformen der Autorfigur Rainald Goetz“. In: Schriftsteller-Inszenierungen. Hg. v. Grimm u. Schärf, S. 231–247.  

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Im Folgenden geht es zum einen um die Wechselwirkung zwischen der Präsenz des Autors und seinem Werk und der sich daran anknüpfenden Kunstkommunikation; zum anderen um literarische Strategien zur Inszenierung und Propagierung von Person und Werk, die einmal mehr und einmal weniger auf des Autors Rechnung geht. Ob diese am Ende aufgeht, hängt bis zu einem gewissen Grad vom Anteil an der Selbst- bzw. Fremdinszenierung beziehungsweise der Kontrolle darüber ab. Noch offen ist das Ende im aktuellen Fall von Norbert Gstrein, der öffentlich einen „Literaturskandal mit Ansage“ ankündigte,21 offenbar in der Absicht, die schriftstellerische und wohl auch juristische Deutungshoheit über die Skandaltauglichkeit seines einige Monate später erschienenen Schlüsselromans über seinen ehemaligen Verlag zu bewahren.22 Internationale Durchschlagskraft hatte die Debatte um Günter Grass’ SS-Vergangenheit im Sommer 2006, wobei hier weniger das vorgelegte Werk,23 sondern der Autor selbst zum Skandalon wurde. Die Kritik galt seinem jahrzehntelangen Schweigen bei gleichzeitiger moralisierender Kritik ähnlich gelagerter Fälle wie seinem öffentlichen Auftreten in den Folgemonaten, wo er im Sinne Tiecks den „unvermuteten Störungen mit einer gewissen festen Unverschämtheit“ entgegentrat.24 Um das Spannungsfeld zwischen Autorinszenierung und Zensurprovokation zu veranschaulichen, beschränkt sich der Beitrag auf vier Beispiele der Jahre 2000 bis 2010, deren Protagonisten mit je unterschiedlicher Gewichtung Nutznießer oder auch Opfer der jeweiligen kritischen Debatte wurden. In den ersten beiden Fällen handelt es sich um zwei Autorinnen, die zunächst gewissermaßen durch das Netz der Kritik geschlüpft sind, anfangs hochgelobt, plötzlich ‚entlarvt‘ und daraufhin in Zweifel gezogen wurden. Bei dieser, als ‚Frage der verlorenen 21 Richard Kämmerlings: „Die ganze Wahrheit über Suhrkamp. Ein Literaturskandal mit Ansage“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18.6.2010, S. 33. 22 Vgl. Norbert Gstrein: Die ganze Wahrheit. München 2010. 23 Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen 2006. Debattenauslöser war das Interview mit dem Autor „Warum ich nach sechzig Jahren mein Schweigen breche“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 12.8.2006, S. 33. 24 Tieck: Der junge Tischlermeister, S. 295. Vgl. dazu Günter Grass: Dummer August. Gedichte. Lithographien, Zeichnungen. Göttingen 2007. Im Klappentext heißt es, es handele sich dabei um die „künstlerische Reaktion auf die Mediendebatte rund um das Erscheinen seines Erinnerungsbuchs“. Die Kritik bewertete das Buch einhellig als das Buch eines „störrischen, trotzigen, tief gekränkten Mannes“ (Verena Auffermann: „In Scherben baden. Was sich Günter Grass und Martin Walser zum 80. Geburtstag schenken“. In: Die ZEIT v. 29.3.2007, S. 54) das vom kraftlosen „Selbstmitleid einer beleidigten Leberwurst“ (Arno Widmann: „Der wahre Dichter therapiert sich selbst. Günter Grass antwortet seinen Kritikern in dem neuen Gedichtband ,Dummer August‘“. In: Frankfurter Rundschau v. 21.3.2007, S. 15) und „wehleidiger Selbstgerechtigkeit“ (Edo Reents: „Ich war dabei. Das Treffen in Behlendorf: Günter Grass verarbeitet sein SS-Geständnis“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 21.3.2007, S. L 3) getragen sei.

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Ehre‘ bezeichneten Konstellation, geht es zum einen um Kathrin Passigs Sieg beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt im Jahr 2006 und zum anderen um Helene Hegemanns Aufstieg und Fall anlässlich ihres Romandebüts und Bestsellers Axolotl Roadkill. Der zweite, mit „Das Urteil oder der gebrauchte Jude“ überschriebene Teil handelt von Maxim Billers zum Justizfall gewordenen Roman Esra, bei dessen Erörterung es weniger um die Frage von Kunstfreiheit gehen soll, als vielmehr um die der intendierten Zensurprovokation. Um die Frage von Provokation und Zensur geht es schließlich auch im Fall des im Roman inszenierten Mordes an einem Juden, also um Martin Walsers Tod eines Kritikers.

Eine Frage der verlorenen Ehre Kathrin Passigs Auftritt in Klagenfurt im Sommer 2006 ist ein Musterbeispiel perfekter Inszenierung, und es bleibt rätselhaft, warum keiner der Juroren die subversive Absicht der Berlinerin auch nur in Ansätzen durchschaut hat. Offenbar – und das wäre nicht die schlechteste Erklärung – weil der Text trotz der Inszenierung gelungen ist. Bereits das selbst gedrehte, knapp drei-minütige Videoporträt über die Autorin25 mit bedeutungsschwangeren Phrasen und hochgeschraubten Metaphern hätte aufmerken lassen müssen, so deutlich war der ironische Unterton der Germanistin und Journalistin in Bezug auf die Literaturwissenschaft und den Betrieb: „Goethe, Thomas Mann, Brecht“ heißt es da über die Autorin mit betulicher Stimme, „sagen ihr etwas, jedenfalls dem Namen nach“ oder „Kathrin Passig geht dahin, wo es wehtut“ und „Sie muss schreiben, um ein Zeichen zu setzen, jeder Anschlag ist ein Anschlag auf das Nichts“. Diese Phrasen lassen sich im Hinblick auf die romantische, mitunter ironische Reflexion zur Überbietung von Kritik und Philologie mir ihren eigenen Mitteln lesen, allerdings hier mit einem durchaus bösartigen, sehr deutlichen Zungenschlag. Der kurze Film hat einen Subtext, der den Missionscharakter des Auftritts ankündigt und Zeugnis des Siegeswillens ist: Die Schluss-Szene des Videoclips legt nahe, dass sich Passig mit dem Publikumspreis, der bis 2008 von der österreichischen Firma Kelag finanziert wurde, offenbar nicht zufrieden geben will. Beim Verlassen eines Lokals steckt sie einem bettelnden Obdachlosen, der ein T-Shirt mit dem Schriftzug der Firma trägt, etwas in den ihr entgegengestreckten Pappbecher, das dieser herausfischt und ihr, offenbar empört, nachwirft. Der Obdachlose mit dem Firmenshirt hätte den Juroren auch bekannt sein müssen, er hatte

25 Das Videoporträt findet man unter URL: http://www.youtube.com/watch?v=rhtK96oGdRI (Stand: 22.12.2010).

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zwei Jahre zuvor eben diesen Publikumspreis in Klagenfurt erhalten, es handelt sich um Passigs Berliner Agentur-Kollegen, den Schriftsteller Wolfgang Herrndorf. Die Video-Inszenierung endet mit dem Abstieg der Autorin in einen Kellerschacht. Dieses buchstäbliche Verschwinden im Untergrund oder im Subtext wird in der Deutung durch den sinnlosen, wichtigtuerisch vorgetragenen Kommentar sofort destruiert. Indem der Erzähler sagt, was ohnehin zu sehen ist – „und hier steigt Katrin Passig in den Keller“ –, persifliert er den nacherzählenden Gestus mancher Sekundärliteratur, die auf plumpe Bilder anspringt, um diese überzuinterpretieren. Auf die Gefahr hin, dies hier auch zu tun, gelten die folgenden Überlegungen Passigs vorgetragenem Beitrag, den die Autorin im Camouflage-Shirt vorgelesen hatte: Der Titel des kurzen Textes Sie befinden sich hier bezieht sich nicht nur auf dessen Inhalt, sondern bildet einen Rückverweis auf den von ihr ironisierten Literaturbetrieb, für den man sich in den Keller, also in quasi-geistige Umnachtung und damit nach Klagenfurt begeben muss. Der Text26 handelt von einer Person, die, in einen Schneesturm geraten,27 auf merkwürdig abgeklärte Weise Strategien des Durchkommens entwirft und plötzlich merkt, wie sich ein „Tropfen Blut“28 von ihrer Stirn löst und im Schnee versinkt. Die Sorge, hier könnten „alte Wunden“ aufbrechen, kommt nicht auf, denn „es handelt sich um einen frischen wie harmlosen Kratzer“.29 Beim Verweis auf die Goetzschen Schnittwunden bleibt es nicht, vielmehr vergleicht sie ihre subtile, höchst wirkungsvolle Art, in der Extremsituation durchzukommen, mit der eines Maulwurfs oder eines „Menschen, der versucht, die Erde unter sich zu drehen“.30 Dies ist nicht nur die Rücknahme der Kopernikanischen Wende, sondern eine Selbstermächtigung, die, so könnte man es metaphorisch lesen, die Welt der Jurymitglieder und Kritiker ihrem Willen unterwirft. Hauptsache ist: „Ich komme ans Ziel“.31 Selten war sich die Jury, aber auch das Publikum so einig über die Qualität eines Textes.

26 Kathrin Passig: Sie befinden sich hier (2006). URL: http://bachmannpreis.orf.at/bachmannpreis/texte/stories/117531/ (Stand: 22.12.2010). Der Text und Auszüge aus der Diskussion der Jury sind auch nachzulesen in: Die Besten 2006. Klagenfurter Texte. Die 30. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Hg. v. Iris Radisch. München, Zürich 2006, S. 23–35 sowie S. 36–44. 27 Von Markus Joch stammt der auf der Marbacher Tagung geäußerte Hinweis, Passig könnte, nicht zuletzt im Hinblick auf den Thomas-Mann-Forscher und Jurymitglied Heinrich Detering, hiermit auch auf Thomas Manns „Schneekapitel“ aus dem Zauberberg angespielt haben. Dafür spricht die prominente Nennung Thomas Manns im Videoclip, dagegen, dass Passig nicht von Detering, sondern von der Kritikerin Daniela Strigl vorgeschlagen worden war. 28 Passig: Sie befinden sich hier. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd.

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Heinrich Detering war überzeugt, man habe eine „sehr gute deutsche Schriftstellerin entdeckt“.32 Nur Iris Radisch zog vorsichtig Parallelen zum Literaturbetrieb, in dem es für den Autor doch auch darum ginge, „in Extremsituationen ein bewegliches Verhältnis zur Umwelt“ zu behalten und dies „literarisch und sprachlich neu“33 auszuhandeln, denn andernfalls drohe ihm der Untergang. Während Passigs Paratexte das Inszenierungsgehabe übertreiben und damit ironisieren, zeigt die Autorin auf textlicher Ebene buchstäblich die Repoetisierung der Welt, indem sie den Kampf ums Überleben im Schneesturm fiktionalisiert und gleichzeitig auf hohem Reflexionsniveau ironisch bricht, was zusätzliche Bedeutungsebenen und Lesarten anbietet. Wie in der Inszenierung des Clips vorgegeben, hat sie ihr Ziel erreicht und nicht nur den Bachmannpreis, sondern auch den Publikumspreis gewonnen. Auf der Homepage der Zentralen Intelligenzagentur war kurz darauf zu lesen: „Mission erfüllt“.34 Zwei Jahre nach ihrem Sieg und nahezu einhelligen Lobeshymnen erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung der ernüchternde Kriterienkatalog des Weblogs Riesenmaschine,35 deren Vorsitzende Kathrin Passig ist. Es handelt sich dabei um eine „automatische Literaturkritik“, die Text, Auftreten, Videoporträt und Lebenslauf nach bestimmten Kriterien einteilt und mit einer bestimmten Punktzahl versieht, deren Addition zum Sieg führt. Pluspunkte werden etwa vergeben für „Handlung spielt in einem Radius unter einem Kilometer“ oder „Autor kopiert schamlos bekannte Erfolgsmodelle“; Negativpunkte gibt es für „Rolltreppen, Rollbänder, Aufzüge, Großaufnahme gehender Füße im Autorenporträt“ oder auch für „bescheuerte Synonyme, wie ,Destillat‘ für Schnaps, ,Gerstensaft‘ für Bier, ,weltweites Netz‘ für Internet (den so genannten „Wolf-Schneider-Punktabzug“). Die damit einhergehende Entzauberung von Literatur und Literaturkritik ist in der Öffentlichkeit offenbar schlicht zur Kenntnis genommen worden, die Zentrale Intelligenzagentur ist inzwischen regelrecht offiziell in Klagenfurt, um

32 Heinrich Detering zitiert nach URL: http://bachmannpreis.eu/de/archiv/70 (Stand 22.12.2010). Vgl. Heinrich Detering: „Aus der Diskussion der Jury“. In: Die Besten 2006. Hg. v. Radisch, S. 36–44. 33 Iris Radisch: „Aus der Diskussion der Jury“. In: Die Besten 2006. Hg. v. Radisch, S. 36–44. URL: http://bachmannpreis.orf.at/bachmannpreis/texte/stories/118151/ (Stand: 22.12.2010). 34 Harald Staun: „Und nächstes Jahr den Nobelpreis“. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 2.7.2006, S. 23. Zur Inszenierungspraxis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb vgl. Doris Moser: „Feldspieler und Spielfelder“. In: Mediale Erregungen? Hg. v. Joch, Mix u. Wolf, S. 189–204. 35 Oliver Jungen: „Automatische Literaturkritik“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 30.6.2008, S. 35. Online steht der Kriterienkatalog auch auf der Homepage der Riesenmaschine. Das brandneue Universum unter URL: http://docs.google.com/Doc?id=d3nxxvf_1073tr8nfmdq (Stand: 22.12.2010).

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mit einem immer wieder aktualisierten Kriterienkatalog einen eigenen Preis („Preis der Riesenmaschine“) zu vergeben.36 In Bezug auf die kriteriengemäße Produktion ihres eigenen Textes bestreitet Passig bis heute irgendeine Absicht. Bislang gibt es bei der Bewerbung für den Bachmann-Preis noch keine irgendwie geartete, offizielle Zensur von Texten aus dem Umfeld der Zentralen Intelligenzagentur oder der Riesenmaschine. Im Jahr 2010 hatte sich Passigs Lebensgefährte Aleks Scholz mit seinem Text Google Earth zum Wettlesen qualifiziert, den Ingeborg-Bachmann-Preis hat er jedoch nicht gewonnen.37 Mit Kathrin Passig als Siegerin in Klagenfurt haben die Juroren zwar einen guten Fang gemacht, gleichzeitig ist ihnen dabei das inszenierte Gesamtkunstwerk mitsamt seiner Kritik an Literatur- und Preispolitik durch ihr Kritikernetz geschlüpft. Die ironische Reflexion konnte die Kritik mit deren eigenen Mitteln für einen Moment überbieten und hat damit eine differenziertere Kunstkommunikation ermöglicht. Deutlich größer war der Skandal Anfang 2010, als eine verhuscht und zugleich (angeblich) hoch reflektiert auftretende Jungautorin mit, so von den Medien kolportiert, prekärer Kindheit (Halbwaise, Vater im Künstlermilieu) einen erschütternden, offenbar autobiographischen Debütroman vorgelegt hatte, der von der Kritik zunächst einhellig bejubelt wurde: Helene Hegemanns Axolotl Roadkill38 sei der Roman über eine „wirklich kluge, wirklich beschädigte und wirklich junge Frau“,39 der ins „Zentrum der Konsensgesellschaft“ zielt, der „Coming-of-age-Roman der Nullerjahre“40 und der in Form einer „schrillen Sinfonie“, eines „Kugelblitzes in Prosaform“41 daherkomme. Als bekannt wurde, dass Helene Hegemann passagenweise abgeschrieben hatte und damit der Plagiatsvorwurf im Raum stand, kippte die Stimmung, und die so eben noch gefeierte Debütantin wurde zur umstrittenen Figur der deutschen Literaturszene, der plötzlich Empörung, Häme, aber auch Mitleid entgegenschlugen. Das Bild des genialischen Mädchens wurde ersetzt durch das Bild einer wichtigtuerischen Abschreiberin.

36 Vgl. dazu URL: http://www.zentrale-intelligenz-agentur.de/projekte.html sowie URL: http:// riesenmaschine.de/ (Stand: 10.11.2011). 37 Stattdessen aber gewann Scholz im dritten Anlauf immerhin den Ernst-Willner-Preis (vgl. URL: http://bachmannpreis.eu/de/information/2830 (Stand: 22.12.2010)). 38 Helene Hegemann: Axolotl Roadkill. Berlin 2010. 39 Dorothea Dieckmann: „Nicht gesellschaftsfähig? Die gemäßigte Rebellion von Helene Hegemanns ,Axolotl Roadkill‘“. In: Neue Zürcher Zeitung v. 4.2.2010, S. 50. 40 Mara Delius: „Mir zerfallen die Worte im Munde wie schlechte Pillen“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22.1.2010, S. 35. 41 Ursula März: „Literarischer Kugelblitz. Im Koksnebel: Helene Hegemanns heftiges Romandebüt ,Axolotl Roadkill‘“ In: Die Zeit v. 21.1.2010, S. 45.

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Selten hat sich die Einschätzung eines Werkes nach Kenntnis der neuen Fakten so drastisch geändert, dem inhaltlich und formal gelobten Buch wurde sogar der Literaturcharakter abgesprochen, es handele sich, so war nun zu lesen, schlicht um schlecht gemachte Pornographie. Bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, die nur auf Antrag tätig wird, war nach Aussage der Bonner Behörde jedoch kein Antrag eingegangen, der eine Indizierung des Buches zur Folge haben könnte.42 Den Fall, dass man eine Minderjährige vor der Jugendgefährdung ihres eigenen Buchs schützen müsse, habe es noch nicht gegeben – genauso wenig wie wahrscheinlich einen Antrag auf Prüfung eines auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises befindlichen Buchs. Auch wenn sich die Juroren der Leipziger Buchmesse, auf deren Shortlist der Roman vor Bekanntwerden des Plagiatsvorwurfs gelandet war, redlich bemühten, das Rad noch einmal zurückzudrehen und das Buch unvoreingenommen zu lesen, so war das Kind längst in den Brunnen gefallen. Die Nichtprämierung war dann auch wenig überraschend. Alle Versuche, der Autorin beizuspringen, etwa mit dem Hinweis auf ein gängiges Montageverfahren und Intertextualiät, auf ein geändertes Urheberrechtsempfinden der Internetgeneration, auf eine nahezu identische Plagiatsdiskussionen schon vor bald 100 Jahren,43 den feministischen Vorwurf an die „alten Männer des Kulturestablishments“,44 die es nicht verkraften könnten, dass eine junge Frau sie an der Nase herumgeführt habe, all dies konnte an dem beschädigten Bild wenig ändern.45 Die Kontrolle über die Selbstinszenierung war der Autorin (respektive ihrem Verlag und/oder Vater) entglitten, der Diskurs hatte eine Metaebene erreicht, in der immerhin eines stimmte: die Quote und die Verkaufszahlen. Der Versuch einer gerichtlich erwirkten Zensur des Buches oder einer Klage wurde von dem bis dahin unbekannten Blogger Airen, dem Autor der Vorlage Strobo,46 nicht einmal unter-

42 Telefonische Anfrage bei der Behörde im Juli 2010. 43 Vgl. dazu etwa: Roman Bucheli: „Die fromme Kunst des frohen Zitierens. Helene Hegemann legt die Quellen offen, aus denen sie in dem Roman ‚Axolotl Roadkill‘ stillschweigend zitiert hat. Ein Lehrstück in Literaturkritik“. In: Neue Zürcher Zeitung v. 18.2.2010, S. 21. – Jürgen Graf: „Die Kunst des Täuschens. Literatur an den Grenzen des Copyrights. Helene Hegemann schrieb nicht ab, sondern verfasste einen Montagetext – und sie hat berühmte Vorgänger wie Bertolt Brecht, Thomas Mann, Georg Büchner und Elfriede Jelinek“. In: Die Zeit v. 18.2.2010, S. 47. 44 Iris Radisch: „Die alten Männer und das junge Mädchen. Warum das männliche Kulturestablishment auf Helene Hegemann einschlägt“. In: Die Zeit v. 18.2.2010, S. 45. 45 Vgl. dazu auch von Felicitas Lovenberg: „Literatur auf Stimmenfang, ,Generationsromane‘ der neueren Art wecken vor allem die Neugier erwachsener Leser“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 20.3.2010, S. 1 (Leitartikel). 46 Airen: Strobo. Berlin 2009, unter eben diesem Titel neu aufgelegt bei Hegemanns Verlag (Ullstein), Berlin 2010.

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nommen, die Einigung fand auf einer anderen, finanziellen Ebene statt. Die eigentliche Zensur kam von der sich getäuscht gefühlten (medialen) Öffentlichkeit, denn wer beim Abschreiben erwischt wird, kann auch im Nachhinein noch eine andere, nämlich schlechte Zensur erhalten. Die Doppeldeutigkeit des Wortes ‚Zensur‘ ist an dieser Stelle kein Wortspiel, sondern zeigt den Bedeutungsspielraum der aus dem Lateinischen kommenden ‚Zensur‘ (von lat. censura).47 Die ‚censura‘ war ursprünglich eine Sittenaufsicht über Senatoren und Ritterschaft, also rein moralischer Natur; erst in späteren römischen Gesetzestexten und auch im Kirchenrecht bedeutet Zensur generell Strafe, in der Kirche Beuge- oder Besserungsstrafe, also etwa Exkommunikation. Mit der Erfindung des Buchdrucks und im Zuge der Reformation verengt sich die Bedeutung der Zensur auf eine stilistische und inhaltliche Prüfung der Schriften zum Schutz von Staat und Kirche. Jedoch schon bei Horaz wird der Dichter zum Zensor seiner eigenen Schriften, die er kritisch, im Sinne einer Vorzensur in eigener Sache – mit „des unbestechbarn Censors strengen Sinn / vor dem nichts Tadelhaftes Gnade findet“48 – zu überarbeiten hat. Auch wenn die Autorin (oder die hinter ihr stehenden Verantwortlichen) sich angeblich keines Plagiats und der damit verbundenen Provokation bewusst war, das sie in juristischer Hinsicht zur Selbstzensur bzw. Selbstkontrolle49 verpflichtet hätte, deutet ihre Danksagung auf einen bewussten Verstoß. Sie dankt nicht dem Blogger Airen (zumindest nicht in der ersten Auflage),50 sondern der 1997 verstorbenen amerikanischen Schriftstellerin Kathy Acker,51 die nicht nur auf Grund ihrer pornographischen, zum Teil indizierten Texte und ihres Willens zum Personenkult Aufmerksamkeit erregte, sondern die offensiv eine Poetik des Plagiats

47 Grundlegend und weiterführend zu ‚Zensur‘ vgl. York-Gothart Mix: „Zensur“. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Hg. v. Thomas Anz, Bd. 1. Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2007, S. 492–501. – Klaus Kanzog: „Zensur“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Jan-Dirk Müller, Bd. 3. Berlin, New York 2003, S. 891–894. – Ders.: „Literarische Zensur“. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begr. v. Paul Merker, hg. v. Werner Kohlschmidt u. Klaus Kanzog, Bd. 4. Berlin, New York 21984, S. 998–1049. – Christiane Weller: „Zensur“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding, Bd. 9. Tübingen 2009, Sp. 1486–1500, hier Sp. 1486. 48 Horazens Briefe, aus dem Lat. übersetzt v. Christoph Martin Wieland. Zweyter Theil. Leipzig 1801, S. 142. 49 Zur Selbstzensur bzw. Selbstkontrolle vgl. Mix: Zensur, S. 495ff. 50 Quellennachweis und Danksagung enthalten ab der 2. Auflage neben dem Hinweis auf die „freundliche Genehmigung“ von Airens Erstverlag die Auflistung der wörtlichen oder modifizierten Zitate, sowie einen Hinweis auf Airens Blog URL: www.airen.wordpress.com (vgl. Hegemann: Axolotl Roadkill, S. 203–208). 51 Vgl. Hegemann: Axolotl Roadkill, S. 208. Während sie Airen und ihren Vater in einer Sammeldanksagung neben vielen anderen dankt, gilt bereits in der ersten Auflage ihr „[b]esonderer Dank“ Kathy Acker.

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betrieb, der sie den Namen „Plagiarismus“ gab.52 Wenn nun eine Minderjährige gegen Urheberrecht verstößt, dahinter aber ein Verlag und ein Erziehungsberechtigter stehen, erinnert das ein wenig an Kleinkriminelle, die ihre Kinder zum Klauen schicken. Die Protagonistin im Roman sagt zumindest an einer Stelle: „Mir wurde eine Sprache einverleibt, die nicht meine eigene ist“.53 Schon auf den ersten Seiten, noch vor dem Vorwort, steht der Dialog zwischen der Protagonistin Mifti und ihrem Bruder Edmond, der die Poetologie verdeutlicht und das Unrechtsbewusstsein zeigt, wenn auch unterläuft. Auf die Frage von Mifti, ob der Satz „‚Berlin is here to mix everything with everthing, Alter‘“ von ihrem Bruder stammt, antwortet dieser: ,Ich bediene mich überall, wo ich Inspiration finde und beflügelt werde, Mifti, Filme, Musik, Bücher, Gemälde, Wurstlyrik, […] Licht und Schatten, genau, weil meine Arbeit und mein Diebstahl authentisch werden, sobald etwas meine Seele berührt. Es ist egal, woher ich die Dinge nehme, wichtig ist, wohin ich sie trage.‘ ,Es ist also nicht von Dir?‘ ‚Nein. Von so ‘nem Blogger.‘54

Das Spiel mit den Grenzen des Urheberrechts, bei dem Hegemann sich mehr volens als nolens die Finger verbrannt hat und sich bei ihr auch im Verlauf der Debatte kein Unrechtsbewusstsein einzustellen schien,55 ist Ausdruck der eigentümlichen Beziehung von Autonomie und Heteronomie innerhalb der Kunstkommunikation mit nicht unerheblicher Durchschlagskraft auf die soziale Lebenswirklichkeit. Aus dem Stoff ließe sich ohne weiteres ein zweiter Roman schreiben, zu denken wäre an einen von Böll entlehnten Titel, „Die verlorene Ehre der Helene H. Wie ein Roman entsteht und wohin das führen kann“. Der plagiierte Blogger Airen hat die Gelegenheit genutzt und sofort noch einen Roman unter dem Titel I am Airen Man vorgelegt.56 Dass dieser Roman überhaupt entstanden war, lag, so war in den Rezensionen zu lesen, an der Plagiatsgeschichte. Wohin das führen kann und dass am Ende einer für diese Frühjahrsdebatte bestraft werden müsse, zeige dieser nunmehr auf den Buchmarkt gekommene „Blogausdruck“, der als „Strafe für den Hegemann-Hype“ bezeichnet wurde.57

52 Vgl. etwa Ellen G. Friedman: „A conversation with Kathy Acker“. In: The Review of Contemporary Fiction 9 (1989) H. 3, S. 12–22. 53 Hegemann: Axolotl Roadkill, S. 47. 54 Ebd., S. 13. 55 Vgl. dazu Helene Hegemanns rechtfertigende Antwort „An meine Kritiker“. In: Die Zeit v. 29.4.2010, S. 49. 56 Airen: I am Airen Man. Berlin 2010. 57 Oliver Jungen: „Dionysos war beim Friseur, Nietzsche für Doofe. Airen, der von Helene Hegemann plagiierte Blogger, wendet sich in seinem zweiten Roman vom harten Leben ab und nimmt die letzte Ausfahrt Wickelkurs“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 16.4.2010, S. 34.

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Das Urteil oder der gebrauchte Jude Maxim Biller hält das umstrittene Hegemann-Buch für „große, unvergessliche Literatur“ und zugleich für ein Buch, „vor dem sich jeder, der über dreißig ist, hüten sollte“. Wer die Autorin ist und wie es ihr geht, interessiert ihn nicht, schreibt er am Ende seiner Lobeshymne in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Ihn interessiere ausschließlich der Text und dieser ist, so Biller, „gemein, traurig, pervers, kitschig [und] blutrünstig“ und „die Personen, die darin vorkommen, sind unsympathisch bis zum Erbrechen.“58 Auch Biller selbst bedient sich gerne heikler Stoffe oder umstrittener Formen für seine Literatur. Dass man mit Anstößigem, davon abgestoßener Kritik und dadurch angestoßener Zensur durchaus nützliche Aufmerksamkeit bekommen kann, berichtet schon Tacitus in den Annales: Buchvernichtung oder die Verbannung des Autors ins Exil (wie etwa bei Ovid) führe, so Tacitus, weniger zum Vergessen des Autors oder seines Werks, als vielmehr zur Steigerung des Ruhms in der Nachwelt.59 In dem Roman Esra60 geht es um eine komplizierte Liebesgeschichte zwischen dem Schriftsteller Adam und dessen türkischer Lebensgefährtin Esra. Adam hat für Esras Bitte, ihr Intimleben nicht in einem seiner Romane zu verarbeiten, kein Verständnis. Er hält diese für einen Ausdruck ihrer Engstirnigkeit, außerdem brauche er als Autor die Freiheit, über alles schreiben zu können. Und diese Freiheit wollte sich offenbar auch Biller nehmen, indem er den Roman, dessen Wirkung er mit einkalkuliert, über seine Ex-Freundin und (deren Mutter) schreibt, die sich bekanntlich gegen die Veröffentlichung zur Wehr setzten. Anstoß erregend waren dabei weder Form noch Inhalt der intimen Beschreibung, sondern die implizit damit verschachtelte Verletzung der Intimsphäre der realen Schlüsselfigur, der ehemaligen Lebensgefährtin von Biller, deren Identität nicht ausreichend verschlüsselt war, stets unter der Voraussetzung, dass fiktionale und ‚reale‘ Welt in ihrer Gegenüberstellung nicht voraussetzungslos gleich gesetzt werden.61

58 Maxim Biller: „Glauben, lieben, hassen. Ein deutsches Romandebüt mit einer solchen Kraft hat es lange nicht gegeben: Helene Hegemanns ,Axolotl Roadkill‘ ist ein Buch der Revolte gegen die Welt der Erwachsenen“. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 24.1.2010, S. 19. 59 Vgl. Tacitus: Annales IV, 32–38, zitiert nach Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation 2. Hg. v. Aleida u. Jan Assmann. München 1987, S. 28–37, hier S. 30. 60 Maxim Biller: Esra. Köln 2003. Die erste Auflage ist nur zu wissenschaftlichen Zwecken einsehbar, versehen mit dem Hinweis auf die BGH-Entscheidung vom 21.6.2005 – VI ZR 122/04 und die des Bundesverfassungsgerichts, Beschluss des Ersten Senats vom 13.6.2007 – 1 BvR 1783/ 05. 61 Vgl. dazu auch Claude D. Conter: „Justitiabilität und Rechtmäßigkeit. Verrechtlichungsprozesse von Literatur und Film“. In: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik. Hg. v. Claude

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Im Folgenden geht es nicht um die Frage der beanstandeten Einschränkung der verfassungsrechtlich geschützten Kunstfreiheit zu Gunsten der ebenso verfassungsrechtlich gesicherten Wahrung der Persönlichkeitsrechte – dabei kann es immer nur auf eine Güterabwägung zwischen den kollidierenden Grundrechten hinauslaufen; auch geht es nicht um die Frage, inwieweit ein Verfassungsrichter die Befähigung zum Kunstrichter haben kann und mithin, ohne Berücksichtigung literaturwissenschaftlicher Gutachten, die Grenzen von Kunst festlegt – und dies in einer Zeit, in der Kunst definitionsresistenter denn je ist.62 Vielmehr geht es um die Frage des Inszenierungscharakters einer Zensurprovokation. Faktisch unterliegt der Roman einer Prohibitivzensur, die nach Drucklegung aufgrund der Anzeige der Klägerin auf einem Distributionsverbot besteht. Im Rahmen des Kunstsystems und der kritischen Kommunikation über Kunst spielt die Neuheit eine wichtige Rolle zum Zwecke der Aufmerksamkeitsbündelung, aber auch um der Ausdifferenzierung der ästhetischen Mittel innerhalb des Kunstdiskurses willen. Alles Neue ist, so Bazon Brock, stets barbarisch und so erklärt er den Künstler, zumal des 20. Jahrhunderts, zum Barbaren.63 Inhaltlich und formal sind seit der Moderne weitgehend alle Möglichkeiten ausgereizt. Die äußersten Grenzen von Sprache und Form sprengten bereits die Avantgardisten mit ihren sinnlosen Lautgedichten und den berüchtigten Auftritten von Hugo Ball im Priestergewand im Cabaret Voltaire.64 Um mit seinen Inhalten aufzuregen, muss man letzte Tabus brechen wie Helene Hegemann mit der drastischen Darstellung von Sexualität mit Kindern, erzählt von einem betroffenen Kind, geschrieben von einer minderjährigen Autorin. Ein sich im Literaturbetrieb als Kritiker und Autor derart selbstverständlich bewegender Schriftsteller wie Maxim Biller schreibt in genauer Kenntnis der Wirkungsmechanismen des Kunstsystems mitsamt der daran angrenzenden Systeme wie dem ökonomischen und dem juristischen.

D. Conter, Bd. 73. Justitiabilität und Rechtmäßigkeit. Verrechtlichungsprozesse von Literatur und Film in der Moderne. Amsterdam, New York 2010, S. 7–24. 62 Zum literaturwissenschaftlichen Gutachten, das dem Bundesverfassungsgericht vorlag vgl. Christian Eichner u. York-Gothart Mix: „Ein Fehlurteil als Maßstab? Zu Maxim Billers Esra, Klaus Manns Mephisto und dem Problem der Kunstfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland“. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) 32 (2007) H. 2, S. 183–227. Vgl. dazu auch Remigius Bunia: „Fingierte Kunst. Der Fall Esra und die Schranken der Kunstfreiheit“. In: Ebd., S. 161–182. 63 Vgl. Bazon Brock: Der Kulturheld als Barbar. Ästhetik des Unterlasses. Kritik der Wahrheit – wie man wird, der man nicht ist. Köln 2002. 64 Zur Entgrenzung in der Moderne vgl. Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache – Ästhetik – Dichtung. München 2004, S. 108–176.

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Die Debatte um Schlüsselromane ist keine Erfindung nach 1945.65 Schlüsselromane oder schlüsselromanhafte Szenen gab es selbstverständlich auch vor Klaus Manns Mephisto und dies nicht nur, mit Einschränkungen, in Thomas Manns Buddenbrooks oder im Zauberberg. Mit zunehmender Ausdifferenzierung des Literatur- und Kritikerwesens aber wuchs offenbar die Lust an der enthüllenden Darstellung privater und/oder beruflicher Details, wenn auch vielleicht nicht primär in ehrabschneiderischer, sondern in aller Regel in künstlerischer Absicht. Während Martin Walser mit seinem Roman Tod eines Kritikers66 sich schon im Titel als Literaturbetriebs- oder Medienbetriebsroman zu erkennen gibt, spielt Biller in Esra zunächst auf inhaltlich subtilere Weise mit den im Rechtsstaat geltenden Grenzen von Kunst – unter Inkaufnahme der im Buch mitreflektierten Persönlichkeitsrechtsverletzung seiner Lebensgefährtin. Befürworter Billers haben geltend gemacht, die Frau habe sich erst durch ihre Klagen als die Beschriebene geoutet, erst durch ihr Verhalten sei die Aufmerksamkeit auf sie gelenkt worden. Das mag angesichts der Quantität derer, die das Buch dahingehend nun lesen wollen, zutreffend sein; in der Qualität der Verletzung aber hat ihr Einschreiten verhindert, dass das Buch in der anstößigen Form veröffentlicht werden konnte. Eine solche Ansicht verkennt zudem das rechtsstaatliche Interesse an Wiederherstellung und Sicherung der öffentlichen Ordnung sowie die Entschädigung des Opfers auf zivilrechtlicher Ebene. Biller und sein Verlag haben die rechtlichen Konsequenzen möglicherweise aber nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern provoziert, um damit nicht zuletzt im Sinne ökonomischer Aspekte eine größere Öffentlichkeit zu erreichen. Zugleich haben sie dabei die Grenzen künstlerischer Möglichkeiten in juristischer Hinsicht nicht ausgeweitet, sondern, im Gegenteil, fest zementiert. Auch wenn die juristischen Grenzen nun enger gesteckt, oder sagen wir, genauer definiert sind,67 so ist der Nachruhm in Tacitus’ Sinne jedenfalls einigermaßen gesichert: Wer in Zukunft einen Schlüsselroman schreiben will, wird sich nicht mehr nur auf das Mephisto-Urteil von 1971, sondern auf die Vorgaben des Esra-Urteils und Billers Buch beziehen müssen.

65 Vgl. dazu: Gertrud Maria Rösch: Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur. Tübingen 2004. 66 Martin Walser: Tod eines Kritikers. Frankfurt a. M. 2002. 67 Vgl. dazu Heribert Prantl: „Die Kunstrichter von Karlsruhe“. In: Süddeutsche Zeitung v. 13./ 14.10.2007, S. 13. – Uwe Wittstock: „Wenn Richter über Romane richten“. In: Welt online v. 14.6.2007. URL: www.welt.de/kultur/article944638/Wenn_Richter_ueber_Romane_richten. html (Stand: 15.5.2013). Vgl. dazu auch ders.: Der Fall Esra. Ein Roman vor Gericht. Über die neuen Grenzen der Literaturfreiheit. Köln 2011 sowie Eva Inès Obergfell: „Der Fall Esra – Eine Neujustierung des Verhältnisses von Persönlichkeitsrecht und literarischer Kunstfreiheit?“ In: Verrechtlichungsprozesse. Hg. v. Conter, S. 65–83.  

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Die zensierende Kontrolle der von der Literaturproduktion erschlossenen Möglichkeiten literarischer Kommunikation steht den Versuchen der Literatur gegenüber, eben diese zu ‚überlisten‘ oder zu unterlaufen. Das aufklärerisch eindimensionale Bild von restriktiver und unmoralischer Zensur ist mittlerweile weitaus differenzierter, auch in historischer Hinsicht, und zwar insofern, als die Aufklärer selbst sich der Zensur bedienten, um gegenläufige Meinungen zu unterdrücken. Spätestens mit Bourdieu und Foucault, denen es in erster Linie um gesellschaftliche Tabuisierungen ging, wird Zensur nicht mehr als ausschließlich regelwidrig und autoritär verstanden, sondern als „konstitutiver Teil von komplexen gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen“, an denen die Literaturkritik und -theorie ihren wesentlichen Anteil hat.68 Anders als Foucaults Zensurverständnis, der auch Tabuisierungen außerhalb des literarischen Feldes umfasst, geht es Bourdieu um eben dieses Feld, das „als Zensur“ fungiert, „weil derjenige, der in dieses Feld eintritt, sofort in eine bestimmte Struktur eingeordnet wird“.69 Das Esra-Urteil erinnert in einem übertragenen Sinne an ein anderes, literarisches Urteil, an Kafkas Geschichte Das Urteil.70 Wie Kafkas Figur Georg Bendemann schreibt Biller einen Text, dessen Inhalt in dem Moment destruiert wird, wo der Schreiber dazu beiträgt, dass die höchste Instanz eingreift. Der Urteilsspruch des Vaters vernichtet Bendemanns im Brief an den Freund geschilderten Lebensentwurf, der Urteilsspruch des Verfassungsgerichts vernichtet Billers Schlüsselroman über das Leben mit seiner Exfreundin. In beiden Urteilsbegründungen geht es um Wahrheit und Lüge. Der fiktionalisierte Vater bei Kafka bezichtigt seinen Sohn der Lüge, das oberste Gericht dagegen bezichtigt den Schriftsteller Biller gerade keiner Lüge, sondern beanstandet die mangelnde Fiktionalisierung. Kafkas Urteil ist unter anderem auch als Schlüsselerzählung in Bezug auf das bekanntermaßen prekäre Vater-Sohn-Verhältnis gelesen worden. Kafka hat sich bewusst nicht festlegen lassen, sein Werk inszeniert, so Oliver Jahraus und Stefan Neuhaus, wie kaum ein anderes „eine Dialektik von Interpretationsprovokation und Interpretationsverweigerung“.71 Biller hingegen forciert eine Festlegung durch die Art seiner Beschreibung und verweist damit, ob gewollt oder nicht, die dekonstruktivistischen Bedeutungsverschiebungsversuche in ihre Schranken. Im

68 Weller: Zensur, Sp. 1488f. 69 Pierre Bourdieu: „Die Zensur“ [Beitrag auf dem Literaturwissenschaftlichen Kolloquium in Lille im Mai 1974]. In: Ders.: Soziologische Fragen. Frankfurt a. M. 1993, S. 131–135, hier S. 133. 70 Franz Kafka: „Das Urteil. Eine Geschichte“. In: Ders.: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. v. Jürgen Born, Hans-Gerd Koch u. Gerhard Neumann. Frankfurt a. M. 1996, S. 41–61. 71 Oliver Jahraus u. Stefan Neuhaus: „Die Methodologie der Literaturwissenschaft und die Kafka-Interpretation“. In: Kafkas ‚Urteil‘ und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen. Hg. v. dens. Stuttgart 2002, S. 23–34, hier S. 28.  



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Sinne eines recht neuen, sehr subjektiven Schriftstellerverständnis mit dem Hang zur Selbstinszenierung holt er auf eine so noch nicht dagewesene Weise den ehemals totgesagten Autor ans Licht,72 wie auch der Untertitel „Selbstbildnis“ von Billers jüngstem Buch offenbart.73 Dass Biller auch mit gesellschaftlich-inhaltlichen Tabus zu brechen vermag, zeigt der Haupttitel eben dieses Buchs. Er lautet Der gebrauchte Jude. Einen solch provozierenden Titel gesteht man ihm als jüdischem Autor zu, wie auch der Comedian Oliver Polak ein Buch mit dem Titel Ich darf das. Ich bin Jude74 schreiben konnte, welches dann im Sinne vorauseilender Political Correctness von Henryk M. Broder besprochen wurde.75 Wie stark die Biographie des Autors und der zeitgeschichtliche Kontext von Autor und Werk bei der Bewertung eines Buches eine Rolle spielen, zeigt die anhaltende Debatte um Martin Walser, der aus verschiedenen Gründen immer wieder unter Antisemitismus-Verdacht geriet. Es geht im Folgenden nicht um die Hintergründe von Walsers „PaulskirchenRede“ und der sich anschließenden „Walser-Bubis-Debatte“,76 sondern vielmehr um eine Beleuchtung der kritischen Kommunikation zwischen dem Autor und seinem Kritiker. Dass ein solches Verhältnis wie das von Walser zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung und im Speziellen zu deren langjährigem Literaturchef Marcel Reich-Ranicki oftmals einem Wechselbad der Gefühle gleicht, gehört zu den Teilnahmebedingungen am Diskurs, insofern als sich die Beteiligten über die Subjektivität von Maßstäben der Kritik im Klaren sind oder zumindest sein sollten. Schon in der frühen Neuzeit gab es Gründe, sich am literarischen Diskurs nur mit „Furcht und Zittern“ zu beteiligen.77 Ein späteres Beispiel, aus dem 19. Jahrhundert, ist etwa das Zerwürfnis zwischen dem einflussreichen, in jungen Jahren an die Macht gekommenen Kritiker Wolfgang Menzel und seinem ehemaligen, wie er ihn nannte, ‚Adjutanten‘ im Cotta Verlag Karl Gutzkow. Menzels Verriss von Gutzkows Roman Wally, die Zweiflerin im Jahr 1835 trug, so Maria Zens, maßgeblich zum Verbot des „Jungen Deutschlands“ bei.78 In seiner Rezen-

72 Vgl. dazu u. a. Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hg. v. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez u. Simone Winko. Tübingen 1999. 73 Maxim Biller: Der gebrauchte Jude. Selbstbildnis. Köln 2009. 74 Oliver Polak: Ich darf das, ich bin Jude. Köln 2009. 75 Henryk M. Broder: „Jud Süß-Sauer“. In: Spiegel-Online. URL: http://www.spiegel.de/kultur/ gesellschaft/0,1518,585695,00.html (Stand: 20.11.2010). 76 Vgl. dazu ausführlich: Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation. Hg. v. Frank Schirrmacher. Frankfurt a. M. 1999. 77 Martus: Werkpolitik, S. 113. 78 Maria Zens: „Literaturkritik in der Zeit des Jungen Deutschland, des Biedermeier und des Vormärz“. In: Literaturkritik. Geschichte, Theorie, Praxis. Hg. v. Thomas Anz u. Rainer Baasner. München 32007, S. 65–79, hier S. 68.  



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sion schrieb Menzel: „So lange ich lebe, werden Schändlichkeiten dieser Art nicht ungestraft die deutsche Literatur entweihen“.79 Die Beziehung zwischen Walser und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erreichte einen ihrer Höhepunkte im Frühsommer 2002, als Reich-Ranickis Amtsnachfolger als Literaturchef und inzwischen Mitherausgeber Frank Schirrmacher in einem offenen Brief den Lesern erklärte, warum er Walsers neuesten Roman Tod eines Kritikers nicht vorabdrucken wollte.80 Auch wenn die meisten Neuerscheinungen nicht vorabgedruckt werden (als die Zeitung überhaupt noch vorabdruckte), so waren das Verfahren und der Verlauf der sich daran anschließenden Debatte doch ungewöhnlich und wurden von der Wissenschaft als „Ernstfall“ (im Sinne von Gustav Radbruch) bezeichnet.81 Wie der genaue Ablauf der Ereignisse war, wer wann welche Version des Manuskripts in den Händen hielt, wer die Fahnen wem zugeschickt oder zugesteckt hatte und wie daraus erst eine Antisemitismus-Debatte und dann eine Mediendebatte mit Frontenbildung wurde, kann man in der Dissertation über Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser von Matthias N. Lorenz aus dem Jahr 2005 detailgenau nachlesen.82 Die wissenschaftliche Arbeit ist für sich genommen ein Musterbeispiel publizistischer und wissenschaftlicher Kompaktkommunikation rund um Walsers Werk. Die Arbeit hatte zum Ziel, dem seit 2002 erneut im Raum stehenden Vorwurf, Walser spiele mit antisemitischen Klischees, nachzugehen. Das Ergebnis ist recht eindeutig, denn, so Lorenz, Walsers vorrangiges Anliegen sei „kein aggressiver Antisemitismus“, sondern vielmehr ein „nicht minder aggressiver Versuch, vermeintlich herrschende Strukturen“ zugunsten „der Konstruktion einer positiven nationalen Identität der Deutschen“ nach Auschwitz zu überwinden.83 Widerspruch blieb auch hier nicht aus, so war in der Süddeutschen Zeitung von „denunziatorisch[er]“ und „wissenschaftlich inakzeptabel[er]“

79 Wolfgang Menzel: „Wally die Zweiflerin. Roman von Karl Gutzkow“. In: Morgenblatt für gebildete Stände 29 (1835) H. 1, S. 369–376, hier S. 370. 80 Frank Schirrmacher: „Lieber Martin Walser, Ihr Buch werden wir nicht drucken. Der neue Roman von Martin Walser: Kein Vorabdruck in der F.A.Z.“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 29.5.2002, S. 49. 81 Im Vorwort ihres Sammelbandes zitieren Dieter Borchmeyer und Helmuth Kiesel die Radbruchsche Sentenz, jede Wissenschaft habe ihren „Ernstfall“ (Der Ernstfall. Martin Walsers ,Tod eines Kritikers‘. Hg. v. Dieter Borchmeyer u. Helmuth Kiesel. Hamburg 2003, S. 7–24, hier S. 24). 82 Matthias N. Lorenz: ,Auschwitz drängt uns auf einen Fleck‘. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Stuttgart 2005, S. 79–112. Die bis dahin erschienenen Forschungsergebnisse skizziert Lorenz auf den Seiten 113–138. Zum Verhältnis von Martin Walser zur Literaturkritik vgl., S. 138–147. 83 Lorenz: Judendarstellung und Auschwitzdiskurs, S. 489. Hier zitiert aus dem beigegebenen Vorwort des Historikers Wolfgang Benz, S. 12.

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„Pranger-Philologie“84 die Rede, in der Zeit vom „Antisemitismusspiel“, denn, so Ulrich Greiner, das sei eine Karte, die immer sticht.85 Jenseits der Frage, ob Lorenz mit seiner Studie richtig liegt, ob man also Walser antisemitische Motive als Mittel zum Zweck unterstellen darf, ist im Folgenden von Interesse, wie Walser immer wieder eine ungeschriebene, juristisch nicht greifbare Grenze verletzt und wie im selben Atemzug damit außerliterarische Kriterien in die Literaturkritik einfließen. Anders als Biller erfährt Walser mit seinem Schlüsselroman keine verfassungsrechtliche Einschränkung seiner Kunstfreiheit auf Grund der Verletzung von Persönlichkeitsrechten, kollidierender Jugendschutzvorschriften oder gar Volksverhetzung. Dass ein Schriftsteller wegen letzterem durchaus vor Gericht stehen kann (allerdings von dem Vorwurf frei gesprochen wurde), war im Fall von Nedim Gürsel, dem Autor des umstrittenen Buchs Allahs Töchter zu beobachten.86 Ein Hauptkritikpunkt der öffentlichen Meinung galt Frank Schirrmachers offenem Brief, der, zu einer Zeit, wo sich kein Leser eine Meinung über das Buch bilden konnte, veröffentlicht wurde, also gewissermaßen eine Vorabkritik darstellte, die manche sogar als Vorzensur bezeichneten. Dass das literarische Feld ein „Ort strategischen Agierens“ mit einem gewissen „Maß an Ruppigkeit, an Skrupellosigkeit und Unverfrorenheit“ ist, wusste man bereits um 1800.87 Beim Kampf um die Werkherrschaft versuchte der Autor, noch vor der Lektüre „das Publikum auf den richtigen Standpunkt“88 zu stellen, denn dies sei „unendlich nützlicher und heilbringender, als die hintendreinkommenden Kritiken, die dennoch den ersten Eindruck nie zerstören“.89 Aus der ausdrücklich als Argument angeführten Rücksichtnahme gegenüber ihrem langjährigen Literaturchef, hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung das ungeschriebene Gesetz der Sperrfrist und die Gepflogenheiten im Umgang mit einem möglichen Vorabdruck verletzt und somit das Publikum auf den für richtig befundenen Standpunkt gestellt. Dass bestimme Kommunikationsprozesse und Diskursverläufe innerhalb des Literatur- und Kulturbetriebs nur sehr bedingt zu steuern sind, hatte schon

84 Dieter Borchmeyer: „Pranger-Philologie. Eine Doktorarbeit zu Martin Walser“. In: Süddeutsche Zeitung v. 23.8.2005, S. 14. 85 Ulrich Greiner: „Buch im Gespräch. Martin Walser unter dem Auge des Verdachts“. In: Die Zeit v. 1.9.2005, S. 50. Über die Kritik der Kritiker: Micha Brumlik: „In Gefühlsgewittern. Matthias N. Lorenz hat Martin Walsers Werk auf antisemitische Spuren hin durchpflügt – und seine Kritiker stählen ihren Patriotismus“. In: Frankfurter Rundschau v. 8.9.2005, S. 17. 86 Nedim Gürsel: Allah’in Kizlari. Istanbul 2008. 87 Martus: Werkpolitik, S. 377. 88 Ludwig Tieck: „Vorrede zu ,Fermer der Geniale‘“. In: Dichter über ihre Dichtungen. Hg. v. Uwe Schweikert, Bd. 9/1. Ludwig Tieck. München 1971, S. 84f. 89 Robert Ludwig: „Brief an Tieck v. 30.3.1816“. In: Ebd., Bd. 9/2, S. 224.

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Friedrich Schlegel zu spüren bekommen, der auf Grund seiner schlechten Erfahrungen mit dem Athenäum zur Einsicht kam, man müsse sich von vornherein auf Missverständnisse einstellen.90 Während Tieck mit ironischer Reflexion versuchte, die Philologie zu überbieten, beließ Goethe, wie später auch Stefan George, manches bewusst im Unklaren, hinterließ Unstimmigkeiten und Anreize und strafte sein Umfeld mit Aufmerksamkeitsentzug, sobald er sich und sein Werk nicht ausreichend gewürdigt sah. Persönlichkeiten wie Goethe oder George verfügen, wie Hofmannsthal anmerkte, über die Fähigkeit zu „töten, ohne zu berühren“.91 Wie Goethe hat wohl „kein anderer deutscher Dichter […] so nachhaltig bestimmenden Einfluss auf die Rezeption seines Werkes genommen.“92 Er setzte dabei auf die Produktivität von Negativität, forcierte gar die „Pflege ,würdiger‘ Feindschaften“93 und erwies sich als Virtuose des Gesamtwerks, der für die folgende Goethe-Philologie alles ausbreitete. Hätte es damals schon ein Literaturarchiv in Weimar oder in Marbach gegeben, so hätte Goethe bestimmt seinen Vorlass an den Höchstbietenden verkauft. Heute ist es üblich, dass Schriftsteller und Intellektuelle jenseits der 60 nicht nur ihren Vorlass regeln, sondern schon zu Lebzeiten ihre Tagebücher aus den vergangenen Jahrzehnten veröffentlichen. So ist dieses Frühjahr der dritte Teil von Walsers Tagebüchern Leben und Schreiben. 1974–1978 erschienen,94 der tiefe Einblicke in das Spannungsverhältnis zwischen Literatur und Kritik gewährt. Reich-Ranickis legendäre Rezension mit dem Titel Jenseits der Literatur95 über Walsers Roman Jenseits der Liebe96 aus dem Jahr 1976, die den Autor in eine tiefe Lebenskrise stürzte, dürfte die Keimzelle für den 26 Jahre später erschienenen Roman Tod eines Kritikers gewesen sein. Bei öffentlichen Auftritten las Walser zum Erscheinen der Tagebücher immer wieder dieselbe Passage, in der er, im Zug nach Frankfurt sitzend, den Verriss liest und, verletzt und empört, beginnt,

90 Vgl. Friedrich Schlegel: „Über die Unverständlichkeit“. In: Ders.: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Hg. v. Hans Eichner. München u. a. 1967, S. 263–372, hier S. 364. 91 Stefan George u. Hugo v. Hofmannstahl: Briefwechsel. München, Düsseldorf 21953, S. 239f. 92 Christoph Perels: „Der Autor und sein Werk. Goethes Einschätzung seiner Sturm und DrangLyrik in den verschiedenen Epochen seines Lebens“. In: Ders.: Goethe in seiner Epoche. Zwölf Versuche. Tübingen 1998, S. 239–252, hier S. 239. 93 Norbert Christian Wolf: „Goethe als Gesetzgeber. Die struktur- und modellbildende Funktion einer literarischen Selbstbehauptung um 1800“. In: ,Für viele stehen, indem man für sich steht‘. Formen literarischer Selbstbehauptung in der Moderne. Hg. v. Eckhart Goebel u. Eberhard Lämmert. Berlin 2004, S. 23–49, hier S. 31. 94 Martin Walser: Leben und Schreiben 1974–1978. Reinbek b. Hamburg 2010. 95 Marcel Reich-Ranicki: „Jenseits der Literatur“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.3.1976 (Bilder und Zeiten), S. 5. 96 Martin Walser: Jenseits der Liebe. Frankfurt a. M. 1976.  



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allerhand Rachepläne zu entsinnen, die er – auf Betreiben seines Verlegers Siegfried Unseld – nur seinem Tagebuch ankündigt: Das Publikum, vor dem Sie die Motive meiner publizistischen Arbeit diffamieren, kann ich nur erreichen, wenn ich gegen Sie prozessiere oder Sie ohrfeige. Da mir zum Prozessieren das Geld fehlt, bleibt mir nichts anderes als die Ohrfeige […] Sie werden, bitte, jetzt nicht auch noch die Geschmacklosigkeit haben, diese Ankündigung als Antisemitismus zu bezeichnen.97

Walser sieht sich nicht in der Lage, ein „positive[s] Verhältnis zur Negativität“ zu entwickeln, wie es bei Tieck, aber auch schon bei Klopstock der Fall gewesen ist“,98 vielmehr erstickt er an seiner vermeintlichen Machtlosigkeit und sieht seine Existenz bedroht. Zu einem Zeitpunkt, zu dem von literaturtheoretischer Seite der Autor vor nicht allzu langer Zeit für tot erklärt worden war,99 der Schreibende nicht nur im Sinne des Platonischen Dialogs Phaidros im Schreibakt seine Äußerungen zu verlieren droht, sondern vollständig hinter seinem Text verschwinden sollte, und in einer Zeit, als sich Walser aus dem Reich der Literatur verwiesen sieht, reift offenbar die Idee, dem Topos vom Tod des Autors im Allgemeinen und der Vernichtung seiner Schriftstellerexistenz im Speziellen einen literaturtheoretisch ausgefuchsten, postmodernistischen, den Literaturbetrieb polemisierenden Roman entgegenzusetzen, der den paradigmatischen Titel Tod eines Kritikers trägt. Walser fingiert in seinem Schlüsselroman mit dem Stilmittel der Satire einen literarischen Mord an einem jüdischen Großkritiker namens André Ehrl-König; zugleich inszeniert er die sich anschließende Antisemitismus-Debatte, stattet den Protagonisten mit schizophrenen Zügen aus und zieht sich als Autor schließlich aus der Verantwortung, indem der Mord gar kein Mord, sondern nur eine Inszenierung war. Im Billerschen Sinne gebraucht also Walser den Juden Ehrl-König, um seiner Kritikerfigur unsympathische Züge zuzuschreiben, die er an ReichRanicki beobachtet haben mag. So genannte ‚Schmähschriften‘ auf namentlich genannte Personen wurden im alten Rom unter Todesstrafe gestellt, da man an die magisch-religiöse Kraft des Wortes und zumal des Namens glaubte.100 Walser fühlte sich durch den Verriss offenbar derart geschmäht und bedroht, dass er dessen Verfasser auf fiktionaler Ebene töten wollte. Auf literarischer und literatur-

97 Walser: Leben und Schreiben 1974–1978, S. 212. 98 Martus: Werkpolitik, S. 389, zu Klopstocks Wechselverhältnis zu seinen Kritikern vgl. ebd., S. 220f. 99 Vgl. dazu noch einmal: Rückkehr des Autors. Hg. v. Jannidis, Lauer, Martinez u. Winko. 100 Vgl. Wolfgang Speyer: Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen. Stuttgart 1981, S. 55.

