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German Pages 396 [410] Year 1983
Hegel-Studien Herausgegeben von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler
Beiheft 22
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Kunsterfahrung und Kulturpolitik im Berlin Hegels Herausgegeben von Otto Pöggeler und Annemarie Gethmann-Siefert
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Inhaltlich unveränderter Print-on-Demand-Nachdruck der Auflage von 1983, erschienen im Verlag H. Bouvier und Co., Bonn.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN: 978-3-7873-1511-6 ISBN eBook: 978-3-7873-3085-0 ISSN: 0073-1578
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INHALT Einleitung
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1. KULTURPOLITISCHE IMPULSE IN RESTAURATIVER ZEIT HERMANN LüBBE,
Zürich
Deutscher Idealismusais Philosophie Preußischer Kulturpolitik WALTER JAESCHKE,
Bochum
Politik, Kultur und Philosophie in Preußen
29
Bochum
KURT RAINER MEIST,
Zur Rolle der Geschichte in Hegels System der Philosophie KARLHEINZ STIERLE,
3
49
Bochum
Zwei Hauptstädte des Wissens; Paris und Berlin
83
2. KUNSTTHEORIE UND ÄSTHETIK IN BERLIN BEAT WYSS,
Zürich
Klassizismus und Geschichtsphilosophie im Konflikt. Aloys Hirt und Hegel GUNTER SCHOLTZ,
Bochum
Schleiermachers Theorie der modernen Kultur mit vergleichendem Blick auf Hegel FRANK JOLLES,
115
131
Ulster
August Wilhelm Schlegel und Berlin: Sein Weg von den Berliner Vorlesungen von 1801—04 zu denen vom Jahre 1827 ...
153
VI
Inhalt FRITHJOF RODI,
Bochum
Die Romantiker in der Sicht Hegels, Hayms und Diltheys ... 177 WOLFHART HENCKMANN,
München
Solger und die Berliner Kunstszene ANNEMARIE GETHMANN-SIEFERT,
199
Bochum
H. G. Hotho: Kunst als Bildungserlebnis und Kunsthistorie in systematischer Absicht — oder die entpolitisierte Version der ästhetischen Erziehung des Menschen 229 GREGOR STEMMRICH,
Bochum
C. Schnaase; Rezeption und Transformation Berlinischen Geistes in der kunsthistorischen Forschung 263 3. AKTUALITÄT DES LITERARISCHEN UND KÜNSTLERISCHEN ERBES HELLMUT FLASHAR,
München
Die Entdeckung der griechischen Tragödie für die Deutsche Bühne 285 SIEGFRIED GROSSE,
Bochum
Die Rezeption des Nibelungenliedes im 19. Jahrhundert CARL DAHLHAUS,
Berlin
Hegel und die Musik seiner Zeit OTTO POGGELER,
309
333
Bochum
Der Philosoph und der Maler. Hegel und Christian Xeller ... 351 BARBARA STEMMRICH-KOHLER,
Bochum
Die Rezeption von Goethes West-östlichem Divan im Um381 kreis Hegels
EINLEITUNG Als der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel im Herbst 1816 und dann wieder im Dezember 1817 einen Ruf an die neue Universität Berlin erhielt und im Herbst 1818 endgültig den dortigen Lehrstuhl einnahm, umfaßte das erneuerte Preußen Gebiete vom Rhein bis nach Ostpreußen. Berlin wurde zu einer Hauptstadt von europäischem Rang umgestaltet. Die Hauptstädte der europäischen Länder sind aus den Residenzstädten erwachsen; in Brandenburg-Preußen schwankte die Residenz lange zwischen Potsdam, Charlottenburg, Berlin und Königsberg, wenn auch die Stadt Brandenburg als Zentrum des Landes längst durch Berlin verdrängt worden war. Als Hegel in Preußen wirkte, konnte Berlin zwar noch nicht mit Paris rivalisieren, aber doch wie eine jüngere Schwester jener Stadt nacheifern, die seit Jahrhunderten in vielfacher Hinsicht das Zentrum Frankreichs war. Das neue Preußen war ein Gebilde, das seine innere Einheit erst noch finden mußte. Auch der Hauptstadt blieb ein Hauch des Gemachten und nicht Gewachsenen. Immerhin konnte Berlin Geschichte und Tradition für sich reklamieren; war in Polen die Hauptstadt von der alten Königsstadt Krakau in der Zeit der Aufklärung nach Warschau gewandert, in Rußland Petersburg als eine rationale Gründung mit dem Blick nach Westen neben Moskau gestellt worden, so hatte Berlin in Preußen keinen alten Rivalen neben sich. Sehr schnell wuchsen die Ambitionen in Berlin über Preußen hinaus; die Berliner Universität suchte wie selbstverständlich Studenten aus ganz Deutschland an sich zu ziehen. Auch als Wirtschaftszentrum wurde die Stadt ausgebaut. Bald konnte Berlin an Größe mit der alten Kaiserstadt Wien gleichziehen, auch von London zu lernen suchen, das seit langem der Weltwirtschaft geöffnet war. Die Zeit war freilich noch fern, in der BISMARCK die bürgerlichen Kräfte zurückzubinden suchte an das neugegründete Deutsche Reich, so daß Berlin Reichshauptstadt wurde. Doch schon zu Hegels Zeit wurde der Grund dafür gelegt, daß Berlin einmal wirklich zur zentralen Stadt Deutschlands werden konnte: auf ihm lag zwar nicht (wie auf Rom seit der italienischen Einigungsbewegung) der Glanz eines Mythos, und so blieb es in seiner Rolle immer auch umstritten; doch anders als Rom hatte es auf vielen Gebieten für das ganze Land steuernde Kraft.
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EINLEITUNG
Wenn wir Hegel im September 1829 zusammen mit dem Stuttgarter Verleger COTTA bei einem Festessen in großer Gesellschaft finden (s.u. 360), dann sehen wir bei dieser Zusammenkunft viele Interessen im Spiel. COTTA war beteiligt an den politischen Verhandlungen, die zum Zollverein führten und somit zu einer neuen Steigerung der wirtschaftlichen Möglichkeiten. Er war es auch, der dem Kreis um Hegel die Herausgabe der Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik ermöglichte, also eine ordnende und scheidende Tätigkeit auf dem wissenschaftlichen Feld, die in ganz Deutschland Beachtung fand. Thema der Gespräche war aber auch ein kulturelles Ereignis, die bevorstehende Eröffnung des ScHiNKELschen Museums. Preußen setzte auf den Feldern von Gewerbe und Handel sowie im Bereich der Kultur fort, was in der Reformzeit begonnen worden war: die Umgestaltung des gemeinsamen Lebens auf der Grundlage der bürgerlichen Selbsttätigkeit und Freiheit. Die Universität — in die Mitte der Stadt zu Schloß und Dom, Theater, Oper und Singakademie, Bibliothek und Akademie der Wissenschaften gestellt — hatte in diesem Zusammenhang eine spezifische Aufgabe zu erfüllen: der Spielraum zweckfreien Forschens wurde ihr gerade deshalb eingeräumt, damit sie um so besser und wirkungsvoller dem neuen Staat die nötigen Beamten ausbilden könne. Die Universität war gerade als der Bereich von „Einsamkeit und Freiheit" Staatsuniversität; ihre Lehrer waren Beamte, und Hegel hat sich vielleicht manchmal zu sehr als Staatsbeamter gefühlt. In jedem Fall erfüllte er die Erwartungen, die sein Minister — mit dessen Politik er sich identifizierte — in ihn gesetzt hatte. Als VON ALTENSTEIN im Sommer 1822 Hegel eine Unterstützung für eine schon gemachte Reise nach Dresden und für eine geplante Reise nach Brüssel verschaffte, schrieb er dem Staatskanzler VON HARDENBERG, Hegel sei „wohl der gründlichste und gediegenste Philosoph", den Deutschland besitze, doch noch entschiedener sei „sein Wert als Mensch und als Universitätslehrer". Er habe „unendlich wohltätig" auf die Jugend gewirkt: „Mit Mut, Ernst und Sachkenntnis hat er sich dem eingerissenen Verderben eines wenig gründlichen Philosophierens entgegengesetzt und den Dünkel der jungen Leute gebrochen." Freilich mußte der Minister sich gegenüber Hegel selbst entschuldigen: er hatte seinen ursprünglichen Plan zur Verbesserung von Hegels Lage (nämlich Hegels Aufnahme in die Akademie) nicht zur Ausführung bringen können — weil er sonst Gefahr gelaufen wäre, nicht nur zu scheitern, sondern auch Hegel und seiner Wirksamkeit zu schaden. So ging in Hegels Berliner Wirken auch ein gutes Stück Resignation mit ein: gleich nach Hegels Übersiedlung nach Preußen brach dort der Verfassungskonflikt aus und die Karlsbader Beschlüsse brachten die Demagogenverfolgung; für eine andere Tätigkeit
EINLEITUNG
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als die eines Philosophieprofessors wurde Hegel nicht gebraucht. Aber gerade durch die Lehre der Philosophie an einer Universität, die Hegel bei fortschreitendem Alter als „prekär" empfunden hatte, konnte Hegel eine bedeutende Schule an den preußischen Universitäten bilden. Schon im Jahre 1820 hatte Hegel als erstes Buch seiner Berliner Zeit eine Rechts- und Staatsphilosophie veröffentlicht. Doch die politischen Dinge liefen so, daß auf diesem Felde kurzfristig eine direkte positive Einwirkung nicht mehr möglich schien. Hegel überließ seine rechtsphilosophischen Vorlesungen bald seinen Schülern; das Schwergewicht seiner Arbeit verlagerte sich auf andere Disziplinen. Zumal durch seine Vorlesungen über Ästhetik oder Philosophie der Kunst hat Hegel über den Bereich der Universität hinaus wirken können; seine Urteile über Aufführungen und Ausstellungen konnten das Berliner Stadtgespräch mitprägen. In der Tat ging es hier nicht nur um einzelnes, sondern auch darum, durch institutionelle Maßnahmen den Zugang zu einer Kunst abzusichern, die nicht mehr an Schloß und Kirche zurückgebunden war. Berlin setzte hier Marksteine in der historischen Entwicklung mit dem Streit um Opernaufführungen wie SPONTINIS Olympia und WEBERS Freischütz, mit der Wiederaufführung der Matthäuspassion in der Singakademie, mit bedeutenden Kunstausstellungen und mit der Eröffnung des Museums im Jahr 1830, aber auch immer wieder mit neuen Versuchen zur Etablierung der kritischen Tätigkeit auf literarischem und wissenschaftlichem Gebiet. Hegel hat mit seinen Reflexionen und seinen Vorträgen vor Studenten hier Entwicklungen begleitet und abgestützt, die ohne ihn in Gang gekommen waren und ohne ihn ihren Weg nahmen. Das immer wieder vorgebrachte Klischee von Hegel als dem preußischen Staatsphilosophen verkennt nicht nur die Distanz der Philosophie zum Tagesgeschehen, die Hegel durchaus einhielt, sondern auch die Weise, in der Hegels Philosophie tatsächlich zur Wirkung kam. Denken wir an die Revolution von 1848, dann müssen wir uns fragen, wo wir eine Wirkung Hegels vermuten sollen: bei dem Offizier VON GRIESHEIM, der einst so fleißig Hegels Vorlesungen mitgeschrieben und ausgearbeitet hatte und nun an maßgeblicher Stelle die Revolution niederschlagen half, bei den polnischen Hegelianern, die eine revolutionäre Gruppe bildeten, bei KARL MARX, der als Schüler von EDUARD GANS ein Enkelschüler Hegels war? Hegel selbst hätte diese Revolution noch erleben können; doch wo hätte er gestanden? Die Gedanken des Siebenundsiebzigjährigen wären sicherlich nicht mehr die Gedanken des Zwanzigjährigen, vielleicht nicht einmal die Gedanken des Fünfzigjährigen gewesen. Nach Hegels tatsächlichem frühen Tod verfestigte sich die restaurative Politik in den dreißiger Jahren noch mehr, so daß Hegels agilster Schüler, EDUARD
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EINLEITUNG
nach seinen Schwierigkeiten mit Autoritäten wie SAVIGNY auch Schwierigkeiten mit dem Hof und der Regierung hatte. Wenn der Minister VON ALTENSTEIN nach dem vorzeitigen Tode von GANS 1839 dennoch hinter dem Sarge ging, dann dokumentierte er ein Bündnis von Kulturpolitik und Philosophie, dessen Zeit freilich mit dem bald erfolgenden Rücktritt und Tod des Ministers endgültig ablief. Darf man überhaupt das Berlin der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, auf den Namen Hegels taufen? Daß Hegel auch nur auf ästhetischem Gebiet niemals allein die Diskussion in Berlin bestimmt hat, zeigt schon der Blick auf wenige ausgewählte konkurrierende Figuren wie HIRT, SCHLEIERMACHER, A.W. SCHLEGEL, SOLGER. SCHLEIERMACHER Z.B. hatte sich schon nach dem Zusammenbruch Preußens 1806 als heimatlos gewordener Hallenser Professor ganz auf die Aufgabe einer Erneuerung Preußens gerichtet, als Hegel sich gerade entschieden NAPOLEON zuwandte. Aber nicht nur die politische Herkunft der beiden Männer war verschieden, sondern auch der philosophische Ansatz. Gerade eine Würdigung Hegels, die angemessen verfahren will, darf diesen Pluralismus der damaligen Bemühungen in Berlin nicht aus dem Auge verlieren. Wer sich damals um die dichterische Überlieferung bemühte, mußte Stellung nehmen zu so gegensätzlichen Werken wie der Antigone des SOPHOKLES und dem Nibelungen-Epos. Hegel erklärte die Antigone für das größte Kunstwerk; mit den Nibelungen konnte er sich nie befreunden. Hegels Deutung der Antigone hat bis ins zwanzigste Jahrhundert gewirkt. Vielleicht suchte diese Deutung das Werk des SOPHOKLES nicht nur allzu gewaltsam festzulegen, vielleicht wurde sie selbst auch noch einmal mißdeutet und gerade in dieser Form wirksam. Hegels Schüler HINRICHS hat 1827 von Hegels Phänomenologie des Geistes her in dem Buch Das Wesen der antiken Tragödie die Antigone auf eine grundsätzliche dialektische Spannung zwischen Familie und Staat bezogen; dagegen hat GOETHE dann in seinen Gesprächen mit ECKERMANN protestiert. Für Hegel selbst freilich war nur die antike Sittlichkeit durch Familie und Staat bestimmt; in der Neuzeit hatte sich nach seiner Auffassung zwischen diese sittlichen Grundformen die Gesellschaft als die emanzipierte Sphäre von Gewerbe und Handel und der privatrechtlichen Absicherung der Wirtschaft geschoben. Die Pointe des Hegelschen Bezugs zur Antigone war wohl in den Hintergrund gerückt, als FRIEDRICH WILHELM IV. TIECK nach Berlin rief, damit er von SoPHOKLES und SHAKESPEARE her das Theater reformiere, und als 1841 die Antigone mit der Musik von MENDELSSOHN aufgeführt wurde. Hegel war seit zehn Jahren tot; SCHELLING saß bei der Potsdamer Aufführung mit anderen Professoren und Pastoren hinter den Mitgliedern des Königshauses GANS,
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und der Regierung (vom König zur „Ausreutung" der Drachensaat der Hegelschen Philosophie nach Berlin gerufen). In diesen Jahren der Feier des vierhundertjährigen Bestehens der Buchdruckerkunst erschienen mehrere illustrierte Prachtausgaben des Nibelungenliedes. Hegel selbst war zeit seines Lebens nie sehr weit über den Spott hinausgekommen, den er im Oktober 1814 in einem Brief an seinen Freund PAULUS über Versuche ausgegossen hatte, von Werken wie dem Nibelungenlied her ein neues Nationalgefühl zu entwickeln. Damals glaubte Hegel Nachrichten zu haben, daß der Wiener Kongreß mit einer Ordnung für so wichtige Dinge wie die Kleider „deutscher Damen und Mamsellen — vielmehr aber deutscher Frauen und Jungfrauen" hervortreten werde. Hegel wünschte den Deutschen jedenfalls, daß sie aus dem „ gelobten Lande des Deutschdumms" nicht ähnlich dem auserwählten Volk „in die Partikularitäten hinaus" zerstreut würden. Besonders interessierte er sich für die „artistisch-literarische Idee" einer „Errichtung der großen Nationaldenkmalsäule in Verbindung mit einem umfassenden Nationalarchive zur Konservation der altdeutschen Monumente und vaterländischen Antiquitäten aller Art als: das Nibelungenlied, Reichskleinodien, König Rogers Schuhe, Wahlkapitulationen, freie Verfassungsurkunden, ALBRECHT DüRERsche Holzschnitte, Nordica usf." Das Archiv solle an einem stillen Orte gebaut werden, „damit der Genuß vor dem übrigen realitätischen Lärm gesicherter sei". Hegel mochte auch deshalb zu solchen krassen Äußerungen provoziert werden, weil er einen rationalistischen Theologen und liberalen Politiker als Briefpartner hatte (mit dem er sich bald entzweite). Er hatte ja schon in Jena an der neuen Entdeckung DANTES teilgenommen, hatte mit seinem Freunde, dem Übersetzer GRIES, die mittelalterliche Epik sich von TASSO und ARIOST her erschlossen und dazu CERVANTES kennengelernt. Wenn Hegel in Berlin auf diesem Wege weiterging, dann hat er doch die Abneigung gegen die angeblich abseitigen Nibelungen nie aufgegeben. Diese Abneigung hat aber nicht verhindern können, daß die Nibelungen-Thematik über RICHARD WAGNERS Musikdramen auch die deutsche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts begleitete. Als Hegel im Winter 1828/29 seine letzte Ästheiikvorlesung hielt, las der gerade habilitierte HOTHO mit großem Erfolg über GOETHE. Ein Student, KARL HALLING, schrieb über dieses neue Bündnis zwischen Berlin und Weimar an LUDWIG TIECK (der damals neben GOETHE der Kronprinz der deutschen Literatur war), Hegel versuche durch seine eigene GoETHische Philosophie der Kunst und durch das stark besuchte Kolleg seines „milchbärtigen Schülers" ganz Berlin „mit Sturm für GOETHE ZU erobern": „Wer nicht GOETHE vergöttert ... wer nicht wie Hegel und HOTHO unsere alten heili-
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gen Gesänge verdammt, kommt in den Verdacht, so wenig jenen als diese verstanden zu haben, und davor hütet sich die eitle Welt... Rings um mich her kein Freund, der dächte wie ich, oder den Hegel nicht abwendig machte". Das Einverständnis zwischen Hegel und seinem Schüler HOTHO schloß nicht aus, daß sie GOETHE verschieden sahen, daß HOTHO (auch als späterer Editor von Hegels Astheiikvorlesungen) Hegels hohe Schätzung des Westöstlichen Divan nicht mitmachte. Wenn Hegel sich gerade dieser anderen, von der Romantik zunächst wiederbelebten, aber zugunsten der national orientierten Mittelalterrezeption wieder vernachlässigten Tradition, dem Orient, zuwendet, dann stellt auch dies das Urteil über die Einigkeit HOTHOS und Hegels infrage. Hegel ging es darum, monumenta nationum und nicht monumenta germaniae historica zu sammeln, in der Wiederbelebung und Vermittlung vergangener Mythologien eine gewisse Liberalität gegenüber den verschiedenen Mythologien zu fordern. GOETHE ging ihm freilich in seiner Kritik der christlichen Gehalte des wiedererweckten Mittelalters voran, aber Hegels Schüler HOTHO folgt in dieser Frage weder GOETHE noch Hegel. Für den jungen HEINE, der damals im Salon der VARNHAGEN verkehrte, war es freilich entschieden, daß das Ende der Kunstperiode und damit der GoETHeschen Herrschaft gekommen sei, der Kronprinz aber nicht TIECK heiße, die Dichtung vielmehr ganz neue Wege gehen müsse. Für die Geistesgeschichte blieb bis heute die Aufgabe, das Bild der deutschen Romaniker wieder vom Urteil Hegels zu befreien. Die eigentlich „romantischen" Künste waren für Hegel Malerei und Musik, und gerade zu diesen Künsten gewann Hegel in Berlin (wie schon in Heidelberg) eine engere Beziehung. Er hatte zudem Schüler, die dann die kunsthistorische Forschung mitaufbauten, die nun zusammen mit dem Museum den Zugang wenigstens zur Kunst der Vergangenheit bahnte. HOTHO und SCHNAASE zeigen aber, daß man als Kunsthistoriker sehr verschiedene Wege gehen konnte, wenn man Schüler Hegels gewesen war. Unverkennbar ist, daß in den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts bei der Umgestaltung Berlins zur Hauptstadt des neuen Preußen die Kunst der großen öffentlichen Institutionen wie Oper und Museum dominierte, daß parallel dazu die geisteswissenschaftliche Arbeit in besonderem Maße hervortrat. Als der Leutnant VON DIEST in Berlin eine erste HöLDERLINAusgabe plante, hat Hegel unter seinen Papieren nach HöLOERLiNschen
Empedokles-Fragmenten gesucht; doch jene Zeit war nunmehr sehr fern, in der Hegel als Hofmeister in Frankfurt wirkte, HöLDERLIN in tiefer Einsamkeit im kleinen Homburg vor der Höhe und ungekannt von seiner Zeit die Tragödie zu erneuern suchte. Auch vom Berlin Hegels sind wir
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heute durch einen Abgrund getrennt; gerade deshalb aber müssen wir uns des Vergangenen als der eigenen Herkunft neu vergewissern. GOTTFRIED BENN schrieb 1955 während der Berliner Festspielwochen einen Beitrag Berlin zwischen Osi und West. Mit dem Blick auf die Länder und Städte der Bundesrepublik sagte er: „Jetzt zelebriert jeder seine Messe, Hamburg weiß nichts von München, Düsseldorf nichts von Stuttgart, sie brodeln vor sich hin. Berlin liegt wie Angkor im Urwald, und die Fahrten zu ihm sind Expeditionen, unternommen halb aus Neugier und halb aus Wehmut". In der Weimarer Zeit und auch vorher in der Zeit der Fürsten und Fürstentümer habe es immerhin für München und Dresden, Meiningen, Karlsruhe, Kassel und Darmstadt ein Maß gegeben; „Denn über ihnen und vor ihnen allen lag das kalte, kritische, nüchterne, ich wage das Wort, das preußische Berlin." Für BENN war wie für viele andere Berlin, das mit Paris konkurrierte, zu „der" Stadt geworden. „Da ich Ninive nicht sah mit seinem Grund aus Jaspis und Rubin, da ich Rom nicht sah im Arm der Antonine, betrachtete ich diese, sie trug die Mythe, die in Babylon begann", so hatte BENN in dem Text Urgesicht von seiner Stadt geschrieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber war Berlin seiner Kunstschätze und Bücher beraubt; der westliche Teil der Stadt hatte „keine Bibliothek mehr, die in Jahrhunderten gewachsen war". Allein auf den Geist Berlins konnte BENN sich noch berufen. Die Situation ist inzwischen — durch die Stiftung Preußischer Kulturbesitz — eine gänzlich andere geworden: Berlin hat seine Kunstschätze, hat seine zwar reduzierte und aufgeteilte, aber doch in Jahrhunderten gewachsene Bibliothek. Ausstellungen wie die PreußenAusstellung des Jahres 1981 führen nun umgekehrt zu der Frage, wieweit Berlin noch willens ist, aus seinem Erbe heraus ein Maß zu sein und ein Maß zu geben. Da die Preußen-Ausstellung auf halbem Trümmerfeld, nahe der Mauer und den einstigen Gestapo-Kellern stattfand, konnte der Glanz der Staatsbibliothek freilich die Berliner Zeitungen verführen, über die dortige Hegel-Ausstellung unter Titeln wie „Hegelianer bilden einen exklusiven Klub" zu berichten. Zugestanden war, daß Hegels Bücher und Vorlesungen heute weltweit diskutiert, Hegels Werke nicht nur in das Englisch der Amerikaner, sondern auch z.B. ins Chinesische übersetzt werden. Ist es da nicht unsere Aufgabe, verständlich zu machen, wie Hegels Denken auf Fragen antwortete, die aus dem Leben selbst, aus einem Stück unserer Herkunft auf stiegen?
Zum 150. Todestag des Philosophen veranstaltete die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin in Verbindung mit dem Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum und dem GoETHE-Museum Düsseldorf (ANTON UND KATHARINA KiPPENBERG-Stiftung) eine Ausstellung Hegel in Berlin. Preu-
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ßische Kulturpolitik und idealistische Ästhetik; die Ausstellung wurde von November 1981 bis Januar 82 in Berlin, von Januar bis März 82 in Düsseldorf gezeigt. Aus Anlaß dieser Ausstellung fand vom 18. — 21. November 81 in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin ein Kolloquium des Sonderforschungsbereiches Wissen und Gesellschaft im 19. Jahrhundert der Ruhr-Universität Bochum statt. Die LESsiNC-Hochschule Berlin veranstaltete im November und Dezember 1981 im OTTO BRAUN-Saal der Staatsbiliothek eine Vortragsreihe zur Begleitung der Ausstellung. Die Referate des Kolloquiums und die Vorträge dieser Reihe sind im vorliegenden Band zusammengefaßt. (Der Eröffnungsvortrag — Otto Pöggeler: Preußische Kulturpolitik im Spiegel von Hegels Ästhetik — erscheint 1982 im Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz; in ausgearbeiteter Form wird er als Vortrag der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften in Düsseldorf vorgelegt. Der Vortrag Antigone im deutschen Expressionismus — Tragik im Verständnis Hegels und der Moderne von Walter Müller-Seidel erscheint in der Festschrift für Frau Dr. Petersen; Böhlau-Verlag: Wien). Der geschichtliche Hintergrund für die hier an einzelnen exemplarischen Themen entfaltete Problematik wird aus der Perspektive Hegels dargestellt in dem Katalog Hegel in Berlin. Preußische Kulturpolitik und idealistische Ästhetik (295 S., als Buch bei der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin erhältlich). Zu danken bleibt Frau DR. DOROTHEA KESSLER für die Organisation der Vortragsreihe der LESsiNC-Hochschule, Herrn DR. TILO BRANDIS, Direktor der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek, für die freundlich gewährte Gastfreundschaft. Gedacht sei auch des Verlegers HERBERT GRUNDMANN, der zwanzig Jahre mit persönlichem Engagement die Hegel-Studien und deren Beihefte betreut hat und während der Vorbereitung dieses Bandes durch seinen plötzlichen Tod aus einem reichen Schaffen in den Bereichen von Verlag, Buchhandel und Kulturpolitik gerissen wurde. Otto Pöggeler
1. KULTURPOLITISCHE IMPULSE IN RESTAURATIVER ZEIT
HERMANN LÜBBE (ZÜRICH)
DEUTSCHER IDEALISMUS ALS PHILOSOPHIE PREUSSISCHER KULTURPOLITIK
„Kulturpolitik" — das war zur Blütezeit der Philosophie des deutschen Idealismus noch gar kein üblicher Terminus. Das für die Kulturpolitik in Preußen zuständige Verwaltungsamt, wie es WILHELM VON HUMBOLDT im Januar 1809 angetragen wurde, war weder dem Begriffe nach noch nach Kennzeichnung und Zuständigkeit ein Amt für Angelegenheiten der Kultur in der uns heute geläufigen Bedeutung dieses Wortes. Bekanntlich handelte es sich um das Chefamt der dritten Sektion im Ministerium des Innern gemäß der Ende 1808 verfügten Neuordnung der obersten Verwaltungsbehörden in Preußen.1 Die Zuständigkeit dieser Sektion erstreckte sich auf den Kultus einerseits und auf den Unterricht andererseits. Dabei ist „Kultus", für den als Staatsrat unter VON HUMBOLDT GEORG HEINRICH LUDWIG NICOLOVIUS eingesetzt wurdet, nichts anderes als das verbale Äquivalent der zuvor zumeist so genannten „geistlichen Angelegenheiten", die unter der Bedingung eines ungebrochenen staatskirchlichen Absolutismus selbstverständlich eine erhebliche Bedeutung hatten. Als dann später, in seiner „Cabinetsordre" vom 2. November 1817 der König es „räthlich" fand, wegen der „Würde und Wichtigkeit der geistlichen und der Erziehungs- und Schulsachen" diese „einem eigenen Minister anzuvertrauen" und als er dazu „den Staatsminister Freiherrn VON ALTENSTEIN" ernannte^, war die Bedeutung des Wortes „Cultus" im seither üblichen Amtsnamen eines Cultus- und Unterrichtsministeriums in Preußen noch durchaus unverändert. Das heißt: Es gab die Zuständigkeiten und auch die Assoziationen noch nicht, die uns inzwischen den Kultusminister für „Kultur" einschließlich Kunst, Musik und Theater politisch verantwortlich wissen lassen.^ iVgl. C. Varrentrapp: Johannes Schulze und das höhere preußische Unierrichtswesen in seiner Zeit. Leipzig 1899. 237. 2 Vgl. die Kurzbiographie von Ernst Friedländer: Nicolovius. in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd 23. Neudruck der 1. Auflage von 1886. Berlin 1870, 635—640. 3 Varrentrapp, 272 (s.o. Anm. 1). ‘‘Vgl. dazu auch die zuständigkeitshistorisch zutreffenden Bemerkungen bei Walter Jaeschke: Politik, Kultur und Philosophie in Preußen (1818—1831; in diesem Band 29 ff).
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HERMANN LüBBE
Gleichwohl ist es kein Zufall und auch der Sache nach keineswegs inadäquat, daß ALTENSTEINS, der ja immerhin bis 1840 über fast ein Vierteljahrhundert hin in Preußen die neueingerichtete Oberbehörde leitete, bei unseren Historikern schon seit langem schlicht der „Kultusminister" genannt wird* und analog sein Amt das „Kultusministerium".^ Diese Kennzeichnung setzt der Sache nach die Existenz einer Kulturpolitik voraus, in der der Staat von der Religion über Bildung und Wissenschaft bis zu den Künsten Verantwortlichkeiten für Institutionen, Werke und Betätigungen beansprucht und wahrnimmt, deren Nötigkeit nicht in ihrer Nutzbarkeit aufgeht, die insofern frei sind, die aber doch zugleich von äußeren, auch materiellen Voraussetzungen abhängig bleiben, für die dann die Kulturpolitik sorgt, so weit nach Tradition und Sachzwang dem politischen Gemeinwesen ein Anteil an dieser Sorge zufällt. Es ist Kulturpolitik in eben diesem Sinn, zu der sich die Staatstätigkeit in Preußen VON HUMBOLDT bis ALTENSTEIN allmählich entfaltet. Im Prozeß dieser Entfaltung wird dann auch jene Enge des alten Cultusbegriffs gesprengt, der ihn, als Begriff für eine staatliche Zuständigkeit, so lange auf die erwähnten kirchlich-geistlichen Angelegenheiten eingeschränkt sein ließ. Wer also zuerst ALTENSTEIN einen Kultusminister genannt hat, benutzt damit zunächst nichts anderes als eine unvollständige Amtsbezeichnung aus Abkürzungsgründen. Nachdem aber die Amtstätigkeit ALTENSTEINS sich schließlich sogar auf administrative Mitwirkung an Vorgängen wie der Gründung des ersten öffentlichen Kunstmuseums in Preußen ausgedehnt hatte,® mußte analog auch der Bedeutungsgehalt der Zuständigkeitskürzel „Cultus" expandieren. Die Philosophie des deutschen Idealismus repräsentiert in ihrer Wirkung auf die preußische Kulturpolitik ein Lehrstück der Aufklärung. Wie eine aufklärende Philosophie reform-politisch praktisch wird — das läßt sich hier studieren. Es ist evident und ein historiographischer Gemeinplatz, daß der praxisbestimmende Einfluß der Philosophie des deutschen Idealismus auf die preußische Kulturpolitik bis zum Ende der Aera ALTENSTEIN erheblich war. Aber „Einfluß" ist eine Metapher, deren bildhafte Deutlichkeit kaum 5 über ihn vgl. die Kurzbiographie von Heinz Gollwitzer: Altenstein, in; Neue Deutsche Biographie. Bd 1. Berlin 1953. 216—217. *So zum Beispiel bei Max Lenz: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Zweiter Band. Erste Hälfte: Ministerium Altenstein. Halle a.d.S. 1910. VI. ^ So schon im Titel des unverändert wichtigen Werkes von Ernst Müsebeck: Das Preußische Kultusministerium vor hundert Jahren. Stuttgart und Berlin 1918.
® Für die Einrichtung dieses Museums war im Aufträge des Königs konzeptuell Wilhelm von Humboldt verantwortlich. Vgl. dazu meine Abhanldung Wilhelm von Humboldt und die Berliner Museumsgründung 1830. Berlin 1980.
Deutscher Idealismus als Philosophie preußischer Kulturpolitik
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geeignet ist, anschaulich zu machen, wie sich hier philosophische Theorie tatsächlich in politische und administrative Praxis umgesetzt hat. Dafür braucht man Kenntnis der institutioneilen und sozialen Voraussetzungen, unter denen dieser Umsetzungsprozeß stattfand. Von besonderem Interesse unter den Fällen der Umsetzung von philosophischer Theorie und politischer Praxis ist natürlich immer der idealtypisch reine Fall einer biographischen Vermittlung zwischen beiden, wo einund dieselbe Person Gelegenheit hatte, Grundsätzen ihrer eigenen, auch literarisch manifesten Philosophie kraft eigener kompetenter Entscheidung Geltung in der politischen Wirklichkeit zu verschaffen. Es gibt ja Historiker, die, wie GAESAR oder CHURCHILL, vermochten, die Geschichte zu schreiben, die sie zuvor selber gemacht hatten. Analog gibt es auch den umgekehrten Fall, daß Subjekte wirkungsreicher politischer Entscheidungen zuvor schon als kompetente Subjekte der Philosophie hervorgetreten waren, von der sie bei ihren praktischen Entscheidungen sich leiten ließen. Irri bescheideneren Kontext der preußischen Kulturpolitik zwischen Aufklärung und Biedermeier ist es natürlich WILHELM VON HUMBOLDT, der diesen Fall einer philosophisch-politischen Doppelkompetenz in singulärer Ausprägung repräsentiert. Das heißt: Seine Werke zählen zur philosophischen Klassik und sind in Gestalt einer Akademieausgabe obligater Bestandteil unserer philosophischen Seminarbibliotheken, und zugleich war er in Ämtern und Funktionen mit Wirkungen tätig, die ihm die Charakteristik „Staatsmann" sowie einen Platz in der allgemeinen Historiographie dieses Zeitraumes sichern. Für die Signifikanz dieses Falles für den Typus biographisch vermittelter Einheit von philosophischer Theorie und politischer Praxis ist natürlich entscheidend, daß die Philosophie HUMBOLDTS sich zu seiner Amtstätigkeit nicht indifferent verhält, vielmehr zu großen Anteilen als Philosophie dieser Amtstätigkeit sich lesen läßt. Für HUMBOLDTS fragmentarische Denkschrift über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, die ja an philosophischer Dignität hinter den analogen Denkschriften SCHELLINGS oder SCHLEIERMACHERS kaum zurücksteht,^ ist dieser Zusammenhang evident, und ebenso ist die maßgebliche Rolle unübersehbar, die HUMBOLDTS klassizistisches Bild der Antike,i° das schon in seinen frühesten Arbeiten sichtbar wird, für die ’Das erkennt man bei ihrer Lektüre im Kontext der berühmten Denkschriften in der Sammlung Die Idee der deutschen Universität. Die fünf Grundschriften aus der Zeit ihrer Neugründung durch klassischen Idealismus und romantischen Realismus. Darmstadt 1956. 1° Ueber das Studium des Alterthums, und des Griechischen insbesondere, in: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd 1. 255—281.