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theoretischer Ebene hat er den erforderlichen Sicherheitsabstand eingebaut, beim Antisemitismus-Thema hat er sich jedoch vergaloppiert, sein Roman ist selbst in bedenkliche Nähe einer Schmähschrift gerückt – und dies nicht, weil das reale Vorbild für den Juden Ehrl-König sofort erkennbar gewesen wäre, sondern, weil er die magisch-religiöse Kraft des antisemitischen Klischees unterschätzt hat. Auch Tieck wählt in der eingangs erwähnten Szene aus dem Jungen Tischlermeister den Vergleich vom Reiten eines wilden Pferdes, um zu verstehen, was die beiden Provokateure geritten haben mag: Indem man alle Kunst mit Bewusstsein anwendet, gerät man doch zugleich in einen Taumel und so wilde Unbesonnenheit, dass man sich der Gefahr erfreut, und vielleicht das wilde trotzige Ross nur durch diese Vereinigung von Tollheit und Vernunft gebändigt wird.101

Es geht dabei weniger um ein austariertes Verhältnis von Sinnes- und Verstandeskräften, sondern um das Tollkühn-Genialische des Ritts, das, durch die Vernunft geleitet, zur Zähmung des widerspenstigen Tieres führt. Wen aber versucht, in unserem Fall, der Schriftsteller zu zähmen? Naheliegend ist es, im Pferd den Stoff zu sehen, den der Autor zu bändigen hat. Wenn nun aber – um im Bild zu bleiben – der Leser oder der Kritiker das unberechenbare Ross sein soll, dann gilt es zunächst, das instrumentalisierte Tier, vielleicht mit einem Zuckerstück, auf sich aufmerksam zu machen, um es dann zu führen und die Fähigkeit des Reiters zur Geltung zu bringen. Je unberechenbarer das Pferd ist, desto höher ist die Anspannung, und diese lässt adrenalinbedingt den Reiter-Künstler – vielleicht auch im Bewusstsein des möglichen Absturzes – zur Hochform auflaufen, wie Tiecks Musikerduo zu ihrem virtuosen Spiel. Es kann aber, wie bei Hegemann, Biller und Walser, auch zum Sturz kommen. Und dann gilt fast immer: Wenn er fällt, dann schreit er. Zwischen Inszenierung und Zensurprovokation einerseits die Grenzen zu ziehen und andererseits in der Balance zu bleiben hat sich für den Schriftsteller des 20. und zumal des 21. Jahrhunderts als zunehmend schwierig erwiesen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Immer schneller lässt sich in einer immer komplizierteren Medienlandschaft Aufmerksamkeit erzielen, die aber mehr Aufwand erfordert und, einmal erreicht, dann kaum mehr zu steuern ist, während das eigentliche, literarisch ausgerichtete Interesse des Lesepublikums bei Großkampagnen immer weniger auf seine Kosten kommt.

101 Tieck: Der junge Tischlermeister, S. 295.

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Medienfreiheit, Persönlichkeitsschutz, Zensur und demokratische Öffentlichkeit Einleitung Das Konterfeiverfahren1 prägte das Werk Thomas Manns vom Beginn seiner Laufbahn als Schriftsteller: Statt zu erfinden, montierte er Vorbilder aus der Wirklichkeit. Arthur Holitscher glaubte sich in der schwächlichen Décadent-Künstlergestalt Detlev Spinells karikiert,2 Gerhart Hauptmann sah sich im vitalen ekstatischen Genussmenschen Mynheer Peeperkorn porträtiert3 und Arnold Schönberg fand seine Zwölftonmusik als Überwindung der Mittel der Tonalität4 im Werk des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn wieder, der immerhin im Bunde mit dem Teufel steht.5 Thomas Mann selbst unterstreicht in seiner polemischen Streitschrift Bilse und Ich (1906) anlässlich von Angriffen auf den Buddenbrooks-Roman die „Einheit und Eigenständigkeit des Lektüreeindrucks“6 sowie insbesondere die „subjektive Vertiefung des Abbildes einer Wirklichkeit“,7 indem er schreibt: ‚Der Künstler‘, hat ein Dichter und Denker gesagt, ‚der nicht sein ganzes Selbst preisgibt, ist ein unnützer Knecht.‘ Das ist unsterblich wahr. Wie aber kann ich mein ganzes Selbst preisgeben, ohne zugleich die Welt preiszugeben, die meine Vorstellung ist? M e i n e Vorstellung, m e i n Erlebnis, m e i n Traum, m e i n Schmerz? Nicht von Euch ist die Rede, gar niemals, seid des nun getröstet, sondern von mir, von mir […].8

1 Vgl. Hermann Kurzke: Thomas Mann. Epoche-Werk-Wirkung. München 1997, S. 298. 2 Vgl. Hans R. Vaget: „Novellen: Tristan“. In: Thomas-Mann-Handbuch. Hg. v. Helmut Koopmann. Stuttgart 1990, S. 556–571, hier S. 560 (mit zusätzlichem Verweis auf die These, dass Peter Altenberg der Spinell-Figur zum Modell gedient haben könnte). 3 Vgl. Hans Wysling: „Der Zauberberg“. In: Thomas-Mann-Handbuch. Hg. v. Koopmann, S. 417. 4 Vgl. Kurzke: Thomas Mann. Epoche-Werk-Wirkung, S. 276. 5 Vgl. Helmut Koopmann: „Doktor Faustus“. In: Thomas-Mann-Handbuch. Hg. v. dems., S. 488f. Natürlich ist dieses Konterfeiverfahren keine Erfindung von Thomas Mann. Vielmehr verweist er in Bilse und Ich paradigmatisch auf Shakespeare und erklärt: „Er fand viel lieber, als daß er erfand.“ (Thomas Mann: „Bilse und Ich“. In: T. Mann: Essays. Hg. v. Hermann Kurzke u. Stephan Stachorski, Bd. 1. Frühlingssturm 1893–1918. Frankfurt a. M. 1993, S. 36–50, hier S. 40.) 6 Christian Schärf: Der Roman im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2001, S. 30. 7 Mann: Bilse und Ich, S. 42. 8 Ebd., S. 49f.  

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Thomas Mann bekennt sich zu seinen Figuren als „Emanationen des dichtenden Ich“,9 als Kunst gewordener Teil seiner selbst und s e i n e r Wirklichkeit, der er als Mensch notwendigerweise angehört. Bezogen auf Thomas Mann und Realitätsbezüge seines Werkes geht es um die kunstphilosophisch und epistemologisch unterlegte Apologie seiner eigenen künstlerischen Methode. Friktionen im Feld Literatur und Recht sind also kein neues Phänomen. Aber auch Konflikte um zeitgenössische Epik bzw. Lyrik, die auf Veranlassung vermeintlich Porträtierter die Zivilgerichte beschäftigten, sind mittlerweile Legion. Zu nennen sind Birgit Kempker: Als ich das erste Mal mit einem Jungen im Bett lag (2000 verboten), Dietrich Schwanitz: Der Campus oder Hellmuth Karasek: Das Magazin (beide nicht verboten), Reinhard Liebermann: Das Ende des Kanzlers – Der finale Rettungsschuss oder Alban Nikolai Herbst: Meere (beide 2004 verboten). Den mit Abstand berühmtesten Fall der jüngsten Vergangenheit bildet allerdings Maxim Billers Liebesroman Esra. Im Rekurs auf die wegweisende Mephisto-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Februar 1971 formulierte das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 13. Juni 2007, also vor etwas mehr als drei Jahren, die heute maßgeblichen Leitlinien, die darüber entscheiden, ob ein literarisches Werk, das konkrete Wirklichkeitsbezüge aufweist, schlussendlich gerichtlich verboten werden kann. Dass diese Zusammenhänge auch der Literaturbetrieb mittlerweile verinnerlicht und als Selbstzensur bzw. faktische Vorzensur akzeptiert hat, verdeutlichen die Diskussionen um den neuesten Roman mit dem Titel Die ganze Wahrheit von Norbert Gstrein. In einem FeuilletonArtikel der FAZ vom 18. Juni 2010 schreibt Richard Kämmerlings, der auch den Esra-Fall kommentierte, über Gstreins am 16. August erscheinenden und als Schlüsselroman apostrophierten Text – angeblich über die Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkewicz: „Den Fall Esra, dessen Urteile heute den Rahmen jeder literarischen Verarbeitung realer Personen definieren, wird Gstrein genau verfolgt haben. Die ganze Wahrheit ist auch ein Kommentar dazu.“10 Inhaltlich geht es in all diesen Fällen – aus juristischer, konkreter, verfassungsrechtlicher Perspektive – um die schwierige Abwägung zweier grundsätzlich uneinschränkbarer Grundrechte, nämlich dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht einerseits und der Kunstfreiheitsgarantie andererseits. Im Rahmen dieser Abwägung werden, initiiert durch die Klage von Privatpersonen, regelmäßig zensurähnliche Überlegungen, aber auch Erwägungen zu akzeptierten soziokulturellen Normen relevant, so wie dies in Fällen formeller Zensur geschieht. Das

9 Ebd., S. 42. 10 Richard Kämmerlings: „Die ganze Wahrheit über Suhrkamp“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18.6.2010, S. 33.

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durch die Rechtsprechung stark ausdifferenzierte allgemeine Persönlichkeitsrecht prägt damit einen staatlich geschützten Konventions- und Tabubereich aus, der auf Veranlassung privater Klage auf informelle Zensur sich gegen Literatur in ähnlicher Weise repressiv durchzusetzen vermag, wie dies in Fällen rein staatlicher formeller Zensur zu konstatieren ist. Vor diesem Hintergrund wird auch die Beschäftigung mit der Phänomenologie und Praxis der Zensur für das Verständnis des Falles Esra und ähnlich gelagerter Fälle sowie seiner Auswirkungen auf das literarische Feld und insbesondere den Produktions- und Rezeptionsprozess von autobiographisch inspirierter Literatur relevant.

Der Fall Esra: Darstellung und Kritik Ich möchte den Fall Esra anhand der Entscheidung des BVerfG zum Verbot der Veröffentlichung und der Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Schadensersatzanspruch wegen Persönlichkeitsverletzung zunächst aus juristischer Perspektive darlegen. Sodann werde ich die Esra-Entschei-dung aus literaturwissenschaftlicher Sicht analysieren. Zum Abschluss meines Beitrags möchte ich noch auf die Auswirkungen der Esra-Entscheidung auf den Literaturbetrieb eingehen.

Esra, Epik, Autobiographik und Jurisdiktion In seinem Roman Esra beschreibt Maxim Biller retrospektiv und autobiographisch die knapp vierjährige Liebesbeziehung des Ich-Erzählers Adam zu Esra. Dabei ist die Romanhandlung angelehnt an die Beziehung des Autors zu einer in München lebenden türkisch-deutschen Schauspielerin. In dem Roman erzählt der Autor unter anderem von dem Scheitern der Liebesbeziehung, schildert dabei auch die Probleme, die sich aus der Krankheit von Esras Tochter ergeben, und thematisiert das schwierige Verhältnis zu Lale Schöttle, der Mutter Esras. Kurz nach der Publikation des Romans erwirkten Ayse Romey, die sich im Roman in der Figur Esra porträtiert glaubt und ihre Mutter, die sich ebenfalls wiedererkennt, vor Gericht, dass es dem Verlag verboten wird, den Roman Esra zu veröffentlichen, zu verbreiten oder zu bewerben, da der Text die Klägerinnen in ihrem Persönlichkeitsrecht verletze. Auch die in der Folge erschienene zweite Fassung, die zahlreiche unmittelbar sichtbare Auslassungen enthält, wurde gerichtlich verboten. Dieses Verbot wurde vor den ordentlichen Gerichten letztinstanzlich durch den Bundesgerichtshof bestätigt. Gegen diese Entscheidung erhob der Verlag Kiepenheuer & Witsch Verfassungsbeschwerde. Die hierauf ergangene Verfassungsgerichtsentschei-

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dung wird voraussichtlich für die nächsten Jahrzehnte eine Demarkationslinie sein, jenseits derer Texte mit konkretem Realitätsbezug von Gerichten verboten werden können, mit dramatischen Folgen für die betroffenen Schriftsteller, Verlage, Leser, ggf. die Kanonbildung sowie den Literaturbetrieb als solchen.

Rechtliche Verfahren um Esra Esra-Entscheidung des BVerfG Das BVerfG greift zunächst die verfassungsrechtliche Definition des Kunstbegriffs auf, wonach unter Kunst „die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zur Anschauung gebracht werden“,11 zu verstehen ist. Das BVerfG stellt fest, dass der Roman Esra ein Kunstwerk darstelle, da jedenfalls der Anspruch des Autors deutlich würde, die Wirklichkeit künstlerisch zu gestalten. Zudem seien durch die Kunstfreiheit auch die Personen geschützt, die eine vermittelnde Tätigkeit ausüben (z. B. Verleger), so dass sich der Verlag Kiepenheuer & Witsch auf die grundgesetzliche Kunstfreiheit berufen könne. Weiterhin führt das BVerfG aus, dass die Kunstfreiheit nicht schrankenlos gewährleistet sei, sondern ihre Grenzen unmittelbar in solchen Bestimmungen der Verfassung finde, die ein in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes ebenfalls wesentliches Rechtsgut schützten. Ein solches sei das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Persönlichkeitsrecht. Sodann erläutert das BVerfG noch einmal den Inhalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, das jedenfalls das Verfügungsrecht über die Darstellung der eigenen Person, die soziale Anerkennung sowie die persönliche Ehre umfasst. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Kunstfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht führt das BVerfG zunächst aus, dass ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht voraussetze, dass die betroffenen Personen als Vorbilder der Romanfiguren erkennbar sind. Dabei reiche zwar die Erkennbarkeit durch einen mehr oder minder großen Bekanntenkreis aus, einschränkend gelte jedoch, dass sich die Identifizierung jedenfalls „für den mit den Umständen vertrauten Leser aufdrängen müsse“, was „eine hohe Kumulation von Identifizierungsmerkmalen voraussetze“.12  

11 BVerfGE 119, S. 1 (20f.) (Beschl. v. 13.6.2007); so schon das Bundesverfassungsgericht in der Mephisto-Entscheidung: BVerfGE 30, S. 173 (188f.) (Urt. v. 24.2.1971). 12 BVerfGE 119, S. 1 (26) (Beschl. v. 13.6.2007).

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Weiterhin führt das BVerfG aus, dass für ein Verbreitungs- und Veröffentlichungsverbot aufgrund der besonderen Bedeutung der Kunstfreiheit nicht jede Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts ausreiche, sondern es hierfür einer „schwerwiegenden Beeinträchtigung“13 bedürfe. Dabei hängt nach Auffassung des BVerfG die Schwere der Beeinträchtigung zunächst davon ab, inwieweit der Künstler dem Leser nahelege, den Inhalt seines Werks auf wirkliche Personen zu beziehen und ferner von der Intensität der Persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigung, wenn der Leser diesen Bezug tatsächlich herstelle. Anders formuliert: Je stärker Abbild und Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts. Je mehr die künstlerische Darstellung die besonders geschützten Dimensionen des Persönlichkeitsrechts (z. B. die Intimsphäre) berührt, desto stärker muss die Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen. Sodann geht das BVerfG auf das Kriterium der Fiktionalisierung ein. Zur Beurteilung dieser Fiktionalisierung sei auf einen mündigen Leser abzustellen, der in der Lage ist, ein literarisches Werk von einer Meinungsäußerung zu unterscheiden und zwischen der Schilderung tatsächlicher Gegebenheiten und einer fiktiven Erzählung zu differenzieren. Dabei sei bei einem literarischen Werk, das sich als Roman ausweise, zunächst einmal eine Fiktionalitätsvermutung leitend. Diese Vermutung gelte im Ausgangspunkt auch dann, wenn hinter den Romanfiguren reale Personen als Urbilder erkennbar sind. Für eine Widerlegung der Fiktionalitätsvermutung sei bei einem Roman, der tatsächliche und fiktive Schilderungen vermenge, grundsätzlich vom jeweiligen Kläger der Nachweis zu erbringen, dass dem Leser vom Autor nahegelegt würde, bestimmte Teile der Schilderung als tatsächlich geschehen anzusehen, und dass gerade diese Teile eine Persönlichkeitsrechtsverletzung darstellten, entweder weil sie ehrenrührige falsche Tatsachenbehauptungen aufstellen oder wegen der Berührung des Kernbereichs der Persönlichkeit überhaupt nicht in die Öffentlichkeit gehören. Dabei könne nach Auffassung des BVerfG die Vermutung der Fiktionalität jedoch leichter widerlegt werden wenn es um Ereignisse gehe, die aus Sicht eines Ich-Erzählers als eigenes Erleben realistisch und detailliert geschildert würden, weil in diesem Fall dem Leser eher nahegelegt werde, er solle die Geschehnisse als wahrheitsgemäß und realitätsgetreu verstehen. Ein disclaimer am Anfang oder Ende des Buches, wonach Übereinstimmungen mit realen Personen rein zufällig und nicht gewollt seien, reiche allein nicht für die Annahme eines fiktiven Textes aus. Diese müsse vielmehr auch aus dem Text selbst heraus beurteilt werden.  

13 BVerfGE 119, S. 1 (27) (Beschl. v. 13.6.2007).

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Zuletzt stellt das BVerfG noch klar, dass es bei der zwischen der Kunstfreiheit und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht vorzunehmenden Abwägung auch noch auf das Ausmaß der Beeinträchtigung ankommt, also darauf mit welcher Intensität das Persönlichkeitsrecht betroffen sei. So sei zum Beispiel die Intimsphäre unantastbar geschützt.

BGH-Entscheidung zum Schadensersatzanspruch in der Rechtssache Esra Im zeitlichen Nachgang zum Verbot der Veröffentlichung durch den Bundesgerichtshof und der Abweisung der Verfassungsbeschwerde des Verlags hatte sich der BGH14 mit der Frage zu befassen, inwieweit, zusätzlich zum Verbot der Veröffentlichung, die in dem Roman als Esra vermeintlich dargestellte Person einen Schadensersatzanspruch gegen den Verlag und den Autor wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts geltend machen kann. Im Ausgangsverfahren hatte das Landgericht München15 einen solchen Anspruch bejaht und der Klägerin einen Schadensersatz in Höhe von 50.000 € zugesprochen. Diese Entscheidung wurde jedoch im Berufungsverfahren durch das Oberlandesgericht München16 aufgehoben. Der BGH hat die Ablehnung des Schadensersatzanspruchs bestätigt. Nach Auffassung des BGH könne derjenige, der durch einen Roman in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt wird und zu dessen Gunsten deshalb ein gerichtliches Verbreitungsverbot ergangen ist, nur ausnahmsweise zusätzlich eine Geldentschädigung beanspruchen. Zur Begründung erläutert der BGH zunächst die allgemeinen Voraussetzungen eines Entschädigungsanspruchs bei einer Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Nach ständiger Rechtsprechung sei hierzu erforderlich, dass es sich erstens um einen schwerwiegenden Eingriff handelt und zweitens die Beeinträchtigung nicht in anderer Weise befriedigend aufgefangen werden kann. Ob eine schwerwiegende Verletzung des Persönlichkeitsrechts vorliege, hinge wiederum von der Bedeutung und Tragweite des Eingriffs, von Anlass und Beweggrund des Handelnden sowie von dem Grad seines Verschuldens ab. Demnach bedürfe die Entscheidung über eine Entschädigung einer umfassenden Prüfung des Einzelfalls.

14 Vgl. BGH NJW 2010, S. 763–765 (Urt. v. 24.11.2009). 15 Vgl. LG München ZUM 2008, S. 537–542 (Urt. v. 13.2.2008). 16 Vgl. OLG München ZUM 2008, S. 984–991 (Urt. v. 8.7.2008).

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Die Kunstfreiheit in Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG werde vorbehaltlos garantiert. Dementsprechend sei auch im Widerstreit zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und dem Grundrecht der Kunstfreiheit „in besonderem Maße darauf zu achten, dass dem Künstler der verfassungsrechtlich garantierte Freiraum verbleibe“. Es dürften daher an den Künstler keine Anforderungen gestellt werden, die die Bereitschaft zum Gebrauch des Grundrechts herabsetzen und so die schöpferische künstlerische Freiheit einschnüren könnten. Zudem dürften staatliche Maßnahmen nicht zu einer Einschüchterung des Künstlers und des für die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks Verantwortlichen führen. Dem Künstler könne daher das Risiko einer Haftung jedenfalls nicht in einem solchen Umfang zugewiesen werden, dass er sich gezwungen sähe, von künstlerischem Wirken abzusehen, wenn er bloß schon in die Nähe einer Persönlichkeitsrechtsverletzung geriete. Denn ansonsten wäre mit der Geldentschädigung ein vom Grundrechtsgebrauch abschreckender Effekt verbunden, der aus Gründen der durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vorbehaltlos garantierten Kunstfreiheit vermieden werden müsse. Der BGH führte weiter aus, dass insbesondere bei literarischen Werken, bei denen der Autor auf Erfahrungen aus dem realen Leben zurückgreife, die Grenze zwischen erlaubter Ausübung der künstlerischen Freiheit und einem verbotenen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht regelmäßig nur schwer zu bestimmen seien. Daraus folgerte der BGH, dass bei einem zu leichtfertigen Umgang mit Entschädigungen, die unerwünschte Folge eintreten könne, dass ‚schadensanfällige‘ Lebensbereiche in Kunstwerken weitgehend ausgeblendet werden könnten oder Verleger davor zurückschreckten, solche Werke herauszugeben. Nach Auffassung des BGH solle daher eine Persönlichkeitsrechtsverletzung, die bereits zu einem gegen den Künstler ergangenen Unterlassungsgebot geführt habe, grundsätzlich nicht zusätzlich die Zubilligung einer Geldentschädigung rechtfertigen. Nach Auffassung des BGH könne eine Ausnahme von diesem Grundsatz nur bei einer schwerwiegenden Verletzung des Persönlichkeitsrechts gemacht werden, so etwa wenn die Kunstform zu einer persönlichen Abrechnung missbraucht würde und ein Kunstwerk allein darauf abzielte, den Betroffenen zu beleidigen oder zu verleumden.

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Literaturwissenschaftliche Kritik der Esra-Entscheidungen17 Literarizität, Fiktionalität und Zensur Im Folgenden soll die Esra-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nun aus literaturwissenschaftlicher Sicht einer genaueren Prüfung unterzogen werden. Dazu sollen zunächst die für das Verhältnis von Recht und Literatur zentralen Aspekte der Literarizität, Fiktionalität und Zensur kurz skizziert werden. Literarizität: Die Literarizität ist ein substantielles Kriterium für den Kunstwerkcharakter eines Textes. Zwar handelt es sich um ein variables, aber keineswegs willkürliches Merkmal. Es basiert auf ästhetischen Konventionen, die von den Benennungsinstanzen im literarischen Feld legitimiert und schließlich tradiert werden. Die engagiert geführte wissenschaftliche Diskussion über die Konkretisierung und Utilität des Begriffs ‚Literarizität‘ stellt das Phänomen nicht prinzipiell in Abrede. So können als Spezifika des Minimalkonsensus in Bezug auf die Literarizität insbesondere die poetische Sprachverwendung, eine offenkundige Differenz zu sprachlichen Normen der Alltags- und Standardkommunikation und die Funktionszuschreibung als Literatur genannt werden. Fiktionalität: Ein weiterer Aspekt, der das Verhältnis von Recht und Literatur prägt, ist die Fiktionalität. Dabei steht die Fiktion prinzipiell für etwas Erdachtes, Imaginiertes, mit dem unter der Prämisse eines Als-ob operiert wird. Ihr ist also stets die Potentialität immanent, aus der privatrechtlich grundsätzlich kein Anspruch abgeleitet werden kann. Das gilt umso mehr für die literarische Fiktion, die durch gattungstypologische Normen, Klassifikationen und die Materialität des Textes den narrativ-imaginären Charakter a priori offenkundig macht. Schon der Einband eines Buches, der Schutzumschlag, der Titel, die Typographie, ja mitunter sogar die Papierqualität signalisieren dem Leser abgesehen von literaturwissenschaftlich definierbaren narrativen Strukturen oder der gattungstypologischen Zuschreibung eines Textes als Roman, Erzählung oder Novelle, dass es sich nicht um ein Sachbuch, eine Dokumentation oder eine Biographie handelt, sondern um literarische Fiktion, die in jedem Fall im Sinne eines Als-ob rezipiert wird bzw. werden sollte.

17 Vgl. insgesamt zum Folgenden York-Gothart Mix u. Christian Eichner: „Ein Fehlurteil als Maßstab? Zu Maxim Billers Esra, Klaus Manns Mephisto und dem Problem der Kunstfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland“. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur (IASL) 32 (2007) H. 2, S. 187–198.

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Zensur: Neben den bereits juristisch eingeordneten Formen der Zensur ist vor allem die sogenannte Selbstzensur weit verbreitet und dürfte nach der Esra-Entscheidung zur gefürchteten ‚Schere im Kopf‘ der Autoren avancieren, die sich Themen mit konkretem Realitätsbezug zuwenden. Die Selbstzensur kann als Unterdrückung eines eigenen Werkes oder als Korrektur einzelner Passagen definiert werden, die „von einem Autor entgegen seiner ursprünglichen Intention im Wissen der Geltung einer ihm fremden Norm (und im Bewusstsein der Sanktion im Falle ihrer Nichtbeachtung)“18 vorgenommen wird. Im Gegensatz zur formellen Zensur, die juristisch legitimiert und durch administrative Zwangshandlungen durchgesetzt wird, basiert die informelle Zensur auf Vorbehalten, die „mit Hilfe psychologischen, ökonomischen, politischen oder sonstigen sozialen Druckes“19 geltend gemacht werden. Dabei kann Selbstzensur insbesondere auch durch Schadenersatzforderungen in ungewöhnlicher Höhe oder Unterlassungsansprüche gegen die Veröffentlichung, Verbreitung und Bewerbung eines Buches wie im Fall Esra ausgelöst werden.

Erkennbarkeit realer Personen trotz Fiktionalität? Merkmale faktualen und fiktionalen Erzählens In der Esra-Entscheidung setzt sich das Bundesverfassungsgericht mit einer Narration auseinander, die den Anspruch der Literarizität und Fiktionalität für sich reklamiert und textimmanent reflektiert. In jedem ernstzunehmenden Einführungsbuch zur Literaturwissenschaft wird die faktuale Erzählung als die „authentische Erzählung von historischen Ereignissen und Personen“20 von der fiktionalen Narration abgegrenzt. Die faktuale Erzählung berichtet in nichtdichterischer Rede von realen Vorgängen, die sich entsprechend ihrem Wahrheitsanspruch tatsächlich so zugetragen haben. Fiktionale Narrationen zeichnen sich hingegen durch die konsequent dichterische Rede und die Darstellung von Ereignissen aus, die im Sinne von Hans Vaihingers Als-ob vorstellbar sind. Um einen Text als fiktional zuordnen zu können, bedarf es bestimmter Kontextmarkierungen (Gattungsbezeichnungen wie ‚Roman‘ oder ‚Novelle‘, Textsignale wie Es war einmal, Dies ist die Geschichte oder Ende, aber auch Signale der Buchgestaltung und Literaturvermittlung, wie die Materialität von Texten oder 18 Klaus Kanzog: „Literarische Zensur“. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hg. v. dems. u. Achim Masser, Bd. IV. Berlin, New York 21984, S. 1001. 19 Ulla Otto: Die literarische Zensur als Problem der Soziologie der Politik. Stuttgart 1968, S. 119. 20 Matías Martínez u. Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 62005, S. 10.

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die Publikation in einer bestimmten Buchreihe) beziehungsweise textinterner Fiktionssignale (Rollenverhalten des Erzählers, metafiktionale Reflexion des eigenen Erzählerstatus, Verhältnis zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit, rhetorische Figuren). Darüber hinaus kennzeichnet fiktionale Texte im Gegensatz zu faktualen Schilderungen ein Doppelcharakter: Fiktionale Texte eröffnen sowohl eine Kommunikationssituation zwischen einem realen, empirischen Autor (beispielsweise Maxim Biller) und seinem realen Leser (etwa einer Klägerin des Esra-Verfahrens) als auch zwischen dem fiktiven Autor (dem Ich-Erzähler in Esra) und dem fiktiven Leser (zum Beispiel dem Leser von Esra, der mitunter expressis verbis mit Sie in der Erzählung angesprochen wird). Die Literaturwissenschaft unterscheidet deshalb konsequent den fiktiven vom realen Autor bzw. Leser. Bei der Abgrenzung der faktualen von der fiktionalen Erzählung gilt es weiterhin zu beachten, dass der Potentialis dichterischer Imagination auch dann die (fiktionale) Darstellung der Wirklichkeit überwölbt, wenn Literatur (faktuale) Realität reflektiert. Die literarisierte Wirklichkeit ist ontologisch und epistemologisch strukturell ein Aliud zur empirischen Wirklichkeit, eine transzendierte Wirklichkeit jenseits von positivistisch verifizierbaren Zeit- und Raumkategorien. Theodor W. Adorno hat dieses Phänomen einleuchtend und knapp skizziert: Denn alles, was die Kunstwerke an Form und Materialien, an Geist und Stoff in sich enthalten, ist aus der Realität in die Kunstwerke emigriert und in ihnen seiner Realität entäußert. […] Selbst Kunstwerke, die als Abbilder der Realität auftreten, sind es nur peripher: sie werden zur zweiten Realität, indem sie auf die erste reagieren.21

Wenn also das BVerfG in der Esra-Entscheidung eine kunstspezifische Betrachtung vornimmt, so hätte das BVerfG gerade auf die literaturtheoretische Differenzierung zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen stärker abstellen und daher zu dem Ergebnis kommen müssen, dass jedenfalls grundsätzlich die Fiktionalität eines Romans vor jedem Abgleich mit der Wirklichkeit und den potentiellen Ansprüchen realer Personen auf Wahrung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts rangieren muss. Aus diesem schlüssigen Verständnis fiktionaler Texte resultiert, dass weder von Erkennbarkeit oder präziser von „Ähnlichkeitsreferenzen“22 noch von einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts die Rede sein kann, weil die Sphäre der Fiktionalität prinzipiell nicht justitiabel ist.

21 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hg. v. Gretel Adorno u. Ralf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1973, S. 158, 425. 22 Zu Recht lehnt von Becker (unter Verweis auf Hans-Georg Gadamer) den eigentlich irreführenden Terminus der Erkennbarkeit ab. Vgl. Bernhard von Becker: Fiktion und Wirklichkeit im Roman. Der Schlüsselprozess um das Buch ‚Esra‘. Würzburg 2006, S. 69f.  

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Personengebundene Realitätsreferenz Trotz der grundsätzlichen Bedeutung dieser Überlegungen zum Verhältnis von faktualem und fiktionalem Erzählen kann allerdings nicht übersehen werden, dass die Fiktionalität auch funktionalisiert werden kann. So ist durchaus möglich, dass ein künstlerischer Text, der formal als fiktional qualifiziert werden muss, unter Berufung auf die Kunstfreiheit die Privat- und Intimsphäre empirischer Personen ausleuchtet oder verächtlich macht. Hier sind Grenzen zu ziehen, die jedoch mit den literaturtheoretischen Prämissen in Einklang zu bringen sind. Es gilt, die mit dem Begriff der Fiktionalität korrelierenden Aspekte Referenz und/versus Realität23 zu präzisieren. Als real kann ein Modus klassifiziert werden, der Tatbeständen aufgrund von intersubjektiv verifizierbaren, gemeinsam akzeptierten und durch Konventionen und Sanktionen legitimierten Wirklichkeitsvorstellungen zugeschrieben wird. Referentiell sind Äußerungen, denen in Korrelation mit dem gültigen Wirklichkeitsbild eine realitätsbehauptende Bedeutung zukommt. Im Sinne des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wird eine intendierte Textbedeutung dann problematisch, wenn sie nicht ästhetisch chiffriert, also offenkundig und ausschließlich zu einem Realitätsbereich außerhalb des künstlerisch gerierten Kommunikationsaktes steht. Der referentielle Text unterscheidet sich von einem fiktionalen demnach durch die Dominanz und Intention des verifizierbaren Realitätsbezuges. Dabei geht es um selbst oder fremd erlebte Ereignisse in minimierter ästhetischer Kodierung, um intersubjektiv nachweisbare Szenen, glaubhaft belegte Dialoge oder Aussagen, die auf konkrete Personen bezogene außerliterarische Wirkungen, etwa Rache, Demütigungen oder Demontage der Reputation, herbeizuführen beabsichtigen. Denn in dem Maße, in dem der Autor primär referentiell, und nicht im Sinne autonomer Fiktionalität erzählt, muss er sich an seinen Worten messen lassen.24 Ob ein bloß referentieller Text vorliegt, lässt sich anhand objektiver und subjektiver Tatbestandsmerkmale, gegebenenfalls gerichtlich, feststellen. Problematisch ist ein Text dann, wenn er nicht mehr vor-

23 Vgl. ausführlicher dazu Mix u. Eichner: Ein Fehlurteil als Maßstab?, S. 214–216. 24 Ähnlich auch Busch, der mit dem Abgrenzungskriterium des Anspruchs auf wirklichkeitstreue Darstellung operiert. (Vgl. David-Alexander Busch: „Romanverbote – Zu den Grenzen der Privatzensur“. In: AfP 35 (2004) H. 3, S. 203, 209f.) Vgl. ferner Hermann von Mangoldt u. Friedrich Klein: Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1. München 2005, Art. 5 Rn. 335f., S. 628–629.

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nehmlich im literarischen Kommunikationskontext steht und die „Fiktionalitätskonvention“25 faktisch zur quantité négligeable reduziert ist.

Kunstgerechte Abwägung der Kunstfreiheitsgarantie mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht Gelangt man zu dem Ergebnis, dass die Schwelle zur personengebundenen Realitätsreferenz überschritten wurde, ist zu klären, inwieweit der literarische Text durch faktuale oder fiktionale Elemente strukturiert ist und welche Aussagen mit den das Persönlichkeitsrecht verletzenden Passagen in Zusammenhang stehen. Im Rahmen der Abwägung ist zu differenzieren, ob die herabsetzenden Aussagen über den Lebensabschnitt eines Protagonisten getroffen werden, der mit der Vita der empirischen Person gleichzusetzen ist, oder ob derartige Aussagen im Zusammenhang mit einer Situation geschildert werden, die offensichtlich rein fiktionalen Charakter hat. Insoweit steht dieser Ansatz auch im Einklang mit der Formel des BVerfG: Je intensiver die künstlerische Darstellung die besonders geschützten Dimensionen des Persönlichkeitsrechts berührt, desto stärker muss der Grad der Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen. Die im Rechtsstreit um Esra angeführte Argumentation, der Leser müsse glauben, „die geschilderten Intimitäten seien tatsächlich Erlebtes“26 und verletzten deshalb das Persönlichkeitsrecht, verkehrt hingegen die verfassungsrechtlich geschützte, substantielle Strukturbedingung der Fiktionalität, den referentiellen Charakter, auf paradoxe Weise in das Gegenteil, in einen Anlass für eine Indizierung. Diese Argumentation negiert den bereits in der Literaturtheorie der europäischen Aufklärung formulierten Authentizitätsanspruch, konterkariert in letzter Konsequenz jede kritische literarische Auseinandersetzung mit der Gegenwart,27 tradiert eine restriktive Rechtsauslegung, die mit dem Ideal der offenen Gesellschaft nicht in Einklang zu bringen ist und stellt zivilisatorische und verfassungs-

25 Andreas Dörner u. Ludgera Vogt: „Literatur – Literaturbetrieb – Literatur als ‚System‘“. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold u. Heinrich Detering. München 1996, S. 79–99, hier S. 94. 26 Georg M. Oswald: „Kunstfreiheit als Phrase. Zum Streit um Literaturverbote“. In: Süddeutsche Zeitung v. 5.2.2007, S. 11. 27 Vgl. Marcus Jauer: „Wahrheit und Erfindung – Wie Gerichte der Kunst die Zeitgeschichte nehmen“. In: Süddeutsche Zeitung v. 12.2.2007, S. 11.

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rechtliche Grundwerte in Frage, die vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung 1949 mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes bewusst normiert worden sind. Folgt man im Detail und realiter dieser Rechtsauffassung, so weisen Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werther, Theodor Fontanes Effi Briest, die Romane Buddenbrooks und Der Zauberberg von Thomas Mann, Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß oder die gesamte autobiographische Erzählprosa von Thomas Bernhard, also die Texte Die Ursache, Der Keller, Der Atem, Die Kälte und Ein Kind eklatante, zu inkriminierende Verletzungen des Persönlichkeitsrechts auf und hätten nicht publiziert werden dürfen.

Ausblick: Auswirkungen auf den Literaturbetrieb Welche Auswirkungen hat das Urteil des BVerfG bzw. des BGH im Fall Esra nun auf den Literaturbetrieb? Positiv zu konstatieren bleibt, dass der BGH einem zu leichtfertigen Umgang mit Schadenersatzansprüchen aufgrund einer Kollision der Kunstfreiheit mit dem Persönlichkeitsrecht eine Absage erteilte, da er die Folgen für die Kunstfreiheit als insgesamt zu schwerwiegend einschätzte. Nichtsdestotrotz hat die Esra-Entscheidung des BVerfG gravierende Auswirkungen auf den Literaturbetrieb. Verlegerisches Handeln ist in besonderem Maße auf Rechtssicherheit angewiesen. Demgegenüber ist das Risiko, ob ein mit Rechtsmitteln drohender Betroffener auftreten wird oder nicht, für den Verleger nicht kalkulierbar. Die wirtschaftlichen Folgen eines Literaturverbots sind mitunter erheblich und können für kleinere Verlage sogar existenzbedrohend sein. Eine vollständige Überprüfung der persönlichkeitsrechtlichen Unbedenklichkeit kann vom Literaturverlag en détail nicht geleistet werden und kann auch nicht, wie z. B. Thomas Manns Buddenbrooks, Der Zauberberg oder Goethes Die Leiden des jungen Werther demonstrieren, Priorität vor der künstlerischen Bedeutung eines Werkes haben. Auch in der schriftstellerischen Praxis erweisen sich die aus dem Fall Esra resultierenden Konsequenzen als Damoklesschwert. Angesichts drohender Folgen, nämlich der „Unterdrückung des ganzen Werkes“, muss ein fraglicher Text „in der Vorstellung der Kontrolle“, also unter den Prämissen der „Selbstzensur“, verfasst und geprüft werden.28 Im Einzelfall kann die Selbstzensur jedoch weit über die Modifikation einzelner Passagen hinausgehen. Denkbar ist zunächst eine Zurückhaltung gegenüber bestimmten literarischen Genres wie der Anekdote, Bekenntnisdichtung, dem Dokumentarischen Theater, der Karikatur, Montage,  

28 Kanzog: Literarische Zensur, S. 1001.

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dem autobiographisch inspirierten Erziehungs- und Entwicklungsroman, Universitätsroman, Schlüsselroman, Tagebuchroman, Zeitroman, der Memoirenliteratur, Parodie oder literarischen Reportage. Aber auch hinsichtlich der Rollenhaltung des Erzählers (vor allem des Ich-Erzählers oder der Ich-Projektion in der Form des Alter ego), der inneren und äußeren Handlung, der Dramenkonzeption, rhetorischer Varianten, des Schreib- und Redestils, ja, sogar in Bezug auf Lyrik sind Konsequenzen vorstellbar: individuell Erlebtes in literarischen Texten zu tabuisieren, kommt einer Amputation literarischer Inspiration gleich. Insgesamt hat das Urteil des BVerfG im Fall Esra dramatische Auswirkungen auf den Literaturbetrieb, was sich jüngst auch anhand der bereits erwähnten Diskussion um den alsbald erscheinenden Roman von Norbert Gstrein: Die ganze Wahrheit wieder prominent zeigt. So wird beispielsweise im Zusammenhang mit dessen Veröffentlichung gemutmaßt, dass eine vor kurzem, und damit einige Wochen vor der eigentlichen Veröffentlichung, absolvierte öffentliche Lesung und ein Vorabdruck in einer Schweizer Zeitschrift lediglich das Ziel verfolgten, die Aufmerksamkeit potentieller Kläger zu erwecken.29 Dahinter könnte sich nämlich die taktische Überlegung verbergen, dass derjenige, der im Wege einer einstweiligen Verfügung gegen den Roman vorgehen möchte, durch diese Lesung und den Vorabdruck unter Zugzwang gesetzt wird, um nicht Gefahr zu laufen den sogenannten Dringlichkeitsanspruch zu verwirken. Dass Verlage und Autoren mittlerweile zu solchen juristischen Winkelzügen greifen müssen zeigt, wie sehr juristische Überlegungen nunmehr in den Literaturbetrieb hineinwirken und wie verfahren die Situation ist. Ob es allerdings in diesem Fall tatsächlich zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung kommt, ist mehr als ungewiss. Immerhin ist die in dem Roman vermeintlich dargestellte Ulla Unseld-Berkewicz selbst Autorin und Verlegerin und muss daher wissen, dass ein gegen den Autor ergehendes Urteil zugleich den gesamten Literaturbetrieb einschließlich des Suhrkamp-Verlags träfe. Große Literatur zeichnet stets auch der Wirklichkeitsbezug aus: So schreibt Paul Celan im Jahre 1968 in einem Brief: „Mein letztes Buch wird überall für verschlüsselt gehalten. Glauben Sie mir – jedes Wort ist mit direktem Wirklichkeitsbezug geschrieben.“30 Wenn dieser Wirklichkeitsbezug gerichtlich ab- oder unangemessen zurückgeschnitten wird, wird das literarische Feld erodieren.

29 Vgl. Rainer Dresen: „Noch eine ganze Wahrheit?“ In: BuchMarkt. Das Ideenmagazin für den Buchhandel. URL: http://www.buchmarkt.de/content/43154-die-rechte-kolumne.htm (Stand: 15.7.2010). 30 Zitiert nach Arno Reinfrank: „Schmerzlicher Abschied von Paul Celan“. In: Die Horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 83 (1971), S. 73–83, hier S. 73.

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Literaturkritik und informelle Zensur In einem Überblick zur Zensur-Forschung erklärt York-Gothart Mix: Im Gegensatz zur formellen Zensur, die juristisch legitimiert und durch administrative Zwangshandlungen wie Kommunikations- und Zollkontrollen, Aufführungsverbote, restriktive Benutzungsrichtlinien in Bibliotheken oder marktpolizeiliche Überwachungsmaßnahmen für Verkäufer und Kolporteure durchgesetzt wird, basiert die informelle Zensur auf Vorbehalten, die ‚mit Hilfe psychologischen, ökonomischen, politischen oder sonstigen sozialen Druckes‘1 geltend gemacht werden. Diese Form der Zensur spielt gegenwärtig in den pluralistischen Demokratien Europas die größte Rolle.2

In der Zensurforschung ist gelegentlich auch die Literaturkritik als eine Art informeller Zensur bezeichnet und beschrieben worden. Eine die Zensur in den USA und in Deutschland vergleichende Monographie über Hardcore-Pornographie nennt zum Beispiel in einem Kapitel „die radikalfeministische und die religiöse Kritik“.3 Mix selbst formuliert hingegen vorsichtig: In „den führenden Rezensionsorganen wie der Allgemeinen deutschen Bibliothek oder der Oberdeutschen, allgemeinen Litteraturzeitung liegen Literaturkritik und informelle Zensur dicht nebeneinander.“4 Begreift man Literaturkritik und Zensur als Institutionen und soziale Praktiken, die beteiligt sind an der normativen Konstruktion eines Literatursystems und an Normierungsprozessen literarischer Kommunikation, dann verweist ein Vergleich zwischen Literaturkritik und Zensur von Literatur auf etliche Affinitäten und Differenzen. Schon die Bezeichnung für die wichtigste Textsorte der Literaturkritik, die ‚Rezension‘, suggeriert die Nähe von Rezensieren und Zensieren. Die These, die mein Beitrag zu begründen versucht, lautet: Der etablierte, doch hochproblematische Begriff Informelle Zensur verleitet dazu, strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Literaturkritik und Zensur zu akzentuieren, fundamentale Unterschiede hingegen zu übersehen oder zu bagatellisieren. Literaturkritik

1 York-Gothart Mix zitiert hier Ulla Otto: Die literarische Zensur als Problem der Soziologie der Politik. Stuttgart 1968, S. 119. 2 York-Gothart Mix: „Zensur“. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Hg. v. Thomas Anz, Bd. 1. Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2007, S. 492–501, hier S. 493. 3 Jakob Pastötter: Erotic Home Entertainment und Zivilisationsprozess. Analyse des postindustriellen Phänomens Hardcore-Pornographie. Wiesbaden 2003, S. 73. 4 Mix: Zensur, S. 494.

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allgemein oder bestimmte Arten und Konstellationen von Literaturkritik als informelle Zensur zu bezeichnen, mag als rhetorische Disqualifizierung und Dramatisierung normierender Absichten und Effekte literaturkritischer Praktiken eine legitime Funktion haben, trägt jedoch zur metaphorischen und inflationär ausgeweiteten Verwendung des Zensur-Begriffs bei, fördert die Illusion einer Autonomie literarischer Produktivität jenseits aller Normen und liefert der gewiss oft angebrachten Kritik an der Literaturkritik falsche Argumente. Zur Begründung meiner Thesen bedarf es einiger begrifflicher Vorklärungen. Sie dienen dazu, Zensurtheorien in eine Theorie sozialer Normen zu integrieren und unter normtheoretischen Aspekten partiell anders zu konzeptionieren, als dies üblich ist.5 Wenn ich eingangs von der normativen Konstruktion eines Literatursystems und Normierungsprozessen literarischer Kommunikation gesprochen habe, dann ist damit gemeint, dass das Schreiben, Bearbeiten, Vermitteln, Lesen, literaturkritische Rezensieren oder auch Zensieren literarischer Texte soziale Handlungen sind, die wie alle sozialen Handlungen durch soziale Normen konditioniert sind. Dabei geben die Akteure gleichzeitig normative Erwartungen gegenüber anderen Akteuren zu erkennen. Normen für literaturbezogenes Handeln haben den gleichen Realitätscharakter wie Normen für andere soziale Handlungen auch. Mit ihnen sieht sich jeder Autor konfrontiert, wenn er schreibt. Das ‚Machen‘ (poiesis) eines literarischen Werkes, der zentrale Gegenstand also einer literaturwissenschaftlichen Theorie, ist in seiner Normgebundenheit ein soziales Phänomen wie das (sprachliche) Verhalten eines Verkäufers, eines Lehrers oder eines Priesters. Im Anschluss insbesondere an Sprechakttheorien der sprachanalytischen Philosophie6 und sozialwissenschaftliche Handlungstheorien aus dem Umkreis des Symbolischen Interaktionismus7 lässt sich der literarische Schreibakt als eine soziale Handlung begreifen, die auf das Handeln anderer Menschen (potentiell alle, die mit Literatur etwas ‚tun‘) intentional bezogen ist. Auch wenn der Schreib-

5 Vgl. zum Folgenden Thomas Anz: „Vorschläge zur Grundlegung einer Soziologie literarischer Normen“. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 9 (1984), S. 128– 144 und ders.: „Norm“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Harald Fricke, Bd. 2. Berlin, New York 2000, S. 720–723. 6 Vor allem John Langshaw Austin: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words). Stuttgart 1972. – John Rogers Searle: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt a. M. 1971. 7 Vor allem George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt a.M. 1968. Vgl. dazu besonders Hans Joas: Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von G. H. Mead. Frankfurt a. M. 1980 und Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a. M. 1981, hier besonders in Bd. 2, S. 11ff. den Abschnitt „Zur kommunikationstheoretischen Grundlegung der Sozialwissenschaften“.  





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akt zunächst eine gänzlich einsame, also ‚unsoziale‘ Tätigkeit zu sein scheint, so antizipiert der Autor doch mehr oder weniger bewusst, wie jeder, der eine sprachliche Äußerung hervorbringt, in der Phantasie die Reaktion des Angesprochenen auf diese Äußerung. George Herbert Mead nannte diesen Antizipationsvorgang ‚Rollenübernahme‘ („taking the role of another“): Im Akt des Sprechens versetzt der Sprecher sich in die Rolle des Angesprochenen und vermag so die eigenen Äußerungen im Hinblick auf die vermuteten Reaktionen des Adressaten zu steuern und zu kontrollieren.8 Was in der Zensurforschung häufig als Selbstzensur beschrieben wird, ist unter dieser Perspektive ein Phänomen, ohne das soziales Handeln gar nicht denkbar ist. Soziales Handeln ist unter anderem konditioniert durch ein Geflecht wechselseitiger Erwartungen und Ansprüche, durch soziale Normen, die den Aktoren (auch noch im Fall der Normverletzung) einen Orientierungsrahmen geben. Normen sind dabei dem Handeln nicht immer schon statisch vorgegeben, sondern sie entstehen, stabilisieren und verändern sich in meist langfristigen Interaktionsprozessen (etwa zwischen Autoren, Literaturvermittlern und Lesern). Dennoch gehören sie zu den Bedingungen der Möglichkeit kontinuierlicher zwischenmenschlicher (auch literarischer) Beziehungen. Sie begrenzen, wie Heinrich Popitz formulierte, „die Willkür in den Beziehungen von Menschen zueinander“ und „bewirken, daß Menschen sich mit einiger Sicherheit und Dauerhaftigkeit aufeinander einstellen können“.9 Sie reduzieren in psychisch entlastender Weise die Komplexität der Verhaltensmöglichkeiten, die man vom Partner und sich selbst in sozialen Beziehungen erwarten kann.10 An welchen Normen sich jemand, der eine soziale Handlung vollzieht, orientiert, hängt davon ab, in welcher Situation und Rolle er handelt beziehungsweise welchen Typ einer sozialen Handlung er ausführt. Lehrer, Verkäufer, Wissenschaftler, Lektoren, Kritiker oder Schriftsteller haben in ihrem rollentypischen Sprachverhalten jeweils partiell unterschiedliche Normkomplexe zu berücksichtigen. Rollentheorien verbinden die Analyse von Verhaltensnormen mit ihrer Differenzierung nach verschiedenen Typen sozialer Interaktion. Auch der Schreibakt des Autors ist in diesem Sinne eine Rollenhandlung. Sie ist an bestimmten Rollennormen orientiert.

8 Vgl. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. Vgl. auch Hans Joas: Die gegenwärtige Lage der soziologischen Rollentheorie. Frankfurt a. M. 1973, S. 36f. 9 Heinrich Popitz: „Soziale Normen“. In: Europäisches Archiv für Soziologie 2 (1961), S. 185–198, hier S. 187. Vgl. auch ders.: Soziale Normen. Frankfurt a. M. 2006. 10 Vgl. Niklas Luhmann: „Normen in soziologischer Perspektive“. In: Soziale Welt 20 (1969), S. 28–48.  



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Rollennormen sind ein Komplex von Erwartungen (im Sinne von Vorschriften oder Wünschen), die ein Rollenspieler (Aktor) von anderen an sein Verhalten gerichtet sieht und bei deren Missachtung er mit negativen Sanktionen rechnen muss. Normen lassen sich als Verbote oder Gebote formulieren. Als Normadressaten werden diejenigen bezeichnet, an welche die Erwartungen gerichtet sind (also zum Beispiel Autoren und Künstler); Normsender sind diejenigen Personen oder Institutionen, von denen die Erwartungen und potentiellen Sanktionen ausgehen. Zu ihnen gehören auch Literaturkritiker und Zensoren. Sie bilden neben Lektoren und Verlegern, Mäzenen, Freunden oder literarischen Schulen zwei der unterschiedlichen Bezugsgruppen, mit deren Erwartungen Autoren konfrontiert sind. Einige weitere Begriffe der soziologischen Rollen- und Normtheorie sind für Vergleiche zwischen Literaturkritik und Zensur als normierende Institutionen hilfreich: Die Angehörigen jener Bezugsgruppe, auf die das Handeln primär bezogen ist und der die Normen zugutekommen sollen (beim Schreiben literarischer Texte das Zielpublikum) werden als Normbenefiziare bezeichnet. Normhüter hingegen, die nicht unbedingt selbst vom Handeln des Aktors betroffen sein müssen, kontrollieren diesen auf normentsprechendes beziehungsweise -abweichendes Verhalten hin. Zensoren oder Lektoren zum Beispiel prüfen ein Jugendbuch auf jugendgefährdende Merkmale hin. Kann der Aktor die eventuell stark divergierenden Erwartungen der für ihn relevanten Bezugsgruppen nicht integrieren (der Autor zum Beispiel die Erwartungen seines Freundeskreises mit denen des Verlages, seines Zielpublikums, dominanter Kritiker oder auch der Zensur), dann steht er in einem Intra-Rollenkonflikt; in einem Inter-Rollenkonflikt hingegen, wenn er seine vielfältigen Rollenverpflichtungen (zum Beispiel als Autor, Berufstätiger und Familienvater) nicht oder schwer miteinander vereinbaren kann. Rollenkonflikte gefährden die Ich-Identität, ihre Bewältigung setzt oft Ambiguitätstoleranz voraus, das heißt die Fähigkeit, widersprüchliche Anforderungen zu erkennen und mit ihnen konstruktiv umzugehen. Die Verbindlichkeit von Normen wird durch Sanktionen signalisiert und gestützt. Positive Sanktionen bestätigen bestimmte (hoch gewertete) Verhaltensweisen (die literarischen eines Autors zum Beispiel in Form von lobenden Rezensionen, Preisverleihungen, Verkaufserfolg und so weiter), negative Sanktionen negieren sie (zum Beispiel in Form von Gefängnis- oder Geldstrafen, Publikationsverboten, abwertenden Rezensionen, Entzug der Anerkennung, Ignoranz, Ausschluss aus der Künstlergruppe). Nach Art und Schärfe der Sanktionspraktiken lassen sich Rollenerwartungen beziehungsweise Normen in Kann-, Soll- und Muss-Erwartungen klassifizieren. Muss-Erwartungen werden überwiegend durch negative, sehr scharfe Sanktionsandrohungen gestützt, etwa durch gerichtliche Bestrafungen (das betrifft Literatur wohl nur auf ihrer thematischen Ebene, vor allem die von ihr vermittelten Einstellungen zu Politik, Religion, Sexualität und

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Gewalt). Negative, wenn auch nicht ganz so strenge Sanktionen (etwa ‚Verrisse‘ der Literaturkritik) überwiegen auch bei der Missachtung von Soll-Erwartungen; bei der Durchbrechung von Kann-Erwartungen sind dagegen nicht derart einschneidende negative Folgen zu erwarten. Sie lassen sich auch als Ideal-Normen begreifen, denen zu entsprechen keineswegs selbstverständlich ist, sondern eine Leistung, die in Form von positiven Sanktionen ausdrücklich honoriert werden kann. Vor allem in der Tradition des Symbolischen Interaktionismus akzentuiert man die Bedeutung der Ich-Leistungen für das Rollenverhalten und verwendet in diesem Zusammenhang unter anderem den Begriff der Rollendistanz zur Kennzeichnung der Fähigkeit, ein flexibles, interpretierendes und reflektierendes Verhältnis zu vorgegebenen Normen einzunehmen und Distanz zum eigenen Rollenverhalten zu zeigen (zum Beispiel durch literarische Formen der Selbstironie und Selbstreflexion). Ich-Leistungen sind in mehr oder weniger starkem Maße bei jeder Rollenhandlung gefordert. Zwar lässt sich die Wirksamkeit (beziehungsweise Gültigkeit) sozialer Normen an normentsprechenden, überindividuellen Verhaltensregelmäßigkeiten ablesen, doch ist das faktische Verhalten selbst bei sorgfältigster Normentsprechung niemals durch Normen vollständig festgelegt. Viele Bereiche des Handelns sind gar nicht normiert, andere nur schwach. Normen bieten nur relativ abstrakte und vage Orientierungsrichtlinien, deren Konkretisierung für das Verhalten in einer bestimmten Situation dem Ich einige interpretatorische und kreative Leistungen abverlangt. Das gilt sogar für Normen, die für Zensurmaßnahmen typisch sind. Verdikte der Zensur wie gotteslästerlich, landesverräterisch, verleumdend, amoralisch, abergläubisch, volksverdummend oder gewaltverherrlichend sind Attribute, deren Anwendung Zuordnungsregeln11 zugrunde liegen. Diese konkretisieren, unter welchen Bedingungen und mit welchen Bedeutungsaspekten solche Attribute anwendbar sind. Die Berücksichtigung der Ich-Leistungen in soziologischen Norm-theorien erlaubt es, Vorstellungen von künstlerischer Produktivität, die in der Literaturwissenschaft mit Begriffen wie literarische Autonomie oder Originalität angesprochen werden, anders und realitätsgerechter zu formulieren. Individualitäts- und Originalitätsansprüche, wie sie seit der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts forciert wurden, lassen sich keineswegs nur durch Abweichungen von der Norm realisieren, sondern auch in der kreativen Interpretation von Normvorgaben und in der Ausgestaltung des freien Spielraums, den Normen in mehr oder weniger starkem Maße offenlassen. Rollennormen werden in der Soziologie nach den von ihnen zugelassenen oder sogar mit erwarteten Ich-Leistungen typisiert. Die Rolle

11 Vgl. Renate von Heydebrand u. Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Stuttgart 1996, S. 67.

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etwa des Soldaten ist durch einen gänzlich anderen Normtyp charakterisiert als die des neuzeitlichen Künstlers. Zwischen Normen, die das Verhalten prägnant und systematisch bis in Handlungsdetails vorschreiben, und solchen, die sich lediglich auf so abstrakte Werte wie Schönheit, Humanität, Bildung oder Emanzipation berufen, liegt ein breites Spektrum unterschiedlicher Typen. Innerhalb einer literarischen Kultur divergiert der Spielraum für Ich-Leistungen historisch und gattungsspezifisch. Die geschichtliche Entwicklung von der Regelpoetik zur Genie- und Autonomieästhetik oder die Differenzen zwischen Trivial- und Hochliteratur sind in dieser Perspektive auch als Veränderung beziehungsweise Unterschied des Normtyps zu analysieren, der die Autorenrolle konditioniert. Ich-Leistungen werden freilich dem Aktor (beziehungsweise Autor) nicht nur zur situationsgemäßen Konkretisierung vorgegebener Normen abverlangt oder zugestanden, sondern auch in der konfliktträchtigen Konfrontation mit unterschiedlichen, wenn nicht konträren Bezugsgruppen sowie in der Koordination der literarischen Tätigkeit mit anderen Rollenverpflichtungen. Literarische Texte können das Produkt schwieriger Kompromissbildungen sein: Der Autor muss einige kreative Anstrengungen investieren, wenn er den Erwartungen einer Bezugsgruppe (etwa des intendierten Publikums) entsprechen möchte, ohne die damit nicht identischen einer anderen (etwa die einer Gruppe renommierter Literaturkritiker oder der Zensur) zu enttäuschen. Je komplexer das System einer Literaturgesellschaft (die Verflechtung von literaturbezogenen Rollen und Institutionen) ist, desto uneinheitlicher und pluralistischer sind die literarischen Normen in ihr. Das schafft auf der einen Seite neue Orientierungsprobleme und ein verstärktes Potential an Intra-Rollenkonflikten, auf der anderen kommt es der Unabhängigkeit des Autors zugute. Er kann einzelne Institutionen und ihre Erwartungen ohne größeren Schaden ignorieren und sich an anderen Bezugsgruppen orientieren, deren Erwartungen den eigenen Ansprüchen und Fähigkeiten am ehesten entsprechen. Autonomie in modernen Literaturgesellschaften ist nicht unbedingt gleichzusetzen mit der globalen Zurückweisung von Publikumserwartungen, sondern ist unter anderem an die (freilich auch oft begrenzte) Möglichkeit gebunden, sich sein Publikum selbst zu wählen. Die in der Trivialliteraturforschung verbreitete Denkweise, der Verfasser von Unterhaltungs- oder Kolportageliteratur passe sich den Publikumswünschen an, während Hochliteratur dies nicht tue,12 ist insofern falsch, als meist auch der künstlerisch ambitionierte Autor an Erwartungen bestimmter Bezugsgruppen 12 Vgl. Hannelore Link: Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme. Stuttgart, Berlin, Köln u. a. 1976, S. 63ff. – Günther Fetzer u. Jörg Schönert: „Zur Trivialliteraturforschung 1964–1976“. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 2 (1977), S. 1–39, hier S. 5f., 15, 26ff.  

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orientiert ist, nur diese eben anders geartet sind. Unterhaltungs-, Konsum- oder Konformliteratur ist die Hochliteratur in gewissem Sinne auch; nur die Unterhaltungs- und Konsumbedürfnisse der für sie wichtigen Bezugsgruppen (von denen auch Provokationen und Innovationen miterwartet werden können) sind andere. Der Konformitätsdruck in literarischen Freundeskreisen, elitären Künstlergruppen oder einer antibürgerlich-anarchischen Boheme13 muss für den einzelnen Autor nicht unbedingt weniger stark sein als der im Feld trivialliterarischer Kommunikationsformen. Normierungsprozesse tangieren potentiell alle Bereiche literarischer Schreibhandlungen: den sprachlichen Stil, Vers oder Reim, Figurenarrangements oder Redeformen des Erzählers genauso wie Themen- und Motivwahl oder intendierte oder faktische Wirkungen des ganzen Textes. Erwartungen an einen dieser Bereiche literarischen Handelns stehen dabei in funktionaler Abhängigkeit von Erwartungen an andere Bereiche; die Tabuisierung von Gewaltdarstellung etwa in Abhängigkeit davon, ob ein literarischer Text damit Gewalt kritisieren oder ob er zur Gewalttätigkeit animieren will. Die Unterscheidung solcher Bereiche ist jedoch analytisch nützlich, wenn man sie zum Beispiel in Beziehung setzt zu unterschiedlichen Sanktionspraktiken. Scharfe Sanktionen, wie sie durch Zensurmaßnahmen angedroht oder ausgeübt werden, braucht ein Autor, der gegen stilistische oder erzähltechnische Normen verstößt, kaum zu befürchten. Derartige Maßnahmen tangieren vor allem die Wahl der Gegenstände und Themen literarischer Darstellung, in Abhängigkeit von den damit verbundenen Absichten und Wirkungen. Auch wenn sprachliche und poetologische Aspekte des Schreibens von staatlichen oder kirchlichen Sanktionsinstanzen kaum betroffen sind, können sie einem erheblichen Erwartungsdruck ausgesetzt sein, und zwar vonseiten solcher Bezugsgruppen, zum Beispiel Literaturkritikern, die besonderen Wert auf die künstlerische Form eines Werkes legen. Wenn sich ein Autor bestimmten formalen Ansprüchen gegenüber unbekümmert oder unfähig zeigt, kann er in einer für ihn folgenreichen Weise als

13 Vgl. Helmut Kreuzer: Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung. Stuttgart 1968, hier S. 45: „Das der neuen Ästhetik und dem neuen Dichterbild entspringende Postulat einer Emanzipation der Kunst von außerkünstlerischen Zwecken und Schranken, einer absoluten Selbstbestimmung des Künstler-Ich bedeutet soziologisch eine praktische Emanzipation des Künstlers von der Kontrolle durch Geschmacksträger außerhalb der künstlerisch-intellektuellen Welt. Die Orientierung an einer normativen Regelpoetik, am Geschmack des Hofes oder an den Erwartungen eines gebildeten Publikums wird in periodisch wechselndem Ausmaß ersetzt durch die Orientierung an Normen der Produktion und Kriterien des Urteils, die in abgesonderten Zirkeln in einem rein intellektuellen Milieu kreiert oder propagiert werden.“

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‚unliterarisch‘ abqualifiziert werden. Von Zensur wird in solchen Fällen aber wohl niemand sprechen. Literaturkritik und Zensur sind sich allerdings darin ähnlich, dass in die zur Stabilisierung oder Durchsetzung literarischer Normen ausgeübten Sanktionen immer auch Akte der Wertung mit eingehen. Positive Sanktionen signalisieren eine positive, negative eine negative Wertung der literarischen Handlung beziehungsweise ihres Produkts. Oft sind, zumal im literarischen Leben, die ausformulierten Akte der Wertungen (zum Beispiel in einer Rezension) selbst schon die Sanktion,14 vielfach indes werden Wertungen nicht oder kaum verbalisiert. Die Zurückweisung eines Manuskripts durch den Verlag dürfte nur selten genauer begründet werden; und wer mit seinem Werk von der Literaturkritik ignoriert wird, erfährt meist nicht die Gründe dafür. Akte der Zensur gehen indes in der Regel mit der Verbalisierung von Maßstäben einher und mit der Benennung solcher Textmerkmale oder -wirkungen, die den Maßstäben nicht entsprechen. Literarische Werturteile und -maßstäbe können dann den Status von Sanktionen und Normen bekommen, wenn sie für literaturbezogene Handlungen bedeutend werden. Der normsetzenden Macht eines Kritikers werden allerdings Grenzen gesetzt. Auch seine Schreibhandlungen orientieren sich, wie die des Autors, an den Erwartungen jener Bezugsgruppen, die für seine Rolle konstitutiv sind. Verbalisierte Wertungsakte sind ihrerseits durch Normen konditioniert. Wer Literaturkritiken für ein Zeitungsfeuilleton schreibt, ist konfrontiert mit Erwartungen unter anderem des Autors, des Verlages, der Feuilletonredaktion und vor allem auch der Zeitungsleser. Analoges gilt für alle anderen literaturbezogenen Tätigkeiten, für die des Lektors oder Verlegers genauso wie für die des Zeitschriftenherausgebers, des Buchhändlers, des Literaturwissenschaftlers oder auch Zensors. Für den Historiker, der sich die normative Konstruktion einer Literaturgesellschaft zum Untersuchungsobjekt macht, reicht es also nicht aus, nur die den literarischen Schreibakt leitenden Normen zu rekonstruieren. Vielmehr müssen die normativen Bedingungen auch anderer Arten des Handelns mit und für Literatur einbezogen werden. Jede literaturgesellschaftliche Rolle und Institution richtet an andere ihre Erwartungen und sieht gleichzeitig selber die Erwartungen der anderen an sich gerichtet, jede ist Normsender und Normadressat zugleich. Wer die Erforschung eines solchen Systems wechselseitiger Erwartungen projektiert, muss dabei sowohl mit dem Willen der Handelnden rechnen, zu einem

14 Vgl. Renate Heydebrand: „Wertung, literarische“. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hg. v. Klaus Kanzog u. Achim Maser, Bd. 4, letzte Lieferung. Berlin, New York 1984, S. 828–871. Der Lexikonartikel hat seinerzeit der literaturwissenschaftlichen Wertungsforschung maßgebliche innovative Impulse gegeben und griff dabei auch auf den soziologischen NormBegriff zurück.

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zwanglosen Konsens über geltende Normen zu gelangen, wie auch mit dem Bestreben einzelner Personen oder Gruppen, die Wirksamkeit der von ihnen favorisierten, aber nicht verallgemeinerungsfähigen Normen mit illegitimen Machtmitteln durchzusetzen.15 Die Frage, wieweit sich die Verbindlichkeit von literarischen Normen einem legitimierbaren Prozess der Konsensbildung verdankt, kann der Forschung einen kritischen Impuls geben. Komplexer jedenfalls als die für die Zensurforschung oft leitende Differenz zwischen Kunstfreiheit und Zensur (formelle und informelle) ist die Unterscheidung unterschiedlicher Normierungsprozesse, die sich nicht der Illusion hingibt, Kunst und Literatur könnten sich in einem normfreien Raum bewegen. Dass die Rede von Literaturkritik als einer informellen Zensur fundamentale Unterschiede zwischen Zensur und Kritik verkennt, dafür mögen abschließend einige Hinweise auf die Beziehungen zwischen Zensur und Literaturkritik in totalitären Systemen dienen. Wie Literaturkritik unter totalitären Zensur-Maßnahmen ihre Funktion verlieren kann, dazu lieferte die nationalsozialistische Kulturpolitik das beste Lehrstück: Als die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 die Macht ergreifen, beginnen auch für die Literaturkritik schlechte Zeiten. Bücher werden bald nicht mehr verbal kritisiert, sondern gleich verboten oder verbrannt, Autoren nicht attackiert, sondern verhaftet, verfolgt, ermordet oder vertrieben.16 Wo die Nachfrage der Lesenden nach literarischen Texten nicht mehr im weichen Medium freier und öffentlicher Kommunikationsprozesse gesteuert wird, verliert Literaturkritik ihre Funktion. Denn darüber, was lesenswert ist oder nicht, befinden, bevor Kritik überhaupt zu Wort kommen kann, härtere Instanzen. Sie haben die Macht der Entscheidung darüber, wer überhaupt noch publizieren darf und welche Bücher den Lesern zugänglich sind. Während die völkisch-nationale Kritik vor 1933 noch im antagonistischen Kräftefeld der Kultur mit ihren Gegnern um die Meinungsführerschaft zu kämpfen hatte, während sie also nur eine meinungsprägende Macht unter vielen anderen

15 Hierin liegt ein wesentlicher Perspektivenunterschied zwischen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns und Michel Foucaults Diskursanalyse (programmatisch skizziert in Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France – 2. Dezember 1970. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1977). Für Foucault stehen die gesellschaftlichen Diskursformen in einer Zwangsordnung allgegenwärtiger Macht- und Kontrollmechanismen. Normenund rollentheoretisch ließen diese sich allerdings sehr viel genauer beschreiben, als Foucault dies tut. Vgl. auch die komprimierte und kritische Zusammenfassung von Foucaults Schriften in Axel Honneth u. Hans Joas: Soziales Handeln und menschliche Natur. Anthropologische Grundlagen der Sozialwissenschaften. Frankfurt a. M. 1980, S. 123–141. 16 Vgl. zum Folgenden Thomas Anz: „Literaturkritik im NS-Regime und im Exil“. In: Literaturkritik. Hg. v. dems. u. Rainer Baasner. München 2007, S. 130–144.  



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war, wird sie nach der Machtergreifung zum bloß nachträglichen Legitimationsinstrument vorgängiger Entscheidungen, die nicht mehr öffentlich ausgehandelt, sondern vom Regime intern dekretiert werden. Als Bestandteil des totalitären Propagandainstrumentariums haben Verlautbarungen über Bücher tendenziell nur noch die Funktion, die Akzeptanz der nationalsozialistischen Kulturpolitik bei den Lesern zu sichern. Nachdem der Verwaltungsapparat des Regimes ein umfassendes Kontrollsystem etablierte, das unliebsamen Autoren und Büchern den Weg in die Öffentlichkeit versperrte,17 wird jede negative Kritik eines Buches, das diesen Filter durchlaufen hat, zu einem Risiko. Das zeigt exemplarisch die Intervention eines seinerzeit führenden Literaturfunktionärs (Helmuth Langenbucher) im Völkischen Beobachter, als im August 1934 ein Rezensent der Deutschen Allgemeinen Zeitung unter dem Kürzel ‚Kn‘ einen SA-Roman mit dem Titel Parteigenosse Schiedecke abzulehnen wagte. Langenbucher drohte: „Wir werden uns dagegen zu wehren wissen, daß Kn sich weiterhin, angeblich kritisch urteilend, an Büchern vergreift, die eine große Bedeutung haben.“ Und er fügte hinzu: Das Buch trägt zudem den Unbedenklichkeitsvermerk der PPK [das ist die Parteiamtliche Prüfungskommision zum Schutze des NS-Schrifttums; T.A.], so daß ein Angriff dagegen […] zugleich als ein Angriff gegen die Dienststelle der Reichsleitung der Partei zu bewerten ist.18

Das von Goebbels am 27. November 1936 erlassene Verbot der Kunstkritik und deren Ersetzung durch den Kunstbericht waren da nur konsequent. Die zweifellos normierende Kraft der Kritik als informelle Zensur zu bezeichnen, ist, wie das Beispiel der nationalsozialistischen Kulturpolitik zeigt, dazu geeignet, die partielle Unvereinbarkeit von Zensur und Literaturkritik zu ignorieren. Auch der Blick auf Zensur und Kritik in der DDR ist in diesem Zusammenhang lehrreich. In der DDR wurde Literaturkritik allerdings nicht verboten, sondern im Gegenteil ungemein wichtig genommen. Sie wurde hier jedoch ebenfalls zensiert und in den Dienst der Zensur gestellt. Oliver Pfohlmann hat das Zusammenspiel von Zensur und Literaturkritik in der DDR auf erhellende Weise beschrieben: In der DDR, in der die Produktion von Literatur durch ein kompliziertes System von Institutionen, Fördermaßnahmen und Genehmigungsprozeduren kontrolliert wird, läßt sich

17 Vgl. Jan-Pieter Barbian: „Literaturpolitik im ‚Dritten Reich‘. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder“. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 40 (1993), S. 1–394 [2., geringfügig überarb. und aktual. Ausg. München 1995]. 18 Zitiert nach Dietrich Strothmann: Nationalsozialistische Literaturpolitik. Ein Beitrag zur Publizistik im 3. Reich. Bonn 1960, S. 270.

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das ausufernde Gutachterwesen durchaus als ein zeitlich vorangehender, nicht-öffentlicher Teil der Literaturkritik begreifen. Jeder Verlag, der ein Buchprojekt realisieren will, muß die Urteile verlagsexterner Gutachter, in der Regel Literaturwissenschaftler, einholen. Gutachten und Manuskript werden dem Amt für Literatur- und Verlagswesen vorgelegt. Erst wenn die Parteigremien überzeugt werden, daß ein Buchprojekt den gesellschaftlichen Forderungen gerecht wird, wird die Druckgenehmigung erteilt, häufig erst nach diversen Überarbeitungen oder Kürzungen. Das Funktionieren der Vor-Zensur vorausgesetzt, wird in diesem kontrollierten und gelenkten Literatursystem ‚schlechte‘, d. h. den SED-Vorstellungen widersprechende Literatur gar nicht erst veröffentlicht.19  

In der DDR gingen die entscheidenden Debatten über die Qualität eines Buches seiner Drucklegung oft voraus. Pfohlmann schlägt vor, „zwischen einer Kritik, im weiteren Sinn, zu der die Vor-Zensur gehört, und einer im engeren Sinn, der publizistischen Kritik“,20 zu unterscheiden. Viele Germanisten arbeiteten sowohl als Rezensenten als auch als Gutachter. Literaturkritik diente häufig dazu, die außeröffentlichen Maßnahmen der Vorzensur nachträglich öffentlich zu legitimieren, in selteneren Fällen dazu, die Vorzensur zu korrigieren. In diesen Fällen kommt der Kritik die Funktion einer Nach-Zensur zu, die mit angeordneten Hetzkampagnen, Verrissen und gezieltem Totschweigen schwierige Autoren zu demontieren sucht, wie es etwa Wolf Biermann, Christa Wolf oder Volker Braun widerfahren ist. In Einzelfällen werden in Folge inquisitorischer Rezensionen bereits ausgelieferte Bücher wieder zurückgezogen und eingestampft.21

Von solchen Funktionalisierungen der Literaturkritik war die der Bundesrepublik auch in ihren restaurativen Phasen weit entfernt. Ihre normierende Kraft mit der Bezeichnung informelle Zensur in die Nähe administrativer Zwangshandlungen der Zensur zu rücken, erscheint mir deplatziert. Eine fundierte Kritik an der Literaturkritik in der Bundesrepublik und an ihren Normierungsprozessen, die gewiss angebracht ist, benötigt andere Begriffe.

19 Oliver Pfohlmann: „Literaturkritik in der DDR“. In: Literaturkritik. Hg. v. Anz u. Baasner, S. 144–159, hier S. 148. 20 Ebd., S. 148f. 21 Ebd., S. 148.

Joseph Jurt

Die Debatte um Bourdieus Kritik an der Qualität des Fernsehens, die informelle Zensur und die Ökonomie der Medienkultur Als Pierre Bourdieu 1996 das kleine Büchlein Sur la télévision veröffentlichte – schon zwei Jahre später folgte die deutsche Ausgabe –, da stieß diese Publikation unmittelbar auf große Resonanz. Bereits im ersten Jahr wurden 80.000 Exemplare verkauft.1 Das internationale Echo war ebenfalls erstaunlich stark. Sur la télévision ist bis heute die am meisten übersetzte Buchpublikation Bourdieus; sie wurde in 27 Sprachen übertragen, gefolgt von La domination masculine (20 Übersetzungen), Raisons pratiques (17), Les Règles de l’art (17)2 – alles Bücher, die in den 1990er Jahren geschrieben wurden, als Bourdieu nicht mehr allein als wichtiger Soziologe, sondern als Denker von internationalem Format ‚global thinker‘ wahrgenommen wurde. Nach 1996, dem Erscheinungsjahr von Sur la télévision, verdoppelte sich die Anzahl der übersetzten Bücher des Soziologen. Die Schrift Sur la télévision stieß in Frankreich unmittelbar auf große Resonanz; die bekanntesten französischen Journalisten reagierten, wie Bourdieu im Nachwort zur deutschen Ausgabe schreibt, mit außerordentlicher Heftigkeit; die Schrift war „Gegenstand einer breiten Kontroverse, in die alle Berühmtheiten der französischen Tages- und Wochenpresse wie auch des Fernsehens über Monate hinweg – solange das Buch an der Spitze der Bestsellerlisten lag – eingriffen.“3 Wenn die Schrift in der Presse und beim Fernsehen eine intensive Debatte auslöste, und über die Übersetzungen eine erstaunliche internationale Resonanz erfuhr, so gibt es doch bis heute relativ wenige wissenschaftliche Studien zum Thema ‚Bourdieu und die Medien‘. In dem 2009 von Boike Rehbein und Gerhard

1 Vgl. Vincent Goulet: „Pierre Bourdieu et la télévision“. In: Rencontres avec Pierre Bourdieu. Hg. v. Gérard Mauger. Bellecombe-en-Bauges 2005, S. 655–671, hier S. 666. 2 Vgl. Gisèle Sapiro u. Mauricio Bustamante: „Translation as a measure of international consecration. Mapping the world distribution of Bourdieu’s books in translation“. In: Sociologica. Italian Journal of sociology online 2–3 (2009). URL: http://www.sociologica.mulino.it/doi/10.2383/ 31374 (Stand: 16.1.2011). 3 Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen. Frankfurt a. M. 1998, S. 129. Zu dieser ganzen Debatte siehe auch Patrick Champagne: „Sur la médiatisation du champ intellectuel. A propos Sur la télévision de Pierre Bourdieu“. In: Pierre Bourdieu, sociologue. Hg. v. Louis Pinto, Gisèle Sapiro u. Patrick Champagne. Paris 2004, S. 431–457.  

Bourdieus Kritik an der Qualität des Fernsehens

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Fröhlich herausgegebenen Bourdieu-Handbuch4 gibt es keinen Hinweis auf Bourdieu und die Medien, auf das journalistische Feld, das Fernsehen; das gilt ebenfalls für den 2008 erschienenen Sammelband Nach Bourdieu. Visualität, Kunst, Politik.5 In Frankreich wurde ein Kolloquium zum Thema ‚Pierre Bourdieu und die Medien‘ organisiert, dessen Beiträge vorliegen.6 Rodney Benson und Eric Neveu verdanken wir einen englischsprachigen Sammelband zum Konzept des journalistischen Feldes bei Bourdieu.7 Die Medienwissenschaftler äußerten sich aber zumeist, wenn sie sich äußerten, mit Vorbehalten oder offener Skepsis zur Schrift Bourdieus über das Fernsehen. Sie betrachten den Diskurs über die Medien als ihre Domäne und beanspruchen eine spezifische Kompetenz auf der Basis ihrer Untersuchungen und Studien. Bourdieu erscheint da als Eindringling, der nun ‚ihr Gebiet‘ – endlich – auch entdeckt habe. So schreiben Andreas Dörner und Ludgera Vogt, das Fernsehen sei zu einem Leitmedium der Gesellschaft geworden, das Alltagsleben der meisten Bürger bestimme. Angesichts dieser Tatsache sei es nicht überraschend, wenn sich Bourdieu diesem Medium zuwende, „wenn auch vergleichsweise spät“.8 Auch der französische Medienspezialist Dominique Wolton kommt auf die Tradition der Medienreflexion in Frankreich zurück. In den 1960er Jahren hätten Wissenschaftler wie Edgar Morin, Roland Barthes, Georges Friedmann, Robert Escarpit sich dem Thema der Kommunikation gewidmet und entgegen der These der Frankfurter Schule in den Massenmedien nicht nur ein Instrument der Entfremdung, sondern auch der Demokratie gesehen. Nach 1968 habe man gemäß einem marxistischen Denkmuster darin ein Machtmittel der herrschenden Klasse gesehen. Nachdem nun Bourdieu in den 1990er Jahren das Feld der Kommunikation auch entdeckt habe, habe er die marxistischen Stereotype wieder aufgegrif-

4 Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Gerhard Fröhlich u. Boike Rehbein. Stuttgart 2009. 5 Nach Bourdieu. Visualität, Kunst, Politik. Hg. v. Béatrice von Bismarck, Therese Kaufmann u. Urf Wuggenig. Wien 2008. 6 Pierre Bourdieu et les médias: Huitièmes Rencontres. INA-Sorbonne, 15 mars 2003. Hg. v. Emmanuel Hoog. Paris 2004. 7 Rodney Benson u. Erik Neveu: Bourdieu and the journalistic field. Cambridge 2005. 8 Andreas Dörner u. Ludgera Vogt: „Medien zwischen Struktur und Handlung. Zum Strukturdeterminismus in Bourdieus Kulturtheorie und mögliche Alternativen“. In: Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Hg. v. Markus Joch, York-Gothart Mix u. Norbert Christian Wolf. Tübingen 2009, S. 253–268, hier S. 260. Siehe dazu überdies Jürgen E. Müller: „Zur (inter)medialen Praxis des Fernsehens. Mediale Felder, Macht, symbolisch-materielle Güter und Habitus – oder Bourdieu re-visited“. In: Der neue Wettstreit der Künste. Legitimation und Dominanz im Zeichen der Intermedialität. Hg. v. Uta Degner u. Norbert Christian Wolf. Bielefeld 2010, S. 127–143.

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fen. Seine simplifizierenden Thesen hätte er zu einem Augenblick entwickelt, in dem andere eine kritische Sichtweise der Kommunikation darlegten; so etwa Philippe Breton, Armand Mattelart, Régis Débray und natürlich er selber, Dominique Wolton. Aber Bourdieu verkenne alles, was andere vor ihm oder parallel zu ihm geschrieben hätten.9 Bei seiner Feststellung der Komplizenschaft der Journalisten mit den Eliten habe Bourdieu offene Türen eingerannt. Auch in den Augen von Florian Rötzer ist Bourdieus Fernsehkritik „ebenso einleuchtend wie bekannt“. Er schreibt weiter: „Der Ansatz ist nicht neu. Aber vielleicht ist das Bourdieu auch gar nicht wichtig, denn Neuheit ist kein Kriterium der Wahrheit, sondern nur ein Selektionskriterium der Aufmerksamkeit.“10 Auch Cyril Lemieux thematisiert in seinem Beitrag über Bourdieu und die Medien dieses Hauptthema. Bourdieu habe sich erst dann mit den Medien und den Journalisten beschäftigt, als er selber über eine neue Medien-Aura verfügte,11 und zwar mit dem programmatischen Text L’empire du journalisme (Im Banne des Journalismus) in seiner Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales 1994 und dann eben in seiner Schrift Sur la télévision.12 Wenn Bourdieu relativ spät die Medien als solche thematisierte, so wandte er sich doch früh der Gruppe der Journalisten zu. Seit den 1970er Jahren finden sich, so Gilles Bastin, in seinem Werk im Rahmen seiner Soziologie der Intellektuellen Hinweise auf den Journalismus, dem er ein immer stärkeres Gewicht zuwies.13

9 Vgl. „Une critique de la critique: Bourdieu et les médias. Entretien avec Dominique Wolton“. In: Sciences humaines, Sondernummer 15 (2012), L’oevre de Pierre Bourdieu. URL: http://www. scienceshumaines.com/une-critique-de-la-critique-bourdieu-et-les-medias-entretien-avec-domi nique-wolton_fr_14213.html (Stand: 19.4.2012). Zuerst abgedruckt in Sondernummer 1 (2002), L’oevre de Pierre Bourdieu. 10 Florian Rötzer: „Der Soziologe Pierre Bourdieu sieht im Fernsehen eine große Gefahr“. In: Telepolis v. 3.4.1998. URL: http://www.heise.de/bin/tp/issue/r4/download.cgi?artikelnr=2309 &pfad=/tp/r4/artikel/2/2309 (Stand: 16.1.2011). 11 Auch nach Dominique Wolton (vgl. une critique de la critique) ist Bourdieu seit seinem politischen Engagement für die Streikenden im Winter 1995 von den Medien gut behandelt worden. Er habe sich selber auf seinen ‚Opfer‘-Status gestützt, als ein Soziologe, der wegen seiner Analyse der sozialen Bewegungen unterdrückt worden sei. 12 Vgl. Cyril Lemieux: „Médias: une préoccupation tardive“. In: Les Inrockuptibles 323 v. 29.1.– 4.2.2002, S. 13f. 13 Vgl. Gilles Bastin: „Ein Objekt, das sich verweigert: der Journalismus in der Soziologie Pierre Bourdieus. Einige Bemerkungen über das journalistische Feld“. In: Publizistik 48 (2003) H. 3, S. 258–259. Zu den gesamten Interventionen Bourdieus zum Medien-Feld siehe auch: „Pierre Bourdieu et le champ médiatique: repères bibliographiques“. In: Acrimed. Observatoire des médias v. 18.2.2005. URL: http://www.acrimed.org/article1920.html (Stand: 21.3.2012). Über Bourdieus Auftritte im Fernsehen als Fachmann seit den 1970er Jahren, meistens in Kultursendungen spätabends, informiert sehr gut Goulet: Pierre Bourdieu et la télévision, S. 656–661.

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Die Schrift Sur la télévision existierte zuerst in Form von zwei Fernsehsendungen, die Gilles L’Hôte im Collège de France 1996 zum Thema des Fernsehens aufnahm, die erste unter dem Titel Sur la télévision, die zweite unter Le champ journalistique et la télévision; die beiden Sendungen wurden auf dem Kabelkanal ‚Paris première‘ am 19. und 26. Mai 1996 im Spätabendprogramm um 0.50 Uhr im Rahmen der Reihe Le canal du savoir ausgestrahlt. Das Collège de France verfügt über fünf Stunden Sendezeit am Canal du savoir für die Ausstrahlung von Vorlesungen. Die beiden Vorträge wurden zu einer sehr späten Sendezeit ausgestrahlt auf einem eher marginalen Kanal, dem 1986 vom Pariser Bürgermeisteramt gegründeten Kanal ‚Paris première‘, der sich durch eine starke kulturelle Ausrichtung auszeichnet. Dass Bourdieu hier das Forum des Fernsehens wählte, um mit diesem Medium aus kritischer und aufklärender Perspektive abzurechnen, offenbart nach Dörner und Vogt eine paradoxe Eigenart seines Diskurses, die in mancher Hinsicht typisch sei für die sich als ‚kritisch‘ verstehende Theorie seit Karl Marx: Ungeachtet aller tendenziell deterministischen Diagnosen der Gesellschaft setzt man doch auf die Kraft der Aufklärung, auf die Möglichkeit, über eine Änderung der Perspektiven auch eine Veränderung der Verhältnisse bewirken zu können.14

Das ist natürlich ein typischer Zirkelschluss. Zuerst postuliert man die These des tendenziellen Determinismus beim Soziologen und bezeichnet dann die Interventionen, die auf der Überzeugung fußen, eine Veränderung sei möglich, als ‚paradox‘. Zudem geht es hier nicht um das Forum Fernsehen. Die Vorträge wurden, wie gesagt, im Rahmen einer Reihe von Vorlesungen am Collège de France produziert und dann bloß auf dem Fernseh-Kanal ausgestrahlt. Die Form ist die des Vortrags als einer Lehrtätigkeit; die Ästhetik der Aufnahme gehorcht möglichst wenig der televisionären Ästhetik, die über die Bildregie visuelle Aspekte in den Vordergrund schiebt, die die verbale Botschaft überlagern können. Hier soll eine starre Kamera möglichst wenig vom Wort ablenken. Das Fernsehen ist auf seinen Status als Medium, als Vehikel einer verbalen Botschaft reduziert. Bourdieu erklärt in der Vorbemerkung seiner Schrift die Wahl dieses Mediums: die Intention, „über die übliche Hörerschaft des ‚Collège de France‘ hinaus eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen.“15 Er hatte diese Vorträge bewusst als ‚Interventions‘ konzipiert (die 14 Dörner u. Vogt: Medien, S. 260. 15 Bourdieu: Über das Fernsehen, S. 9. Die Vorträge wurden dann auch in der Form von zwei Kassetten und als DVD im Handel vertrieben. Sur la télévision und Le champ journalistique et la télévision (Collège de France/ CNRS, VHS, 1996) und La télévision (mit beiden Sendungen als DVD, Doriane Films, 1996).

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Übersetzung ‚Eingriff‘ in der deutschen Version scheint mir nicht so passend zu sein). ‚Interventionen‘ gehören in seinen Augen einer spezifischen Gattung an, die sich an ein breiteres Publikum richtet und sich von der wissenschaftlichen Arbeit mit ihrer relativ abstrakten Diktion mit Fußnoten und Tabellen unterscheidet. In dieser Gattung ging es darum, „mich so auszudrücken, dass jedermann mich verste-hen konnte.“16 Das habe, so stellt er im Nachhinein fest, in mehr als einem Fall „zu Vereinfachungen oder approximativen Ausführungen“ geführt.17 Bourdieu lehnte die ‚Intervention‘ im Fernsehen nicht generell ab, knüpfte diese aber an bestimmte Bedingungen; es könne nicht darum gehen, dort aufzutreten, „um sich zu zeigen und gesehen zu werden“, sondern es müsse um die Sache gehen, die man einer breiteren Öffentlichkeit vermitteln wolle: Geht das, was ich zu sagen habe, jeden an? Bin ich bereit, meine Rede formal so zu gestalten, dass alle sie verstehen? […] Eine Aufgabe gerade der Forscher und Wissenschaftler – und vor allem der Sozialwissenschaftler – besteht darin, die Erträge ihrer Forschung allen zugänglich zu machen.18

Diese spezifische Form – ‚Interventionen‘ an ein breiteres Publikum gerichtet und in einer einfacheren Diktion – findet sich bei Bourdieu nicht erst in seiner sogenannten engagierten Phase nach 1995, sondern schon seit den 1960er Jahren, als er sich auch der Foren generalistischer Zeitschriften wie Les Temps modernes oder Esprit bediente oder die Plattform der Tagespresse (beispielsweise Libération und Le Monde) nutzte. Diese ‚Interventionen‘ sind seit 2002 in einem Sammelband greifbar.19 Gleichzeitig wollte er in dieser ‚Intervention‘ „im Unterschied von und im Gegensatz zu dem, was sonst im Fernsehen gang und gäbe ist“ auf alle formalen Spielereien bei Bildeinstellung oder Aufnahmetechnik verzichten; im Zentrum sollte das gesprochene Wort stehen, die Linie argumentierender Beweisführung. Das war bewusst als Kontrast und implizite Kritik am Fernsehen gedacht. Die Selbstbehauptung des analytischen und kritischen Diskurses war gewollt, wenn sie auch nicht der gängigen Fernsehästhetik entsprach und bisweilen „die pedantischen und schwerfälligen, didaktischen und dogmatischen Züge einer professoralen Vorlesung“ annahm.20

16 Ebd., S. 11. 17 Ebd. 18 Ebd., S. 18. 19 Pierre Bourdieu: Interventions, 1961–2001. Science sociale et action politique. Hg. u. kommentiert v. Franck Poupeau u. Thierry Discepoto. Marseille 2002. Auf Deutsch erschien die Ausgabe in vier Bänden: Bd. 1 1961–1980, Bd. 2 1975–1990, Bd. 3 1988–1995, Bd. 4 1995–2001. Hamburg 2003/2004. 20 Bourdieu: Über das Fernsehen, S. 11.

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Rötzer sieht in dieser Widerstands-Haltung einen Mangel an Flexibilität; die Möglichkeiten des Mediums seien nicht genutzt worden, was Bourdieu jedoch anders sehen würde: Nach eigener Ansicht hat er sich den Zwängen des Fernsehens nicht gebeugt. „Das Medium diente ihm“, so Rötzer, „lediglich dazu, den Hörsaal zu erweitern, aber die Chance wurde nicht genutzt, eine möglicherweise angemessenere Form des Diskurses zu entwickeln.“21 Zu sehen sei nur der Meister selbst, der aus medialer Perspektive konsequenterweise hätte am Radio sprechen sollen.22 Wenn Bourdieu im Fernsehen eine lange und visuell langweilige Rede hielt, sehe er darin wohl eine Form des Widerstandes und der Gedankenfreiheit; Rötzer sieht aber im Festhalten am professoralen Habitus auch ein Verkennen der medialen Spezifik: Ist er nicht tapfer und subversiv, der Soziologieprofessor am medialen Katheder, der zwar immer davon spricht, dass man die gesellschaftlichen ‚Felder‘ und ihre Eigengesetzlichkeit zu untersuchen habe, aber in jedem Medium undifferenziert nur den althergebrachten akademischen Diskurs des Lehrers vor den Schülern als Rettung des politischen und demokratischen Lebens anpreist?23

Damit wird die Argumentation von Bourdieu auf eine professorale Attitüde heruntergebrochen. Verkannt wird, dass die Erkenntnis spezifischer Strukturen nicht den Imperativ impliziert, sich der Praxis dieser Strukturen anzupassen oder gar sich ihnen zu unterwerfen. Auch der deutsche Kommunikationswissenschaftler Lutz Hochmeister situiert Bourdieus Journalismus- und Medienkritik ausschließlich innerhalb einer Aufmerksamkeitsökonomie. Es ginge bloß darum, den Verlust der Resonanz der akademischen Elite gegenüber der journalistischen zu verteidigen, es gelte die angestammte Kultur in Konkurrenz um Aufmerksamkeit gegen das beschleunigte ‚politisch-journalistische Tingeltangel‘ zu erretten. Selbst wenn Bourdieu sich nicht über mangelnde Medienaufmerksamkeit zu beklagen hatte, habe er doch gefühlt, so Hochmeister, dass Kultur und Status der interpretierenden und sinngebenden Mandarine von der Medienrotation erheblich berührt wurden. Er „bemerkte Verschiebungen hin zur Fernseh- und Prominenzkommunikation; seine Argumentation war also der Verteidigung eines eigenen Klasseninteresses verbunden.“24 Auch diese Interpretation scheint mir zu kurz zu greifen. Es geht nicht um die Verteidigung korporatistischer Interessen. Man darf Bourdieu wohl die Wahrnehmung einer genuinen Rolle des Intellektuel-

21 Rötzer: Der Soziologe. 22 Vgl. ebd. 23 Ebd. 24 Lutz Hochmeister: Nervöse Zone. Journalismus in der Berliner Republik. München 2007, zitiert nach der Besprechung von Karin Beindorff, Deutschlandfunk v. 30.7.2007.

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len als Sachwalter des Allgemeinen – hier der Unabhängigkeit gegenüber externen Kräften – abnehmen. Es war aber nicht so sehr die Ausstrahlung der genannten Beiträge durch einen Privatsender zu später Stunde, die die große Debatte auslöste, sondern erst die Publikation der Vorträge in Papierform, als kleines ‚rotes Büchlein‘. Mit dieser Publikation etablierte Bourdieu eine neue Publikationsform, von der er schon lange geträumt hatte. Kleine Publikationen, verständlich geschrieben, dank eines bescheidenen Preises allen zugänglich, aber mit einem wissenschaftlich abgesicherten Inhalt. Sur la télévision war das erste Bändchen, das in dieser Reihe mit dem Titel Raisons d’agir im November 1996 in dem von ihm gegründeten Verlag LIBER éditions (Vertrieb Le Seuil) erschien und unmittelbar auf große Resonanz stieß. Das Format und der Preis der Bändchen dienten dem Zweck, eine Breitenwirkung zu erzielen. Wenn der Verlag den Namen LIBER trug, dann erinnerte das auch wieder an ein früheres Projekt von Bourdieu, die internationale Bücherzeitschrift LIBER, die er 1989 lanciert hatte und die zunächst als Beilage von Le Monde, FAZ, El Pais, L’Indice und TLS erschien, dann aber aus kommerziellen Gründen scheiterte und in bescheidener Form als Beilage von Actes erschien.25 Die Suche nach Breitenwirkung, die sich hier manifestiert, aber auch der Reihentitel Raisons d’agir (Gründe, um zu handeln), belegen, dass Bourdieu trotz seiner Illusionslosigkeit nicht von einer deterministisch-fatalistischen Weltsicht bestimmt wurde. In derselben Reihe erschienen dann auch zwei Bändchen mit seinen ‚Interventionen‘ zum Neoliberalismus: Contre-feux. Propos pour servir à la résistance contre l’invasion néo-libérale (1998) und Contre-feux 2. Pour un mouvement social européen (2001) sowie die heftige Auseinandersetzung mit dem Journalismus Les nouveaux chiens de garde (1997), die Serge Halimi dort veröffentlichte. Der Medienspezialist Wolton sah aber in der Gründung der Reihe der kleinen Schriften von Raisons d’agir einen Widerspruch. Bourdieu habe die Kommunikation kritisiert, in der er nur ein manipulatives Verfahren sah, während er sich selber dieser Verfahren bediente. Er habe sich mit seiner Reihe der kleinen Schriften des Verlags-Marketings bedient, um seine Ideen zu verbreiten.26 Das sind natürlich vor allem Unterstellungen, die der eigentlichen Intention Bourdieus nicht gerecht werden und wohl auch nicht gerecht werden wollen. Wenn sich Bourdieu 1996 intensiv mit den Medien und namentlich mit dem Fernsehen auseinandersetzte, so war das widerum eine Antwort auf eine vorgängige Debatte, die auch wieder mit der Zäsur von 1995 zu tun hatte, seiner ‚Intervention‘ 25 Siehe dazu Pascale Casanova: „La revue Liber. Réflexions sur quelques pratiques de la notion d’autonomie relative“. In: Pierre Bourdieu, sociologue. Hg. v. Louis Pinto, Giséle Sapiro u. Patrick Champagne. Paris 2004, S. 431–458. 26 Vgl. Wolton: Une critique.

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anlässlich des großen Eisenbahnerstreiks von 1995. Bourdieu hatte schon zuvor mit seinem Buch La Misère du monde, das im Februar 1993 erschien, eine große Breitenwirkung erzielt – über 120.000 Exemplare wurden in kurzer Zeit verkauft. Dieses Buch bestand zum großen Teil aus Interviews, die Bourdieu mit seinem Team führte, in denen er die Einzelnen zu Wort kommen lassen wollte, die durch den Arbeitsmarkt oder die schulische Selektion ausgegrenzt werden, um so das positionsbedingte Elend sichtbar zu machen, wie es die Menschen selbst wahrnehmen und erleiden. Das fast tausend Seiten umfassende Buch stieß in Frankreich auf massive Resonanz, weil es über ein Fachpublikum hinausging und Menschen erreichte, die sich in den Aussagen der anonymen Gesprächspartner wiedererkannten. Das Buch enthielt wohl wichtige theoretische Rahmungen, aber vor allem Interviews, die sich der Gattung der Sozialreportage oder des Investigationsjournalismus des Fernsehens näherten. Nach dem großen Erfolg dieses Buches öffneten sich Bourdieu neue Plattformen der Medienwelt.27 Er wurde nun nicht mehr bloß als der wichtige Vertreter einer akademischen Disziplin, als Fachmann eingeladen. La Misère du monde war zu einem Ereignis geworden. Am 14. April 1993 wird er von Jean-Marie Cavada in die große eineinhalb Stunden dauernde Sendung La Marche du siècle gebeten, die zur besten Sendezeit um neun Uhr abends ausgestrahlt wird. Eine Sendung mit Reportagen, die von einem Journalisten geleitet wird, der wichtige Persönlichkeiten einladen kann, die zum jeweiligen Thema Stellung beziehen. An diesem Abend hieß das Thema ‚Souffrance d’en France‘ (Not in Frankreich). Eingeladen wurden Abbé Pierre, nach Umfragen der beliebteste Franzose und Pierre Bourdieu, der berühmte Soziologe. Bourdieu und Abbé Pierre, die von ganz unterschiedlichen Weltsichten herkommen, fochten nicht die erwartete Konfrontation aus. Bourdieu definierte sich als Wissenschaftler, der sich nicht dazu überreden lassen wollte zu allem und jedem Stellung zu beziehen. Einzelne Texte aus La Misère du monde wurden nun von verschiedenen Bühnen szenisch dargestellt, Inszenierungen, von denen etwa der zweite Kanal ‚Antenne 2‘ berichtete. Bourdieu wurde andererseits vom Fernsehen über die Situation der algerischen Intellektuellen befragt, für die er sich einsetzte. Er kritisierte immer stärker die neoliberale Wirtschaftstendenz, die auch eine Gefahr für die wissenschaftliche Autonomie darstelle; er wurde zum Sprecher einer sozialen Bewegung, die eine modernistische und reformistische Linke nicht mehr unterstützte. Gleichzeitig kritisierte er immer offener das aktuelle Medienfeld, so in dem Artikel L’emprise du journalisme, der im März 1994 in seiner Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales erschien; er nahm im Übrigen diesen

27 Ich stützte mich hier auf die Analyse von Goulet: Pierre Bourdieu, S. 662–668.

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Text in die Schrift Sur la télévision auch auf, weil er die meisten in der Schrift „in einer zugänglicheren Version behandelten Themen auf striktere, kontrollierte Weise resümiert“.28 In diesem Aufsatz, der sich noch nicht an eine breitere Öffentlichkeit richtete, stellte Bourdieu einen stärker werdenden Einfluss des von der Marktlogik beherrschten journalistischen Feldes auf die anderen Felder der kulturellen Produktion fest und rief so auch zu einer Initiative der Kulturproduzenten auf, ihre Autonomie zu verteidigen. Es gelte, an der demokratischen Weitergabe durch Autonomie ermöglichter Ergebnisse zu arbeiten. Dies allerdings unter der Voraussetzung, dass man sich darüber im klaren ist, dass jeder Versuch, die höchst raren Errungenschaften wissenschaftlichen oder künstlerischen Experimentierens zu popularisieren, die Infragestellung des Monopols der Verbreitungsinstrumente dieser (wissenschaftlichen oder künstlerischen) Information voraussetzt, welches das journalistische Feld faktisch innehat, und auch die Kritik an der Darstellung der Erwartungen der Mehrheit der Menschen – einer Darstellung, wie sie die kommerzielle Demagogie derer hervorbringt, welche über die Mittel verfügen, sich zwischen die kulturellen Produzenten (unter die in diesem Fall die Politiker gezählt werden können) und die große Masse der Konsumenten zu drängen.29

Am 20. Januar 1996 lud Daniel Schneidermann Bourdieu in seine FernsehkritikSendung Arrêt sur image auf dem ‚5. Kanal‘ ‚La Cinquième‘ ein, um mit ihm über die Art und Weise zu diskutieren, wie das Fernsehen über die Streikwelle vom Dezember 1995 berichtet habe. Nach dieser Sendung, die für ihn äußerst unbefriedigend abgelaufen war – er stand allein vier Journalisten gegenüber –, ging Bourdieu an die Öffentlichkeit mit einem Artikel, den er in Le Monde diplomatique veröffentlichte.30 Er war zu der Überzeugung gekommen, dass es unmöglich ist, im Fernsehen das Fernsehen zu kritisieren. Der Leiter der Sendung, Schneidermann, setzte für die Sendung einen ‚Gegenpart‘ durch. Bourdieu schlug anstelle eines Abgeordneten der Mehrheit Cavada, den Direktor von ‚France Télévision‘, vor. Er wird auf seine ‚Intervention‘ beim Streik vom Dezember 1995 verwiesen, damit als ‚Partei‘ hingestellt, wo er doch ausschließlich über das Fernsehen als Medium diskutieren wollte. Die Rolle des Widerparts wurde nun von zwei Fernseh-Produzenten Cavada ‚France 3‘ und Guillaume Durand ‚TF1‘ eingenommen. De facto stand er vier Gegenspielern gegenüber, wurde oft unterbrochen und konnte seine Analyse nicht entwickeln. Einzelne Argumente der Gegenspieler, die Komplimente verteilten, waren Argumente ad hominem, wenn etwa Cavada auf Bourdieus Schüch28 Bourdieu: Über das Fernsehen, S. 103. 29 Ebd., S. 117. 30 Pierre Bourdieu: „La télévision peut-elle critiquer la télévision? Analyse d’un passage à l’antenne“. In: Le Monde diplomatique v. April 1996, S. 25.

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ternheit zurückkam oder auf die Sendung mit Abbé Pierre, so dass er als der ‚Undankbare‘ erschien.31 Das Fazit: Die Dispositive des Fernsehens erlauben es selbst einer Fernsehkritik-Sendung nicht, das Fernsehen zu kritisieren. Hier schon äußerte Bourdieu die These, die er in seiner Schrift vertiefen sollte, dass dem Fernsehen als Kommunikationsinstrument eine starke (implizite) Zensur mit immanent ist. Bourdieu belegte seine Ausführungen hier mit einer Analyse des Dispositivs des Fernsehens, das die Debatten sehr stark bestimmt und orientiert. Schneidermann antwortete darauf in Le Monde diplomatique mit einem ganzseitigen Artikel, indem er wieder das Stereotyp des professoralen Gestus von Bourdieu bemühte, der einfach keinen Widerspruch dulde: Diese ostentative Furcht des Meisterdenkers vor Widerworten ist zunächst einmal aufschlussreich für den Niedergang der intellektuellen Streitkultur in Frankreich […]. ‚Pierre Bourdieu spricht zu Ihnen‘. Wäre das die von Ihnen erträumte Sendung? […] Eine geschlagene Stunde lang zuschauen, wie ein ehrwürdiger Professor doziert und exkommuniziert: Wer hätte diese Farce bis zum Ende ansehen können, ohne sich totzulachen.32

Schneidermann ging nicht auf die Argumentation von Bourdieu zur Sache ein, sondern antwortete mit Argumenten ad hominem: Kein Zweifel, ihre heutige Macht berauscht und erschreckt den kleinen Studenten aus dem Béarn […]. Ihre Macht ist heute immens. Es gefällt Ihnen zuweilen, sich über die in Ihren Augen ungeheuerliche Macht der Medien im Allgemeinen und die des Fernsehens im besonderen zu empören. Sie haben recht. Aber wie steht es mit Ihrer eigenen? Macht sie Sie nicht blind?33

Im Vorspann stellte Le monde diplomatique Schneidermanns Sendung vor als eine „der wenigen in Frankreich, die sich auf mutige und seriöse Weise um einen analytischen Umgang mit den Bildern des Fernsehens bemühen“, bedauerte aber, dass Schneidermann Bourdieu auf einem „eher polemischen als theoretischen Niveau“ antworte.34

31 Vgl. Goulet: Pierre Bourdieu, S. 666. 32 Daniel Schneidermann: „Auch sie haben Macht! Antwort an Pierre Bourdieu“. In: Le Monde diplomatique/taz v. Mai 1996. 33 Ebd. Schneidermann antwortete Bourdieu in derselben polemischen Art mit einem eigenen kleinen Buch (Du journalisme après Bourdieu. Paris 1990), das von den Journalisten sehr intensiv besprochen wurde. Siehe dazu auch Jorge Semprun: „Arrêt sur images: Bourdieu“. In: Le Journal du Dimanche v. 23.5.1999. Schneidermann wurde im Juni 2007 von ‚Kanal 5‘ ‚La cinquième‘ entlassen, weil er dem Direktor von ‚France Télévision‘ Patrice de Carlis unsaubere Recherchen vorgeworfen hatte. Seither betreibt er seine Sendung Arrêt sur images als Internetforum. 34 Ebd.

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Bourdieu kam mit seinen zwei Sendungen über das Fernsehen und den Journalismus auf ‚Paris Première‘ auf sein Anliegen zurück. Die große Debatte wurde dann aber durch das Print-Medium ausgelöst, durch das ‚kleine rote Büchlein‘ Sur la télévision. Er reflektierte durchaus auch die Veränderungen von der mündlich televisuellen Fassung, bei der der Tonfall, die Mimik eine Aussage modulieren kann, zur schriftlichen Fassung. Die „moralinschwere Empörung“ nach der Publikation sei, so Bourdieu, zum Teil auf die Transkription zurückzuführen, die unvermeidlicherweise das Ungeschriebene, den Tonfall, die Gesten, die Mimik verschwinden läßt – das heißt alles, was für jeden gutwilligen Zuschauer den Unterschied zwischen der um Erklären und Überzeugen bemühten Rede und dem polemischen Pamphlet ausmacht, das die meisten Journalisten darin gesehen haben.35

Der Vorwurf, den Schneidermann und andere Kommentatoren gegenüber Bourdieus Schrift über das Fernsehen formulierten, er habe seine Position als Wissenschaftler zugunsten eines ‚terrorisme intellectuel‘ aufgegeben, lässt sich nicht aufrechterhalten. Es geht hier nicht um billige Polemik; Bourdieu stützt sich immer auf seine zentralen theoretischen Kategorien wie ‚Feld‘, ‚symbolisches Kapital‘, ‚Strukturwirkung‘, ohne aber in einen Jargon zu verfallen, so dass seine Schrift, so Vincent Goulet, als eine „gute Vulgarisierung“ gelten könne.36 Sicher ist Bourdieu in seinen Aussagen pointiert; so etwa wenn er schreibt, das Fernsehen habe „eine Art faktisches Monopol bei der Bildung der Hirne eines Großteils der Menschen“.37 Cyril Lemieux, selber Mediensoziologe im Kontext von Boltanski und Autor eines einschlägigen Werkes (Mauvaise presse)38 hielt die obige Aussage für wissenschaftlich nicht so konsistent. Doch bleibe Bourdieu auch hier ein großer Soziologe, der in programmatisch und bisweilen theoretisch etwas lockerer Form, seine Fähigkeit belege, die bestehenden Forschungsperspektiven in diskussionswürdiger und fruchtbarer Weise zu erneuern. Das sei ihm gelungen, indem er einerseits sein Feld-Konzept auf die Welt des Journalismus angewendet habe. Die Strategien der Akteure erklärten sich aus den objektiven Positionen, die sie im Feld einnähmen; andererseits charakterisiere Bourdieu zu Recht das journalistische Feld durch die geringe Autonomie, die es – vor allem das Fernsehen – verwundbar mache gegenüber den Kräften des Marktes; diese Unterordnung unter eine kapitalistische Logik führe zur Übernahme einer ‚struk35 Bourdieu: Über das Fernsehen, S. 129. 36 Goulet: Pierre Bourdieu, S. 662. 37 Bourdieu: Über das Fernsehen, S. 23. 38 Cyril Lemieux: Mauvaise presse. Une sociologie compréhensive du travail journalistique et de ses critiques. Paris 2000.

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turellen Zensur‘, die die Diskurse auf dem Medien-Plateau entpolitisiere und dadurch, wegen der dominanten Position des Fernsehens, auch zu einem partiellen Verlust der Autonomie in anderen Feldern der kulturellen Produktion führe.39 Die Reaktionen der Medienwissenschaftler (‚Bourdieu bringt nichts Neues‘) erklären sich daraus, dass diese den theoretischen Hintergrund verkennen, der eine Erneuerung der Sichtweise brachte. Er selber erklärte die heftigen Reaktionen der Journalisten damit, dass diese die Methode, die er anwandte (‚die Untersuchungen der journalistischen Welt als Feld‘), ausklammerten und seine Ausführungen als Angriffe auf Personen, und nicht als Erhellung von Strukturen verstanden. Eine zentrale Kategorie, auf die sich Bourdieu in seiner Argumentation bezieht, ist sicher die der ‚symbolischen Gewalt‘: Die symbolische Gewalt ist eine Gewalt, die sich der stillschweigenden Komplizität derer bedient, die sie erleiden, und oft auch derjenigen, die sie ausüben und zwar in dem Maße, in dem beide Seiten sich dessen nicht bewußt sind, daß sie ausüben oder erleiden. Aufgabe der Soziologie wie aller Wissenschaften ist es, Verborgenes zu enthüllen; sie kann daher dazu beitragen, die symbolische Gewalt innerhalb der sozialen Beziehungen zu verringern, und ganz besonders in den von der Medienkommunikation geprägten Beziehungen.40

Das Konzept der symbolischen Gewalt ist in der Tat ein zentrales und originelles Element des Theoriegebäudes von Bourdieu. Auf der Basis der Autorität, des Prestiges des Mandatsträgers kann eine Ordnung als legitim, normal und natürlich empfunden werden, wodurch kaschiert wird, dass sie auf Machtverhältnissen beruht. Die symbolische Gewalt ist im Unterschied zur physischen unsichtbar; sie führt dazu, dass sie von den Beherrschten akzeptiert wird, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Denn im Prozess der Sozialisierung wird diese Ordnung internalisiert. Im Unterschied zu Michel Foucault sieht Bourdieu Herrschaft nicht so sehr als Produkt von Disziplinierung oder Dressur, sondern als Folge der symbolischen Gewalt, die darum so wirksam ist, weil sie nicht wahrgenommen wird; es wird nicht registriert, wie sich die subjektiven Strukturen unbewusst an die objektiven anpassen. Für Bourdieu gibt es zwei Formen der Herrschaft: die eine, die auf nackter Gewalt – der Waffen oder des Geldes – beruht und die symbolische Gewalt, die viel subtiler und weniger sichtbar ist. Beide Formen der Herrschaft schaffen ein Verhältnis der Abhängigkeit, der Unterwerfung, für das es keine Rekursinstanz 39 Vgl. Lemieux: Médias, S. 14. Lemieux sieht die Gefahr von Bourdieus ‚Vulgarisierung‘ einzig darin, dass sie zu Vereinfachungen führen könnte, die allerdings den Intentionen des Soziologen nicht entsprächen. 40 Bourdieu: Über das Fernsehen, S. 21f.

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gibt. Die verkannte symbolische Gewalt äußert sich als Verpflichtung, als Erkenntlichkeit, als Schuldigkeit, der man sich nicht entziehen kann. Nach Bourdieu ist die sanfte Gewalt ein wirkungsvolles Mittel schon bei der Erziehung der Kinder. Die Suche nach Anerkennung werde dann später zu einem sehr starken Antrieb jedes Handelns. Die symbolische Macht setze sich nur darum durch, weil diejenigen, die ihr unterworfen sind, an ihrer Aufrechterhaltung mitwirken.41 Die symbolische Gewalt äußert sich im Fernsehen nicht in erster Linie über eine explizite Zensur, die der physischen Disziplinierung à la Foucault entspricht. Zweifellos gebe es auch politische und ökonomische Zensurinstanzen; aber es sei zu einfach, alle Vorgänge auf diese Instanzen zurückzuführen. Viel bedeutsamer sei die ‚unsichtbare Zensur‘, die darin besteht, dass Themen und Voraussetzungen vorgegeben und die Redezeit beschränkt ist. Bourdieu nennt diese Zensur unsichtbar, weil sie für selbstverständlich gehalten wird und kein offener Zwang ausgeübt wird.42 Die Diktatur der Einschaltquote führe dazu, dass der scoop, die Exklusivmeldung, zum Selektionskriterium werde, was zur politischen Entmündigung des Fernsehzuschauers führe. Ein weiteres Verfahren dieser unsichtbaren Zensur besteht nach Bourdieu im „Verstecken durch Zeigen.“43 Erst dann werde über etwas berichtet, etwa über die Pariser Vorstädte, wenn sich etwas Spektakuläres ereigne. Über das Normale, Alltägliche, Banale werde nicht berichtet. „Das Fernsehen verlangt die Dramatisierung“;44 durch das, was das Fernsehen zeige oder weglasse, werde Realität konstruiert, ein effet de réel erzeugt. Das Fernsehen trage entscheidend zur Durchsetzung medienspezifischer Wahrnehmungsstrategien bei. Ein drittes Element, das TV-Feld charakterisiert, ist nach Bourdieu die „zirkuläre Zirkulation der Nachricht.“45 Die wenigsten Nachrichten seien originär; sie stammten zumeist von anderen Journalisten oder von Presseagenturen. Das führe zu einer Art Nivellierung, einer Homogenisierung der Wichtigkeitshierarchien.