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HERMANN LüBBE
Begünstigung der klassischen Altertumswissenschaften in der preußischen Universitäts- und Bildungspolitik spielte. Indessen: WILHELM VON HUMBOLDT war ein Philosoph, aber kein Professor, und die Philosophie des deutschen Idealismus ist dominant Professorenphilosophie. Kraft seiner gesellschaftlichen Herkunft und Stellung war HUMBOLDT frei, sich den klassischen und philosophischen Studien außerhalb professioneller Disziplin zu widmen, und eben dieselbe Stellung in Verbindung mit institutionell nicht gebundener geistiger Exzellenz war es auch, die, wenn es sich um die Benennung von Männern handelte, denen man das Werk fälliger Erneuerung der öffentlichen Kultur Preußens nach seiner Katastrophe Zutrauen konnte, die Denkschriftenempfehlung eingab: „Der preußische Staat besitzt den v. HUMBOLDT, der in vieler Rücksicht alles ausfüllen würde, was hierzu erforderlich ist.'n Unter den Philosophen von akademischer Profession läßt sich für diese Zeit in Preußen niemand benennen, von dem so hätte gesprochen werden können, und man muß sogar sagen, daß sich in der Philosophie des deutschen Idealismus die Tendenz mächtig verstärkt, die Philosophie in ihrer akademischen Esoterik der Exoterik des öffentlichen, politischen und kulturellen Lebens entgegenzusetzen. Ein feines, aber deutliches Indiz dieses Vorganges ist, zum Beispiel, die negative Besetzung, mit der in der deutschen Philosophie dieser Zeit der Begriff des Eklektizismus versehen wird. „Der Eklektizismus", so bekräftigt Hegel zusammenfassend diese Umwertung, „ist nicht zu gestatten" — dieses „bloße Zusammensetzen verschiedener Prinzipien, Meinungen, gleichsam verschiedener Lappen zu einem Kleid".12 Demgegenüber hatte, in Frankreich, DIDEROT in seinem großen Enzyklopädie-Artikel zum Stichwort „Eclectisme" den Eklektiker einen Philosophen genannt, der es wagt, selbst zu denken,!^ und auch über Rezeptionen des deutschen Idealismus in Frankreich hinweg bleibt doch die Bedeutung des Eklektizismus, eine spezifische Intellektuellen-Tugend zu sein, erhalten — bei VICTOR COUSIN zum Beispiel. Die mit besonderer Prominenz bereits von KANT erhobene Forderung, daß die Philosophie in ihrem An-
So Aitenstein in seiner berühmten Rigaer Denkschrift. Vgl. Aus der Denkschrift Altensteins für Hardenberg. Riga, den 11. September 1807. ln: Müsebeck, 241—270, 244 (s.o. Anm. 7). 12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Einleitung in die Geschichte der Philosophie. Herausgegeben von Johannes Hoffmeister. Hamburg 1959 (3. gekürzte Auflage, besorgt von Friedhelm Nicolin). 132, 130. 11 „L'&lectique est un philosophe qui ... ose penser de lui meme ..
Deutscher Idealismus als Philosophie preußischer Kulturpolitik
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Spruch, Enzyklopädie zu sein, von der bloßen Kompilation zum System zu erheben sei, gehört in denselben Zusammenhang.i“* Diese Antithetik von „gründlich" und „systematisch" einerseits und „rhapsodisch" und „eklektisch" andererseits verfestigt sich schließlich zu einer deutschen nationalen intellektuellen Auto- und Heterostereotypik, die mit den Vorstellungen übereinkommt, die man in Deutschland zwischen KANT und Hegel von der Art hatte, wie Philosophie praktisch sein kann und in politisch-kulturellen Aufklärungsprozessen und Reformbewegungen wirksam wird. Wenn der Philosoph vor allem Professor ist und die Philosophie selbst in der Esoterik akademisch-universitärer Institutionen sich systematisch professionalisiert — dann ist der philosophische Ursprung von Aufklärung und Reform vor allem in den Akademien und Universitäten zu finden. Genau das ist die Voraussetzung, die KANT in seinem Spätwerk Der Streit der Fakuläten aus dem Jahre 1798 macht. GüNTHER BIEN hat in seinem bekannten Aufsatz über KANTS Theorie der Universität^s evident gemacht, daß diese Theorie in den Kontext der philosophischen und politischen Universitätsreformbewegung hineingenommen werden muß, die wir uns heute zumeist durch die Denkschriften in Vorbereitung der Gründung der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin zu vergegenwärtigen pflegen. KANTS Philosophie der Universität ist nichts Geringeres als eine Darstellung dessen, wie in der Freiheit der Philosophischen Fakultät gegenüber den oberen Fakultäten einerseits und in der Freiheit der Universität insgesamt gegenüber der Regierung andererseits der Aufklärungsprozess als Staatsveranstaltung institutionell wird. Die Philosophische Fakultät, aus ihrer Dienstbarkeit als Propaedeutikum für das Studium in den oberen Fakultäten entbunden, wird zum Ort, wo, was gelehrt wird, sich durch nichts als durch Gründe für erhobene Wahrheitsansprüche legitimiert, das heißt, sie wird zum Ort freier, fortschreitender Wissenschaft. Die oberen Fakultäten sind freilich gehalten zu lehren, was als „beständige, für jedermann zugängliche Norm" in der Gestalt einer „Schrift",!* als Text von institutionell befestigter Geltung!^ dem Volk wie '“Vgl. W. Nieke: Eklektizismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg, von J. Ritter. Bd 2. Basel/Stuttgart 1972. Sp. 432 f; ferner die große begriffsgeschichtliche Untersuchung von Ulrich Dierse: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs. Bonn 1977. 98 ff. ” Günther Bien: Kants Theorie der Universität und ihr geschichtlicher Ort. In: Historische Zeitschrift. 3 (1974), Heft 219, 551—577. Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten in drei Abschnitten (1798). In: Immanuel Kants Werke. Hrsg, von E. Cassirer. Bd VII. Berlin 1922. 332. '’’Zum Konzept des Textes von institutionell gefestigter Geltung („geltende Texte") cf. meinen Aufsatz Philosophie als Aufklärung. In: Hermann Lübbe: Praxis der Philosophie, Praktische Philosophie, Geschichtstheorie. Stuttgart 1978. 6 ff.
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seinen hohen Schulen vorgegeben ist — als Heilige Schrift und Katechismus, als Gesetzestext und „Medizinalordnung" für die „medizinische Polizei".!® Aber universitätsintern wiederum sind doch die akademischen Lehrer dieser Vorgegebenheiten frei, sie der Prüfung durch die auf nichts als auf die Wahrheit verpflichtete Vernunft zu unterwerfen, die in der Philosophischen Fakultät kultiviert wird. Indem die Regierung weiß oder doch wissen könnte, daß der „Vorteil jeder Wissenschaft" einschließlich der Wissenschaften in den oberen, auf Staatszwecke verpflichteten Fakultäten in letzter Instanz auf „Wahrheit" beruht, kann sie auch gewiß sein, daß die universitäre Freisetzung der Vernunftskritik in besonderer Weise geeignet ist, ihren eigenen Nutzen zu mehren. Die Regierung selbst wird also, wohlberaten, die Philosophische Fakultät zur Stätte erheben, „wo die Vernunft öffentlich zu sprechen berechtigt" ist, weil ohne eine solche Stätte „zum Schaden der Regierung selbst" „die Wahrheit" im Gemeinwesen „nicht an den Tag kommen" könnte. Das also ist das Konzept, wie die Aufklärung als eine Veranstaltung des Staates selbst durch Staatsbeamte, um die es sich ja bei den Professoren handelt, sich vollziehen läßt, und dieses Konzept darf man auch im sozialgeschichtlichen Rückblick durchaus realistisch nennen. Neben den für Zwecke der Aufklärung beamteten Staatsdienern gab es damals, selbstverständlich, längst auch Männer, die amtsfrei das Wort in der Öffentlichkeit in Aufklärungsabsichten führten. KANT nennt sie, als „von den eigentlichen Gelehrten ... zu unterscheiden", die „Literaten", und die Berlinische Monatsschrift, in der ja, als Privatmann, KANT auch seinerseits schrieb, war eines ihrer wichtigsten Foren in Preußen.!’ Indessen: Selbst von den Autoren dieses Organs eines freien Räsonnements „wurde die Hälfte ... aus der Staatskasse besoldet" — Universitäts- und Gymnasialprofessoren, Juristen, Verwaltungsbeamte, Theologen, Schulmänner etc. So läßt sich sagen: Der von KANT universitätstheoretisch skizzierte Typus einer staatlich veranstalteten Aufklärung im institutioneilen Kreislauf höherer Bildung mit der wichtigsten Wirkung einer Prägung der höheren Staatsdiener durch sie war ebenso wirklichkeitsnah wie zukunftsträchtig. Einer der denkwürdigsten Fälle, in welchem selbst noch die Philosophie Hegels exakt nach diesem Muster sich politisch und näherhin kulturpoli-
Kanl: Der Streit der Fakultäten. 332, 336. Zum Folgenden vgl. 338, 330, 328. Cf. ihre Bibliographie von Ursula Schulz: Die Berlinische Monatsschrift (1783 —1796). Mit einer Einleitung von Günter Schulz. Bremen 1968. — Zum Folgenden vgl. Horst Möller: Wie aufgeklärt war Preußen? ln: Preußen im Rückblick. Hrsg, von H. G. Puhle und H. K. Wehler, Göttingen 1980, 180.
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tisch zur Geltung brachte, ist der Fall des berühmten JOANNES SCHULZE.20 SCHULZE, der 1818 in das Ministerium ALTENSTEIN eintrat, die ReferentenZuständigkeit für die Gymnasien und alsbald auch für die Universitäten übernahm und bis zum Jahre 1859 weit über den Tod ALTENSTEINS hinaus amtierend wie niemand sonst die Kontinuität in der preußischen Unterrichtsverwaltung über Reform, Reaktion und Revolution hinweg repräsentierte — SCHULZE also hatte selbstverständlich als junger Mann sich auch philosophischen Studien gewidmet; SPINOZAS Ethik zum Beispiel war ihm bekannt, KANTS Kritik der reinen Vernunft als zeitgenössischer philosophischer Haupt-Text gleichfalls, auch etliche »speculatlve Dialoge PLATONS"; überdies hatte er »SCHLEIERMACHERS Vorlesungen über die philosophische und christliche Ethik" gelauscht, 80 daß sich sagen läßt: Der philosophische Bildungs- und Kenntnishorizont dieses Verwaltungsmannes war schon zu Beginn seiner kultusadministrativen Tätigkeit weitgespannt. "Bei dem Ernst und Eifer" jedoch, „mit dem SCHULZE die Hochschulen zu fördern bestrebt war, hielt er weitere Studien für nötig". Entsprechend besuchte er, nachdem Hegel kurz zuvor seine Berliner Professur übernommen hatte, „von 1819 — 1821 täglich in zwei Abendstunden" dessen „sämtliche Vorlesungen ... über Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften, Logik, Psychologie, Philosophie des Rechts, Geschichte der Philosophie, Naturphilosophie, Philosophie der Kunst, Philosophie der Geschichte und Philosophie der Religion", und er scheute „die Mühe nicht", „den Inhalt sämtlicher Vorlesungen durch sorgfältig nachgeschriebene Hefte" sich in häuslichen Nachstudien konsolidierend „anzueignen".^i Der Ministerialdirektor (nach heutiger Rangklassenbezelchnung) als Philosophiestudent — das ist der Musterfall für die Ausbreitung des akademisch-disziplinierten Zeitgeistes in Staat und Gesellschaft hinein, auf die die Universitätsreformer von KANT und SCHLEIERMACHER bl« HUMBOLDT hofften. Dabei ist dieser Musterfall nicht einmal ein Sonderfall. ALTENSTEIN selbst hatte — noch nicht Minister, aber doch bereits "Geh. Oberfinanzrat im Generaldirektorium" — sich insbesondere den Lehren FICHTES geöffnet. Zum Beispiel saß er, neben BEYME und METTERNICH, im Publikum der „Vorlesungen über die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters", die FICHTE — wie ALTENSTEIN bereits seit 1799 in Berlin — im Winter 1804/5 daselbst hielt, und zwar nicht folgenlos. ALTENSTEIN bereits erwähnte Rigaer Denk„Berühmt" ist hier freilich auf eine esoterische Öffentlichkeit einzuschränken; die Brockhaus-Enzyklopädie neuester Auflage verzeichnet den Namen dieses wirkungsreichen preußischen Kultusbeamten verblüffenderweise nicht einmal. — Zum Folgenden: Varrentrapp, 277 (s.o. Anm. 1). 21 Vgl. Varrentrapp, 432; Miisebeck, 55 f (s.o. Anm. 7).
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Schrift, die ja bald darauf, 1807 verfaßt wurde, ist unverkennbar ebenso ein Dokument der Reformpolitik wie ein Dokument der orientierenden Wirkung der Philosophie auf sie. EDUARD SPRANGER hat das ausführlich beschrieben.^ Der Eindruck, den ALTENSTEIN auf seine Zeitgenossen machte, entspricht äem; einen „philosophischen Minister" nannte ihn kein Geringerer als SuLPiz BOISSEREE. In institutioneller Hinsicht repräsentiert übrigens FICHTES Berliner Tätigkeit in den Jahren vor der Errichtung der hauptstädtischen Universität einen eigenen Typus in der Bemühung, die Philosophie praktisch zu machen. FICHTES Berliner Vorlesungen in diesen Jahren waren ja „Privatvorlesungen", deren Zuhörer überwiegend nicht Studenten, sondern etablierte Bürger waren.Man darf Veranstaltungen dieser Art nicht allein als Vorstufen zu der „in Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt" sehen. Im herausragenden Fall FICHTES waren sie zugleich Veranstaltungen moralisch-politisch staatsbürgerlicher Erweckung, und in den Grenzen seines moderaten Charakters darf man auch ALTENSTEIN ZU den philosophisch Erweckten zählen. Sogar in seiner Rigaer Denkschrift, die doch nach ihrem pragmatischen Status ein Text der Administration war, beschwört er den „höheren Geist der Zeit", die neu erwachte „Glut für die Religion", den „erhöhten Schwung" der „philosophischen Forschung" „vorzüglich in Deutschland", „auch im Preußischen und namentlich in Berlin", und er verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf „den Professor FICHTE". 24
Die Philosophie in dieser Funktion eines öffentlichen Mediums religiöskultureller und nationalpolitischer Erweckung sprengt natürlich die von KANT rigoros gezogenen institutioneilen Grenzen ihrer akademischen Disziplin; sie wird tendenziell Ideologiepolitik, Praxis der Politisierung der Öffentlichkeit durch Stimulation von zeitgeistadäquater Gesinnung. Exakt nach diesem Muster stellte sich FICHTE bei Kriegsausbruch 1806 den Behörden als „weltlicher Staatsredner" zur Verfügung, um vor den „Besten" und „Ersten des Heeres", „die der reinen und klaren Besinnung fähig sind", „Schwerter und Blitze" zu reden.2S Eduard Spranger: Altensteins Denkschrift von J807 und ihre Beziehungen zur Philosophie. In: Forschungen zur Brandburgischen und Preußischen Geschichte. Hrsg, von O. Hintze. Achtzehnter Band, zweite Hälfte. Leipzig 1905, 108—152; dazu auch: R. Lauth: Über Fichtes Lehrtätigkeit in Berlin von Mitte 1796 bis Anfang 1805 und seine Zuhörerschaft. In: Hegel-Studien. 15 (1980), 9—50. — Zu Boisserees Ausspruch: Varrentrapp, 286. 23 Fritz Medicus: Einleitung, ln: ]oh. Gottl. Fichte: Werke. Hrsg, und eingeleitet von F. Medicus. Leipzig 1911, CXLI. Aus der Denkschrift Altensteins, 254 (s.o. Anm. 11). 25 Fritz Medicus, CLXV (s.o. Anm. 23).
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Mochten einige Philosophen äamala, HENRIK STEFFENS zum Beispiel in seinen Vorlesungen über die Idee der Universitäten von 1808/9, sich vorstellen und hoffen, daß so die »höchsten Bemühungen" der Philosophie, „allmählich die Masse ergreifend, dem Staate eine bedeutungsvollere Zukunft vorbereiten" werden^* —: Die Staatsrepräsentanz selbst sah das natürlich anders und hielt den die Grenzen der akademischen Disziplin sprengenden philosophischen Geist auf Distanz. Das heißt im Exempel: FICHTES erwähntes „Anerbieten wurde mit höflichem Dank abgelehnt".Im Resultat bleibt es also dabei: Auch in den Jahren des Aufbruchs und der Reform blieb der von den Staatsmännern als Instanz regelmäßig angerufene „Geist der Zeit"28 überwiegend akademisch gebunden, und seine hervorragende Inkarnation in Preußen blieb der Professor. Erst recht gilt das natürlich für die Jahre nach dem Aufbruch in der Zeit biedermeierlich gebremster Reformen, und der öffentlichen Geltung des Professors kam das sogar noch zugute. „Umgeben von der Verehrung dankbarer Zuhörer", spottete später TREITSCHKE, „blickte der Gelehrte mit naivem Selbstgefühl um sich", währenddessen er doch „in den Augen der Höfe und der Bureaukratie" nichts anderes war als eben „ein Professor ohne Hofrang".2« Das Praktischwerden der Philosophie im institutioneilen Kreislauf reformierter Bildung von hohen Beamten, ja Ministern, die dann die Wirksamkeit dieses Kreislaufs förderten, ließe sich über die exemplarischen Fälle ALTENSTEINS und SCHUTZES hinaus auch noch von Episoden aus dem Leben anderer großer Männer der preußischen Kultusadministration zeigen — von SüvERN^o bis NICOLOVIUS. ES erübrigt sich, das hier zu tun. Wichtiger ist, sich zu vergegenwärtigen, daß die mit Abstand wichtigste, jedenfalls spektakulärste Reformleistung der preußischen Kulturpolitik zwischen HUMBOLDT und ALTENSTEIN, Universitätsgründung nämlich und Universitätsreorganisation, dem Prinzip folgte, durch Installation des Henrik Steffens: Vorlesungen über die Idee der Universitäten. Gehalten 1808/9. Erstmals veröffentlicht 1809. In: Die Idee der deutschen Universität. Die fünf Grundschriften aus der Zeit ihrer Neubegründung durch klassischen Idealismus und romantischen Realismus. Darmstadt 1906, 341. 2^ Trotz Medicus, CLXV. 28 Zum Beispiel bei Altenstein (253; s.o. Anm. 11). — Zum Schlagwortcharakter der Zeitgeistformel vgl. Eduard Spranger: Philosophie und Pädagogik der preußischen Reformzeit. In: Historische Zeitschrift. 104 (1910), 280. Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Zweiter Teil. Neuausgabe Leipzig 1927. 11 f. 8“ Zu Johann Wilhelm Süvern siehe Wilhelm Dilthey: Süvern. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd 37. Neudruck der 1. Auflage vn 1894. Berlin 1971. 206—245. — Zu Georg Heinrich Ludwig Nicolovius: Ernst Friedländer: Nicolovius. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd 23. Neudruck der 1. Auflage von 1886. Berlin 1970. 635—640.
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skizzierten-akademischen Kreislaufs der Eliten Bildung und Wissenschaft als Medien der Staatsreform und der Gesellschaftsmodernisierung wirksam zu machen. Die Konsequenz: »Weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus" blieb »die höhere, akademisch gebildete Beamtenschaft" die »praktisch einflußreichste Gruppe in der deutschen Gesellschaft".Das demonstriert die Effizienz jenes Prinzips und zugleich seine Grenzen. Um die Philosophie des deutschen Idealismus als Philosophie preußischer Kulturpolitik in Universitätsgründung und Universitätsreorganisation in Erinnerung zu bringen, genügt es, auf drei wichtigste Grundsätze dieser Politik zu rekurrieren. Erstens. Die Einrichtungen der akademischen Bildung dienen der Mobilisierung der Ständegesellschaft. »Stand", so hatte FICHTE bereits in seiner 1794er Vorlesung über die Bestimmung des Gelehrten in einem Akt revolutionärer Umdefinition erklärt, soll »etwas durch freie Willkür Gewähltes sein".^2 Als gleiche Chance dieser Wahl ist in der Gesellschaft »Gleichheit aller ihrer Mitglieder" realisiert, wodurch sich dann konsequenterweise Verschiedenheiten kraft von Natur aus ungleich verteilter »Talente" herstellen werden, aber eben ohne Zwang »durch Freiheit", weil ja »keiner die besonderen Talente des anderen vollkommen kennen kann". In seinem Universitätsplan hatte dann FICHTE, politisch zugespitzt, die in Berlin zu errichtende höhere Lehranstalt als eine Gelegenheit zu entsprechender Bildungskpnkurrenz der Talente gekennzeichnet, die »besonders unser Adel ... mit Freuden ergreifen werde, um zu zeigen, daß es nicht bloß die versagte Konkurrenz war, die ihm bei seinem bisherigen Range erhielt."33 — Um den praktischen Ort dieser Sätze einer politischen Bildungsphilosophie richtig einzuschätzen, muß man sich erinnern, daß der zitierte »deduzierte Plan" ja nicht ein Dokument subversiver politischer Untergrundliteratur ist, vielmehr eine offizielle Denkschrift, mit der FICHTE der Bitte des königlichen Kabinettschefs KARL FRIEDRICH VON BEYME entsprochen hatte, ihm seine »Ansichten über das große Unternehmen mitzuteilen."^« Die
31 Rudolf Vierhaus: Umrisse einer Sozialgeschichte der Gebildeten in Deutschland. In: Quellen und Forschungen. Herausgegeben vom Deutschen Historischen Institut in Rom. 60 (1980), 405.
Johann Gottlieb Fichte: Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1794). In: Fichtes Werke. Bd 1. Leipzig 1911. 246; zum folgenden 243, 248. 33 Johann Gottlieb Fichte: Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaften stehe. In: Die Idee der Universität, 192 (s.o. Anm. 26). 3'' Lenz, 81 (s.o. Anm. 6). — Zum Folgenden vgl. Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791—1848. Stuttgart 21975. 52 ff.
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Modernisierung der Ständegesellschaft mit den Tendenzen der Freisetzung einer allgemeinen bürgerlichen Gesellschaft hatte ja damals als fällige Antwort auf die Revolution staatsreformpolitische Evidenz. Dem entsprach die radikale Ständephilosophie des radikalen politischen Philosophen, und der verantwortliche Staatsdiener höheren Ranges sagt dasselbe moderat, indem er verlangt, daß „nach den Vorschlägen bei der Verfassung der Unterschied der Stände weniger scharf begrenzt" sei und „jeder mehr Freiheit" erhalte, „freien Gebrauch von seinen Kräften zu machen", zumal in der „Konkurrenz für Kunst und Wissenschaft". Zweitens. Die neue Universität sollte eine Städte freier, selbstzweckbestimmter, gegenüber der Pragmatik des bürgerlichen Lebens freigesetzter Wissenschaft und wissenschaftlicher Bildung sein. Noch VON MASSOW, WöLLNER Nachfolger und erster Chef des preußischen Unterrichtswesens nach dem Thronwechsel zu FRIEDRICH WILHELM III., wollte „aus der Fülle seines Herzens" unterschreiben, „daß statt der Universitäten nur Gymnasien und Akademien für Ärzte, Juristen usw. usw. sein sollten", weil die „Universitäten in ihrer aus dem Altertum herrf^hrenden Einrichtung zum jetzigen Bedürfnis der moralischen, scientifischen und praktischen Bildung nicht bloß künftiger speculativer Gelehrten, sondern für die dem bürgerlichen Leben in privaten und öffentlichen Verhältnissen ebenfalls brauchbaren Staatsbürger nicht passen". Demgegenüber hat dann FICHTE bereits, dessen biographische Karriere, die den Heimarbeitersohn aus dem Erzgebirge bis zum Universitätsrektor und zu philosophischer europäischer Berühmtheit führte, die standesemanzipatorische Bedeutsamkeit der bürgerlichen Bildung besonders eindrucksvoll demonstrierte, mit elitärem Hochmut von „der allgemeinen Masse des gewerbetreibenden oder dumpfgenießenden Bürgertumes" gesprochen und in rhetorischer Frontstellung gegen die Pragmatik des bürgerlichen Lebens in klassischer Reinheit die Selbstzweckthese akademischer Praxis formuliert: „Dem Gelehrten aber muß die Wissenschaft nicht Mittel für irgendeinen Zweck, sondern sie muß ihm selbst Zweck werden". — Auch das hat auf der Seite der Reformadministration durchaus sein Gegenstück. Abermals ist es ALTENSTEIN, der schon in seiner Rigaer Denkschrift analog und wiederum moderater sich geäußert hatte. Die „schönen Künste und Wissenschaften" nach ihrem Wert als „wichtigstes Mittel zum Broterwerb" einzuschätzen heiße, sie „sehr tief" zu stellen. ALTENSTEIN bringt sogar eine nationalpolitische Spitze
35 Aus der Denkschrift Altensteins, 243 (s.o. Anm. 11); die folgenden Zitate stammen aus Müseheck, 26 (s.o. Anm. 7); Varrentrapp, 235 (s.o. Anm. 1); Fichte: Deduzierter Plan, 139 und 138 (s.o. Anm. 26); Denkschrift Altensteins, 242.
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in diese Betrachtung ein und nennt Frankreich das Land, in welchem „Wissenschaft und Kunst" einer „untergeordneten, auf bloße Kraftäußerung gerichteten Tendenz" unterworfen seien. Demgegenüber käme es darauf an, durch Wissenschaft und Kunst die Menschen „auf das höhere Geistige" hinzuleiten. — Man hört diese idealistisch geprägten Sätze richtig, wenn man sie mit der Meinung des vielzitierten HuMBOLDTschen Satzes verknüpft, die Universität stehe „immer in einiger Beziehung auf das praktische Leben und die Bedürfnisse des Staates" und unterziehe sich durch „Leitung der Jugend" „praktischen Geschäften für ihn".^* Welchen Geschäften? Stiftung von Bürgerkompetenz durch Bildung — so kann man diese Frage beantworten. Der Gesichtspunkt der Erziehung durch Bildung, die durch Teilnahme am Leben der Wissenschaft erworben wird, dominiert. „Dem Staat", sagt HUMBOLDT, sei es nicht „um Wissen und Reden sondern um Gharakter und Handeln zu tun". Bildung durch Wissenschaft als Selbstzweck — mit dieser Zweckbestimmung ist die Universität als Staatsveranstaltung von den unmittelbaren Zwecken des Staates freigesetzt und bleibt zugleich mittelbar auf ihn zurückbezogen, indem, wer so gebildet ist, auch zur Teilnahme am Gemeinwesen besser befähigt ist. „Es bedarf keiner Ausführung", so faßte ALTENSTEIN diesen Gedanken in vaterländischer Absicht zusammen, wie hierdurch sogar das, „was man Patriotismus nennt", „erhöht und belebt" werde.^7 Drittens. Als Schule intellektueller und moralischer Autonomie sollte die neue Universität Pflanzstätte bürgerlicher Freiheiten sein. Diese Idee hat sich, was die Freiheit der Forschung und Lehre anbetrifft, unbeschadet der Bedrängnis, in die alsbald viele Professoren durch Exekution der Karlsbader Beschlüsse gerieten, im ganzen der preußischen Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts als überwältigend erfolgreich erwiesen. Analoges gilt für die innerakademische Freiheit des Studiums. HUMBOLDT hatte diese Freiheit auf den entschiedenen Grundsatz gebracht, „die Trennung der höheren Anstalten von der Schule" sei „rein und fest zu erhalten". In der Konsequenz dieses Grundsatzes verstand es sich, daß, zum Beispiel, die Internierungszwänge, denen in Lebensführung und Studium FICHTE die
3 Wilhelm von Humboldt: lieber die innere und äussere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (1810). In; Die Idee der deutschen Universität, a.a.O. 384 (s.o. Anm. 26). — Zum Folgenden meinen Aufsatz Wilhelm von Humboldts preußische Universitätsreform, In; Hermann Lübbe: Hochschulreform und Gegenaufklärung. Freiburg i. Br. 1972, 109—118; und Wilhelm von Humboldt, 379. 3^ Aus der Denkschrift Altensteins, 242 (s.o. Anm. 11); für das folgende Zitat vgl. Wilhelm von Humboldt, 379 (s.o. Anm. 36).
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Studenten zu unterwerfen vorschlug,^® verworfen wurden. Eben diesem Grundsatz entsprechen auch die kontinuierlich wiederholten reformphilosophischen Erinnerungen, bei SCHLEIERMACHER zum Beispiel, daß der Sinn des Studiums sich nicht in der Rezeption kanonischer Lehrgehalte, vielmehr im „Lernen des Lernens" erfülle.„Wir wollen Euch zu lernen lehren" — so hieß das in der Kantate „Universitati litterariae", die CLEMENS BRENTANO zur Gelegenheit der Universitätseröffnungsfeier am 15. Oktober 1810, die nicht stattfand, verfaßt hatte. Es war selbstverständlich und, sofern nicht ausdrücklich intendiert, jedenfalls unvermeidlich, daß ein solches Staatsprogramm der universitären Erweckung jungbürgerlicher intellektueller und praktischer Selbstbestimmungsfähigkeit auf der Grundlage einer Philosophie durch Bildung schließlich auch ihre politisierenden Wirkungen haben mußte, wie sie dann exemplarisch in der Burschenschaftsbewegung zutage traten.■‘o Bei den Liberalen unter den Reformern und Philosophen gehörte das — in Orientierung an der Zeitgeistnorm — sogar zur Intention, und zwar auch dann noch, als man, wie ALTENSTEIN im November 1818, um die Geltung dieser Norm zu retten, die „Entartung" des Zeitgeistes beklagte. Zusammenfassend läßt sich sagen: Philosophie und Kulturpolitik sind in der Universitätsreformpraxis damals eindrucksvoll konkludent. Die KANTische Idee, die Aufklärungs- und intellektuellen Modernisierungsprozesse in Übereinstimmung mit dem Willen der Regierung selbst als Universität staatlich zu institutionalisieren, gewinnt in der preußischen Universitätsreform kulturpolitische Realität. ALTENSTEIN höchstselbst hatte sich, „im Bannkreis HARDENBERGscher Gedanken", nicht gescheut, denkschriftlich in solchen Denkzusammenhängen von „Revolution" zu sprechen und zu hoffen, daß in der skizzierten reformpolitischen Weise „der Staat eine Revolution im Innern so bewirke, daß alle wohltätigen Folgen einer solchen Revolution eintreten, ohne daß solches mit so schmerzlichen Zuckungen, wie bei einer
38 Einschließlich eines akademischen Zwanges zur Uniform, die kein anderer zu tragen berechtigt sei, denn „die ordentlichen Studenten' und „ihre ordentlichen Lehrer“ — Fichte, 167 (s.o. Anm. 26).
Friedrich Schleiermacher: Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn, nebst einem Anhang über eine neu zu Errichtende (1808). In: Die Idee der deutschen Universität, 238 (s.o. Anm. 26); Clemens Brentano: Werke. Bd 1. Darmstadt 1968. 228; dazu Max Lenz: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Bd 1. Halle a.d.S. 1910. 288 ff.
Vgl. dazu als neuere Darstellung Konrad H. Jarausch: The Sources of German Student Unrest 1805—1848. In: The University in Society. Vol. II. Ed. by Lawrence Stone. Princeton 1974, 533—567. Zu den folgenden Zitaten siehe: Varrentrap, 292 (s.o. Anm, 1); Eduard Spranger: Altensteins Denkschrift, 115 (s.o. Anm. 22); Fichte: Deduzierter Plan, 148 ff (s.o. Anm. 26); Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken, 269 (s.o. Anm. 26); Varrentrapp, 246.
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selbst sich bildenden Revolution der Fall ist, bewirkt werde". Mit Respekt nimmt man noch heute im Rückblick zur Kenntnis, wie in solchen Versuchen, die Revolution des Gedankens als Reformpolitik wirksam zu machen, die nicht selten mit Radikalismus verkoppelte Wirklichkeitsferne etlicher der im Zeitgeistangebot manifesten Philosophen administrativ moderiert wurde. FICHTES Ungeniertheit, zum Beispiel, mit der er an der neu zu errichtenden Universität einen Philosophen mit Unterrichtsmonopol, wobei er natürlich an sich selber dachte, einzusetzen empfahl, blieb selbsverständlich unerhört — in Übereinstimmung mit der kontrastierenden polemischen Äußerung SCHLEIERMACHERS, es gäbe insoweit „nichts Verhaßteres", „als wenn eine Regierung Partei nimmt in Sachen der Philosophie, indem sie eines oder das andere der streitenden Systeme ausschließt oder zurücksetzt". Überhaupt ist der Realismus der ScHLEiERMACHERschen Universitätsphilosophie unüberboten, und niemand unter den Professoren hat entsprechend „erfolgreicher für die neue Hochschule gewirkt, als SCHLEIERMACHER*. Dieser Realismus, in welchem er zugleich mit HUMBOLDT übereinkommt, ist dabei das Gegenteil von Opportunismus: SCHLEIERMACHER und HUMBOLDT sind es ja, die zugleich mit der entschiedensten Konsequenz an den liberalen Intentionen der preußischen Universitätsreorganisation über die Zeit der Karlsbader Reaktion hinweg auch nach außen hin festgehalten haben. Es erübrigt sich hier, von HUMBOLDTS'*! über SüVERNS schließlich scheiternden Unterrichtsgesetzentwurf vom Jahre 1819 bis zu der Schuladministration "JOHANNES SCHUTZES darzustellen, wie nun die Idee, Aufklärung und gesellschaftliche Modernisierung staatlich über Bildungseinrichtungen zu veranstalten, neben der Universitätsreorganisation selbstverständlich auch ihre schulpolitischen Konsequenzen hatte. Wichtiger bleibt zu sehen, daß man in der Konsequenz dieser Idee in der Tat vermeinte, daß so die Philosophie nicht nur als Philosophie des Bildungswesen praktisch werden könne, vielmehr darüber hinaus auch als Philosophie der Staatsreorganisation. Die besondere Förderung, der sich unter ALTENSTEIN und SCHULZE die Schule Hegels erfreute, gehört in diesen Zusammenhang. SCHULZE, gewiß, hatte sich — davon war die Rede — noch als höherer Ministerialbeamter
Dazu neuerdings Clemens Menze: Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts. Hannover/ Dortmund/Darmstadt/Berlin 1975; darin über Humboldts Schulreform bes. 138—279. Zym Folgenden: Süverns Unterrichtsgesetzentwurf vom Jahre 1819. Mit einer Einleitung neu hrsg. von G. Thiele. Leipzig 1913; ferner: Johann Wilhelm Süvern. Die Reform des Bildungswesens. Schriften zum Verhältnis von Pädagogik und Politik. Besorgt von Hans-Georg Grosse Jäger und Karl-Ernst Jeismann. Paderborn 1981. Zu J. Schulze: in unverändert lesbarer Fülle Friedrich Pauken: Geschichte des gelehrten Unterrichts. Zweiter Band. ^1921. 316—406.