41 Vgl. Joseph Jurt: Bourdieu. Stuttgart 2008, S. 86f. 42 Pierre Bourdieu schrieb anlässlich eines Beitrags zu einem literaturwissenschaftlichen Kolloquium schon im Mai 1974, wie oft die spontane unsichtbare Zensur als Anpassung an die jeweiligen Strukturen des jeweiligen Feldes funktioniert, indem man seine Ausdrucksweise mehr oder weniger ‚euphemisiert‘: „Jeder Ausdruck stellt einen Kompromiss zwischen einem Ausdrucksinteresse und einer Zensur dar, die in der Struktur des Feldes besteht, in dem dieser Ausdruck angeboten wird, und dieser Kompromiss ist das Produkt einer Euphemisierungsarbeit, die bis zum Schweigen gehen kann, dem Grenzfall des zensierten Diskurses.“ (Pierre Bourdieu: „Die Zensur“ (1974). In: Ders.: Soziologische Fragen. Frankfurt a. M. 1993, S. 131–135, hier S. 131.) 43 Bourdieu: Über das Fernsehen, S. 24. 44 Ebd., S. 25. Siehe dazu Patrick Champagne: „La vision médiatique“. In: La misère du monde. Hg. v. Pierre Bourdieu. Paris 1993, S. 61–86. 45 Ebd., S. 30.  

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Diese Zirkularität bedinge eine Geschlossenheit des journalistischen Milieus und so letztlich auch eine „Zensur, die ebenso wirksam ist wie die einer zentralen Bürokratie, eines förmlichen politischen Eingriffs, ja wirksamer noch, weil unauffälliger.“46 Die Diktatur der Einschaltquote führe dann zu einem Kurzschluss von Zeit und Denken. Der Wettlauf um den scoop zeitige eine Dringlichkeit des Arbeitsablaufs und fördere darum die reaktionsschnellen fast-thinker, die immer mit einem Gemeinplatz parat seien, die das Nachdenken verhinderten. Schließlich konstatiert Bourdieu „echt falsche Debatten“47 zwischen Personen, die sich schon kennen, im Fernsehen aber vortäuschen, Streitgespräche zu führen („Wenn Sie im Fernsehen Alain Minc und Attali, Alain Minc und Sorman, Ferry und Finkielkraut, Julliard und Imbert sehen, dürfen Sie davon ausgehen, daß die unter einer Decke stecken“48) oder „falsch echte Debatten“, die durch die Einschränkung der Redezeit abgeblockt würden. Bourdieu führt eine ganze Reihe von Zwängen und Zensuren auf, die diese Debatten bestimmen: Die Rolle des Moderators, der das Thema festlegt und die Redezeit vergibt, dann die Zusammensetzung der Diskussionsrunde, die einer Logik folgt, die für den Zuschauer nicht einsichtig ist und dann die mit den Teilnehmern festgelegten Sprachregeln und die Logik des jeweiligen Sprachspiels. Wenn für Bourdieu die Welt des Journalismus ein eigenes Feld darstellt, das zunächst geprägt wird durch die Relationen der Akteure untereinander, so stellt er gleichzeitig fest, dass dieses Feld, das zum dominanten innerhalb der kulturellen Produktion geworden ist, wegen des Diktats der Einschaltquote unter der Fuchtel des ökonomischen Feldes steht. Dieses zutiefst heteronomen, kommerziellen Zwängen stark unterworfene Feld übe seinerseits strukturell Druck auf andere Felder aus. Man dürfe diese Wirkungen aber nicht einzelnen Personen zuschreiben, selbst wenn man so seine privaten Zielscheiben habe, zum Beispiel BernhardHenri Lévy als „Symbol des Mainstreamschriftstellers oder Mainstreamphilosophen“; dieser sei aber letztlich „nur eine Art Epiphänomen einer Struktur, Ausdruck seines Feldes, ganz wie ein Elektron.“49 Die ‚Medienintellektuellen‘ à la BHL standen zweifellos im Visier Bourdieus. Sie waren als Gruppe der Nouveaux Philosophes durch das Fernsehen (etwa die Sendung Apostrophes) geschaffen worden und durch das Prestige seriöser wissenschaftlicher Werke. Dank ihrer Medienpräsenz beherrschten sie das intellektuelle Feld immer mehr, so dass etwa in einer Umfrage über die wichtigsten Intellektuellen Frankreichs im Jahre 1981

46 47 48 49

Ebd., S. 34. Ebd., S. 41. Ebd. Ebd., S. 77.

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Joseph Jurt

Lévy umstandslos neben Claude Lévi-Strauss oder Fernand Braudel figuriert.50 Das Fazit von Bourdieu ist relativ pessimistisch: Die Einschaltquote ist die Sanktion des Marktes, der Wirtschaft, das heißt einer externen und rein kommerziellen Legalität, und die Unterwerfung unter die Anforderungen dieses Marketinginstruments ist im Bereich der Kultur genau dasselbe wie die von Meinungsumfragen geleitete Demagogie in der Politik. Das unter der Herrschaft der Einschaltquote stehende Fernsehen trägt dazu bei, den als frei und aufgeklärt unterstellten Konsumenten Marktzwängen auszusetzen, die, anders als zynische Demagogen glauben machen wollen, mit dem demokratischen Ausdruck einer aufgeklärten, vernünftigen öffentlichen Meinung, einer öffentlichen Vernunft, nichts zu tun haben.51

Was nun die eingangs erwähnten Medientheoretiker Bourdieu vorwerfen ist, dass er das kritische Potential, letztlich jenen Freiheitsraum der journalistischen Produzenten und der Konsumenten verkenne. Man könne nicht behaupten, so Wolton, dass Journalisten und selbst Presse-Unternehmer völlig durch ökonomische Interessen bestimmt seien. Zunächst sei Information nicht eine Ware wie eine andere. Wenn die Journalisten, wie andere Berufsgruppen, unter dem Druck des Geldes stünden, so hätten sie deswegen nicht ihre Kritikfähigkeit aufgegeben. Auch zwischen Kommunikation und Aufnahme durch die Zuschauer und Zuhörer gebe es eine Distanz. Selbst wenn es Phänomene der Domination gebe, so könne man beim Senden einer Botschaft nie wissen wie die Rezipienten diese Botschaft interpretierten und re-codierten. Je mehr sich die Botschaften in den unterschiedlichsten Massenmedien vervielfältigten, umso mehr entstehe eine Distanz zwischen Sender und Empfänger. Der Rezipient widerstehe, um sein freies Urteil zu wahren. Die alte These der Passivität der Rezipienten sei durch die Fakten widerlegt worden.52 Ähnlich argumentieren Dörner und Vogt, die Bourdieu vorwerfen, „er schreibe dem Massenmedium eine schier unbegrenzte Wirkungsmacht“ zu. Die Mediennutzer erschienen ihm nur als „passive Kulturtrottel“, die alle jene Inhalte, wie sie in den Medien angeboten werden, unkritisch und ungefiltert „in die Köpfe trans-

50 Vgl. Pierre Bourdieu: „Le hit-parade des intellectuels ou qui sera juge de la légitimité des juges“. In: Ders.: Homo Academicus. Paris 1984, S. 275–286. Siehe dazu auch Geoffroy de Lagasnerie: L’empire de l’université. Sur Bourdieu, les intellectuels et le journalisme. Paris 2007. 51 Bourdieu: Über das Fernsehen, S. 98. Nach Bourdieu hat die Ökonomisierung des journalistischen Feldes auch zu einer Dichotomie der Akteure geführt – zwischen den Medienstars, die über große materielle und symbolische Ressourcen verfügen und den prekarisierten Mitarbeitern, deren prekäre Lage zur Selbstzensur und zur Anpassung führt (vgl. Bourdieu: Über das Fernsehen, S. 135 sowie ders.: Propos sur le champ politique. Lyon 2000, S. 76f.). 52 Vgl. Wolton: Une critique, S. 73.

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feriert bekämen“; die Zuschauer erschienen dann als „kulturelle Deppen“ und dem Journalisten werde große Naivität unterstellt. Alle einschlägigen Studien zeigten, dass Bourdieu das Wirkungspotential des Mediums völlig überschätze. Gemäß seiner deterministischen Sicht sehe er den Spielraum der Akteure durch die Feldstrukturen eng begrenzt und die Rezipienten erschienen „im Sinne der marxistischen Tradition als passive der Macht der Produktion völlig ausgelieferte Subjekte.“53 Sowohl Wolton wie Dörner und Vogt verkennen etwa den Unterschied zwischen sichtbarer und unsichtbarer Disziplinierung und Zensur. Gegen die erstere ist der Widerstand sehr oft evident. Die verinnerlichten Zwänge, die verinnerlichte Zensur ist aber viel wirksamer, weil sich die Akteure ihrer nicht bewusst sind. Im Fokus von Bourdieu stehen aber vor allem die Produktionsbedingungen der Produzenten, die immer mehr von einer kommerziellen Logik bestimmt werden. Deswegen kann man ihm nicht unterstellen, er behandle die Mediennutzer bloß als passive Rezipienten und als ‚Kulturtrottel‘, dies um so mehr, da er zwischen verschiedenen Kategorien von Mediennutzern unterscheidet (Leser von sogenannten seriösen Zeitungen, die Zugang zur internationalen Presse und fremdsprachigen Rundfunknachrichten haben und die reinen Konsumenten von Fernsehnachrichten).54 Schließlich scheint es mir auch sehr vereinfachend zu sein, Bourdieu als Strukturdeterministen einzustufen. Dabei wird verkannt, dass es in seinen Augen nicht um eine antithetische Opposition zwischen Autonomie und Heteronomie, zwischen struktureller Determination und Freiheit der Akteure geht, sondern um eine skalare Relation zwischen den beiden Polen: Wenn er sich so intensiv bemühte, versteckte wirkungsmächtige ‚naturalisierte‘ strukturelle Bedingungen aufzudecken, dann ist das einem Bemühen um mehr Autonomie, um mehr Selbstbestimmung, um einen größeren Freiraum geschuldet.

53 Dörner u. Vogt: Medien, S. 261f., 267. 54 Vgl. Bourdieu: Über das Fernsehen, S. 23.

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Das zwangsfinanzierte ‚Nullmedium‘: Zensur, Literatur, Markt und das öffentlich-rechtliche Fernsehen Spätestens seit dem Erlass der Karlsbader Beschlüsse 1819 und der Etablierung des so genannten ‚Metternichschen Systems‘ gilt Zensur im Bewusstsein der Öffentlichkeit zuförderst als ursächlich „politisch veranlaßt“ und manifestiert sich im vermeintlichen oder tatsächlichen Exekutionswahn kunstfeindlicher Kulturfeldwebel und ihrer subalternen „Verfolgungsbehörden“.1 Immer wieder scheint es darum zu gehen, die sich in der Aufklärungsepoche formierende Institution einer kritischen Öffentlichkeit sowie die Idee ästhetischer Autonomie gegen die Anmaßung und Repression eines übermächtigen Staates zu verteidigen. Diese Fixierung auf im Kern presserechtliche Fragen wird nicht allein durch Zeitgenossen wie Arnold Ruge, Julius August Collmann, Friedrich von Weech oder Friedrich Kapp prädiziert, sondern resultiert auch aus der zeittypischen Reglementierungspraxis und dem Rollenverständnis von autoritärem Staat, liberaler Opposition und schutzbedürftiger Publizistik. En face eines konträren, pluralistischen Staatsverständnisses heute, der Kapitalisierung des Fernsehens, einer zweiten Medienrevolution sowie des Wandels von Öffentlichkeit und Privatheit stellt sich allerdings die Frage, ob diese tradierten Beschreibungsmuster a priori noch deutungstauglich sind. Die von abschreckenden historischen Erfahrungen bestimmten Rollenbilder relativieren sich, ja, kehren sich um: In ungewohnter Weise trachtet jetzt eine skeptische politische Öffentlichkeit danach, elementare Freiheitsrechte gegenüber übermächtigen Medienunternehmen zu exekutieren. In ungewohnter Weise erweisen sich die Apologeten medialer Freiheit als Adepten staatlich sanktionierter Unfreiheit.2 Parallel dazu scheint sich ein Prozess zu radikalisieren, den Jürgen Habermas in nuce idealiter als Genese vom „kulturraisonierenden zum kulturkonsumierenden Publi-

1 Wolfram Siemann: „Normenwandel auf dem Weg zur ‚modernen‘ Zensur. Zwischen ‚Aufklärungspolizei‘, Literaturkritik und politischer Repression (1789–1848)“. In: Zensur und Kultur. Censorship and Culture. Zwischen Weimarer Klassik und Weimarer Republik mit einem Ausblick bis heute. From Weimar Classicism to Weimar Republic and Beyond. Hg. v. John A. McCarthy u. Werner von der Ohe. Tübingen 1995, S. 63–86, hier S. 63. Siemann problematisiert diese simplifizierende Sicht differenziert und quellenkundig. 2 Vgl. „Offener Brief an Angela Merkel. Deutschland ist ein Überwachungsstaat.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 26.7.2013, S. 33.

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kum“3 beschrieben hat. Plattformen wie YouTube oder der so genannte Bürgerjournalismus von Onlinezeitungen nach dem Muster der Huffington Post verschließen sich bewusst einem vom „Sozialtypus des Intellektuellen“4 getragenen, gelehrtenpolitischen Kommunikationsideal. Diese Tendenz korreliert mit den Usancen des audiovisuellen Medienmarkts und seinen institutionalisierten ökonomischen Zwängen. Die Verdrängung kulturell relevanter Beiträge aus der Primetime des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und von Autorenfilmen aus den Publikumskinos sind Resultate einer von Verleih- und Produktionsfirmen forcierten medienökonomischen Konkurrenz, die die Distribution ebenso wie die Konzeption und Realisierung nonkonformer Produktionen chancenlos lässt und eine marktgerechte Zensurierung künstlerischer Öffentlichkeit institutionalisiert. Erstmals in der Geschichte der Literaturvermittlung in den Medien zeigt sich eine Sparte in toto nicht mehr der Autonomie von Bildung und Ästhetik verpflichtet, sondern unterwirft sich den Bedingungen der Werbewirtschaft. „An diesen Streit über den besonderen Charakter der Waren Bildung und Information erinnert der Slogan,“ so Habermas 2007, der seinerzeit in den USA bei der Einführung des Fernsehens die Runde machte: Dieses Medium sei auch nur ‚ein Toaster mit Bildern’. So meinte man, die Herstellung und den Konsum von Fernsehprogrammen getrost allein dem Markt überlassen zu können. Seitdem stellen Medienunternehmer für Zuschauer Programme her und verkaufen die Aufmerksamkeitsressourcen ihres Publikums an Auftraggeber von Werbeeinlagen. Dieses Organisationsprinzip hat, wo immer es flächendeckend eingeführt worden ist, politisch-kulturelle Flurschäden angerichtet.5

Fernsehmarkt und informelle Zensur Das Problem, inwieweit marktbedingte Restriktionen als Zensur begriffen werden können, ist bisher kein Thema relevanter kulturwissenschaftlicher Debatten. Prinzipiell wird ein ökonomischem Kalkül verpflichtetes Votum von der zensorischen

3 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied 1962, S. 177. 4 Gangolf Hübinger: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte. Göttingen 2006, S. 235. 5 Jürgen Habermas: „Medien, Märkte und Konsumenten. ‚Die besondere Natur der Waren Bildung und Information‘ – Die seriöse Presse als Rückgrat der politischen Öffentlichkeit“. In: Süddeutsche Zeitung v. 16./17.5.2007, S. 13.

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Praxis einer „autoritären Kontrolle menschlicher Äußerungen“6 unterschieden und stellt sich auch in marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften nicht als Resultat eines komplexen Systems „staatlicher Steuerung“7 dar. Die durch den Staatsvertrag über den Rundfunk im vereinten Deutschland und die Gebührenregelung definierte eigene und herausragende Position des öffentlich-rechtlichen Fernsehens schafft aber Rahmenbedingungen, die jeden Spielraum für freie Entscheidungsmöglichkeiten radikal einschränken: Nicht nur die Errichtung und der Betrieb von Fernsehsendern bedarf einer staatlichen Genehmigung, sondern auch die Inbetriebnahme eines Empfangsgeräts, die erst gegen Zahlung der Gebühr8 erteilt wird. Die Gläubiger der Gebühr sind die Rundfunkanstalten, die Besetzung von Leitungspositionen (Intendant, Programmdirektoren, Abteilungsund Redaktionsleiter) richtet sich in der Regel nach dem Parteienproporz. Damit unterscheidet sich die Organisation des Fernsehens fundamental vom ungeachtet der Buchpreisbindung marktwirtschaftlich orientierten Buch- und Zeitungsmarkt. Der Zuschauer finanziert zwangsweise ein Programm, auf das er mitnichten Einfluss hat, der für das Fernsehen arbeitende Kulturjournalist erhält Aufträge oder schafft Beiträge, für die er realiter, was für den Problemzusammenhang der Zensur von zentraler Bedeutung ist, keine Veröffentlichungsalternativen9 hat, da die zweiten Träger des dualen Systems, die privaten Sender, als Verwerter nicht in Frage kommen. Dennoch üben die privaten Sender durch ihr Programm spürbaren Einfluss aus: Da sie in der Lage sind, durch populäre Serien, Sportevents oder Blockbuster hohe „Aufmerksamkeitsressourcen“10 in den gängigen Sendezeiten für sich zu sichern, haben sie indirekt Einfluss auf die Werbeeinnahmen der Mitkonkurrenten und tragen so dazu bei, so genannte Minderheitenprogramme auf dritt- oder viertklassige Sendeplätze zu verschieben. Eine Kulturvermittlung im Medium Fernsehen findet deshalb zu den besten Sendezeiten nicht mehr statt. Die Regulative des Marktes dominieren zunehmend das komplexe System staatlicher Steuerung, in der Primetime findet eine Konvergenz der Systeme statt, die zu Lasten der öffentlich-rechtlichen Anbieter geht: Das verfassungsrechtliche Gebot einer kulturellen Grundversorgung wird ausgehöhlt und damit nicht mehr erfüllt.

6 Ulla Otto: Die literarische Zensur als Problem der Soziologie der Politik. Stuttgart 1968, S. 3. 7 Siemann: Normenwandel, S. 84. 8 Zur Neuregelung der Gebühren vgl. Christopher Keil: „Geschenk der Zuschauer“. In: Süddeutsche Zeitung v. 11.6.2010, S. 4. 9 Vgl. Patrick Champagne: „Journalismus zwischen sozialer Unsicherheit und Konkurrenz“. In: Liber. Internationales Jahrbuch für Literatur und Kultur. Sonderausgabe. Intellektuelle, Markt & Zensur 1 (1997), S. 13–18, hier S. 15f. 10 Habermas: Medien, Märkte und Konsumenten, S. 13.

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In diesem Kontext geht es keineswegs nur darum, tagesaktuelle kulturelle Kontroversen zu thematisieren oder Avantgardekonzepten den unentbehrlichen „Kredit an gesicherter Beachtung“11 zu verschaffen, sondern um eine Selbstverständigung, die nach wie vor in den Feuilletons aller größerer Tageszeitungen stattfindet. In der tagtäglichen Auseinandersetzung um geldwerte Aufmerksamkeitsressourcen wird die „Doppelcodierung“12 kultureller Beiträge negiert und der Warencharakter verabsolutiert. „Zuschauer sind“ aber, so Habermas, nicht nur Konsumenten, also Marktteilnehmer, sondern zugleich Bürger mit einem Recht auf kulturelle Teilhabe, Beobachtung des politischen Geschehens und Beteiligung an der Meinungsbildung. Aufgrund dieses Rechtsanspruches dürfen die Programme, die eine entsprechende Grundversorgung der Bevölkerung sicherstellen, nicht von ihrer Werbewirksamkeit und der Unterstützung durch Sponsoren abhängig gemacht werden.13

Wird diese Teilhabe beschnitten, so wird die „stimulierende und zugleich orientierende Kraft“ kultureller Debatten konterkariert und „eine diskursiv vitale Öffentlichkeit“14 in ihrem Kern nachhaltig geschädigt. Aber auch die zunehmende Gettoisierung des Kulturdiskurses in wenig kostennintensiven Formaten von Nischensendern wie BR alpha erweist sich als fragwürdig, da diese Anbieter auf dem „Kapitalmarkt der Beachtlichkeit“15 eine untergeordnete Rolle spielen und der Großteil der zwangsweise erhobenen Gebühren weiterhin in Produktionen oder Events fließt, die für das erste oder zweite Programm in der Konkurrenz mit den privaten Anstalten Aufmerksamkeitsgewinne verbuchen sollen. Grundsätzlich ist aber „kulturelle Qualität“ „nicht als Funktion von Normierungen, Formatierungen oder eines evaluierten Massengeschmacks zu betrachten.“16 Gravierend ist, dass das „Ziel dieser Konkurrenz“ weitaus „eher wirtschaftlicher als rein journalistischer Natur“ ist, geht es doch darum, „die höchsten Zuschauerzahlen zu erreichen, um ein Maximum an Werbeeinnahmen“17 abzuschöpfen. Folgt man der Argumentation von Ulla Ottos Standardwerk Die literarische Zensur als Problem der Soziologie der Politik, so

11 Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München, Wien 1998, S. 136. 12 Georg Jäger: „Keine Kulturtheorie ohne Geldtheorie. Grundlegung einer Theorie des Buchverlags“. In: Empirische Literatur- und Medienforschung. Hg. v. Siegfried J. Schmidt. Siegen 1995, S. 24–40, hier S. 31. 13 Habermas: Medien, Märkte und Konsumenten, S. 13. 14 Ebd. 15 Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit, S. 138. 16 Reiner Matzker: „Kompetenz oder Hypostase? Mediensystem, Bildungskultur und Kulturpolitik“. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe C, Forschungsberichte 8 (2005) Teil 7, S. 27–70, hier S. 47. 17 Champagne: Journalismus, S. 17.

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lassen sich diese strukturellen Voraussetzungen als informelle Zensur charakterisieren. Als wirksame informelle Zensur gelten Restriktionen, denen „politischer, sozialer und ökonomischer Druck“ zugrunde liegt, der durch eine „Kombination von institutionalisiertem und nicht-institutionalisiertem Regelungswesen“18 ausgeübt wird. Informelle und strukturelle Zensur ähneln sich in dieser Hinsicht in ihrem Erscheinungsbild.19

Strukturelle Zensur im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Die Frage, welchen thematischen und ästhetischen Normen ein Fernsehfilm Genüge tun muss, hat die NDR-Fernsehspielchefin Doris J. Heinze auf unorthodoxe Weise beantwortet: Sie schreibt die Drehbücher, in denen „Animateure, Latin-Lover-Kurse, Kreuzfahrt-Galane und millionärsfixierte Blondinen“20 unverzichtbar sind, bis 2009 unter Pseudonym gewinnbringend selbst. Die Dekuvrierung des Betrugs und die Kündigung der korrupten Fernsehspielchefin21 ändern aber wenig an der Programmplanung; am 23.9.2009 steht, so, als wäre nichts gewesen, erneut eine Produktion der Autorin Marie Funder-Donoghue alias Heinze von der amerikanischen „Ostküste“22 mit dem Titel Die Freundin der Tochter zur Primetime nach der Tagesschau auf dem Programm eines öffentlich-rechtlichen Senders, diesmal der ARD. De facto fügt sich das seichte Ehedrama aus der Feder der Ex-Fernsehspielchefin mit dem, so die Wochenzeitung Die Zeit, so eigenwilligen Heinze-Touch problemlos ins Programm, ist es doch ein Golem, eine Wunschproduktion, die selbst formulierte Kriterien wie attraktiv, spannend und bewegend sowie heiter-komisch-emotional sattsam erfüllt.

18 Otto: Die literarische Zensur, S. 120. 19 Der Begriff strukturelle Zensur wird in diesem Kontext anders als bei Dieter Breuer (ders.: Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland. Heidelberg 1982) nicht als Synonym für informelle Zensur gebraucht, sondern als nichtstaatliche, aber institutionenspezifische Beschränkung der Meinungsvielfalt. 20 Peter Luley: „Laokoon geht fremd. Wer auf wem liegt oder nicht: Die Drehbuch-Welt der Doris J. Heinze“. In: Süddeutsche Zeitung v. 23.9.2009, S. 15. 21 Der im Juni 2010 getroffene Vergleich zwischen Heinze und dem NDR bestätigt die fristlose Kündigung und sieht vor, dass noch nicht produzierte Drehbücher rückabgewickelt und ungerechtfertigte Honorare zurückgezahlt werden. Vgl. auch [Hans Leyendecker]: „Klage gegen Heinze. Vorwurf der Bestechlichkeit gegen fühere NDR-Fernsehspielchefin“. In: Süddeutsche Zeitung v. 11.8.2010, S. 15. 22 Luley: Laokoon geht fremd, S. 15.

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Das Beispiel Heinze verweist auf ein Kernproblem, das sich komplexer erweist als die Frage von Sendeplätzen oder die Abschiebung von Kultursendungen in ein telemediales „Nirwana.“23 Es geht, so Georg Diez in der Süddeutschen Zeitung, um systematische, „strukturelle Qualitätsverhinderung in den Sendern, es geht um das Fernsehen, das seine Aufgabe nicht erfüllt.“24 „Tatsache ist“, lautet fast unisono die massive Kritik des früheren Bundesinnenministers Gerhart Baum, dass bei den Verantwortlichen überhaupt „nicht wahrgenommen wird, dass Kultur, insbesondere die Kunst, Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit der gesamten Gesellschaft hat.“25 Kulturelles Engagement, „wird nicht mehr als Daseinsvorsorge angesehen, sondern als beliebig veränderbare Subvention“; die Politik der Quote und der permanenten Streichungen ist in ihrer Konsequenz eine „Strafaktion gegen die angeblich privilegierte Kunst“ – der differenzierte Anspruch auf Grundversorgung wird, moniert Baum, durch die Strategien der „Vermarktung regelmäßig platt gewalzt.“26 In welchem Maße der Kampf um geldwerte Aufmerksamkeitsressourcen, die Fixierung auf den Warencharakter von Fernsehbeiträgen und die Negation des differenzierten Anspruchs auf Grundversorgung korrelieren, belegt das ARD-Papier zur Optimierung bei Fernsehfilm und Hauptabendserie, das am 22.5.2000 auf der Klausurtagung der Intendanten und Programmdirektoren der ARD in Berlin „zustimmend“, so der NDR-Fernseh-Programmdirektor Jürgen Kellermeier, „zur Kenntnis genommen“ wird.27 Dieses Strategiekonzept, dessen Bedeutung, nachdem Journalisten des Evangelischen Pressedienstes davon Notiz nehmen, immer wieder bestritten wird, lässt sich mit seinen Festlegungen bis in die Details von Fernsehfilmen im Stil von Heinzes Die Freundin der Tochter nachweisen. Es dokumentiert den Zwang zur Trivialisierung und ist als Manifest strikter struktureller Zensur zu klassifizieren. Entscheidend ist in diesem Kontext nicht allein die verordnete trivialästhetische „Ausrichtung der einzelnen aus den Landesrundfunkanstalten angemeldeten Projekte“,28 sondern auch der Konsens seitens der Programmdirektoren und alle damit verbundenen Einschränkungen für Re-

23 Claus Spahn: „Abschieben ins Nirwana. Das Hörfunkprogramm Bayern 4 Klassik soll einer neuen Jugendwelle weichen“. In: Die Zeit v. 16.11.2006, S. 51. 24 Georg Diez: „Das Fernsehen der Missverständnisse. Was als Qualitätsdebatte geführt worden sein will, offenbart nur die Strukturen der Qualitätsverhinderung“. In: Süddeutsche Zeitung v. 25./ 26.10.2008, S. 21. 25 „Im Reich der Quote. Die Kultur in Deutschland muss um den Bestand ihrer Vielfalt kämpfen: Wolfgang Rihm und Gerhart Baum über eine Krise“. In: Süddeutsche Zeitung v. 26.3.2004, S. 15. 26 Ebd. 27 „Dokumentation: ‚Konsequente Kontrolle und Durchsetzung‘. ARD-Papier zur Optimierung bei Fernsehfilm und Hauptabendserie“. In: epd medien 43/44 (2000), S. 23–24, hier S. 23. 28 Ebd.

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gisseure und Drehbuchautoren. Das ARD-Papier zur Optimierung bei Fernsehfilm und Hauptabendserie ist ein maßgeblicher Beleg für eine alltägliche „Freiheitsbeschränkung“ durch eine wegweisend im Staatsvertrag über den Rundfunk im vereinten Deutschland 1991 und die Gebührenregelung institutionalisierte „Macht im Geistesleben.“29 In ihrer rigiden Festlegung auf einen selbst definierten „Mainstream“ „agieren“ die öffentlich-rechtlichen Anstalten auf diese Weise, argumentiert der Komponist Wolfgang Rihm, „kulturell als Herrschaftssystem.“30 Ganz im Sinne von Ottos Zensurdefinition einer „autoritären Kontrolle“31 sind die im ARD-Papier genannten „8 Punkte zur Optimierung“ nicht als Anregungen oder Empfehlungen, sondern als verbindliche „Vorgaben“ und „Maßstäbe für die Qualität der Filme“32 anzusehen. Lapidar heißt es: „Konsequente Kontrolle und Durchsetzung der Vorgaben, Kriterien und Sendeplatzbeschreibungen durch die zuständigen Redaktionen in allen Stufen der Planungs- und Produktionsprozesse.“33 Wie treffend das bereits zitierte Stichwort einer strukturellen Qualitätsverhinderung von Diez ist, belegt ein Passus, der sich an diese Zielsetzung anschließt. Hier heißt es: Die ARD sollte – wie das ZDF schon seit langem – auf Alibi-Projekte verzichten, bei denen von vornherein absehbar ist, dass sie das Interesse des großen Primetime-Publikums nicht finden werden. Projekte, die voraussichtlich von mehr als 90 Prozent der Zuschauer nicht gesehen werden, sollen für das Hauptabendprogramm nicht in Betracht gezogen werden.34

Dekuvrierender als der bürokratische Weisungston ist der Terminus Alibi-Projekte. Diese Formulierung offenbart, dass man sich nicht mehr an das Postulat des Bundesverfassungsgerichts gebunden fühlt, sondern sich ausschließlich durch die Aufmerksamkeitsökonomie des kommerziellen Fernsehens begreift und definiert. Die Autoren des ARD-Papiers reklamieren zwar eine durch Gebühren begründete herausragende Stellung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in föderalistischer Trägerschaft für sich, der inhaltliche Auftrag, der die Institution der GEZ erst legitimiert, wird aber negiert. Jede Abweichung von der Norm, so genannte Minderheitenprogramme, an denen sich, so Baum, die „Qualität einer demokratischen Gesellschaft misst“,35 wird im Ansatz eliminiert. Diese von doktrinären

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Otto: Die literarische Zensur, S. 3. Im Reich der Quote, S. 15. Otto: Die literarische Zensur, S. 3. Dokumentation: ‚Konsequente Kontrolle und Durchsetzung‘, S. 23. Ebd. (Hervorhebung durch den Verf.) Ebd. Im Reich der Quote, S. 15.

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„Ausschlüssen und Einschränkungen“ bestimmte Programmpolitik führt dazu, dass nicht „einmal die Dritten Programme“ eine „Bühne für Experimente und Wagnisse, für ein avantgardistisches Spiel mit Bildern und Tönen, für intermediale Verknüpfungen“36 bieten. Die Konsequenzen sind unübersehbar: „14- bis 49-Jährige“ sind als Zuschauer bei der ARD und dem ZDF nur noch als Splittergruppe, mit 6,6% und 6,3%37 vertreten. Eine wachsende Zahl dieser werberelevanten Kohorte favorisiert „Websites, Foren und Chatrooms“, die eine „offene, unreglementierte Produktion“ und einen „freien Austausch“38 ohne direkt erkennbare programmatische Bevormundungen39 der Nutzer ermöglichen. Die Negation medialer Innovation ist im ARD-Papier so wie in der Sendepraxis Programm: „Der Zuschauer soll wissen, was ihn erwartet, er soll unterfordert werden.“40 In der Anlage 2 des ARD-Papiers werden die „Vorgaben und Erfolgskriterien für Fernsehfilme“ genannt, unter dem Stichwort „Geschichte/Stoff“ heißt es: „Attraktiv, unterhaltsam und/oder interessant/relevant (möglichst Generationen übergreifend).“41 Diese irritierende Indifferenz der Formulierungen, die jedwede Interpretation zulässt, wird in den Vorgaben zur „Erzählweise“ von einem Zwang zur Banalisierung flankiert. Hier lauten die Forderungen: „Durchgängige Verständlichkeit; unkompliziert, einfach klar, auf keinen Fall verwirrend; an den Menschen, nicht nur an den Themen orientiert. Entscheidende Bedeutung des Anfangs: Ein schlechter, mißlungener, komplizierter oder verwirrender Anfang verdirbt den ganzen Film.“42 Televisuelles Erzählen ist, so Knut Hickethier, per se „Sinnstiftung und Sinnvermittlung“43 – schemaorientierte Narration ist ergo auf normkonforme Replikation fixiert, lässt demnach kaum Deutungsvarianten zu, tabuisiert ästhetische Problematisierungen, bedient Stereotype und sieht den Rezipienten in der Rolle eines a priori durchschaubaren und kalkulierbaren Pluraletantums.

36 Karl Prümm: „Audiovisuelle Medien“. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Hg. v. Thomas Anz, Bd. I. Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2007, S. 232–244, hier S. 243. 37 Stefan Niggemeier: „Zielgroupies. Der werberelevante Zuschauer altert: aus ‚14–49‘ könnte ‚20–59‘ werden“. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 27.6.2010, S. 27. Es handelt sich um Daten der AGF/GfK-Fernsehforschung. 38 Prümm: Audiovisuelle Medien, S. 243. 39 Vgl. Anna Marohn: „Von blöd bis nützlich. Das Geschäft mit den Apps für iPhone und Co. entwickelt sich zum Massenphänomen. Aber welche Programme zugelassen werden, bestimmt vor allem – Apple“. In: Die Zeit v. 27.5.2010, S. 26. 40 Nils Minkmar u. Stefan Niggemeier: „Was wir uns von ‚Günther Jauch‘ wünschen“. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 13.6.2010, S. 31. 41 Dokumentation: ‚Konsequente Kontrolle und Durchsetzung‘, S. 23. 42 Ebd., S. 23f. 43 Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart, Weimar 21996, S. 107.

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Das ARD-Papier schreibt damit triviale Erzählschemata vor, die, nimmt man Laurence Sternes The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman oder Denis Diderots Jacques le Fataliste et son Maître zur Kenntnis, bereits schon der Aufklärung suspekt erscheinen. Das, was für Sterne und Diderot die „Lügenhaftigkeit“ der Erzählung und ihrer „Spielwelt“44 ist und in der Filmgeschichte bei Michelangelo Antonioni, Roberto Benigni, Luis Buñuel oder Akira Kurosawa zum großen Thema wird, ist in der Fernsehwelt der Homunkuli Heinzes oder des ARDPapiers nicht existent. Aber auch das publikumswirksame Spiel mit der Wahrheit und Unwahrheit, das Jurek Becker in seiner Unterhaltungsserie Liebling Kreuzberg in immer neuen Varianten vorgeführt hat, ist für das öffentlich-rechtliche Fernsehen verdächtig. Bereits 1995 entrüstet sich Becker im Spiegel über den Zwang, „Drehbücher zu schreiben, deren dominante Eigenschaft“ es ist, „bedeutungslos zu sein“ sowie die Forderung, „Wörter“ aneinander zu reihen, „die nichts zu transportieren haben.“45 Die Restriktionen seines „für Verknappungen zuständigen Redakteurs“ hätte er, so Jurek Becker, in der DDR mit drei Worten charakterisiert: „Zensur, arrogante politische Zensur!“46 Nimmt man die Kriterien der Anlage 2 des ARD-Papiers so ernst wie die zuständigen Fernsehredakteure, so sind kanonisierte Werke wie Kurosawas Rashomon (Rashomon – Das Lustwäldchen), Federico Fellinis Otto e mezzo (8 1/2), Buñuels Belle de jour (Schöne des Tages) oder Lars von Triers Dogville (Dogville) ungeeignete, schlechte Filme: Sie sind weder auf den ersten Blick durchgängig verständlich, noch unkompliziert, einfach und klar sondern zielen darauf, den Zuschauer zu überraschen und auch zu verwirren. Buñuels Belle de jour oder andere Klassiker führen die Behauptung, ein „komplizierter und verwirrender Anfang“ verderbe „den gesamten Film“, ad absurdum. Warum gehören diese Filme zum unverzichtbaren Kanon der europäischen Kulturgeschichte? Warum haben sie ein Massenpublikum erreicht? Durchgängig verständlich, einfach und klar ist hingegen, dass ein Œuvre wie Heinzes Die Freundin der Tochter die Forderungen der Anlage 2 exemplifiziert. Die Tragweite des ARD-Papiers wird zwar immer wieder bestritten, aber wer, so Peter Luley in der Süddeutschen Zeitung, „die Heinze-Spur nachvollzieht, stößt immer wieder auf diese Kombination, die Quote bringen“ soll: „Attraktiv“ muss jeder Fernsehfilm sein, „spannend und bewegend“ und auf jeden Fall „heiter-komisch-emotional.“47

44 Rainer Warning: Illusion und Wirklichkeit in Tristram Shandy und Jacques le Fataliste. München 1965, S. 121. 45 Jurek Becker: „Die Worte verschwinden“. In: Der Spiegel 2 (1995), S. 156–161, hier S. 157. 46 Ebd., S. 158. 47 Luley: Laokoon geht fremd, S. 15.

Das zwangsfinanzierte ‚Nullmedium‘

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Auch nahezu alle weiteren Bewertungskriterien der Anlage 2 des ARD-Papiers wirken wie eine Negation eines jahrhundertealten europäischen Kulturhorizontes. Ein „Titel“, heißt es lapidar, muss „mit attraktivem und interessantem Assoziationsfeld“ verknüpft sein und für das „Milieu“ eines Films gilt: „Attraktiv, zumindest interessant, nicht abstoßend.“48 Unter dem Stichwort „Genre-Klarheit“ liest man: „Keine Vermischung der Genres.“49 So gesehen ist von Triers Dogville (Dogville) ebenso als verfehlte Produktion anzusehen wie Ingmar Bergmanns Trollflöjten (Die Zauberflöte) oder Ernst Lubitschs To be or not to be (Sein oder Nichtsein). Auch wenn zu konstatieren ist, dass Film- und Fernsehfilmproduktionen konzeptionelle und ästhetische Spezifika aufweisen können, ist es nicht sinnvoll, sich argumentativ auf den jeweiligen „Genrezusammenhang zu beschränken“,50 zumal Kinofilme im Fernsehen gezeigt werden und der Aspekt einer doppelten Vermarktung von den Produzenten und Regisseuren mitbedacht wird. „Spielfilm und Fernsehspiel“ werden, so Hickethier, „nicht nur als Ordnungs- sondern auch als Kampfbegriffe“ gebraucht: „Als grundsätzliche Zuordnungen sind sie falsch und lassen sich durch eine Vielzahl von Gegenbeispielen widerlegen.“51 Summa summarum führt das ARD-Papier am Ende der Liste unter dem Hinweis „Vermeidung von Negativ-Kriterien“ noch einmal Maßstäbe auf, die zum indiskutablen Ausschluss von Produktionen führen: „Exzessive Gewaltdarstellungen, Lehrhaftigkeit, vermeintlicher oder verquaster Tiefsinn, Unverständlichkeit, übertriebene formale Spielereien, Untertitelungen, komplizierte, unverständliche und unattraktive Anfänge.“52 Unter den Prämissen der Quotenphraseologie liegt es nahe, die eindringliche und lehrhafte Darstellung von Gewalt in Krzysztof Kieślowskis Dekalog-Beitrag Krótki film o zabijaniu (Ein kurzer Film über das Töten) oder die Persiflage der Revolverästhetik in Quentin Tarantinos Pulp Fiction (Pulp Fiction) auf den Index zu setzen, die „organisierte Sprachlosigkeit“ des Tötens in den „SMASHS und BLASTS“53 auch ohne Dialoge begreiflicher Actionfilme aber als akzeptabel zu erachten. Ähnliches gilt für die rebellische Ästhetik des Manifests Dogma 95 im Kontrast zu den Special Effects der James-Bond-Produktionen. Alle Kriterien einer reduktionistischen Fernsehästhetik werden gebieterisch mit der Quote legitimiert, aber wie legitim ist diese Quotierung? Von welcher „demo-

48 Dokumentation: ‚Konsequente Kontrolle und Durchsetzung‘, S. 24. 49 Ebd. 50 Hickethier: Film- und Fernsehanalyse, S. 179. 51 Ebd. 52 Dokumentation: ‚Konsequente Kontrolle und Durchsetzung‘, S. 24. 53 Peter V. Zima: „Wie man gedacht wird. Die Dressierbarkeit des Menschen in der Postmoderne“. In: Strategien der Verdummung. Infantilisierung in der Fun-Gesellschaft. Hg. v. Jürgen Wertheimer u. Peter V. Zima. München 62006, S. 11–29, hier S. 22f.

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kratischen Mehrheit“ und von welchem Gericht werden die „Produkte der kommerzialisierten Kultur“ angesichts des besonderen Auftrags des öffentlichrechtlichen Fernsehens „bewußt gutgeheißen?“54

Die Zensurierung des kulturellen Gedächtnisses Warum sich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung fast ein Jahrzehnt nach der Publikation von Hans Magnus Enzensbergers provokativem Essay über die Telemedien mit der anachronistischen Preisfrage „Hilft das Fernsehen der Literatur?“55 1996 an die intellektuelle Öffentlichkeit wendet, bleibt auch in der Retrospektive unklar. Die eingegangenen „31 Antworten“56 sind dem Niveau der Fragestellung entsprechend irrelevant und haben mitnichten irgendeinen Diskurs initiiert. Bereits 1988 hat Enzensberger in einem Beitrag für den Spiegel das Fernsehen als „voll entwickeltes Nullmedium“ definiert und damit auch die immer wieder kolportierte „Manipulationsthese“57 für obsolet erklärt. Das öffentlichrechtliche Fernsehen ist kein „indifferentes Gefäß“, „das über ein passiv gedachtes Publikum Meinungen ausgießt“,58 sondern eine vom Zuschauer zwangsweise alimentierte Institution, die sich dem Profil privater Anstalten angeglichen hat und mit dem Verweis auf die Quote weigert, die im vierten Rundfunkurteil vom 4.11.1986 definierte Aufgabe der Grundversorgung wahrzunehmen. Signifikant ist, dass eine mit dem kulturellen Gedächtnis eng verknüpfte Erinnerungskultur dem vordergründigen Argument der Quote in Permanenz zum Opfer fällt. So beschließt man beispielsweise, den 200. Geburtstag von Robert Schumann am 8.6.2010 im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu ignorieren, de facto existiert aber ein verifizierbares Interesse an diesem Komponisten: Literatur über den Romantiker rangiert zur selben Zeit auf den Spitzenplätzen der Rangliste Sachbücher des Monats in den Printmedien.59

54 Ebd., S. 23. 55 Herbert Heckmann: „Vorwort“. In: Christoph Schmitz-Scholemann, Egon Menz u. Sybil Wagener: Hilft das Fernsehen der Literatur? Göttingen 1997, S. 9–12, hier S. 9. 56 Ebd. 57 Hans Magnus Enzensberger: „Das Nullmedium oder: Warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstandslos sind“. In: Ders.: Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen. Frankfurt a. M. 1988, S. 89–103, hier S. 99, 89. 58 Ebd., S. 89. 59 Vgl. „Sachbücher des Monats Juli“. In: Süddeutsche Zeitung v. 5.7.2010, S. 12. – Am 6.7.2010 sendet die ARD einen Kurzbeitrag über Schumann in der Sendung ttt, um 23.30 Uhr schließt sich ein als Biografie firmierender Fernsehfilm über das Leben seiner Ehefrau Clara Wieck mit dem  

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Ähnlich verhält es sich mit dem Mahler-Jubiläum 2010. Am 7.7.2010, dem 150. Geburtstag von Gustav Mahler, portraitiert die ARD in der Sendung ARDexclusiv zwar 30 Minuten lang zwei übergewichtige Frauen, für die selbst „das Staubsaugen zur körperlichen Herausforderung wird“,60 ein Portrait des bedeutendsten Symphonikers der frühen Moderne sucht man aber vergebens. Für die ARD, das ZDF, arte, 3sat oder die dritten Programme existiert das Jubiläum nicht,61 man strahlt stattdessen Sendungen wie Der Dicke, Sechs Kinder mit 21, Deutsche Traktor-Legenden, Reich und Schön oder die Actionkomödie Mexican – Eine heiße Liebe aus. Das große öffentliche Interesse am Komponisten zeigt sich in den Feuilletons der Printmedien,62 in abendfüllenden Sondersendungen der Hörfunkprogramme63 oder im Kinostart des neuen Spielfilms Mahler auf der Couch von Percy und Felix Adlon. Die Frage, ob beispielsweise Ken Russells publikumswirksamer Filmklassiker Mahler (Mahler) eine Alternative für den Actionfilm Mexican – Eine heiße Liebe sein könnte, hat man sich offenbar beim Südwestfunk nie gestellt. Auch wenn man den Kulturbegriff weit und realitätsbezogen fasst, nämlich „von der 9. Symphonie bis zu der Art, Weihnachten zu feiern“,64 hätte die Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung anders lauten müssen: Abgesehen von einem Portrait über Albert Camus am 4.1. auf arte hat das öffentlich-rechtliche Fernsehen alle wichtigen Jubiläen des ersten Halbjahres 2010 geflissentlich ignoriert. Der 100. Geburtstag von Jean Anouilh, der 225. Geburtstag von Bettine von Arnim, der 60. Todestag von Heinrich Mann, der 225. Geburtstag von Alessandro Manzoni, der 60. Todestag von George Orwell, der 30. Todestag von Jean-Paul Sartre, der 200. Todestag von Johann Gottfried Seume, der 100. Todestag von Mark Twain, ja, selbst der Welttag des Buches am 23.4. war kein Anlass

Titel Geliebte Clara an. Die zentrale Frage, die Bedeutung von Schumanns Musik, spielt hingegen keine Rolle. Im Hörfunk, so etwa auf BR-Klassik, wird das Jubiläum indes ausführlich gewürdigt. 60 Süddeutsche Zeitung v. 6.7.2010. Beilage Fernsehen, S. 1. 61 Am 4.7.2010 verweist ein Kurzbeitrag in der Sendung ttt auf das Kino-Ehedrama Mahler auf der Couch, der resümierend konstatiert: „Jubiläumsfeiern braucht er eigentlich nicht mehr.“ Ähnlich wie in dem Beitrag über Schumann wird auch Mahler zum Opfer seiner Biografie, die Spezifik seiner Musik wird nicht thematisiert. 62 Die Süddeutsche Zeitung v. 7.7.2010 bringt beispielsweise allein fünf Beiträge (u. a. von JensMalte Fischer und Harald Eggebrecht). Die erste Auflage der Monographie von Jens-Malte Fischer über Mahler in der Taschenbuchausgabe bei dtv wird am 7.7.2010 als vergriffen gemeldet. 63 Beispielsweise die Sendung Hommage à Mahler auf BR-Klassik mit einer Laudatio von Jens Malte Fischer. 64 Günter de Bruyn: „So viele Länder, Ströme, Sitten. Gedanken über die deutsche Kulturnation“. In: Ders.: Jubelschreie, Trauergesänge. Deutsche Befindlichkeiten. Frankfurt a. M. 1991, S. 16–26, hier S. 16.  



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für irgendeinen, egal wie kurzen Beitrag.65 Eine in den Feuilletons der Printmedien kommune Erinnerungskultur, die für die Identitätsfindung einer Sozietät unverzichtbar ist, findet in den televisuellen Medien nicht mehr statt und wird durch Sendungen wie Der Dicke, Sechs Kinder mit 21 oder Fernsehspiele mit dem Heinze-Touch ersetzt. In welchem Ausmaß die von den Ministerpräsidenten Ernst Albrecht und Bernhard Vogel66 geförderte Privatisierung televisueller Medien das Gegenteil einer inhaltlichen Differenzierung, nämlich eine seit 1984 zu beobachtende, sukzessive Homogenisierung der Programmangebote provoziert hat, dokumentieren die wie ein Sediment des flüchtigen Mediums anmutenden Fernsehzeitschriften: Der Blick in ein Blatt wie Radio Revue. Fernsehen, Funk, Film offenbart, dass der 2010 geächtete Anouilh vor fünfzig Jahren, 1959, mit seinen Stücken zur Primetime auffallend oft präsent gewesen ist. Hickethiers Feststellung, das damalige Interesse an Literatur habe zu „Theaterplänen vergleichbaren Fernsehspielplänen“ geführt, wirkt heute wie eine archäologische Sensationsmeldung. Zu den anderen „bevorzugten Autoren“ der englischsprachigen und französischen Literaturen im Fernsehspiel dieser Jahre zählen „William Saroyan, Thornton Wilder, Eugene O’Neill, Tennessee Williams, George Bernhard Shaw, John Boyton Priestley, Somerset Maugham, T. S. Eliot, Christopher Fry, Marcel Pagnol“ oder „Jean Giraudoux“.67 Außerdem werden neben den deutschen Klassikern auch „William Shakespeare“, „Gerhart Hauptmann, Arthur Schnitzler, Georg Kaiser“ und „sehr früh auch Ödon von Horváth“ für „das Fernsehspiel adaptiert.“68 Der beispiellose Erfolg des Regietheaters an den deutschen Schauspielhäusern seit den neunziger Jahren ist auch als Kompensationsleistung und Konsequenz der 1984 einsetzenden telemedialen Ignoranz gegenüber einer zeitbezogenen Rezeption der Dramentradition zu werten. Auch die Klagen über die fehlenden Kenntnisse des kulturellen Kanons erscheinen plötzlich in einem anderen Licht. Die durch Zeitschriften wie die Radio Revue. Fernsehen, Funk, Film überlieferte Programmvielfalt der frühen Jahre ähnelt ungeachtet der Auftritte von biederen Unterhaltungskünstlern wie Peter Frankenfeld dem kaleidoskopischen Angebot einer Volkshochschule: Künstlerportraits über Paul Klee, George Gershwin, Maurice Béjart, Louis Armstrong, Fritz Lang und Henri Cartier-Bresson

65 Laut Selbstauskunft der ARD und des ZDF. 66 „Das Kulturgut Fernsehen ist in Gefahr. Die Rendite verdrängt das Programm: Ein Gespräch mit Bernhard Vogel, dem Vater des Privatrundfunks in Deutschland“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.7.2007, S. 40. 67 Knut Hickethier: „Das Fernsehspiel“. In: Literatur der Bundesrepublik Deutschland bis 1967. Hg. v. Ludwig Fischer. München, Wien 1986, S. 585–597, hier S. 590. 68 Ebd.

Das zwangsfinanzierte ‚Nullmedium‘

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werden 1959 ebenso zur besten Sendezeit ausgestrahlt wie Filmklassiker, Fernsehspiele von deutschsprachigen Gegenwartsautoren oder Dramenbearbeitungen nach Calderon de la Barca oder eben Shaw und Anouilh.69 Komplettiert wird diese Varietät des Kulturguts Fernsehen70 vor der Kapitalisierung der Telemedien durch polnische und tschechische Produktionen in Reihen wie Das kleine Fernsehspiel. 2010 ist Osteuropa hingegen nur noch in den Witzen von Harald Schmidt im öffentlich-rechtlichen Fernsehen präsent. Von der Legion deutschsprachiger Gegenwartsautoren, die in den sechziger Jahren die „Chance zum Experiment, zum Entwickeln einer audiovisuellen Poetik“71 genutzt haben, ist nichts geblieben. „Es ist nicht übertrieben“, so Karl Prümm, „in dieser Zeit von einer Literarisierung des Fernsehspiels zu sprechen.“72 Zum Kreis der Autoren, die in den sechziger Jahren gezielt für das Fernsehen schreiben, zählen Leopold Ahlsen, Manfred Bieler, Tankred Dorst, Dieter Forte, Max von der Grün, Günter Herburger, Heinar Kipphardt, Horst Lommer, Wolfdietrich Schnurre, Thomas Valentin, Dieter Wellershoff oder Gabriele Wohmann. „Daneben gehören Fritz Hochwälder, Carl Zuckmayer, dann vor allem Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch“ zu den auffallend „vielgespielten Autoren“,73 während Bertolt Brecht zunächst rigider politischer Zensur anheimfällt. In den Jahren vor dem Einstieg von Heinrich Bauer, Silvio Berlusconi, Georg von Holtzbrinck, Leo Kirch, Axel Springer, der WAZ-Gruppe sowie des Bertelsmann-Konzerns in den deutschen Telemedienmarkt realisiert das öffentlich-rechtliche Fernsehen noch einmal künstlerisch spektakuläre Serien: Rainer Werner Fassbinders74 Verfilmung von Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz (1979/80) und den vom Publikum gefeierten Filmzyklus in 13 Teilen von Edgar Reitz und Peter Steinbach mit dem vehement diskutierten Sujet und Titel Heimat (1980–84). 1984 werden in Köln der Sender RTL und in Mainz SAT.1 gegründet. „Heute“ ist, so Prümm, die vitale und Epoche machende „Verbindung des Fernsehspiels zur literarischen Kultur vollkommen abgerissen.“75

69 Vgl. Radio Revue. Fernsehen, Funk, Film v. 15.–21.3.1959, v. 31.5.–6.6.1959 und v. 21.6.– 27.6.1959. Ausgabe II, S. 18f., 18f. u. 20f. 70 Das Kulturgut Fernsehen ist in Gefahr, S. 40. 71 Prümm: Audiovisuelle Medien, S. 242. 72 Ebd. 73 Hickethier: Das Fernsehspiel, S. 591. 74 Außerdem sind Fassbinders Fernsehproduktionen Pioniere in Ingolstadt (1970), Der Händler der vier Jahreszeiten (1970), Wildwechsel (1972), Acht Stunden sind kein Tag (1972), Welt am Draht (1973), Ich will doch nur, daß ihr mich liebt (1975) sowie Der Postmeister (1975) zu nennen. 75 Prümm: Audiovisuelle Medien, S. 243.

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Resümee Nimmt man die Deskription bundesrepublikanischer Literaturverbote in Bodo Plachtas 2006 erschienener Überblicksdarstellung für die Oberstufe oder das Grundstudium zur Kenntnis, so scheint sich die zensorische Praxis in diesem Staat auf wenige spektakuläre Fälle wie Klaus Manns Mephisto. Roman einer Karriere oder die Novelle Katz und Maus von Günter Grass zu beschränken. Diese Deutung des Lesers erweist sich allerdings, nicht nur in Hinsicht auf Maxim Billers Roman Esra, als voreilig und simplifizierend.76 Ähnlich wie im Kapitel mit der Überschrift Das Tabu ‚Zensur‘ in der DDR deutet Plachta in seinen Ausführungen über die Bundesrepublik die substantiellen Voraussetzungen struktureller oder informeller Zensur77 nur an. Die Indizierungsanträge eines Peter Gorski oder Kurt Ziesel78 wirken zwar heute als Privatinitiativen Ewiggestriger, sie sind aber symptomatisch für die kollektive Mentalität breiter Bevölkerungsschichten zu dieser Zeit. An die Stelle von spektakulären Klagen Nichtbeteiligter treten bald in zunehmendem Maße zensorische Maßnahmen nichtöffentlicher Entscheidungsebenen. Lapidar und problemorientiert heißt es bei Plachta: Zensurähnliche Eingriffe verlagern sich in Redaktionen, Lektorate oder in Gremien unterschiedlichster gesellschaftlicher Institutionen. Verantwortlich für diese Entwicklung sind vielfältige Phänomene. An erster Stelle sind sicherlich die radikalen Veränderungen der Medienlandschaft mit einer Konzentration des Presse- und Verlagswesens sowie die Etablierung privater Fernsehsender […] zu nennen.79

De facto muss unter dem Begriff der ‚Zensur‘ in der Bundesrepublik weit mehr subsumiert werden als nur staatlich-restriktives Handeln. Schon Reinhard Aulich mahnt 1985 in seiner Studie Elemente einer funktionalen Differenzierung der literarischen Zensur an, primär die durch die „Literaturproduktion erschlossenen Möglichkeiten an literarischer Kommunikation“80 analytisch in den Blick zu nehmen.