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zum Hegel-Schüler gemacht. Gleichwohl war seine und ALTENSTEINS Gunst für Hegel und seine Schüler, die man überdies mit einer schulpolitischen Monopolbildung nicht verwechseln darf,'*^ nicht ein Reflex privater philosophischer Liebhaberei. Man muß sie vielmehr, in Übereinstimmung mit der skizzierten Idee, den Geist durch akademische Institutionalisierung reformatorisch zu machen, aus der Absicht verstehen, das Potential, das in dieser Hinsicht die Philosophie Hegels mehr als jede andere repräsentierte, in Preußen wirksam zu halten. Das sieht man, wenn man sich das große Maß an Übereinstimmung vergegenwärtigt, die zwischen der in Preußen nach 1815 versuchten ständischen Repräsentativverfassung^s und der Gesellschafts- und Staatslehre der Rechtsphilosophie Hegels nachgewiesen ist.^^ Hegel hatte ja noch vor dem definitiven Scheitern dieser Verfassungspläne^s seine Rechtsphilosophie mit einem vielzitierten Begleitbrief an HARals einen „Versuch" übersandt, das, was in der Staatstätigkeit wirksam sei, „in seinen Hauptzügen begreifend zu erfassen". Daß er sich damit nicht der Reaktion, sondern den Reformern empfahl, bedarf in Kenntnis des Inhaltes der Rechtsphilosophie Hegels, der „bis in die Details" anzumerken ist, „wie der Verfasser sich auch außerhalb der Philosophie noch umgesehen hat", keines Nachweises, und Analoges gilt auch für seine Schule.^* Man darf sagen: Die gewisse Begünstigung, die gegen erhebliche Widerstände'*^ die Schule Hegels zu Amts- und Lebzeiten ALTENSTEINS erfuhr, entsprach dem Willen, die akademische Gegenwart des Geistes der Reformen auch über die Wende zur Restauration hinweg administrativ zu konservieren. Das schließt selbstverständlich nicht aus, nach dem Muster DENBERG
Cf. dazu C. Varrentrapp, 435 (s.o. Anm. 1). „Gegenüber der 'von manchen Seiten erhobenen Anklage, daß das Altensteinsche Ministerium Hegel und sein philosophisches System einseitig begünstigt habe', hob Schulze hervor, daß Hegel weder je eine Gehaltszulage noch die ihm bei seiner Berufung verheißene Ernennung zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften erhalten habe und daß auf den preußischen Universitäten neben Schülern oder Anhängern Hegels auch die Vertreter anderer philosophischer Systeme angestellt seien" — was zum Beispiel später, um einen herausragenden Fall zu nennen, an Trendelenburg hätte demonstriert werden können. Vgl. dazu Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd 1. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz ^1957. 304 ff. ■‘“Nämlich von Gertrude Lübbe-Wolff: Hegels Staatsrecht als Stellungnahme im ersten preußischen Verfassungskampf. In: Zeitschrift für Philosophische Forschung. 35 (1981), 476—501. “5 Datierbar mit der Cabinetsordre des Königs vom 11, Juni 1821, zum Folgenden: Hegel an Hardenberg, Mitte Okt. 1820. in: Briefe. Bd 2. 242; Gertrude Lübbe-Wolff, 501 (s.o. Anm. 44), “*Dazu vgl. den ersten Teil meines Buches Politische Philosophie in Deutschland. Basel/Stuttgart 1963. 27 ff. “:’Vg;l. den Fall Gans; dazu Kurt Rainer Meist: Altenstein und Gans. Eine frühe politische Option für Hegels Rechtsphilosophie. In: Hegel-Studien. 14 (1979), 39-72.
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auch im Verhalten Hegels selbst sowie in seinen Texten Züge der Restauration zu entdecken. Daß SCHLEIERMACHER, auch HUMBOLDT, unter Karlsbader Bedingungen sich deutlicher als Hegel exponierten, ist bekannt genug. Es handelt sich bei diesen Spannungen und Gegensätzen, zusammenfassend gesagt, um Konsequenzen divergierender Urteile darüber, welchen Grad der Entschiedenheit, intellektuell und politisch, die Reformpraxis aushalten könne, ohne an provozierten Widerständen zu scheitern. Die Übereinstimmung zwischen Hegel und ALTENSTEIN ist eine Übereinstimmung in diesem ürteil. Schon früh, in seiner Rigaer Denkschrift, hat ALTENSTEIN den Dual „schöne Künste und Wissenschaften" ständig gebraucht.'*’ Aber erst allmählich beginnt sich die Kulturpolitik in der ministeriellen Zuständigkeit ALTENSTEINS auch auf die Künste auszudehnen. Bedeutsam ist in dieser Hinsicht, wie oben schon gesagt, vor allem seine administrative Mitwirkung an der Gründung des ersten öffentlichen Kunstmuseums in Preußen, die ich einschließlich ihrer Philosophie an anderer Stelle dargestellt habe.^o Das ist hier nicht zu wiederholen. Nötig bleibt indessen, abschließend noch auf die Zusammenhänge zwischen Philosophie und derjenigen Zuständigkeit der Kulturpolitik in Preußen zu sprechen zu kommen, für die auch zu Amtszeiten ALTENSTEINS noch der Name „Cultus" eigentlich stand, nämlich der Religion als Staatsangelegenheit. Hierbei ist wiederum von KANT auszugehen, und zwar von seinem religionsphilosophischen Spätwerk. Hier finden wir die ebenso populäre wie wirksam gewordene Charakteristik der Religion als „Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote".s* Diese Charakteristik reduziert den rationalen Gehalt der Religion auf Moralität. In naheliegender politischer, insbesondere kirchenpolitischer Konsequenz bedeutet das die Instrumentalisierung der positiven Religion und ihrer Institution, der Kirche, zu einer Veranstaltung mit dem Zweck der Sicherung und Beförderung der Volksmoral. Besonders unter den historischen Voraussetzungen eines staatskirchenrechtlichen Absolutismus gilt das — und zwar gerade auch dann, wenn er sich, wie im Preußen FRIEDRUDOLF HAYMS,^»
Rudolf Haym: Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und Entwickung, Wesen und Wert der Hegel'schen Philosophie. Berlin 1857. 359. aus der Denkschrift Altensteins, 241 (s.o. Anm. 11). Hermann Lübbe: Wilhelm von Humboldt und die Berliner Museumsgründung 1830. Berlin 1980. — Der folgende Text ist ein Auszug aus meinem Beitrag zur Preußen-Vorlesungsreihe 1981/2 des Instituts für Philosophie der Technischen Universität Berlin, der ungekürzt im Rahmen einer TUB-Dokumentation im Herbst 1982 unter dem Titel Dialektik religiöser Aufklärung. Preußische Episoden erscheinen wird. Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. In: Werke. Hrsg, von E. Cassirer. Bd 6. 302.
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RicH II. und abermals, im Verzicht auf die repressiven Maßgaben des WöLL-
NERnerschen Religionsedikts, von dem ja auch KANT als religionsphilosophischer Autor betroffen war,s2 unter FRIEDRICH WILHELM III. aufgeklärt oder doch, sogar in Religionssachen, reformbereit verstand. Indessen: KANTS auch für die preußische Aufklärung prototypische Reduktion vernünftiger Religion auf Moralität ist alles andere als selbstverständlich. Wenn wir heute, nach der Aufklärung, Funktionen der Religion im Ganzen unserer öffentlichen Kultur analysieren, werden wir die moralitätsfördernden Leistungen der Religion stets erst an zweiter Stelle aufführen. Ein Blick auf die aktuelle religionssoziologische Literatur könnte das zeigen.53 In ihrer kulturellen und humanen Substanz ist die Religion ersichtlich nicht Moralität und somit als „Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote" wenn auch nicht falsch, so doch durchaus unzulänglich beschrieben. Wäre die Relgion nichts als diese „Erkenntnis", so wäre sie im Prozeß der Herauslösung der Religion aus dem Begründungszusammenhang der Moral, den die Religionsphilosophie der Aufklärung einschließlich derjenigen KANTS besorgt, wahrscheinlich längst verschwunden. Daß sie es tatsächlich nicht ist, beruht auf der jeden Aufklärungsprozeß überdauernden Nötigkeit der Religion als des nicht substituierbaren kulturellen Mediums unseres Verhaltens zu den indisponiblen Lebensbeständen — vom kontingenten Bestand unseres eigenen Daseins bis zum Bestand der Welt. Religion in dieser Charakteristik ist Kultur der Erfahrung unserer schlechthinigen Abhängigkeit und in Antwort auf diese Erfahrung die Kultur der Anerkennung dessen, wovon wir uns in dieser so bestimmten religiösen Lebenserfahrung abhängig wissen. Es ist natürlich SCHLEIERMACHER, der, nur wenige Jahre nach dem Erscheinen des KANTischen religionsphilosophischen Spätwerks, in seinen Reden die Religion in denjenigen Gehalten intellektuell gegenüber den Gebildeten unter ihren Verächtern neu vergegenwärtigt hat, die von der aufgeklärten Religionskritik gar nicht berührt werden, ohne damit das spezielle Recht dieser Kritik zu bestreiten. Die Religion sei nicht der Ort, „letzte Ursachen aufzusuchen"; eine Instanz mit der Aufgabe, „ewige Wahrheiten auszusprechen", sei sie auch nicht,®^ und was die Geneigtheit des Zeitalters an-
szDflZM Ernst Cassirer: Kants Leben und Lehre. Berlin 1921. 420 ff. ” Vgl. dazu meinen Aufsatz Religion nach der Aufklärung. In; Hermann Lübbe: Philosophie nach der Aufklärung. Von der Notwendigkeit pragmatischer Vernunft. Düsseldorf, Wien 1980, 59—85. 5“ Friedrich Schleiermacher: Plber die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Mit einem Nachwort von Carl Heinz Ratschow. Stuttgart 1970. 30; zum Folgenden vgl. 23, 45, 40, 45, 103, 36, 43.
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betrifft, die Religion als „heilsame Stütze der Sittlichkeit" zu empfehlen, so sei zu fragen, „gegen wen in dieser Gedankenverbindung die meiste Verachtung liege — gegen Recht und Sittlichkeit oder gegen die Religion, welche sie unterstützen solle". Was also ist es, was statt dessen die Religion ausmacht? Die ScHLEiERMACHERsche Antwort lautet: „Alles, was ist", als „notwendig" anzuschauen, also alle kontingenten, nämlich handlungssinntranszendenten „Begebenheiten in der Welt als Handlungen Gottes vorzustellen", somit „alles heilig" zu machen und in der Erfahrung, schlechthin abhängig „überall vom Unendlichen umgeben" zu sein für dieses „Sinn und Geschmack" zu finden. In Relation zu diesem nachaufgeklärten Religionsbegriff ist der zitierte KANTische von einer erstaunlichen, sachunangemessenen Dürftigkeit, die einer Erklärung bedarf. Die Erklärung lautet: KANT charakterisiert die Religion so, daß sie in ihren entsprechend verbliebenen Inhalten schlechterdings kein Potential mehr für jene Art der Konflikte enthält, die in den konfessionellen Bürgerkriegen und den auf sie folgenden institutionellen Bekenntniszwängen sich als destruktiv und repressiv erwiesen hatten. Auch SCHLEIERMACHER noch hält die Vorwürfe, die die aufgeklärte Intelligenz an die Religion gerichtet hatte, keineswegs für gegenstandslos. Aber ist es wirklich die Religion, der man im Rückblick auf die politischen Konkurrenzen konfessionalisierter Wahrheitsansprüche Vorhalten muß, „daß sie verfolgungssüchtig sei und gehässig, daß sie die Gesellschaft zerrütte und Blut fließen lasse wie Wasser?" Es war der Sinn der die Religion auf Moralitätskultur reduzierenden aufgeklärten Religionsphilosophie einschließlich derjenigen KANTS, von der Religion einen Begriff zu geben, der sie jenen Vorwürfen enthebt. Daran hält SCHLEIERMACHER fest, indem er zugleich geltend macht, daß die Erhaltung und Mehrung des bürgerlichen Friedens keineswegs fordert, was jener reduzierte Aufklärungsbegriff der Religion dieser nimmt. SCHLEIERMACHER gibt der Religion zurück, was über die Moralität hinaus ihre Nötigkeit im kulturellen Lebenszusammenhang ausmacht, ohne in der Erfüllung dieser Nötigkeit politisch bindender Konfessionalität zu bedürfen. Beide Positionen, die ScHLEiERMACHERsche nicht anders als die KANTische, sind in zentraler, wohlbestimmter Hinsicht Positionen religionsphilosophischer Aufklärung. Aus beiden Positionen folgt nämlich in letzter praktischer Konsequenz die staatsrechtliche Abkoppelung der Bürgerrechte von Prämissen der bekenntnismäßigen und überhaupt religiösen Verfassung des bürgerlichen Subjekts dieser Bürgerrechte. Am Beispiel der Geschichte der Judenemanzipation in Preußen vom Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden des 11. März 1812 mit seinen mannigfachen Ein-
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Schränkungen der Eignung der Juden für Staatsämter oder Offiziersstellen bis zur Aufhebung verbliebener Minderrechte etwa der Posener Juden, die erst die Preußische Verfassung in der Mitte des 19. Jahrhunderts brachte,®® ließe sich die Menge voraufgeklärter Rechtsverhältnisse demonstrieren, die im Prozeß der religionsphilosophischen Emanzipation des Bürgers wegzuarbeiten waren. Wirken insoweit die hier exemplarisch zitierten religionsphilosophischen Positionen KANTS einerseits und SCHLEIERMACHERS andererseits gleichsinnig, so gilt das Gegenteil in kirchenpolitischer Hinsicht. Es ist nämlich nicht erkennbar, wie sich unter historischen Bedingungen eines Staatskirchentums absolutistischer Tradition ein politisches Interesse an Kirchenfreiheit sollte entwickeln können, wenn die Kirche in ihrem KANTischen Begriff einer staatlichen Veranstaltung in moralischer Absicht einschlägige Zwecke fraglos-klaglos erfüllt. „Wie sollte eine Kirche, die nur noch als Organ des Staates in Erscheinung trat", so hat RUDOLF VON THADDEN im Blick auf die friedericianische Kirche gefragt, „anders wirken denn als nützliches Instrument zur Beförderung von Gesittung und Wohlfahrt, als Faktor der sozialen Ordnung!"®® Diese Frage läßt sich auch umdrehen: Welches Instrument sollte denn bestehen, eine auf die Funktionen einer moralischen Anstalt reduzierten und in der Erfüllung dieser Funktion bestens bewährten Kirche nicht als Veranstaltung des Staates rechtlich und administrativ fortzuführen? In der Tat kann nicht davon die Rede sein, daß in der preußischen Reformzeit ein solches Interesse sehr lebendig gewesen sei. Bis in die religionspolitischen Passagen preußischer Reformschriften hinein ist eine Dominanz der exemplarisch mit KANT belegten religionsphilosophischen Position gegenüber derjenigen SCHLEIERMACHERS nachweisbar. So spricht WILHELM VON HUMBOLDT im Bericht der Sektion des Kultus und Unterrichts vom 1. Dezember 1809 von der Aufgabe, „Begriffe über ... Pflichten" bildungsmäßig „durch Religionstät ... in Gefühl" übergehend zu machen.®^ Das „Gefühl" nimmt hier gewiß die Philosophie SCHLEIERMACHERS auf; aber nicht das „Unendliche" ist es, auf das mit seiner Erweckung der Zögling bezogen werden soll, sondern, ganz KANTisch, die Pflicht. Analog finden 55 Vgl. hierzu die ebenso knappe wie inhaltsreiche Darstellung bei Ernst Rudolf Huber: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd 1: Reform und Restauration 1789—1830. Berlin/Köln/ Mainz n967. 198 ff. Rudolf von Thadden: Fragen an Preußen. Zur Geschichte eines aufgehobenen Staates. München 1981. Darin 107—144: Wie war Preußens Kirche?, bes. 117. 57 Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften. Hrsg, von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd 10. 200.
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wir auch in der berühmten Rigaer Denkschrift ALTENSTEINSS» einerseits durchaus Bekundungen einer nachaufgeklärten neuen Schätzung der Religion. „Eine große Gleichgültigkeit gegen die Religion" habe sich unvermeidlicherweise ausgebreitet, soweit man sie nur noch als ein geeignetes Mittel angesehen habe, „den Pöbel im Zaum" zu halten und „die Administration" zu erleichtern.59 Nunmehr aber habe der „Zeitgeist" neue „Glut für die Religion" entfacht, und das „seichte und kalte moralische Geschwätz" in der öffentlichen Behandlung religiöser Angelegenheiten sei verstummt, und es erscheint plausibel, daß ALTENSTEIN entsprechend in seine Allgemeine Grundsätze, das Religionsleben im preußischen Staate betreffend den Grundsatz aufnimmt, „in allem, was wahre Religion ist", müsse „gänzliche Freiheit sein". Andererseits entsprach die Reformpraxis in Preußen gerade nicht diesem Grundsatz. Ihr primäres Ergebnis war,®o in kirchenpolitischer Hinsicht, statt einer Freisetzung kirchlichen Lebens die rigorose Konzentration seiner Staatsaufsicht in den reorganisierten Behörden. So wurde also „vorerst ... einmal das Staatskirchentum auf die Spitze" getrieben. Es ist nicht erkennbar, daß ALTENSTEIN, als er dann später, durch „Cabinetsordre" vom 3. November 1817, selbst für die Staatskirchenangelegenheiten ressortmäßig zuständig geworden war, beim Zweck der Mehrung der Kirchenfreiheit, die als Konsequenz nachaufgeklärter Erneurung des religiösen Lebens nahegelegen hätte, in besonderer Weise engagiert gewesen wäre. Er blieb, sozusagen, staats- und souveränitätsorientiert — in Übereinstimmung mit seinem bereits 1807 bekundeten politisch-theologischen FicHTEanismus, in welchem er selbst noch jene postKANTianische neue „Glut für die Religion" auf die geistig-politische Fähigkeit zurückzubeziehen verstand, den „Kampf um die Herrschaft der Welt", der sich erhoben habe, auch als einen „Kampf der Religiosität" zu verstehen und deswegen auch den Souverän in seiner Rolle als „geistliches Oberhaupt" durch Überantwortung der Repräsentanz für die stattfindende Erneuerung des religiösen Lebens zu stärken. Solche Gedanken hatten unzweifelhaft eine politisch-religiöse Intensität, zu deren intellektuel^'’Dazu Eduard Spranger: Altensieins Denkschrift von 1807 und ihre Beziehungen zur Philosophie (s.o. Anm. 22). Aus der Denkschrift Altensteins für Hardenberg, 250; zum folgenden 254, 256 (s.o. Anm. 11). “ Gemäß dem „Publicandum, die veränderte Verfassung der obersten Staatsbehörde betreffend" vom 16. Dezember 1808, im Auszug abgedruckt bei Ernst Rudolf Huber, Wolfgang Huber: Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts. Bd 1: Staat und Kirche vom Ausgang des alten Reiches bis zum Vorabend der bürgerlichen Revolution. Berlin 1973. 55; zum Folgenden vgl. Rudolf von Thadden, 123, (s.o. Anm. 56); Aus der Denkschrift Altensteins, 256 (s.o. Anm. 11).
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1er Provokation die KANxische Religionsphilosophie niemals ausgereicht hätte. Aber Gedanken, in deren Konsequenz eine Stärkung der Kirchenautonomie gelegen hätte, waren es ebensowenig wie die Gedanken der Religionsphilosophie KANTS. Eher hätte sich mit ihnen die Vorstellung verbinden lassen, daß die staatskirchlich verfaßte Religiosität, als die höchste Form der den Staat erfüllenden geistigen Lebendigkeit, schließlich überhaupt mit dem Staate verschmelze, und so verwundert nicht, was TREITSCHKE ZU berichten weiß, daß nämlich später an ALTENSTEINS „gastlichem Tische ... zuweilen kühl die Frage erörtert" wurde, „ob das Christentum noch zwanzig oder fünfzig Jahre dauern werde."*i Solche Erwägungen waren das Komplement einer bemerkenswerten Unfähigkeit, die Freiheit der Religion als Kirchenfreiheit aufzufassen, und sie dokumentieren außerdem religionspolitischen Etatismus als Restgestalt der FicHTEanisierenden politischen Theologie aus den inzwischen ferngerückten Tagen des reformerischen Aufbruchs NAPOLEONischer Provokation. Wiederum war es SCHLEIERMACHER, der, kraft seines im Kerngehalt politisch schlechterdings nicht mediatisierbaren Religionsbegriffs, auch die Kirche der Religion dieses Begriffs staatsfreier organisiert wissen wollte. Lebendiger "Anteil an den öffentlichen Gottesverehrungen und den heiligen Gebräuchen" sei „fast ganz verschwunden", „das lebendige Verhältnis zwischen den Predigern und ihren Gemeinden so gut als aufgelöst", und „Grund all dieser Übel" liege in einigen bei uns „seit der Reformation begangenen Fehlern". Der Fehler sei, daß man die Kirche „dem Staat zu sehr untergeordnet" habe, „als ob sie nur ein Institut des Staates zu bestimmten Zwecken wäre".*^ Entsprechend habe sich künftig der Staat „der Innern Verwaltung der Kirche gänzlich" zu „entschlagen", und der Vorschlag, die Kirche unter der „Oberaufsicht des Staates" im übrigen ihrer presbyterialen und synodalen Selbstverwaltung zu überantworten, zieht daraus die praktische Konsequenz. Es handelt sich dabei um eine Konsequenz, die zu ziehen eine Religionsphilosophie unfähig ist, die die Religion in der Absicht einer politischen Entschärfung des Konfessionalismus zum kulturellen Medium der Moralitätsbeförderung herunterdefiniert. Unter der Bedingung dieser religionsphilosophischen Schwundstufendefinition kann man durchaus Religionsfreiheit als Freiheit durch politische Emanzipation von der Religion begründen. Zur Begründung der Religionsfreiheit als politi-
Heinrich von Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Dritter Teil.
Neue Ausgabe Leipzig 1927. 401. *2
Vorschlag zu einer neuen Verfassung der protestantischen Kirche im preußischen Staate. In;
Zeitschrift für Kirchenrecht. 1 (1861), 327; zum Folgenden 328.
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sehe Freiheit der verfaßten Religion selbst bedarf es jedoch eines Religionsbegriffes, der auch nach der Aufklärung festhält, worauf sich Emanzipationsprogramme gar nicht erstrecken können, nämlich unsere schlechthinige Abhängigkeit von Bedingungen unseres Lebens, in bezug auf die wir nicht durch Versuche ihrer Wegarbeit oder Verleugnung, sondern einzig durch ihre Anerkennung lebensfähig werden. Das ist die nachaufgeklärte religionsphilosophische Position SCHLEIERMACHERS, die, ohne hinter die in Preußen prototypisch durch KANT repräsentierte religionsphilosophische Aufklärung zurückzufallen, den emanzipatorischen Gehalt dieser Aufklärung für die Kirchenemanzipation in Anspruch nimmt. Nicht anders als für die Aufklärung insgesamt gewinnt selbstverständlich auch für SCHLEIERMACHER die überkommene Pluralität der Konfessionen das Ansehen historischer Kontingenz, und die von SCHLEIERMACHER bereits 1808 vertretene These, es sei „durchaus notwendig, daß der kirchliche Unterschied zwischen Lutheranern und Reformierten gänzlich aufgehoben werde", zieht daraus eine naheliegende Konsequenz. Diese These gehört natürlich in die Vorgeschichte der Unionskirche in Preußen.^3 Die Entschärfung der rechtlichen und institutionellen Bedeutung von Bekenntnisdifferenzen durch Tendenzen der Reduktion des Unabdingbaren auf maximal konsensfähige Minima ist dabei ein Interesse, in welchem damals, religionspolitisch, aufgeklärte Moralisten, Repräsentanten etatistischer Rationalität sowie idealistisch erneuerte Religiosität pietistischer Herkunft, also KANXianer, auf administrative Effizienz bedachte Staatsreformer sowie ScHLEiERMACHERianer übereinzustimmen vermochten. Minimalisierung dessen, was in einer Kommunität von jedermann als verbindlich anzuerkennen ist — das ist generell ein zentrales Moment aller politischen Modernisierungsprozesse, in denen der Differenzierungsgrad des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens zugleich mit dem Grad seiner organisatorischen Integration zunimmt. Kirchenpolitisch hätte das bedeuten müssen, in der unierten Kirche das Moment ihrer Einheit mit maximaler Freisetzung der differenten Herkunftsprägung ihrer Teile zu verbinden. Statt dessen wurde, was in einer Einheit in der Tat allen gemeinsam sein muß, als unifizierender Hobel wirksam gemacht — bis zur rüden Konsequenz der Exilierung widerständiger Altlutheraner. Wiederum SCHLEIERMACHER war es, der diesen Umschlag eines von ihm selbst geförderten Modernisierungs“"ä Vgl. dazu Ernst Rudolf Huber: Der Staat und die evangelische Union (450—472; s.o. Anin.55); ferner: Wolfgang Huber: Schleiermacher und die Reform der Kirchenverfassung. In: Festschrift für Ernst Rudolf Huber zum 70. Geburtstag am 8. Juni 1973. Hrsg, von E. Forsthoff, W. Weber, F. Wieacker, Göttingen 1973, 57—74. — Zum Folgenden vgl. Ernst Rudolf Huber, 468 ff.
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Prozesses in sein Gegenteil durchschaut hat und im sogenannten Agendenstreit gegen die Politik, wie sie damals exemplarisch und zuständigkeitshalber insbesondere auch ALTENSTEIN exekutierte/^ in seinen Stellungnahmen zugunsten der Widerständler gegen obrigkeitliche Agendenverordnung der Einsicht folgte, daß das Recht auf die Behauptung kontingenten Andersseins um so nötiger ist, je mehr wir aus guten Gründen gehalten sind, uns mit anderen zu vereinigen. Aufklärungsprozesse sind Prozesse der Erweiterung kultureller, sozialer und politischer Gemeinsamkeitshorizonte. Die aufgeklärte Philosophie, die die Nötigkeit der Herstellung solcher Gemeinsamkeit geltend macht, ist nicht eo ipso auch eine Philosophie der Freiheit. Zu dieser gehört nämlich, über die Einsicht in die nötige Geltung des uns verbindenden Allgemeinen hinaus, die Einsicht in die resistente Mächtigkeit unserer komplementären jeweiligen Verschiedenheiten, die im Rekurs auf jenes Allgemeine weder rechtfertigungsfähig noch rechtsfertigungsbedürftig sind und in dieser Rechtfertigungsunbedürftigkeit anzuerkennen sind. TREITSCHKE erzählt uns eine hübsche Geschichte aus der preußischen Religionspolitik gegenüber den Katholiken im neupreußischen Rheinland, die uns den skizzierten Zusammenhang demonstriert. „Nach altem gedankenlos beibehaltenem Herkommen wurde die Truppe auch jetzt noch an einem Sonntag jeden Monats in die evangelischen Garnisonskirchen geführt, obgleich in manchen Regimentern der westlichen Provinzen die Mannschaft fast durchweg aus Katholiken bestand". Natürlich gab es Beschwerden und Widerstände. Anstatt aber in die staatliche Einheit des Militärs den gottesdienstlichen Pluralismus der Konfessionen zu integrieren, wurde der Versuch unternommen, jener Einheit entsprechend nun auch den Gottesdienst zu vereinheitlichen; das heißt, es wurde angeordnet, „flaß in solchen Fällen nur eine kurze, für beide Konfessionen unverfängliche Predigt gehalten würde". Selbstverständlich sind solche und analoge Erscheinungen nicht aufklärungskonsequent — von der Zwangspensionierung jüdischer Subalternbeamter im Rheinland, die aus NAPOLEONischer Aera überkommen nun in Preußen zu dienen gehabt hätten, bis hin zu der beiläufigen Selbstverständlichkeit, mit der, auf der Ebene der Philosophie, noch Hegel, anti-dissidentisch, das Recht des Staates erklärte, „von allen seinen Angehörigen zu fordern, daß sie sich zu einer Kirchengemeinde halten, — übrigens zu irgendeiner", wie Hegel konfessionsliberal hinzufügt, „denn auf den Inhalt, Vgl. dazu die eindringliche Schilderung bei Heinrich Treitschke: Deutsche Geschichte, 395 ff, zum Folgenden vgl. 410, 378.
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insofern er sich auf das Innere der Vorstellung bezieht", könne „sich der Staat nicht einlassen Es ist plausibel und es hatte seine Notwendigkeit, daß gegenüber solchen Inkonsistenzen und Inkonsequenzen das aufgeklärte Postulat der Religionsfreiheit in seinem Kerngehalt radikaler Abtrennung der Bürgerrechte von vorweg erfüllter bürgerlicher Verpflichtung auf Religion auf der intellektuellen und politischen Tagesordnung blieb. Daß aber dieses Postulat, dessen Anerkennung erzwingende Kraft dann in der Tat auch in Preußen die spätere verfassungspolitische und staatskirchenrechtliche Entwicklung mitbestimmt hat, seinerseits eine Dialektik tendenzieller Selbstzerstörung der Aufklärung aufweist — das dokumentiert in unüberbotener Weise die Judenschrift des Preußen KARL MARX aus dem Jahre 1844.** Diese Schrift ist das klassische Dokument religiöser Aufklärung in Gestalt jenes emanzipationstheoretisch unüberbietbaren Radikalismus, der uns über die „gesellschaftliche Emanzipation der Juden" hinaus die „Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum" verheißt und überhaupt die Steigerung der Religionsfreiheit zur Befreiung der Menschen von der Religion. Banalerweise handelt es sich bei dieser harten These, „die Judenemanzipation" sei „in ihrer letzten Bedeutung ... die Emanzipation der Menschheit vom Judentum" nicht um einen Rassismus, der ja damals auch noch gar keine politisch erhebliche Aktualität besaß. Worum handelt es sich? Es handelt sich um ein Programm der Aufhebung der liberalen Entfremdung zwischen bürgerlicher und humaner Existenz, in der, was uns auf der Ebene der allgemeinen Bürgerrechte und Bürgerpflichten verbindet, sich in der politischen Freisetzung dessen erfüllt, was uns in unserem humanen Lebensvollzug kraft kontingenter Herkunftsprägung bis in unsere religiösen Orientierungen hinein unterscheidet. Diese freigesetzten Unterschiede sind in einer liberalen Ordnung das, was wir zu niemandes Dispositon gestellt wissen möchten, was daher auch nicht demokratisierbar ist, was somit Verfahren der Entscheidung durch Mehrheit nicht anvertraut werden darf und auch nicht einem politpädagogischen Zwang zur Teilnahme an kulturellen Prozessen und Diskursen mit dem Ziel, unsere kontingenten Identitäten zu reiner Vernünftigkeit zu verflüssigen.*^
05 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg ^1955. § 270. 225. ‘>‘>Zur Judenfrage. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Bd 1. Berlin 1970. 347—377; zum Folgenden vgl. 377, 369, 373. 07 Vgl. dazu meinen Beitrag Identität und Kontingenz zum Band XII der Arbeitsergebnisse der Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik'. Identität. Hrsg, von O. Marquard und K. Stierle. München 1979, 657—659.
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Demgegenüber formuliert in der zitierten Schrift KARL MARX ein Programm humaner Vollemanzipation, in welchem die religiöse Aufklärung en ihrer Absicht, durch die Institutionalisierung allgemeiner Rechte uns in unseren rechtfertigungsunfähigen konfessionellen und sonstigen Besonderheiten freizustellen, durch die Verheißung endgeschichtlicher Liquidation dieser Besonderheiten überboten wird. Was die Vollendung der Aufklärung sein sollte, zerstört sie durch Wegschaffung der Gründe, die uns einzig ihre Freiheiten schätzen lassen, und sie zerstört damit diese Freiheiten selbst. Diese Dialektik der Aufklärung ist keine folgenlose Philosophie. Sie hat ihre reale Seite in der Religionspolitik der Länder des sogenannten realen Sozialismus bis heute.**
Vgl. dazu meinen Aufsatz Staat und Zivilreligion. Ein Aspekt politischer Legitimität. In: Hermann Lübbe, Niklas Luhmann, VJerner Maihofer, Ulrich Scheuner, Reinhold Zippelius: Legitimation des modernen Staates. Mit einem Diskussionsbericht von Dieter Wyduckel. Hrsg, von Achterberg, Krawietz. Wiesbaden 1981, 40—64.
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POLITIK, KULTUR UND PHILOSOPHIE IN PREUSSEN
I. (1) »Mein ganzes Department ist beinahe verholzt und eingeschrumpft; es muß erst wieder belebt und in Bewegung gesetzt werden/'^ Mit diesen Worten schildert ALTENSTEIN wenige Tage nach der Übernahme des neu errichteten Ministeriums für Geistliche, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten den Zustand der beiden Sektionen für Unterricht und Religionsfragen. Während der Zeit ihrer Zugehörigkeit zum Innenministerium unter SCHUCKMANNS Führung hatten sie eine wenig glanzvolle Zeit verbracht. Als Motto der langjährigen Führung des Ministeriums durch ALTENSTEIN sind diese Worte dennoch unzutreffend, weil sein Wirken über eine solche „Wiederbelebung" weit hinausging. Unter seiner Führung des Ministeriums konnte Preußen dem militärischen Ruhm der Befreiungskriege bald nicht minder große wissenschaftliche Leistungen zur Seite stellen: Binnen weniger Jahre wurde es auch zur führenden geistigen Macht in Deutschland. Der Begründung des Ministeriums schien zunächst im Zuge der allgemeinen Neuverteilung der Kompetenzen unter den Ministern ein geringeres politisches Gewicht zuzukommen als etwa der gleichzeitigen Umbildung des Finanzministeriums. Doch erwies sie sich als ein außerordentlich glücklicher Schritt, der sich auch in der Retrospektive weithin großer Anerkennung erfreut. Weit weniger Zustimmung als die Bildungspolitik findet die Kirchenpolitik des Ministeriums. Sie gilt als belastet durch die Auseinandersetzungen mit den Altlutheranern und — gegen Ende der Amtszeit ALTENSTEINS — auch mit dem Katholizismus. Die Bildungspolitik ALTENSTEINS^ erscheint in mancher Hinsicht als historischer Ursprung der gegenwärtigen Kulturpolitik, als Beginn der kulturpolitischen Tradition der nachabsolutistischen Staaten. Ihre unstreitigen
1 Altenstein an Hardenberg, 26.12.1817. 2 Zur Amtsführung Altensteins siehe die — bereits älteren — Arbeiten von E. Müsebeck: Das preußische Kultusministerium vor hundert Jahren. Berlin 1918, und £. Kühl: Der erste preußische Kultusminister K. v. Altenstein. Diss. phil. Köln 1924.
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Erfolge lassen leicht vergessen, daß dieser „Kulturpolitik" das wichtigste Moment im Vergleich mit der neueren Kulturpolitik mangelt: der Kulturbegriff. Die Politik des Ministeriums versteht sich deshalb auch nicht als „Kultur"-Politik. Sie verwaltet ein Aggregat dreier Bereiche, deren dritter, die Medizinalpolitik, sich ohnehin wieder von den Bereichen „Bildung" und „Religion" getrennt hat und deshalb hier unberücksichtigt bleiben soll. Auch der Zusammenhang der Bereiche „Bildung" und „Religion" ist in der Gegenwart stark gelockert: Kirchenpolitische Fragen fallen nicht in die Kompetenz der Schul- bzw. Wissenschaftssenatoren. Hingegen ist ein anderer Bereich neben „Unterricht" bzw. „Wissenschaft" getreten: die „Kunst". Erst das Zusammentreten der Bereiche „Bildung" und „Kunst" definiert den Gegenstand der modernen Kulturpolitik. Die Rede von einer „preußischen Kulturpolitik" verdankt sich somit einer unzutreffenden Retrojektion gegenwärtiger Vorstellungen von Kulturpolitik. Es entsprang nicht nur einem Versehen oder einer Rücksichtnahme auf Kompetenzen oder Empfindlichkeiten anderer Minister, daß man 1817 dem Ministerium ALTENSTEINS die Sektion „Kunst, Museen" nicht angliederte. Denn eine solche Sektion gab es nicht, weil die Pflege und Förderung der Kunst noch nicht einen selbstverständlichen Aufgabenkreis des Staates als solchen bildeten. Dem Selbstverständnis des Staates zu Folge blieben sowohl die Förderung der Gegenwartskunst wie die Pflege der Kunst der Vergangenheit den gesellschaftlichen Kräften überlassen — in erster Linie dem Hof, d.h. den einzelnen Mitgliedern des Hofes. Während früher neben den Höfen vor allem die Kirche als Mäzen aufgetreten war, so fiel nun — nach der Säkularisation — diese Funktion dem aufstrebenden Bürgertum zu, und zwar sowohl begüterten Privatleuten als auch den bürgerlichen Kunstvereinen. So lange diese Unabhängigkeit der „Kunst" von der Aufgabenstellung des Staates als Staates andauerte, ist nicht im vollen Sinne von staatlicher Kulturpolitik zu sprechen. Das Nebeneinander von ersten Ansätzen zu einer „preußischen", d.h. staatlichen Kunstpolitik und dem Engagement kunstliebender Einzelpersonen oder gesellschaftlicher Vereinigungen ist das Signum der „Kunstpolitik" dieser Epoche.3 Es wäre inkonsequent, einerseits Hegels Rechtsphilosophie wegen der auch von ihr getroffenen Unterscheidung von „Staat" und „bürgerlicher Gesellschaft" herauszuheben und andererseits die kunstsoziologische Differenz zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten nicht zur Kenntnis zu nehmen. In den gesellschaftlichen Bereich aber fal^Den Epochenbegriff — an Stelle der Rede von einer „Übergangsphase" — nehme ich dankbar von Carl Dahlhaus und Stephan Waetzoldt auf.
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len auch die Entscheidungen des Hofes — so wahr der König zumindest dann nicht der Staat ist, wenn er als Privatmann handelt. Diese Differenz wird auch nicht aufgehoben durch einzelne Fälle, in denen Organe der Administration in Entscheidungs- und Ausführungsprozesse verwickelt waren, die „Kunst" zum Gegenstand hatten. Die Rückführung der von NAPOLEON geraubten Kunstschätze — so wichtig sie für das politische Bewußtsein gewesen ist — war ein Akt der Außenpolitik, und zudem ein singulärer. „Kunst" ist so lange kein Gegenstand der staatlichen Administration, als nicht entsprechende Instanzenzüge zur Behandlung kunstpolitischer Probleme etabliert sind, in denen sich das Bewußtsein der Verantwortlichkeit des Staates für diesen Bereich widerspiegelt. Derartige Instanzen beginnen sich erst in der zweiten Hälfte der Ära ALTENSTEIN herauszubilden. Die Verwaltung des Museums ist hierfür ein wichtiger Markstein. Zur endgültigen Verankerung kunstpolitischer Institutionen im Ministerium kommt es aber erst in den 1840er und 1850er Jahren — also erst nach der Ära ALTENSTEIN. Allein die unzureichende Kompetenztrennung zwischen Hof und staatlichen Instanzen im vorkonstitutionellen Staat erzeugt den Schein, als habe es während des Ministeriums ALTENSTEIN neben der Religions- und Bildungspolitik auch Kunstpolitik — und deshalb im vollen Sinn des Wortes „Kulturpolitik" gegeben. Trotz der Unschärfe in der Kompetenztrennung lassen sich die Trennungslinien zwischen den Aktivitäten des Staates und des Hofes klar erkennen — gerade auch an der Transaktion, die gemeinhin als einer der ersten Erfolge der „peußischen Kulturpolitik" gilt: an der Erwerbung der Sammlung SOLLY. ALTENSTEINS Ministerium war zwar in die Überlegungen und Verhandlungen eingeschaltet; die Abwicklung aber lag in den Händen einer Instanz, die von seinem Ministerium gänzlich unabhängig war: in den Händen des Leiters des Seeamts, Geheimrat ROTHER. Entscheidend aber ist ein anderes. Die Sammlung SOLLY wurde keineswegs — wie jüngst noch durch den Titel der Darstellung dieses Kaufs nahegelegt — durch den „preußischen Staat" erworben.^ Dessen Eigentum wurde diese Sammlung erst ein Jahrhundert später, in einer gänzlich anderen historisch-politischen Situation: in der Neukonstituierung Preußens im Rahmen der Weimarer Republik. Und es ist kein Zufall, daß erst in dieser späteren Situation, in der auch die Kunst der staatlichen Administration unterworfen wird, die Rede von „Kulturpolitik" politisches Gewicht gewinnt. Im
4 C. Lowenthal-Hensel: Die Erwerbung der Sammlung Sollt/ durch den preußischen Staat. Protokoll einer geheimen Transaktion. In: Neue Forschungen zur Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, 1 (1971).
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Berlin Hegels hingegen wurde die Sammlung SOLLY nicht vom Staat, sondern vom König erworben. Nachdem WITTGENSTEIN als Minister des Königlichen Hofes einen Vorschlag HARDENBERGS abgelehnt hatte, die erforderliche Summe aus dem „Kronfideikommiß" aufzubringen, empfahl der Staatskanzler in seinem entscheidenden Memorandum vom 31. Oktober 1821 dem König, den Betrag aus der „Chatull", also aus seinem privaten Vermögen aufzubringen. Dies betrifft nicht nur die Frage der Finanzierung, sondern auch des Eigentums. HARDENBERG hebt dem König gegenüber hervor, daß seinem Vorschlag zu Folge „Höchstdieselben das ganz freie Eigenthum der Sammlung zu Ihrer Disposition erwürben."® Dieses Eigentumsverhältnis wird auch in der Kabinettsordre vom 8. November 1821 betont: ROTHER wird ermächtigt, die Sammlung zum „Privat Eigentum" des Königs zu erwerben.® Auch der Bereich des Theaters ist damals geprägt durch die Nichtexistenz einer staatlichen Kunstpolitik. Das Berlin Hegels kennt einerseits die Kgl. Oper und das Kgl. Schauspielhaus, andererseits das Königsstädtische Theater. Weder jene noch dieses sind „Staatstheater" oder gar „kommunale Einrichtungen". Deshalb wird das Königsstädtische Theater in einer spezifisch bürgerlichen Form betrieben: in Form einer Aktiengesellschaft. Ähnlich war auch die Singakademie eine Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft — sogar ihr Haus Unter den Linden war auf privater Basis finanziert worden. (2) Die Kompetenz des Staates zur Administration des Bildungs- und Religionsbereichs hingegen war bereits traditionell. Sie stützte sich auf die Schulpolitik des absolutistischen Preußen unter FRIEDRICH II. bzw. auf die staatskirchenrechtlichen Entscheidungen in der Folge der Reformation und des Westfälischen Friedens. Das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten hatte diese Kompetenz in Teil II, Titel 11 und 12, erneut bekräftigt. Zwar unterschied sich die Bildungs- und Religionspolitik des Ministeriums ALTENSTEIN von dem im Landrecht kodifizierten Denken in mehrfasA.a.0.138. ^A.a.O. 140. — Zumindest zwei der führenden Gestalten der restaurativen Hofpartei — Wittgenstein und Ancillon — waren mit dem Ankauf der Sammlung keineswegs einverstanden. Aufschlußreich für die damalige Diskussion um eine „preußische Kulturpolitik" ist ein — von C. Lowenthal-Hensel mitgeteilter — Brief Ancillons an Wittgenstein; „Der preußische Staat ist nicht zu einer zweckmäßigen Bühne für die höhere Kunst geeignet. Dazu sind der einzelnen sehr Vermögenden zu wenig. Der König und die Prinzen sind allein im Stande, die höhere Kunst arbeiten zu lassen. Das reicht nicht hin. Auch bilden wir Künstler, die nicht nach Preußen zurückkehren können noch wollen. Sie bleiben in Rom und arbeiten für Fremde. Die höheren Gewerbe haben Muster- und Belehrungsmittel genug in der jetzigen Sammlung, die immer nur sehr mittelbar auf die Tischler, Schlosser, Tapetenmacher einwirken kann. Für alle diese Leute ist das richtige Zeichnen die Hauptsache" (141).
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eher Hinsicht — vor allem durch den ,Geist" des neuen Staatsverständnisses, durch die Abkehr vom perfekt organisierten Staatsmechanismus des aufgeklärten Absolutismus, in Folge der Veränderungen, die sich seit der Jahrhundertwende angedeutet und insbesondere in der Reformzeit ein neues Staatsverständnis politisch zur Geltung gebracht hatten. Gleichwohl war die Rechtskontinuität mit den landrechtlichen Bestimmungen ungebrochen, und nicht nur sie. Denn die romantische Polemik gegen den Maschinenstaat der Aufklärung — selbst nur die Umwertung eines extremen Selbstverständnisses der Aufklärung — konnte in Preußen nie ganz vergessen machen, daß der derart kritisierte Staat der Staat FRIEDRICHS DES GROSSEN war, und daß es die Kodifikation der bildungs- und religionspolitischen Konzeption dieses geschmähten Staates war, die die Rechts-Grundlage auch der neuen Politik bildete. Schließlich war auch der sogenannte Maschinenstaat des aufgeklärten Absolutismus ja keineswegs indifferent gegenüber den Bildungs- und Religionsfragen gewesen, ebensowenig wie er von einer Autonomie des Bildungs- und Religionsbereichs ausgegangen war. Und auch abgesehen von dieser speziellen Problematik der partiellen Kontinuität der friderizianischen Schul- und Religionspolitik ließ sich noch in einem weiteren, für das Selbstverständnis und insbesondere für die „Kulturpolitik" des neuen Staates wichtigen Aspekt an das — wirkliche oder vermeintliche — Selbstverständnis des absolutistischen Preußen anknüpfen. Vornehmlich für den Staat FRIEDRICHS DES GROSSEN galt, was für Preußen überhaupt zutraf: Der Staat war ein künstlicher Staat; er beruhte allein auf dem staatsschaffenden Willen der Intelligenz seiner Führung. Dieses Selbstbewußtsein des preußischen Staates zu Beginn des 19. Jahrhunderts mag im wesentlichen eine Retrojektion des Ideals der Reformzeit in den Staat des Absolutismus bilden — eines Ideals, das treffend in dem Wort FRIEDRICH WILHELMS III, gefaßt ist, Preußen müsse an geistiger Kraft ersetzen, was es an physischer Stärke verloren habe.^ Doch ist diese Deutung einerseits nicht ganz unberechtigt, und andererseits — auch unabhängig von ihrer Richtigkeit als historischer Beschreibung — selbst eine politische Kraft. Der Wirkung dieser Deutung kam ferner entgegen, daß sie erlaubte, historische Stadien zu unterscheiden. So erschien die Wiedergeburt des Staates nach den Befreiungskriegen als Ergebnis der Intelligenz, und zwar nicht mehr, wie der Staat FRIEDRICHS, als Resultat der staatsbildenden Intelligenz und des Willens eines Einzelnen, sondern als Frucht der geistigen und religiösen Erneuerung des Staates als ganzen. 'Überliefert ist dieses Wort durch Schmalz; vgl. M. Lenz: Geschichte der Königlichen Friedrich Wilhelms-Universität zu Berlin. Bd 1. Halle a.d. Saale 1910, 78.
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Damit aber war implizit die ,Staatsgestaltungsmacht"« eben der beiden Bereiche anerkannt, deren weitere Pflege und Förderung ALTENSTEIN anvertraut war. (3) Das gewandelte Bewußtsein des Staates bedingte aber — trotz der Rechtskontinuität des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten — eine Wandlung des Urteils über die Stellung von Bildung und Religiosität im Staate. Die Sorge für sie bildete für das Staatsverständnis der Reformzeit nicht mehr die Aufgabe eines auch ohne die genannten Bereiche fest in sich gegründeten Staates, die sich etwa aus der Pflichtenlehre, aus der Sorgepflicht des Monarchen um die allgemeine Wohlfahrt und ,Glückseeligkeit"9 der Untertanen ableiten ließ, als etwas vom Staate selbst Unterschiedenes, zu seiner »Staatlichkeit' nachträglich Hinzukommendes, ihr nicht ursprünglich Angehöriges. Einer solchen Ansicht zu Folge hat der Staat nur ein äußerliches, instrumenteiles Verhältnis zu Bildung und Religion: Er fördert sie, wie er sich für das physische Wohlergehen seiner Untertanen verpflichtet weiß. Dem neuen Staatsverständnis hingegen gehören Bildung und Religion zum Staate als konstituierende Momente seiner selbst. Sogar die militärische Macht des Staates war — wie die Befreiungskriege gezeigt hatten — nicht unabhängig von der staatsgestaltenden Macht des Geistigen und der religiösen Erneuerung. Die Sorge des Staates um Religion und Bildung erschien deshalb als Sorge nicht um andere, sondern um sich selbst, um sein eigenes Fundament. Daraus erklärt sich auch der — vom heutigen Standpunkt aus betrachtet — eingeschränkte Kulturbegriff dieser »Kulturpolitik": Ihr Gegenstand waren eben diese beiden Bereiche, die sich als konstitutiv für die Staatlichkeit des wiedergeborenen Staates erwiesen hatten, und nicht die »Kultur" als Inbegriff geistiger Produktion überhaupt. Auf Grund dieser Einsicht in das Verhältnis von Bildung und Religion zum Staat blieb die Politik auch nicht stehen bei dem noch äußerlichen Verhältnis von Staat und Kultur in der Form eines »Staatsdienstes an der Kultur" in Gestalt von Schutz, Pflege, Vermittlung und Förderung von Bildung und Religion, die selbst aber einem ursprünglich anderen, selbständigen Bereich zugerechnet werden. In einem solchen Verhältnis würde »Kultur" nicht als konstitutives Moment des Staates ge^ dacht. Mit dem Bewußtsein der »Staatsgestaltungsmacht der Kultur" aber. »Hier und im folgenden werden die Begriffe »Staatsdienst an der Kultur", »Kulturgestaltungsmacht des Staates", »Staatsgestaltvingsmacht der Kultur" und »Staat als Kulturgebilde' aufgenommen von E.R. Huber: Zur Problematik des KuUurstaales. Tübingen 1958. ’Z“ diesem Zug des Staatsgedankens des aufgeklärten Absolutismus siehe u.a. U. Scheuner: Der Beitrag der deutschen Hamantik zur politischen Theorie. In: Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, yorträge. G 248. Opladen 1980, 27 f.
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mit der Anerkennung des Staates als eines »Kulturgebildes", wie sie sich in der Rede ausdrückt, daß Preußen auf Intelligenz gebaut sei, verband sich auch umgekehrt das Selbstbewußtsein des Staates als einer „Kulturgestaltungsmacht". Der Rechtsgrund dafür war, daß die vermeintliche Unabhängigkeit des staatlichen und des kulturellen Bereichs gegeneinander aufgehoben schienen. Gleichwohl war damit keineswegs die Einsicht aufgegeben, daß es eine Aufgabe des Staates sei, eine weitgehende Unabhängigkeit der Bereiche „Bildung" und „Religion" gegenüber administrativen Maßnahmen zu wahren. Dies zeigte sich schon darin, daß ALTENSTEIN versuchte, die Bundestagsbeschlüsse zur unmittelbaren Intervention des Staates in den Universitätsbereich durch Ernennung eines Staatsbeauftragten möglichst gering zu halten, z.B. durch die spätere Identifizierung des akademischen Repräsentanten der Universität, des Rektors, mit dem Staatsbeauftragten — eine Form, die dem Buchstaben der Beschlüsse Genüge tat, ohne die Selbständigkeit der Universität zu beschneiden. Schon unmittelbar nach Bekanntwerden der Beschlüsse drückte er seine Hoffnung aus, daß es gelingen werde, den staatlichen Druck auf ein Maß zu beschränken, das eine gesteigerte Selbsfentfaltung der Universitäten erlaube.Doch vindizierte der Staat sich andererseits das Recht zur politischen Durchsetzung von Bildungskonzeptionen, auch zur Verwirklichung neuer kirchlicher Strukturen. Hierbei griff er zwar innerkirchliche Tendenzen auf, ergriff aber noch doch auch selbst die Initiative, etwa im Fall der Verwirklichung der Evangelischen Kirche der preußischen Union. Mit diesen Maßnahmen ging die neue Religions- und Bildungspolitik deutlich über die landrechtlichen Vorschriften hinaus, die sich eher mit der Kategorie des „Staatsdienstes" an Bildung und Religion fassen lassen.
Dieses Selbstverständnis des Staates, wie es in der Politik des Ministeriums zum Ausdruck kommt, wurde jedoch keineswegs allgemein als selbstverständlich zugestanden. Auf den geringsten Widerstand traf der staatliche Griff nach der Bildungskompetenz in den Bereichen des höheren Bildungswesens und der Universitäten. Am wenigsten wurde sie dort akzeptiert, wo sie heute am wenigsten umstritten ist: bei den „gemeinen Schulen", die heute als der vornehmste Bereich staatlicher Kulturhoheit gelten können. Die Diskussion um den auf SüVERNS Initiative zurückgehenden Entwurf zur Unterrichtsgesetzgebung (1817—1819) zeigte, daß der Anspruch des Staates auf „Kulturhoheit" auf den Anspruch der Kirchen In einem Gutachten schreibt Altenstein: „Alles was ich besorge ist einiger Druck; allein ist er nur nicht ganz vernichtend, so schadet er wohl nicht viel. Die Wissenschaft erträgt solchen und gedeihet oft unter demselben gleich der Palme.' Zitiert nach H. r. Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Teil 2. Leipzig 31886. 599.
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traf, die den Elementarunterricht als causa ecclesiastica betrachteten — insbesondere in den neugewonnenen katholischen Provinzen. Aber auch das Landrecht räumte den Geistlichen der privilegierten Konfessionen neben der „Obrigkeit" eine starke Stellung ein, vor allem in der Frage der Schulaufsicht (II, 12, §§ 12 ff). Dieser Kompetenzstreit trug nicht zur Minderung der gravierenden Probleme bei, die die Vereinheitlichung des Schulwesens in den preußischen Provinzen — von Litauen bis Trier — ohnehin aufwarfen. Selbst in einem kleineren Staat hätte allein eine gegenüber der Konfessionsspaltung indifferente staatliche Schulpolitik die erforderliche Einheitlichkeit des Bildungswesens herstellen können. So zeichnete sich schon bald nach ALTENSTEINS Amtsantritt ein Konflikt ab zwischen dem kirchlichen und dem staatlichen Anspruch auf das Bildungsmonopol und damit auf einen wesentlichen Bestandteil der „Kulturhoheit", der bereits hinlänglich Stoff für einen „Kulturkampf" enthielt. Daß der Staat damals auf gesetzliche Regelungen verzichtete und seinen Anspruch auf das Bildungsmonopol pragmatisch zur Geltung zu bringen suchte, ist nicht allein ein Ausdruck der Zurückhaltung, oder — negativ gewendet — der allzu großen Kompromißbereitschaft des verantwortlichen Ministers. Ein offener Konflikt mit der Kirche schien auch deshalb zu scheuen, weil der Kontrahent einflußreiche Fürsprecher in den Kreisen des Hofes und der Regierung hatte. Denn die konservativen und romantischen Kreise standen dem Staatsgedanken der Reformzeit, wie er Ausgangspunkt für die Politik des Staatskanzlers und ALTENSTEINS war, kritisch bis ablehnend gegenüber.ii Darin wird zugleich deutlich, daß diese Jahre nicht eine Zeit der großen Entwürfe, der Formulierung von kulturpolitischen, Programmen bildeten, sondern eine Zeit der Verwirklichung der vorhandenen Konzeptionen, gegebenenfalls einer modifizierten Verwirklichung, die den Kompromiß mit dem Kontrahenten suchen mußte. So wurde auch das Ministerium mehrfach in die Rolle der vermittelnden Instanz gedrängt — etwa der Vermittlung zwischen den Ansprüchen der Kirchen und den Vorstellungen der Oberpräsidenten, die keine Rücksicht auf die konservative Gesinnung des Hofes oder von Mitgliedern des Ministeriums zu nehmen brauchten. Auch innerhalb des Ministeriums wäre eine Politik, die die Interessen des Staates über die der Kirche gestellt hätte, auf Widerstand gestoßen, z.B. beim Leiter der Abteilung für Fragen der katholischen Kirche, Schmedding. Solche Kritik wurde lautstark vorgebracht z.B. von Th. v. Schön. Zu Schöns Kritik an Altenstein in diesen Fragen G, Krüger: ... gründeten auch unsere Freiheit. Spätaufklärung, Freimaurerei, preußisch-deutsche Reformen. Der Kampf Theodor von Schöns gegen die Reaktion. Hamburg 1978. u.a. 282,293. — Im Interesse seines „Helden" verzeichnet allerdings Krüger die damaligen Kräfteverhältnisse so sehr, daß er nur eine einzige Frontlinie kennt: auf der einen Seite steht Schön, alles andere ist „Reaktion".
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II. (1) In Anbetracht der skizzierten Situation ist es nicht unmittelbar einsichtig, in welcher Weise eine Philosophie Einfluß auf den Gang der politischen Ereignisse dieser Zeit nehmen konnte — zumal einen so herausragenden Einfluß, wie er sich in der Rede von Hegel als preußischem Staatsphilosophen niederschlägt. Zwischen den Extremen des platonischen Staats und der Politik der politischen Abstinenz bietet sich eine Vielzahl differenter Formen einer möglichen Einflußnahme der Philosophie auf die Politik an. Sie lassen sich nach drei Hauptgesichtspunkten unterscheiden. (a) Die Philosophie steht in einem Innenverhältnis zur Politik; sie ist in den Zusammenhang politischer Entscheidungen integriert, etwa durch den offiziellen Auftrag zur Abfassung von Denkschriften, durch Mitwirkung an der Formulierung von politischen Programmen und Gesetzen, Konstitutionen usw. Derartige offizielle politische Funktionen übernahm — neben Vertretern anderer Disziplinen —- in der Reformzeit FICHTE. Nach der programmatischen Phase der Reformzeit wurde dieser Weg der Mitgestaltung des politischen Lebens notwendig seltener begangen. Die Gutachten Hegels zur Frage des Philosophieunterrichts können schwerlich als Äquivalent zur politischen Praxis einiger Professoren in der Reformzeit gewertet werden. An Stelle der Mitgestaltung politischer Programme durch die Intelligenz kennt die Restaurationszeit ein anderes Modell; die intellektuelle Verbrämung und Propagierung der Politik des Staatskanzlers — ein Modell, das der Wiener Hof mit großem Geschick realisierte. Ein Gegenstück hierzu läßt sich in Berlin nicht finden. (b) Vergleichbare Funktionen einer politischen Willensbildung kann die Philosophie ebenso ausüben, wenn sie nicht institutionell im herrschenden System verankert ist. Sie kann sowohl schriftlich — in Form politischer Publizistik — als auch im mündlichen Vortrag erfolgen, und sie kann sich zu den Ereignissen und Tendenzen des politischen Lebens sowohl affirmativ als polemisch artikulieren. Die Kernfrage hierbei ^ wie auch schon bei der erstgenannten Form — ist, wieweit die Philosophie hier als solche auftritt oder es sich um beliebige Meinungsäußerungen handelt, die dagegen gleichgültig sind, daß sie zufällig von jemandem vertreten werden, der im bürgerlichen Leben Philosophieprofessor ist. Zweifellos hat Hegel in dieser Weise Einfluß auf das Geschehen seiner Zeit zu nehmen gesucht und auch genommen — seit seinen frühen, allerdings damals ungedruckten politischen Schriften. Aber auch die späteren, publizierten politischen Schriften
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— über die Württembergischen Landstände und die Reformbilb^ — können die politische Stellung der Hegelschen Philosophie in Preußen nicht erklären: die eine wegen ihrer auf Württemberg zugeschnittenen Thematik, die andere schon wegen ihres späten Erscheinens (1831). Ein wichtiges Moment für die politische Wirkung Hegels bilden zweifellos seine Berliner Vorlesungen. Ihr mehrfach ausgesprochenes Ziel der Vermittlung, ja der „Versöhnung" des Einzelnen und des Allgemeinen ist in der Rechtsphilosophie zugleich politisch artikuliert: Die Einheit des Allgemeinen und Einzelnen, der subjektiven und objektiven Freiheit erhält hier das Prädikat der „Vernünftigkeit" (§ 258). Gegen Ende der Berliner Jahre tritt für Hegel das Verhältnis von Bestehendem und Gesinnung in den Vordergrund, insbesondere mit Blick auf Frankreich, wo sich erweist, daß das Hauptproblem der Zeit nicht das Aufstellen von Konstitutionen ist, sondern der Ausgleich von Gesinnung und Konstitution.Es müßte verwundern, wenn solche Gedanken nicht eine kalmierende Wirkung gehabt hätten auf die zum Teil erregten Forderungen nach Einlösung des Verfassungsversprechens vom 22. Mai 1815 bzw. des Artikels 13 der Bundesakte. Hegels Vorlesungen werden ihn kaum jemals in den Verdacht gebracht haben, daß er — gleich LUDEN oder OKEN — zu den Anwälten der „demagogischen Intoleranz" und „Volksdümmlichkeit" zu zählen sei, die das bevorzugte Objekt der KAMPTzschen Demagogenverfolgung bildeten. So sehr aber Hegels Wirkung auf die Jugend jener Jahre von offizieller Seite geschätzt wurde, so kann doch auch dies die politische Stellung der Hegelschen Philosophie nicht hinreichend erklären. Den Rang eines „Staatsphilosophen" erlangt man nicht schon, indem man dazu beiträgt, aufmüpfige Studenten zu domestizieren — zumal die Berliner Studentenschaft ohnehin nicht eben im Ruf besonderer Radikalität stand. (c) Neben den beiden genannten Formen der unmittelbaren politischen Aktivität steht als ein drittes eine vermittelte, indirekte Form politischer Einflußnahme: sofern die systemimmanente Darlegung philosophischer Positionen zur Leitlinie politischen Handelns geeignet erscheint und aktiviert wird. Diese Form der Wirkung ist dadurch ausgezeichnet, daß sie notwendig die Wirkung einer bestimmten Philosophie ist, und nicht nur die eines Philosophen, der im gegebenen Fall vielleicht nur als scharfsinniger Analytiker oder geschickter Polemiker agiert. Es ist insbesondere diese Zur Reformbillschrift sowie zum Gegensatz von Gesinnung und Konstitution siehe
W.
Jaeschke: Hegel's Last Year in Berlin. In: Hegels Philosoph)/ of Action: Individual, Culture and Society. Proceedings of the joint Conference of The Hegel Society of America and The Hegel Society of Great Britain. Oxford 1981. New York 1983. Siehe Anmerkung 13.
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dritte Form der politischen Wirkung, die Hegels Philosophie nachgesagt wird und die sich auch nachweisen läßt — allerdings nur mit einem differenzierteren Verfahren, als es zumeist angewendet wird. So sah TREITSCHKE einen Einfluß der Philosophie Hegels auf die Kirchenpolitik ALTENSTEINS auch noch über Hegels Tod hinaus. ALTENSTEIN gilt ihm als »gelehriger Schüler" Hegels.Gestützt auf Hegels Lehre, daß das Reich der Kirche, der Vorstellungen, sich dem R^ich des Begriffs unterordnen müsse, habe der verantwortliche Minister permanent versucht, das Leben der Kirche zu meistern.Diese Deutung schreibt Hegel eine geistige Vaterschaft zu sowohl am Kölner Kirchenstreit als auch an derl Aueinandersetzungen mit den Altlutheranerti — als ob es nicht gerade SCHLEIERMACHER gewesen wäre, der die scharfe Entgegnung an AMMON verfaßt hätte. Hingegen ist über Hegels Stellung zur preußischen Union nichts bekannt, als daß er SCHLEIERMACHERS Glaubenslehre nicht zur Dogmatik der Union erhoben wünschte.17 Hegels Betonung des Luthertums in der Auseinandersetzung mit dem Katholizismus kann weder als Stellung für noch gegen das Unionsprojekt gewertet werden; als Stellungnahme gegen die Union wäre sie auch ihrem Adressaten gegenüber, dem Minister, ein seltener Fall taktischer Ungeschicklichkeit. Daß Hegel in den innerprotestantischen Differenzen keinen wichtigen Punkt sieht, wird vor allem deutlich aus der Rede zur 300 Jahr-Feier der Confessio Augustana, die — außerordentlich geschickt — den Streitpunkt Zwischen Lutheranern und Reformierten gar nicht berührt und lediglich die Übergabe der Confessio als Manifestation protestantischer Gesinnung deutet. Damit ist weder gegen die Union noch gegen die Altlutheraner Stellung bezogen. Unhaltbar ist TREITSCHKES Ansicht, daß Hegels Überordnung des »denkenden Staates' über die in der »Welt der Einbildungskraft" befangene Kirche »unwidersprechlich die Notwendigkeit des Cäsaropapismus" erweise.Die Hierarchie der Formen des subjektiven und des absoluten Geistes ist nieht bestimmend für das Verhältnis von Religion und Staat. Deshalb räumt die Rechtsphilosophie Hegels auch nirgends das Recht zur Neuordnung der Kirchenorganisation oder zur Liturgiereform ein. Hegels Lösung hält sich in diesen Fragen weit hinter dem damals geltenden Staatskirchenrecht zurück.^’ Dieses Arguisf/.p. Treitschke, Bd 3. 717 (s.o. Anm. 10). 1‘A.a.O. Bd 2. 332. Hegel; Brief an Hinrichs, 4.4.1822. In: Bri^e. Bd 2. 303 f. Treitschke, Bd 3. 717 (s.o. Anm. 10). 1’ Siehe W. jaeschke: Staat aus christlichem Prinzip und christlicher Staat. Zur Ambivalenz der Berufung auf das Christentum in der Rechtsphilosophie Hegels und der Restauration. In; Der Staat. 18 (1979), 353 ff.
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ment kann sicherlich nicht ausschließen, daß ALTENSTEIN — in einem ähnlichen Mißverständnis wie später TREITSCHKE und viele andere befangen — gleichwohl seine Eingriffe in das innere Leben der Gemeinden als eine verfehlte kirchenpolitische Aktualisierung Hegelscher Philosopheme verstanden hätte. Doch ist es ausgesprochen naiv, ein derartiges Lehrer-SchülerVerhältnis anzunehmen, als habe der Minister seine Handlungsanweisungen entweder von Hegel persönlich oder aus seinen Werken eingeholt — als ob nicht die Politik, gerade auch die Kirchenpolitik dieser Jahre einerseits durch das geltende Recht, andererseits durch Initiativen des Königs wie auch kirchlicher Kreise und zum dritten durch das Kräfteverhältnis restaurativer und — im Sinne des werdenden Beamtenstaats — „liberaler" Tendenzen innerhalb der Regierung und des Ministeriums gestaltet worden wäre.20 Analoges gilt für andere Bereiche. Einzelne Entscheidungen auf dem Gebiet der Bildungs- und Religionspolitik lassen sich aus Hegels Philosophie ebensowenig deduzieren wie KRUGS Schreibfeder —zumal sie sich mit dieser Methode auch nicht politisch verantworten lassen. Ungeachtet der öffentlichen Wirkung der Hegelschen Vorlesungen lassen sich keine Anzeichen dafür finden, daß Hegels Philosophie eine unmittelbare Wirkung auf staatliche Entscheidungen ausgeübt habe — abgesehen von Personalentscheidungen im Universitätsbereich. Wenn es dennoch wahr bleibt, daß wesentliche Anstöße für die Konzeption und Durchführung einer Vielzahl bildungspolitischer Initiativen vom „Kupfergraben" in Berlin ausgegangen sind, so allein in dem Sinne, daß Hegels Nachbar am Kupfergraben JOHANNES SCHULZE war — einer der verantwortlichen Gestalter der Unterrichtspolitik. (2) Von einem Einfluß der Hegelschen Philosophie auf die „Gesinnung" kann aber — neben der genannten Funktion der Versöhnung des Einzelnen mit dem Allgemeinen des Staates — noch in einer zweiten Weise die Rede sein. KOSELLECK merkt an, daß Hegels Philosophie auf das Selbstverständnis der Beamtenschaft gewirkt habe. Dies gilt zweifellos nicht in dem Sinne, daß seine Rechtsphilosophie neben der Allgemeinen Verwaltungslehre die Pflicht und auch noch die Kürlektüre eines jeden höheren Beamten gewesen sei. Doch habe Hegels Philosophie ein „staatsständisches Selbstbewußtsein" erzeugt, auf Grund dessen die Beamtenschaft — wenn überhaupt irgend eine gesellschaftliche Gruppierung — im Stande gewe-
2“ Allerdings trifft es zu, daß Altenstein sich mitunter in universitätspolitischen Querelen Hegelscher Argumente bedient; siehe K.R. Meist: AUenstein und Gans. Eine frühe politische Option für Hegels Rechtsphilosophie. In: Hegel-Studien. 14 (1979), 62 ff.
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sen sei, zwischen altständischen und liberalen Interessen zu vermitteln.21 Diese Beobachtung berüht den Nerv der politischen Einflußnahme Hegels. Eine derartige Wirkung — wenn man sie einmal unterstellt — bleibt zweifellos nicht auf den Sektor der Bildungs- und Kirchenpolitik beschränkt. Sie entspricht der Konzeption der Ständelehre der Rechtsphilosophie, die gerade darin von anderen damaligen Entwürfen abweicht, daß sie die Beamtenschaft als ,^llgemeinen Stand" faßt. Wenn „Staat" und „bürgerliche Gesellschaft" unterschieden werden und die Beamten einen eigenen Stand bilden, so fällt notwendig ihnen — und nicht den ackerbauenden und gewerbetreibenden Ständen — die Funktion zu, den Staat in die bürgerliche Gesellschaft hineinzutragen und die Gegensätze der bürgerlichen Gesellschaft vermitteln zu helfen. Gleichwohl ist so nur ein Folgeaspekt der politischen Potenz der Rechtsphilosophie namhaft gemacht. Hegels Begriff des Staates als der Wirklichkeit des substantiellen Willens, als des an und für sich Vernünftigen (§ 258), seine Rechtfertigung des Staates aus der Idee, bieten eine begriffliche Grundlage für die Entfaltung der Politik des preußischen Staates nach den Befreiungskriegen. Unter diesen Gesichtspunkt fallen alle die Momente, die man unter MEINECKES Begriff der Hegelschen Einheit von Vernunftstaat und Staatsräson stellen kann.22 Dieser Begriff legitimiert den Staat — und zwar nicht einen bestimmten Staat, sondern den Staat überhaupt — aus der Vernunft; andererseits legitimiert er nicht nur den im aufklärerischen Sinne vernunftrechtlich konzipierten Staat, ungeachtet der historisch-individuellen Staaten, sondern den jeweils einzelnen Staat. Er gibt damit den Rahmen vor, innerhalb dessen die Organe eines Staates in ihren unterschiedlichen Funktionen erst tätig werden können. Denn er versteht den Staat als lebendige Totalität; dies impliziert, daß der Staat auch die höchste Entscheidungskompetenz besitzt. Dieser Begriff des Staates kann seine politische Relevanz aus der Allgemeinheit zu gewinnen scheinen, die er dem Staat gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft und dem Einzelnen bzw. der Familie zuspricht. Trotz 21 R. Koselleck: Preußen zwischen Reform und Restauration. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. Stuttgart 21975. 409 f. — Das in der Diskussion von Gerhard Göhler angeschnittene Problem, wo sich denn — jenseits solcher Konvergenzen — eine derartige Einflußnahme Hegels auf das staatsständische Selbstbewußtsein der Beamtenschaft historisch nachweisen lasse, kann hier nicht beantwortet werden. Man hat Anlaß zur Vermutung, daß eine solche Wirkung nicht allein auf Grund des gewählten Themas hier nicht nachgewiesen wird, sondern grundsätzlich unerweislich bleibt — unerweislich sogar für irgendeinen beliebigen Einzelfall. 22 p. Meinecke: Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte. Hrsg, von W. Hofer. München 1963. 409 ff.