76 Vgl. Remigius Bunia: „Fingierte Kunst. Der Fall Esra und die Schranken der Kunstfreiheit“. In: IASL 32 (2007) H. 2, S. 161–182. – Christian Eichner u. York-Gothart Mix: „Ein Fehlurteil als Maßstab? Zu Maxim Billers Esra, Klaus Manns Mephisto und dem Problem der Kunstfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland“. In: Ebd., S. 183–227. 77 Zur DDR vgl. u. a. Manfred Jäger: Kultur und Politik in der DDR 1945–1990. Köln 1994. – YorkGothart Mix: „DDR-Literatur und Zensur in der Honecker-Ära (1971–1989)“. In: IASL 23 (1998) H. 2, S. 156–198. – Joachim Walther: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1996. 78 Vgl. Bodo Plachta: Zensur. Stuttgart 2006, S. 207, 213. 79 Ebd., S. 218. 80 Reinhard Aulich: „Elemente einer funktionalen Differenzierung der literarischen Zensur. Überlegungen zu Form und Wirksamkeit von Zensur als einer intentional adäquaten Reaktion  

Das zwangsfinanzierte ‚Nullmedium‘

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Angesichts signifikanter Strukturveränderungen auf dem Medienmarkt und sich mehrender „Klagen über die Zunahme informeller Zensur“81 ist die aus liberalistischen Traditionen erwachsende Fixierung auf staatliche Steuerungsmaßnahmen nicht mehr ausschließlich deutungstauglich. Folgerichtig erweist es sich als dringliches Desiderat, kultursoziologisch relevante Interna des Medienmarkts in die Reflexionen miteinzubeziehen. Dazu sind quellenintensive, umsichtige Recherchen und investigativer Journalismus in jede Richtung notwendig. Ambitionierte, empirisch fundierte Studien, die sich dem „Kulturgut Fernsehen“82 im Kontext des gravierenden medialen Strukturwandels der letzten drei Jahrzehnte aus literaturwissenschaftlicher Perspektive widmen, fehlen zu auffallend vielen Themenbereichen83 Die von Marcel Reich-Ranicki jüngst am Beispiel des Fernsehens begonnene emotionale Diskussion über die gravierende Verschiebung von Kulturhorizonten ist nicht neu. Weniger medienwirksam, aber argumentativ umso pointierter hat Jurek Becker 1995 die in Zensurkonzepten wie dem ARD-Papier zur Optimierung bei Fernsehfilm und Hauptabendserie verordnete Orientierung an der Quote kritisiert. Das, „was Publikumsgeschmack heißt, ist keine Naturkonstante“, erklärt Becker und äußert weiter: „Nichts fördert die allgemeine geistige Bedürfnislosigkeit so gründlich wie ein Programm, dessen oberster Grundsatz es ist, sich nach den durchschnittlichen geistigen Bedürfnissen zu richten. Indem die Rundfunkanstalten sich damit begnügen, den Publikumsgeschmack zu erkunden und ihm hinterherzulaufen, produzieren sie ihn zugleich, oder anders gesagt: Sie sind in hohem Maße selbst für die Geist- und Geschmacklosigkeiten verantwortlich, die zu senden die Publikumsnähe ihnen angeblich gebietet.“84 Jurek Becker erwähnt nicht, dass sich ein in Permanenz am Mainstream orientiertes Programm mit-

gegenüber literarischer Kommunikation“. In: ‚Unmoralisch an sich…‘. Zensur im 18. und 19. Jahrhundert. Hg. v. Herbert G. Göpfert u. Erdmann Weyrauch. Wiesbaden 1988, S. 177–230, hier S. 181. 81 Plachta: Zensur, S. 218. 82 Das Kulturgut Fernsehen ist in Gefahr, S. 40. 83 Hinzuweisen bleibt auf Jochen Strobel: „Der Großschriftsteller als Fernsehstar. Heinrich Breloers Fernsehproduktion Die Manns“. In: Mediale Errungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kunstbetrieb der Gegenwart. Hg. v. Markus Joch, York-Gothart Mix u. Norbert Christian Wolf gemeinsam mit Nina Birkner. Tübingen 2009, S. 269–287. Strobel weist schlüssig auf die eklatanten Schwächen der Fernsehproduktion hin: „Die Relevanz Manns beruht auf seiner familialen und historischen Kontextualisierung, nur in zweiter Linie auch seinen künstlerischen und intellektuellen Leistungen“ (ebd., S. 273). Ähnlich wie in den unten angesprochenen Filmen Geliebte Clara und Mahler auf der Couch stehen nicht die Werke, sondern biographische Aspekte im Vordergrund. 84 Becker: Die Worte verschwinden, S. 160.

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York-Gothart Mix

nichten auf dem Level eines imaginären Durchschnitts stabilisiert, sondern mit mathematischer Berechenbarkeit weiter im Niveau sinkt. Dieser Prozess ist seit langer Zeit bei auch im Jahr 2010 deutlich steigenden Werbeeinnahmen der Fernsehwirtschaft85 zu beobachten. In der Summe geht es um nichts anderes als eine autoritär erzwungene Preisgabe der Literatur im Medium Fernsehen zu Gunsten von geldwerten Aufmerksamkeitsressourcen.

85 Laut Auskunft der Nielsen Media Research Hamburg (Stand 12.7.2010) beträgt die Steigerung 15%.

II Zeitzeugenschaft

Otto Dibelius

Zur Düsseldorfer Bücherverbrennung Mein sehr geehrter Herr le Viseur! Bei meiner Rückkehr aus dem Urlaub fand ich Ihre Briefe vom 7. und 15. Oktober vor. Ich habe geschwankt, ob ich Ihnen antworten solle. Und das aus zwei Gründen: Erstens werde ich zu diesem Düsseldorfer Vorfall in nächster Zeit öffentlich etwas sagen müssen, wodurch sich vielleicht eine persönliche Antwort auf viele Zuschriften erübrigt, und zweitens deshalb, weil ich auf Briefe, die mit dem Austritt aus der Kirche drohen, nicht zu antworten pflege. Die Evangelische Kirche nimmt von Pressionen grundsätzlich nicht Notiz. Aber ich habe mich nun doch entschlossen, Ihnen wenigstens ein kurzes Wort zu schreiben. Der Vorfall in Düsseldorf ist meines Erachtens maßlos überschätzt worden. Diese kleine Jugendgruppe für Entschiedenes Christentum bildet in unserer evangelischen Jugendbewegung nur einen ganz kleinen Teil. Daß die jungen Leute, als sie das 19. Kapitel der Apostelgeschichte lasen, das Gefühl gehabt haben: So etwas müßte man auch jetzt wieder tun. Man muß den Mut beweisen, sich auch äußerlich frei zu machen, von allem, woran man innerlich Schaden nimmt – dafür wird jeder rechtschaffene Christenmensch Verständnis haben. Und dann sind sie als ordnungsliebende Deutsche ganz korrekt den Weg gegangen: Zuerst zur Stadtverwaltung: Dürfen wir das, und wo dürfen wir es? Der betreffende Beamte hat ihnen dann nicht gesagt: Vor 30 Jahren, als ihr noch nicht geboren waret, haben die Nazis auch Bücher verbrannt; die ältere Generation erinnert sich noch daran und wird es in die falsche Kehle bekommen, wenn so etwas Ähnliches von der anderen Seite wiederholt wird; laßt es lieber bleiben! – hätte er so gesagt, hätten diese Jungens und Mädels von ihrem Plan bestimmt Abstand genommen. Der Beamte hat sie aber an das Rheinufer verwiesen, und dann haben diese Jugendlichen ihren Scheiterhaufen aufgerichtet – ganz ähnlich, wie es Martin Luther im Jahre 1520 auch gemacht hat, und die Studenten im Jahre 1817 auch. Für mich ist dabei das Erstaunliche nur gewesen, wieviel ausgesprochene Schund- und Schmutzschriften diese Jugendlichen aus ihren eigenen Häusern zusammengetragen haben! Es war ein kleiner Kreis von Zuschauern dabei, und von diesen haben einige scharfe Augen entdeckt, daß auch Bücher von literarischem Gewicht darunter gewesen sind. Die Leitung der Rheinischen Kirche hat darauf diesen Jugendlichen gesagt: Das geht nicht an! Ihr seid viel zu jung, um den literarischen Wert eines Buches richtig einschätzen zu können! Ich bin sehr zweifelhaft, ob dieser Bescheid richtig war. Man muß m. E. auch Jugendlichen den Spielraum gewähren, ihrem Empfinden freien Lauf zu lassen.  

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Otto Dibelius

Aber darüber mag man verschiedener Meinung sein! Mir persönlich ist es wichtig, daß auf diese Weise ein kleines Protestzeichen gegen eine gewisse Literatur deutlich geworden ist, mit der wir heute überschwemmt werden. Auch nach meiner Meinung ist „Die Blechtrommel“ von Günter Graß [sic!] ein unappetitliches Buch. Für meine Kinder und Enkelkinder wünsche ich mir andere Lektüre. Das ist kein literarisches Urteil, sondern ein Urteil des sittlichen Empfindens, das nicht weiter zu diskutieren ist! Die ganze Angelegenheit ist so unbedeutend, daß man sich nur darüber verwundern kann, was für einen breiten Raum sie in der Presse eingenommen hat. Ich darf annehmen, daß die ganze Geschichte in wenigen Wochen vergessen sein wird. Mit aufrichtiger Empfehlung Ihr ganz ergebener gez. Dibelius

Der in West-Berlin lebende Raimund le Viseur bat den Berliner Bischof und ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Otto Dibelius zu einer 1965 vom ‚Jugendbund für Entschiedenes Christentum‘ in Düsseldorf öffentlich organisierten Bücherverbrennung Stellung zu beziehen. Bei dem Autodafé wurden neben sogenannten ‚Schund- und Schmutzschriften‘ auch die Werke von Günter Grass ins Feuer geworfen. Zur selben Zeit wurde ein Brandanschlag auf die Berliner Wohnung des Schriftstellers verübt. Der Abdruck des Briefes erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Präsidenten des Konsistoriums der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.

Schreiben an das Ordinariat des Erzbistums München-Freising

Ersuchen eines Landgerichtsrats an das Erzbistum

Das Schreiben eines ehemaligen Staatsanwaltes für das so genannte ‚Schmutz- und Schundreferat‘ an das Ordinariat des Erzbistums München-Freising aus dem Jahr 1965 veranschaulicht nicht nur die Wirksamkeit kirchlicher Zensur, sondern auch den Stellenwert der Selbstzensur. Der Abdruck des Briefes erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Archivs (Registratur des Generalvikars, Dispens vom Indexverbot, 1965) des Erzbistums München und Freising.

Helmut Frielinghaus †

Günter Grass und die Zensur

1

Die vielfältigen Bemühungen, die frühen Bücher von Günter Grass, den Roman Die Blechtrommel und insbesondere die Novelle Katz und Maus, zu indizieren, das heißt, auf die Liste der ‚jugendgefährdenden Schriften‘ zu setzen, sagen viel über das geistige Klima in der Bundesrepublik der Adenauer- und Erhard-Jahre aus: die Jahre des ‚Wirtschaftswunders‘, die Jahre der kollektiven Verdrängung. Von demokratischem Denken, Meinungsfreiheit und Toleranz war man, aus heutiger Sicht betrachtet, weit entfernt. Es war eine Zeit, die von vielen Intellektuellen und vor allem von jüngeren Deutschen als rückschrittlich, prüde und bigott, ja als erstickend empfunden wurde. Die Zensurpraktiken zeigen auch, wie die Sprache der – nicht bewältigten – Vergangenheit und das alte Bedürfnis der bürgerlichen Gesellschaft nach streng geregelter Ordnung, nach Sittlichkeit und Moral in der deutschen Nachkriegsgesellschaft fortlebten. Zugleich lassen sich an diesen Beispielen aus der Frühzeit der BRD die in den sechziger und siebziger Jahren üblichen Praktiken der formellen, vor allem aber auch die der informellen Zensur ablesen – einer informellen Zensur wie sie, oftmals intensiv und beharrlich, von ‚Pressure Groups‘ verschiedener Ausrichtung ausgeübt wurde, um letztlich dann eine formelle Zensur zu erreichen. Grass’ Blechtrommel erschien 1959, zehn Jahre nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes, zehn Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland, zehn Jahre auch, nachdem – im November 1949 – Abgeordnete der CDU, CSU und DP, darunter Franz Josef Strauß, unter Hinweis auf das während der Weimarer Republik 1926 erlassene Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften, ein neues Gesetz ‚zum Schutze der Jugend‘ gefordert hatten. Das P.E.N.-Zentrum Deutschland wandte sich damals sofort mit aller Entschiedenheit gegen die Maßnahmen und Tendenzen in allen Teilen Deutschlands, die das freie literarische Schaffen beeinträchtigen. Die direkte oder indirekte Zensur widerspricht der internationalen Pen-Charta. Wir protestieren auch heute schon gegen die Einführung eines sogenannten Schmutz- und Schundgesetzes, weil wir seine missbräuchliche Anwendung fürchten.2

1 Der Verfasser dankt dem Archiv Günter Grass im Archiv der Akademie der Künste in Berlin für großzügige Hilfe bei Recherchen und die freundliche Erlaubnis, die einschlägigen Korrespondenzen einzusehen und zu zitieren. Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine ergänzte Fassung des Marbacher Vortrags. 2 Hans J. Schütz: Verbotene Bücher. Eine Geschichte der Zensur von Homer bis Henry Miller. München 1990, S. 185.

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Die Bonner Gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend wurden im Juni 1953 verabschiedet. 1954 wurde die ‚Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften‘ gegründet. Bedenkt man, dass 1949, als in der jungen Bundesrepublik über ein neues Gesetz zum Schutze der Jugend verhandelt wurde, die Zeit des Nationalsozialismus nur vier Jahre zurücklag, versteht man die Sorge der Schriftsteller, die jene zwölf Jahre im Exil oder aber, wie Erich Kästner, mit Publikationsverbot in der ‚inneren Emigration‘ in Deutschland erlebt hatten oder sich an die Verbrennungen ihrer Bücher durch die Nationalsozialisten ab Mai 1935 erinnerten. Zu keiner Zeit wurde klar definiert, was unter ‚Schmutz und Schund‘ im Zusammenhang mit Literatur denn eigentlich zu verstehen sei, so wie zu keiner Zeit genauer definiert wurde, was man als ‚jugendgefährdend‘ betrachtete. „Das Problem der Gefährdung der Jugend durch ungeeignete Lektüre war von jeher umstritten“,3 stellte der Hamburger Generalstaatsanwalt und Literaturliebhaber Ernst Buchholz bereits 1952 fest. Die gesetzlichen Bestimmungen zählen darunter „vor allem unsittliche sowie Verbrechen, Krieg und Rassenhass verherrlichende Schriften“4. Aber das Interesse der Jugendschützer galt bis in die achtziger Jahre vornehmlich erzählerischen Texten, in denen Erotik und Sexualität eine größere Rolle spielen – nicht den ‚Landserheften‘, nicht den die Helden des Kriegs und den Krieg verherrlichenden Büchern. In Artikel 5 des Grundgesetzes folgt auf die Erklärungen der Meinungsfreiheit und der Garantie „[e]ine Zensur findet nicht statt“5 der Satz: „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“6 Dieser eine Zusatz, der sich relativ beliebig auslegen lässt, bot selbsternannten oder von Institutionen bestellten Moralhütern, aber auch konservativen Politikern jahrzehntelang den Schlüssel zu Indizierungsanträgen. Die Verfahren zeigen, dass es für Autoren und ihre Verlage schwierig war, gegen solche Anträge, die Anklagen gleichkamen, den sogenannten Kunstvorbehalt („Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“7) wirksam ins Feld zu führen. Indizierte Bücher durften in Buchhandlungen nicht ausgelegt werden, die Indizierung eines Buches kam einem Verbot gleich.

3 Ernst Buchholz: „Eine Bilanz im Streit um das neue Schmutz- und Schundgesetz“. In: Ders.: Kunst, Recht und Freiheit. Reden und Aufsätze. München, Esslingen 1966, S. 20. 4 „Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften vom 9. Juni 1953“. In: Bundesgesetzblatt (BGBL), Teil I, S. 377, § 1, Abs. 1. 5 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (GG), Art. 5, Abs. 1. 6 GG, Art. 5, Abs. 2. 7 GG, Art. 5, Abs. 3.

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Manche Verlage übten vorauseilende Selbstzensur, indem sie als problematisch empfundene Passagen aus Büchern herausnahmen oder bestimmte Bücher gar nicht veröffentlichten. In seinem 1950/51 entstandenen Roman Der Engel schwieg – einem frühen Beispiel der realistischen ‚Heimkehrer- und Trümmerliteratur‘ der Nachkriegsjahre – beschreibt Heinrich Böll, offenkundig auf der Grundlage eigenen Erlebens bei seiner Rückkehr nach Köln, die NachkriegsAtmosphäre 1945/46 in einer zerstörten westdeutschen Großstadt, das Elend, in dem viele Menschen lebten, zugleich die Korruption der längst wieder ihre Geschäfte machenden alten und neuen Reichen, die alte und neue Doppelmoral der Kirchen – kurz, die sich früh wiederherstellenden alten Formen der Ungerechtigkeit und der sozialen Widersprüche. Das Manuskript wurde von Bölls damaligem Verlag Friedrich Middelhauve, der bereits erzählerische Texte von Böll veröffentlicht hatte, ohne Angabe klarer Gründe zurückgewiesen, offenbar weil es zu düster, zu gesellschaftskritisch, überdies aus konservativer Perspektive auch unmoralisch war. Als Böll einzelne Kapitel des Buches Rundfunk-Anstalten anbot, bekam er vom damaligen NWDR die vage Antwort: ‚Das können wir unseren Hörern nicht zumuten.‘ Der als Zeitbild der sogenannten ‚Stunde Null‘ hochinteressante Roman erschien mit vierzigjähriger Verspätung nach Bölls Tod, im Jahre 1992. Ein interessanter früher Fall von informeller Literatur-Zensur: Feigheit oder Selbstzensur des Verlags und als Folge Resignation auf Seiten des Autors, der damals in großer finanzieller Not war und sich, um zu Geld zu kommen, anderen Arbeiten zuwandte. Das Klima in der Bundesrepublik hatte sich nicht gewandelt, als Ende der fünfziger Jahre, zur Buchmesse 1959, Grass’ Blechtrommel erschien. An den Rezensionen, und zwar gerade an den zustimmenden, positiven, fällt auf, wie stark die Literaturkritiker auf die – damals in der Literatur noch höchst ungewöhnlichen – Tabubrüche in den Fragen Politik, Religion, bürgerlicher Moral und Sexualität eingehen. In vielen Besprechungen klingt das so, als wollten sie, die Kritiker, das Buch im voraus gegen die zu erwartenden Attacken und Anklagen, gegen eine Indizierung verteidigen. In der exemplarischen Rezension, die Hans Magnus Enzensberger am 18. November 1959 im Süddeutschen Rundfunk veröffentlichte, klingt das so: Die Blechtrommel kennt keine Tabus. Gewaltig wirkt dieser Roman, weil er alles berührt, als wär’s antastbar. Immer wieder tritt die Erzählung in jene verbotene Sphäre ein, wo sich Ekel und Sexualität, Tod und Blasphemie begegnen. Was Grass in dieser Hinsicht einerseits von aller Pornographie trennt, andererseits von dem sogenannten ‚schonungslosen Realismus‘ der amerikanischen Schule unterscheidet, was seine brüsken Eingriffe legitimiert, ja zu künstlerischen Ruhmestaten macht, das ist die vollkommene Unbefangenheit, mit der er sie vornimmt. Grass jagt nicht, wie Henry Miller, hinter dem Tabu her: er bemerkt es einfach nicht. […] Zu Unrecht wird man ihn der Provokation verdächtigen. Er ist dem Skandal weder

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aus dem Weg gegangen, noch hat er ihn gesucht; aber gerade dies wird ihn hervorrufen, dass Grass kein schlechtes Gewissen hat, dass für ihn das Schockierende das Selbstverständliche ist.8

Die von Enzensberger angekündigten ‚Schreie der Freude und der Empörung‘ blieben nicht aus. Den ersten Skandal um die Blechtrommel gab es bereits im Erscheinungsjahr 1959: Die Jury des ‚Bremer Literaturpreises‘ hatte sich für Günter Grass entschieden; der Bremer Senat verweigerte seine Zustimmung. Der Roman könne „moralisch sittlich nicht voll vertreten werden“, verlautete der Senat. Nach Meinung der Jugendsenatorin Annemarie Mevissen müssten „zumindest einige Kapitel des Werkes in den Index jugendgefährdender Schriften aufgenommen werden“.9 Ein klarer Ruf nach dem Zensor. „An der teilweise hysterischen Rezeption des Buches“, so der Bremer Literaturwissenschaftler Harro Zimmermann, sei „ablesbar, in welchem Stadium der Vergangenheitsbewältigung sich die deutsche Nachkriegsrepublik zu diesem Zeitpunkt“10 befinde. Anders gesagt: Auch im Verhältnis der Gesellschaft zur Literatur hatte es keine ‚Stunde Null‘ gegeben. In den vielen, das Buch verurteilenden Rezensionen finden sich schon all die Vorwürfe, die den Autor und seine Bücher von nun an begleiten sollten: ‚Kirchenschändung bis zur allerübelsten Pornographie‘, ‚erzählerisches Unvermögen‘, alle ‚Abnormitäten‘. Ein ‚satanisches Machwerk ohnegleichen‘, so die ‚Katholische Nachrichten-Agentur‘ am 30.7.1960. Man nennt Grass einen ‚Blasphemiker‘ und – was in den fünfziger Jahren, der Zeit des französischen Existentialismus, in Deutschland komischerweise als noch schlimmer galt – einen ‚Nihilisten‘. Man dürfe dieses Buch ‚keinem jungen Menschen in die Hand geben‘.11 Rufe nach Zensur, die schon insofern absurd waren, als kaum ein Jugendlicher unter 18 Jahren den Roman gelesen haben dürfte. Es ging nicht um Schutz der Jugend, sondern vielmehr um das Verbot eines Romans, der zu eindeutig gegen den Moralkodex der damaligen Gesellschaft verstieß. Die Auseinandersetzungen um die Blechtrommel hatten Jahre später ein an die Bücherverbrennungen des Jahres 1933 erinnerndes Nachspiel: Mitglieder des evangelischen ‚Jugendbundes für Entschiedenes Christentum‘ verbrannten am

8 Hans Magnus Enzensberger, zitiert nach: Günter Grass: Die Blechtrommel. Erläuterungen und Dokumente. Hg. v. Volker Neuhaus. Stuttgart 2005, S. 119f. 9 Die Zitate entstammen ursprünglich einem Artikel im Weser-Kurier v. 30.12.1959. Wieder abgedruckt in: Günter Grass: Dokumente zur politischen Wirkung. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold u. Franz Josef Görtz. Stuttgart, München, Hannover 1971, S. 270. 10 Harro Zimmermann: Grass unter den Deutschen. Chronik eines Verhältnisses. Göttingen 2006, S. 60. 11 Vgl. u. a. Die Blechtrommel. Erläuterungen und Dokumente. Hg. v. Neuhaus, S. 96–163.  

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3. Oktober 1965 in Düsseldorf am Rheinufer mit ausdrücklicher Genehmigung des städtischen Ordnungsamts Bücher, deren ‚brutale, kriminelle, sexuelle und utopischen Szenen‘ sie ablehnten.12 Darunter waren Bücher von Albert Camus (Der Fall), Erich Kästner (Herz auf Taille), Vladimir Nabokov (Lolita) und von Günter Grass (Die Blechtrommel).13 Man denkt, der für die Gruppe zuständige Pfarrer, die Eltern, das städtische Ordnungsamt hätten die evangelischen Jugendlichen vor diesem Rückfall in die Barbarei des Nationalsozialismus bewahren müssen. Doch Otto Dibelius, Bischof von Berlin-Brandenburg und ehemals Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche, lobte die Bücherverbrennung: Man muß den Mut beweisen, sich auch äußerlich frei zu machen von allem, woran man innerlich Schaden nimmt – dafür wird jeder rechtschaffene Christenmensch Verständnis haben. […] Für mich ist das Erstaunliche nur gewesen, wieviel ausgesprochene Schund- und Schmutzschriften diese Jugendlichen aus ihren eigenen Häusern zusammengetragen haben! […] Auch nach meiner Meinung ist Die Blechtrommel von Günter Graß [sic!] ein unappetitliches Buch.14

Dibelius hatte 1933 Hitlers Machtübernahme begrüßt und den von der SA initiierten Boykott jüdischer Geschäfte unterstützt. Erstaunlich und bezeichnend ist, wie wenig Beachtung diese Bücherverbrennung und ihr kirchlicher Verteidiger im Jahre 1965 fanden. Als Grass 1961 anfing, Reden für Willy Brandt zu schreiben und selbst Wahlkampfreden für die SPD zu halten, verstärkte sich die Kritik aus dem konservativen Lager und schlug oft in Hass um. Jetzt trat auch die starke, eigentlich unübersehbare, politische Dimension der Blechtrommel deutlicher in den Vordergrund: die Auseinandersetzung nicht nur mit der Nazizeit im fernen Danzig. Im ‚Dritten Buch‘ des Romans wird mit ätzender Ironie die Wirtschaftswunder-Mentalität karikiert, die Grass zwischen 1947 und 1952, während seiner Steinmetzlehre und seines Studiums an der Düsseldorfer Kunstakademie, kennengelernt hatte. Mit dem Erscheinen der Blechtrommel, so der Literaturkritiker Joachim Kaiser, habe die „Faschismusdebatte“ aufgehört (was sich aus heutiger Sicht nicht aufrecht erhalten lässt) und sei übergegangen in eine „Diskussion der Gegenwart“ im

12 Vgl. ebd., S. 174. 13 Vgl. Ferdinand Ranft: „‚Ein Licht ins dunkle deutsche Land‘. Die Bücherverbrennung des Jungbundes für Entschiedenes Christentum“. In: Die Zeit 20 (1965) H. 42. URL: http://www.zeit. de/1965/42/ein-licht-ins-dunkle-deutsche-land (Stand: 4.4.2012). 14 „‚Man muss Mut beweisen‘. Bischof Dibelius zur Düsseldorfer Bücherverbrennung“. In: Der Spiegel 46 (1965), S. 61. Vgl. S. 247f. in diesem Band.

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Zeichen „des fortwirkenden Nazitums“15 (was richtig ist). Die rechtskonservativen Angriffe gegen den politisch engagierten Sozialdemokraten Grass wurden gern mit moralischer oder religiöser Entrüstung bemäntelt, denn es war – angesichts der vom Grundgesetz garantierten Meinungsfreiheit – leichter und bequemer, einen Roman aus moralischen, d. h. die Sexualität betreffenden Gründen zu verdammen und als jugendgefährdend zu indizieren, als ein Buch seiner politischen Botschaft wegen aus dem Verkehr zu ziehen. Im Herbst 1961 erschien die Novelle Katz und Maus. Wer sich gegen Grass empören wollte, fand hier genügend handfesten Stoff. Die Angriffe wurden nun und in den folgenden Jahren von ‚Pressure Groups‘ vorgetragen, hinter denen die rechten und die dezidiert christlichen Zeitungen standen: Da waren die kirchlich orientierten, oft im sogenannten ‚Volkswartbund‘ organisierten Moralwächter, ferner die Rechtskonservativen der Bonner Republik, bis hin zu Bundestags- und Landtagsabgeordneten, die Vertreter der Heimatvertriebenen und, das kam neu hinzu: die Verbände ehemaliger Soldaten und Ritterkreuzträger. ‚Mahlkes Fall decouvriert Kirche, Schule, Heldenwesen – die ganze Gesellschaft‘, erklärte Grass 1966 im Gespräch mit dem englischen Germanisten John Reddick. Die Rezeption der Novelle zeigt, dass ihm dieses – politische und literarische – Vorhaben gelungen war. In überraschend vielen von nun an erscheinenden Artikeln und Rezensionen lebte – heute unverkennbar, damals wohl kaum wahrgenommen – die Sprache des Nationalsozialismus fort. Die Zeitschrift Das Ritterkreuz zählt den Autor Grass zu denen, die „auf die alte Wehrmacht, auf den ehemaligen Soldaten, auf überlieferte Werte Schmutzkübel ausschütten“, sie nennt ihn einen „Meister der Pornographie“, der „schamlose Schweinereien“ und „Obszönitäten mit einer Diskriminierung des Soldatischen verkoppelt“.16 Man erinnere sich: Mahlke, der Protagonist der Novelle, lässt ein gestohlenes Ritterkreuz vor seinem entblößten Penis baumeln. In dem Blatt Unser Danzig schreibt Theodor Wallerand, der im Buch Mallebrand heißt, ehemaliger Sportlehrer am Danziger Conradinum, das Grass eine Zeit lang besucht hatte: ‚Ist Grass vielleicht kaschubischer Abstammung? Könnte er Graszewski oder so heißen? Auffallend ist immerhin seine liebevolle Bevorzugung alles Polnischen.‘ Man frage sich angesichts der ‚Beschreibungen des Unsauberen‘ betroffen, ‚wie sich überhaupt Verlage bereitfinden können, so etwas zu drucken‘.  

15 Dichter und Richter. Die Gruppe 47 und die deutsche Nachkriegsliteratur. Katalog der Ausstellung der Akademie der Künste, 28. Oktober bis 7. Dezember 1988. Bearb. v. Jürgen Schutte. Berlin 1988, S. 15. 16 „Das Ritterkreuz“ (April 1962), zitiert nach: Literaturzensur in Deutschland. Hg. v. Bernd Ogan. Stuttgart 1988, S. 126–129, hier S. 126, 128.

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Der ‚Volkswartbund Köln‘ und einige Privatpersonen erstatteten Anzeige. Die zuständige Staatsanwaltschaft in Koblenz beschied den Anklägern, dass ‚als allein zuverlässiger Beurteilungsmaßstab die Auffassung des um das Verständnis moderner Literatur bemühten Kunstinteressenten in Betracht komme‘. Entscheidend sei, dass die beanstandeten Stellen ‚dank der künstlerischen Gestaltungskraft des Autors in den Hintergrund treten‘ und dass das Buch ‚zweifelsohne nicht als unzüchtig anzusehen‘ sei. Diese Auffassung entsprach den Überlegungen, die der Hamburger Generalstaatsanwalt Ernst Buchholz, der sich um Literatur und Kunst verdient gemacht hat, 1962 in dem berühmten Prozess gegen Jean Genets Notre Dame des Fleurs so formuliert hatte: Aus Artikel 5 [des Grundgesetzes] ergibt sich klar und eindeutig, dass die Freiheit der Kunst nicht zum Schutze der Jugend eingeschränkt werden kann. Infolgedessen nimmt auch das Gesetz über den Vertrieb jugendgefährdender Schriften Bücher, die der Kunst dienen, von den dort vorgesehenen Maßnahmen aus. […] Die Freiheit der Kunst geht dem Schutze der Jugend vor.17

Der Publizist Kurt Ziesel, der sich in der Nazizeit in Hass-Schriften für die Beseitigung ‚pseudodeutscher Literatur der dekadenten Literatenzunft‘ aussprach, eröffnete am 23. Juni 1962 seine jahrelang fortgesetzte Kampagne gegen Grass mit einer Anzeige wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften. Am 28. September 1962 beantragte das hessische Ministerium für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, Bad Godesberg, die Indizierung der Novelle Katz und Maus. Man erklärte: Die Schrift enthält zahlreiche Schilderungen von Obszönitäten, die geeignet sind, Kinder und Jugendliche sittlich zu gefährden. […] Sie sind geeignet, die Phantasie jugendlicher Leser negativ zu belasten, sie zu sexuellen Handlungen zu animieren und damit die Erziehung zu beeinträchtigen.18

Diese Sätze – voller vager, nicht definierter Begriffe – beziehen sich im Wesentlichen auf die Szene, in der heranwachsende Jungen im Kriegssommer 1941 auf einem in der Danziger Bucht halb untergegangenen polnischen Minensuchboot gemeinsam und in Gegenwart eines Mädchens onanieren. Hier wird deutlich, was bis in die sechziger Jahre als ‚jugendgefährdend‘ verstanden und mit der Formulierung ‚unsittliche Handlungen‘ umschrieben wurde.

17 Ernst Buchholz: „Plädoyer im Prozeß gegen Jean Genets ‚Notre Dame des Fleur‘“. In: Ders.: Kunst, Recht und Freiheit, S. 17. 18 Zitiert nach: Bodo Plachta: Zensur. Stuttgart 2006, S. 214.

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Der Luchterhand Verlag, Neuwied, wies die Klage am 28.10.1962 mit ausführlicher Begründung unter Hinweis auf den Kunstvorbehalt zurück und stützte seine Argumentation mit Gutachten von dem Literaturwissenschaftler Fritz Martini, dem Psychologen Emil Ottinger, von Walter Jens, von Hans Magnus Enzensberger, der besonders vehement das Kunstwerk herausstellte und von dem damaligen Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Kasimir Edschmid. Ottingers psychologisches, auch literarisch hoch interessantes Gutachten bestätigt die künstlerische Intuition des Autors, das psychologische Gespür, mit dem Grass die Entwicklung des Protagonisten Mahlke gezeichnet hat und verweist, C. G. Jung zitierend, auf die Bedeutung des Kunstwerks, insbesondere des literarischen Kunstwerks, ‚als eine erstklassige Quelle von Lebenskunde und Menschenverständnis‘. Der enorme, vom Luchterhand Verlag betriebene Aufwand bei der Verteidigung von Buch und Autor erscheint aus heutiger Sicht, nachdem die Novelle Jahrzehnte lang Schullektüre gewesen ist, übertrieben, ja grotesk. Warum er damals sachlich angemessen und notwendig war, ist leicht zu erklären. Eine Indizierung der Novelle Katz und Maus durch die Bundesprüfstelle, die in der Atmosphäre der frühen sechziger Jahre denkbar gewesen wäre, obwohl das Buch längst als literarisches Kunstwerk in Deutschland und vielen anderen Ländern anerkannt war, hätte dem Autor, dem Verlag, der Freiheit der Meinungsäußerung und der Literatur unabsehbaren materiellen und immateriellen Schaden zugefügt. Sie wäre, wie man von Beispielen indizierter Bücher weiß, einem Verkaufsverbot des Buches gleichgekommen. Am 9. Januar 1963 teilte der Hessische Staatsminister Heinrich Hemsath dem Hermann Luchterhand Verlag in Neuwied mit, „dass der Antrag auf Indizierung des Buches Katz und Maus von der zuständigen Fachabteilung meines Hauses ohne mein Wissen gestellt worden ist. Ich habe […] die sofortige Rücknahme des Antrags verfügt.“19 Kurt Ziesel gab indes nicht auf. Er setzte nunmehr auf informelle Zensur, auf ihm folgende, moralisch und religiös argumentierende ‚Pressure Groups‘ und schmähte den Autor in Leserbriefen und Zeitungsartikeln. Als er im Regensburger Tagesanzeiger vom 18.3.1967 Günter Grass als ‚Verfasser übelster pornographischer Ferkeleien und Verunglimpfungen der katholischen Kirche‘ bezeichnete, stellte Grass, zunächst mit Erfolg, Strafantrag wegen übler Nachrede. Das daraufhin von Ziesel angestrengte Berufungsverfahren verlor Grass. Das erste Urteil wurde am 8. Januar 1969 aufgehoben:

19 Zitiert nach: Literatur unterm Fallbeil. Jugendgefährdend? Hg. v. Walter Böckmann. Frankfurt a. M. 1964, S. 82.  

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Der scharfen Kritik, die der Beklagte an dem Kläger […] geübt hat, fehlt es bei Anwendung der gebotenen Güter- und Pflichtenabwägung weitgehend an dem Tatbestandsmerkmal der Widerrechtlichkeit. Die Polemik des Beklagten ist daher zum größten Teil erlaubt.20

Ziesel hatte überdies 15 Bundestagsabgeordnete und 30 Bayerische Landtagsabgeordnete hinter sich gebracht, die eine im Januar 1968 veröffentlichte ‚Gemeinsame Erklärung‘ unterschrieben: Im Hinblick auf Ihre Berufung beim Oberlandesgericht München möchten wir Ihnen erklären, dass auch wir in Kenntnis der Schriften des Herrn Günter Grass ihn als ‚Verfasser unbeschreiblicher pornographischer Ferkeleien und Verunglimpfungen der katholischen Kirche‘ und damit nach § 184 StGB als Pornographen ansehen […]. Es würde das Ende der Meinungsfreiheit und des Kampfes gegen die sittliche Demoralisierung unseres Volkes bedeuten, wenn man die Wahrheit über Günter Grass nicht sagen dürfte.21

Ziesel veröffentlichte triumphierend eine detaillierte Dokumentation des Prozesses. Der Jurist und SPD-Abgeordnete Adolf Arndt, der sich verschiedentlich für die Freiheit der Kunst engagiert hatte, erklärte am 30. Juni 1969 in einem Statement: ‚Die Freiheit der Kunst verwehrt es allen Gerichten, sich so zum Zensor gegenüber einem Schriftsteller zu machen, wie es hier geschehen ist.‘ Die von Bonner Bundestags- und bayerischen Landtagsabgeordneten unterzeichnete Erklärung war ein Ventil, eine Möglichkeit konservativer Politiker, ihre Wut an einem Schriftsteller auszulassen, der nicht nur in Bundestags- und Landtagswahlkämpfen, sondern, die sechziger Jahre hindurch, auch sonst in harschen Reden und Aufsätzen die Bonner Politik, die ehemaligen Nationalsozialisten in der Regierung und die ideologische Presse, insbesondere die Springer-Medien angriff. Zum Beispiel forderte Grass Ludwig Erhard zum Rücktritt auf. Erhard nannte die 25 Autoren, die wie Grass für einen Regierungswechsel plädierten, im Juli 1965 „Banausen, Nichtskönner und ganz kleine Pinscher“22. 1966 erhob Grass – wie Heinrich Böll und Karl Jaspers – in einem in der Frankfurter Allgemeinen veröffent-

20 „Urteil des 12. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 8.1.1969“. In: Kunst oder Pornographie? Der Prozess Grass gegen Ziesel. Eine Dokumentation. München 21969, S. 16–39, hier S. 28. 21 Dokumente zur politischen Wirkung. Hg. v. Arnold u. Görtz, S. 312f. 22 Zitiert nach: Christina von Hodenberg: „Die Journalisten und der Aufbruch zur kritischen Öffentlichkeit“. In: Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980. Hg. v. Ulrich Herbert. Göttingen 2002, S. 278–311, hier S. 311.

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lichten ‚Offenen Brief‘ „empörten Einspruch“23 gegen die Ernennung Kurt Georg Kiesingers zum Kanzler der großen Koalition. Proteste im Bundestag, die sich gegen Grass richteten, hatte schon Hans Jürgen Polands Verfilmung der Novelle Katz und Maus ausgelöst. In dem Film spielten die beiden Söhne von Willy Brandt mit, der damals gerade Außenminister geworden war. Franz Josef Strauß wandte sich am 21. September 1966 an den damaligen Verteidigungsminister Helmut Schmidt: Tun Sie das Ihre […], daß die Darbietung von hohen Orden, getragen von jungen Leuten prominenter Politiker, und das in dem Falle in Danzig bei der Verfilmung eines Stückes von Günter Graß [sic!], entweder überhaupt nicht erfolgt oder nicht veröffentlicht wird. Sie wissen, was ich meine.24

Der Film passierte im November 1966 unbeanstandet die ‚Freiwillige Selbstkontrolle‘ und bekam kurz darauf von der Filmbewertungsstelle Wiesbaden das Prädikat ‚Wertvoll‘ – mit dem Zusatz: ‚Filmisch erscheinen dem Ausschuss die Szenen auf dem Boot, auch die Szene der ‚männlichen‘ Spiele, mit Delikatesse gemacht zu sein.‘ Aber in der Fragestunde am 27. Februar 1967 ging es erneut um die ‚Verunglimpfung‘ des Eisernen Kreuzes und um eine Förderprämie von 300.000 DM, die Poland für das Drehbuch vom Innenministerium bekommen hatte. Letzteres wurde heftig kritisiert, das Geld sollte zurückgefordert werden. Die unausgesprochenen politischen Argumente, die Abneigung gegen Willy Brandt, gegen Grass wurden mit ethischen und moralischen Protesten bemäntelt. Wäre es nach den dringlich geäußerten Wünschen mancher Bundestagsabgeordneter und einiger Minister gegangen, dann wäre der Film als jugendgefährdend eingestuft und zumindest für Jugendliche verboten worden. Als 1963 Grass’ drittes Prosawerk, der Roman Hundejahre, erschien, hat es noch einmal Indizierungsversuche gegeben. Aber im Laufe der sechziger Jahre änderte sich die Taktik der Grass-Gegner. Von 1969 an, als der Roman örtlich betäubt erschien, wurde es Mode, dass ein Teil der Medien über jedes neue Buch von Grass mit unmäßiger, oft unverhohlen feindseliger Kritik herfiel. Natürlich trug Grass’ als ständige Provokation empfundenes politisches Engagement für die SPD zu der Gereiztheit gegen ihn bei; er war nun auch den 68ern und der dogmatischen Linken ein Dorn im Auge. Die Medienkampagnen gegen ihn zielten nun weder auf formelle noch auf informelle Zensur ab, für solche Versuche war der Autor inzwischen – auch international – zu berühmt. Es waren und sind

23 Günter Grass: „Offener Brief an Kurt Georg Kiesinger, FAZ vom 1.12.1966“. In: Dokumente zur politischen Wirkung. Hg. v. Arnold u. Görtz, S. 66. 24 „‚Katz und Maus‘. Das Dingslamdei“. In: Der Spiegel 53 (1966), S. 22–24, hier S. 23.

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vielmehr – man denke an den Berlin- und Fontane-Roman Ein weites Feld oder an das autobiographische Buch Beim Häuten der Zwiebel – entschiedene Versuche, den politisch provozierenden Grass als Autor abzuqualifizieren. Mir drängten sich zuweilen Vergleiche mit dem Verhältnis großer Teile der deutschen Gesellschaft zu Thomas Mann und der Rezeption seiner späten erzählerischen Werke in den fünfziger Jahren auf. Die Bücher von Grass waren zwar trotz aller Kritik meist große Erfolge, und zu seinen Lesungen kommen bis heute viele, auch auffallend viele jüngere Leser. Doch es lässt sich nicht übersehen, dass in anderen Ländern – zum Beispiel in Spanien, zum Beispiel in den USA oder in Polen – das Verhältnis zu ihm respektvoller, freundlicher, unbefangener ist. Ich möchte schließen mit einem Zitat aus einem Brief, den Grass am 27. April 1965 an eine Lehrerin in Bremen schrieb: Selbstverständlich darf man Jugendlichen meine Bücher in die Hand geben […] die Novelle Katz und Maus, die ich als Jugendbuch geschrieben habe […] die Reaktion jugendlicher Leser war […] anteilnehmend, interessiert, beunruhigt. […] Die Sperrung von Büchern für Jugendliche halte ich für einen verfilzten Zopf, der schon im 19. Jahrhundert hätte abgeschnitten werden müssen. 16- und 17-jährige lesen besonders vorbehaltlos und aufnahmebereit. Denken Sie an die Plastik von Barlach ‚Lesender Klosterschüler‘ – welche Lektüre wollte man ihm sperren. […] Das Argument, meine Bücher enthalten pornografische Stellen, weise ich zurück; ich habe mein Lebtag keine pornografische Zeile geschrieben.25

25 Kopie im Besitz des Verfassers.

Günter Rühle

Trouble und der Versuch, Fassbinders Stück Der Müll, die Stadt und der Tod aufzuführen Die Aufführung von Fassbinders Stück Der Müll, die Stadt und der Tod hat in Deutschland eine große Unruhe verbreitet. Nicht das Stück selber, das ja als gedruckter Text vorlag und heute wieder vorliegt.1 Die Aufführung des Stückes wurde durch Proteste der Jüdischen Gemeinde unterdrückt. Ein Stück hat also zwei Sachverhalte. Und warum gab es diesen Trouble in Deutschland, der bis nach San Francisco und bis nach Peking die Zeitungen beschäftigte? Sie sehen, was los war – wir haben zwei Bände damals im Theater allein an Dokumentation gemacht – was das bedeutete und warum es in Deutschland plötzlich eine solche Erregung gab. Fassbinder hat in dem Stück eine Grenzüberschreitung des damaligen Bewußtseins gemacht: Er stellte, nicht in den Mittelpunkt des Stückes, aber in dem Stück, zum ersten Mal einen jüdischen Bürger vor, der nichts anderes tut als seine Chance zu nutzen in dieser Stadt Frankfurt, die im Umbruch war, seine Interessen wahrzunehmen und die Interessen wahrzunehmen, die man ihm von der Stadtverwaltung aus antrug. Wie erscheint dieser Jude in dem Stück? Er ist ein schöner, stattlicher Mann, aber umgeben von einer Welt von Vorurteilen, die sich auch auf die Potenz der Juden beziehen – das war ein Topos, mit dem die Nazis sehr viel gearbeitet haben, das ist eine ganz starke sexuelle Potenz des Juden – er ist umgeben von Neid, er ist umgeben von altem Haß und auch von neuen Opportunisten. Das ist eine Szene, eine Nachkriegsszene, wie sie in Deutschland überall anzutreffen war. Und er wird benutzt von dem Magistrat der Stadt, der die Stadt umbauen will. In Frankfurt wurde in den 1970er Jahren der Versuch gemacht, die City zu erweitern und ausgerechnet in dem bürgerlichen, vom Krieg nicht zerstörten bürgerlichen Teil, wo die großen Villen waren, im Westend, eine neue City aufzurichten, also diesen Stadtteil zu kommerzialisieren. Die Methode war, die alten Villen kaputt zu wohnen, damit sie abgerissen werden konnten. Und um dies durchzusetzen, wurden eine Reihe – nicht ausschließlich – jüdischer Investoren in Dienst gestellt, die die Häuser aufkauften, sie zerwohnen ließen, um sie abzureißen und neue Gebäude aufzubauen. Das ist das Stück Wirklichkeit, was im Fassbinderschen Stück drinsteckt. Ignatz

1 Rainer Werner Fassbinder: Der Müll, die Stadt und der Tod/Nur eine Scheibe Brot. Frankfurt a. M. 1998. Dieser Aufsatz basiert auf Günter Rühles Beitrag zur Fassbinder-Tagung in Coleraine im September 1999. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Günter Rühle.  

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Bubis gehörte auch zu denen, die damals zuhauf Grundstücke kauften. Er fing als Goldhändler an und wurde dann ein großer Investor in Deutschland. Und seine Karriere hing ursprünglich ganz ursächlich mit diesem Stück, mit der Aufführung des Stücks zusammen. Die Zerstörung des Westends brachte damals in Frankfurt die erste Bürgerbewegung in Gang, die es in Deutschland überhaupt gab, nämlich die Proteste gegen die Zerstörung der Stadt. Damals gab es in Deutschland die erste Diskussion, was wird aus den Städten. Manche von Ihnen erinnern sich vielleicht an ein Buch von Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte,2 und das Stück von Fassbinder beginnt: ‚Die Erde, die Städte sind unbewohnbar wie der Mond‘. Das ist der Hintergrund der Stadtzerstörung und die Benutzung jüdischer Investoren, weil die jüdischen Investoren sozusagen unter dem ‚Auschwitz-Tabu‘ standen und von der psychischen Lage in Deutschland her nicht kritisiert werden konnten. Fassbinder hat das gesehen und vor allen Dingen gesehen, daß diese Instrumentalisierung jüdischer Investoren einen neuen Antisemitismus hervorrufen kann. In der damaligen Bürgerbewegung in Frankfurt gab es antisemitische Äußerungen. Wenn Sie an den Straßen, an den großen Alleen vorbeifuhren, die zerstört wurden, da stand dann so drauf, ‚Israelowitsch‘ und ‚Buchmann‘ und so fort. Das waren die Namen. Das war das Erlebnis von Fassbinder, der zu dieser Zeit in Frankfurt ein Theater leitete. Es ist ein Autor, der diese Vorgänge zusammengefasst hat in einem Roman,3 aber Fassbinder war nicht ein Dramatisierer von Romanen, sondern er war ein Visionär, der plötzlich Szenen und Beobachtungen zu einem Bild fügte. Ich sagte vorhin, ist dieses Stück ein Stück über einen ‚Reichen Juden‘? Es gibt in dem Stück zwei Monologe, in einem davon spricht der ‚Reiche Jude‘ und der sagt: Ich kaufe alle Häuser in dieser Stadt, reiße sie ab, baue neue, die verkaufe ich gut. Die Stadt schützt mich, das muß sie. Zudem bin ich Jude. […] Die Stadt braucht den skrupellosen Geschäftsmann, der ihr ermöglicht, sich zu verändern.4

Gegen den letzten Satz ist gar nichts einzuwenden, aber Sie sehen schon, in dem Satz steckt System. Und dem Monolog des ‚Reichen Juden‘ steht ein zweiter gegenüber, der eines ‚Herr von Gluck‘. Dieser Hans von Gluck ist der zerstörte Hans im Glück. Ein Antisemit alter Schule, der Sätze sagt, die man auch in Deutschland hören kann. Und einer der jüdischen Kommentatoren des Konfliktes hat ja auch gesagt, es gibt einen Antisemitismus in Deutschland wegen Ausch-

2 Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Frankfurt a. M. 1996. 3 Gerhard Zwerenz: Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond. Frankfurt a. M. 1973. 4 Fassbinder: Der Müll, S. 58–59.  



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witz! Nämlich wegen der Schuld, die uns immer wieder bewußt gemacht wird, daß wir schuldig sind, die Deutschen! Also, das Dasein der Juden macht uns schuldig und dagegen gibt es die Abwehr. Eine Diskussion, die damals aufkam und die bis jetzt in die große Debatte über die Rede von Martin Walser in der Paulskirche, daß man ein Volk nicht permanent mit Schuldgefühlen überlasten kann, vor allem die nachwachsenden Generationen nicht, mündete. Es sind diese beiden Dialoge: Der Jude als neue Figur, der dasteht und nur seine Geschäfte macht und die Antisemiten, die gegen ihn sind. Das ist ein sehr realistisches Szenario und Fassbinders Sorge war, daß ein neuer Antisemitismus sich regt. Deswegen hat er dieses Stück geschrieben. Fassbinder war ein Mann, der sagte: Ich muß, wenn ich Theater mache, es so deutlich machen, daß wir mit unseren Gefühlen betroffen werden, daß wir nicht nur eine Geschichte erzählt bekommen, sondern daß wir betroffen werden. Theater muß schmerzen, sonst nützt es nichts! Sonst ist es nur renitent. Fassbinder machte aber daraus nun kein realistisches Stück, sondern er machte ein alptraumhaftes Szenario. Er benutzte stehende Figuren aus der deutschen Literatur, wie den ‚Reichen Juden‘, von Lessings ‚Nathan‘ über Walter Mehrings ‚Kaufmann von Berlin‘ gibt es diesen Typus, die ja alle von Shylock abgeleitet sind. Es gibt die ‚Roma B.‘, das Mädchen, was eigentlich die Hauptfigur des Stücks ist, weil es zeigt, wie ein Übriggebliebener vom Krieg, eine übriggebliebene Frau vom Krieg, nun kaputt geht und in dieser Welt nicht mehr leben kann. Sie berührt den ‚Reichen Juden‘ und ist ein Objekt von ihm wie des Hans von Gluck. Sie geht daher zugrunde und wünscht sich selber von dem ‚Reichen Juden‘ den Tod. Sie ist eigentlich die Handlungspriorität, nicht der ‚Reiche Jude‘. Er erscheint nur, formuliert Sätze. Fassbinder hat nun auch selbst eigene biographische Elemente eingebracht in der Figur des Franz B. Franz B., das ist Franz Biberkopf aus dem Roman Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin. Andere Namen zeigen, wie er einfach nur zitiert, den ‚Kleinen Prinzen‘ von Saint-Exupéry und so fort, es ist also ein literarisches Szenario, das nur ein einziges durchgehendes Thema hat und dieses Thema ist in drei Stichworten klar: Liebe, Kälte und Tod. Es ist ein Stadtszenario mit sehr stark surrealistischen Einschlägen. Szenen, die nur vom Surrealismus her verstanden werden können. Es ist ein Alptraum, man kann auch sagen, es ist sozusagen die Vorfassung eines Filmdrehbuchs. Fassbinder hat auch auf dem Theater filmisch gedacht, nur er ist zu diesem Film nicht mehr gekommen. Wenn Sie davon nicht ausgehen, bringen Sie das Stück nicht zusammen. Nun hat sich aber in Frankfurt etwas Merkwürdiges ereignet. Dieser Text von Fassbinder ist ja verfilmt worden, in einem Film über das Stück von Daniel Schmidt, Schatten der Engel. Der Film ist gelaufen in Venedig, er ist gezeigt worden in Tel Aviv und er ist gelaufen im deutschen Fernsehen. Und

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nichts hat sich gerührt. Er ist konsumiert worden, Sie können ihn sich heute entleihen und ansehen. Aber die Aufführung brachte plötzlich diesen Horror nach Deutschland. Warum? Fassbinder hatte mit einem Tabu gebrochen, das mit dem Selbstverständnis der Juden in Deutschland nach dem Krieg zusammenhängt. Das hat sich gezeigt in der Diskussion, die sich nach der Aufführung entspann: was ist das Selbstverständnis der Juden? Die Identitätsfindungen der Juden gingen alle über die Rolle der Opfer: Wir sind die Opfer des Holocaust. Auf der anderen Seite gab es in Deutschland eine Umkehrung. Die Identität der Deutschen im gespaltenen Land regte sich plötzlich aus der Umkehrung: Wir sind die Täter, wir sind die Schuldigen. Dieses Gefühl prägt bis heute das deutsche Bewußtsein. Und jede Debatte, die in die Nähe dieses Themas kommt, macht das wieder deutlich. Fassbinder stellte außerdem den ersten jüdischen Bürger auf die Bühne, der zwar den Krieg überlebt hat und der auch geschädigt ist durch die Nazis, in der Figur des Müller in dem Stück, von dem er vermutet, daß er ein Täter war gegen seine Familie. Er ist also ein Überlebender, aber er hat soviel Realitätssinn, daß er sagt ‚Ich identifiziere mich nicht mit der Opferrolle, nicht mit diesen erinnerten Empfindungen sondern ich mache mein Leben jetzt und nutz’ die Gelegenheit.‘ Er ist ein ganz sachlicher, klarer und entschiedener Mensch. Und wo ein Mensch klar ist, weiß man ja, mit wem man es zu tun hat. Dieses war die eigentliche Verletzung, daß hier dieses Tabu, nämlich man darf den Juden nicht anders darstellen als als Opfer, gebrochen wurde. Von diesem Juden wurden dann von den Altnazis und Neonazis, die Szene in diesem Stück schien ja beherrscht von dem ‚Reichen Juden‘, dann Sätze gesagt wie ‚Man hätte ihn vergasen sollen, denn er macht uns schuldig, weil er da ist.‘ Das ist aber zum großen Teil von der deutschen Öffentlichkeit nicht verstanden worden. sondern sie reagierte ganz empfindlich. Der Anlaß war, daß eine Zeitung (das war sogar die meine, in der ich damals tätig war als Redakteur, die Frankfurter Allgemeine Zeitung), Sätze aus dem Stück isolierte, nämlich die der Neonazis, und dies als ein antisemitisches Stück ausgab. Es zeigte sich, daß die ganze Diskussion, die weiterging, von diesen falschen Zitaten bestimmt war. Wer Dramen lesen kann, weiß, daß man nicht alle Sätze, die Figuren sagen, dem Autor zurechnen kann, sondern es sind Sätze der Figuren. Die Sätze haben in Deutschland aber eine solche Schlagkraft, daß sie sich isolierten von dem Stück. Und es war im Grunde genommen nicht möglich, gegen diese freigesetzten isolierten Stücke anzugehen, weder mit einer Aufführung noch mit Diskussionen. Die Situation war denn auch damals eine sehr explosive, als wir dieses Stück versuchten nun endlich aufzuführen. Es gab drei Versuche es aufzuführen, sie wurden alle vorher abgebrochen. Natürlich wurde auch vorher mit der Jüdischen Gemeinde gesprochen, man ahnte wohl, daß es Aufruhr gibt, aber die erste

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Reaktion der Jüdischen Gemeinde war ja ‚Führen Sie das Stück auf, wir werden formal protestieren, sonst heißt es hinterher, die Juden hätten ein Stück unterdrückt‘. Das sind alles Sätze und Überlegungen, die man nur aus der deutschen Situation erklären kann, sie zeigen das ganze schwierige Verhältnis zwischen den deutschen und den jüdischen Bürgern. Was war nun die Situation, in der dieses Stück so explodierte? Einen Teil habe ich angedeutet, nämlich die Zerstörung der Städte, das war in Frankfurt ein sehr elementares Erlebnis für viele Bürger. Aber dann gab es, weil das Stück aufgeführt werden sollte innerhalb von den Frankfurter Festwochen und dort vom Oberbürgermeister verboten werden konnte, den Vorwurf der Zensur. In Frankfurt wird Zensur geübt! In einer Demokratie ein schlimmer Vorwurf! Der hat mich zum Teil mitbestimmt, das Stück in den Städtischen Bühnen aufzuführen, weil es damals hieß ‚Wenn die Städtische Bühne das macht, dann ist die dafür verantwortlich und dann kann man das machen‘. Aber diese Sätze und vorherigen Ankündigungen brachen alle zusammen! Und warum: Ich gehe kurz darauf ein, weil es wirklich ein historischer Moment war. Damals standen in der Jüdischen Gemeinde, die sich nun in den 70er Jahren wieder einigermaßen neu formiert hatte in Frankfurt, Wahlen für den neuen Gemeindevorstand an. Ignatz Bubis sollte kandidieren, aber es gab auch zum ersten mal die neue jüdische Generation, die anders dachte als die Alten, die zurückgekehrt waren nach Deutschland. Es war ein Wahlkampf, eindeutig. Es gab die Verurteilung Israels durch die UN, die keine Folgen hatte. Dann gab es in den 80er Jahren sozusagen einen Höhepunkt der Auseinandersetzungen mit dem Holocaust. Und die Daten der deutschen Geschichte, vor allen Dingen also der Reichstagsbrand und die Zerstörung der Synagogen noch mehr, am 9. November 1938, wurden jetzt in den wiederhergestellten jüdischen Gemeinden zu einem Feiertag bzw. zu einem Gedenktag. Wir haben nicht daran gedacht, unsere Aufführung sollte am 31. Oktober sein, und kam nun in die Nähe des Gedenktages. Auch das war noch nicht ausschlaggebend. Dann machte Helmut Kohl den Versuch, mit Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg ein Versöhnungstreffen zu gestalten. Das gab eine neue Diskussion, denn auf diesem Friedhof liegen auch Soldaten der SS. Auch der Besuch des amerikanischen Präsidenten Reagan mit Kohl in Bergen-Belsen nutzte nichts mehr, es gab diesen Affront. Und dann gab es noch einen anderen Grund, daß der damalige Kanzler Helmut Schmidt Israel nicht besuchte, obwohl er eine Einladung hatte. Plötzlich war ein Syndrom da und es kam im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um Israel zu einer neuen Identifizierung der jüdischen Gemeinden mit dem, was in Israel vor sich ging. In dieser Situation also unser Stück und der Versuch, es aufzuführen. Die Absprachen brachen zusammen – wir hatten eine Aufführung zustande gebracht –, dann wurde die Aufführung ver-

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hindert dadurch, daß etwa 50 Mitglieder der Jüdischen Gemeinde in den Raum eindrangen. Wir hatten der Jüdischen Gemeinde 10 Karten zur Verfügung gestellt und dann, wie wir jetzt aus den Erinnerungen Ignaz Bubis’ erfuhren, hat die Jüdische Gemeinde die Karten nachgedruckt und damit ihre Leute eingeschleust, so daß wir plötzlich einen übervollen Saal hatten und eine besetzte Bühne, gegen die wir nicht mehr spielen konnten.5 Es gab eine sehr harte Diskussion und sehr viele Leute und, ich glaube, sieben oder acht jüdische Bürger, die im Auditorium saßen und die die Aufführung verlangten. Es war auch eine innerjüdische Auseinandersetzung. Und die ganze Tragik der Deutschen sieht man daran, daß wir damals. in unserem Theater einen Regisseur hatten, Benjamin Korn (manchem vielleicht ein Begriff), der bei uns im Theater inszenierte und die Inszenierung unterstützt hat und seine Mutter stand als Überlebende von Auschwitz auf der Bühne. Eine deutsche Situation. Der Protest lief unter dem Stichwort ‚Subventionierter Antisemitismus‘, der traf die Stadt – denn es wurde in einem städtischen Theater aufgeführt und sollte somit subventioniert werden und nun wurde gesagt, daß Stück ist antisemitisch – deswegen, das saß, das trat! Und natürlich waren bei den Demonstrationen, die sich vor dem Theater abspielten – die Kirchen waren dagegen, die CDU war dagegen, SPD und Grüne waren noch für die Aufführung – große Teile der deutschen Bevölkerung, die mitdemonstrierten. Und auch das wirft ein Schlaglicht auf die deutsche Wirklichkeit: warum demonstrierten sie? Sie können noch heute in Deutschland mit dem Wort ‚Antisemit‘ jemanden kaputt machen. Das ist ein Schlagwort, gleichzeitig gibt es aber auch die Angst, daß ein neuer Antisemitismus ausbrechen könnte. Und nun wird ein Stück als antisemitisch ausgegeben und löst die Angst aus – ‚das wollen wir nicht mehr!‘ Das heißt also, große Teile dieser Frankfurter Bevölkerung fühlten sich plötzlich zum Widerstand aufgerufen gegen Tendenzen, einen neuen Antisemitismus auf der Bühne zu zeigen. Und das kann man wieder nur interpretieren aus einem großen Nachholbedarf der Deutschen an Widerstand, denn während des ‚Dritten Reiches‘ haben sie diesen Widerstand ja nicht geleistet. Sie haben nach dem Krieg erfahren, was durch die Verweigerung des Widerstandes oder das Unterlassen von Widerstand geschehen ist. Nun kommt also ein Gespenst wieder auf sie zu mit dem Schlagwort ‚Antisemitismus‘ und nun holen sie den Widerstand nach. Daher diese Volksbewegung in Deutschland und gegen das Stück.