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dieser umfassenden Legitimation des Staates ist die Geltung des Hegelschen Begriffs erheblichen Einschränkungen unterworfen — nicht nur solchen, die sich daraus herleiten, daß dessen Annahme die Annahme des Systems voraussetzt. Es sind vielmehr politische Bedenken, die es verhindert haben, daß Hegels Konzeption allgemein akzeptiert wurde. Die Einschränkungen sind aber auch nicht von der Art, wie sie in TREITSCHKES Formel erscheinen, erst Hegel habe „die Energie des deutschen Staatsgedankens wissenschaftlich gerechtfertigt."^^ Diese Formel geht von der unzutreffenden Voraussetzung aus, es gebe so etwas wie einen deutschen Staatsgedanken, und nicht vielmehr nur eine Fülle von Konzeptionen, deren mehrere sich das Adjektiv „deutsch" zulegen. Das einzige Charakteristikum einer deutschen Sonderentwicklung ist die staatsrechtliche Verankerung des monarchisch-konstitutionellen Prinzips, im Unterschied zur parlamentarischen Monarchie. Eine Rechtfertigung dieses Prinzips läßt sich in der Rechtsphilosophie zwar nicht explizit nachweisen, weil die Unterscheidung beider Formen erst später von STAHL durchgeführt worden isL^“* doch entspricht Hegels Konzeption sicherlich eher diesem „monarchischen Prinzip" als dem „parlamentarischen". Seine Forderung nach konstitutioneller Monarchie eilt seiner Gegenwart nur einen Schritt, nicht zwei Schritte voraus. Auch dieser eine Schritt hat indessen dazu beigetragen, daß seine Konzeption in den Kreisen der politisch Verantwortlichen mehr auf Widerstand als auf Zustimmung gestoßen ist. Daß aber auch die spätere verfassungsrechtliche Entwickung des monarchischen Konstitutionalismus sich weder aus Hegelschen Quellen speiste noch durch sie legitimierte, kann als eine späte Bestätigung dafür angesehen werden, daß die entscheidenden Widerstände gegen Hegels Konzeption weniger in seiner Betonung des Konstitutionellen lagen als in anderen Gesichtspunkten — eben im Staatsbegriff überhaupt. Wichtiger als eine Globalidentifikation des Hegelschen Staatsbegriffs mit dem „deutschen" ist es, den historischen Stellenwert des Hegelschen in den damaligen Auseinandersetzungen zu bestimmen. Auch im Preußen seiner Zeit hat Hegels Staatsbegriff nur eine sehr sporadische Wirkung gezeitigt: Sie bleibt im wesentlichen auf seine Schule beschränkt. Der Grund hierfür mutet paradox an. Gerade weil Hegels Begriff des Staates so allgemein ist, ist er nicht allgemein akzeptiert worden. Er konnte weder die Zustimmung 23 H. V. Treitschke. Bd 3. 718 (s.o. Anm. 10). 2“' Zum Begriff des „monarchischen Prinzips' siehe u.a. O. Hintze: Das monarchische Prinzip und die konstiiuHonelle Verfassung, ln O. Hintze: Staat und Verfassung. Hrsg, von G. Oestreich. Bd 1. Göttingen 1962; £. Kaufmann: Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips. Leipzig 1906.
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derer finden, die weiterhin „Staat" und „bürgerliche Gesellschaft" identifizierten,25 noch die Zustimmung derer, die eine andere, spezifische Begründung des Staates sowohl für erforderlich als auch für politisch gegeben hielten. Deshalb ist Hegels allgemeiner Begriff des Staates als des Allgemeinen in der damaligen Diskussion selbst nur ein besonderer. Gerade die „Energie" des Hegelschen Begriffs ist es, die die heftigen Kontroversen auslöst.26 Die Restaurationspartei hat zu Recht gesehen, daß Hegels Begründung des Staates der offiziellen Lesart zuwider lief. Doch ist damit nicht gesagt, daß sie auch mit Recht gegen ihn opponiert hat — bis hin zur publizistischen Anklage des Hochverrats. (3) Hegels Begriff des Staates als der Wirklichkeit des substantiellen Willens scheint nicht die Bildungs- und Religionspolitik insbesondere zu stützen, sondern allein nach Maßgabe seiner Auswirkungen auf das politische Gesamtverständnis des Staates. Gleichwohl ist er von besonderem Interesse für die „Kulturpolitik". Denn aus dem Begriff des Staates als des substantiellen Willens läßt sich die Bestimmung der Souveränität ableiten. Dieser Zusammenhang ist leider in der Rechtsphilosophie dadurch verdunkelt, daß Hegel die Souveränität erst im Abschnitt über die fürstliche Gewalt abhandelt — durchaus in Übereinstimmung mit der damals noch nicht vollzogenen Unterscheidung zwischen Souveränität des Fürsten und Souveränität des Staates.22 Diese Unklarheit zeigt sich auch darin, daß die im Abschnitt über die fürstliche Gewalt abgeleitete Souveränität eben die des Staates sein soll (§ 278). Die dort explizierte „Souveränität nach innen" bzw. „nach außen" ist aber grundlegend für die gesamte Lehre vom Staat. Dies zeigt bereits deren Gliederung in inneres und äußeres Staatsrecht. Da das äußere Staatsrecht aber an die Bestimmung der äußeren Souveränität angeschlossen werden muß, ist es auch verfehlt, diese erst unter dem Titel „inneres Staatsrecht" zu exponieren. Die äußere, völkerrechtliche Souveränität Preußens stand in diesen Jahren freilich nicht zur Diskussion — abgesehen allenfalls von dem frommen Selbstbetrug der Ideologie der Hl. Allianz und den Illusionen der sich hierauf berufenden Kamarilla. Auch die innere Souveränität des Staates stand nicht zur Diskussion, sofern aus ihr z.B. das Recht der Steuererhebung abgeleitet werden sollte. In zwei Bereichen allerdings war die staatsrechtliche Souveränität noch nicht unumstritten: in der Kompetenz zur
25 So noch ].L Klüber: öffentliches Recht des teutschen Bundes. 51840. 25 Die unmittelbare Applikation des Hegelschen Staatsbegriffs in der Schule muß hier außer acht bleiben. Siehe aber K.R. Meist: Altenstein und Gans (a.a.O.; s.o. Anm. 20). 22 So H. Quaritsch: Staat und Souveränität. Frankfurt am Main 1970. 487 ff.
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allgemeinen Gesetzgebung, zur Weiterentwickung des Rechts, und in der Kompetenz zur Bildungspolitik überhaupt. Der Zusammenhang zwischen der Idee des Staates, der staatsrechtlichen Souveränität und der Bildungspolitik wird deutlicher, wenn man von der anderen, in der Rechtsphilosophie an den Anfang gestellten Definition ausgeht, daß der Staat die Wirklichkeit der sittlichen Idee sei (§ 257). Im Begriff der „Sittlichkeit" ist die Totalität der Lebensverhältnisse eines Volkes gedacht, die auch das Recht und die Moralität einschließt — aber z.B. auch die Bildung und die Religion, sofern diese in die objektive Form einer Kirche tritt und mit ihren Lehren in das Gebiet der Sittlichkeit eingreift. Allein demjenigen Staat, der mit dem Anspruch auf treten kann, die Totalität der Sittlichkeit zu sein, kommt auch die volle innere Souveränität zu. Die Auseinandersetzungen um die „Kulturpolitik" im Preußen der Restaurationszeit sind deshalb Auseinandersetzungen um den Anspruch des Staates, sittlicher Staat zu sein, und deshalb zugleich Auseinandersetzungen um die staatsrechtliche Souveränität. Sie betreffen sowohl die Kirchen- und Bildungspolitik als auch die Rechtspolitik, von der hier aber abs ^rahiert werden muß. Die Kirchen sind in dieser Auseinandersetzung der Kontrahent des Staates, und zwar zunächst deshalb, weil sie überkommene Kompetenzen in der Bildungspolitik gegen den neu erhobenen Anspruch des Staates verteidigen; später wird die Auseinandersetzung um die bekannten weiteren Probleme der Mischehen usw. geführt. In allen diesen Auseinandersetzungen geht es aber um den Anspruch des Staates, die wahrhafte Form der Sittlichkeit zu bilden — oder in Hegels Worten; die Wirklichkeit der sittlichen Idee. Nicht zufällig steht der Streit um die Schulgesetzgebung noch am Anfang des BiSMARCKschen Kulturkampfes. Die Durchsetzung der staatlichen Schulaufsicht und der Zivilehe bildet die Erfüllung auch der bildungs- und religionspolitischen Intentionen des Ministeriums ALTENSTEIN. Hegels Philosophie bildet die Rechtfertigung der politischen Maßnahmen zur Durchsetzung des staatlichen Anspruchs, die wahrhafte Form der Sittlichkeit zu sein — eines Anspruchs, der, ohne selbst areligiös oder gar atheistisch motiviert zu sein, gegen die Kirchen durchgesetzt werden mußte. Gegen diese Deutung ist nicht einzuwenden, daß § 552 der Enzyklopädie dieser Politik die Legitimation wieder entziehe, indem dort die Religion als Substanz der Sittlichkeit bestimmt werde. Allerdings findet Hegel dort eine Lösung und auch Formulierungen, die die Schärfe des Konflikts zu mindern geeignet sind.^® TREITSCHKES Annahme eines ZusammenSiehe W. ]aeschke: Staat aus christlichem Prinzip und christlicher Staat, 356 ff (s.o.Anm.l9).
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hangs der Kirchenpolitik mit Hegels Bestimmung des Verhältnisses der Religion und des Staates geht deshalb nicht völlig fehl. Nur hat dieser Zusammenhang weder mit einem kleinlichen Hineinregieren in das Gemeindeleben noch mit Cäsaropapismus zu tun. Der Anspruch des Staates auf Anerkennung als eines sittlichen rechtfertigt nicht ein Eingreifen in das innere Leben der Gemeinden. Solche Eingriffe werden deshalb auch nicht durch die Rechtsphilosophie gerechtfertigt. Die Kompetenz zu ihnen erwächst dem Staat vielmehr aus älteren, allerdings nicht unangefochtenen staatskirchenrechtlichen Grundsätzen. Deshalb können auch die Auseinandersetzungen mit den Altlutheranern nicht problemlos unter den Titel „Anerkennung der Sittlichkeit des Staates" gestellt werden, wie die späteren Auseinandersetzungen mit dem Katholizismus. Grundlegend für die Beurteilung des Zusammenwirkens von Politik und Philosophie im Kampf um die Anerkennung der Sittlichkeit des Staates ist die Einsicht, daß es sich hierbei keineswegs um einen gewissermaßen privaten Vorgang handelt, der durch Deduktionen der Hegelschen Rechtsphilosophie ausgelöst und durch ALTENSTEIN zum Politikum erhoben worden ist. Seine Wurzeln liegen in der Verabschiedung des aufklärerischen Staatsgedankens um die Jahrhundertwende. So lange der Staat sich als Anstalt zum Schutz der Sicherheit und des materiellen Wohlergehens seiner Untertanen versteht, bleibt der Kirche ein wesentlicher Teil des Bereiches der Sittlichkeit überlassen. Ihr fallen dann entscheidende Kompetenzen zu: von der Bildung über die Eheschließung bis zum Begräbnis. Erst die Kritik am aufklärerischen Staatsbegriff in Verbindung mit dem sozialen Wandel zu Beginn des 19. Jahrhunderts führt zur Neukonzeption des Staates, die sich zunächst im Staatskonzept der Reformzeit niederschlägt.Hegels Philosophie formuliert erst diesen, im Prozeß der Neukonzeption des Staatsbegriffs teils impliziten, teils bereits expliziten Konfliktstoff. Sie antwortet damit auf die politischen Tendenzen ihrer Zeit; sie eilt der Wirklichkeit also nicht so weit hinterher, daß die von ihr ins Bewußtsein gehobenen Prozesse selbst schon historisch geworden wären und die Philosophie zu ihrer Behandlung nichts mehr beitragen könnte. (4) Der Begriff des sittlichen Staates ist von entscheidendem Gewicht nicht allein für die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat um das Staatsverständnis des 19. Jahrhunderts. Er ist grundlegend auch für den Begriff des Staats als eines „Kulturstaats", d.h. für die Anerkennung der Kulturgestaltungsfunktion des Staates in dem umfassenden Sinn, der auch Soweit ich sehe, ist der sozialgeschichtliche Hintergrund dieses neuen Staatsgedankens bisher nicht umfassend erhellt worden.
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die Anerkennung staatlicher Kompetenzen für den Bereich der Kunst einschließt. Diese Funktion ist allerdings von Hegels Rechtsphilosophie ebensowenig entwickelt worden, wie in der damaligen Politik ein Anspruch des Staates auf diesen Bereich der sittlichen Totalität erhoben worden ist. Man darf annehmen, daß eine politische Auseinandersetzung um diese Frage auch deren nähere Erörterung durch die Rechtsphilosophie bewirkt hätte. So aber begnügt sich Hegel mit dem bloßen Hinweis, daß „in einer vollständig konkreten Abhandlung vom Staate" auch das Verhältnis von Staat und Kunst thematisch zu sein hätte (§ 270). Daß ein solches, sehr enges Verhältnis besteht, war in der Jenaer Phase der Systementwicklung noch evident: Kunst, Religion und Wissenschaft bildeten den abschließenden Bereich der Sittlichkeit. Aber auch die spätere systematische Ablösung der Formen des „absoluten Geistes" vom „objektiven Geist" durchtrennt diesen Zusammenhang von „Sittlichkeit" und „Kunst" nicht gänzlich. Der absolute Geist ist nur Resultat der Erhebung des denkenden Geistes der Sittlichkeit über seine Partikularität — die Reflexion-in-sich des sittlichen Geistes. Dieses Sichwissen des absoluten Geistes geht — systematisch wie historisch — hervor aus der Objektivität, die der „Geist" auf der höchsten Stufe der Sittlichkeit erlangt hat, wenn auch die systematische Darlegung noch die „Weltgeschichte" als zusätzliche vermittelnde Instanz einschiebt. Damit aber ist der Staat, die Wirklichkeit der sittlichen Idee, auch als Boden von Kunst, Religion und Wissenschaft bestimmt. Hegels Konzeption unterstreicht somit den Begriff des Staates nicht nur gegen seine Herabsetzung zur bloßen Schutzinstanz bürgerlicher Interessen und auch nicht nur in Form der Anerkennung des Staates als eines sittlichen; sie bildet eben damit auch eine Grundlage für die Anerkennung des Staates als eines „Kulturstaates". Im Begriff des sittlichen ist der des Kulturstaates analytisch enthalten; das Moment der „Kultur" muß nicht erst als etwas Zusätzliches hinzugedacht werden.Damit soll allerdings der Machtstaatscharakter des Hegelschen Staates nicht im mindesten bestritten sein. „Kulturstaat" und „Machtstaat" sind keine anschließenden Begriffe; der bloße „Kulturstaat", der nicht zugleich „Machtstaat" wäre, ist ein Phantom. Der Begriff des Staates als der Wirklichkeit der sittlichen Idee impliziert unmittelbar die Formen der Kunst, Religion und Wissenschaft. Diese sind ^“E.R. Huber betont deshalb zu Recht: "Der Kulturstaat ist die Selbstdarstellung der Kultur als Staat. Diese Bedeutung von Kulturstaat drückt sich ethisch in der Hegelschen Formel aus, der Staat sei ,die Wirklichkeit der sittlichen Idee'.' — Diese Behauptung gewinnt noch an Plausibilität, wenn man Hegels Begriff der Sittlichkeit nicht, wie Huber, primär ethisch versteht.
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nichts, was unterhalb des Staates läge und deshalb dem Einzelnen oder den Interessengegensätzen der bürgerlichen Gesellschaft überlassen bleiben dürfte. Sie gehören zum Begriff des Staates selbst. Die geschichtsphilosophischen Vorlesungen Hegels erklären sich hierüber deutlicher als die Rechtsphilosophie. „Kunst und Wissenschaft sind die ideellen Weisen, in denen der Geist eines Volkes sich seiner bewußt wird; und das Höchste, was ein Staat erreichen kann, ist, daß in ihm die Kunst und Wissenschaft ausgebildet sind, eine Höhe erreichen, die dem Geiste des Volkes entsprechend ist. Das ist der höchste Zweck des Staates, den er aber nicht als ein Werk hervorzubringen suchen muß; sondern er muß sich aus sich selbst erzeugen."3i Damit ist die Einheit, allerdings auch die Differenz des Staates gegenüber Kunst, Religion und Wissenschaft ausgedrückt. Daß sie der „Zweck" des Staates sind, kann nicht heißen, daß er äußerlich auf ihre Hervorbringung gerichtet sein dürfte. Sie sind sein innerer Zweck, in dessen Verwirklichung er sich vollendet. Sie gehören zum Staat, aber gehen doch auch über ihn hinaus, sofern sie eben Formen des absoluten Geistes sind. Der Staat kann sicherlich nicht einen neuen Kult verordnen, und sei es der Kult der Göttin Vernunft. Ebensowenig kann der Staat den Künsten vorschreiben, welche Themen sie zu behandeln haben, und auch nicht der Philosophie, welche Gedanken sie zu denken habe. Gleichwohl wird durch diese Einschränkungen nicht bestritten, daß erst der Staat der Boden ist, aus dem diese Formen des absoluten Geistes hervorgehen. Die Kulturgestaltungsmacht des Staates ist deshalb nicht eine Angelegenheit von administrativen Maßnahmen. Sie liegt vielmehr darin, daß der Staat die sittliche Substanz selbst ist. Keine nähere Auskunft gibt Hegels Philosophie zu den sich hier anschließenden diffizilen Problemen, in welcher Weise der Staat dieser Beziehung etwa zur Kunst gerecht werden und somit zu seiner eigenen Vollendung beitragen könne. Dies ist aber nicht allein dem Umstand zuzuschreiben, daß das Verhältnis von Staat und Kunst damals noch nicht politisch aktuell war. Hier zeigt sich vielmehr die — notwendige — Begrenzung der Philosophie. So hat Hegel das Verhältnis von Religion und Staat mehrfach ausführlich erörtert. Doch auch hier gibt er keinerlei Handlungsanweisungen für die Administration — nicht einmal eine Stellungnahme zu dem allgemein bewegenden staatskirchenrechtlichen Grundproblem, ob der Staat nicht nur die positive, sondern die höhere Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Hrsg, von G. Lassen. Hamburg 21923. 628.
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Berechtigung habe, in das Verhältnis zweier Konfessionen einzugreifen. Daß seine Philosophie sich diese Zurückhaltung auferlegt, wird man nur begrüßen können. Doch zu einem anderen Problem von prinzipieller Wichtigkeit wären einige zusätzliche Ausführungen erwünscht gewesen. Kunst, Religion und Wissenschaft sollen die Formen bilden, in denen sich der Staat vollendet. Von dieser Bestimmung her läge es nahe, im Begriff des Kulturstaates die höchste Bestimmung des Staates zu sehen. Andererseits verdanken sich die genannten Formen erst der Erhebung über den Staat, über die Beschränktheit des Volksgeistes. Die Kultur ist deshalb auch nicht „nationale" Kultur — schon gar nicht im Sinne der damaligen deutschen Einzelstaaten, aber auch nicht im Sinne des späteren Nationalgedankens. Kann sich aber der Einzelstaat vollenden in einer Form, die ihm nicht spezifisch ist? Eine Vollendung des Staates in dem so definierten Bereich der „Kultur" wäre unmittelbar einsichtig, wenn „Kultur" selbst ein politischer Begriff wäre, und zwar im Sinne eines politisch verstandenen Nationalgedankens, wie er im 19. Jahrhundert wenig später Geltung erlangte. Für Hegel aber gehört die moderne Kultur der „germanischen Welt" überhaupt an, d.h. dem gesamten nachantiken Europa. Doch sollte man diese Eigentümlichkeit, daß der Staat sich in etwas vollenden solle, was ihm selbst nicht zur Disposition steht und was ihn auch gar nicht von anderen Staaten unterscheidet, nicht als Einwand gegen Hegels Staatsbegriff formulieren. Sie kann auch als ein Hinweis darauf gelesen werden, daß die notwendige Selbstabschließung der Staaten in der Verfolgung ihres besonderen Wohls und deren bekannte Konsequenzen für das äußere Staatsrecht nicht ein Letztes ist. Denn eben das besondere Wohl transzendiert dann die Besonderheit des Staates. Wenn Kunst, Religion und Wissenschaft der innere Zweck der Staaten sind, und wenn sie andererseits keine nationalen Eigentümlichkeiten sind, so liegt auch das besondere Wohl der besonderen Staaten in der Allgemeinheit des Geistes.
KURT RAINER MEIST (BOCHUM)
ZUR ROLLE DER GESCHICHTE IN HEGELS SYSTEM DER PHILOSOPHIE
Wenn K. LOWITH den Historismus, wie er aus Hegels Metaphysik der Geschichte entsprungen sei, als die „letzte Religion der Gebildeten" im 19. Jahrhundert charakterisierte, dann bezog diese Diagnose sich auf eine Verfallsform desjenigen geschichtlichen Bewußtseins, dessen Grundzüge aus der reifen Gestaltung des Hegelschen Systems hervorgetreten waren.^ In seinen großen Berlirier Vorlesungen über die Kunst, Religion und Philosophie suchte Hegel zu zeigen, daß diese drei Gestaltungen des Geistes und konstitutiven Momente in der Totalität des sittlichen Lebens jeweils für sich selbst einer geschichtlichen Entwicklung unterworfen sind, deren Endschaft in der Moderne erreicht ist, so daß jetzt durch den Vollzug ihrer philosophischen Resumtion das Wesentliche dieser geschichtlichen Erscheinungen, ihr Charakter als höchste Prinzipien des geistigen Seins, zugleich als bleibender Besitz des modernen Denkens begriffen zu werden vermag. He'gel zufolge bedeutet aber eine solche Endschaft keineswegs, daß die (in Hegels Philosophie eingeleitete) Selbstvergewisserung des Geistes in der Moderne jene Gestaltungen als lediglich überwundene oder überholte Vorstufen gleichsam von sich abstößt, um jenseits dieser Bestimmungen und „Geschichten" sich losgelöst zu entfalten. Vielmehr gelangen Kunst, Religion und Philosophie, indem sie durch ihre geschichtliche Entwicklung für die Reflexion ihr Wesen entfalten, zur Vollendung ihres „Begriffs" und gewinnen durch die kritische Reflexion allererst ihre eigentliche Bestimmtheit, vermöge welcher — wie Hegels Konstruktion in der Enzyklopädie zeigt — sie in der „absoluten" Selbstvergewisserung des Geistes sich zum „Schluß" des Systems der Philosophie (dem „Begriffe" nach) zusammenfügen. Eben diese systematische Vollendung der theoretischen Reflexion, welche die Endschaft des geschichtlichen Lebens im „objektiven" und „absoluten" Geist voraussetzt, läßt aber die vormals leitende Forderung einer Deutung und praktischen Verwandlung des (künftigen) 1K. Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts. Marx und Kierkegaard. Zürich ^1953. 75
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geschichtlichen Lebens durch den nunmehr im „Begriff" erreichten theoretischen Standpunkt erneut und in gesteigerter Form in Kraft treten. Diejenigen, welche sich als Schüler und Freunde unmittelbar oder vermittelt auf Hegels Lehre beriefen, konnten nicht übersehen, daß die von Hegel bereits geleistete theoretische Durchdringung des (vergangenen) geschichtlichen Seins nicht schon mit dessen praktischer Bewältigung zusammenfiel. Im vorliegenden Zusammenhang muß die Untersuchung der vielschichtigen Problematik, welche Hegels (historische und systematische) Aufarbeitung und Deutung der Kunst, Religion und Philosophie kennzeichnet, ebenso wie die überaus schwierige Analyse der logischen Strukturen zurückgestellt werden, die der enzyklopädischen Konzeption des „absoluten Geistes" zugrundeliegen und ihrerseits in einem komplexen Verhältnis zu der jeweiligen objektiven geschichtlichen Entwickunggestalt der betreffenden Momente des Geistes stehen.^ Dagegen gilt es darauf zu achten, daß die von Hegel unternommene systematische Resumtion jener drei „Geschichten" (Kunst, Religion, Philosophie) im „Begriff" des „absoluten Geistes" als dem höchsten Punkt der iheoretischen Reflexion statt einer Entlastung des geschichtlichen Bewußtseins von der immanenten Spannung zwischen Theorie und Praxis, Idee und historischer Wirklichket, in Wahrheit eine Steigerung und Verdichtung desselben hervorgebracht hat, die bei Hegels Schülern die eigene historisch-politische Situation zunächst als einen neuen Ausgangspunkt einer höheren Stufe der Geschichte des Geistes erscheinen ließ, in der jener „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit", welchen Hegel als den eigentlichen Endzweck der Weltgeschichte aufgezeigt hatte, nunmehr seine praktische Verwirklichung finden sollte. Wie sich exemplarisch in der Diskussion der Schüler dartun läßt, zeigten die nach Hegels Tod entstandenen Auseinandersetzungen um die gültige Deutung des aktuellen geschichtlichen Prozesses, dessen theoretische Resumtion in Hegels System bereits vorlag, eher ein gegenteiliges Bild dessen, was LöWITH als die historistische Resignation der „Gebildeten" und politisch Enttäuschten kennzeichnet. Diese in der Forschung weithin in Vergessenheit geratenen Bemühungen, deren Ziel in der Aufhebung der Entgegensetzung zwischen dem geschichtlichen Leben und philosophischer Theorie lag, konzentrierten sich — angestoßen von aktuellen kulturpolitischen Konflikten wie z.B. dem Streit um D. FR. STRAUSS' Leben Jesu — in der (kontroversen) Auslegung des 2 Vgl. die einschlägigen Untersuchungen bei H.F. Fulda: Das Problem der Einleilung in Hegels Wissenschaft der Logik. Frankfurt/Main 1975. 203 ff; sowie M. Theunissen: Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Taktat. Berlin 1970.
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systematischen Verhältnisses zwischen dem »objektiven" und dem /»absoluten Geist", dessen Grundriß Hegel selbst in der Enzyklopädie geliefert hatte. Doch ergab sich hier für Hegels Interpreten der überaus schwierige Befund, daß Hegels Darstellung zwar eine Reihe von Anweisungen zur Lösung der hier entspringenden Fragen enthält, während deren konkrete Beantwortung aber — im Sinne einer praktischen Methodenlehre — nicht den Gegenstand der hier allein entwickelten Theorie des Geistes bildet und deshalb außerhalb des vorgezeichneten systematischen Rahmens durch eine selbständige philosophische Weiterentwicklung zu suchen war. Das keineswegs selbstverständliche Interesse der Zeitgenossen-Hegels an dieser durchaus abstrakt-philosophischen Fragestellung verdankt sich allerdings dem Umstand, daß mit Hegels Auftreten in Berlin bzw. der von ihm vollzogenen Auseinandersetzung mit den im Staat, in der Kunst oder auch der Religion freigewordenen geschichtlichen Kräften sich in Hegels Philosophie eben jene gültige Form des modernen gesellschaftlichen und geistigen Lebens abzuzeichnen schien, die nach dem Zusammenbruch der alteuropäischen Ordnung im Ausgang des 18. Jahrhunderts unwiederbringlich verloren gegangen war und nun aus der unmittelbaren Konfrontation mit der realen geschichtlichen Entwicklung neu gewonnen werden mußte. In dieser Situation verwies aber Hegels Lehre von der geschichtlichen Vollendung des Geistes in der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Moderne ihre Anhänger gleichermaßen auf die unvermeidliche Frage nach der praktisch-politischen Durchsetzung jener Endschaft, wie sie zuvor die Erhebung des natürlichen, in seiner geschichtlichen Situation befangenen Bewußtseins zu einer von der spekulativen Vernunft geleiteten theoretischen Durchdringung der Geschichte gefordert hatte. In der Tat läßt Hegel — folgt man der Darstellung der Enzyklopädie — bei der Erörterung von Kunst, Religion und Philosophie als den »Prinzipien' des »absoluten Geistes" keinen Zweifel daran aufkommen, daß das durch diese konstituierte „Wissen der absoluten Idee" notwendig seine geschichtliche Realisierung verlangt. Dies besagt, daß die Realität des »absoluten Geistes' die (welt)geschichtliche Entwicklung des Bewußtseins zur existierenden Freiheit objektiv voraussetzt, d.h. die Freiheit »zur Wirklichkeit einer Welt gestaltet, erhält die Form von Notwendigkeit, deren substantieller Zusammenhang das System der Freiheitsbestimmungen" ist (Enz. § 484). Erst die vollendete Einbildung des Geistes in die objektive geschichtliche Wirklichkeit erbringt die Bedingungen für die Existenz des »absoluten Geistes: »daß die an sich freie Intelligenz in ihrer Wirklichkeit zu ihrem Begriff befreit sei, um die dessen würdige Gestalt zu sein. Der subjektive und der objektive Geist sind als
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der Weg anzusehen, auf welchem sich diese Seite der Realität oder der Existenz ausbildet" (Enz. § 553). Das so gekennzeichnete wechselseitige Verwiesensein des „objektiven" und „absoluten Geistes" läßt jedoch im Kreuzungspunkt des Bedingungsgefüges die Geschichte selbst als die zentrale systematische Kategorie hervortreten. Wenn Hegel die aus der logischen Idee entwickelte Organisation des Staates als den Endzweck der (objektiven) Weltgeschichte definiert, dann zeigt sich inmitten der — nach Hegel in der Moderne erreichten — Erfüllung dieses Zieles, daß die „Prinzipien" des „absoluten Geistes" hier als die konstitutiven Momente eines höheren Endzweckes eine neuerliche Wendung des geschichtlichen Prozesses verlangen. Dies bedeutet, daß die geforderte (praktische) Einbildung jener „Prinzipien" in die durch den Staat realisierte und garantierte „sittliche Idee", die nach Hegel in der Vollendungsgestalt der Weltgeschichte nichts anderes als die „selbstbewußte Freiheit zur Natur geworden" ist (Enz. § 513), eine Aufstufung der (künftigen) Realisierung des Geistes induziert, die den geschichtlichen Prozeß über seine objektive Endgestalt hinausweist und nicht mehr die vergangene, sondern die künftige Geschichte als die fortgehende Verwirklichung und Entfaltung des im neuzeitlichen Staat gegründeten sittlichen Lebens vorstellig werden läßt. Das eigentümliche Pathos dieser von Hegels Geschichtsphilosophie evozierten und dem Historismus späterer Jahre geradezu entgegengesetzten neuen Erfahrungen und Ergreifung der Geschichte als eigentliches Medium des Geistes hat E. GANS im Vorwort seiner Ausgabe der Hegelschen Grundlinien (1833) formuliert, wenn er dort darauf verweist, daß Hegels Einsicht zufolge das Naturrecht in seiner systematischen wie historischen Entwicklung zwar in der (von Hegel erbrachten) Darstellung des modernen Staates gipfelt und durch dessen Realisierung die Freiheit zur objektiv vorhandenen Wirklichkeit sich ausgestaltet, während der geschichtliche Prozeß jedoch in dieser Endgestalt keineswegs gleichsam „aufhört": „Von der Höhe des Staates aus sieht man die einzelnen Staaten als ebenso viele Flüsse sich in das Weltmeer der Geschichte stürzen, und der kurze Abriß der Entwicklung derselben ist nur die Ahnung der wichtigeren Interessen, die diesem Boden anheimfallen."^ Unzweifelhaft ist diese „Ahnung" nicht der Vergangenheit zugewandt, als deren bloße unrevidierbare Erbschaft das historistische Bewußtsein die eigene Gegenwart und Zeitgenossenschaft zu verwalten vermochte. Wie zum Abschluß der Untersuchung an einem Beispiel gezeigt werden soll, begriffen Hegels Schüler das zuvor ^Eduard Gans: Vorwort zur 2. Ausgabe der Rechtsphilosophie (1833). In: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Bd 1. Hrsg, von M. Riedel. Frankfurt 1975, 242—249, hier 244.
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skizzierte Spannungsverhältnis zwischen der ineinander verschränkten Geschichtlichkeit des ^^bjektiven" und des ^^bsoluten Geistes" vielmehr als Ansatzpunkt eines gänzlich anderen Geschichtsverständnisses, das die aktuellen politischen Probleme mit den in Hegels Philosophie gewiesenen Mitteln zu lösen suchte. So galt das Interesse der Schüler Hegels der Frage, ob der (nach Hegel) in und durch den Staat entfalteten modernen »Sittlichkeit" auch die „Prinzipien" des „absoluten Geistes" sowie deren Realisierung in der objektiven geschichtlichen Welt sich in letzter Instanz subordinieren, wie dies in Hegels frühesten systematischen Entwürfen einer Philosophie der „absoluten Sittlichkeit" zunächst konzipiert war, die Hegel in Orientierung an dem geschichtlichen Ideal der attischen Polis noch am Anfang seiner Jenaer Zeit ausgebildet hatte. Dergestalt kehrt — wie im folgenden am Leitfaden des Verhältnisses von Theorie und Praxis gezeigt werden soll — in der problematischen Beziehung des „objektiven" und „absoluten Geistes", wie sie in Hegels reifer Berliner Systemkonzeption sich darstellt, in Wahrheit ein dilemmatischer Gedankengang wieder, der die Entwicklungsgeschichte des Hegelschen Denkens seit den frühen Systementwürfen bewegt und begleitet hat, um schließlich in der Komplexität der vollständig entwickelten Geschichtsphilosphie eine letzte Antwort zu finden. Die Konzeption des Verhältnisses von Theorie und Praxis, die bei Hegel sowohl die innere Architektonik des Systems wie auch die spezielle Natur und Aufgabe der Philosphie im Ganzen umfaßt, ist im Laufe der Hegelschen Wirkungsgeschichte zu einem bedeutsamen Ansatzpunkt grundsätzlicher Kritik geworden, deren Argumentation sich freilich in der Regel auf Mißverständnisse und Vorurteile gründet. Der geläufige Widerspruch hat seine Pointe keineswegs in dem Einwand, daß Hegels Theorie des absoluten Geistes zugleich und in erster Linie die Abkehr von der realen geschichtlichen Welt zugunsten der Entwicklung des „reinen" Gedankens in der logischen Abfolge der Begriffe vollziehe und dergestalt das eigentümliche Recht und die Ansprüche der Praxis gegenüber der Theorie aufhebe. Vielmehr gilt die Kritik der vermeintlichen Umkehrung in Hegels Entwurf, derzufolge die Theorie als absolute Erkenntnis des Seins im Ganzen sich in Wahrheit in die Botmäßigkeit der faktischen Geschichte begebe, um der Überzeugungskraft der empirischen Realität den noch fehlenden Charakter des Vernünftigen zu verleihen und ihre Rechtfertigung aus dem „Begriff" zu vollziehen. Die so unternommene Rechtfertigung der Objektivität aber könne der spekulative Idealismus Hegels nur- dadurch leisten, daß er die Genealogie der empirischen Realität — in Verkehrung der ontologischen Grundlegung — aus Ideen aufzuzeigen suche.
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Demgegenüber soll im folgenden zunächst durch eine entwicklungsgeschichtliche Betrachtung die tatsächliche Struktur jener Problematik bei Hegel herausgestellt und gezeigt werden, daß Hegels Ansatz von vornherein eine nur äußerlich bleibende Harmonisierung des Verhältnisses von Theorie und Praxis überbietet. Genauer heißt dies: Hegel legt seinem Entwurf einen Begriff der »Identität" zugrunde, der aus der frühesten Gestalt des Systems hervorgeht und in dessen logisch-metaphysischer Konzeption begründet ist.^ Wenn Hegel die Enzyklopädie (3. Aufl.) mit einem Zitat aus der Metaphysik des ARISTOTELES beschließt, das von dem Sichselbstdenken des göttlichen Nous (als reine Theorie) handelt und die reine Theoria als letzte Intention der Philosophie nachdrücklich auszeichnet, so bekundet er damit unzweideutig, daß für ihn die Natur der Philosophie den Grundcharakter theoretischer Erkenntnis niemals abzustoßen vermag und darin die Aufhebung ihrer dichotomischen Unterteilung findet {Enz. § 577). Aber eben dieser Form absoluter Erkenntnis hat Hegel zugleich die Fähigkeit zugeschrieben, den praktischen Übergang in das konkrete Wissen und Tun der Menschen zu vollziehen. Seine erste Vorlesung in Jena (1801/02) kündigt Hegel mit der Bemerkung an, daß sie „über das praktische Interesse der Philosophie, als Einleitung in dieselbe"® handeln werde, und macht dergestalt kenntlich, daß er das Erkennen selbst als Teil des universalen Lebensvollzuges begreift, in dessen Identität die Differenz von Theorie und Praxis aufgehoben ist. Mit dem bekannten und geläufigen Wort aus den Grundlinien der Philosophie des Rechts, daß die Philosophie in dem, was sie erkennt, »ihre Zeit in Gedanken erfaßt" (16) sei, hat Hegel wie kaum ein anderer Philosoph die Anstrengung systematischen Denkens konsequent der Epoche dessen geschichtlichen Auftretens überliefert. Wie kaum ein anderes aber ist dieses Diktum gerade von den entschiedenen Gegnern Hegels beim Wort genommen und dergestalt der kritischen Reflexion zugleich wieder entzogen worden, indem die zeitgenössische und nachkommende Kritik dieses scheinbar leichtfertig beschworene geschichtliche Verhaftetsein der Theorie zu deren eigentlichem criterium veritatis steigerte, um es in dem Maße als unwiderleglichen Einwand zu gebrauchen, wie die Kritik in Gegensatz zur politisch-historischen Epoche der Hegelschen Philosophie geriet. Entgegen der trivialisierenden Reduktion der Hegelschen Formel auf die zwanghafte Nachweisung einsinniger Kausalverhältnisse seitens der Hi< Vgl. Theunissen: Hegels Lehre, 387 ff. 5Fotografie einer »Ankündigung von Gratis-Vorlesungen ..." — In; G. Biedermann: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Köln 1981. 51
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storie hat Hegel selbst allerdings eine nähere Aufklärung seiner Konzeption einer geschichtlichen Existenz des Geistes zu geben gesucht: „Das Verhältnis der politischen Geschichte, Staatsverfassungen, Kunst, Religion zur Philosophie ist deswegen nicht dieses, daß sie die Ursachen der Philosophie wären oder umgekehrt diese der Grund von jenen; sondern sie haben vielmehr alle zusammen eine und dieselbe gemeinschaftliche Wurzel — den Geist der Zeit." (Vorl. ü.d. Gesch. der Phil. Bd XIII. 69). Hegels Rekurs auf den „Geist der Zeit" als diejenige Instanz, welche die geistige Signatur einer Epoche ausprägt, wird gründlich verkannt, wenn man die Philosophie neben Kunst und Religion als ideologisches Ferment eines politisch-gesellschaftlichen Milieus bzw. als dessen höchste Selbstrechtfertigung auffaßt. Dies gilt zumal für Hegels politische Philosophie im engeren Sinne, deren Interpretation infolge des speziell an sie geknüpften Interesses und dessen Bindung an die historisch-politischen Umstände die Tendenz zur Verselbständigung gegenüber den übrigen Sachgebieten innerhalb des Systems (Kunst, Religion) eignet, so daß die sich abgrenzende Untersuchung eben dieses Problemfeldes schließlich nur einen verkürzten Begriff dessen behandelt, was Hegel seit Beginn seiner philosophischen Entwicklung in Jena als umfassende Philosophie der Sittlichkeit entwickelt hat. Wenn Hegel scheinbar unmißverständlich erklärt, die Philosophie sei „ganz identisch ... mit ihrer Zeit", stehe mithin „nicht über ihrer Zeit", sondern gehe „im Wissen des Substantiellen ihrer Zeit" auf (ebd.), so bedeutet diese mehrfache Identifikation gerade nicht, daß der Zweck der philosophischen „Theoria" darin bestehe, die Zuständlichkeit des konkreten Lebens schlicht wiederzuspiegeln. Indem die Philosophie nach Hegel aus dem „Geist der Zeit" hervorgeht, kommt ihr in Wahrheit allererst ihr „bestimmter weltlicher Inhalt" zu (ebd.), von dem ein Bewußtsein dieser realen Welt überhaupt ausgebildet werden kann; und auf dieses konkrete weltliche Wesen des geschichtlichen Seins bleibt die Philosophie verwiesen. Diese Verschränkung des philosophischen Bewußtseins mit der Wirklichkeit bildet jedoch für Hegel zugleich den Grund der Entgegensetzung von historischer Faktizität und philosophischer Theorie, insofern die Natur der Reflexion bzw. die durch sie gestiftete Einheit des Denkens mit seinem „Inhalt" dem trivialen Zusammenfallen oder der stillschweigenden Übereinkunft mit dem „Geist der Zeit" prinzipiell zuwiderläuft. Denn der reflexive Unterschied von Subjekt und Objekt bewirkt, daß die Philosophie „als Wissen auch darüber [seil, den Inhalt] hinaus [ist] ... ihn sich gegenüber" stellt (ebd.). Durch die erst im Wissen gesetzte Differenz (von Subjekt und Objekt) wird die anfänglich gleichsam naturwüchsig vorhandene Identität der Philosophie mit dem Zeitgeist wieder
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aufgehoben bzw. als Bezug zwischen zwei Entgegengesetzen gesetzt (für das philosohische Bewußtsein), doch geschieht dies nicht um den Preis, daß die Philosophie sich der Realität des historischen Daseins entzieht. Indem nämlich die „Formalität des Unterschiedes" (gemäß der Reflexionsstruktur) zugleich die eigentümliche Existenzform des Geistes ausmacht, hat das philosophische Bewußtsein seinen Ort keinesfalls jenseits der empirischen Geschichte, der es vielmehr angehört als das die historische Zuständlichkeit stets (zur Vergangenheit und Zukunft hin) übergreifende Moment des geschichtlichen Übergehens.® Von einem solchen Übergang glaubt Hegel sagen zu dürfen, daß er mit Notwendigkeit durch und im Bewußtsein vollzogen wird, weil dieses im Ausgriff über die empirische Realität dem nachfolgenden Handeln allererst den noch unbetretenen Raum seiner künftigen Entfaltung eröffnet. „Dieses Wissen ist es dann, was eine neue Form der Entwicklung hervorbringt, die neuen Formen sind nur Weisen des Wissens" {Gesch. d. Phil. Bd XIII. 69 f). Diese selbst vollzogene Einweisung der Philosophie in die geschichtliche Welt, wobei dem philosophischen Bewußtsein offenkundig auch eine zukunftserschließende Rolle zuerkannt wird, scheint allerdings mit einer anderen, ungleich bekannteren, Hegelschen Formulierung der selben Problematik in Widerspruch zu stehen. Nur wenige Jahre nach Aufnahme seiner Berliner Lehrtätigkeit erklärt Hegel in der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts, daß bezüglich des „Belehrens", „wie die Welt sein soll", die Philosophie „ohnehin ... immer zu spät" komme und darum der Eule der Minvera gleiche, die „mit einbrechender Dämmerung ihren Flug" beginnt {Grundlinien. 17). Bereits die Mit- und erst recht die Nachwelt hat diese „Dämmerung" als den Zeitgeist der politischen Restauration identifiziert und in jenen Worten die von Hegel vollzogene Beugung der philosophischen Theorie vor der empirischen Realität von Macht und Gewalt zu erkennen vermeint. So erschien es den Gegnern Hegels nur folgerichtig, daß die in den Grundlinien überdies geschichtsphilosophisch untermauerte Anweisung zur philosophischen Resumtion der politischen Wirklichkeit im „Begriff" des Staates, wie er nach Hegel in der Gegenwart in seine weltgeschichtliche Existenz getreten sei, das System dieser Phi-
* Die Struktur eines solchen Fortschritts durch die Selbsterfassung des Geistes formuliert Hegel in den Grundlinien (§ 343) wie folgt: „Dies Erfassen ist sein Sein und Prinzip, und die Vollendung eines Erfassens ist zugleich seine Entäußerung und sein Übergang. Der, formell ausgedrückt, von neuem dies Erfassen erfassende, und was dasselbe ist, aus der Entäußerung in sich gehende Geist, ist der Geist der höheren Stufe gegen sich, wie er in jenem ersten Erfassen stand."
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losophie als die „wissenschaftliche Behausung des Geistes der preußischen Restauration“ vorstellig werden ließ7 Diese suggestive und geläufig gewordene Polemik, welche den Typus der Gegnerschaft gegen Hegel bis in die Gegenwart prägt, verfehlt jedoch in mehrfacher Hinsicht die eigentliche Pointe der soeben zitierten Hegelschen Bestimmung des Verhältnisses der Philosophie zum geschichtlichen Leben. Denn ersichtlich legt Hegels Konzeption die Aufgabe der — zum historischen Geschehen hinzutretenden — Philosophie keineswegs dahin fest, dem bereits ohne ihr Zutun vorhandenen „Geist der Zeit" die noch fehlende systematische Vollendung und damit die notwendige begriffliche Rechtfertigung seiner bloßen Faktizität zu verschaffen. Indem Hegel gerade in Aufnahme der traditionellen Dichotomie die philosophische „Theoria" genauestens von der geschichtlichen Tathandlung unterscheidet, löst er in einem ersten Reflexionsschritt das Bewußtsein des Geistes in Wahrheit aus der naiven Verhaftung in dem kausalen Wirkungszusammenhang historischer Begebenheiten und hebt so — entgegen dem von seinen Kritikern formulierten Vorwurf — die Botmäßigkeit gegenüber dem kollektiven Zeitgeist gerade auf. Doch geschieht diese Emanzipation der Theorie — wie Hegels Ausführungen in der Geschichte der Philosophie lehren — nicht zu dem Zweck, die Philosophie an die von NIETZSCHE verhöhnte „Hinterwelt" zu verweisen. Vielmehr wird sie (als Subjekt der Reflexion auf ihre Genese) im gleichen Zuge gerade auf die geschichtliche Wirklichkeit und deren faktisches Bewußtsein von sich als den ihr vorgegebenen Gegenstand der Vernunfterkenntnis bezogen; und mit eben dieser Wendung, welche Hegel dem Problem der Differenz von Theorie und Praxis abgewinnt, gewinnt er zugleich den systematischen Standpunkt für das philosophische Bewußtsein. Denn nun vermag die Philosophie dem „Geist der Zeit" als dem „Anderen ihrer selbst" in seinen verschiedenen Erscheinungsformen (z.B. Kunst und Religion) gegenüberzutreten, um ihn derart als vorgeblich letzte (ideologische) Instanz kollektiver Selbstverständigung schließlich aufzuheben. Die so vollzogene Überwindung bedeutet allerdings nicht, daß die Philosophie den von ihr resümierten und in seiner Struktur analytisch reflektierten Zeitgeist gleichsam verdrängt, um in gleicher Funktion an seine Stelle zu treten. Hegels Rede von der Erfassung der Zeit durch den (bloßen) Gedanken versteht sich vielmehr nur als ein „Ergründen des Vernünftigen" und so als ^Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen", das der „Geist der Zeit" als Teil dieser reflektierten Wirklichkeit selbst nicht zu erbringen vermag {Grundlinien. 17). Dies besagt, daß 7
Rudolf Haym: Hegel und seine Zeit. Berlin 1857. 359.
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die geforderte Erhebung der Realität in den „Gedanken" im selben Schritt eine Verwandlung und kritische Reduktion des Ganzen des tatsächlichen empirischen Lebens auf das allein „Wirkliche" (für das Bewußtsein) vollzieht, welches von der Vernunft über die bloße Existenz hinaus als ein geschichtlich und „logisch" Notwendiges überhaupt begründet werden kann. Daß diese Reduktion auf das wahrhaft existierende „Vernünftige" nicht die schlichte und durchaus triviale Rechtfertigung des tatsächlichen Geschehens bedeute, hat Hegel bekanntlich — nach der heftigen Kritik an seinen einschlägigen Äußerungen in den Grundlinien — in einem Zusatz zu § 6 der Enzyklopädie richtigzustellen gesucht, indem er dort auf den in der Wissenschaft der Logik aufgestellten Begriff der „Wirklichkeit" rekurriert. Hegel zeigt an, daß seine Rede in dem metaphysischen Grundkonzept des Systems selbst begründet ist. Hier führt er die Begriffe „Vernunft" und „Wirklichkeit" als äquivalente Wechselbegriffe für das Sein im Ganzen ein, die es dem Erkennen gestatten, eine kritische Unterscheidung am geschichtlichen Geschehen selbst anzubringen, welche das „Zufällige" vom „Notwendigen" abhebt: „das Zufällige ist eine Existenz, die keinen größeren Wert als den eines Möglichen hat, die so gut nicht sein kann, als sie ist" (Enz. 38). Gerade darin erweist sich aber, daß Hegels Philosophie mitnichten das bloß Faktische in Kraft zu setzen beansprucht. Allein die Vernunft, so lautet vielmehr Hegels Überzeugung, vermag im Unterschied zur durchschnittlichen „geistigen" Selbstverständigung einer Epoche jenen dauernden Grundzug in der geschichtlichen Welt aufzuzeigen, dessen Existenz nicht bloß (faktisches) Ergebnis der Vergangenheit ist, sondern die zugleich auch Gegenwart und Zukunft schlechthin „notwendig" begründende Wirklichkeit darstellt. Hegels Rede, daß der Philosophie die „Übereinstimmung mit der Wirklichkeit und Erfahrung notwendig" und sie selbst als die „Versöhnung der selbstbewußten Vernunft mit der seienden Vernunft" auszulegen sei (ebd.), versteht sich demzufolge als Konsequenz des Systems der Wissenschaft: die Philosophie hat die geschichtliche Welt und die Fülle der in ihr vorhandenen Begebenheiten nicht einfach hinzunehmen, sondern (im Sinne des seit PLATON und ARISTOTELES gültigen Seinsbegriffs) auf jenes „Wirklichsein" zu befragen, dem die Vernunft den (metaphysischen) Charakter der Notwendigkeit und Dauer entgegen aller Relativität zuzuerkennen vermag. So liegt Hegels Gedanken und Konzeption des geschichtlichen Seins in Wahrheit eine ontologische Dichotomie zugrunde, deren Vermittlung tatsächlich für Hegel nicht ohne weiteres durch eine einheitliche „Erfahrung" des „Seins" zu leisten ist, sondern das Denken an die Entwicklung des logischen Begriffs selbst verweist. Ent-
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gegen dem Anschein resignativer Entsagung vor dem praktischen Eingriff in die Totalität des geschichtlichen Lebens sucht Hegel zu zeigen, wie die Philosophie — trotz ihrer scheinbar aporetischen Abgehobenheit von dem faktischen Handlungsvollzug — durch die »Form* des (absoluten) Wissens als reine Theorie dennoch in die Entwicklung der geschichtlichen Praxis einzutreten vermag, statt sich im Sinne der geläufigen Unterscheidung von Theorie und Praxis von dieser zu dispensieren. Aber diese Funktion kann, wie Hegel mit einer Wendung gegen FICHTE erklärt (Grundlinien. 15), infolge ihrer unverlierbaren theoretischen Verfassung sowie aufgrund ihrer Verschiedenheit von dem Zeitgeist, der als selber wirksamer Reflex des Handelns erscheint, die Philosophie nicht schon dadurch wahrnehmen, daß sie bestimmte Handlungsanweisungen „deduziert", wie sie aus den gleichen Gründen ebensowenig befugt sei, im Sinne der platonischen Politeia der historischen Wirklichkeit in der Weise einer „äußerlichen" Kritik den idealen Begriff eines von der Theorie erzeugten Daseins entgegenzuhalten.® Ihre Aufgabe, die sich hier in eine logische und geschichtliche zumal verzweigt, besteht vielmehr darin, jene vom „Geist der Zeit" nicht vollzogene Unterscheidung der in ihm wirksamen Bestrebungen durchzuführen, um dergestalt das in seinen Zweckrelationen befangene weltliche Handeln, aus dem der Zeitgeist als kollektives Bewußtsein sich erhebt, zur Erkenntnis des „Vernünftigen" anzuleiten. Denn dieses ist — wie der obige Hinweis auf Hegels onto-logische Grundkonzeption begreiflich macht — dem faktischen Willen und Tun bereits immanent und kann durch philosophische Reflexion des Ganzen der vergangenen und gegenwärtigen Welt freigelegt werden. So führt innerhalb des von Hegel aufgestellten Begriffs der Philosophie der Verzicht auf die Ausbildung normativer Vorgaben seitens der „reinen" Theorie, welche am reflexiven Gegensatz zum Zeitgeist festhält, in der Konsequenz nicht zur Apraxie oder Ataraxie gegenüber dem faktischen Geschehen. Er bewirkt umgekehrt, daß die zuvor allein der Theorie vorbehaltene „Wahrheit" nunmehr „ihr Jenseits und ihre zufällige Gewalt" innerhalb der für sich existierenden Faktizität des geschichtlichen Lebens „abgestreift" hat und durch die objektive Entfaltung des „Vernünftigen" eine kritische Gegeninstanz zur vorhandenen kollektiven Selbstverständigung bildet. Wenn Hegel am Ende der Grundlinien (vgl. 297) den zuvor logisch entwickelten und sodann aus der Weltgeschichte als deren Resultat * In einer Randbemerkung zu den Grundlinien vermerkt Hegel an anderer Stelle: „... formelle Bildung hilft nichts zur Entscheidung über die Sache ... die Philosophie weiß am besten, daß die sogenannten bloßen Begriffe etwas Nichtiges sind ..(Grundlinien. 301)
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aufgewiesenen „Begriff des Staates" emphatisch „zum Bilde und zur Wirklichkeit der Vernunft entfaltet" vorstellt, handelt es sich also keinesfalls um eine bloße Extrapolation des Zeitgeistes in der Zuständlichkeit des gesellschaftlich-geschichtlichen Seins, sondern um das von der Vernunft erkannte Gegenbild eben dieser geschichtlichen Wirklichkeit in dieser selbst, deren wahre Gestalt sich der Zeitgeist noch verhüllt. Das von der Vernunft ergriffene „Bild" besitzt ferner in Hegels Konzept keinen utopischen Charakter, insofern es der gegenwärtigen historischen Epoche bereits zueigen und Teil der Wirklichkeit ist; desgleichen handelt es sich nicht um die philosophisch sanktionierte Form des Zeitgeistes. Denn indem das philosophische „Selbstbewußtsein die Wirklichkeit seines substantiellen Wissens und Wollens in organischer Entwicklung" {Grundlinien. 297) als objektiven „Gedanken" hervorbringt, zeigt es nach Hegel „seiner Zeit" die wahre Vereinigung der Gegensätze, wie sie den „Geist der Zeit" charakterisieren, ohne in ihm schon zur Vermittlung zu gelangen. Achtet man darauf, daß die Wirkungsgeschichte der Hegelschen Philosophie nicht allein das Feld der politischen Geschichte, sondern ebensowohl die Auseinandersetzungen mit Kunst und Religion ergriffen und im Kontext der Zeitgeschichte dem kritischen Punkt der Entscheidung zugeführt hat, so verschärft sich die Frage nach dem inneren Bau und der egentümlichen Natur dieses Denkens. Bereits relativ früh, in der Phänomenologie des Geistes, hat Hegel demonstriert, wie jene Erfassung der Zeit bzw. des zeitgebundenen (natürlichen) Bewußtseins durch den philosophischen „Gedanken" des näheren geschehen könne. Zugleich als Anleitung in das „System der Wissenschaft" konzipiert stellt die Phänomenologie bekanntlich den von der philosophischen Reflexion in Gang gesetzten Prozeß dar, in dem die stufenweise Erhebung des natürlichen zum „absoluten" Bewußtsein als systematische Theorie des Geistes entfaltet wird. Die dergestalt entwickelte „Geschichte des Bewußtseins" erweist sich aber zugleich nach Hegel als Entwicklung des Geistes in der geschichtlichen Zeit; und eben diese (von späteren Interpreten als schwer begreifliche Verschränkung heterogener Gesichtspunkte charakterisierte) Verknüpfung der Philosophie mit der geschichtlichen Welt deutet auf die von Hegel auch in Berlin erneut zur Geltung gebrachte Bestimmung und Aufgabe der Philosophie: als theoretische Entwicklung des „absoluten Wissens" verweist sie das Denken nicht an einen Ort jenseits der empirisch-geschichtlichen Existenz; ihre (praktische) Aufgabe besteht vielmehr in der Hervorbringung einer Gestalt des Bewußtseins, das die Vereinigung mit der Geschichte des in sich entzweiten Lebens zu vollbringen vermag, statt sich dieser Realität zu entziehen.
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Wird in dem hier skizzierten Sinne das dem Hegelschen Begriff der Philosophie immanente Programm aufgenommen, dann erweist sich die Entfaltung des »Systems der Wissenschaft" nicht länger als Zweck selbstgenügsamer Spekulation; und diese Struktur ist keineswegs erst das Ergebnis später Entwicklungen, sondern läßt sich aus den Anfängen der Hegelschen Systembildung als eine ihrer leitenden Grundtendenzen dartun. Bereits in dem Brief an SCHELLING (2. Nov. 1800), mit dem Hegel nach Jahren eines eher zurückgezogenen »Symphilosophierens" mit dem Kreis der Freunde um HöLDERLIN in Frankfurt dem schon berühmten Freunde seinen Aufbruch in die Öffentlichkeit der philosophischen Lehre ankündigt, gibt Hegel Rechenschaft über die eigentlichen Antriebe seines Denkens: »In meiner wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordneten Bedürfnissen der Menschen anfing, mußte ich zur Wissenschaft vorgetrieben werden, und das Ideal des Jünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln: ich frage mich jetzt ... welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden ist."® Neben der persönlichen Reflexion über Sinn und Zweck philosophischer Existenz deutet diese frühe Bemerkung auf eine grundsätzliche Position: Hegel vertritt gegenüber SCHELLING von vornherein einen Begriff systematischer Philosophie und Theorie, die aufgrund ihrer internen Organisation die „Rückkehr" in das »Leben" zu leisten vermag. Die Forderung einer solchen »Rückkehr" allerdings — dies ist das entscheidende Charakteristikum — versteht sich nicht als Bestätigung der traditionellen Dichotomie von Theorie und Praxis, insofern nämlich innerhalb des „Systems" eine gesonderte praktische Philosophie zu generieren sei, die von dem (theoretischen) Bereich der Metaphysik geschieden bleibe. Vielmehr ist Hegels Intention darauf gerichtet, daß das durch die Spekulation erhobene und gegenüber seiner vormaligen „natürlichen" Verfassung verwandelte Bewußtsein ungeteilt in den faktischen Lebensvollzug zurückkehrt und diesen als ein Ganzes erfaßt, so daß die Philosophie nicht bloß als Teil der zeitgenössischen „Bildung" (etwa neben Kunst und Religion) zur geschichtlichen Existenz gelangt, sondern das wirkliche (kollektive und individuelle) Bewußtsein in seiner Totalität ergreift. So wird nach Hegel die Philosophie nur dann ihrer eigentlichen Aufgabe gerecht, wenn die dem natürlichen Bewußtsein selbstverständliche Entzweiung der Reflexion mit dem realen geschichtlichen Lebensvollzug aufgehoben ist. Analog zum theologischen ^Briefe. Bd 1. 59. Vgl. zum Thema W. Ch. Zimmerli: „Rückkehr zum Eingreifen in das Lehen der Menschen" versus „Eule der Minerva". Zur Unvereinbarkeit von dialektischer Praxis der Philosophie und praktischer Philosophie. In: Hegel-Jahrbuch 1977/78. Köln 1979, 386—396.
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Begriff des „Pleroma" erfüllt die — der spekulativen Philosophie zugewiesene — begriffliche Rekonstruktion der Totalität des geschichtlichen Lebens durch die Vernunft das ursprüngliche „Bedürfnis" der Philosophie, die darin zugleich ihren geschichtlichen Rechtsgrund findet. Diese progranamatische Verklammerung und Verschränkung der Philosophie mit der von ihr „in Gedanken erfaßten" Zeit, die zur eigentümlichen Signatur des Hegelschen Denkens und insbesondere seiner politischen Wirkung im weiteren Sinne werden sollte, tritt nicht zufällig erstmals in einem frühen Text aus der Frankfurter Zeit zutage, der genau in der angedeuteten Weise die Selbstreflexion der Philosophie dialektisch mit der Analyse einer aktuellen zeitgeschichtlichen Problematik vereinigt. In einem Fragment aus Hegels ersten Entwürfen zu seiner Schrift über die Verfassung Deutschlands, deren Abfassungszeit (1799—1803) mit der entscheidenden Phase von Hegels erster Ausarbeitung eines Systems zusammenfällt, kehrt der in dem zitierten Brief an SCHELLING ausgesprochene Gedanke wieder. Hegels Zeitdiagnose bildet hier unübersehbar den Legitimations- und Motivationsgrund der Philosophie: es ist der „immer sich vergrößernde Widerspruch zwischen dem Unbekannten, das die Menschen bewußtlos suchen, und dem Leben, das ihnen angeboten und erlaubt wird."ii Indem Hegel von diesem Widerspruch ausgeht, gibt er zugleich eine seiner frühesten Formulierungen jenes komplexen Sachverhalts, der unter dem Stichwort der „Entfremdung" bzw. der Frage nach deren (revolutionärer?) Aufhebung als Thema des Hegelschen Denkens bekannt wurde. „Das Gefühl des Widerspruchs der Natur mit dem bestehenden Leben ist das Bedürfnis, daß er gehoben werde; und dies wird er, wenn das bestehende Leben seine Macht und alle seine Würde verloren hat, wenn es reines Negatives geworden ist." In diesem Widerspruch als der Zerrissenheit des geschichtlichen Lebens, in dem das Bewußtsein in Gegensatz zur Positivität der Religion wie auch der gesellschaftlicljen Verhältnisse geraten ist, hat Hegel zufolge die Philosophie ihren Ort. Denn für ihn entspringt näherhin die Energie der reflektierenden Spekulation der „Sehnsucht derer nach Leben, welche die Natur zur Idee in sich hervorgearbeitet haben", während umgekehrt in den Menschen, denen solches (durch Philosophie allererst gestiftetes) Bewußtsein noch fehlt, das „Streben gegenseitiger Annäherung" vorhanden ist. Nicht der Bios theoretikos, welVgl. M. Baum/ K. Meist: Durch Philosophie leben lernen. Hegels Konzeption der Philosophie nach den neu aufgefundenen Jenaer Manuskripten, ln: Hegel-Studien. 12 (1977), 43— 82, hier 58 ff. ”G. W.F. Hegel: Die Verfassung Deutschlands. In: Frühe Schriften. Werke (Suhrkamp) Bd 1. 457; zum folgenden vgl. 458, 457.
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eher der Anstrengung und dem Zwang des praktischen Lebens sich entwunden hat, sondern das den Bruch zwischen Theorie und Praxis, zeitlicher Existenz und Anschauung des Ewigen aufhebende Denken will Hegel als den wahren und eigentlichen Begriff der Philosophie jenem „Widerspruch" entgegensetzen: „Das Bedürfnis jener, ein Bewußtsein über das, was sie gefangen hält, und das Unbekannte, das sie verlangen, zu bekommen, trifft mit dem Bedürfnis dieser, ins Leben aus ihrer Idee überzugehen, zusammen." Verfolgt man Hegels Konzeption der Philosophie in ihre Anfänge zurück, so erweist sich, daß nach Hegels eigenem Verständnis die Philosophie dann, wenn sie als spekulatives System ihre wahre Vernunftgestalt gewonnen hat, aufgrund ihrer inneren Verfassung weder als der bloße (ideologische) Reflex des Zeitgeistes zu begreifen, noch dessen nachträgliche Sanktionierung zu leisten bestimmt ist. Nach Hegel gilt es nicht, den Inhalt philosophischer Erkenntnis vor dem historischen Vergehen gleichsam zu „retten", indem jene ihrer Zeit entzogen wird. Die Philosophie vollzieht vielmehr (in Verwirklichung ihres Wesens) die Vereinigung mit der Zeit, aus deren Entzweiung sie hervorgegangen ist, durch die Entwicklung eines (absoluten) Bewußtseins, dessen dialektische Natur den Gegensatz von Theorie und Praxis im Ansatz bereits überwindet und die (logische) „Versöhnung" der realen Gegensätze entwirft, deren bloßes Abbild der „Geist der Zeit" ist. Entsprechend definiert Hegel in der Schrift Uber die Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems (1801) den „Quell des Bedürfnisses der Philosophie"!^ als Entzweiung des Bewußtseins mit der geschichtlichen Realität: „Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet, und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben, und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie". Unstreitig hat Hegel — und dies deckt sich mit seiner in der Vorrede zu den Grundlinien formulierten Position — die Umsetzung dieses Bedürfnisses in die (revolutionäre) Tat hier ebensowenig wie in den einleitenden Reflexionen der Schrift über die Verfassung Deutschlands in Aussicht genommen. Seine Antwort hält stattdessen an dem theoretischen Charakter des Philosophierens fest, da dessen eigentliche Zweckbestimmung allein in der „Erhebung" des Bewußtseins bzw. der Entwicklung einer gänzlich neuen Gestalt des selbstbewußten Sich-Wissens besteht, während das Handeln nicht einer Weisung der i^G.W.f. Hegel: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie. In: Hegel: Gesammelte Werke. Bd 4. Jenaer Kritische Schriften. Hrsg, von H. Büchner und O. Pöggeler. Hamburg 1968, 1—92, hier 12; zum folgenden 14, 30, 14.
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Theorie, sondern der durch jene Entwicklungsgeschichte des Geistes erworbenen Freiheit des Willens anheimgestellt bleibt. „Das Bedürfnis der Philosophie kann sich darin befriedigen, zum Prinzip der Vernichtung aller fixierten Entgegensetzung, und zu der Beziehung des Beschränkten auf das Absolute durchgedrungen zu sein; diese Befriedigung im Prinzip der absoluten Identität findet sich im Philosophieren überhaupt". Folgerichtig lautet die „Aufgabe der Philosophie": „Das Absolute soll fürs Bewußtsein konstruiert werden". Diese relativ abstrakten Ausführungen finden ihre Entsprechung in einschlägigen Formulierungen, die Hegel bald nach Erscheinen der DifferenzSchrift in seiner Vorlesung über die Einleitung in die Philosophie im Wintersemester 1801/02 vortrug. Hier entwickelt Hegel ganz ähnlich wie in den Frankfurter Texten das allgemeine Bedürfnis der Philosophie aus der konkreten Frage: „Welche Beziehung hat die Philosophie auf das Leben?"; und diese Frage sei äquivalent der zweiten: „Inwiefern ist die Philosophie praktisch?" Beide Fragen finden ihre Begründung in einer Erklärung, die Hegel in dieser Weise kein zweites Mal formuliert hat: „Denn das wahre Bedürfnis der Philosophie geht doch wohl auf nichts anderes als darauf, von ihr und durch sie leben zu lernen.Diese Forderung, welche Hegel in dem betreffenden Manuskript der Darlegung seiner damaligen Systemkonzeption vorausschickt, verlangt keineswegs die einfache Rücknahme der spekulativen Erhebung des Bewußtseins in den praktischen Lebensvollzug. Indem Hegel nunmehr von dem „absoluten" Standpunkt des Bewußtseins im Sinne der von SCHELLING konzipierten Identitätsphilosophie das Ganze von Natur und Geschichte in einem System der Metaphysik entwickeln will, entwirft er im gleichen Zuge eine Verbindung des Bewußtseins des Geistes mit der Totalität des Wirklichen nach dem Vorbilde der Substanzmetaphysik in SPINOZAS ElhicaM Die praktische Aufgabe der Philosophie, das Bewußtsein mit der objektiven Welt zu „versöhnen", wandelt sich entsprechend in die differenziertere Anweisung, die „Entgegensetzung der festgewordenen Subjektivität aufzuheben, und das Gewordenseyn der inDas betreffende Manuskript („Introductio in Philosophiam') sowie weitere unten beigezogene Fragmente aus Hegels Jenaer Zeit werden in Bd 5 {Schriften und Entwürfe 1799— 1808) der Gesammelten Werke veröffentlicht. Für eine erste inhaltliche Vorstellung vgl. M. Baum/K. Meist: Durch Philosophie leben lernen, (s.o. Anm. 10), hier 45 ff. Zur detaillierten Analyse der Entwicklung von Hegels Jenaer Systemkonzeptionen vgl. K. Düsing: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Bonn 1976. (Hegel-Studien. Beiheft 15) hier 76 ff, 140 ff. 11 Vgl. zur Ausbildung einer Substanzmetaphysik bei Schelling und Hegel um 1801 K. Düsing: Idealistische Substanzmetaphysik. Probleme der Systementwicklung bei Schelling und Hegel in Jena, ln: Hegel in Jena. Die Entwicklung des Systems und die Zusammenarbeit mit Schelling. Hrsg. v. D. Henrich und K. Düsing. Bonn 1980, (Hegel-Studien.Beiheft 20) 25—44.
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tellektuellen und rellen Welt, als ein Werden, ihr Seyn ... als ein Produciren zu begreiffen" (G. W. 4.14) und d.h. die systematische Erkenntnis eben dieser Totalität durch das Bewußtsein, wie sie von der spekulativen Philosophie allein erbracht werden kann, ist nach Hegel auch die Einlösung des zuvor erwähnten „Bedürfnisses der Philosophie". Indem Hegel hier die spekulative Gedankenbewegung als die (rekonstruierende) Reflexion auf das „Werden" (im Gegensatz zum „positiven" Sein) bzw. dessen weitere Auslegung als „Produciren" (der Identität) bestimmt, vollzieht er eine Wendung, die ihn im ersten Schritt an die innere Grenze der zum damaligen Zeitpunkt noch gemeinsam mit SCHELLING vertretenen Grundkonzeption der absoluten Identität führt. Zugleich läßt sich aber zeigen, daß die Verbindung des absoluten Seins mit der Vernunft, welche SCHELLING (1801) thetisch an den Anfang der Darstellung meines Systems der Philosophie gesetzt hatte,i* in einer bestimmten Hinsicht für Hegel auch weiterhin gültig geblieben ist, selbst wenn letzterer an diesem Gedanken eine entscheidende Modifikation angebracht hat. Die sogleich näher zu bestimmende Schwierigkeit, die Hegel jedoch über SCHELLINGS Grundauslegung des Seins hinausführen sollte, zeichnet sich in Hegels Argumenten dergestalt ab, daß die von der Spekulation gestiftete „Versöhnung" der Subjektivität mit dem objektiven Sein als da1^(erst zu erbringende) Resultat der (absoluten) Reflexion bestimmt wird, insoweit nämlich dieser Sachverhalt insgesamt auf das Bewußtsein bezogen wird. Nach Hegel findet das Bewußtsein das Geschehen der Objektivität zunächst im Modus des „Gewordenseyns" vor, als ein positiv „Gegebenes", dessen Existenzwerdung als die (in SCHELLINGS Terminologie) „Einheit des Realen und Idealen" gleichsam im Rücken des Bewußtseins liegt. Indem er nun (gemeinsam mit SCHELLING) den Entwurf einer idealistischen Substanzmetaphysik ausbildete, in der die im Begriff der Identität gedachte Einheit der Gegensätze nicht nur allein für die intellektuelle Anschauung schlechthin gegeben ist, sondern für das Denken als das wahrhafte und vernünftige Sein erkennbar gesetzt sein soll,i^ entspringt für Hegel eine dilemmatische Problematik bezüglich der Bestimmung des Seins des Absoluten. 15G. W. 4. 12 ff. Vgl. zur Geschichte der Jenaer Systemkonzeptionen R.P. Horstmann: Jenaer Systemkonzeptionen. In: Heget. Einführung in seine Philosophie. Hrsg, von O. Pöggeler. Freiburg/ München 1977, 43—58 sowie die hier verzeichnete ältere Literatur. Zu Hegels frühestem Jenaer Systementwurf vgl. K.R. Meist: Hegels Systemkonzeption in der frühen Jenaer Zeit: In; Hegel in Jena, 59—79. i^Vgl. Fr.W.J. Schelling: Darstellung meines Systems der Philosophie (1801). In; Schelling. Schriften von 1801—1804. Darmstadt 1968, 1—108, hier 10. Zum folgenden vgl. auch K.R. Meist: Hegels Systemkonzeption, 62 ff (s.o. Anm. 15). i’Vgl. Düsing: Idealistische Substanzmetaphysik. 31 ff (s.o. Anm. 14).