5 Ignatz Bubis: Ich bin ein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Köln 1993, S. 156. Bubis behauptet allerdings, die Jüdische Gemeinde hätte ‚fünf oder sechs reguläre Karten gekauft‘ und diese dann nachgemacht.

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Es gab dann harte Auseinandersetzungen, wir haben versucht, die Welle, die sich da abzeichnete an Emotionen, dadurch zu lindern, daß wir Diskussionen machten vorher zum Lesen des Stücks, um es wieder in die richtigen Relationen zu kriegen. Das mißlang eigentlich immer, weil ein großer Teil des Publikums genau die Leute waren, die Fassbinder meinte, als er sie als Neonazis oder Altfaschisten vorstellte. Und dann waren natürlich die jüdischen Bürger da und wir erlebten auch, daß bis aus Israel Diskutanten kamen nach Frankfurt, die eingriffen und auch die Veranstalter dieser Aufführung sehr heftig betrogen. Also es war eine deutliche Konfrontation und die Diskussionen, die eigentlich die Atmosphäre lindern sollten, heizten sie noch einmal an. So ist das in Deutschland. Es war dann also ein langer Kampf: Sollten wir das Stück spielen, es wurde dreimal angesetzt zum Spielen, immer wieder wurde dann die Besetzung neu angedroht, bis dann der 9. November kam und der Oberbürgermeister nun in der Synagoge seine Rede halten mußte zum Gedenktag. Und das Stück war immer noch nicht abgesetzt! Und was machten sie nun? Der Oberbürgermeister sagte: ‚Kann ich morgen in die Synagoge gehen und vor der Jüdischen Gemeinde sagen, daß das Stück abgesetzt ist?‘ In Deutschland ist ja der Intendant eines Theaters ein freier Mensch in seiner künstlerischen Disposition, kein Mensch darf ihm reinreden, auch nicht die, die ihn angestellt haben. Das ist künstlerische Freiheit und im Grundgesetz ist die Freiheit der Kunst, Paragraph 5a, garantiert. Wenn er nun gesagt hätte ‚Ich verbiete das Stück‘, hätte er gegen diesen Grundsatz verstoßen. Ich konnte ihm auch nicht nachgeben, weil ich mich dann sozusagen einer Obrigkeit gebeugt hätte und meine Freiheit, die Freiheit der Kunst, nicht verteidigt hätte. Und für mich zählt das Stück immer noch zu den künstlerischen Äußerungen, die vom Paragraph 5a des Grundgesetzes gedeckt sind. Also mußte der Oberbürgermeister damals in die Synagoge gehen und es gab in der Synagoge auch wieder einen Aufruhr. Er sagte: ‚Ich bin gebunden, ich mag das Stück nicht, ich bin gegen die Aufführung, aber ich bin gebunden an dieses Grundgesetz und muß es verteidigen.‘ Er hat mir hinterher gesagt, es sei die schlimmste Stunde seines Lebens gewesen. Aber das war nun eine Entscheidung: Kunstfreiheit oder Nachgeben einer Pression. Die Folgerung war, daß wir nach dem 9. November das Stück abgesetzt haben, aus einem sehr einsichtigen Grund: Nicht, weil wir uns den Argumenten gebeugt hätten, sondern weil wir zwei Dinge erkannt haben. Einmal ist es bei den jüdischen Bürgern, die den Holocaust überlebt haben, nicht möglich, Sätze, die man auch Neofaschisten zuschreibt und aus einer neofaschistischen Gesinnung formuliert, auf diese Figuren zurückzufuhren, sondern sie nehmen sie als absolute Sätze. Sie klingen in ihrem Ohr und eine Relativierung durch die dramatische Figur ist nicht möglich. Das war ein unmittelbares Erlebnis für uns, daß wir hier sagten, das ist ja erstmal nicht überspringbar. Das war der eine Grund und dann

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gab es einen anderen. Natürlich war die Besetzung der Bühne und die Verhinderung einer Aufführung widerrechtlich, Hausfriedensbruch nennt man das in Deutschland. Ignatz Bubis hat auch gesagt ‚Ich habe das in Kauf genommen, weil ich andere Rechte verteidigen mußte‘, und die Folgen hätte er auch getragen. Die Alternative wäre gewesen, die Besetzer aus dem Haus zu führen und wegzuführen von der Polizei, das Haus zu räumen, damit die Aufführung zustande kommt. Das ist in den 60er Jahren, wenn die Studenten Theater besetzt hatten, wiederholt passiert. Nun aber die Frage: Was passiert, wenn deutsche Polizei jüdische Demonstranten aus dem Hause führt und vor dem Haus die Fernsehkameras der Welt stehen. Gegen diese Bilder können Sie gar nicht anargumentieren, die sprechen für sich und sind interpretierbar bis dorthinaus. Das heißt, allein die Tatsache, das Bestehen auf dem Recht zu spielen und das Haus zu räumen, hätte sozusagen ein Weltecho gehabt: ‚In Deutschland werden die Juden wieder abgeführt!‘ Das wäre dann ein politisches Faktum, das konnte man nicht auf sich nehmen und das waren schließlich die Gründe. Ich mußte Ihnen nur den Rahmen klar machen, in dem das Stück steht und warum es bis heute, 15 Jahre danach immer noch in Deutschland ein Stück ist, mit dem man sich beschäftigt, und die Teilnehmer und Zuhörer dieser Diskussion sind ja der beste Beweis dafür, daß das Thema noch nicht abgearbeitet ist. Es gab in der Diskussion um das Stück den Begriff, der heute überall noch im Gange ist, den der Normalität oder der Normalisierung. Können wir eine normale Beziehung zwischen den deutschen und den zurückgekehrten oder eingewanderten jüdischen Bürgern wieder herstellen. Und ein entscheidender Satz war damals in der Fernsehdiskussion, die unmittelbar vor der Aufführung stattfand, der Satz des stellvertretenden Präsidenten der Knesset, der herüber gekommen war: ‚Zwischen Deutschen und Juden gibt es keine Normalität.‘ Das war sozusagen ein Gebot oder eine (ja, wie soll ich sagen) Festlegung für die Zukunft. Man kann auch sagen, es war die Aufrechterhaltung eines Tabus, daß man den jüdischen Bürger, der heute in das normale Leben von Deutschland integriert ist, nicht ausstellen kann als einen Teil ihrer bürgerlichen Gesellschaft, sondern immer nur als das Opfer. Wir haben gestern hier über Tabori gesprochen und kamen da auf die Tabuverletzung und ob Tabori wirklich ein Tabu verletzt hat. ich glaube, es wird jetzt deutlicher, daß hier Tabuverletzung vorliegt. Nicht bei Tabori, der den Opferstatus immer wieder aufrecht erhalten hat, und ihn nur mit Humor unterläuft. Und das Wort ‚Normalität‘ ist heute immer wieder Diskussionsgegenstand – können wir eine Normalisierung herstellen?

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Der Jude von Frankfurt (eine Reportage)

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Frankfurt zittert vor einer Premiere: An diesem Donnerstag wird Rainer Werner Fassbinders Stück Der Müll, die Stadt und der Tod uraufgeführt. Ein zehn Jahre alter Streit treibt seinem Höhepunkt entgegen: War Fassbinder Antisemit? Ist sein Stück eine Verhöhnung der Opfer von Auschwitz? Darf man es aufführen? Und: Gibt es unter den Frankfurter Ganoven und Spekulanten auch Juden? Der Teufel ist los in Frankfurt am Main. Er ist Jude und hat keinen Namen. Keiner kennt ihn, aber manche haben ihn im Westend gesehen, als er alte Villen abriß und Hochhäuser an ihre Stelle setzte. Andere trafen ihn im Bahnhofsviertel, wo er Bordelle nach Regeln betrieb, die er im KZ gelernt hatte. Der Jude ist reich und zynisch. Er macht alles zu Geld. Er spukt in allen Köpfen herum, er beherrscht die Partygespräche, die Reden des Bürgermeisters und des Magistrats. Die Stadt fürchtet sich vor ihm. Die Kirchen beider Konfessionen wollen ihn bannen in einem gemeinsamen Gottesdienst. Der Auftritt des Juden soll am 31. Oktober stattfinden, im Kammerspiel der „Städtischen Bühnen“ zu Frankfurt am Main. Der Jude, den dieser Tage so viele Exorzisten bekämpfen, ist eine Theaterfigur in Rainer Werner Fassbinders Stück Der Müll, die Stadt und der Tod. Der Schauspieler Edgar M. Boehlke wird ihn spielen. Es ist nicht sicher, ob er ihn wird spielen können. Demonstrationen sind angekündigt, von der FDP und von der sogenannten ‚Damenriege‘, drei Frauen des Stadtparlaments, die seit Wochen Unterschriften sammeln. Jüdische Bürger wollen sich den Judenstern anheften und in KZ-Gewändern auftreten. Nach dem ökumenischen Gottesdienst im Dom soll ein Schweigemarsch zum Theater stattfinden. Die Stimmung ist gereizt. Denkbar, daß die Aufführung des Stücks darunter zusammenbricht. Ein großes Theater ist los in der Stadt, und noch hat der neue Intendant Günther Rühle die Spielzeit seines Theaters gar nicht eröffnet. Er sitzt im fünften Stock seines Hauses und sagt traurig: „Das geht unter die Haut.“ Er meint die Anwürfe, Anschuldigungen, Androhungen. Der Oberbürgermeister Walter Wallmann ist enttäuscht von seinem Intendanten und sagt: „Ich mißbillige die Aufführung des Fassbinder-Stücks.“ Der Kulturdezernent Hilmar Hoffmann befürchtet, „daß diese unselige literarische Hinterlassenschaft Fassbinders geeignet ist, den Aussöhnungsprozeß zwischen Juden und Nicht-Juden zu gefährden“. Die Jüdische Gemeinde Frankfurt protestiert. Das Jüdische Kulturforum Westberlin

1 Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Greiner.

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klagt gegen Rühle wegen „Volksverhetzung und Aufstachelung zum Rassenhaß“. Die Staatsanwaltschaft jedoch sagt, Fassbinders Werk habe Anspruch auf Kunstfreiheit. Der Streit um das Stück hat inzwischen jene Oberhitze erreicht, die über den ursprünglichen Anlaß hinweg zu gewaltigen Themen aufsteigt: die Bodenspekulation, die Juden, der Antisemitismus, der Linksfaschismus, die Zensur. Wer ist der Jude in diesem Stück, das gegenwärtig in Frankfurt gespielt wird? Sind es die Überlebenden von Auschwitz, die große Furcht haben vor altem Haß und neuer Hetze? Ist es der tote Fassbinder, der nachträglich zum Antisemiten ernannt wird? Ist es der arme Günther Rühle, dem seine Gegner unterstellen, nur Ruhmsucht könne ihn dazu bewegt haben, den Skandal zu riskieren? Heillos ist das Stimmengewirr. Noch hat keiner das Stück gesehen, kaum einer hat es gelesen, obwohl es keine fünfzig Buchseiten umfaßt. Viertausend Exemplare hat der Verlag der Autoren davon verkauft. Wenn von all denjenigen, die nun in Frankfurt erregt darüber diskutieren, nur jeder zweite das Buch gekauft hätte, die Auflage müßte in die Zigtausende gehen. In Fassbinders Stück gibt es eine Figur, die heißt ‚Der reiche Jude‘. Er sagt: Ich kaufe alte Häuser in dieser Stadt, reiße sie ab, baue neue, die verkaufe ich gut. Die Stadt schützt mich, das muß sie. Zudem bin ich Jude. Der Polizeipräsident ist mein Freund, was man so Freund nennt, der Bürgermeister lädt mich gern ein, auf die Stadtverordneten kann ich zählen. Gewiß – keiner schätzt das besonders, was er da zuläßt, aber der Plan ist nicht meiner, der war da, ehe ich kam. Es muß mir egal sein, ob Kinder weinen, ob Alte, Gebrechliche leiden. Es muß mir egal sein. Und das Wutgeheul mancher, das überhör ich ganz einfach. Was soll ich auch sonst. Mit schlechtem Gewissen mir Krankheiten auf den Buckel laden? Die Krätze oder die Pest? Ich glaube an Gott, aber an die Gerechtigkeit zwischen den Mauern? Soll meine Seele geradestehen für die Beschlüsse anderer, die ich nur ausführe mit dem Profit, den ich brauche, um mir das leisten zu können, was ich brauche. Was brauch ich? Brauche, brauche – seltsam, wenn man ein Wort ganz oft sagt, verliert es den Sinn, den es ohnehin nur zufällig hat. Die Stadt braucht den skrupellosen Geschäftsmann, der ihr ermöglicht, sich zu verändern.

Jeder in Frankfurt, und das erklärt zum Teil die jetzige Wut, weiß, wovon Fassbinder hier spricht. Es ist der Sumpf vergangener Jahrzehnte, über den man die fadenscheinige Decke des neuen, schönen Frankfurt gebreitet hat. Damals, vor etwa fünfzehn Jahren, begann die Zerstörung des Westends, des vornehmsten Wohnviertels von Frankfurt. Hier haben vor ihrer Vertreibung viele Juden gewohnt, in großbürgerlichen Villen und schönen alten Mietshäusern. Die Stadt des Wirtschaftswunders platzte aus den Nähten, suchte neues Gelände – und gab das Westend preis. Eine hemmungslose, von einer fortschrittswütigen SPD favorisierte Bodenspekulation setzte ein. Die Banken finanzierten Immobilienhaie, die ganze Blocks ‚entmieteten‘ und abrissen. Ich erinnere mich zweier Schulkameraden, die zum Abitur eine kunsthistorische Dokumentation des Ju-

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gendstils im Westend anfertigten. Von dem, was sie damals, 1964, photographierten, ist heute nur noch ein Bruchteil übrig. Zu jener Zeit konnte man in der Straßenbahn, die über die Bockenheimer Landstraße an den Baggern und Baugruben vorbeifuhr, Leute murren hören: „Die Judde sin widder da!“, und auf den Bauzäunen waren manchmal antisemitische Parolen zu lesen. Namen wie Josef Buchmann, Ali Selmi und Bubis wurden bekannt. Als im Selmi-Hochhaus am Platz der Republik ein Feuer ausbrach, standen die Leute und freuten sich, daß dem Juden das Haus abbrannte. Noch heute trifft man Frankfurter, die Selmi für einen Juden halten, was er nicht ist. Zum allgemeinen Zorn trug bei, daß das Westend offiziell immer noch ein Wohnviertel war. Für den Bau von Bürohochhäusern brauchte man Ausnahmegenehmigungen. Deren Erteilung bewegte sich in der Regel zwischen Kuhhandel und Korruption. Als der Filmemacher Alexander Kluge, der damals noch in der Schumannstraße wohnte, mit seiner Kamera die Straßenkämpfe festhalten wollte, die um die Häuser Schumannstraße/Ecke Bockenheimer tobten, wurde er von der Polizei gewaltsam daran gehindert. Zeugen dessen, was im Westend passierte, waren seinerzeit ebenso unbeliebt wie heute. Die besetzten Häuser an der Schumannstraße, die dann geräumt und abgerissen wurden, gehörten Ignatz Bubis. Auf die Frage, wie reich Bubis sei, sagten manche: „Noch viel reicher.“ Bubis ist heute Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. Meinen Vorschlag zu einem Gespräch akzeptiert er sofort. Es ist Sonntagnachmittag, und mein Weg zu Bubis führt mich an der jüdischen Synagoge vorbei. Das gewaltige, massige Gebäude macht einen düsteren Eindruck. Das ursprüngliche Hauptportal ist mit schweren Gittertoren verriegelt und sieht aus, als wäre es nie benutzt worden. An drei Seiten der Synagoge sind Überwachungskameras, Scheinwerfer und Spiegel montiert, Gitter hängen vor den Fenstern. Der Belagerungszustand wirkt um so gespenstischer, als an diesem stillen Herbsttag das Viertel nahezu tot ist. Weiter unten in derselben Straße hat Bubis sein Büro. Die Rolläden sind verschlossen, aber schließlich ist es Sonntag. Bubis kommt gerade von einer Sitzung des Zentralrates der Juden in Deutschland. Heute gibt es 30 000 Juden in der Bundesrepublik. So viele waren es vor dem Holocaust allein in Frankfurt. Bubis geht unschlüssig durch die Räume seines Büros, weil auf allen Schreibtischen Berge von Papieren liegen, und führt mich schließlich in eine Art Besuchszimmer, an dessen einer Wand das mannshohe Photo eines Hochhauses steht. Es handelt sich dabei, wie er auf meine Frage hin erläutert, um das Modell jenes Bürogebäudes, das er damals auf dem umkämpften Grundstück an der Schumannstraße errichten wollte. Daraus wurde nichts. Anfang der siebziger Jahre kam der Konjunktureinbruch, und auch im Westend gab es überschüssigen Büroraum.   

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„Ich bin kein Abenteurer“, sagt Ignatz Bubis, „ich baue kein Haus, wenn ich nicht vorher Mietverträge abgeschlossen habe.“ Er verkaufte das Gelände. Zur Zeit wird dort ein Gebäude der Kreditanstalt für Wiederaufbau hochgezogen. „Die gehört dem Bund“, sagt Bubis, um mir klarzumachen, daß es nicht hauptsächlich die Juden sind, die Bodenspekulation betreiben. Er zählt mir der Reihe nach die Hochhäuser an der Bockenheimer Landstraße auf und nennt die Besitzer. Keiner davon ist Jude. Aber er gibt zu: „Wenn von den etwa hundert Großspekulanten zehn oder zwanzig Juden sind, dann ist das ein hoher Prozentsatz.“ Der Name von Bubis ist damals in antisemitischen Parolen aufgetaucht. Ich frage ihn, ob er sich als Opfer vorkomme – oder andernfalls als Täter, der zur Zerstörung des Westends sein Teil beigetragen habe. „Ich fühle mich weder als Täter noch als Opfer“, sagt er, „ich bin kein Stadtplaner. Die Stadt hat das alles gewollt. Der damalige Leiter des Stadtplanungsamtes sagte mir, wenn Sie dreitausend Quadratmeter zusammenkriegen, kriegen Sie eine Ausnahmegenehmigung.“ Also sorgte Bubis dafür, daß dreitausend Quadratmeter zusammenkamen. Glaubt Bubis, daß seinerzeit alles auf rechtliche Weise zugegangen ist? Da sieht er mich fast erstaunt an und sagt: „Nein.“ Es habe ja nie einen Bebauungsplan für das Westend gegeben.

Peinlich und faszinierend Die jüdische Journalistin Irene Dische veröffentlichte 1981 in der Zeitschrift TransAtlantik eine Reportage über „Die reichen Juden in Deutschland“. Darin heißt es: Die neuen reichen Juden von Frankfurt waren wieder die klassischen Mittelsmänner: Sie erledigten die Schmutzarbeit für die Stadt und die Banken, die von ihrer Bereitschaft profitierten, die schlechte Publicity und die finanziellen Risiken auf sich zu nehmen. Man fand die Juden peinlich und faszinierend. Man hatte irgendwie gedacht, daß die Juden vorsichtiger sein würden, um nicht wieder den alten Klischees zu entsprechen.

Irene Dische schildert die Lebensläufe einiger jüdischer Immobilienbesitzer in Frankfurt: „Sie sind eine bemerkenswert homogene Gruppe; sie alle sind polnischer Herkunft, und sie sind – mit ein oder zwei Ausnahmen – im Ghetto und im KZ aufgewachsen.“ Als Junge war Bubis Postbote im Ghetto gewesen. Später verdiente er sein Geld auf Schwarzmärkten in Dresden. Jene Fähigkeiten, die den KZ-Insassen das Überleben ermöglicht hatten, List und Ausdauer, dienten ihnen beim Aufstieg im Wirtschaftswunderland. Ich frage Bubis, ob er der Vermutung zustimme, die nach Frankfurt gekommenen Ostjuden hätten ihre Bodenspekulation aus unbewußter Rache betrieben. Er nennt das „absurd“. Den Verdacht, die Juden hätten einen „Auschwitz-Bonus“ gekriegt,

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findet er „lächerlich“. Nochmals betont er, daß er ganz im Interesse der Stadt gehandelt habe. Den Begriff ‚Spekulant‘ mag er wegen des abschätzigen Beigeschmacks nicht. Stattdessen schlägt er erstaunlicherweise das Wort „Konjunkturritter“ vor. „Als einen solchen habe ich mich immer betrachtet.“ Gegen Fassbinders Stück ist Bubis mit Entschiedenheit. Er findet es schlecht und antisemitisch. Die Figur des reichen Juden habe es bisher nur im Stürmer gegeben. War Fassbinder Antisemit? Das wisse er nicht. „Er muss es ja nicht gemerkt haben.“ Ob Bubis einen neuen Antisemitismus spüre? Dazu äußert er sich zurückhaltend. Es gebe wohl einen versteckten Antisemitismus. Darüber zu diskutieren, sei vielleicht nützlich. Aber: „Dazu braucht man das Stück nicht.“ Bubis, so ist mein Eindruck, will den Streit nicht eskalieren lassen. So war er zum Beispiel dagegen, Klage zu erheben. „Ich gehe davon aus, daß in vier Wochen kein Mensch mehr davon sprechen wird.“ „Ich bin froh, wenn das alles vorbei ist“, sagt Karlheinz Braun, Chef des Verlags der Autoren. Sein Büro, keine hundert Meter entfernt von der „Ignatz Bubis Unternehmensverwaltung“, befindet sich in einer der noch existierenden alten Villen des Westends. Wir blicken hinaus auf die andere Straßenseite in eine gigantische Baugrube. Dort stand früher, vor dem Krieg, die Villa der Familie Gontard, bei der Hölderlin Hauslehrer war. Ein holländischer Konzern errichtet an dieser Stelle ein neues Bürohochhaus. Der Müll, die Stadt und der Tod, sagt Braun, „das geht ja ununterbrochen weiter.“ Rühles Versuch, das Stück zu spielen, sei nunmehr der achte. 1975 hatte Fassbinder es geschrieben. Damals war er Leiter des „Theaters am Turm“. Die Aufführung scheiterte an den Mitbestimmungsstreitigkeiten im Ensemble. Es scheiterten zwei weitere Versuche am Städtischen Schauspiel unter der Intendanz von Peter Palitzsch. Es scheiterte ein vierter Versuch von Palitzsch selbst. Es scheiterten Wilfried Minks und Johannes Schaaf, es scheiterte Adolf Dresen, und im vergangenen Jahr scheiterte Ulrich Schwab, der Chef der Alten Oper, und wurde gekündigt. „Jetzt muß man das Stück spielen“, sagt Karlheinz Braun. Muß man das? Darf man das? Ist es heute, vierzig Jahre nach Auschwitz, in Deutschland erlaubt, eine jüdische Negativfigur auf die Bühne zu stellen? 1976 schrieb der Jüdische Pressedienst: Niemand sollte darüber erstaunt sein, daß wir Autoren wie Fassbinder, Verleger, die solche Stücke erscheinen lassen, und Theaterdirektoren, die dergleichen womöglich in ihre Spielpläne aufnehmen, nicht anders beurteilen als jene, die in der Vergangenheit furchtbares Unheil vorbereiten halfen. [Es sei] eine falsche Annahme, daß es bereits heute wieder möglich sein müsse, eine objektive Haltung zur Judenfrage und damit auch zu den negativen jüdischen Typen zu gewinnen; ja, daß sich die Unvoreingenommenheit gerade darin manifestiere, daß man es wieder wagen könne, Juden auch als abscheulich ins Rampenlicht zu stellen.

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Der Jüdische Pressedienst nennt dies einen „verhängnisvollen Fehlschluß“. Mir scheint, das ist ein Fehlschluß. Er führt zwangsläufig zu einem Denkverbot, was das Thema Juden betrifft. Über etwas nachzudenken und zu diskutieren, setzt die Erlaubnis voraus, auch das Negative denken und sagen zu können. Wenn über Juden nur Gutes gesagt werden darf, dann heißt das logischerweise, daß über sie nichts wirklich gesagt wird. Das war auch bislang der Fall. Es führte zu jenem Philosemitismus, der nichts bewirkt hat außer der Beruhigung eines schlechten Gewissens. Das Denkverbot fiel lange niemandem auf. Da es nach 1945 in Deutschland so gut wie keine Juden mehr gab, entfiel der Zwang, sich mit dem Thema konkret auseinanderzusetzen. Das änderte sich mit dem Antizionismus der Linken. Bis zum „Sechs-Tage-Krieg“ 1967 war die deutsche Linke dezidiert israelfreundlich gewesen. Zwischen dem SDS und den „Deutsch-Israelischen Studiengruppen“ gab es enge personelle Verflechtungen. Im Zusammenhang mit der Imperialismustheorie jedoch und einer wachsenden Kritik an der Rolle Amerikas sah die deutsche Linke in Israel den Vorposten imperialistischer Hegemonie, und die Palästinenser waren in ihren Augen die Entrechteten. Als der Suhrkamp Verlag 1976 Fassbinders Stück publizierte, behauptete Joachim Fest in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der linke Antizionismus sei in Wahrheit ein linker Antisemitismus, von dem seine Verfechter fälschlich dächten, er habe mit dem Judenhaß des Dritten Reiches nichts zu schaffen. „Das macht dem linken Antisemitismus das gute Gewissen.“ Der Begriff „Linksfaschismus“, schrieb Fest damals, sei bislang meist im polemischen und jedenfalls ungenauen Sinn verwendet worden. Der Fall Fassbinder jedoch decke die Sache, die mit „Linksfaschismus“ gemeint sei, aufs exakteste. Damit war die Kampagne gegen das Stück eröffnet. Der Historiker und Hitler-Biograph Joachim Fest ist seit Ende 1973 Mitherausgeber der FAZ. Bis Anfang dieses Jahres war Günther Rühle, nunmehr Intendant des Städtischen Schauspiels, Chef des Feuilletons unter Joachim Fest. Die Konstellation ist peinlich und wird von Fest auch so empfunden. Wir sitzen in seinem Redaktionszimmer im siebten Stock. Der Blick geht hinweg über die nordwestlichen Vororte Frankfurts bis hin zur Silhouette des Taunus. Die Wolkenkratzer der Banken, an denen überall in der Stadt das Auge sich fängt, sieht man hier nicht. „Ich habe Rühle gebeten, das Stück nicht zu spielen“, sagt Fest, „ich habe ihn gewarnt: Wenn Sie es machen, dann muß ich in der FAZ gegen Sie schreiben.“ Bislang sei die Zeitung überaus zurückhaltend gewesen, aber nun, da Rühle von seinem Vorhaben nicht ablasse, müsse die FAZ, also er selber, nochmals dagegen Stellung nehmen. Auch nach zweiter Lektüre empfinde er Fassbinders Stück als „erbärmlich schlecht“.

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Ein Dokument heftigen Hasses Mit diesem Urteil steht Fest nicht allein. Nahezu alle, die gegen die Aufführung sind, halten das Stück für schlecht. Es ist nicht immer leicht auszumachen, was zuerst da war: das literarische oder das ideologische Urteil. Und erstaunlich kommt mir vor, wie viele Leute, zu deren Angewohnheit es normalerweise nicht gehört, Theaterstücke zu lesen und zu beurteilen, plötzlich ganz sicher sind, Der Müll, die Stadt und der Tod tauge nichts. Der Theaterkritiker Joachim Kaiser schrieb damals in der Süddeutschen Zeitung: Es ist ein aus Angriffslust, Phantasie, surrealistischen und spätexpressionistischen Einsprengseln bestehendes, überhaupt nicht realistisches oder vernünftiges oder gar psychologisches Dokument wilder Verstörung, heftigsten Hasses auf alles und jeden. [Dies sei] kein Nebenwerk, sondern eins von Fassbinders aufregendsten, verstörendsten Stücken.

Der Regisseur Peter Zadek befand kürzlich in der ZEIT, das Stück sei „eines der schwächsten von Fassbinder“ und natürlich antisemitisch, gerade deshalb müsse es aufgeführt werden. Diese Position in dem ganzen Streit war die einzige, die bislang noch niemand eingenommen hatte, und vermutlich deshalb entschied sich Zadek für die bizarre Argumentation. Tatsache ist, daß Fassbinders Stück ein böser, brutaler Bilderbogen ist, der die Figuren nicht entwickelt, nicht ihre Motivation zeigt, sondern der sich gefällt in einer Orgie manchmal pubertärer Wut. Aber das Stück hat, trotz aller Schwächen, eine Intensität, die einiges aufzurühren vermag an Ängsten, Vorurteilen, unterdrückten Gefühlen, und es wirft ein grelles Licht auf jenen Sumpf, den es, was niemand bezweifelt, in Frankfurt auch gibt. Wer die Rezension des langjährigen Theaterkritikers der FAZ Günther Rühle in Erinnerung hat, wird sich über seine Entscheidung für Fassbinder nicht allzu sehr wundern. Denn das Theater war und ist für Rühle vor allem eine moralische Anstalt; was sich in der Gesellschaft an Zündstoff angesammelt hat, wird hier zur theatralischen Explosion gebracht. Für ihn war nie so sehr die literarische als vielmehr die existentielle und expressive Qualität eines Theatertextes entscheidend. Und die hat Fassbinders Stück zweifellos.

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Das Stück verletzt die Gefühle der Juden Aber um die Frage, wie gut das Stück eigentlich sei, geht es längst nicht mehr. Es geht darum, ob die Stadt diese Zumutung ertragen kann oder soll. Ich frage Joachim Fest, ob er eine Antisemitismusdiskussion für notwendig halte. „Wenn man gar keine anderen Sorgen hat…“ Es gebe in Deutschland nicht wirklich einen Antisemitismus, verglichen mit Österreich oder Frankreich. Aber weshalb soll dann Fassbinders Stück gefährlich sein? „Die Vorstellung, das Stück habe eine kathartische Funktion, ist der pure Wahnwitz. Es emotionalisiert ja nur, und es verletzt die Gefühle der Juden.“ Jüdische Mitbürger hätten ihm von Angstträumen berichtet, einer habe beschlossen, seinen Sohn in England studieren zu lassen. Sicherlich sei das eine hysterische Reaktion, aber wer habe das Recht, sich über solche Ängste hinwegzusetzen? „Ich verstehe Rühle nicht. Es ist unmenschlich, das zu tun. Jetzt noch könnte er davon zurücktreten, aber wahrscheinlich will er sein Gesicht nicht verlieren. Das ist das Argument aller schwachen Leute.“ „Der Rühle wird seine Probleme kriegen“, sagt Tom Koenigs, Mitglied der ‚Grünen‘ im Stadtparlament. Inmitten des mit Regalen, Bett und Schreibtisch vollgestopften Altbauzimmers plätschert ein ‚Feuchtbiotop‘, ein aus Steinen aufgeschichtetes Becken, das mit einer wasserdichten Plane ausgekleidet ist und in dem sich ein Fisch verstecken soll, den ich aber nicht ausfindig machen kann. Darüber breiten sich die mächtigen Fächer einer Kentia-Palme. Koenigs erzählt von der Plenarsitzung am 12. September, als Wallmann erneut seine massiven Einwände gegen Stück und Aufführung vortrug, zugleich aber an der Auffassung festhielt, Zensur dürfe nicht stattfinden. „Wie immer wandelte Wallmann über den Wassern“, spottet Koenigs. Nur einmal, als er davon gesprochen habe, das Stück zeichne „den reichen Juden in einem Umfeld von Zuhältern, Dirnen, korrupten, zwei Morde vertuschenden Polizeibeamten, Homosexuellen, Transvestiten und Schlägern“, da sei seine Stimme, aus Empörung vor so viel Schmutz, umgeschlagen. In der Tat: das Milieu, das Fassbinder darstellt, ist ziemlich genau jenes, das im Frankfurter Bahnhofsviertel vorherrscht und das Wallmann, um die Stadt vom Schandfleck zu befreien, beseitigen will. Auch Fest hatte seinerzeit zugegeben: „Zweifellos gibt es in dieser Stadt ein organisiertes Ganoventum jüdischer Herkunft, nicht anders als ein jugoslawisches, türkisches und vor allem, natürlich, ein deutsches.“ Dieses Ganoventum, in all seiner Grobheit, schildert Fassbinder auf grobe Weise. Verständlich, daß diejenigen, die das neue, schöne Frankfurt errichten, mit Springbrunnen, Alter Oper und Römerberg-Rekonstruktion, sich ungern daran erinnert sehen.

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„Alle hier haben Dreck am Stecken“, sagt Tom Koenigs, dem der ganze Streit eine Art Vergnügen zu bereiten scheint, „und jetzt wollen sie den Sack zumachen.“ Gab es einen Antisemitismus in der Häuserkampfbewegung der linken Studenten? „Nein“, antwortet Koenigs, „aber es gab eine Unempfindlichkeit diesem Thema gegenüber. Wir waren ganz einfach unwissend, und es war uns egal.“ Er erzählt, wie man damals ein Plakat an die Zäune geheftet habe: auf dem waren die Köpfe Frankfurter Spekulanten, darunter auch Juden, abgebildet, und dabei stand der Satz aus der italienischen Lotta-Continua-Bewegung: „Die Schweine von heute sind die Schinken von morgen.“ Einer der Betroffenen habe später dem linken Anwalt seine KZ-Nummer auf dem Arm gezeigt. Koenigs ist sehr ernst, als er zugibt: „Da war unsere Ignoranz zu weit gegangen.“ Ich frage ihn: „Soll man das Stück zeigen?“ Er fragt zurück: „Hilft das Nichtaufführen gegen den Antisemitismus?“ Es gebe die Bodenspekulation, das Bahnhofsviertel, die jüdischen Spekulanten. „Einer mußte die Rolle des Antisemiten spielen – das war Fassbinder.“ Fassbinder schrieb 1976 als Antwort auf Joachim Fest: Die Juden sind seit 1945 in Deutschland tabuisiert, was am Ende zurückschlagen muß, denn Tabus führen dazu, daß das Tabuisierte, Dunkle, Geheimnisvolle Angst macht und endlich Gegner findet. […] Und natürlich gibt es in diesem Stück auch Antisemiten, leider gibt es sie nicht nur in diesem Stück, sondern eben beispielsweise auch in Frankfurt.

Wieviele sind es? Das möchte Daniel Cohn-Bendit gerne wissen. Wir treffen uns im Haus der von ihm herausgegebenen linken Stadtzeitung Pflasterstrand. CohnBendit, Veteran des Pariser Mai, einer der Hauptakteure der linken Szene in Frankfurt, ist Jude: „Wenn dieser Antisemit in Fassbinders Stück sagt: ‚Sie haben vergessen, den reichen Juden zu vergasen‘ – dann möchte ich gerne wissen, wieviele klatschen.“ Natürlich gebe es Antisemitismus, auch linken Antisemitismus. Er findet die Kritik an Fassbinders Stück verlogen. „Man will die Juden in Watte packen.“ Daß es eine reale Angst unter Frankfurter Juden gebe, wolle er nicht leugnen. „Aber damit müssen sie sich auseinandersetzen.“ Müssen sie? Unter den fünftausend Juden in Frankfurt gibt es nur sehr wenige Frankfurter Juden. Die meisten sind aus dem Osten gekommen, haben auf ihrer Flucht Halt gemacht und sind einstweilen geblieben. Sie feiern ihre jüdischen Feste in New York oder Tel Aviv oder verborgen in der jüdischen Enklave Frankfurts. Sie sind, verglichen mit der ausgerotteten jüdischen Bourgeoisie Frankfurts, fremd in der Stadt. Sie sitzen, jedenfalls viele von ihnen, noch immer auf gepackten Koffern, und ihre Neigung, sich dem auszusetzen, was die Aufführung von Fassbinders Stück erzwingt, ist begreiflicherweise gering. Was ihnen angetan wurde, können sie nicht vergessen, und was ihnen jetzt angetan wird, macht ihnen Angst. Ich glaube allerdings, daß die gar nicht mehr zu besänftigen wäre,

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wenn man das Stück nicht aufführte. Denn die Gründe für diese Angst waren ja schon vor Fassbinder da. Nur hat man darüber geschwiegen. Und dies sollte inzwischen doch möglich sein: daß das Schweigen aufhört. „Es rumort in der Stadt“, sagt Günther Rühle. Er wirkt überarbeitet und müde. Er sei, sagt er, doch überrascht gewesen von der Vehemenz der Diskussion. „Wir dachten, wir könnten das kleiner halten.“ Ob er an der Richtigkeit seines Entschlusses gezweifelt habe? Bei manchen Beleidigungen habe er gedacht: „Mein Gott, steht das dafür.“ Rühle gibt sich einen Ruck und sagt dann: „Aber ich vertraue auf die Kraft der menschlichen Vernunft. Eine Stadt wie diese muß das ertragen können – eine Theaterfigur, die ja schließlich nur eine Theaterfigur ist und die besser ist als einige, die hier ihre Geschäfte machen.“ Ich frage ihn: „Glauben Sie, daß der Aufklärungseffekt größer sein wird als der Verstörungseffekt?“ Er antwortet: „Fassbinders Stück ist ja nicht aufklärerisch sondern verstörend. Aber oft ist Verstörung viel wichtiger.“ Spät abends stehe ich am Fenster meines Hotels und sehe, was ich all die Tage in Frankfurt sah, ohne es wahrzunehmen: das himmelhohe Triumvirat der drei größten Banken. Selbst in der Nacht noch werfen sie ihre Schatten. Ja, eine Stadt wie diese muß Fassbinder aushalten.

Eduard Beaucamp

Der deutsche Bilderstreit – zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung In meinem Beitrag möchte ich Ihnen von einem Streit erzählen, der das deutsche Kunstleben über die ganze Nachkriegszeit, also mittlerweile sechseinhalb Jahrzehnte begleitet, belastet, zeitweise zerrissen hat. Meine Streitgeschichte ist auf weiten Strecken ein Erfahrungsbericht. Ich habe fast alles, was ich erzähle, selbst erlebt und als Kunstkritiker auch kommentiert. Bei dem Bilderstreit handelt es sich um eine Art ästhetischen Bürgerkrieg, einen erbitterten, unversöhnlichen Streit um Ideologien, Mentalitäten, Stile, Auffassungen von Kunst in Deutschland. Man möchte meinen, dass sich die nationale Fehde zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung des geteilten Landes beruhigt und in die Geschichtsbücher verzogen hat. In der Tat schien manchmal die Zeit der krassesten Vorurteile und Beschimpfungen vorbei zu sein. Der Ruf der so andersartigen ostdeutschen Kunst, vor allem der Leipziger Schule, ist inzwischen bis in die letzten westlichen Winkel der Republik, ja über die Grenzen des Landes hinaus vorgedrungen. Die Neue Leipziger Schule, also die Kunst der zweiten und dritten Schülergeneration der Vaterfiguren Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke, genießt auf den internationalen Märkten sogar Weltruhm. Aus Leipzig kamen in den letzten Jahren sehr starke Kunst-Impulse. Einer der jüngeren Künstler, Neo Rauch, hat die Herzen der Sammler in aller Welt und die Hitlisten des Kommerzes erobert. Die heftigen Debatten flackerten nur noch am Rande auf. Seine Retrospektive in diesem Sommer, die sich auf München und Leipzig verteilte, zog eine Viertelmillion Besucher an. Die lange verachtete Kunst aus der DDR schien schon seit der großen, wohlabgewogenen Retrospektive der Berliner Nationalgalerie im Sommer 2003, der sich nach einigem Zögern sogar die Bundeskunsthalle in Bonn anschloss, einen musealen Filter passiert zu haben. Der Publikumszuspruch zu dieser Bilanz war in Berlin wider Erwarten immens. Die Schau wurde eine der erfolgreichsten in der Geschichte der Nationalgalerie. Man glaubte also, die Akten über den Kunstkrieg schließen zu dürfen. Doch die Freude war verfrüht. Vor wenigen Jahren, im Frühjahr 2009, entbrannte die alte Kontroverse noch einmal in überraschender Schärfe und Unversöhnlichkeit anlässlich einer Ausstellung zur Feier der Verfassung der Bundesrepublik im Berliner Gropiusbau, welche die Kunst aus dem Osten schroff und polemisch ausgrenzte. Und das jüngst wieder eröffnete, restaurierte Albertinum in Dresden

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marginalisiert die Malerei aus der DDR und feiert statt dessen mit Leihgaben in ganzen Saalfluchten die sattsam bekannten Stars aus dem Westen, die bereits die Museen der alten Bundesrepublik fast monopolistisch beherrschen und die westlichen Kunstmärkte abgegrast haben. Von den 600 Kunstobjekten, die das Albertinum aus der Zeit der DDR besitzt – sicher ist darunter, nicht anders als in den Westdepots, viel Füllmaterial –, fanden gerade einmal zwölf Werke die Gnade der lernunwilligen Westkuratoren. Hier hat sich die Ausgrenzung zur Eliminierung einer Kunstlandschaft gesteigert. Schauen wir zurück: Der Fall ist in der Kunstgeschichte einzigartig: Ein tiefschuldiges, zerrüttetes, kompromittiertes, kriegszerstörtes und zerteiltes Land gerät in zwei feindliche Machtsphären. Die beiden Teile werden gegeneinander aufgehetzt und entwickeln im Zuge ihrer geistigen und künstlerischen Aufrüstung zwei gegensätzliche Kulturen. Beide Teile berufen sich auf verschiedene Traditionen, Normen, Werte und Ziele. Der westliche Part glaubt sich auf der Seite der Freiheit, der Wahrheit, des Fortschritts und der Weltläufigkeit. Die Künstler im anderen Lager haben sich einem totalitären System zu fügen und mit einer Gesellschaftsideologie auseinander zu setzen. Sie müssen sich ihre Wege und trotzigen Selbstentwürfe zwischen Diktaten, Überzeugungen, Gängelungen, Anpassungen und Repressionen suchen. Über fast ein halbes Jahrhundert hatten sich beide deutschen Gesellschaften zwangsweise auseinandergelebt. Sie hassten, beschimpften und bekämpften sich. Dann kommt es zum Zusammenbruch der östlichen Diktatur, zur Wiedervereinigung beider Teile – und zum Zusammenprall der grundverschiedenen Kulturen. Auf keinem anderen Sektor war der Gegensatz so fundamental und erbittert wie auf dem der bildenden Kunst. Die Kunst war – im Osten heftiger und länger als im freiheitlichen Westen – als Waffe im ‚Wettbewerb der Systeme‘ ernst genommen und zur gegenseitigen Befehdung und Missionierung benutzt worden. Die DDR versuchte in ihren ersten rigiden Jahrzehnten, die Kunst für ihre Umerziehungs- und Agitationszwecke gefügig zu machen und verfolgte und vertrieb widerstrebende Künstler. Im Westen bestärkte das den tiefsitzenden Verdacht, dass alle erfolgreiche, womöglich repräsentative Kunst im Osten parteilich manipuliert, korrupt und unterwandert gewesen sei – frei und selbstbestimmt hingegen nur die der Emigranten und Dissidenten. Später tauchte im Westen selber die heikle Gegenthese auf, dass ‚die Weltsprache der Freiheit‘, also die abstrakte Kunst, als zentrales Idiom der internationalen Nachkriegsästhetik von amerikanischen Kulturagenten, ja von der CIA selbst infiltriert und gefördert worden sei. Hinzu kam die allzu pauschale, polemische These, dass die Westkunst ein Manipulationsprodukt des Kunstbetriebs und des Marktes sei. Doch nachdem seit der Wende so emsig im hässlichen Hinterhof der DDR-Kunst, vor allem nach den abscheulichen Stasi-Aktivitäten

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geforscht wurde, wäre es fairer Weise an der Zeit, auch einmal so manche Kulissen und Hintergründe der Westkunst zu erkunden. Die angelsächsische Forschung ist uns da weit voraus. Längst ist es da fester Wissensstand, dass die US-Politik, vor allem durch die CIA, im Kalten Krieg massiven Einfluss auf den westeuropäischen Kunstbetrieb nahm und alle vermeintlich antikommunistische Kunst, mithin vor allem die Freiheitshelden der Abstraktion, förderte. Nachzulesen ist das in dem gründlich recherchierten Buch der englischen Historikerin Frances Saunders über die CIA und die Kultur im Kalten Krieg (Who paid the piper? London 1999). Das Geld floss über amerikanische Stiftungen und Tarnorganisationen, die den rein kulturellen Charakter von Ausstellungen und Publikationen garantierten. Das vielgerühmte und zu Recht bewunderte New Yorker Museum of Modern Art war die zentrale Agentur dieser CIA-Kunstpolitik. Die europäischen Museumspioniere, welche die großen Protagonisten der New Yorker Schule, voran die abstrakten Expressionisten und Farbfeldmaler, entdeckten, wurden zum Teil, ohne sich dessen bewusst zu sein, Instrumente planmäßiger Kampagnen. Die politische Manipulation konnte aber die hohe Qualität der großen amerikanischen Maler nicht berühren – sowenig wie die SED- und Stasi-Politik auf Dauer das Werk der großen Künstler aus der DDR beschädigen konnte. Im geteilten Deutschland war die ganze Nachkriegszeit vom Bilderstreit beherrscht. Er kristallisierte sich in markanten Ereignissen. Da waren die beiden Dresdner ‚Deutschen Kunstausstellungen‘ von 1946 und 1948, deren erste, unmittelbar nach der Katastrophe, noch um Koexistenz und Überbrückung der Gegensätze bemüht war. Der Maler Hans Grundig, Kommunist und Widerstandskämpfer, der später auch stalinistischer Gleichschaltung widerstand, feierte die Interzonenschau, die ‚klärend über die Grenzen hinweg den Weg der Einheit Deutschlands zeigt‘. Er pries, wie wir es heute nicht besser könnten, den Pluralismus als ‚Ausdruck wirklicher Demokratie‘. Zwei Jahre später waren in Dresden die ‚gegenständlichen‘, darunter noch die bürgerlichen Maler aus den zwanziger Jahren, fast nur noch unter sich. Der Osten attackierte die Abstraktionen als ‚morbide Auswüchse des europäischen Kulturnihilismus‘, und der Westen polemisierte gegen das dumme ‚Abziehideal‘ und die ‚Sklavensprache‘ der Realisten. Fortan behauptete und stärkte jede Seite ihre Kunstanschauung durch aggressive Polarisierungen. Es gab manche Querverbindungen, auch Austausch und Begegnungen auf Nebenschauplätzen. Doch die Feindseligkeiten überwogen. Auch unverdächtige Realisten und Klassizisten hatten im Westen nur wenige Chancen. Man hielt hier so gut wie alle gegenständliche und figürliche Kunst für doppelt kompromittiert – durch den Nationalsozialismus wie dann durch den in den fünfziger Jahren rigoros verordneten ‚sozialistischen Realismus‘. Der Westen verstieg sich bisweilen im

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Übereifer. So brach um den Maler Karl Hofer in Westberlin ein heftiger Meinungsstreit aus. Der Westdeutsche Künstlerbund jurierte einmal sogar den Bildhauer Gerhard Marcks aus. Auf den Siedepunkten der giftigen Auseinandersetzung siedelten der Maler Oskar Nerlinger und die Bildhauer Gustav Seitz und Waldemar Grzimek von Westberlin in den Osten über. Doch kehrten die Plastiker nach Erfahrungen mit der schlimmen östlichen Intoleranz bald wieder zurück, nicht ohne tiefe Eindrücke in einer jüngeren Schülergeneration hinterlassen zu haben. Der westliche Blick auf die Kunst in der DDR war von früh an einseitig. Viele Realisten der zwanziger Jahre, nicht nur Altkommunisten, waren nach dem Krieg in den deutschen Osten zurückgekehrt. Der Maler Otto Dix verteidigte seine zwei deutschen Pässe, fand aber, wie Max Beckmann, Karl Hofer oder Oskar Kokoschka, unmittelbare Nachfolger nur im Osten. Widersprüche und Antagonismen machten immer schon Reiz, Dramatik und Reichtum deutscher Kunst aus. Spaltungen und Spannungen durchziehen seit der Reformation die ästhetische Moderne. Erinnert sei an radikale Antithesen innerhalb der Romantik – zwischen einer norddeutsch-protestantisch-pietistischen Landschaftskunst und dem katholisch-nazarenischen Historismus im Süden. Eine ähnliche Kluft spaltet später die Reihen der Expressionisten: die vitalistische ‚Brücke‘-Bewegung auf der einen Seite, die süddeutsche Neuromantik rund um den Blauen Reiter auf der anderen. In den zwanziger Jahren verschärfen sich die Gegensätze: irrationaler Dadaismus, rationale Bauhaus-Utopie und unerbittlicher Großstadt-Realismus, Otto Dix und Paul Klee, George Grosz und Oskar Schlemmer, Kurt Schwitters und Beckmann. Diese Gegensätze und ihre Koexistenz machen die ‚deutsche Moderne‘ aus. Und solche Antithesen lebten nach der gewaltsamen, nationalistischen Gleichschaltung der Kunst in der NS-Diktatur, im Gegenüber einer Ostkunst und einer Westkunst wieder auf. In der Tat ist der Gegensatz von Joseph Beuys (West) und Werner Tübke (Ost), von Emil Schumacher (West) und Wolfgang Mattheuer (Ost) kaum aufreizender als der zwischen den Gegenspielern der zwanziger Jahre. Bei aller Unvergleichbarkeit der politischen Verfassungen darf man sagen, dass beide deutschen Kunstmentalitäten in beiden deutschen Gesellschaften eine Heimat fanden und überlebten. Im Laufe der Jahrzehnte weichten manche Gegensätze auf. Im Umfeld der Kulturrevolte von 1968 regten sich auch im Westen, besonders in Westberlin, wieder realistisch-figürliche Tendenzen. Eine kritische Großstadtkunst lebte auf. Im Neoexpressionismus der achtziger Jahre näherte sich die deutsch-deutsche Künstlerjugend einander an. Auch hinter der ostdeutschen Alternative hatte sich immer eine größere Vielfalt, als es die Klischees ahnen ließen, verborgen. Das Regime begünstigte zweifellos einseitig realistische Tendenzen, es unterdrückte lange Abstrakte und Konstruktive, Phantasten und Manieristen, die ihre eigene Innerlichkeit kultivierten und auch gesamtdeutsche Beziehungen behaupteten.

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Die DDR forcierte schließlich eine ‚sozialistische Nationalkultur‘, doch diese Zwangsvorstellung widersprach so sehr den Realitäten, dass selbst offizielle Kunstgeschichten an regionalen Unterscheidungen festhielten, von Dresdner, Leipziger, Berliner oder Hallenser Schulen sprachen und sich dabei auf ältere Traditionen beriefen. Traditionalität und Regionalität ergaben sich zwangsweise, da sich die Künstler nicht mit der fortschreitenden ‚Weltkunst‘, vor allem einer westlichen, auseinandersetzen konnten und sich einer Sowjetisierung widersetzten. Das Weltbild der Ostdeutschen war zwangsläufig anders konditioniert als das avantgardistisch-westliche. Das Scheitern des Fortschritts und die Pervertierung der Utopie in der sozialistischen Diktatur prägten ihre Realität. Die Künstler waren auf sich selbst, die eigene Innerlichkeit, Phantasie und Geschichte angewiesen. Das Bewusstsein des Erbes schloss Künstler wie Adolph Menzel, die Käthe Kollwitz, Paul Klee und Beckmann, den Expressionismus und die Neue Sachlichkeit ein und führte im singulären Fall von Werner Tübke zurück bis in die Dürerzeit. Die Künstler nahmen die Auseinandersetzung mit dem offiziellen Menschen- und Weltbild an, sie unterliefen vielfach die Vorgaben und Erwartungen, sie widersprachen und entwickelten Gegenbilder. Sie stellten sich der Gegenwart oder wanderten in eine imaginäre Geschichtlichkeit aus und kommentierten die DDR-Wirklichkeit auf komplizierten Umwegen. Die Geschichte der Missverständnisse und polemischen Konfrontationen ist lang. Zum Eklat, der viele spätere Konflikte vorwegnahm, kam es 1977 bei einem ersten großen Auftritt der neuen Ostkunst auf dem Paradefestival der westlichen Avantgarden, auf der documenta in Kassel. Als Einsprengsel wurde ein Block mit 26 Werken von sechs Künstlern aus der DDR, darunter die inzwischen berühmten Leipziger Maler Bernhard Heisig, Mattheuer und Tübke, gezeigt. Exponierte West-Maler wie Georg Baselitz und Markus Lüpertz hingen ihre Bilder demonstrativ ab, um sie freilich später an anderer Stelle wieder aufzuhängen – angeblich aus Protest gegen die Ausschließung eines Bildes des Dissidenten und Künstlerfreundes Penck, das aber, wie die Veranstalter versicherten, aus Platzgründen nur ausgetauscht werden sollte: ein extremes Querformat gegen ein Hochformat. Als auf der Gegenseite die DDR-Funktionäre wegen der Konflikte den Rückzug ihrer Künstler erwogen, drohten die Leipziger Maler mit der Niederlegung ihrer Verbandsfunktionen. Die Ostkünstler, voran die drei prominenten Leipziger Reformmaler, waren längst documenta-reif, da sie mit ihren kritischen Werken seit Mitte der sechziger Jahre einen tiefen Umbruch in der DDR-Ästhetik eingeleitet hatten. Auf der Leipziger Bezirkskunst-Ausstellung von 1965 hatten sie Historien- und Parabelbilder voll hintergründiger kritischer Eigenwilligkeit vorgestellt – darunter Tübkes dritte Fassung der Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze, Mattheuers Kain und Abel und ein aufgewühltes Commune-Bild

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Heisigs –, Bilder, die Einsprüche der Obrigkeit und heftige Debatten provoziert hatten und mit Maßregelungen geahndet wurden. Mit solchen Werken überwand die ostdeutsche Kunst die verordnete Illustration, Propaganda und Agitation und alle eindimensionalen Bildformen. Diese Malerei entwickelte komplizierte Sprachformen und Bildkörper, die das kritische Reflektieren, das Erinnern, Zitieren und ausschweifende Phantasieren erlaubten. Die Öffnungen und Erweiterungen des Bildes machten es möglich, dass sich die Maler mit den Widersprüchen ihrer Umwelt auseinander setzten, dass sie eine aufreizend labile Subjektivität im Gegensatz zur Gesellschaft ins Spiel brachten und die Geschichte in die Malerei zurückholten. Aufgrund der Konflikte quittierten die Leipziger Maler mehrfach ihren Hochschuldienst oder schieden später, wie Mattheuer, ganz aus. Karriere machten sie erst in der poststalinistischen Honecker-Ära. Wichtig ist festzuhalten, dass beim Aufstieg Tübkes, Mattheuers und Heisigs ein kräftiger Schub aus dem Westen half. Noch 1968 waren sie nicht repräsentabel und nicht ‚reif‘ für den Export gewesen. In diesem Jahr war auf der Mathildenhöhe in Darmstadt ein großer Überblick zeitgenössischer ‚Menschenbilder‘ zu sehen: Die DDR entsandte getreue Künstler wie Fritz Cremer, Willi Neubert und Willi Sitte und hielt die kritischen Maler aus Leipzig noch zurück. Eine persönliche Erinnerung sei eingeschoben: Als ich 1968 als Kunstkritiker bei einem Messebesuch zum ersten Mal die Ateliers von Heisig und Tübke besuchte, bat mich Tübke dringend, seinen Namen in der Zeitung nicht zu erwähnen: Das könne ihm größte Schwierigkeiten machen. Nach der Wende kam die Legende in Umlauf, dass sich besonders der Erfolg der Leipziger im Westen einer Kollaboration westlicher Händler, Kritiker, Sammler und Unternehmer mit der DDR-Obrigkeit und dem staatlichen Kunsthandel verdanke und der Westen der SED-Ästhetik damit auf den Leim gegangen sei. Solche Gerüchte stellten die Fakten auf den Kopf. Auf eigene Faust entdeckten nämlich zunächst Kritiker und Händler – voran der Italiener Emilio Bertonati, später in großem Stil Dieter Brusberg – diese Künstler seit den späten sechziger Jahren und stärkten ihnen gegen die dominante Partei- und Staatslinie den Rücken. Die Künstler werden erst zu bevorzugten Repräsentanten, als das Regime merkte, dass sie im Westen gute Figur machten und das Ansehen und die Anerkennung der DDR – die viel beredeten Devisen waren eher ein Nebeneffekt – förderten. Den Durchbruch im Ausland schaffte 1971 eine vielbeachtete, auch kommerziell erfolgreiche Ausstellungstournee Tübkes durch fünf italienische Städte von Mailand über Florenz nach Rom, organisiert von Bertonatis Galleria del Levante. Von Schmusekurs und Kollaboration kann nicht die Rede sein. Als ich im Frühjahr 1972 in der F.A.Z. anlässlich einer Leipziger Bezirksausstellung endlich meiner Begeisterung über die neue Leipziger Schule freien Lauf lassen konnte,

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von einem ‚Kunstwunder‘ und der Vergleichbarkeit und Gleichrangigkeit dieser Kunst mit westlichen Strömungen sprach, folgte im Herbst des gleichen Jahres eine harsche Antwort und Zurechtweisung in der Leipziger Volkszeitung. Das offiziöse Manifest, unterzeichnet von meinen bewunderten Protagonisten Heisig, Mattheuer, Tübke, verwahrte sich energisch gegen jede westliche Einmischung und gegen Vergleiche mit westlichen Realismen: Das Lob sei ein getarnter Versuch, die DDR-Kunst zu unterminieren, die Künstler abzuwerben und in den Westen zu ziehen. Hinter diesem Artikel, der mich nicht sonderlich kränkte, verspürte man parteiliche Nötigung. Hinfort wartete ich, bis die Künstler in den Westen reisten und so etwa 1977 auf der erwähnten Kasseler documenta oder, ein Jahr später, in der Bremer Galerie von Michael Hertz ausstellen konnten. Die tonangebenden Kunstkreise der Bundesrepublik und ihre Künstler wollten die veränderte Qualität und die Metamorphosen der Ostkunst aber nicht zur Kenntnis nehmen. Viele halten bis heute am Totschlag-Argument der ‚Staatskunst‘ fest. Das Meiste im schwierigen, verkrampften und undankbaren Kunstdialog und für die Anerkennung einer anderen deutschen Kunst (darüber hinaus für die Nachkriegsästhetik Osteuropas) tat der rheinische Sammler Peter Ludwig. Er war als Sammler mittelalterlicher Kunst bekannt, als Bahnbrecher der amerikanischen Pop-Art berühmt geworden. In seinen vielen kühnen Kampagnen etablierte er eine aufsehenerregende Abteilung moderner Kunst zwischen Pablo Picasso und Andy Warhol 1977 in der Ostberliner Nationalgalerie und schuf damit – nach der Sammlung vorwiegend konkreter Kunst im Museum von Łódź – einen Stützpunkt auch jüngster Westkunst im ,Ostblock‘. Die Ausstrahlung war enorm und hinterließ bald Spuren in der ostdeutschen Produktion. Im Gegenzug erwarb Ludwig im Lauf der Jahre rund sechshundert Werke der DDR-Kunst und verankerte sie in seinen Vertragsmuseen in Oberhausen, Aachen und Saarlouis. 1991 initiierte Peter Ludwig in Aachen ein Forum, das auf Dauer nicht nur deutsch-deutsche Kunst, sondern auch russische, chinesische, bulgarische, kubanische und amerikanische Produktionen zusammenführte. Mitten im deutschen Bilderstreit wollte Ludwig ausdrücklich nicht zwischen offizieller und dissidentischer Kunst unterscheiden: Er erwarb also Gerhard Altenbourg ebenso wie Sitte, Penck wie Mattheuer. In höchst kühnen Kampagnen exportierte er sogar deutsch-deutsche Kunst in seine Museumsstiftungen in Wien, Budapest, St. Petersburg und schließlich nach Peking. Ludwig ‚bedauerte unendlich‘, so noch 1988, dass er in sein zentrales Sammlungsmuseum, das Museum Ludwig in Köln, kein einziges Werk aus der DDR platzieren konnte. Das wurde erst in der Ära von Marc Scheps als Direktor möglich, einem Israeli, der seinen Blick auf die Qualität von Kunst richtete. Nach seinem Ausscheiden verschwanden die hervorragenden Bilder der Ostdeutschen auf Nimmerwiedersehen wieder im Depot.

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Der institutionalisierte Ausstellungs- und Museumsbetrieb verhielt sich fortan zwar zeitweise nicht mehr ganz so feindselig, aber immer noch deutlich reserviert in diesem Bilderstreit. Einige der ohnehin spärlichen Sympathisanten fielen nach 1989 um und änderten über Nacht ihre Meinung. Manchmal waren die Ablehnungen kurios und irrational. So hatte Werner Hofmann als erster für die Hamburger Kunsthalle bereits 1975 bedeutende Werke der Leipziger Malerei erworben; sie verschwanden unter seinem Nachfolger, der sich zuvor als Leiter des Hamburger Kunstvereins mit Nachdruck für Kunst aus der DDR engagiert hatte, nach der Wende sang- und klanglos im Depot. Manchmal ergaben sich seltsame Wechselverhältnisse: Der im Osten lange Zeit bedrängte und bespitzelte Altenbourg wurde in den siebziger Jahren Mitglied der Westberliner Akademie der Künste, Horst Janssen und Alfred Hrdlicka dagegen ließen sich aus Trotz gegen den avantgardistischen Dogmatismus und die repressive Fortschrittsideologie im Westen als Mitglieder in das Ostberliner Pendant aufnehmen. Passionierte Liebhaber und Verteidiger waren im Westen Personen mit historischer Erfahrung und souveränem Status, darunter Peter Beckmann, Sohn des Malers, der in Heisig den legitimen Nachfolger seines Vaters sah, Günter Grass, Helmut Schmidt, der sein offizielles Kanzler-Porträt Heisig anvertraute, Golo Mann, Joachim Fest, Henri Nannen, Bernhard Sprengel. Richard von Weizsäcker zeigte in seiner Amtszeit als Bundespräsident neben Westwerken demonstrativ auch Bilder von Tübke, Heisig und Mattheuer im Berliner Schloss Bellevue. Als die Mauer fiel, freuten sich die Liebhaber auf eine Wiedervereinigung der beiden Teilkünste. In naiver Verblendung versprach man sich von einem nun unbehinderten Vergleich und Wettbewerb den Ausbruch eines neuen Kunstfrühlings, womöglich sogar eine kontroverse schöpferische Wiederbelebung im Geist der zwanziger Jahre. Leider kam aber alles ganz anders. Die Ostkünstler liefen in die offenen Messer ihrer Westkollegen und eines rücksichtslos-kommerziellen Kunstbetriebs, der plötzlich die politische Moral entdeckte und auf einem ‚Fortschrittsmonopol‘ bestand. Es ist höchst sonderbar: Die Kunstszene, die sich viel darauf zugute hält, im Jahrhundert der Moderne den Moralismus überwunden zu haben und die in ihren eigenen Manövern und Vernetzungen höchst undurchsichtig und skrupellos operiert, insistierte plötzlich auf politisch-moralischer Korrektheit der Kunst. Einen Vorgeschmack der ausbrechenden Feindseligkeiten hatte 1986 die Reaktion auf die Übersiedlung des Leipziger Malers Volker Stelzmann in den Westen gegeben, eines kraftvollen Vertreters der zweiten Generation der Leipziger Schule. Als er zwei Jahre später als Lehrer an die Westberliner Kunsthochschule berufen wurde, kündigte ein empörter Kollege, Georg Baselitz, seine Professur. Prominente Kollegen schlossen sich seinem Protest an. Nach dem Mauerfall sollten sich die Feindseligkeiten verschärfen. Es hagelte nun Beschimpfungen und Beschuldigungen. Wieder waren westdeutsche Maler-

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fürsten Wortführer der Fronde. Im Osten klagten nun Künstler-Dissidenten ihre angeblich staatstragenden Lehrer an. Heftig brachen Generationskonflikte auf. Es hieß nun, es habe in der DDR nur nicht-autonome, gegängelte, parteiliche Kunst, mithin nur Unkunst gegeben. Der großsprecherische Baselitz erklärte sie öffentlich für ‚null und nichtig‘. Die wirkliche Malerei aus Ostdeutschland, so hieß es nicht eben uneigennützig und in grotesker Selbstüberschätzung, sei die der Emigranten. Die westlichen Sympathisanten der großen Ostkünstler wurden gleich mit verdächtigt und beleidigt. Es ging bei alledem um die Verteidigung handfester Interessen. Der Kunstbetrieb, die Museen, Ausstellungsinstitute und Märkte mauerten einträchtig – übrigens stärker als die späte DDR, die seit 1977 mit der Ludwig-Leihgabe in ihrer Nationalgalerie eine Enklave westlicher Kunst akzeptiert und größere Tourneen mit Kunst des ‚Klassenfeindes‘, darunter eine Beuys-Ausstellung, ins Land gelassen hatte. Im Hochgefühl ästhetischer und moralischer Überlegenheit zog die bundesrepublikanische Szene über die ostdeutschen Kollegen her und walzte alles nieder, was sie nicht kannte, verstand und interessierte und was sie jahrzehntelang nicht hatte wahrnehmen wollen. Moralische, politische, ästhetische Urteile wogten in der Debatte wild durcheinander und ließen den Neuankömmlingen keine Chance. Der Spießrutenlauf war gnadenlos: War das Werk ‚modern‘, fand man politische oder moralische Makel. Waren Urheber und Werk moralisch oder politisch makellos, hatte man ästhetische Bedenken, hielt die Kunst für anachronistisch, monströs und dem westlichen Fortschrittsstandard nicht für angemessen. Der Konflikt legte krass die intellektuelle Provinzialität des Westens offen: Geduldet wird das angepasste, ergebene Spiegelbild westlicher Kunst, das nicht durch Andersartigkeit irritiert. Die wenigen, die sich dem Boykott nicht anschlossen, bekamen das zu spüren. Peter Ludwig sprach nun offen, auch in Bezug auf seine Vertragsmuseen, von mutwilliger ‚Aussperrung‘ der Ostkunst und wurde daraufhin von Westkünstlern grob angegriffen. Ludwig und andere Freunde ostdeutscher Kunst, so sekundierten bald darauf ehemalige Dissidenten in Kompendien über die Winkelzüge und Machenschaften der DDR-Kulturpolitik, die aus DDR-internen Quellen, darunter den Stasi-Akten, schöpften, seien der Hof- und Funktionärskunst der DDR, damit der falschen Kunst, aufgesessen. Damit wurden, wie schon dargelegt, die Fakten verdreht. In Ludwigs riesigem OstkunstBestand sind, das wurde nicht gewürdigt, viele Unliebsame und Randständige aufgenommen. Sein Engagement schützte nachweislich viele Künstler. Um Repressalien abzuwehren – das ist in den Akten nachzulesen –, beriefen sich Künstler auf den Mäzen. Die westlichen Ostkunst-Kampagnen haben vor 1989 die DDR-Szene geöffnet und liberalisiert und gerade auch den Dissidenten Publikum, Markt und Reputation im Westen verschafft.

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Auf Berlin und die Nationalgalerie kam nach der Wende die zentrale Vermittlungsaufgabe zu. Die Westberliner Nationalgalerie hatte sich vor 1989 für die ostdeutsche Kunst nicht zuständig gefühlt. Ein Ankauf wie der von Heisigs Bild Ardennenschlacht durch den Direktor Dieter Honisch blieb eine Ausnahme. Hier hing man lange der Insel-Situation der Nachkiegszeit und dem Traum vom riskanten Vorposten reiner, autonomer Westkunst an. Umso bemerkenswerter war dann die so entschlossene wie behutsame Umorientierung. 1993 war die Fusion beider Nationalgalerien und ihrer Bestände vollzogen. In die zeitgenössischen Partien waren sechzehn ostdeutsche Künstler einbezogen. Die Präsentation einer wiedervereinigten Moderne war von der Kunstkritik begrüßt worden. Beim Westberliner Establishment, voran in der Politik, wuchs aber der Unmut. Er konzentrierte sich auf Sitte und die Leipziger Figurenmaler. Nach Monaten entlud sich die Empörung in einer eigens anberaumten ‚Anhörung‘ im Berliner Abgeordnetenhaus. Der Vorwurf wurde laut – das ist in Statements und Protokollen nachzulesen –, die Nationalgalerie habe sich in eine Parteischule verwandelt. Staatskunst und Kunstdoktrin der DDR seien hier in der neuen Präsentation zementiert und die Gegenpositionen unterdrückt. Auch hier tauchte wieder der Vorwurf politisch funktionalisierter Unkunst auf, die man mit westlichen Werken nicht auf die gleiche Stufe stellen dürfe. Konservative Biedermänner machten sich sogar Sorge, die skandalöse DDR-Kunst könne Berlins guten Ruf in der westlichen Welt gefährden. Ein stellvertretender Fraktionsvorsitzender erklärte, Politik habe sich zwar prinzipiell aus einer Museumspräsentation herauszuhalten, doch bei ‚Propaganda- und Auftragskunst der totalitären Systeme‘, die ‚keinen Anspruch auf öffentliche Akzeptanz‘ habe, sei sie zur ‚Prüfungsverantwortung‘ verpflichtet. Die Nationalgalerie blieb trotz einiger Modifikationen dem Vereinigungskonzept treu und zeigte im Zyklus ihrer Szenenwechsel immer wieder Meisterwerke der DDR-Kunst. In der Jahrhundertausstellung deutscher Kunst (1999/2000) hatte Peter-Klaus Schuster sogar den Mut, Ernst Wilhelm Nay und Sitte als Antipoden der beiden deutschen Kunstentwicklungen auf offener Bühne zu konfrontieren. Dass es im Leipziger Museum nicht zum Bildersturm kam, war dem Qualitätsgefühl und der Souveränität seines Nach-Wende-Direktors Herwig Guratzsch zu verdanken, einst selbst Opfer der DDR-Repression, der Bedeutung und Eigenwillen der Leipziger Malerei respektierte und ihren Platz im Museum verteidigte. Und während die überaus effektive, schöpferische Leipziger Kunsthochschule westlicherseits als ‚Kaderschmiede von Kunstdoktrinen‘ geschmäht wurde und nach progressiven Allerweltsrezepturen umgekrempelt werden sollte, zog 1997 in Nürnberg und Leipzig die Schau Lust und Last eine imponierende Leistungsbilanz der Leipziger Talentschmiede aus fünfzig Jahren, welche die großen Lehrer und ihre dissidentischen Schüler friedlich vereinte.

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In der DDR spielte das Auftragswesen eine dem ‚Markt‘ im Westen vergleichbare Rolle. Während wir auf eine durchdringende Analyse westlicher Marktmacht, ihrer Mechanismen und Seilschaften weiter warten müssen, klärte das Deutsche Historische Museum in Berlin 1995 fair und differenziert über die östliche Auftragskunst, ihre populistischen Propaganda-Produkte, über den Opportunismus der Künstler, aber auch über ihre listenreichen Meisterleistungen auf – ein spannendes Studienfeld für die ästhetische Verhaltensforschung. Die Auftragskunst war hochverwickelt, aber führte auch, so lernte man, einen teils subtilen, teils energischen und erfolgreichen Stellungskrieg. Die Künstler fügten sich Vorgaben und Erwartungen, sie behandelten die bestellten Historiensujets vom Bauernkrieg bis zum Antifaschismus oder lieferten Phantasiebilder von Brigaden und Festakten. Sie aktualisierten die mythologische, historische, allegorische Herrschaftsikonographie, aber arbeiteten alle diese Motive auch hartnäckig um. So verhöhnten sie vulgäre Brigaden, aristokratisierten ironisch das Proletariat, verschlüsselten die simplen Sujets, emigrierten in die Vergangenheit, unterwanderten oder sublimierten die Gegenwart und diagnostizierten früh den Untergang der DDR-Gesellschaft, wo eigentlich ihr Fortschritt und ihr Sieg gefeiert werden sollten. Das Auftragswesen reichte bis tief in Kreise ‚inoffizieller Kunst‘. Nicht dass ein Auftrag vorliegt, sondern wie damit umgegangen und was daraus gemacht wurde, ist von kunstkritischem Interesse. Nach dem Mauerfall gingen acht Jahre ins Land, bis sich endlich die Berliner Festwochen im Gropius-Bau unter dem Titel Deutschlandbilder dem Thema ‚Kunst aus einem geteilten Land‘ widmeten. Auch diese zweifellos eindrucksvolle Schau blieb westlich geprägt und dominiert. Sie war bemüht, den eingespielten Wertekanon der Nachkriegskunst und den Kult ihrer Säulenheiligen nicht zu verletzen. Die bedeutende Historienmalerei der Ostdeutschen, die eben nicht wie ihre Westkollegen nach 1945 am liebsten in eine imaginäre Natur- oder Vorgeschichte ausgestiegen waren, sondern für die nationalen Katastrophen nach Spiegelungen und Erklärungen in den Glaubenskriegen und in gesellschaftlichen Konflikten, ferner in Bibel und Mythologie suchten, wurde nur halbherzig und in kleinen Formaten akzeptiert. Vor Cremer und Sitte schreckten die Veranstalter zurück. An der Explosion von Deutschlandbildern in den beiden letzten DDR-Jahrzehnten (bei Heisig, Tübke, Mattheuer, Stelzmann) ging die Schau achtlos vorbei. Es fehlt bis heute – siehe Dresden – nicht an Versuchen, die Vereinigung von zweierlei deutscher Kunst rückgängig zu machen und zum Kalten Krieg zurückzukehren. Im Sommer 1999 kam es in Weimar zu einem Eklat. Die weitgespannte Ausstellung Aufstieg und Fall der Moderne bündelte die Malerei aus der DDR kurzerhand mit der Produktion aus der NS-Zeit und verfrachtete beide ausgerechnet in die einstige nationalsozialistische ‚Halle der Volksgemeinschaft‘ am früheren ‚Gauforum‘. In liebloser, wüster Inszenierung wurde die Kunst aus der DDR

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kollektiv als Untergangsphänomen abgefertigt und in eine Entsorgungsperspektive gerückt. Die Empörung der Betroffenen war groß. Einige Künstler erzwangen die Herausgabe ihrer Bilder und eine Umhängung der Ausstellung. Es kam sogar zur gerichtlichen Auseinandersetzung über die Grenzen der Ausstellungsfreiheit und die Rechte der Künstler, die in zweiter Instanz mit einem Vergleich endete. Schließlich wurde die Schau vorzeitig abgebrochen. Westliche Kuratoren hatten in Weimar ein Exempel statuieren wollen: Sie wollten die Kunst aus zwei deutschen Diktaturen der gleichen Modernitätsfeindschaft überführen. Doch die Rechnung ging nicht auf. Die hohle, modrig-akademische, alles andere als verführerische NSMalerei richtete sich selbst. Die DDR-Malerei behauptete dagegen ihre Eigenständigkeit. Sie wirkte bizarr, unruhig, vielfältig und zerrissen, kurz, weit entfernt von jedem Einheits- und Zwangsstil. So war der Nebeneffekt der Weimarer Darbietung eigentlich eine Aufforderung zum genaueren Hinsehen und zu mehr Toleranz. Große Aufregung gab es 1998 beim Wettbewerb um die Auftragskunst für den neuen Bundestag im umgebauten Reichstag. Wer soll, wer darf ins gesamtdeutsche Berliner Parlament? Unstrittig waren die westlichen Paradekünstler. Zu Recht wurden aus dem Osten Dissidenten und Halbdissidenten berücksichtigt. Aber durfte man die geschichtsschweren Leipziger Historien- und Parabelmaler übergehen, die sich mehr als alle anderen mit der Tragödie deutscher Geschichte befasst und um ihre Erhellung und Deutung gerungen hatten? Nach viel bösem Gerangel durfte Heisig eine hochdramatische Geschichtsballade beisteuern, die dann aber absichtsvoll in eine Cafeteria abgeschoben wurde. Mattheuer wurde erst nachträglich um seinen Beitrag gebeten. Verquer war auch das nächste Kapitel in dieser tragikomischen BilderstreitGeschichte – die Kapitulation des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg vor dem Fall Sitte im Jahr 2001. Das ‚Germanische‘ pflegt, analog zum Marbacher Dichterarchiv, ein Archiv deutscher Künstler. Das Museum war so aufgeweckt, sich nach der Wende auch um die Ostdeutschen zu bemühen und sich bedeutende Nachlässe zu sichern. Eine der wichtigsten Zusagen kam von Sitte, zweifellos eine der Schlüsselgestalten der DDR-Kunst, ja eine Zentralfigur der jüngeren deutschen Kunstgeschichte. Der überzeugte Kommunist war im Dritten Reich Schüler des NS-Parteimalers Werner Peiner gewesen, rebellierte aber gegen dessen Dressur, wurde an die italienische Front zwangsversetzt, wechselte zu den Partisanen und war nach dem Krieg am kulturellen Wiederaufbau Italiens beteiligt. Wechselvoll war Sittes DDR-Karriere: Prägung durch Picasso, Fernand Léger und Renato Guttuso, Anfeindungen durch Kulturfunktionäre, tiefe Krisen samt einem Selbstmordversuch 1961, dann Anpassung und Aufstieg zum mächtigen Künstlerverband-Präsidenten, der nach Maßgabe seiner parteilichen Kunstauffassung auch Druck auf Andersdenkende und Aufsässige ausübte, gleichzeitig aber die Liberalisierung der Kunstszene in den siebziger Jahren eingeleitet hatte.

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Sitte schuf ein schwerblütiges, der deutschen Geschichtsschuld verschriebenes Nachkriegswerk und schwenkte später auf monumentales Parteipathos ein. All das hätte eine dokumentarische Schau darlegen und klären müssen. Seit 1992 lagert Sittes Archiv in Nürnberg. Mit der Übernahme und Auswertung war ihm vertraglich eine Ausstellung versprochen worden. Doch ein halbes Jahr vor ihrer Eröffnung unterbanden die dreißig Verwaltungsräte des Museums die Schau. Erst, so hieß es, müsse das Verhalten, die Moral des Künstlers geklärt werden, bevor das Publikum die Bilder sehen dürfe. Hier kam es zum massiven Eingriff einer politischen und gesellschaftlichen Obrigkeit in Entscheidungen eines Museums. Operiert wurde dabei mit einem noch immer naiven, geschichtlich unreflektierten Kunstbegriff, mit Maßstäben wie Tugendhaftigkeit, politischer Enthaltsamkeit und Unschuld, die zur Bedingung von Kunst gemacht wurden. Museen sind aber keine politisch-moralische Anstalten. Die Kunstgeschichte war immer moralisch belastet und ungerecht: Rubens, der flämische Kollaborateur der blutigen spanischen Fremdherrschaft und Propagandist der gegenreformatorischen Kirche, ist bedeutender als die flämisch-protestantischen Emigranten in der Pfalz. Kunstgeschichte kann nicht allein aus dissidentischer Sicht interpretiert, gewertet und umgeschrieben werden. Die Gerechtigkeit, welche Dissidenten verlangen, lässt sich nicht im Museum und über eine revanchistische Zensur herstellen. Kunst in der DDR, das waren Altenbourg, Carlfriedrich Claus, Penck, Michael Morgner, Heisig, Mattheuer, Tübke – und eben auch Sitte. Der Streit über zwei kontroverse Konfessionen und Geschichtsverläufe deutscher Kunst war und ist heute immer noch eine Auseinandersetzung ohne Chancengleichheit. Das westdeutsche Publikum hat bis heute selten Gelegenheit, sich in seinen Museen ein eigenes Bild vom umstrittenen Osten zu machen. In den alten Bundesländern stößt man in kaum einem größeren Haus auf einen Bestand ostdeutscher Werke, auch dann nicht, wenn, wie in den Vertragsmuseen Ludwigs in Köln oder Aachen, die Depots mit qualitätvollen Beständen gefüllt sind. In den Museen des Ostens, wo vielfach Westkuratoren herrschen, wurden die großen Maler zunächst aufs Pflichtteil gesetzt. Die Missionare nahmen ihr Umerziehungsgeschäft ernst und wollten die Häuser möglichst schnell auf den neuesten Stand des Westens bringen. So wurde im Museum der alten mecklenburgischen Residenzstadt Schwerin mit seinen berühmten Sammlungen holländischer und flämischer Malerei des 17. Jahrhunderts und mit seinen Franzosen des 18. Jahrhunderts ein MarcelDuchamp-Zentrum etabliert – wohl um den Ostdeutschen die Malerei auszutreiben. Das Ostpublikum, das einst in die großen Ausstellungen strömte, entfremdete sich seinen Museen, da es Sinn und Gewinn der Umorientierung nicht einsah und vom Verlust der eigenen Kunstgeschichte irritiert war. Inzwischen jedoch hat

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sich in manchen Ostmuseen der Umgang mit der Hinterlassenschaft aus der DDR entspannt: Das beste Erbe wird vielfach wieder selbstbewusst gezeigt. Das schließt nicht aus, dass in einem prominenten Haus wie dem Dresdner Albertinum – von Westkuratoren, wie ich schon sagte, – noch im Jahr 2010 die fast vollständige Ausschaltung dieses kunstgeschichtlichen Kapitels exekutiert wird. Hier zeigt man auf Kosten bedeutender Bestände lieber Leihgaben aus dem Westen. Zum Glück gibt es Gesellschaftskreise, die dem Interessendruck des westlichen Kunstbetriebs entzogen sind. Die Wiedervereinigung löste in der Kunstwissenschaft lebhafte Debatten über die lange verpönte nationale Kunstfrage aus. Zur Jahrtausendwende wurde die zweifache deutsche Kunst leidenschaftlich diskutiert. Auffällig häuften sich wieder die Geschichtsdarstellungen. In den Büchern von Robert Suckale, Heinrich Klotz und Uwe M. Schneede wird die andere deutsche Nachkriegskunst in ihrer Eigenheit erkannt und respektiert. Die stärkste, emphatische Zuwendung kam von unerwarteter Seite – von den Kirchen. Ihnen war die spektakuläre Wiederauferstehung der Altarbilder, der Kreuzigungen, Himmelfahrten, Höllenstürze und Abendmähler, der Bekenner und Märtyrer, der Engel und Dämonen in den Bildern der späten DDR nicht entgangen. Nach der Wende galt diese sozialistische Christlichkeit allgemein als verdächtig, kompromittiert, absurd und ausgedient. Doch das Genre lebt intensiv weiter. Die auftragslosen Auftragskünstler aus dem Osten, Repräsentanten wie Dissidenten, fanden Beistand bei ihren ältesten Anwälten, den Kirchen. Erprobt wurde das heikle neue Bündnis nicht primär in den Metropolen, eher in der Provinz, ja auf dem Dorf. An der Wiederbelebung und Rückkehr der Altäre, die das Heilsgeschehen nicht mehr nur in zeichenhafter Symbolsprache, sondern in konkreter Figuren- und Körpersprache verkündeten, waren Ostkunst und Westkunst gleichermaßen beteiligt. 1980 hatte ein drastischer Thomas-Altar im niedersächsischen Gifhorn den Anfang gemacht, gemalt vom Westberliner Johannes Grützke. Zehn Jahre später spaltete das Altarbild eines kopfüber Gekreuzigten von Baselitz die kleine niedersächsische Gemeinde Luttrum. In den neunziger Jahren schuf dann Tübke für Clausthal-Zellerfeld im Harz einen achtteiligen Flügelaltar und irritierte durch korrekte, innige Frömmigkeit. Die Aschaffenburger Grünewald-Ausstellung von 2002/3 war begleitet von einer spannenden Recherche ‚Grünewald und die Moderne‘ in der Jesuitenkirche: Sie stützte sich im zeitgenössischen Teil gleicherweise und versöhnlich auf eindrucksvolle Beiträge von Bernard Schultze und Sitte, auf Jean Tinguely und Arnulf Rainer wie auf Tübke, Volker Stelzmann und Michael Triegel. Und das neugebaute Museum am Dom in Würzburg mit Kunst aus tausend Jahren stattete sich in den letzten Jahren mit allein 54 Werken von Ostdeutschen aus und demonstriert mit ihnen die Vitalität des religiösen Bildes. Eine Pointe: Der Leipzi-

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ger Maler Triegel (Jahrgang 1968), der die ikonographischen Modelle und StilIdeale der italienischen Renaissance wiederbelebt und Tübke zum Vorbild wählte, porträtierte in diesem Jahr 2010 im Auftrag des Bistums Regensburg den deutschen Papst. Trotz mancher Entspannung lässt sich auch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall noch immer nicht resümieren, dass eine faire Vereinigung der beiden Künste stattgefunden habe. Die Fusion beider deutscher Nachkriegskunstgeschichten steht noch immer aus. Man hat sich westlicherseits zur Akzeptierung jener grundlegend anderen Erfahrungen, Folgerungen und Entscheidungen, die im Osten aus der Kunstgeschichte der Moderne gezogen wurden, zu entschließen. Der immense Gewinn der Wiedervereinigung wird verspielt, wenn sich die Deutschen nicht auf diese alternativen Wege und Möglichkeiten und auf ein anders begründetes Stück Kulturgeschichte einlassen. Der westliche Horizont wird dadurch nicht nur ergänzt, sondern fundamental erweitert. Es fehlt inzwischen nicht an umfassenden und gelehrten Kompendien zur DDR-Kulturpolitik, zu den Verbandsstrategien und zur bösen Stasi-Wirtschaft. Aber können die Akten der Gegenreformation und der Inquisition der Malerei von El Greco und Michelangelo da Caravaggio, von Guido Reni und Peter Paul Rubens gerecht werden? Alle Attacken hat die bedeutende Kunst aus der DDR überstanden. Nicht eingetroffen ist, was ihre Feinde nach 1989 so innig erhofften: dass mit dem Untergang der DDR auch ihre Kunst alsbald entsorgt werde und verschwinde. Nach dem überraschenden Publikumserfolg des Bilanzversuchs ‚Kunst in der DDR‘ in der Berliner Nationalgalerie im Sommer 2003 lockerten sich bisweilen die Sperrlinien der westdeutschen Museen für Ausstellungen der Kunst aus dem Osten. Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, die beste Adresse für Kunst des 20. Jahrhunderts, zeigte 2004/5 das Lebenswerk zuerst von Altenbourg, dann von Heisig, und das Wuppertaler Von-der-Heydt-Museum übernahm 2005 von Schloss Gottorf eine Retrospektive der Zeichnungen Tübkes. Im Sommer 2006 organisierte wieder das Schleswig-Holsteinische Landesmuseum in Schloss Gottorf die erste Museumsausstellung des Berliner Malers Harald Metzkes im Westen. Schließlich überwand die Ludwig-Galerie in Schloss Oberhausen 2006 alle Hemmnisse und inszenierte eine weitgespannte Konfrontation westdeutscher und ostdeutscher Kunst – ein Qualitätsvergleich, der keineswegs zuungunsten des Ostens ausfiel. Aber auch hier kam es nur drei Jahre später im gleichen Haus in Oberhausen zum spektakulären Umschwung, zu einem diskriminierenden Rausschmiss. Unter neuer Führung löste das inferiore Haus im Sommer 2009 die Ludwig-Galerie mit Kunst aus der DDR auf und schob den Bilderbestand nach Leipzig, die Sammlung ostdeutscher Zeichnungen nach Nürnberg ab. Man hatte, wie gesagt, gehofft, dass sich zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung endlich die Akten über den deutsch-deutschen Kunstkrieg schließen

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lassen. Vom Jubeljahr 2009, in dem die Bundesrepublik sechzig Jahre Grundgesetz und zwanzig Jahre Mauerfall feiern wollte, durfte man ein Happyend erwarten. Der Auftakt war vielversprechend. Die Amerikaner setzten im County Museum in Los Angeles etwas ins Werk, was die Deutschen bislang nicht geschafft hatten: Sie arbeiteten in einer Ausstellung mit dem Titel Kunst und Kalter Krieg die Konfrontationen, aber vor allem auch die Parallelen und Verwandtschaften in der deutsch-deutschen Kunstentwicklung unter fairer Akzentsetzung und Gewichtsverteilung heraus. Die Amerikaner müssen sich die Augen gerieben haben, als sie endlich Bilder sehen durften, die ihnen die deutsche Kulturpolitik und die Netzwerker des Kunstbetriebs bisher vorenthalten hatten. So illustrierte die New York Times ihre Rezension nicht etwa mit den notorischen Baselitz- und Gerhard Richter-Bildern, sondern mit dem KZ-Bild des Dresdner Malers Hans Grundig aus den Jahren 1946 bis 1949, das das Publikum im Albertinum, dem Besitzer, heute nicht mehr sehen darf. Und das Wallstreet Journal zeigte in großer Aufmachung die Hauptfassung aus dem ‚Dr. jur. Schulze‘-Zyklus von Tübke aus dem Jahr 1965. Auf der ‚Haben‘-Seite des Gedenkjahres 2009 war ferner Eckhart Gillens kapitales Werk Feindliche Brüder? Der Kalte Krieg und die deutsche Kunst zu verbuchen – die erste Darstellung, die gerecht Ost und West ausbalanciert. Erwähnt werden müssen auch die systematischen Forschungen bei den Kunsthistorikern der Leipziger Universität und den Kultursoziologen in Dresden. Nach dem dankenswerten kalifornischen Vorstoß – die in den USA vielfach ausgezeichnete Ausstellung war 2009 anschließend noch in Nürnberg und Berlin zu sehen – kam es aber wieder zum großen Rückfall. Der generöse Versöhnungsversuch sollte offenbar korrigiert werden – durch eine wieder kleinmütige, ja kleindeutsch-provinzielle Gegeninitiative. Mithilfe der Bildzeitung und des Bundesinnenministeriums zeigte ein westdeutscher Veranstalterkreis im Frühjahr 2009 im Berliner Gropiusbau die Ausstellung 60 Jahre, 60 Werke: Aus dem Geschichtsdepot wurden hier noch einmal der westdeutsche Alleinvertretungsanspruch und die ranzige Kaltekriegsthese hervorgeholt, wonach in unfreien Gesellschaften keine freie Kunst gedeihen könne und eine daher irrelevante Kunst aus der DDR allenfalls ins Historische Museum gehöre. Die Initiatoren stellten die Kunst aus der alten Bundesrepublik unter das Grundgesetz, was politisch korrekt klingt, aber natürlich absurd ist angesichts der Tatsache, dass unsere KünstlerRebellen, die radikalen Weltverbesserer, Anarchisten und auch Ideologen alles gewesen sein mögen, aber selten brave Demokraten (siehe Beuys, Jörg Immendorff und andere). Die Aussteller wollten der guten Regierung huldigen und präsentierten psalmodierend als Dankesgeschenk die freie Kunst aus der freien Bundesrepublik. Ihr Pathos nährte sich aus der Genugtuung, dass man diese freie Kunst von der unfreien aus dem Machtbereich der schlechten DDR-Regierung bis heute getrennt gehalten hat.

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Zur Feier des Grundgesetzes hätte man sich eine andere Kunstdebatte gewünscht. Auf westlicher Seite wäre zu fragen, was wir aus der Kunstfreiheit gemacht haben. Auf östlicher Seite wäre herauszuarbeiten, welche Freiheiten und Leistungen sich die Künstler trotz und gegen die Unfreiheit erkämpften. Ihre Werke sind vielfach spannender als die satte, selbstgefällige, innovationsarme und marktkonforme Produktion der letzten Jahrzehnte im Westen. Das Argument der Unfreiheit ist überdies nicht ohne Heuchelei. Niemand macht Juan Miró und Salvador Dali, Eduardo Chillida und Antoni Tàpies zum Vorwurf, dass sie unter Francos Flagge segelten – natürlich im inneren Widerstand der Abstraktion: Sie arbeiteten in einer westgeschützten Diktatur und im Idiom der Avantgarden. Trotz aller Attacken und Ausgrenzungsmanöver hat die qualifizierte Ostkunst den Vitalitätstest glänzend bestanden. Die ‚Väter‘ entwickelten ungeachtet aller Anfeindungen nach der Wende ihr Oeuvre unbeirrt weiter und schufen weitere Hauptwerke. Das eindrucksvollste, anspruchsvollste und schönste Kunstwerk aus der Zeit der DDR, Tübkes monumentales Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen, das wenige Wochen vor dem Mauerfall 1989 eröffnet worden war, ist mit noch immer fast hunderttausend Besuchern im Jahr zu einer Publikumsattraktion in Thüringen und Deutschland geworden. Die meisten ostdeutschen Museen – Ausnahme Dresden – haben ihre Maler wieder in den Kanon aufgenommen. Je weiter hier Kuratoren aus dem Osten zum Zuge kommen, desto schneller entspannt sich die Lage. Leipzig widmete den drei Übervätern der Leipziger Malerei in den letzten Jahren umfassende Retrospektiven. Die Kunsthochschulen in Leipzig und Dresden haben heute weltweite Anziehungskraft. Vor allem die Leipziger Schule ist, wie eingangs gesagt, noch in der dritten und bald vierten Generation sehr stark. Die jüngeren Künstler, voran der Malerstar Neo Rauch, die auffälligste Erscheinung seiner Generation, sind auf der internationalen Szene begehrt und erfolgreich. Das einzigartige Phänomen einer ‚Schule‘, die sich trotz politisch schwierigster Umstände über sechzig Jahre entfaltet und verzweigt hat, war im Herbst und Winter 2009 Gegenstand einer umfassenden Leipziger Ausstellung, die ein Kompendium der Dresdner Kultursoziologen begleitete, das ihren Kontroversen und Umbrüchen, ihren Tiefpunkten und Höhenflügen nachspürte. Trotz allem Auf und Ab in den letzten zwanzig Jahren, trotz allem Hin und Her, trotz der vielen Intrigen und Konflikte möchte ich mit einer optimistischen Prognose enden. Was am meisten ermutigt, ist das Publikum, zumal das Westpublikum, das sich nicht von den Kartellen und Seilschaften des Kunstbetriebs beeindrucken lässt. In den kunstliebenden, kunstkennerischen Kreisen ist die qualifizierte Ostkunst längst angekommen und eingebürgert.

Georg Oswald

Kunstfreiheit als Phrase: Literaturverbote in der Bundesrepublik Deutschland Einleitung Kunstfreiheit als Phrase, Literaturverbote in der Bundesrepublik Deutschland wurde dieser Beitrag betitelt. Man dürfte also annehmen, es ginge um das vertikale Spannungsfeld zwischen Kunstfreiheit und staatlicher Zensur, um die Frage also, wie es um den Wahrheitsgehalt der beiden in Artikel fünf des Grundgesetzes enthaltenen Sätze: ‚Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei‘ einerseits und ‚Eine Zensur findet nicht statt‘ andererseits bestellt ist. Dies ist, wie man gleich sehen wird, jedoch nicht der Fall. Wer spricht Literaturverbote aus? Wir sind es gewöhnt, uns Literaturverbote primär als hoheitliche Eingriffe vorzustellen. Die weitaus meisten Literaturverbote in der Bundesrepublik Deutschland wurden jedoch nicht von Institutionen wie etwa der ‚Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien‘ ausgesprochen, sondern von Zivilgerichten. Auch diese haben natürlich hoheitliche Befugnisse, werden aber nicht aus eigenem Antrieb oder auf Weisung tätig, sondern nur auf Antrag, also auf Betreiben eines Privaten, der sich in seinen Rechten verletzt sieht. Wie werden sie begründet? Mit der Klage gegen ein Buch beschäftigt sich das Zivilgericht nur, wenn ein Kläger oder eine Klägerin darlegen kann, dass sie durch die Publikation auf schuldhafte und rechtswidrige Weise in ihren Rechten verletzt wurde. Ein so erwirktes Publikationsverbot wirkt grundsätzlich auch nur zwischen den Parteien dieses einen Rechtsstreits, denn das Gericht hat nicht geprüft, ob die Publikation gegen Rechte der Allgemeinheit verstößt, sondern nur, ob Rechte des Klägers oder der Klägerin verletzt sind. Vorschnell wäre es nun, den Verdacht zu äußern, der Staat habe auf diese Weise die Befugnis zur Zensur gewissermaßen an die Gerichte delegiert, denn den Klägerrechten stehen die des Beklagten gleichrangig gegenüber. Im Fall der Literaturverbote sind dies in den meisten Fällen auf Klägerseite das von der Verfassung als Grundrecht garantierte allgemeine Persönlichkeitsrecht, auf Beklagtenseite Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, die Freiheit von Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre. Seit den fünfziger Jahren ist eine umfangreiche Judikatur entstanden, die versucht hat, diese Begriffe auf der einen wie auf der anderen Seite zu objektivieren und willkürlich erscheinenden richterlichen Geschmacksurteilen so weit wie möglich zu entziehen. Maßgebliche Urteile des Bundesverfassungsgerichts

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wie die ‚Josefine-Mutzenbacher-Entscheidung‘ zu Abgrenzung von Kunst und Pornographie oder die ‚Mephisto-Entscheidung‘ zum postmortalen Persönlichkeitsrechtsschutz wurden auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Die Grenzen der Freiheit für die Literatur schienen so weit gesetzt, dass eine ernsthafte Diskussion über Literaturverbote lange Zeit müßig erschien, zumal bis vor zwanzig Jahren in der DDR noch ‚echte‘ Zensur geübt wurde.

Die Abwägung von gleichrangigen Grundrechten Diese Wahrnehmung änderte sich schlagartig im Herbst 2003, als einige Bücher erschienen, die schon bald die Gerichte beschäftigten. Eine Kritikerin schrieb, ‚justiziable Literatur‘ sei das ‚Ereignis des Bücherherbstes‘. Schon diese Etikettierung mag verdeutlichen, dass das gerichtliche Vorgehen gegen Publikationen nicht zuvorderst als Eingriff in von der Verfassung geschützte Freiheiten betrachtet wurde, sondern als Spektakel, eine Art medialvirtuelles Schlammringen. Da Weniges so schnell vergessen ist, wie ein ‚Ereignis des Bücherherbstes‘, stand nicht viel zu befürchten. Sollten sich die Bohlens und Naddels die einstweiligen Verfügungen um die Ohren hauen, die Kunstfreiheit schützte sie weder, noch standen sie ihr im Weg. Wer näher hinsah, erkannte auch hier bereits neue Tendenzen in der Abwägung von Grundrechten: Im Jahr 2003 war spätestens der Zeitpunkt erreicht, in dem das Internet als neuestes und größtes Massenmedium zu gelten hatte, mit dem in bisher unbekannter Weise auch auf persönliche und personenbezogene Informationen und Daten zugegriffen werden konnte. Die Rechtsprechung zum Persönlichkeitsschutz konnte davon nicht unberührt bleiben und blieb es auch nicht. Eine grundsätzlich andere Bedeutung erhielt die Beschäftigung mit ‚justiziabler Literatur‘ jedoch in zwei ebenfalls 2003 vor den Landgerichten in Berlin und München anhängig gemachten Fällen. Die Ex-Freundinnen der Schriftsteller Alban Nikolai Herbst und Maxim Biller erwirkten einstweilige Verfügungen gegen deren Romane Meere und Esra. Sie erkannten sich in Romanfiguren wieder und fanden sich in verletzender Weise dargestellt. Die Romane durften zunächst nicht weiter vertrieben werden. Die nur summarische Prüfung, zu der die Gerichte in solchen Eilverfahren verpflichtet sind, ergab, dass Persönlichkeitsrechte der Klägerinnen in einer Weise verletzt schienen, die auch das Grundrecht der Kunstfreiheit, auf das sich die Schriftsteller beriefen, nicht rechtfertigte. Die öffentliche Reaktion auf diese Entscheidungen war – zumindest für mich – verblüffend.

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Positionen zur Kunstfreiheit Die Verteidiger der Kunstfreiheit erschienen merkwürdig farblos und schienen von Beginn an auf verlorenem Posten. Es gab Zeiten, in denen wurden Werke der Weltliteratur von ignoranten Richtern verboten, die sich hohnlachend zu ihrem Banausentum bekannten. Und es gab Zeiten, in denen hochherzige Feuilletonisten in mutigen Streitschriften diese Entscheidungen im Namen der Freiheit der Kunst angriffen. Doch hier schien alles anders. Allzu viele Literaturbetriebsangehörige reagierten mit achselzuckender Häme, obwohl ihnen doch schon von Berufs wegen viel an der Freiheit der Kunst gelegen sein musste. Der Irrglaube, es genüge, sich unvorteilhaft in einem Roman dargestellt zu finden, um ihn verbieten zu lassen, wurde von ihnen ungeprüft für wahr genommen und auch noch für Recht befunden. Der zutreffende Einwand, dass die Regale in den Bibliotheken leer und der größte Teil der Weltliteratur nicht bekannt wäre, wenn das stimmte, machte demgegenüber kaum Eindruck. Die betroffenen Schriftsteller sollten also besser nicht auf jene hoffen, denen an der Kunstfreiheit nicht viel lag oder die gar nicht wussten, was sie ist. In Die Tempojahre schrieb Maxim Biller einst über seine Generation: ‚Es sind keine existentiellen Dinge, die uns bewegen. Nicht Diktatoren unterdrücken uns, sondern Liberale. Jede Generation führt die Revolutionen, die sie verdient. Hipstertum hat mit Umsturzgedanken nichts zu tun, sondern ausschließlich mit Langeweile.‘ Als Hipster durften sich die Teilnehmer einer Solidaritätsveranstaltung im Münchner Literaturhaus, bei der ich auch selbst mitmachte, beim besten Willen nicht fühlen. Sie nannte sich ‚Ein Abend für Maxim Biller‘. Ich schrieb darüber: Es sollte aus seinen Arbeiten gelesen und, natürlich, über den ‚Fall Esra‘ diskutiert werden. Leider waren nur etwa vierzig Leute gekommen, und auch sie wetzten sich nicht gerade den Hosenboden blank vor unterdrückter Wut über das vermeintliche Fehlurteil des Landgerichts München I, obwohl es doch ein Skandal war, sollte man meinen. Aber es schien so, als sei das Publikum von einer schweren Müdigkeit befallen. Keine existentiellen Dinge bewegte es, obwohl es doch um bedeutende Fragen ging. War nicht in Deutschland ein Buch verboten worden? Ging es nicht um die Kunstfreiheit schlechthin? Oder hatte – auch nicht übel – ein Roman die Menschenwürde zweier in ihm abgebildeter Frauen verletzt? Es war nicht zu leugnen, all diese Begriffe wirkten ein paar Nummern zu groß für den Anlass. Man hatte das Gefühl, dass auch diesmal wieder nicht wirklich etwas passiert war. Der Roman Esra verboten? Man konnte ihn doch am Büchertisch völlig legal erwerben. Exemplare aus der ersten, bereits vor der einstweiligen Verfügung ausgelieferten Auflage waren noch vorhanden. Die Kunstfreiheit?

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Auch in Zukunft darf jeder schreiben, was er will, und wenn man vielleicht ein bisschen weniger hart an die Vorbilder aus Fleisch und Blut ran geht, kann eigentlich nichts passieren. Und die Menschenwürde? Ach, nennen wir’s lieber: Verbraucherschutz. Romane sollen unterhalten und erbauen, uns den Autor als Sprachartisten vorführen oder auch mal ganz schön kritisch sein, aber deshalb muss man ja nicht gleich selber drin vorkommen. Der einzige Aufschrei kam in Gestalt einer Solidaritätsadresse daher, die Fritz J. Raddatz von Sylt aus gefaxt hatte, es gab aber nur müden Applaus. Selbst die vortragenden Autoren stellten sich erst später beim Bier die Fragen, wo denn eigentlich die Protestnote des VS geblieben sei und die empörte Einlassung des deutschen PEN-Club? Und? Nichts dergleichen. Vielleicht liegt es ja daran, dass die Sache juristisch einigermaßen schwer zu beurteilen ist. Für den Laien verspricht das nicht gerade Hochspannung. Aber so ist das eben, wenn man von Liberalen unterdrückt wird. Trotz gegenteiliger Beteuerungen betraf dieses Verbot nicht alle Autoren gleichermaßen. Das Gefühl, es handle sich bei Billers und Herbsts Romanen um Sonderfälle überwog. Die Freiheit, selbst schreiben zu können, was immer man wollte, erschien kaum einem ernsthaft in Gefahr. Diese Art der Freiheit hat durchaus etwas Schales an sich. Es gibt deshalb die gelegentlich an literarischen Stammtischen geäußerte Ansicht, nur unter der Knute der Zensur könne große Literatur entstehen. So abstrus diese Auffassung ist, sie lässt zumindest erahnen, dass in unfreien Zeiten von der Literatur mehr erwartet wird, als in freien. Wenn ästhetisch wie politisch fast alles erlaubt ist, ist auch fast alles egal, also nicht der Rede wert. In dieser Situation der Kunstmüdigkeit, ja Kunsterschöpfung sollte man sich nun plötzlich mit ganz großen Fragen beschäftigen: Was darf Kunst? Was muss man sich von Kunst gefallen lassen?

Positionen zum Persönlichkeitsrechtsschutz Die Verfechter des Persönlichkeitsrechtsschutzes machten bei dieser Diskussion einen erheblich lebendigeren Eindruck. Das liegt daran, dass Persönlichkeitsrechtsschutz modern ist. Dem aufgeklärten Konsumenten leuchtet es mehr ein, bestimmte Bereiche seiner Intimsphäre zu schützen, die er für seine ‚persönliche Freiheit‘ hält, als um politische Freiheiten zu ringen. Die Verfassung stellt sie ihm sogar zur Verfügung, doch er schöpft sie bei weitem nicht aus. Politische Kontrolle und Sicherheitsbedürfnis erzwingen bestimmte Zugeständnisse, was die Kontrolle auch des unbescholtenen Bürgers betrifft. Während Grundrechte wie Briefgeheimnis, Unverletzlichkeit der Wohnung, Demonstrationsrecht, Recht auf informationelle Selbstbestimmung leichten Herzens gegen vermeintliche Sicher-

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heit getauscht werden, wächst der Pflege der Intimität, des Privaten, eine immer größere Bedeutung zu, denn nur dieses mache den Menschen ganz und gar aus und es gehe niemanden etwas an. Der Schutz der Privatsphäre wird somit zur größten Kostbarkeit, die nur ein bestimmter Personenkreis mehr oder weniger vollständig entbehrt, nämlich die sogenannte Prominenz. Wer aufgrund sportlicher, künstlerischer oder gar keiner Leistung berühmt wird, hat de facto jedes Recht auf Privatheit verloren. Seine Verabredung mit der Öffentlichkeit besteht gerade darin, dass er ihr sein sogenanntes Privatleben als Matrize zur Verfügung stellt. An seinen Aufschwüngen und Abstürzen darf jeder sich aufrichten, und alles zusammen ergibt ein Schicksal, das nur dann exemplarisch vor- und durchexerziert werden kann, wenn nichts verborgen bleibt. In seiner reinsten Form kommt dieses Prinzip bei jenen Neo-Promis zum Tragen, deren Prominenz sich darauf gründet, dass sie prominent sind. Das, was beim Prominenten üblichen Zuschnitts (noch) nebensächlich ist, wird bei diesen zur Hauptsache. Dieter Bohlens doppelter Penisbruch steht als Symbol dafür, dass alles, aber auch alles verraten wird. Ungelogen, schonungslos. Ein Verrat natürlich, dem jegliche moralische Bedeutung fehlt, so dass in der Tat diejenigen als kleinlich dastehen, die sich darüber entrüsten. Kaum vorstellbar ist, welcher Natur eine ‚Enthüllung‘ sein müsste, gegen die ein Neo-Promi gerichtlich vorginge. Prominente alter Schule sehen das noch anders und agieren, als hätten sie einen Ruf zu verlieren. Sie wehren sich mit einstweiligen Verfügungen und übersehen, dass sie sich erst dadurch zu Opfern einer Medienstrategie machen, die heißt, ‚wer nicht mitspielt, hat schon verloren‘. Ganz anders verhält sich die Sache bei Nicht-Promis, wie den Klägerinnen in den Fällen Biller und Herbst. Sie genießen vollen Persönlichkeitsrechtsschutz. Jeder, der nicht berühmt oder wenigstens eine Person des öffentlichen Lebens ist, hat einen von der Rechtsordnung sorgsam gehüteten Rechtsanspruch darauf, das zu bleiben, was er ist: unbekannt, unerkannt. Je umfassender und aggressiver die Medien berichten, desto größer ist das Schutzbedürfnis der Rechtssuchenden. Bis zu einem gewissen Grad ist deshalb verständlich, dass ein Richter die Persönlichkeitsrechtsverletzung durch ein Internet-Portal oder eine Boulevard-Zeitung erst einmal nicht anders bewertet, als die durch einen Roman.

Das Bundesverfassungsgericht hat das letzte Wort Vielleicht ist es so zu erklären, dass sich die Instanzgerichte mit der richtigen Bewertung der Kunstfreiheit ungleich schwerer taten, als mit der des Persönlichkeitsrechts. Nach ihrer Auffassung konnte es im Fall des Romans Esra keinen

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Zweifel daran geben, dass bei einer Erkennbarkeit der beiden Frauen aus dem Romantext auch eine nicht hinzunehmende Persönlichkeitsrechtsverletzung vorliegt. Eben dieser Kurzschluss zwischen Erkennbarkeit und Persönlichkeitsrechtsverletzung war es, der den Fall Esra so bedrohlich für die Kunstfreiheit machte, denn es entstand der Eindruck, es genüge schon, sich in einem Text unvorteilhaft dargestellt zu finden, um ihn verbieten lassen zu können. Dabei wurde, und das war das eigentlich Neue, auch nicht mehr zwischen unterschiedlichen Textgattungen differenziert. Wer jedoch einen Roman in Gestaltung und Intention nicht von einer Reportage, eine Autobiographie nicht von einem Sachbuch zu unterscheiden weiß, sondern Text für Text hält, wird wenig Mühe haben zu urteilen, seiner Sache allerdings kaum gerecht werden.

Feinsinnige Differenzierung im Mephisto-Urteil Für fiktionale Texte müssen andere Kriterien gelten als für nichtfiktionale. Das wurde im ‚Mephisto-Urteil‘ des Bundesverfassungsgerichts von 1971 zumindest von einem Teil des erkennenden Senats noch gesehen. Spannungen zwischen dem in seiner Würde von jedem zu respektierenden Individuum und dem künstlerischen Anliegen gehören zum festen Bestandteil der Literatur; und wo sie in künstlerischen Romanen und Dramen hervorgetreten sind, beruhen Wirkung und Wert der Dichtung auf ihrem Rang als Kunstwerk, nicht auf der Einkleidung biographischer Erlebnisse. Ungeachtet ihrer Zuordnung zu der sogenannten Schlüsseldichtung sind sie in ihrem künstlerischen Rang unbestritten, wie u. a. die Werke von: Goethe, Die Leiden des jungen Werthers; G. Keller, Der Grüne Heinrich; Th. Fontane, Frau Jenny Treibel; […] Ein Ausschluss der Kunst von diesem Erfahrensbereich würde sie in ihrem Kern treffen.  

Sie wäre nicht länger als ‚frei‘ im Sinne des Artikel 5 Grundgesetz zu bezeichnen. Anders ausgedrückt, es macht einen Unterschied ums Ganze, ob das Intimleben einer Romanfigur geschildert wird, die einem realen Vorbild ähnelt oder gleicht, oder ob, etwa in einem Sachbuch oder einer Autobiografie, intime Details über einen wirklichen Menschen ausgebreitet werden. Der Bundesverfassungsrichter Erwin Stein hat, dies präzisierend, in seiner abweichenden Stellungnahme im Mephisto-Urteil ausgeführt: Das künstlerische Anliegen eines Romans hat nicht eine wirklichkeitsgetreue, an der Wahrheit orientierte Schilderung historischer Begebenheiten zum Ziel, sondern wesenhafte, anschauliche Gestaltung aufgrund der Einbildungskraft des Schriftstellers. Die Beurteilung des Romans allein nach den Wirkungen, die er außerhalb seines ästhetischen Seins entfaltet, vernachlässigt das spezifische Verhältnis der Kunst zur realen Wirklichkeit und

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schränkt damit das […] garantierte Freiheitsrecht [der Kunst, Anm. d. Verf.] in unzulässiger Weise ein.

Der Verfassungsrichter Stein bemühte für diese Auffassung eine beeindruckende Reihe von Zitaten ganz unterschiedlicher Autoren, die ich hier gerne ungekürzt wiedergebe: Auch einige die sich dem sinn des verfassers genähert haben meinten es helfe zum tieferen verständnis wenn sie im Jahr der Seele bestimmte personen und örter ausfindig machten. möge man doch (wie ohne widerrede bei darstellenden werken) auch bei einer dichtung vermeiden sich unweise an das menschliche oder landschaftliche urbild zu kehren: es hat durch die kunst solche umformung erfahren daß es dem schöpfer selber unbedeutend wurde und ein wissen darum für jeden anderen eher verwirrt als löst;1 Die Wirklichkeit, die ein Dichter seinen Zwecken dienstbar macht, mag seine tägliche Welt, mag als Person sein Nächstes und Liebstes sein; er mag dem durch die Wirklichkeit gegebenen Detail noch so untertan sich zeigen, mag ihr letztes Merkmal begierig und folgsam für sein Werk verwenden: dennoch wird für ihn – und sollte für alle Welt! – ein abgründiger Unterschied zwischen der Wirklichkeit und seinem Gebilde bestehen bleiben: der Wesensunterschied nämlich, welcher die Welt der Realität von derjenigen der Kunst auf immer scheidet.2 Gerade die Vortäuschung des Wirklichen ist der echten Kunst von Grund aus fremd. Alle Theorie des Scheines und der Illusion, die diesen Weg einschlägt, verkennt einen wichtigen Wesenszug im künstlerischen Erscheinenlassen: … daß es nicht Wirklichkeit vortäuscht, daß vielmehr das Erscheinende auch als Erscheinendes verstanden und nicht als Glied in den realen Lauf des Lebens eingefügt wird, sondern gerade aus ihm herausgehoben und gleichsam gegen das Gewicht des Wirklichen abgeschirmt dasteht.3 Denn alles, was die Kunstwerke an Form und Materialien, an Geist und Stoff in sich enthalten, ist aus der Realität in die Kunstwerke emigriert und in ihnen seiner Realität entäußert … Selbst Kunstwerke, die als Abbilder der Realität auftreten, sind es nur peripher: sie werden zur zweiten Realität, indem sie auf die erste reagieren.4

Der Bundesgerichtshof im Fall Esra, das Berliner Landgericht im Fall Meere, verkennen den formal zugestandenen Kunstcharakter des Romans, wenn sie seinen Inhalt lesen, als wäre er nonfiktional. Das Landgericht Berlin begründet im Fall

1 Stefan George: Werke. Ausgabe in 2 Bänden. Hg. v. Robert Boehringer, Bd. 1. München 1958, S. 119. 2 Thomas Mann: „Bilse und ich“ (1906). In: Ders.: Gesammelte Werke in 12 Bänden, Bd. X. Reden und Aufsätze 2. Frankfurt a. M. 1960, S. 9–22, hier S. 16. 3 Nicolai Hartmann: Ästhetik. Berlin 21966, S. 36. 4 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. 1970, S. 158, 425.  