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hatte in der Darstellung die absolute Identität von Sein und Vernunft (im Sinne des spinozistischen Substanzbegriffs) aus dem Gedanken der causa sui definiert (§§ 1, 9); auf sie als von Ewigkeit her mit sich selbst gleiche und mithin unveränderliche Einheit sei das Erkennen schlechthin bezogen, um in dieser aus sich selbst her vorliegenden Identität die wahre Vernunftgestalt zu erkennen. Diese metaphysische Konzeption ermöglicht nun im Blick auf das Verhältnis zwischen des Absoluten (als der Einheit der Gegensätze) und dem Bewußtsein eine Auslegung, deren Argumentation den Grundriß jener Formel aus den Grundlinien in frappanter Weise vorwegzunehmen scheint, mit der Hegel dort die Äquivalenz von Vernunft und Wirklichkeit auszudrücken sucht. SCHELLING erklärt: »Daß wir alles in seinem wahren Sein nur als absolut und wie es in jener ... Einen Identität des Idealen und Realen prädeterminiert ist, begreifen, diese Forderung liegt schon in dem, alles als vernünftig zu begreifen ... und etwas vernünftig begreifen heißt: es zunächst als organisches Glied des absoluten Ganzen, im nothwendigen Zusammenhang mit demselben, und dadurch als einen Reflex der absoluten Einheit begreifen". Für SCHELLING rücken auf diese Weise die Vernunft und die Totalität des Seienden in eine zugleich ontologische Einheit zusammen, aus der sie für das Erkennen als Wechselbegrfffe hervorgehen, so daß die reine Affirmation des Absoluten ebensowohl als die Selbstaffirmation der (absoluten) Vernunft gedacht wird bzw. die »Vernunft mit einem Wort der Urstoff und das Reale alles Seyns sey". Diese Konzeption des Seins jedoch, dessen Struktur SCHELLING mit dem »Wesen der Vernunft" gleichsetzt, bestimmt die absolute Identität als eine in sich selbst gleiche, ruhende Ewigkeit, die keinen Gegensatz außer sich hat und auch einen Übergang des Wesens in die Existenz ausschließt bzw. immer schon vollzogen hat. Deshalb kann SCHELLING mit Entschiedenheit festhalten, daß ein »Herausgehen des Absoluten aus sich selbst, es werde bestimmt auf welche Weise es wolle, schlechthin undenkbar sey".i* SCHELLINGS Theorie der Erkenntnis geht nun, wie hier nur kurz zu erwähnen ist, davon aus, daß jene (spinozistische) Einheit von Denken und Sein zugleich als die erste und grundlegende Erkenntnis der Philosophie aller übrigen Erkenntnis voraufgeht und in der intellektuellen Anschauung schlechthin gegenwärtig gesetzt wird. ScHELLiNG
ispr.W.J. Schelling: Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie (1802). In: Schelling: Schriften von 1801—1804, hier 286. Vgl. Düsing: Idealistische Substanzmetaphysik. 36 ff (s.o. Anm. 14) sowie zur Unterscheidung zwischen Schelling und Hegel in dieser Frage Meist: Hegels Systemkonzeption, 70 (s.o. Anm. 15).
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Indem Hegel dieses Grundkonzept von Schelling aufnimmt, tritt bereits eine entscheidende Differenz hervor. Anders als SCHELLING, der jene Identität als eine der Bewegung der Reflexion je schon entzogene Einheit von Vernunft und Wirklichkeit denkt, bestimmt Hegel das auch von ihm im Modus präreflexiver Vorgängigkeit gegenwärtige „Gewordenseyn" des (ewigen) Absoluten näherhin als ein »Produciren". Damit wird die im Grundentwurf festgehaltene Vorgängigkeit der (absoluten) Vereinigung zwar nicht aufgehoben, doch ist das bei SCHELLING gegen das „Herausgehen aus sich selbst" verteidigte Absolute jetzt als ein von der Reflexion rekonstruierter Prozeß der Identität gedacht, in den — mit implizitem Widerspruch gegen Schelling — der Prozeß der (resultierenden) „absoluten Reflexion" restlos sich einfügt. Eben dadurch wird aber für Hegel die Schwierigkeit ausgeräumt, welche zuvor seiner Intention einer Erkenntnis des Absoluten entgegenstand. Denn in der von SCHELLING vorgestellten Konzeption der absoluten Vernunft/Identität bleibt vom Standpunkt Hegels her das (reflexive) Erkennen seinem Gegenstand, dem Absoluten, äußerlich, so daß die geforderte wechselseitige Implikation von Denken und Sein als radikale Identität gerade nicht erreicht wird. Hegels Ansatz richtet sich mithin gegen SCHELLINGS Vorstellung einer „prädeterminierenden" Einheit, insofern diese dem Prozeß der Selbstproduktion (der causa sui) gleichsam vorweg entzogen gedacht wird, weil dergestalt der Gedanke der causa sui, also des von Hegel und SCHELLING gemeinsam konzipierten Begriffs des Absoluten, verfehlt wird.i^ Auf die Entfaltung dieser systematischen Zusammenhänge im Bereich des spekulativen Wissens aber ist ebensowohl Hegels Rede von dem eigentlichen „Bedürfnis der Philosophie" zu beziehen, insofern darin das wesentlich praktische Interesse gleichrangig zur Geltung kommt, die integrale Totalität des „Einen Lebens" aus der „Zerrissenheit" des Bewußtseins wiederherzustellen. Hegels früheste ebensowohl wie seine reife Konzeption der Philosophie ist wesentlich dadurch charakterisiert, daß sie einerseits in Rücksicht auf die motivierenden Antriebe, andererseits auch bezüglich ihrer Zwecksetzung als „Theorie des absoluten Wissens" das praktische Verhältnis zur geschichtlichen Wirklichkeit nicht erst nachträglich hinzunimmt, sondern bereits im Ansatz als integrales Moment ihrer systematischen Organisation enthält. Obwohl Hegels System in der langen Ent-
Vgl. Düsing: Idealistische Substanzmetaphysik. 38 (s.o. Anm* 14). Düsing weist darauf hin, daß in Hegels früher Jenaer Konzeption sich in der Problematik der Erkennbarkeit des Absoluten die von Hegel endgültig in der Phänomenologie des Geistes entfaltete Verwandlung der „Substanz' in das „Subjekt' vorbereite.
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Wicklung seit dem frühesten öffentlichen Vortrag in Jena bis in die z.T. gravierenden Modifikationen in den verschiedenen Auflagen der Enzyklopädie mannigfachen Veränderungen unterzogen wurde, ist das von Hegel' im Zusammenhang seiner frühen philosophischen und historischen Studien entwickelte Verhältnis der Philosophie zur Geschichte im Prinzip nicht revidiert worden. Die Struktur dieses Verhältnisses wird wiederum von der Erhebung des Bewußtseins zum resultierenden Wissen des Absoluten bestimmt: „es [seil, das Absolute] ist das Ziel, das gesucht wird; es ist schon vorhanden, wie könnte es sonst gesucht werden? die Vernunft producirt es nur, indem sie das Bewußtseyn von den Beschränkungen befreyt" (G.W. 4.15). Dieser Formulierung bzw. Beschreibung der Natur des eigentlichen Gegenstandes der Philosophie liegt der Gedanke zugrunde, daß nicht das Absolute selbst, sondern allein die Entwicklung des Bewußtseins des Absoluten das Resultat desjenigen Prozesses genannt werden kann, welchen die (zur Wirklichkeit des Absoluten gleichsam hinzutretende) Philosophie im konkreten Leben als geschichtlichen Fortschritt auslöst. Die so angelegte Rekonstruktion des „Lebens" aus dem (spinozistischen) Gedanken der Identität, der bei Hegel dialektisch durch den der „Identität der Identität und Nichtidentität" erweitert wird, bildet noch das Grundmuster der zuvor erörterten Rede Hegels, wonach die Philosophie als Erkenntnis der vernünftigen Wirklichkeit das Geschehen dieser Wirklichkeit umgekehrt voraussetzt. Vergleicht man jedoch die frühesten Entwürfe dieses Gedankens, so wird erkennbar, daß Hegel seine Position als die von der Vernunft allererst aufzuweisende Versöhnung der Gegegensätze von der Synthesis einer faktisch schon vorhandenen kollektiven Selbstverständigung genauestens unterscheidet, wie sie der „Geist der Zeit" dem vorphilosophischen Bewußtsein zunächst darbietet. Der Philosophie bleibt nach Hegel die eigentümliche Aufgabe Vorbehalten, jene durch die spekulative Logik aus dem reinen Begriff der „Identität" entfaltete Einheit der Gegensätze realphilosophisch in Natur und Geschichte (im übergreifenden metaphysischen Prozeß des Realwerdens der absoluten Identität) aufzuzeigen. Aber auch Hegels politische Philosophie ist in der Konsequenz der bisherigen Überlegungen von dem gleichen Gedanken geprägt. So klingt es wie eine Vorwegnahme von Hegels einschlägigen Äußerungen in der Vorrede der Grundlinien, wenn er in der Einleitung zur Schrift über die Verfassung Deutschlands erklärt, daß es im Falle der Auseinandersetzung mit
Vgl. Meist: Hegels Syslemkonzeption, 69 f, 76 f (s.o. Anm. 15).
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der politisch-historischen Realität des untergehenden Deutschen Reiches allein auf das »Verstehen dessen, was ist" ankomme. »Denn nicht das, was ist, macht uns ungestüm und leidend, sonden daß es nicht ist, wie es sein soll; erkennen wir aber, daß es ist, wie es sein muß, d.h. nicht nach Willkür und Zufall, so erkennen wir auch, daß es so sein soll."^! Diese durchaus vieldeutige Formulierung hält die Frage offen, ob die Philosophie ohne weitere Umstände ihren Frieden mit dem faktischen historischen Geschehen schließen dürfe. Denn Hegel zeigt unmißverständlich an, daß allein die Einsicht in die Notwendigkeit, die in Hegels Geschichtsphilosophie (aufgrund der logischen Struktur der Modalkategorien) als Wechselbegriff für das »Vernünftige" der Wirklichkeit auftreten kann, dazu geeignet ist, die Philosophie in ihrem spezifischen Geschäft des »Ergründens des Vernünftigen" zur Anerkennung eben dieser Wirklichkeit zu legitimieren. So besteht der Beitrag, den die Philosophie zum konkreten geschichtlichen »Leben" erbringt, in der Produktion eines Selbstbewußtseins, das dem »natürlichen" durch die Erkenntnis des wahren Verhältnisses des Bewußtseins zur objektiven Welt überlegen ist. ln einem Fragment aus dem Jahre 1803 ist Hegel auf den hier von der Philosophie erwarteten und ihr allein zugeschriebenen Aufklärungsprozeß als einem nicht mehr »propädeutischen", sondern inzwischen in das Zentrum des Systems verlegten Vorgang näher eingegangen.22 Abermals nimmt Hegel die aus der Schrift Lieber die Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems bekannte Frage nach dem Ursprung der Philosophie bzw. ihrer Funktion für das Leben zum Ausgangspunkt und definiert sie erneut als das »Bedürfnis" bzw. die »Aufgabe", »die Einzelheit des Inividuums mit dem allgemeinen der Welt zu versöhnen". In der anschließenden Kritik derartiger Versöhnungsansätze, wie sie in der Philosophie KANTS und namentlich FICHTES entwickelt worden seien, greift Hegel erneut auf die oben skizzierte spinozistische Argumentation zurück, die er in Aneignung und Weiterentwicklung der ScHELLiNGschen Identitätsphilosophie ausgebildet hatte: »Aber die Welt selbst enthält die Auflösung des Gegensatzes der Einzelheit gegen sie." Das Komplement dieses Axioms, das Hegel in diesem frühen Text zugleich als das logische Problem der dialektischen Vermittlung von Einzelnem, Besonderem und Allgemeinem vorstellt, bildet nun die Erkenntnis, daß die spezifische Natur des Bewußtseins selbst als reflexive Selbstbestimmung der Einzelheit des Individuums in ihrer Entgegensetzung zur Hegel: Die Verfassung Deutschlands. a.a.O. 463 (s.o. Anm. 11). Vgl. Baum/Meist: Durch Philosophie leben lernen, 58 ff (s.o. Anm. 10).
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objektiven Welt die existierende Differenz allererst setzt, welche dann die vom Bewußtsein seinerseits geforderte „Versöhnung" nötig macht. Nicht die Welt als existierende Organisation des Vielen zur Einheit (und Ganzheit) — so lautet Hegels These — bedarf der „Versöhnung" durch die Philosophie. Vielmehr ist es das „erwachende Bewußtseyn", das von der Philosophie stufenweise zur resultierenden Einsicht in die wahre Struktur des existierenden „Verhältnisses" zur objektiven Totalität von Natur und Geschichte erhoben wird: „es findet jeder diß Verhältnis schon bestimmt vor; in dem System der Gesetze des zweckmässigen Betragens gegen die Natur ... alsdenn in dem Systeme der Sitten ... in dem Ganzen der Wissenschaften und endlich in der Gestaltung der religiösen Anschauung, ist die Organisation eines Ganzen und Allgemeinen errichtet, das als allgemeines für sich ist, und wieder, indem es der Geist jedes einzelnen ist, die gefoderte Harmonie vollkommen leistet." In unübersehbarer Vorwegnahme der wenige Jahre später der Phänomenologie des Geistes zugrundegelegten „Geschichte des Bewußtseins" zeigt Hegel im folgenden, daß die genannten Erscheinungsformen des Allgemeinen durch ihr jeweiliges „Verhältniß" zum (einzelnen) Bewußtsein, dem sie als Allgemeines zunächst wie ein Fremdes gegenübertreten, gleichsam zu bestimmten geschichtlichen Gestaltungen sich zusammenschließen, wiewohl keine dieser Gestalten für sich die „gefoderte Harmonie" in ihrer Totalität repräsentieren kann und deshalb auf die Zusammenfassung im Bewußtsein (infolge ihrer durch die Reflexion bestimmten logischen Struktur) einerseits, zugleich aber andererseits auch auf die resümierende Erkenntnis ihrer historischen Existenz verweist. Für Hegel zeigt sich die besondere Natur des Bewußtseins darin, daß es durch die jeweilige Reflexion dieser Gestaltungen die Verhaftung in diesen Vorgestalten der wahrhaft objektiven „Versöhnung" aufzuheben vermag. Dergestalt wird vom Bewußtsein ein anderer geschichtlicher Prozeß ausgelöst, dessen Ziel die Freiheit des absoluten Wissens als der „reine durchsichtige Äther" ist. Aufgrund ihrer Partialität in der Vergegenwärtigung der wahren Totalität sowohl, als auch infolge der bestimmten endlichen Gestaltung und der dadurch gesetzten Vergänglichkeit ist es das Schicksal dieser Vorgestalten, daß sie ihrerseits der Geschichte anheimfallen: „der Geist des lebendigen Lebens, der aus seinen Gliedmaßen sich zurückgezogen hat, muß sich eine neue Gestalt suchen, und eine neue Organisation sich geben."^^
“G. W. 5; Fragmente aus Vorlesungsmanuskripten (1803), hier das Fragment „ist auf das Allgemeine ..Bl. 9a, 9b, lOb.
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Mit dieser nunmehr unzweideutigen Auszeichnung der spekulativen Reflexion als dem einzigen Medium der Erhebung des Bewußtseins hat Hegel — zugleich in Abgrenzung gegen SCHELLING — eine grundlegende Revision des am Anfang der Jenaer Zeit aufgestellten Begriffs der Philosophie unternommen, dessen Nachwirkungen bis in die reife Systembildung der Berliner Zeit nachzuweisen sind. In der frühen Konzeption, die Hegel in der Differenz-Schrih bzw. dem Aufsatz Über die wissenschaftliche Behandlungsarten des Naturrechts (1802) vorgestellt hatte, bildete die Philosophie der „absoluten Sittlichkeit" den Abschluß der systematischen Entwicklung.Nach Hegels damaligen Ausführungen geschieht die „Resumtion" des Prozesses, vermöge dessen die vollständige Einbildung und Einwirklichung der von der Vernunft (in der „Logik" und „Metaphysik" als gesonderter Systemteilen) erkannten absoluten Identität in die Realität von Natur und geschichtlicher Welt sich vollzieht, durch die „vollkommenste Organisation, die sie sich geben kann, in der Selbstgestaltung zu einem Volk" ( G. W. 4.58). Dieser Begriff der Sittlichkeit, der hier noch zur Individualität eines „Volksgeistes" gehört und in der frühen Jenaer Zeit noch nicht in den Zusammenhang eines übergreifenden weltgeschichtlichen Prozesses eingeordnet ist, wird wesentlich konstituiert durch die (untereinander eher gleichgeordneten) Momente der Religion und Kunst, die Hegel als voneinander geschiedene und aufeinander bezogene Formen des Selbstbewußtseins eines Volkes bestimmt. In Entsprechung zu SCHELLINGS Auszeichnung der Kunst als dem höchsten „Organon" der Anschauung des Absoluten (im System des transzendentalen Idealismus) nennt Hegel noch 1803 die Produkte des künsterlichen Genies eine „Erfindung des ganzen Volkes" genauer das „Finden, daß das Volk sein Wesen gefunden hat". Doch erklärt er in einem etwa gleichzeitig entstandenen Manuskript in schroffer Absage an SCHELLINGS Entwurf, daß jene vormals wirksame Funktion der Kunst als Mittel und Medium kollektiver Selbstverständigung (z.B. in der Mythologie der Antike) für die Moderne ihre Gültigkeit endgültig eingebüßt habe: „Die eigentliche Erkenntniß, oder die Philosophie der Natur erhebt, was die Kunst überhaupt nicht vermag, die Natur zu einem nicht formalen sondern zu einem absoluten Ganzen."
Vgl. zu dieser Problematik H. Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Hegelschen Denkens. Hegels „System der Philosophie' in den Jahren 1800—1804 (Hegel-Studien. Beiheft 8) sowie R.P. Horstmann: Probleme der Wandlung in Hegels Jenaer Systemkonzeption. In: Philosophische Rundschau. 19 (1972), 87—117; J.H. Trede: Mythologie und Idee. Die systematische Stellung der Volksreligion in Hegels Jenaer Philosophie der Sittlichkeit. In: Das älteste Systemprogramm. Hrsg, von R. Bubner. Bonn 1973, (Hegel-Studien. Beiheft 9) 167—210.
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Indem Hegel etwa seit 1803 im Zuge einer grundsätzlichen Revision des Systems, welche ihren vorläufigen Höhepunkt in der Phänomenologie des Geistes erreichen sollte, der Kunst und Religion zwar nicht ihre einstmals zugeschriebene Fähigkeit der objektiven Identitätsstiftung schlechterdings abspricht, wohl aber jede der beiden zu einem in der nun gleichsam verselbständigten Geschichte des Geistes (als „Geschichte des Bewußtseins") aufgehobenen und so auch diesem Prozeß anheimgefallenen Moment depotenziert, kündigt sich in Hegels Systemkonzeption eine grundlegende und bleibende Wendung an, insofern die Geschichte, welche jetzt Kunst, Religion und Philosophie insgesamt ergreift, selber zum eigentlichen Medium der Entfaltung des Absoluten wird. Kunst, Religion und Philosophie erscheinen nun nicht länger (im Sinne HERDERS) als relative Momente im Leben eines individuellen Volksgeistes; vielmehr hat jedes dieser „Momente" seine eigene Geschichte, die einerseits in die Geschichte des bestimmten Volksgeistes verflochten ist, andererseits eben diese Individualgeschichte übergreift und in den historischen Kontext der Weltgeschichte gehört. Dieser Sachverhalt aber entspricht der am Bewußtsein selbst aufgewiesenen Struktur, insofern dessen Reflexion die (historische) Individualität auf hebt und als Teil eines übergeordneten Bewußtseinsprozesses begreifen lernt. In diesem universalen Prozeß, den Hegel in der ausgebildeten systematischen Gliederung seiner reifen Philosophie als das komplexe Gefüge von drei verschiedenen und ineinander verzahnten Geschichten (der Kunst, Relgion und Philosophie) darlegt, fällt der Philosophie als spezieller Geschichte des Bewußtseins die Endschaft der Geschichte des Geistes zu. Von ihr erkärt Hegel bereits 1803, daß sie im Unterschied zu Religion und Kunst bzw. der (individuellen) Historizität dieser Bewußtseinsgestalten „im Elemente des Erkennens" zugleich die „absolut allgemeine und freye" Gestaltung des Bewußtseins sei.^s Hegels Berliner Vorlesungen über Kunst, Religion und Philosophie entwickeln in der Konsequenz des soeben skizzierten Wandels der systematischen Konzeption durch das Einrücken der Geschichte nicht allein den (logischen) „Begriff" dieser Gestaltungen einer objektiven Identitätsstiftung für das Bewußtsein. Sie explizieren zugleich auch die jeweils zugehörige Geschichte, durch die Kunst, Religion und Philosophie als konstitutive 25G.W. 5; Fragmente aus Vorlesungsmanuskripten (noch unpubliziert), Fragment „seiner Form ..(1803), Bl, 4a; Fragment „Das Wesen des Geistes..Bl. 14a. Fragment „ist auf das Allgemeine ..Bl. 10b. Vgl. G.W.F. Hegel: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts. In: G. W. 4. 455. Zur Problematik des Begriffs der „Sittlichkeit" in Hegels System vgl. zuletzt U. Rameil: Sittliches Sein und Subjektivität. Zur Genese des Begriffs der Sittlichkeit in Hegels Rechtsphilosophie. In: Hegel-Studien. 16 (1981), 123—163.
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Momente der Erhebung des Geistes zum absoluten Wissen ihre reale geschichtliche Existenz gewinnen. Aber das komplexe Gefüge dieser „Geschichten", das seine weitere Vermittlung im Gange der objektiven Weltgeschichte als dem übergreifenden Ganzen findet, vertieft zugleich die grundsätzliche Problematik, die Hegel nun aus der Aufgabe der frühen "Philosophie der Sittlichkeit" entstanden ist und erneut die Grundfrage des Verhältnisses der Philosophie zur Wirklichkeit und geschichtlichen Zeit berührt. In dem frühen systematischen Entwurf konnte Hegel der Philosophie die Aufgabe zuweisen, diejenige Gestalt eines (zugleich genuin politischen) Bewußtseins hervorzubringen, welches als Bewußtsein dieser „absoluten Sittlichkeit" eines Volkes (unter Einschluß von Kunst und Religion) deren Realisierung in einem geschichtlich bestimmten Volk und Staat als Verwirklichung der gesuchten „Versöhnung" anerkennt.2* Unverkennbar tritt in dieser Konzeption das Leitbild der antiken Polis hervor, wie es von Hegel kurz vor der Jahrhundertwende in Frankfurt (in philosophierender Gemeinschaft mit HöLDERLIN) entworfen worden war; und diese Idee einer „schönen" sittlichen Gemeinschaft ist trotz aller Revisionen in Hegels Begriff der „Sittlichkeit" stets erhalten geblieben. Aber eine Wiederholung dieses Bewußtseins bzw. der hier (von Hegel unterstellt) vorliegenden Übereinstimmung von Denken und Handeln würde, so mußte Hegel als Konsequenz seiner eigenen geschichtsphilosphischen Reflexion einsehen, eine Verkehrung des historischen Prozesses fordern, welche die Entfaltung des Geistes in der Moderne abbricht, statt sie in die Vollendung zu führen. Gerade dadurch träte eine grundsätzliche Enthistorisierung und Realitätsferne ein, welche Hegels geschichtsphilosophischen Entwurf als Philosophie der konkreten historischen Welt (auch in der Aktualität der politischen Zeitgenossenschaft) zunichte machen müßte. Indem Hegel diese (implizit gegen SCHELLING und HöLDERLIN gerichtete) Überlegung zur Geltung bringt, behält er auf der anderen Seite die (aporetische) Notwendigkeit, die Existenz der im Bewußtsein gestifteten „Versöhnung" mit der historischen Individualität des (modernen) Volksgeistes verknüpfen und so in der empirischen Realität der Neuzeit eben jene Vernunftstruktur entdecken zu müssen, die das (metaphysische) Konzept der „Identität" einlösbar erscheinen läßt. Deshalb wiederholt Hegel in den Grundlinien den Vgl. Hegel: Grundlinien. § 270, Fußnote, 222. Hegel erklärt hier unmißverständlich, daß insbesondere Religion und Philosphie neben der Kunst in den Staat „eintreten", „teils im Verhältnis von Mitteln der Bildung und Gesinnung, teils insofern sie wesentlich Selbstzwecke sind, nach der Seite, daß sie äußerliches Dasein haben, ln beiden Rücksichten verhalten sich die Prinzipien des Staates anwendend auf sie".
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Verweis an die historische Wirklichkeit einer (von der Philosophie zu erkennenden) „Versöhnung", wenn er hier — zugleich als Ziel der Weltgeschichte — den modernen Staat als das „Bild" und die objektive Wirklichkeit der Vernunft auszeichnet. Doch wird in Hegels reifer Systematik in der Enzyklopädie mit dem Staat erst der Abschluß der Entwickung des objektiven Geistes erreicht, während Kunst, Religion und Philosophie als notwendige (wiewohl je beschränkte) Momente des absoluten Geistes und seines Selbstbewußtseins dieses „Ende" übergreifen und damit eine im Prinzip von ihm unterschiedene Weise (absoluter) „Versöhnung" bezeichnen (vgl. Enz. §§ 552, 553). Indem Hegel am Staat als der in der Geschichte real erscheinenden und diese objektiv resümierenden „Versöhnung" von Welt und Bewußtsein festhielt, schienen Kunst und Religion bzw. deren jeweilige „positive" Bewußtseinsgestaltungen durch die (als Reflexion des Geistes in sich) vermittelnde Philosophie sich dem organisierten Ganzen des existierenden Staates auch weiterhin unterordnen zu müssen, um dergestalt auch die wirkliche Endschaft der Geschichte zu ermöglichen. Hegels systematischer Unterscheidung zwischen dem „objektiven" und dem „absoluten Geist" zufolge zählen jedoch Kunst, Religion und Philosophie in der Enzyklopädie gerade nicht zu den definierenden Momenten des „Begriffs" des Staates als „objektiver" geschichtlicher Erscheinung und konkretes „Werk" der Freiheit. Sie erscheinen vielmehr als Teile der konkreten sittlichen Existenz in der Totalität des im Staat verwirklichten, von der freien Persönlichkeit des Einzelnen getragenen geistigen Lebens und sind deshalb aufgrund ihres jeweils besonderen Prinzipiencharakters der Inhalt der wirklichen Freiheit des Geistes und der realen Vernunft, die nach Hegels Vorstellung ihr eigenes „Bild" in der objektiven Organisation der gesellschaftlichen Realität anerkennen soll (Grundlinien. 297). Diese systematische Differenzierung bringt aber die — scheinbar eindeutig beantwortete — Frage nach der gültigen Endgestalt des (welt)geschichtlichen Prozesses tatsächlich erneut gleichsam in die Schwebe. Denn diese „letzte" Gestaltung findet nun weder in der bestimmten Endschaft des objektiven Geistes (dem Staat als Organisation realer Freiheit), noch in der (bloß) begrifflich-theoretischen Resumtion der „Prinzipien" des „absoluten Geistes" ihr adäquates „Bild". Dieses geschichtsphilosophisihe Dilemma, dessen praktische Auflösung in Hegels Schriften der Berliner Zeit allerdings auch „beiläufig" thematisch wird,^* gehörte für die unmittelba^‘Vgl. Hegel: 'Grundlinien. § 270, Fußnote, 222. Hegel erklärt hier unmißverständlich, daß insbesondere Religion und Philosphie neben der Kunst in den Staat „eintreten", „teils im Verhältnis von Mitteln der Bildung und Gesinnung, teils insofern sie wesentlich Selbstzwecke sind, nach der Seite, daß sie äußeidiches Dasein haben. In beiden Rücksichten verhalten sich die Prinzipien des Staates anwendend auf sie'.
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ren Schüler Hegels keineswegs in die Esoterik systemtheoretischer Diskussionen. Ein Versuch seiner Auflösung und aktuellen Anwendung findet sich im Mittelpunkt einer umfangreichen kritischen Rezension, die ein Schüler Hegels, der Theologe W. VATKE, dem Werk eines anderen Theologen R. ROTHE {Die Anfänge der christlichen Kirche und ihrer Verfassung. Ein geschichtlicher Versuch. Wittenberg 1837) gewidmet hat und 1838 in den Haitischen Jahrbüchern erscheinen ließ.^’’ Gleich zu Beginn seiner Rezension, welche wissenschaftliche Kritik und aktuelle religionspolitische Auseinandersetzung auf dem Hintergrund der zeitgenössischen gesamtpolitischen Situation in Preußen miteinander zu verbinden sucht, stellt VATKE seinen Kontrahenten als Theologen vor, »der mit gründlicher historischer Gelehrsamkeit ein lebhaftes Interesse für die geistigen Tendenzen der Gegenwart verbindet", um ihm damit zu attestieren, daß er in der Gegenwart »zu der geringen Zahl derer gehöre, welche das Recht des Gedankens und der freien Bewegung der überlieferten Ansicht gegenüber vertreten" (1049 f). In der Tat gründet ROTHE — durchaus überraschend — die liberale Konzeption seiner kirchenhistorischen Spezialuntersuchung programmatisch auf die Rechtsphilosophie Hegels; und dieser Umstand bildet für VATKE den gemeinsamen Boden der prinzipiellen Auseinandersetzung, deren Konsequenzen in Übereinstimmung mit ROTHES Intention gegen die kirchenpolitische Vorherrschaft der protestantischen Orthodoxie gerichtet sind.2® ROTHES Aufarbeitung der frühesten christlichen Kirchengeschichte will (über die innertheologische Zwecksetzung hinaus) auf dem Wege einer kritischen historischen Analyse zu derjenigen Konzeption des Christentums zurückleiten, wie sie ursprünglich in der Urgemeinde ausgebildet worden sei, um sodann den historischen Wandel jener anfänglichen Gemeindebildung — in Orientierung an Hegels Entwurf der politischen Weltgeschichte von Staat und Kirche — bis in die Der vollständige Titel des Werkes von Rothe lautet: Die Anfänge der christlichen Kirche und ihre Verfassung, Ein geschichtlicher Versuch. Erster Band. Buch I—III, nebst einer Beilage über die Aechtheit der Ignatianischen Briefe. Wittenberg 1837. — Vatkes Rezension findet sich in: Hallische Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst. Hrsg, von A. Rüge und Th. Echtermeyer. Halle 1838. No. 132, Sp. 1049—1055, No 133, Sp. 1057—1064; No 134, Sp. 1065— 1072; No. 135, Sp. 1073—1076; No. 143, Sp. 1137—1139; No. 144, Sp. 1145—1152; No. 145, Sp. 1153—1160; No. 146, Sp. 1161—1166. Die Zitation erfolgt im weiteren durch einfache Angabe der Spaltenzahl. Für eine kritische Darstellung der im folgenden stets implizit thematischen religionspolitischen Kontroversen um das Verhältnis von Kirche und Staat im Vormärz bzw. die zentrale Bedeutung dieser Problematik für die Ideologie der Restauration vgl. W. ]aeschke: Staat aus christlichem Prinzip und christlicher Staat. Zur Ambivalenz der Berufung auf das Christentum in der Rechtsphilosophie Hegels und der Restauration. — In: Der Staat. 18 (1979). A. H.2, 349—374.
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Gegenwart zu verfolgen. Der Zweck dieser Darstellung ist jedoch keineswegs eine kritische Konfrontation der so eruierten Urgestalt der christlichen Lehre mit der „positiven" Kirchlichkeit im Staat der Moderne, um letztere als die Deformation jener zu brandmarken. Vielmehr lautet ROTHES These, „daß dem vollendeten religiösen und näher christlichen Leben als Verwirklichungsform die Kirche schlechterdings nicht genüge, sondern nur der Staat, und andererseits, daß der vollendete Staat eine Kirche nicht mehr neben sich habe, sondern das in ihr beschlossene religiöse Leben als ein ihm wesentlich Eigentümliches in sich aufgenommen, und dessen frühere kirchliche Fassung aufgelöst habe" (1051). ROTHES Auslegung der historischen Spannung zwischen Kirche und Staat zugunsten des letzteren als der objektiven Endgestalt der Geschichte zehrt allerdings, wie VATKE als entscheidende These kritisch hervorhebt, von der — im folgenden strittigen — Gleichsetzung des „vollendeten Staates", der sich nach ROTHE aus dem gegenwärtig vorhandenen herausbilden muß, mit der Totalität des „sittlichen Lebens", indem ROTHE den „Zweck" des Staates zugleich die Gesamtheit der „sittlichen" Zwecke umfassen läßt und dergestalt nicht allein die Religion, sondern ebensowohl den „Gesamtorganismus des Kunstlebens“ in die Botmäßigkeit des Staates aufzuheben fordert (1053). Entscheidend für die vorliegende Untersuchung ist jedoch der Umstand, daß ROTHE seine überraschende Vision, der VATKE „auf den ersten Blick etwas Großartiges" nicht absprechen mag, in ausdrücklicher Berufung auf Hegels Lehre vom Staat und im Bewußtsein einer kritischen Radikalisierung des Hegelschen Konzepts durchführt. Sein Modell des „sittlichen Staates" der Zukunft fordert die Auflösung der Kirche und grenzt sich damit, wie aus VATKES kritischer Darstellung hervorgeht, zugleich gegen andere religions- und geschichtsphilosophische Entwürfe eines ,A:hristlichen Staates" ab, wie sie zur gleichen Zeit aus dem restaurativen Geiste der „Heiligen Allianz" etwa von FR. J. STAHL (Die Philosophie des Rechts. 2 Bde. 1830/1833/1837) in polemischer Entgegensetzung gegen die „liberale" Staatslehre Hegels entwickelt wurden. VATKES Auseinandersetzung mit der soeben skizzierten Kernthese ROTHES verdient insoweit Interesse, als mit der von ROTHE (fälschlich) auf Hegels Rechtsphilosophie gestützten Konzeption des „vollendeten sittlichen Staates" erneut und unter gänzlich veränderten Bedingungen die Grundzüge jener systematischen Position wieder zur Geltung kommen, die — wie oben gezeigt — Hegel selbst am Anfang seiner sys.tematischen AusarbeiVgl. für eine kritische Abgrenzung Stahls gegen Hegel die Untersuchung von Jaeschke, (s.o. Anm. 28) insbesondere 368 ff.
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tung der Geistesphilosophie entwickelt hatte. Und indem VATKE sich für seine konsequente Kritik auf Hegels reife Lehre von Staat, Religion und Geschichte bezieht, zeichnet seine Argumentation im Umriß einige Grundgedanken nach, die den Prozeß der systematischen Selbstrevision Hegels im Übergang von der Jenaer zur Berliner Fassung des Systems und damit die Herausbildung der reifen Geschichtsphilosophie bestimmt haben dürften. VATKES Einspruch, in dem sich theologische und philosophische Argumente naturgemäß ergänzen, richtet sich zunächst gegen den „abstractallgemeinen" Charakter, mit dem ROTHE postulatorisch den „vollendeten" Staat als Entwicklungsziel der Geschichte vorstellt. Wenn ROTHE — in vermeintlicher Konsequenz der Hegelschen Lehre — als „Fortschritt des Bewußtseins unserer Zeit" rühmt, „daß sie es aufgegeben hat, in einem abstracten Jenseits das Reich der Wahrheit zu träumen, und stattdessen in diesem irrdischen Diesseits seine Wirklichkeit sucht" (1061), dann warnt VATKE vor dieser „eschatologischen" Fehldeutung des Geschichtsprozesses. Denn in dieser von der bloß „abstracten" Theorie vollzogenen Antizipation des Geschichtsziels einer Aufhebung der Kirche im „vollendeten Staat" wird gerade die notwendige Durchsetzung der objektiven politischen Bedingungen für dieses Vorhaben nicht angemessen berücksichtigt. Zwar steht (in Übereinstimmung mit Hegel) auch für VATKE außer Zweifel, daß die „Wissenschaft kein bloßes Erkennen sein [soll], das sich gegen die Fortschritte der Wirklichkeit gleichgültig verhielte, sie soll vielmehr in ihren Resultaten practisch werden und vom höchsten Selbstbewußtsein aus den Gang des wirklichen Lebens vermitteln und leiten, allein sie wirkt dann immer für die nähere Zukunft und in concreter Weise". Der einschränkende Hinweis auf die „nähere Zukunft" verdeutlicht indessen mit aller Entschiedenheit, daß Hegels Schüler — entgegen einem anderen wirkungsmächtig gewordenen Fehlverständnis der Hegelschen Geschichtsphilosophie — den Übergang der Theorie in die geschichtliche Praxis, wie ihn Hegel in den Grundlinien (vgl. 16) mit der Formel „Hic Rhodus, hic saltus" charakterisiert hatte, als Einbildung des philosophischen Erkennens in die konkrete Politik des Tages begriffen, statt die geforderte Konvergenz von Idee und Wirklichkeit in die historischen Fluchtlinien einer realitätsfernen Spekulation zu verlegen. In diesem durchaus anti-eschatologischen Sinne schärft VATKE als Wahrheit der Hegelschen Geschichtsphilosophie die unvermeidliche Gebundenheit der geschichtlichen Selbstreflexion des Geistes an seinen jeweiligen historischen Topos ein, da das „wahrhafte Selbstbewußtsein des Geistes ... den Standpunkt der historischen Totalentwicklung nicht überschreite" (1060).