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Meere die Persönlichkeitsverletzung damit, der Leser müsse glauben, die geschilderten Intimitäten seien ‚tatsächlich Erlebtes‘. Dem ist mit dem Bundesverfassungsgericht entgegen zu halten, dass es die in Artikel 5 Absatz 3 Grundgesetz vorbehaltlos geschützte Kunstfreiheit verbietet, die Frage der Persönlichkeitsverletzung nach den Wirkungen des Romans auf ein Leserpublikum zu beantworten, das das Dargestellte ohne Blick für seine kunstspezifische Bedeutung wie eine Dokumentation auf Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit untersucht. Mit Verfassungsrichter Stein zu sprechen: ‚Für die rechtliche Beurteilung in Fällen wie dem vorliegenden‘ darf nicht ‚auf einen fiktiven Lesertypus abgehoben werden‘, ‚sondern es muss der kunstspezifische Gehalt des Kunstwerks ermittelt und gegenüber seinen außerkünstlerischen ‚Sozialwirkungen‘ abgewogen werden.‘

Drastische Vereinfachung im Esra-Beschluss In diesem Urteil wurde die Diskussion über die Abwägung zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht auf einem Niveau geführt, das die seit 2003 gefällten Entscheidungen leider nicht mehr erreichen. Das liegt daran, dass, anders als in der ‚Mephisto-Entscheidung‘, in den Urteilen jüngeren Datums die Frage nach dem Verhältnis der erfundenen Wirklichkeit eines Romans zur realen Wirklichkeit nicht konsequent gestellt wird. Zwar wird, dem Verfassungsgericht pflichtgemäß folgend, zugegeben, dass die Spannungslage zwischen Persönlichkeitsschutz und dem Recht auf Kunstfreiheit nicht allein auf die Wirkungen eines Kunstwerks im außerkünstlerischen Sozialbereich abheben, sondern auch kunstspezifischen Gesichtspunkten Rechnung tragen muss.

Wenn es aber darum geht, die Konsequenzen hieraus zu ziehen, heißt es, etwa im Esra-Urteil des Bundesgerichtshofs vom 21.06.2005: ‚Auch bei Berücksichtigung des Umstands, dass es sich um einen Roman, also um erzählende Prosa handelt, ergibt sich kein anderes Textverständnis.‘ Das ist schade. Genau dieses andere Textverständnis ist es nämlich, was das Bundesverfassungsgericht zur Voraussetzung einer richtigen Beurteilung gemacht hat. In seinem Beschluss vom 13.06.2007, der finalen Entscheidung im Fall Esra, planiert das Bundesverfassungsgericht die von ihm selbst einmal gefundenen Differenzierungen zwischen Kunstsphäre und Wirklichkeitssphäre endgültig: Zwischen dem Maß, in dem der Autor eine von der Wirklichkeit abgelöste ästhetische Realität schafft, und der Intensität der Verletzung des Persönlichkeitsrechts besteht eine Wechselbeziehung. Je stärker Abbild und Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die

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Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts. Je mehr die künstlerische Darstellung besonders geschützte Dimensionen des Persönlichkeitsrechts berührt, desto stärker muss die Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen.

Fazit: Wir wissen jetzt ganz genau, wo die Grenze zwischen Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht verläuft, nämlich exakt auf Höhe der Gürtellinie. Man darf bezweifeln, dass derlei eindeutige Lösungen auch die besten sind.

Uwe Wittstock

Über deutsche Gegenwart schreiben? Nicht ohne meinen Anwalt! Zu einigen Folgen des Esra-Urteils 2007 hat das Bundesverfassungsgericht den Roman Esra von Maxim Biller endgültig verboten. Dabei handelte es sich nicht um einen Akt direkter staatlicher Zensur, sondern um eine Abwägungs-Entscheidung zwischen zwei Grundrechten, nämlich dem Recht auf Kunstfreiheit (Artikel 5, Absatz 3, Satz 1 des Grundgesetzes: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“) einerseits und andererseits dem Schutz der Persönlichkeit, der sich ebenfalls aus dem Grundgesetz ableitet, nämlich aus Artikel 1, Absatz 1, der die Würde der Persönlichkeit für unantastbar erklärt, in Verbindung mit Artikel 2, Absatz 1, der jedem das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit zuspricht. Das Esra-Urteil war bereits unter den Verfassungsrichtern umstritten; drei Richter wandten sich in Sondervoten gegen die Entscheidung ihrer fünf Kollegen. Bei näherer Betrachtung erweist sich das Urteil als in sich widersprüchlich und lässt erstaunliche Argumentationsbrüche erkennen. Ich habe mich bemüht, die Probleme des Urteils in dem Essay Der Fall Esra. Ein Roman vor Gericht. Über die neuen Grenzen der Literaturfreiheit detailliert herauszuarbeiten.1 Wie auch immer man zum Konflikt zwischen Literaturfreiheit und Persönlichkeitsschutz steht, der im Fall Esra höchstrichterlich verhandelt wurde – das Urteil der Verfassungsrichter eignet sich nicht dazu, auf einem so diffizilen Gebiet klare Verhältnisse und damit Rechtssicherheit zu schaffen. Dennoch ist es derzeit eine feste juristische Orientierungsgröße für alle entsprechenden Gerichtsverfahren und wird das auf heute unabsehbare Zeit bleiben. Erst wenn künftig ein ähnlich gelagerter Fall vor dem Verfassungsgericht verhandelt wird, können die dann zuständigen Richter andere juristische Akzente setzen. Inzwischen zeigt sich, dass die Entscheidung im Fall Esra starke und unvorhergesehene Auswirkungen zuungunsten der Literaturfreiheit entwickelt. Allein 2011 mussten drei Romane vom Buchmarkt zurückgezogen werden, weil sie angeblich Persönlichkeitsrechte verletzten und mit juristischen Schritten gegen sie gedroht wurde: nämlich die Romane Das Da-Da-Da-Sein von Maik Brüggemeyer,2

1 Uwe Wittstock: Der Fall Esra. Ein Roman vor Gericht. Über die neuen Grenzen der Literaturfreiheit. Köln 2011. 2 Maik Brüggemeyer: Das Da-Da-Da-Sein. Berlin 2011.

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Last Exit Volksdorf von Tina Uebel3 und Ein Traum von einem Schiff von Christoph Maria Herbst.4 Zugegeben, die drei Bücher sind von sehr unterschiedlicher künstlerischer Qualität, aber die Häufung der Fälle belegt, in welchem Maße die Bereitschaft von Privatpersonen zugenommen hat, gegen literarische Werke vorzugehen. „Als Schriftsteller, der über die Gegenwart schreibt, kommt man in Deutschland ohne Anwalt nicht mehr aus“,5 konstatiert Maik Brüggemeyer. Doch abgesehen von dem Fall Christoph Maria Herbst wurden die Vorwürfe gegen diese Romane gerichtlich nie überprüft.6 Allein schon die Ankündigung von Unterlassungserklärungen oder einstweiligen Verfügungen gegen die Bücher reichten aus, Verlage und Autoren dazu zu bewegen, die Romane zurückzuziehen und weitgehend so zu verändern, wie es den Wünschen der möglichen Kläger entspricht. Doch darüber, ob die Romane tatsächlich Persönlichkeitsrechte verletzen, hat in diesen Fällen nie ein Richter oder ein unabhängiges Gericht entschieden. Ein Grund dafür ist nicht zuletzt das Esra-Urteil. Seine inneren Unstimmigkeiten machen die entsprechenden Prozesse zu einem schwer kalkulierbaren Kosten-Risiko. Also verzichten die Verlage lieber auf einen Rechtsstreit und drängen die Autoren, ihre Bücher zu entschärfen. Die Autoren aber haben erst recht kein Geld für Prozesse, zudem gehört zum üblichen Verlagsvertrag eine Klausel, in der jeder Autor versichert, mit seinem Buch keine Rechte Dritter zu verletzen. Im Falle einer Niederlage vor Gericht würde der Autor also vertragsbrüchig und sein Verlag hätte die Möglichkeit, ihn für die Prozesskosten verantwortlich zu machen. Was diese Entwicklungen für eine Literatur in Deutschland bedeuten, die dezidiert gegenwärtige Themen und Typen zu ihrem Thema macht, liegt auf der Hand. Wenn schon die Drohung mit einer Klage ausreicht, um Autoren und Verlage einzuschüchtern, bleibt von der Freiheit der Literatur nicht viel übrig. Überhaupt: die Kosten. In den hochgemuten Debatten um Literaturfreiheit einerseits und Persönlichkeitsschutz andererseits wird dieser elementare Punkt viel zu oft übergangen: Verlage haben nur selten die finanziellen Mittel, einen Rechtsstreit über den ganzen windungsreichen Instanzenweg hinweg durchzufechten. Selbst für große Verlage ist ein solcher Prozess, schon weil er in

3 Tina Uebel: Last Exit Volksdorf. München 2011. 4 Christoph Maria Herbst: Ein Traum von einem Schiff. Frankfurt a. M. 2010. Obwohl das Buch bereits im Dezember 2010 erschien, datiert die einstweilige Verfügung gegen den Roman vom 2. Februar 2011. Siehe: Ausgeträumt? – EV gegen ‚ein Traum von einem Schiff‘, 2011. URL: http:// www.boersenblatt.net/412846 (Stand: 3.2.2012). 5 Uwe Wittstock: „Literatur ohne Biss“. In: Focus v. 8.8.2011, S. 83. 6 Der Scherz Verlag hat Christoph Maria Herbsts Buch mit Schwärzungen umgehend wieder auf den Markt gebracht.  

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erheblichem Maße Arbeitskraft bindet, eine beträchtliche Belastung. Mit großer Sicherheit aber ist der Schriftsteller, dem durch die gegenwärtig üblichen Verlagsverträge die juristische Hauptverantwortung zufällt, das wirtschaftlich schwächste Glied in der Kette. Kein Wunder also, wenn die Bereitschaft unter Autoren wächst, im Zweifelsfall sorgsam erwogene ästhetische Intentionen zurückzustellen und ein Buch umgehend zu entschärfen, sobald es angegriffen wird. So gewinnt die Furcht vor Rechtsstreitigkeiten immer mehr Einfluss auf die deutsche Gegenwartsliteratur. Um die mitunter nur heimlich wirksamen Mechanismen dieser Einflussnahme etwas deutlicher zu machen, möchte ich hier ein Beispiel etwas ausführlicher darstellen: Im Mai 2011 publizierte der in München lebende Schriftsteller Albert Ostermaier den autobiografischen Roman Schwarze Sonne scheine.7 Er berichtet darin von einem angehenden Schriftsteller, der ihm selbst in vielen Punkten zum Verwechseln ähnlich ist und einem Mönch, der auffällige Ähnlichkeiten mit Notker Wolf, dem höchsten Repräsentanten des Benediktinerordens zeigt. Anfang der neunziger Jahre schreibt der junge Romanheld erste Gedichte und träumt von literarischem Ruhm. Doch nach einer überstandenen Krankheit drängt ihn sein väterlicher Freund, der zugleich Abt des nahe gelegenen Benediktinerklosters ist, zu einer gründlichen Nachuntersuchung. Der Geistliche verfügt über beste medizinische Kontakte und empfiehlt eine geniale Ärztin, eine Virologin am Max-Planck-Institut: „Diese Frau ist ein Geschenk des Himmels“.8 Ihr vertraut sich der Nachwuchsdichter tatsächlich an, und das Ergebnis der Untersuchung ist niederschmetternd: Ein heimtückisches Virus hat ihn befallen, er wird in spätestens sechs Monaten tot sein, wenn er nicht sofort mit der Virologin zu einer Spezialtherapie in die USA aufbricht. Möglicherweise ist eine Lebertransplantation nötig. Die Hiobsbotschaft versetzt den jungen Autor verständlicherweise in Panik, dennoch besteht er auf einer Kontrolluntersuchung durch einen weiteren Mediziner. Doch die braucht Zeit, wochenlang schwebt die Diagnose wie ein Todesurteil über dem Dichter. Schließlich stellt sich zweierlei heraus: Der junge Mann ist kerngesund und die angebliche Virologin gar keine Ärztin, sondern eine Möchtegern-Medizinerin, die ihr Studium nach dem sechsten Semester abgebrochen hat. In ein ungünstiges Licht gerät damit allerdings auch jener väterliche Freund, der die vermeintliche Ärztin und Virologin empfahl – zumal er ihr bereits etliche Klosterbrüder als Patienten zuführte und nach ihrer Entlarvung nicht juristisch gegen sie vorgeht.

7 Albert Ostermaier: Schwarze Sonne scheine. Berlin 2011. 8 Ebd., S. 13.

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Soweit der Roman. In ihm hat Ostermaier diesem Geistlichen den Namen Silvester gegeben. Doch in einem Kapitel beschreibt er ihn näher, vor allem seine Neigung zu öffentlichkeitswirksamen Auftritten: Er werde, heißt es, „der rockende Abt“9 genannt, da er gelegentlich in Mönchskutte mit einer Hard-Rock-Gruppe auftritt und auf der Querflöte Songs wie „Lokomotive Breath“10 von Jethro Tull spielt. Der Hinweis ist deutlich: Notker Wolfs Auftritte als ‚rockender Abt‘ mit der Gruppe Feedback sind von Kirchentagen und aus Talkshows bekannt. Sein Querflöten-Solo zu Locomotive Breath ist auf YouTube abrufbar.11 Zudem gibt es Verbindungen zwischen Ostermaier und Wolf. Wer ihre Namen gemeinsam in Internet-Suchmaschinen überprüft stellt fest, dass beide Absolventen derselben Schule sind: des Rhabanus-Maurus-Gymnasiums im oberbayerischen St. Ottilien, das lange vom dortigen Benediktinerkloster getragen wurde. Im Fall des verbotenen Romans Esra war es ähnlich: Autor Maxim Biller hatte über seine Heldin im Buch geschrieben, sie habe als junge Türkin einen Filmpreis erhalten. Mit diesen Angaben war über das Internet ihre Identität problemlos zu ermitteln. Dass Leser kaum je auf die Idee kommen, denkbaren Vorbildern für Romanfiguren per Suchmaschine auf die Spur zu kommen, konnte die Verfassungsrichter bei ihrer Entscheidung nicht beirren. Ihrer Ansicht nach reicht es bereits aus, wenn nur der engste Bekanntenkreis der Betroffenen sie im Roman wiederzuerkennen vermag. Nach diesen Kriterien kann an der Identifizierbarkeit Notker Wolfs in Ostermaiers Roman wenig Zweifel bestehen. Dennoch blieb das Buch juristisch unbehelligt. Denn für ein Verbot müssten zwei Bedingungen erfüllt sein: Eine reale Figur wird erkennbar geschildert, und sie wird durch die Darstellung im Buch in ihren Persönlichkeitsrechten schwerwiegend verletzt. Doch Ostermaier hält sich im Roman bei allen Spekulationen darüber, welche Art von Verbindungen zwischen der Scheinmedizinerin und dem musizierenden Gottesmann bestehen könnte, auffällig zurück. Sein jugendlicher Held setzt hinter jede Vermutung über die Rolle des Geistlichen bei dem obskuren Zwischenfall immer wieder Fragezeichen. Die Motive des Klostervorstands bleiben damit in der Schwebe. Mehr noch, Ostermaier schreibt über den Abt sogar ausdrücklich: „Hundertprozentig hatte er keine Pläne entworfen und dann den Gewinn geteilt oder abgerechnet, so war er nicht.“12 Und die Überlegung, die Hochstaplerin und der Klosterchef hätten sich vielleicht als Herren über Leben und Tod der angeblich sterbenskranken Patienten gefühlt, gibt Ostermaier als Entwurf zu einem Thriller9 Ebd., S. 172. 10 Ebd. 11 URL: http://www.youtube.com/watch?v=QZlmIJxMTIA (Stand: 3.2.2012). 12 Ostermaier: Schwarze Sonne, S. 260.

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Drehbuch aus, der seinem jungen Romanhelden durch den Kopf schießt.13 Also als eine Fiktion innerhalb der Fiktion des Romans. Das macht das Buch juristisch schwer angreifbar. Offenbar hat sich Ostermaier bei der Arbeit an seinem Roman rechtlich eingehend beraten lassen. Nach dem Esra-Urteil wurde gelegentlich die Befürchtung geäußert, künftig würden in den Verlagen nicht mehr nur die Lektoren, sondern in hohem Maße auch die Anwälte über die Form entscheiden, in der Romane erscheinen. Ostermaiers Schwarze Sonne scheine könnte dafür ein guter Beleg sein. Zeigt sich hier der Anfang einer juristisch zur Konfliktscheu gezwungenen Literatur, für die Romane zu einer nach rechtlichen Vorgaben beliebig formbaren Verfügungsmasse werden? Parallel zu den Verfahren im Fall Esra wurde von Kritikern nicht selten behauptet, es sei für die Schriftsteller doch ein Leichtes, ihre Figuren so zu verfremden, dass niemand sich in ihnen wiedererkennen und also auch niemand in seinen Persönlichkeitsrechten beeinträchtigt fühlen könne. Das mag sein, ob das aber in jedem Fall der literarischen Qualität der Bücher zuträglich ist, darf man bezweifeln. Es gibt mitunter sehr gute Gründe für einen Autor, sich in seiner Literatur möglichst eng an das zu halten, was üblicherweise die ‚Realität‘ genannt wird. Nehmen wir zum Beispiel Georg Büchners Jahrhundertdrama Dantons Tod. Er hat darin nicht nur reale Personen unter ihren realen Namen geschildert, sondern ihnen auch über weite Strecken ihre real gesprochenen historischen Worte in den Mund gelegt. An ihrer Wiedererkennbarkeit kann juristisch kein Zweifel sein. Als Büchner sein Stück 1835 veröffentlichte, lebte Dantons Frau Louise Gély noch. Im Stück nennt Büchner sie Julie, lässt sie mit ihrem Mann in inniger ehelicher Vertrautheit ins Bett gehen und am Ende auf offener Bühne Selbstmord verüben. Beide Szenen wären nach heute geltender Rechtsprechung problematisch, Büchners Stück würde mit großer Sicherheit verboten. Auch das juristische Argument, Danton und Robespierre seien Personen der Zeitgeschichte bzw. Personen des öffentlichen Lebens, die ein öffentliches Interesse an Informationen aus ihrer Privatsphäre hinnehmen müssten, könnte das Drama vor dem Verbot nicht retten. Denn Dantons Frau stand nicht im öffentlichen Leben, hatte keine historische Funktion während der Französischen Revolution und war mithin keine Person der Zeitgeschichte. Zudem verletzen die beiden genannten Szenen nicht nur ihre Privat-, sondern ihre absolut geschützte Intimsphäre. Dennoch war es aus ästhetischer Sicht richtig, dass Büchner wiedererkennbare reale Personen beschrieb. Es ging Büchner in Dantons Tod nicht um eine hypothetische Revolution, nicht darum, ein dramatisches Gedankenexperiment

13 Vgl. ebd., S. 260–264.

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namens Revolution an imaginärem Ort, zu fiktiver Zeit mit erdachtem Personal durchzuspielen. Vielmehr zielte er auf literarische und intellektuelle Unmittelbarkeit, auf eine durch historische Tatsachen beglaubigte Dringlichkeit seines Stücks. Er wollte ein entscheidendes Kapitel europäischer Geschichte, den Beginn der politischen Moderne, in seinem geschichtlich verbürgten Verlauf aus der Perspektive eines desillusionierten Nachgeborenen darstellen. Kurz, er wollte aus Leben Literatur machen. Büchners geniales Stück zeigt exemplarisch, dass es nicht notwendig Skandalgier, Leichtfertigkeit oder künstlerisches Unvermögen sind, die einen Schriftsteller dazu bringen, auf reale Personen als erkennbare Vorbilder für seine fiktiven Figuren zurückzugreifen, sondern dass es für solche ästhetischen Entscheidungen die besten, die überzeugendsten Gründe geben kann – Gründe, die einem Zeitgenossen des Autors vielleicht nicht sofort einsichtig sind. Die Glaubwürdigkeit von Dantons Tod, seine quälende historische Überzeugungskraft wäre geringer, hätte Büchner nicht auf geschichtlich verbürgte Fakten und Personen zurückgegriffen, hätte er nicht versucht, aus dem Leben Literatur zu machen. Auch wenn das auf Kosten der Persönlichkeitsrechte von Dantons Frau Louise Gély ging. Vergleichbaren Ambitionen hat das Verfassungsgericht mit seinem EsraUrteil ein erhebliches und in seiner Wirkung schwer kalkulierbares Hindernis in den Weg gestellt. Schriftsteller, die mit Büchnerscher Dringlichkeit und Direktheit ihre Gegenwart oder jüngere Vergangenheit zur Sprache bringen wollen, müssen heute in Deutschland mit beträchtlichen juristischen Widerständen rechnen. Natürlich kann man sich auf den Standpunkt stellen, die Persönlichkeitsrechte seien heute in besonders großer Gefahr und müssten deshalb besonders nachdrücklich verteidigt werden. Das ist sicher richtig, aber die großen Gefahren für die Persönlichkeitsrechte gehen heute doch wohl von manchen Formen des Boulevard-Journalismus und von der enormen Macht sozialer Netzwerke wie facebook aus, nicht aber von der Literatur. Im Gegenteil, die Literatur braucht Verteidiger. Immer mehr Leser (auch Leser in Richterroben) scheinen in der Literatur nur noch einen zu Text geronnenen Abklatsch dessen sehen zu wollen, was der jeweilige Autor erlebt hat – und übersehen damit die eigentlich literarische, das Erlebnismaterial künstlerisch formende Arbeit des Autors. Es ist bis heute nicht einzusehen, weshalb nur so wenige Literaturkritiker, Verleger und Schriftsteller bereit waren, sich während der langen Esra-Prozesse öffentlich für die Interessen der Literatur einzusetzen und das Romanverbot als das zu bezeichnen, was es ist: ein Skandal.

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Offener Brief an Angela Merkel: Deutschland ist ein Überwachungsstaat 1

32 Schriftsteller fordern von der Bundeskanzlerin Aufklärung in der Prism-Affäre Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, seit Edward Snowden die Existenz des Prism-Programms öffentlich gemacht hat, beschäftigen sich die Medien mit dem größten Abhörskandal in der Geschichte der Bundesrepublik. Wir Bürger erfahren aus der Berichterstattung, dass ausländische Nachrichtendienste ohne konkrete Verdachtsmomente unsere Telefonate und elektronische Kommunikation abschöpfen. Über die Speicherung und Auswertung von Metadaten werden unsere Kontakte, Freundschaften und Beziehungen erfasst. Unsere politischen Einstellungen, unsere Bewegungsprofile, ja, selbst unsere alltäglichen Stimmungslagen sind für die Sicherheitsbehörden transparent. Damit ist der „gläserne Mensch“ endgültig Wirklichkeit geworden. Wir können uns nicht wehren. Es gibt keine Klagemöglichkeiten, keine Akteneinsicht. Während unser Privatleben transparent gemacht wird, behaupten die Geheimdienste ein Recht auf maximale Intransparenz ihrer Methoden. Mit anderen Worten: Wir erleben einen historischen Angriff auf unseren demokratischen Rechtsstaat, nämlich die Umkehrung des Prinzips der Unschuldsvermutung hin zu einem millionenfachen Generalverdacht. Frau Bundeskanzlerin, in Ihrer Sommer-Pressekonferenz haben Sie gesagt, Deutschland sei „kein Überwachungsstaat“. Seit den Enthüllungen von Snowden müssen wir sagen: leider doch. Im gleichen Zusammenhang fassten Sie Ihr Vorgehen bei Aufklärung der Prism-Affäre in einem treffenden Satz zusammen: „Ich warte da lieber.“ Aber wir wollen nicht warten. Es wächst der Eindruck, dass das Vorgehen der amerikanischen und britischen Behörden von der deutschen Regierung billigend in Kauf genommen wird. Deshalb fragen wir Sie: Ist es politisch gewollt, dass die NSA deutsche Bundesbürger in einer Weise überwacht, die den deutschen Behörden durch Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht verboten ist? Profitieren die deutschen Dienste von den Informationen der amerikanischen Behörden, und liegt darin der Grund für Ihre zögerliche Reaktion? Wie kommt es, dass BND und Verfassungsschutz das NSA-Spähprogramm XKeyScore zur Über-

1 Erstveröffentlichung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung v. 26.7.2013, S. 33.

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wachung von Suchmaschinen einsetzen, wofür es keine gesetzliche Grundlage gibt? Ist die Bundesregierung dabei, den Rechtsstaat zu umgehen, statt ihn zu verteidigen? Wir fordern Sie auf, den Menschen im Land die volle Wahrheit über die Spähangriffe zu sagen. Und wir wollen wissen, was die Bundesregierung dagegen zu unternehmen gedenkt. Das Grundgesetz verpflichtet Sie, Schaden von deutschen Bundesbürgern abzuwenden. Frau Bundeskanzlerin, wie sieht Ihre Strategie aus? Juli Zeh, Ilija Trojanow, Carolin Emcke, Friedrich von Borries, Moritz Rinke, Eva Menasse, Tanja Dückers, Norbert Niemann, Sherko Fatah, Angelina Maccarone, Michael Kumpfmüller, Tilman Spengler, Steffen Kopetzky, Sten Nadolny, Markus Orths, Saša Stanišić, Micha Brumlik, Josef Haslinger, Simon Urban, Kristof Magnusson, Andres Veiel, Feridun Zaimoglu, Ingo Schulze, Falk Richter, Hilal Sezgin, Georg M. Oswald, Ulrike Draesner, Clemens J. Setz, Ulrich Beck, Katja LangeMüller, Ulrich Peltzer, Thomas von Steinaecker

Register Personen Aber, Adolf 22 Fn. 7 Achternbusch, Herbert 68 Fn. 4, 143 Acker, Kathy 175 Adenauer, Konrad 4 Fn. 11, 46, 49, 53, 67 Adlon, Felix 239 Adlon, Percy 239 Adorno, Theodor W. 196 Aesop 98 Agostini, Daniela 14 Fn. 42 Ahlsen, Leopold 241 Airen (Blogger), bürgerlicher Name unbekannt 174ff., 175 Fn. 50, Fn. 51 Alberti, Conrad 122, 124, 127 Albrecht, Ernst 240 Altenbourg, Gerhard 285f., 291, 293 Alverdes, Paul 37 Ambrosius 98 Anouilh, Jean 239ff. Antonioni, Micheangelo 236 Aquin, Thomas von 98 Aristoteles 98 Armstrong, Louis 240 Arndt, Adolf 49, 258 Arnim, Bettine von 239 Attali, Jacques 225 Aulich, Reinhard 68 Fn. 4, 242 Avicenna 98 Baader, Johannes 168, 168 Fn. 19 Baedeker, Hans 24 Balfour, Michael 28, 28 Fn. 26 Ball, Hugo 178 Balzac, Honoré de 96, 167 Bamm, Peter 83 Barca, Calderon de la 241 Barthes, Roland 213 Baselitz, Georg 126 Fn. 21, 128, 283, 286f., 292, 294 Bastin, Gilles 214 Bauckhage, Thomas 2 Bauer, Heinrich 241 Baum, Gerhart 233f.

Beaucamp, Eduard 6 Fn. 22 Beauvoir, Simone de 96, 104 Beck, Ulrich 312 Becker, Bernhard von 156, 196 Fn. 22 Becker, Jurek 150–163, 236, 243 Beckmann, Max 282f., 286 Beckmeier, Karl 11 Beheim-Schwarzbach, Martin 29 Fn. 30 Béjart, Maurice 240 Benedikt XIV., Papst 99 Benigni, Roberto 236 Benson, Rodney 213 Bergengruen, Werner 26 Fn. 20 Bergmann, Ingmar 237 Bergmann, Ingrid 103 Fn. 32 Berlusconi, Silvio 241 Bermann Fischer, Gottfried 30 Fn. 35 Bernhard, Thomas 143, 167 Fn. 13, 199 Berning, Wilhelm 102 Bertonati, Emilio 284 Besson, Benno 78 Beuys, Joseph 282, 287, 294 Bieler, Manfred 241 Biermann, Wolf 150f., 154, 156, 211 Biller, Maxim 3, 3 Fn. 10, 9, 11, 14 Fn. 42, 15, 170, 177–181, 183, 185f., 188f., 196, 242, 297–300, 305, 308 Bishop, Alec 23 Blunck, Hans Friedrich 25 Fn. 20 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 104 Boehlke, Edgar M. 269 Bohlen, Dieter 297, 300 Böll, Heinrich 135, 176, 252, 258 Boltanski, Luc 222 Borchmeyer, Dieter 182 Fn. 81 Borries, Friedrich von 312 Bourdieu, Pierre 12, 157f., 180, 212–227, 214 Fn. 11, 214 Fn. 13, 221 Fn. 33, 223 Fn. 39, 224 Fn. 42, 226 Fn. 51 Brandt, Willy 60, 254, 259 Braudel, Fernand 226 Braun, Karlheinz 273

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Register

Braun, Volker 152, 211 Brecht, Bertolt 67f., 68 Fn. 4, 72–85, 93ff., 170, 241 Brender, Nikolaus 2 Fn. 6 Brentano, Heinrich von 46, 73–77, 93f. Breton, Phillipe 214 Bridge, Ann 30 Fn. 35 Brock, Bazon 178 Brockway, Fenner 31 Broder, Henryk M. 135, 181 Brown, Spencer Curtis 21 Brüggemeyer, Maik 305f. Brumlik, Micha 312 Bruno, Giordano 96 Bruns, Volker 14 Fn. 42 Brus, Günter 146 Brusberg, Dieter 284 Bubis, Ignatz 181, 262, 265f., 266 Fn. 5, 268, 271ff. Buchholz, Ernst 127, 251, 256 Buchmann, Josef 262, 271 Büchner, Georg 309f. Buñuel, Luis 236 Busch, David-Alexander 197 Fn. 24 Camus, Albert 11, 239, 254 Caravaggio, Michelangelo Merisi da 293 Cartier-Bresson, Henri 240 Carwin, Susanne 7 Fn. 22 Cavada, Jean-Marie 219f. Celan, Paul 200 Chillida, Eduardo 295 Cicero 98 Claus, Carlfriedrich 291 Cohn-Bendit, Daniel 277 Collmann, Julius August 228 Comte, Auguste 96 Conradi, Hermann 122f. Cram, Herbert 29 Fn. 30 Cremer, Fritz 284, 289 Danton, Georges Jacques 309f. Danton, Sébastienne-Louise siehe auch Gély, Sébastienne-Louise 309f. Dali, Salvador 295 Débray, Régis 214 Dedijer, Vladimir 137 Fn. 16

Delius, Friedrich Christian 3 Fn. 10, 10 Derrida, Jacques 166 Descartes, René 96 Detering, Heinrich 171 Fn. 27, 172 Dibelius, Otto 11, 247f., 254 Diderot, Denis 236 Diez, Georg 233f. Dische, Irene 272 Dix, Otto 282 Döblin, Alfred 119–123, 121 Fn. 9, 126, 128f., 131, 241, 263 Döhl, Reinhard 126, 126 Fn. 21 Doldinger, Klaus 161 Dönhoff, Marion Hedda Ilse Gräfin 136f. Dörner, Andreas 213, 215, 226f. Dorst, Tankred 241 Draesner, Ulrike 312 Dresen, Adolf 273 Drewitz, Ingeborg 135 Dumas, Alexandre 96 Durand, Guillaume 220 Dückers, Tanja 312 Dürrenmatt, Friedrich 241 Duve, Freimut 135 Dwinger, Edwin Erich 36 Fn. 58, 37 Eco, Umberto 157, 159 Edschmid, Kasimir 257 Eggebrecht, Harald 239 Fn. 62 Eilers, Wolfgang 135 El Greco, Pseudonym für Domínikos Theotokópoulos 293 Eliot, Thomas Stearns 240 Elli, Bret Easton 10 Emcke, Carolin 312 Enzensberger, Hans Magnus 134, 238, 252f., 257 Erhard, Ludwig 258 Escarpit, Robert 213 Euklid 98 Euringer, Richard 25 Fn. 20 Export, Valie 146 Fallada, Hans 30 Fn. 35 Farquhar, George 78 Fassbinder, Rainer Werner 241, 241 Fn. 74, 261–264, 267, 269f., 273–278

Personen

Fatah, Sherko 312 Fauth, Harry 153 Fellini, Federico 236 Ferry, Luc 225 Fest, Joachim 274–277, 286 Feuchtwanger, Lion 22 Fn. 7, 24 Fn. 15 Feuchtwanger, Ludwig 22 Fn. 7 Finkielkraut, Alain 225 Finnern, Dieter 162f. Fischer, Jens-Malte 239 Fn. 62 Flake, Otto 83 Flaubert, Gustave 96 Foht, Udo 14 Fn. 42 Fontane, Theodor 199, 260, 301 Forte, Dieter 241 Foschepoth, Joseph 4, 4 Fn. 11 Foucault, Michel 12, 118, 140, 145, 180, 209 Fn. 15, 223f. Franco, Francisco (Francisco Franco Bahamonde) 31, 295 Frankenfeld, Peter 240 Freud, Sigmund 24 Fn. 15 Frickel, Thomas 13 Fn. 40 Friedensburg, Ferdinand 87 Friedmann, Georges 213 Friedrich II., König von Preußen 96 Friedrich, Wilhelm 122f., 127 Frings, Josef 106, 108 Frisch, Max 241 Fröhlich, Gerhard 213 Fry, Christopher 240 Fuchs, Jürgen 154 Funder-Donoghue, Marie Pseudonym für Heinze, Doris J. 14 Fn. 42, 232f., 236, 240 Furth, Charles 21–26, 22 Fn. 7, 33, 34 Fn. 46 Gadamer, Hans-Georg 196 Fn. 22 Galenos von Pergamon 98 Garnett, David 30 Fn. 35 Gély, Sébastienne-Louise siehe auch Danton, Sébastienne-Louise 309f. Genet, Jean 10, 15, 126 Fn. 21, 127f., 134, 256 George, Stefan 184 Gershwin, George 240 Gide, André 104

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Gillen, Eckhart 294 Giraudoux, Jean 240 Glasenapp, Elisabeth von 82 Goebbels, Joseph 210 Goethe, Johann Wolfgang von 170, 184, 199, 301 Goetz, Rainald 168 Goldscheider, Ludwig 22 Fn. 7 Goldt, Max 158 Gorski, Peter 242 Graf, Oskar Maria 30 Fn. 35 Grass, Günter 10f., 15, 134, 148, 169, 242, 248, 250, 252–260, 286 Graves, Robert 30 Greene, Graham 31 Greiner, Ulrich 155, 183 Grelling, Richard 124f. Grimm, Hans 36f., 36 Fn. 58, 37 Fn. 65, Fn. 66 Grosz, George 282 Grotius, Hugo 96 Grün, Max von der 241 Gründgens, Gustav 130 Grundig, Hans 281, 294 Grützke, Johannes 292 Grzimek, Waldemar 282 Gstrein, Norbert 169, 188, 200 Guratzsch, Herwig 288 Gürsel, Nedim 183 Guttuso, Renato 290 Gutzkow, Karl 181 Habermas, Jürgen 136f., 209 Fn. 15, 228f., 231 Hager, Kurt 152f. Halimi, Serge 218 Halliday, Geoffrey 34 Fn. 46 Hallstein, Walter 73f. Haslinger, Josef 312 Hasselblatt, Dieter 83 Hauptmann, Elisabeth 78 Hauptmann, Gerhart 124f., 187, 240 Hausmann, Raoul 168, 168 Fn. 19 Hauswedell, Ernst 28, 41 Heer, Hannes 71, 77 Hegemann, Helene 170, 173, 176ff., 186 Heim, Friedrich 52

316

Register

Heine, Heinrich 96, 99 Heinze, Doris J. siehe auch Funder-Donoghue, Marie 14 Fn. 42, 232f., 236, 240 Heinze-Mansfeld, Michael 11 Heisig, Bernhard 279, 283–286, 288–291, 293 Heldt, Waldemar 28 Hemsath, Heinrich 257 Herbst, Alban Nikolai 11, 188, 297, 299f. Herbst, Christoph Maria 306, 306 Fn. 6 Herburger, Günter 241 Herder, Johann Gottfried 148 Fn. 38 Hermlin, Stephan 156 Herodot von Halikarnass 98 Herrndorf, Wolfgang 171 Hertz, Michael 285 Herzog, Roman 70 Heym, Stefan 156 Heym, Wolf 156 Hickethier, Knut 235, 237, 240 Hinrich, Johann Conrad 24 Hippokrates 98 Hitler, Adolf 31, 74, 100, 142, 254, 274 Hobbes, Thomas 96 Hochhuth, Rolf 134 Hochmeister, Lutz 217 Hochwälder, Fritz 241 Hofer, Karl 282 Hoffmann, Hilmar 269 Hoffmann-Riem, Wolfgang 70 Hofmannsthal, Hugo von 184 Hofmann, Werner 286 Hölderlin, Friedrich 273 Holitscher, Arthur 187 Holtzbrinck, Georg von 241 Homer 98 Homeyer, Fritz 22 Fn. 7 Honisch, Dieter 288 Höpcke, Klaus 152f. Hopkins, Gerard 30 Horovitz, Bela 22 Fn. 7 Horváth, Ödon von 240 Hrdlicka, Alfred 286 Hugo, Victor 96 Humer, Martin 144 Hünermann, Peter 114

Imbert, Claude 225 Immendorff, Jörg 294 Isherwood, Christoper 31 Ismay, Hastings Lionel 66 Jahraus, Oliver 180 Janssen, Horst 286 Jaspers, Karl 258 Jens, Walter 134, 257 Jethro Tull (Ian Anderson) 308 Johannes Paul II. 112f. Johannes XXIII. 110f. Johows, Eberhard 81 Julliard, Jacques 225 Jung, Carl Gustav 257 Jung, Franz 168 Jünger, Ernst 26 Kafka, Franz 180 Kahn-Ackermann, Georg 73f. Kaiser, Georg 240 Kaiser, Joachim 134, 254, 275 Kämmerling, Richard 188 Kant, Immanuel 96, 108, 140 Kapp, Friedrich 228 Karasek, Hellmuth 156ff., 188 Kästner, Erich 11, 251, 254 Keilhack, Irma 88f. Keller, Gottfried 301 Kellermeier, Jürgen 233 Kemmer, Emil 67, 86f. Kempf, Wilhelm 105 Kempker, Birgit 188 Kerschbaumer, Marie-Thérèse 144 Keun, Irmgard 30 Fn. 35 Kienzle, Michael 12, 136 Kiesel, Helmuth 182 Fn. 81 Kiesinger, Kurt Georg 259 Kieślowski, Krzysztof 237 Kippenberg, Anton 30 Fn. 35 Kipphardt, Heinar 241 Kirch, Leo 241 Kirkness, Kenneth 34, 34 Fn. 46 Klee, Paul 240, 282f. Klinsmann, Luise 78, 80 Klopstock, Friedrich Gottlieb 185 Klotz, Heinrich 292

Personen

Kluge, Alexander 164, 271 Koenigs, Tom 276f. Koepgen, Georg 104 Koestler, Arthur 31 Kohl, Helmut 265 Kokoschka, Oskar 282 Kollwitz, Käthe 283 Kopetzky, Steffen 312 Korn, Benjamin 266 Kramar, Hubert 144 Kreisky, Bruno 143 Krenn, Kurt 144 Krüger, Horst 83 Kühling, Jürgen 4 Fn. 11 Kumpfmüller, Michael 312 Kunze, Rainer 151 Kurosawa, Akira 236 L’Hôte, Gilles 215 Landauer, Richard 22 Fn. 7 Lang, Fritz 240 Lange-Müller, Katja 312 Langenbucher, Helmuth 210 Laros, Matthias 104 Lawrence, Herbert 10 Léger, Fernand 290 Lehr-Metzger, Beate 14 Fn. 42 Lemieux, Cyril 214, 222, 223 Fn. 39 Lenau, Nicolaus 99 Lenin, Wladimir Iljitsch 100 Leo XIII., Papst 99, 109 Lessing, Gotthold Ephraim 99, 263 Lévi-Strauss, Claude 226 Lévy, Bernhard-Henri 225f. Liebermann, Reinhard 11, 188 Liepmann, Hans 30 Fn. 35 Litten, Hans 31 Litten, Irmgard 31 Löffler, Martin 70 Löffler, Sigrid 156 Lommer, Horst 241 Lorenz, Matthias N. 182f. Lubitsch, Ernst 237 Ludwig, Emil 24 Fn. 15 Ludwig, Peter 285, 287, 291 Luley, Peter 236 Lüpertz, Markus 283

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Maccarone, Angelina 312 Magnus, Josef 25 Fn. 20 Magnusson, Kristof 312 Mahler, Gustav 239, 239 Fn. 61, Fn. 62, Fn. 63, 243 Fn. 83 Maimonides, Moses 96 Mankell, Henning 164 Mann, Golo 286 Mann, Heinrich 239 Mann, Klaus 1, 3 Fn. 10, 9, 14 Fn. 42, 15, 129f., 134, 179, 242 Mann, Thomas 170f., 171 Fn. 27, 179, 187f., 187 Fn. 5, 199, 260 Manzoni, Alessandro 239 Marcks, Gerhard 282 Martini, Fritz 257 Martus, Steffen 166 Marx, Karl 215 Mattelart, Armand 214 Mattheuer, Wolfgang 279, 282–286, 289ff. Maugham, Somerset 240 May, Karl 168, 168 Fn. 18 Mead, George Herbert 203 Mehring, Franz 125 Mehring, Walter 263 Meiner, Felix 24, 38f., 39 Fn. 75 Meiner, Richard 39 Menasse, Eva 312 Menasse, Robert 146 Mende, Dirk 12, 136 Menzel, Adolph 283 Menzel, Wolfgang 181f. Merkel, Angela 2 Fn. 6, 311 Metzkes, Harald 293 Mevissen, Annemarie 253 Michelangelo da Caravaggio 293 Michel, Ernst 104 Mill, John Stewart 96 Millar, Hoyer 53 Miller, Henry 10, 252 Minc, Alain 225 Minks, Wilfried 273 Miró, Juan 295 Mitscherlich, Alexander 262 Mix, York-Gothart 152, 163, 201 Mohn, Heinrich 35 Fn. 54, 36

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Register

Mohn, Reinhard 34, 37, 37 Fn. 65 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de 96 Montgomery, Bernard Law 21 Montini, Giovanni Battista 110f. Morgner, Michael 291 Morin, Edgar 213 Muckermann, Friedrich 102 Muckermann, Hermann 102 Mühl, Otto 146 Müller, Beate 3 Fn. 10, 152 Musil, Robert 199 Mussolini, Benito 100 Mutzenbacher, Josefine 297 Nabokov, Vladimir 10f., 254 Nadolny, Sten 312 Nannen, Henri 286 Nay, Ernst-Wilhelm 288 Negt, Oskar 137–141, 144, 146 Nerlinger, Oskar 282 Neubert, Willi 284 Neuhaus, Stefan 180 Neveu, Eric 213 Niemann, Norbert 312 Nitsch, Hermann 146 Noltenius, Johanne 70, 77, 93 Novotny, Franz 143 O’Neill, Eugene 240 Olden, Rudolf 31 Orths, Markus 312 Orwell, George 147, 239 Ostermaier, Albert 307ff. Oswald, Georg M. 312 Ottaviani, Alfredo 107–111 Ottinger, Emil 257 Otto, Ulla 231, 234 Ovid (Publius Ovidius Naso) 177 Pagnol, Marcel 240 Pahl, Gisa 14 Fn. 42 Palitzsch, Peter 273 Panizza, Oskar 143 Paracelsus 98 Pascal, Blaise 96 Passig, Kathrin 170–173, 171 Fn. 27

Paul III., Papst 97 Paul VI., Papst 96f., 107f., 111 Peiner, Werner 290 Peltzer, Ulrich 312 Penck, A. R. Pseudonym für Winkler, Ralf 283, 285, 291 Pfohlmann, Oliver 210f. Picasso, Pablo 285, 290 Piehler, Hermann Augustine 23, 34 Fn. 46, 38f., 38 Fn. 72 Pierre, Abbé 219, 221 Pitigrilli Pseudonym für Serge, Dino 12 Pius IV., Papst 109 Pius XI., Papst 100f. Pius XII., Papst 102f., 110 Plachta, Bodo 242 Platon 98 Polak, Oliver 181 Poland, Hans Jürgen 259 Pope-Hennessy, John 30 Fn. 35 Powys, Theodore Francis 30 Fn. 35 Prager, Eugen 22 Fn. 7 Preiß, Achim 6 Fn. 22 Preiss, Hans 22 Fn. 7 Priestley, John Boyton 240 Prümm, Karl 241 Pusch, Hanns Ullrich 80 Radbruch, Gustav 182, 182 Fn. 81 Raddatz, Fritz J. 299 Radisch, Iris 172 Rainer, Arnulf 292 Rathenau, Walter 24 Fn. 15 Ratzinger, Joseph 106, 117 Fn. 69 Rauch, Neo 279, 295 Reagan, Ronald 265 Reddick, John 255 Rehbein, Boike 212 Reich-Ranicki, Marcel 155–159, 181f., 184f., 243 Reinhardt, Hartmut 148 Fn. 38 Reitz, Edgar 241 Reni, Guido 293 Richter, Dieter 141, 141 Fn. 27 Richter, Falk 312 Richter, Gerhard 294 Richthofen, Bernhard von 124

Personen

Rihm, Wolfgang 234 Rinke, Moritz 312 Robespierre, Maximilien Marie Isidore de 309 Rochefort, Christiane 10 Rötzer, Florian 214, 217 Rousseau, Jean-Jacques 96 Rowohlt, Ernst 41 Rubens, Peter Paul 291, 293 Ruge, Arnold 228 Rühle, Günther 269f., 273–276, 278 Rühm, Gerhard 146 Ruiss, Gerhard 145 Rupp-von Brünneck, Wiltraut 130 Russel, Bertrand 136 Russell, Ken 239 Saint-Exupéry, Antoine de 263 Sand, George 96 Saroyan, William 240 Sartre, Jean-Paul 96, 104, 108, 136, 239 Saunders, Frances 281 Schaaf, Johannes 273 Schäfer, Wilhelm 37 Schamoni, Ulrich 10, 91f. Scheps, Marc 285 Schirrmacher, Frank 155, 182 Schlapper, Ernst 82ff., 94 Schlegel, Friedrich 184 Schlemmer, Oskar 282 Schmidt, Daniel 263 Schmidt, Gerhardt 13 Fn. 39 Schmidt, Harald 241 Schmidt, Helmut 259, 265, 286 Schneede, Uwe M. 292 Schneidermann, Daniel 220ff., 221 Fn. 33 Schnitzler, Arthur 240 Schnurre, Wolfdietrich 241 Schoening, Eduard 33 Scholz, Aleks 173, 173 Fn. 37 Scholz, Rupert 76, 81 Schönberg, Arnold 187 Schröder, Gerhard 56 Schröder, Marion von 30 Fn. 35 Schroeter, Werner 143 Schultze, Bernhard 292 Schulze, Ingo 312

Schumacher, Emil 282 Schumann, Clara siehe auch Wieck, Clara 238 Fn. 59 Schumann, Robert 238, 238 Fn. 59, Fn. 61 Schuster, Peter-Klaus 288 Schwab, Ulrich 273 Schwanitz, Dieter 188 Schwedt, Herman H. 97 Schwitters, Kurt 282 Scotus, Duns 96 Seemann, Elert 35 Seiler, Eugen 91 Seitz, Gustav 282 Selmi, Ali 271 Serge, Dino siehe auch Pitigrilli 12 Setz, Clemens J. 312 Seume, Johann Gottfried 239 Sezgin, Hilal 312 Shakespeare, William 187 Fn. 5, 240 Shaw, George Bernhard 240f. Sievers, Rudolf 11 Simon, Horst 153 Sitte, Willi 284f., 288–292 Sitwell, Edith 30 Snowden, Edward 4, 5 Fn. 14, 311 Sobrino, Jan 114 Sorman, Guy 225 Spengler, Tilman 312 Sprengel, Bernhard 286 Springer, Axel 241 Staeck, Klaus 135 Stalin, Josef 100, 153 Stanišić, Saša 312 Stefen, Rudolf 92 Steguweit, Heinz 25 Fn. 20 Stein, Erwin 83, 130, 301ff. Steinbach, Peter 241 Steinaecker, Thomas von 312 Stelzmann, Volker 286, 289, 292 Sterne, Laurence 236 Strachey, Lytton 30 Fn. 35 Strauß, Franz Josef 250, 259 Strobel, Jochen 243 Fn. 83 Strohbach, Gertrud 87 Suckale, Robert 292 Suhrkamp, Peter 73ff.

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Register

Tabori, George 268 Tacitus, Publius Cornelius 98, 177, 179 Tannert, Hannes 82, 84 Tàpies, Antoni 295 Thiele, Grete 87 Thomé, Joseph 104 Thompson, George 25, 34 Fn. 46 Thukydides 98 Tieck, Ludwig 165f., 169, 184ff. Tinguely, Jean 292 Tarantino, Quentin 237 Traven, B. 30 Fn. 35 Treitschke, Heinrich von 24 Fn. 15 Triegel, Michael 292f. Trier, Lars von 236f. Trojanow, Ilja 148, 149 Fn. 40, 312 Tübke, Werner 279, 282–286, 289, 291–295 Turrini, Peter 144 Twain, Mark 239 Uebel, Tina 306 Ulbricht, Walter 75, 82 Ullstein, Rudolf 22 Fn. 7 Unseld, Siegfried 185 Unseld-Berkewicz, Ulla 188, 200 Unwin, Stanley 23f., 23 Fn. 12, Fn. 13, 24 Fn. 14, Fn. 16, 33, 39, 39 Fn. 75 Urban, Simon 312 Vaihinger, Hans 195 Valentin, Thomas 241 Veiel, Andres 312 Viney, Elliot 34 Fn. 46 Viseur, Raimund le 247f. Vogel, Bernhard 240 Vogt, Ludgera 213, 215, 226f. Voltaire Pseudonym für François-Marie Arouet 96 Wallerand, Theodor 255 Wallmann, Walter 269, 276

Walloth, Wilhelm 122 Walser, Martin 170, 179, 181–186, 263 Warhol, Andy 285 Wassermann, Jakob 24 Fn. 15 Watzlawick, Paul 168 Weber, Carl Maria 78 Wedekind, Frank 73 Weech, Friedrich von 228 Wegner, Christian 29 Weibel, Peter 146 Weizsäcker, Richard von 286 Wellershoff, Dieter 241 Wessel, Horst 74, 93 Wieck, Clara siehe auch Schumann, Clara 238 Fn. 59 Wilder, Thornton 240 Willer, Robert 40 Williams, Tennessee 240 Winnig, August 35 Fn. 54, 36 Winkler, Ralf siehe auch Penck, A. R. 283, 285, 291 Witsch, Josef 39 Wixforth, Fritz 26 Wohmann, Gabriele 241 Wolf, Christa 150f., 155ff., 211 Wolf, Notker 307f. Wolton, Dominique 213f., 214 Fn. 11, 218, 226f. Wündrich, Bettina 6 Fn. 20 Wüstenhöfer, Arno 78ff. Zadek, Peter 275 Zaimoglu, Feridun 312 Zeh, Juli 148f., 312 Zens, Maria 181 Ziegler, Benno 25f., 25 Fn. 20 Ziesel, Kurt 242, 256ff. Zimmermann, Harro 253 Zsolnay, Paul 22 Fn. 7 Zuckmayer, Carl 241 Zykan, Otto M. 143

Verlage

321

Verlage Allen & Unwin 21, 22 Fn. 7, 23, 24 Fn. 15, 38 Aschendorff Verlag 33 Atrium/Williams Verlag (Williams & Co.) 22 Fn. 7

A. Leonidow Verlag 40 LIBER éditions 218 Luchterhand Literaturverlag 257

Karl Baedeker 23 Fn. 16 Bauer Verlagsgruppe (Bauer Media Group) 241 Bertelsmann Verlag 26, 34, 35 Fn. 54, 36, 241

Novello & Co. 22 Fn. 7

Chatto & Windus 30, 30 Fn. 35 Delphin Verlag 22 Fn. 7 dtv (Deutscher Taschenbuch Verlag) 239 Fn. 62

Felix Meiner Verlag 24, 38, 39 Fn. 75

Oxford University Press 30, 30 Fn. 34 Phaidon Verlag 21 Fn. 7 R. Piper Verlag 30 Fn. 35 Prestel Verlag 30 Fn. 35 Rabenpresse 30 Fn. 35 Regensberg Druck und Verlag 33 Rotbuch Verlag 136 Rowohlt Verlag 30 Fn. 35, 41, 41 Fn. 87

Éditions du Seuil 218 Fischer Verlag 30 Fn. 35 Friedrich Middelhauve Verlag 252 Friedrich Wittig Verlag 33 Gustav Kiepenheuer Verlag 38f. Walter de Gruyter Verlag 29 Fn. 30 Hanser Verlag 136, 148, 149 Fn. 40 Hanseatische Verlagsanstalt (HAVA) 25, 25 Fn. 20, 26 Heyne Verlag 136 Hinstorff Verlag 151f. Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck GmbH 241 Hutchinson 22 Fn. 7, 34, 34 Fn. 46 Insel Verlag 30 Fn. 35 Kiepenheuer & Witsch 39, 189, 190 Koehler und Amelang Verlag 30 Fn. 35

Schoeningh Verlag 33 Marion von Schröder Verlag 30 Fn. 35 Schwann/Patmos Verlag 33 E. A. Seemann Verlag 34f. Suhrkamp Verlag 73ff., 83, 152, 188, 200, 274 Springer Verlag 241, 258 Tauchnitz Verlag 29 Ullstein Verlag 22 Fn. 7 Vandenhoeck & Ruprecht Verlag 24, 33 Verlag der Autoren 270, 273 WAZ-Mediengruppe 241 Wehner Verlag 26 Fn. 20 W.H. Paget-Brown 34, 35 Fn. 54 Carl Winter Universitätsverlag 26 Paul Zsolnay Verlag 22 Fn. 7

322

Register

Fernseh- und Rundfunksender, Kabel- und Fernsehkanäle ARD 3, 13 Fn. 39, 14 Fn. 42, 163, 233–237, 238 Fn. 59, 239, 243 Arte 7 Fn. 22, 239

Paris première 215, 222

BR alpha 231 BR-Klassik 239 Fn. 59, Fn. 63

Sat.1 164, 241 SFB 163 Süddeutscher Rundfunk 252 Südwestfunk 239

France Télévision 220, 221 Fn. 33 France 3 220

RTL 241

TF1 220 La Cinquième 220, 221 Fn. 33 WDR 14 Fn. 42 NDR 14 Fn. 42, 232f., 232 Fn. 21 NWDR (Nordwestdeutscher Rundfunk) 252

ZDF 2 Fn. 6, 3, 13 Fn. 39, 14 Fn. 42, 234f., 239

ORF 144

3sat 239

Digitale Medien, Anbieter und Programme, Internethandel Amazon 147 Apple 147

Microsoft 147 Twitter 168

Facebook 147, 168, 310 YouTube 229, 308 Google 147, 173 XKeyScore 311 Kindle eReader 147

Orte

323

Orte Aachen 285, 291 Amsterdam 55 Aschaffenburg 292 Auschwitz 182, 262, 266, 269f., 272f.

Hildesheim 109 Hof 46, 48

Baden-Baden 81–84, 83 Fn. 51, 94 Bad Frankenhausen 295 Bebra 48 Bergen-Belsen 265 Berlin 11, 22 Fn. 7, 23, 23 Fn. 13, 31, 38, 40, 48, 57, 64, 78, 82, 93, 119f., 124f., 151, 160f., 170f., 176, 233, 248, 254, 260, 269, 279, 282f., 285f., 288ff., 292ff., 297, 302 Bitburg 265 Bochum 73f., 77, 93 Bonn 46, 61, 134, 174, 251, 255, 258, 279 Braunschweig 19 Fn. 1, 24, 48 Bremen 46, 61 Budapest 55, 285 Bünde (in Westfalen) 23, 23 Fn. 11

Kaiserslautern 46 Klagenfurt 168, 170–173 Koblenz 61, 256 Köln 24, 35, 39, 61, 92, 106, 108, 136, 241, 252, 256, 285, 291

Clausthal-Zellerfeld (im Harz) 292 Colmar 82 Danzig 254ff., 259 Darmstadt 26, 284 Dortmund 25 Dresden 272, 279, 281, 289, 294f. Düsseldorf 11, 33, 35 Fn. 50, 46, 247, 248, 254

Jena 150f.

Leipzig 23f., 34, 38, 122, 125, 174, 279, 283–286, 288, 290, 293ff. Limburg 105 Łódź 285 London 19–23, Fn. 7, 55 Los Angeles 294 Lübeck 78–81, 93 Mailand 108, 110f., 284 Mainz 46, 241 Marbach 171 Fn. 27, 184, 290 Mülhausen 82 München 6 Fn. 22, 46, 120, 189, 192, 249, 258, 279, 297f., 307 Münster 33, 61, 92, 117, 117 Fn. 69 Neuwied 257 New York 277, 281 Nürnberg 48, 55, 288, 290f., 293f. Oberhausen 285, 293

Florenz 284 Frankfurt 13 Fn. 40, 30 Fn. 35, 55, 184, 213, 261ff., 265ff., 269–272, 274–278 Freising 249

Paderborn 33 Paris 73, 215, 224, 277 Peking 261, 285 Prag 55

Gifhorn 292 Göttingen 24, 33, 72 Gütersloh 26

Regensburg 257, 293 Rom 105, 108, 116, 185, 284

Hamburg 14 Fn. 42, 19 Fn. 1, 28, 29 Fn. 30, 33, 36, 38f., 41, 48, 127f., 134, 251, 256, 286 Hannover 19 Fn. 1, 35 Fn. 50, 48, 52

Saarbrücken 61 Saarlouis 285 San Francisco 261

324

Register

Schwerin 291 St. Petersburg 285 St. Ottilien 308 Straßburg 82, 83 Tel Aviv 263, 277 Tuscon 4

Vatikan 96, 99, 104ff., 108, 110ff., 115ff. Venedig 263 Weimar 6 Fn. 22, 184, 289f. Wien 22 Fn. 7, 142f., 146, 285 Wiesbaden 11, 259 Würzburg 61, 292