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Auf der Grundlage dieser Feststellung, die den (oben dargestellten) Kerngedanken Hegels von der Identität der Philosophie und des geschichtlichen Lebens erneut zur Geltung bringt, skizziert VATKE im Gegenzug zu ROTHES Verständnis der „vollendeten" Sittlichkeit der Moderne seine Antwort auf die Frage nach der Endschaft des weltgeschichtlichen Prozesses. Zutreffend erkennt er, daß ROTHES Gleichsetzung von Staat und Sittlichkeit in Wahrheit der — der geläufigen geschichtsphilosophischen Reflexion innewohnenden — bloßen „Sehnsucht nach einem Zustande der Vollendung" entspringt (1062). Aber ein solcher Zustand müßte als wirkliches Ende der Geschichte deren objektive Realität selbst gleichsam aufzehren und den Begriff des Staates zerstören: „Wollte man alle Momente, welche in der Idee als Totalität des wirklichen Geistes liegen, in die empirische Wirklichkeit heraussetzen, namentlich das Moment der höchsten Allgemeinheit, welches der göttliche Geist in der Weltgeschichte selbst ist: so würde man eben damit die Form und Bedeutung der Wirklichkeit auf heben". (1062) Eben deshalb beharrt VATKE (in explizitem Rekurs auf Hegels Grundlinien § 270 Anm.) auf der von Hegel wohlbedachten Unterscheidung zwischen den „Prinzipien" des Staates und denen des „absoluten Geistes": „Kunst, Religion, Wissenschaft lassen sich nicht auf jenes Princip zurückführen; sie bilden besondere Kreise für sich, welche Kraft der höheren Allgemeinheit des Princips, der absoluten Idee, des Wissens, über den Staat hinausgehen und Selbstzwecke sind, auf der anderen Seite aber auch innerhalb des Staates Dasein und Wirklichkeit erlangen, in den Zweck des Staates eingehen und Einflüsse von ihm erhalten." (1064) Im Unterschied zu VATKE könnte der heutige Leser in diesem dialektisch gedachten „Hinausgehen über den Staat", dessen Absicht doch zugleich darin beruht, den höchsten geistigen „Prinzipien" im geschichtlichen „Menschenwerk" ihre objektive Freiheit zu sichern, einen Nachklang jener programmatischen These wiedererkennen, die Hegel (im frühesten Stadium seiner geschichtsphilosphischen Spekulation) in dem sog. „Ältesten Systemprogramm des Deutschen Idealismus" niedergeschrieben hatte: „Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also auch über den Staat hinaus!"^® Hegels geschichtsphilosophische Konstruktion des „objektiven" und des „absoluten Geistes", die VATKE gegen ROTHE vertritt, sucht die dort aufgeworfene Problemfrage einzulösen. Gerade im Blick auf den in Hegels Geschichtsphilosophie konzipierten Konvergenzpunkt des „objektiven" und des „absoluten" Geistes, als dessen Realisierung die WeltEntwurf. Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. Werke (Kleine Stuttgarter Ausg.). Bd 4. Stuttgart 1962, 309 f.
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In; Hölderlin. Sämtliche
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geschichte gedacht wird, erkennt VATKE, daß hier nicht die »vollendende" Ineinssetzung der »Prinzipien" des Geistes in einem totalisierten Begriff der »Sittlichkeit", sondern das notwendige dialektische Auseinandertreten von »objektivem" und »absolutem" Geist in der historischen Einmaligkeit eines bestimmten Volksgeistes nach Hegel das eigentliche Wesen der Geschichte definiert. Zwar »umschließt der Staat, in seiner concreten Erfüllung gedacht, allerdings jene höheren Sphären, weil er überhaupt die einzige objective Gestaltung des Menschenlebens" (1068) ist. Aber in dieser Funktion bildet der Staat — als Endzweck der (objektiven) Weltgeschichte — nach Hegels und VATKES Verständnis lediglich die notwendige Rechtsgestalt des objektiv organisierten freien Willens, während der wesentliche Inhalt des dergestalt zum Bewußtsein seiner Freiheit fortgeschrittenen Geistes in den Prinzipien des »absoluten Geistes" beruht, die in Gestalt von Kunst, Religion und Wissenschaft in der Vielfalt der historischen Völkergeister ihre empirische Existenz gewinnen. »Selbst den Zustand der Vollendung und eine organisierte Einheit des von den unterschiedenen Sphären erfüllten Staates voraussetzt, würde von Kunst, Religion und Wissenschaft nur die Seite der Erscheinung und das für die Idee der concreten Freiheit practisch Nothwendige und Nützliche in den Begriff des eigentlichen Staates aufgenommen sein, dagegen ihr Begriff kein integrirendes Moment vom Begriff des Staates bilden, weil sonst dieser letztere über sich selbst hinaus und in die Sphäre des absoluten Geistes hinüberginge." (1065) Der zuletzt beschriebene Übergang aber müßte nach VATKES Argumentation eben jenes Resultat des weltgeschichtlichen Prozesses zunichte machen, das in Hegels Geschichtsphilosphie sich als Manifestation des freien Geistes in der Vielheit der verschiedenen Volksgeister darstellt. So trifft VATKES Kritik an dem geschichtsphilosophischen Modell ROTHES zugleich einen bis in die Gegenwart aktuell gebliebenen Typus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, die Hegels Lehre eben jene hybride Vergötzung und metaphysische Überhöhung des totalitären Machtstaates als Geschichtsziel zuschreibt, gegen dessen Etablierung (nach VATKES Hegel-Deutung) in Wahrheit die Unterscheidung zwischen dem objektiven und dem absoluten Geist auf geboten wird). Diese Unterscheidung nämlich, die VATKE als Angelpunkt der Hegelschen Geschichtsphilosphie herausstellt, unterläuft die bei ROTHE geschehene Verwechslung des »vollendeten Staates" mit der »Vorstellung von einem Organismus des geistigen Lebens überhaupt“, der sich nach ROTHE in einer allgemein zusammenschließenden Organisation aller Staaten der Neuzeit als deren gemeinsame »Sittlichkeit" zwangsläufig konkretisiert
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(vgl. 1067 f). Indem ROTHE dergestalt die von Hegel in dem Abriß der Weltgeschichte aus den Grundlinien herausgearbeitete Individualität und Souveränität der verschiedenen Staaten und Völkergeister rückgängig zu machen strebt, gibt er nach VATKE jedoch gerade die (Hegelsche) Erkenntnis der wesentlich geschichtlichen Existenzweise des (freien) Geistes wieder preis, „weil eben der existierende Staat nichts Absolutes ist, noch werden kann" (1067). Genau diese Überlegung aber, die in Hegels Geschichtsphilosophie allererst durch die systematische Revision seiner frühen Philosophie der Sittlichkeit ausgebildet werden konnte und in der Theorie des objektiven und des absoluten Geistes ihre systematische Stütze findet, gibt nach VATKES Interpretation den Blick darauf frei, wie im Ausgang von der nunmehr erreichten welthistorischen Vollendung des absoluten Geistes durch die philosophische Theorie deren praktische Realisierung in der (künftigen) geschichtlichen und d.h. notwendig endlichen Existenz erfolgt. Wie bereits GANS' emphatische Rede vom „Weltmeer der Geschichte" andeutete, fallen auch für VATKE spekulative Theorie (des „absoluten Geistes") und praktisch-geschichtliche Politik als tatsächliche Gestaltung des „sittlichen" Lebens der Gesellschaft nicht in abstraktem Gegensatz auseinander. Vielmehr erblickt die „Speculation nicht in einem gleichzeitigen Nebeneinanderbestehen oder Ineinanderaufgehen die höhere Einheit der besonderen Staaten, sondern im Proceß der Weltgeschichte, welche ebensowohl in ihrer negativen Dialektik die Endlichkeit der besonderen Geister zur Erscheinung bringt, als sie in positiver Weise den wahrhaft allgemeinen Geist erzeugt, oder vielmehr das Organ bildet, woraus er sich selbst hervorbringt". (1067) Weder in der Totalität des „vollendeten Staates", noch in der ebenso totalitären Verfestigung einer durch die Staatsgewalt gestifteten „Sittlichkeit", die ihnen vielmehr als die „durch abstractes Denken zu einem empirisch gedachten Zustande fixirte und aus ihrer flüssigen Beweglichkeit in der Zeit zusammengepreßte Unendlichkeit der Idee" erschien, mochte die frühe Generation von Hegels unmittelbaren Schülern die leitende geschichtsphilosophische Aussage ihres Lehrers erkennen. VATKES Auszeichnung der „negativen Dialektik" im „Proceß der Weltgeschichte" widersprach gleichermaßen einer Verwandlung des politischen Staates etwa in die „christliche Monarchie" im Sinne der „Heiligen Allianz", wie dieser Gedanke auch der RoTHEschen Vorstellung von einem „Gesammtorganismus des Kunstlebens" widerriet, „worin Cultus und Kunst, heilige und profane Kunst usw. schlechthin zusammenfließen" und ein „gegensatzloses, abgestorbenes Bild" hervorbringen, „durch dessen Realität in der That weder der Cultus noch die Kunst gewinnen würden" (1068). Es war nicht allein
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die Spaltung der Hegelschen Schule, sondern vornehmlich der wachsende Druck der politischen Verhältnisse im Vormärz, der den auf jene »negative Dialektik" gegründeten Ansatz einer philosophisch-politischen Geschichtsdeutung im weiteren Gang des 19. Jahrhunderts in die Ohnmacht des historistischen Bewußtseins zerfallen und innerhalb der Wirkungsgeschichte Hegels in Vergessenheit geraten ließ.
KARLHEINZ STIERLE (BOCHUM)
ZWEI HAUPTSTÄDTE DES WISSENS: PARIS UND BERLIN
I. In der ersten Auflage von Meyers Conversaiions-Lexikon aus dem Jahre 1845 heißt es von Berlin: „Das für Preußen so schmeichelhafte Anagramm des lat. Namens seiner Hauptstadt: Berolinum lumen orbi findet seine Bewahrheitung in der großartigen und epochemachenden wissenschaftlichen Thätigkeit, die Berlin in der neuesten Zeit entfaltet und in strahlenden Radien nach allen Seiten hin ausgebreitet hat. Berlins Handel, seine Industrie, seine Kunstleistungen sind gewiß höchst bedeutend, aber in allen diesen Richtungen stehen andere Städte Deutschlands mit der preußischen Hauptstadt auf gleicher Stufe; ja Hamburg, Leipzig, Wien, München u.a.m. übertreffen dieselbe in der einen oder der andern Beziehung; im Reiche der Wissenschaften aber behauptet Berlin unbestritten das Primat in Deutschland und vielleicht auf dem Erdenrund. Es gibt keine Stadt, welche eine solche organisierte Durchbildung des Kulturgeistes aufweisen könnte. Jede Tendenz, jede Fakultät wird hier durch bedeutende Kräfte repräsentiert ... Die Universität ist natürlich das Mittel dieser sonnigen Sphäre, der Brennpunkt, in welchem alle Strahlen Zusammentreffen. Ihre Gründung ist in der Geschichte der Wissenschaften und der Kultur ein wichtiges Ereigniß."! Zwei Jahre später, 1847, schreibt A. ESQUIROS in seinem Buch Paris ou les Sciences, les insliiuHons et les moeurs au XlXe siede über die französische Kapitale: „Cette ville encyclopedique conserve et accrolt Sans cesse dans ses murs le depöt de toutes les connaissances humaines, de toutes les decouvertes utiles. Un des caracteres de cet etre de raison auquel nous avons donne le nom de capitale, c'est en effet l'universalite. Paris resume dans ses etablissemens, dans ses moeurs, dans ses institutions, dans ses travaux, toute la Science multiple du XIXe siecle."^ Die Stadt ist 1 Meyers Conversations-Lexikon. Bd 4. Abt. 4. Hildburghausen 1845, 586. 2y4. Esquiros: Paris ou les Sciences, les institutions et les moeurs au XIXe siede. 2 Bde. Paris 1847; Bd 1.1.
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der Ort, wo die Fortschritte der Menschheit wie in einem Brennpunkt Zusammenkommen: . la marche de la civilisation dans les grandes villes, repete et eclaire la marche de l'esprit humain dans L'univers" (2). Unter allen Großstädten aber betrachtet ESQUIROS Paris als jene, die am vollständigsten das menschliche Wissen des 19. Jahrhunderts versammelt hat und die eben darin ihre welthistorische Auszeichnung findet: ,Si nous voulons savoir ou en est l'intelligence humaine au XIXe siede, nous n'avons qu'ä regarder autour de nous: tout ce qui pense, tout ce qui croit, tout ce qui medite a dans nos murs ses monumens, ses institutions: des academies voilä pour l'intelligence; des eglises, voilä pour la foi; des bibliotheques, voilä pour l'etude; des musees, voilä pour l'art; des ecoles, voilä pour la propagation des lumieres. Ce qui s'imprime, ce qui se dit ä Paris dans les regions elevees, est aussitot repete aux quatre coins du monde. Encyclopedie vivante, notre grande eite contient toutes les Sciences dans ses etablissements publics." (15) Die beiden Texte werfen ein Licht auf eine historische Konstellation. Es ist bemerkenswert, daß in beiden Texten die Hauptstadt als eine Kapitale des Wissens gerühmt wird und daß sie erst als Kapitale des Wissens wahrhaft würdig ist, Hauptstadt zu sein. Die Hauptstadt erscheint so, über alle nationale Begrenzung hinaus, als ein Ort des welthistorischen Fortschritts. Wenn in dem Artikel aus Meyers ConversaHons-Lexikon — wie man annehmen darf, wohl erstmals ^ Paris der Rang einer Hauptstadt Europas durch Berlin streitig gemacht wird, so ist dies gerade nur insofern möglich, als der Stand des Wissens, das die Stadt in sich vereint, zum ausschlaggebenden Maßstab gemacht wird.
II. In kaum fünf Jahrzehnten ist die Landeshauptstadt des kleinen preußischen Königreichs zu einer europäischen Metropole geworden. Wenn aber Paris als eine Hauptstadt der europäischen Moderne das Resultat einer langen, kontinuierlichen Entwicklung ist, so ist die moderne Hauptstadt Berlin wesentlich Projekt. Den Charakter eines Projekts hat sie mit den in der neuen Welt entstandenen und entstehenden Großstädten gemeinsam. Darauf hat erstmals Mme öE STAHL verwiesen, eine der ersten unter den französischen Besuchern der preußischen Hauptstadt, die ihren Charakter
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ZU ergründen suchten.3 In dem Kapitel „Berlin" von De l'Allemagne wird Berlin, „cette ville toute moderne", den modernen Städten Amerikas verglichen und als eine europäische Stadt der geschichtslosen Moderne — im unausgesprochenen Vergleich zu Paris — abgelehnt. „Berlin est une grande ville, dont les rues sont tres-larges, parfaitement bien alignees, les maisons belles, et l'ensemble regulier: mais comme il n'y pas longtemps qu'elle’ est rebätie on n'y voit rien qui retrace les temps anterieurs. Aucun monument gothique ne subsiste au milieu des habitations modernes; et ce pays, nouvellement forme, n'est gene par l'ancien en aucun genre. Que peut-il y avoir de mieux, dira-t-on, soit pour les edifices, soit pour les institutions, que de n'etre pas embarrasse par des ruines? Je sens que j'aimerais en Amerique les nouvelles villes et les nouvelles lois: la nature et la liberte y parlent assez ä l'äme pour qu'öü.^t^piait pas besoin de Souvenirs; mais sur notre vieille terre il faut du rpliMk fterlin, cette ville toute moderne, quelque belle qu'elle soit, ne fait p^ ||He°
VI. Mit der Berufung Hegels im Jahre 1818 tritt ein Mann in den Mittelpunkt von HUMBOLDTS neuer Universität, der die in ihr angelegten Tendenzen zu höchstem Bewußtsein bringt. Hegel ist der Philosoph des neuen Wissens und seiner Institution, der modernen Universität. Hegel hat sich für Berlin in dem klaren Bewußtsein entschieden, dort die Mitte Deutschlands gefunden zu haben, den Ort, in dessen Zentrum er die neue Universität erblickte, in deren Zentrum wiederum seine eigene Philosophie stehen sollte.'*! Hegels Denken dringt ein in die Institutionen des Wissens, die die Universität in sich versammelt und macht sie zum Gegenstand seiner Philosophie: Philosophie der Religion, Philosophie des Staats, Philosophie des Rechts, Philosophie der Geschichte, Philosophie der Kunst. Der aus dem Zentrum heraus denkende Hegel sah sich dabei in innerer Affinität zu NAPOLEON, dem aus dem Zentrum ausgreifenden, die Gegenwart durchdringenden und bestimmenden Politiker und Herrscher, den er als „Weltgeist zu Pferde" tief bewunderte. Schon als Redakteur der Bamberger Zeitung hat Hegel diese Neigung zum Ausdruck gebracht.*2 Der in Gedanken den Weltgeist erfassende und durchdringende Philosoph sah sich dem ReVgl. hierzu die treffenden Bemerkungen von K. Rosenkranz, a.a.O., 79 f (s.o. Anm. 6): „Unter diesen der Allgemeinheit angehörigen Zügen springt zunächst in das Auge, dass um das Schloss herum alle grossen Organe des hohem politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Lebens zu einer Einheit versammelt sind, wie sie sonst nirgens vorkommt. Die Landschaft, die Münze, die Bank, die Kammern, die Commandantur, das Finanzministerium, das Zeughaus, die Börse; — und wiederum die Bibliothek, die Akademie, die Universität, die Kriegsschule; — und endlich die Bauakademie, das Opernhaus, die Singakademie, das alte und neue Museum; alle diese Gebäude liegen in der nächsten Nähe des Schlosses ... Man wird nicht läugnen können, daß in dieser Concentration das Wesen des Preußischen Staats als des Staats der Intelligenz hier zu Erscheinung kommt". **VgI. Hegels Brief an Niethammer vom 9.6.1821. Briefe. Bd 2. 271: „Sie wissen, daß ich hierher gegangen bin, um in einem Mittelpunkt und nicht in der Provinz zu sein." 1*^ Vgl. über die Beziehung des jungen Hegel zu Frankreich O. Pöggeler: Philosophie und Religion beim jungen Hegel. Estratto dagli atti del Convegno di Studi Hegeliani. Istituto della Enciclopedia Italiana, 217—243; über Hegels Rolle in der Bamberger Zeitung W.R. Beyer: Zwischen Phänomenologie und Logik. Hegel als Redakteur der Bamberger Zeitung. Köln 1974 und M. Baum, K. Meist: Politik und Philosophie in der Bamberger Zeitung. In; Hegel-Studien. 10 (1975), 88—127.
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alpolitiker verbunden, der als Vollender der französischen Revolution den Geist der Moderne zur politischen Realität machte. So sehr Hegel ein Bewußtsein vom unwiderruflichen Eigengesetz der modernen Welt hatte, so sehr ihm auch die Bedeutung Frankreichs für diese moderne Welt bewußt war, so wenig sah er den Zusammenhang zwischen ihr und ihrem konkreten Zentrum, dem aus dem revolutionären Umschwung hervorgegangene Paris, das zugleich Kapitale des Wissens und Zentrum der politischen Bewegung war. Die Bemerkungen Hegels zu Paris sind mehr oder weniger belanglos. Am erstaunlichsten aber ist Hegels eigene Begegnung mit jener Stadt, aus deren Erfahrung die Idee eines neuen Berlin als einer Hauptstadt des Wissens hervorgegangen war. Hegel verbrachte im Jahr 1827 einen Monat in Paris.Djg Briefe an seine Frau geben Einblick in Hegels Erfahrung der Stadt, die von ihm selbst emphatisch als „Hauptstadt der zivilisierten Welt"^^ angesprochen wird, womit er freilich nur einen Gemeinplatz der Zeit wiederholt. Die Unmittelbarkeit der Erfahrung macht den Philosophen stumm. Hegel, der Maulwurf, aus dem Bau seines Systems ans Licht der Wirklichkeit herausgetreten, sieht nichts. Er sieht die Stadt nur als überwältigende Anwesenheit übergroßer'Mengen: „Aber hier überwältigt mich die Menge der großen Gegenstände, die ich bereits gesehen und durchlaufen, d.h. von außen." (Br. 3.184) Hegel umgibt sich mit einer Bibliothek, „um die Interessen und Gesichtspunkte des [französischen] Geistes näher studieren und kennen" (Brief v. 9.9., Br. 3. 185) zu lernen, aber er gewinnt keine Einsicht in das Leben dieser modernen Großstadt, auch keine Einsicht in den Zusammenhang von Institutionen des Wissens und Zirkulation des Wissens. Alles erinnert ihn nur an Berlin, wenngleich in größerem Umfang: „Gehe ich durch die Straßen, sehen die Menschen grade aus wie in Berlin, alles ebenso gekleidet, ungefähr solche Gesichter, derselbe Anblick, aber in einer volkreichen Masse." (3.9; Br. 3. 184). Hegels Lieblingsbeschäftigung ist der Besuch des Theaters, wo er auch Drittrangiges nicht ausläßt, Amüsement für den bescheidenen Geldbeutel. Ansonsten läßt er sich von COUSIN herumführen, auch ins Institut, ohne daß dies alles auf ihn größeren Eindruck machen würde. Er besucht die
■•3 Zu Hegels Aufenthalt in Paris vgl. Hegel in Berlin. Preussische Kulturpolitik und idealistische Ästhetik. Zum 150. Todestag des Philosophen. Ausstellungskatalog der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin 1982, 162—170: Hauptstadt der zivilisierten Welt: Paris (verfaßt von Otto Pöggeler). Brief v. 3. Sept. 1927; Briefe. Bd 3. 183. Zu Hegels Reisebriefen vgl. auch die Briefe aus Paris und Frankreich im fahre J.830 (Leipzig 1831) von F. Raumer, der Hegel auf seiner Reise begleitet hatte.
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Nationalbibliothek, ^wo aber gegenwärtig Ferien sind" (Brief vom 30. Sept.; Br. 3.195). Hegel fühlt sich von der andringenden Vielheit wie betäubt und reagiert eher gequält, ohne Enthusiasmus: „Du bemerkst, daß ich nicht mit solchem Feuer und Enthusiasmus von Paris schreibe wie aus Wien." {Br. 3. 197) Grund ist vor allem, daß man sich länger aufhalten müsse, „um in gründlichere Bemühungen und Eindringungen zu kommen. Er ist ein höchst interessanter Boden, aber etliche Wochen reichen nur hin, um aus der Betäubung hinaus und zur Gewohnheit des Glänzenden und Mannigfaltigen zu kommen." Hegel folgt zum Spott COUSINS bei seinen Besichtigungen brav dem Manuel des Etrangers und sieht nichts anderes als was der Reiseführer ihn anweist zu sehen. Der konkrete Geist bleibt dem, der sich allzulange mit dem absoluten Wissen und dem absoluten Geist beschäftigt hat, verschlossen. Doch wird auch — erstaunlich genug — ein Schlachthaus besichtigt, und Hegel fragt sich selbst erstaunt: „In welcher Stadt der Welt würde ich nach einem Schlachthaus fahren?" (30. Sept.; Br. 3. 197) Aber es ist eine „der Merkwürdigkeiten, die Paris noch NAPOLEON — wie hundert anderes Große — verdankt." Auch die Börse — „welch ein Tempel" — findet seine Bewunderung. Immer wieder ist Paris für Hegel die Erscheinung des Überflusses und des Reichtums in jeder Hinsicht. So rühmt er die Großartigkeit der Bauten, in denen die Pariser wissenschaftlichen Einrichtungen untergebracht sind, er bewundert den Jardin des Plantes mit seinen Sammlungen und Menagerien: „Alle dies ist natürlich drei-, vier-, zehnfach ausgedehnter, weitläufiger, bequemer als bei uns, alles zu der unmittelbaren Benutzung des Publikums, und doch alles so beschützt, daß die Verderbnis abgehalten wird." Besonders aber schwärmt Hegel über das „Palais Royal, das Paris in Paris, die unendliche Menge von Boutiquen" und den „Reichtum der Waren, der schönsten Juwelier- und Bijouterieläden" (26. Sept.; Br. 3. 186). Vergleicht man Hegels bestimmt nicht zur Veröffentlichung gedachten Briefe mit denen der Deutschen, die um die Jahrhundertwende staunend und begeistert das neue Paris erlebten und die Hauptstadt zuerst als eine Kapitale des Wissens erfuhren, so wird der Abstand bewußt. Es scheint, als habe Hegel im nachnapoleonischen Paris nichts finden können, was ihn über seine Berliner Erfahrungen wesentlich hinausgeführt hätte. Der Philosoph aus der kleinen fernen Hauptstadt, die er selbst mit zu einer Hauptstadt des Wissens gemacht hatte, war dieser Stadt nicht bedürftig. Insbesondere ermangelt ihm jeglicher Sinn für ihre konkrete Organisation, ihren Strukturzusammenhang. Erst Hegels Schüler ROSENKRANZ tut den Schritt, zu dem Hegel selbst sich noch nicht gedrängt fühlt, indem er in
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einem ersten großen Vergleich von Paris und Berlin den Geist der Hauptstadt aus ihrer manifesten topographischen Struktur zu verstehen sucht.
VII. Ein Jahr vor Hegels Todesjahr setzte in Frankreich eine bürgerliche Revolution dem verhaßten Regime KARLS X. ein Ende. Damit beginnt eine neue, von liberalem Hochgefühl getragene Epoche der öffentlichen Meinung und des wirtschaftlichen Aufschwungs. Zugleich setzt mit diesem politischen Wegzeichen im europäischen Kontext eine neue Epoche der deutschen Parisbeschreibung ein. HEINE und BöRNE, die mit enthusiastischer Erwartung das neue Paris aufsuchen, das ihnen als Mittelpunkt einer neuen, erst noch werdenden politischen Welt erscheint, berichten von ihren täglichen Erfahrungen in einer neuen, zukunftsweisenden Schreibart, die sich von der oft dilettantischen und oberflächlichen feuilletonistischen Schreibart der vorausliegenden Tradition der Paris-Briefe wesentlich unterscheidet. Während für Hegel geschichtsphilosophisches Wissen und konkrete, unmittelbare Erfahrung getrennte Bereiche bleiben, dringt der geschichtsphilosophisch geschulte Blick der HEINE und BöRNE ins Konkrete der täglichen und alltäglichen Szenerien und Begebenheiten ein und sucht in den Bildern der Erfahrung den Ausdruck einer historischen Signatur. HEINES Französische Zustände (1832), aus Berichten an die Allgemeine Zeitung hervorgegangen, und BöRNES Briefe aus Paris (1832—1833) sind Berichte über das tägliche Werden des Zeitgeistes selbst in seinem Mittelpunkt.Bei HEINE und BöRNE bekommt der Begriff des Zeitgeistes, der bis dahin eher zeitkritisch verwendet worden war, eine neue Bedeutung. Alles was Signatur der Zeit ist, im öffentlichen wie im privaten Raum, in den Sphären der Mode, der Kunst, der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Politik, kommt zur Darstellung in raschen, scharf beleuchteten, dialektisch beweglichen Portraits. „Eine neue Kunst, eine neue Religion wird hier geschaffen und lustig tummeln sich hier die Schöpfer einer neuen Welt."^* In der Schreibart soll der Elan dieser neuen Welt zur Darstellung kommen, und zwar in explizitem (soweit die Zensur dies toleriert) oder implizitem Kontrast zu den deutschen VerhältDas Neue dieser Schreibart wird besonders deutlich, wenn man Börnes Briefe mit seinen Schilderungen aus Paris (1822—1823) vergleicht. Französische Zustände. In: Heinrich Heines Sämtliche Werke. Hrsg, von O. Walzel. Bd 6. Leipzig 1912. 134. Paris ist das „Pantheon der Lebenden", „nicht bloß die Hauptstadt von Frankreich, sondern der ganzen zivilisierten Welt."
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nissen. Bei BöRNE und HEINE wird die Form des Briefs zur literarischen Kunstform der Moderne. Beständig wechseln die Gegenstandsbereiche dieser veränderlichen Welt, deren geschichtliche Einheit die Einheit des Tages ist, und ebenso die Tonlagen und Einstellungsweisen, vom Pathos zur empfindsamen Ironie in der Art STERNES, zur Kritik, zum Sarkasmus, zur distanzierten Beschreibung. Alle Diskurse, alle Einstellungsweisen werden in dieser Sprache des modernen Feuilletons verwendet und eingeschmolzen in die große Bewegung des Zeitstils.HEINE findet für die neue Schreibart das Bild einer neuen, viel bewunderten Technik der Wiedergabe des Wirklichen selbst, der Daguerreotypie. Im Vorwort von Lutetia, HEINES zweitem großem Parisbuch, in dem er seine Erfahrungen vom Paris der vierziger Jahre zusammenfaßt, versteht er sich als Geschichtsschreiber, der in einem neuen Diskurs außerhalb der Tradition der Geschichtsschreibung „das Bild der Zeit selbst in seinen kleinsten Nüancen ... liefern"^8 will. So erhält zugleich die Kunst gegen alle Tradition ein neues Ziel: nicht mehr das Dauernde, Bewegliche, sondern das Flüchtige, die Gestalt der Zeit selbst zur Darstellung zu bringen. „Ein ehrliches Daguerreotyp muß eine Fliege ebensogut wie das stolzeste Pferd treu wiedergeben und meine Berichte sind ein daguerreotypisches Geschichtsbuch, worin jeder Tag sich selber abkonterfeite, und durch die Zusammenstellung solcher Bilder hat der ordnende Geist des Künstlers ein Werk geliefert, worin das Dargestellte seine. Treue authentisch durch sich selbst dokumentiert." (9) Freilich ist diese „geschichtsgetreue" Darstellung bezogen auf die Subjektivität eines Bewußtseins, das für den historischen Augenblick sensibel ist und ihm zugleich mit Bildern oft fernster Erfahrungsbereiche begegnet. Auch für BöRNE ist Paris die Stadt, in der der öffentliche Geist alles durchdringt. Paris ist unvergleichlich darin, wie der öffentliche Geist alles Neue in sich aufnimmt und Neues aus sich hervortreibt. „In Deutschland gibt es keine große Stadt. Von Wien ist gar nichts zu sprechen, und von Berlin nicht auf das Beste. Zwar ist dort mehr Geist zusammengehäuft, als vielleicht in irgendeinem Ort der Welt; aber er wird nicht fabriziert, er kömmt nicht in den Kleinhandel, es ist nur ein Produktenhandel. Es gibt in Berlin geistreiche Beamte, geistreiche Offiziere, geistreiche Gelehrte, geistreiche Kaufleute, aber es gibt kein geistreiches Gesamt-Volk."^’ Ein Heines neuer Schreibart vgl. die grundlegende Darstellung von W. Preisendanz: Der Funktionsübergang von Dichtung und Publizistik bei Heine. In: Die nicht mehr schönen Künste. Poetik und Hemeneutik. Bd 3. Hrsg, von H. R. Jauss. München 1969, 343—374. Bisher wurden vornehmlich die religionsphilosophischen Konzeptionen Schleiermachers und Hegels verglichen. Ihre jeweilige praktische Philosophie gegeneinander abzuwägen, wäre eine interessante Aufgabe. Im folgenden können vorerst nur einige Grundzüge herausgearbeitet werden.
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an. Aber Hegel begreift die Systemglieder als Stufen eines fortschreitenden Prozesses, SCHLEIERMACHER als auseinanderstrebende und sich wieder verknüpfende Zweige. So beschreibt Hegels Philosophie des Geistes einen Entwicklungsgang, der auf die Stufen des objektiven Geistes (Recht, Moral, Sittlichkeit) die Stufen des absoluten Geistes (Kunst, Religion, Philosophie) aufbaut und der so in der Philosophie zum Abschluß kommt. SCHLEIERMACHERS Ethik, die er gelegentlich die „Wissenschaft des Geistes" nennen kann (]NA Bd 1. 467)i°, stellt die genannten Kultursphären gleichberechtigt nebeneinander. Das System bleibt offen wie die Wirklichkeit, und nur die vernünftige Entwicklungsrichtung wird projektiert. Für Hegel ist es derselbe Geist, der die geschichtliche Welt hervorbringt und der sie in der Philosophie begreift. Und da nur die Philosophie zu sagen vermag, was Staat, Kunst und Religion sind, stellt er die Philosophie an das Ende und die Spitze des Systems. Auch für SCHLEIERMACHER ist es dieselbe Vernunft, die ihre Funktionen ausdifferenziert und sowohl Recht, Geselligkeit und Religion wie auch Wissenschaft hervorbringt. Aber da die Wissenschaft nicht die Funktion der anderen Bereiche übernehmen und sie ersetzen kann, stellt er sie diesen gleich. Bei SCHLEIERMACHER ist mit der Trennung der Vernunftfunktionen und der sittlichen Gemeinschaften ein Gewinn an individueller Freiheit verbunden. Für Hegel ist eben dies Aufbrechen individueller Freiheit und individuellen Selbstbewußtseins die einzig wesentliche Differenzierung der Vernunft, — und zwar nicht ihre harmonische Entfaltung, sondern ihre dramatische Selbstentzweiung, die das Ende der antiken Polis bedeutet (P/iR §§ 124, 185).11 Die modernen Staaten, die das neue Prinzip, die Subjektivität, und damit Moralität wie Egoismus in sich aushalten und zur Geltung kommen lassen, haben deshalb auch eine neue, ebenfalls differenziertere Struktur: An die Stelle von Oikos und Polis treten Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat, und durch dies neue Phänomen der bürgerlichen Gesellschaft erhalten auch Familie und Staat einen neuen, anderen Charakter. Mit der bürgerlichen Gesellschaft hat Hegel eindeutiger als SCHLEIERMACHER der modernen Wirtschaft einen Ort gegeben. SCHLEIERMACHER andererseits hat alle anderen kulturellen Tätigkeiten sogleich auch institutionell verankert, wohingegen Hegel das Interpretationsproblem hinterließ, die Gestalten des absoluten Geistes auf die drei Bereiche der sittlichen Welt zu beziehen. 1“ YIA = Fr. D. £. Schleiermacher: Werke. Auswahl in vier Bänden. Hrsg, von O. Braun u. J. Bauer. Leipzig 21927/28. ” PhR = Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg “1955.
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2. SCHLEIERMACHERS Kulturphilosophie — das haben die Interpreten seiner Staatslehre in ihrer Suche nach dem Nationalheros übersehen — vollzieht eine Depotenzierung des Staates.Denn dieser hört auf, als Grund des gesellschaftlichen und menschlichen Lebens begriffen zu werden. Familie, Religion, Wissenschaft haben nicht mehr ihre Funktion im Staat, sondern der Staat hat neben diesen seine Funktion in der Kultur. Ethik und Staatslehre übergeben ihm als sein „eigentliches Dominum" das identische Organisieren, „den Naturbildungsprozeß der Erde", die gemeinsame Naturbeherrschung (SL 13). Wenn er dadurch die „äußere Subsistenz" der anderen Institutionen sichert (SL 14,39), so begründet dies keine Vorrangstellung; er erfüllt lediglich die Funktion, auf die ihn die Kultur eingrenzt. Der Staat wird auch bei SCHLEIERMACHER erst durch die Konstitution des Rechts und durch die Legitimation der Macht zum Staat. Aber er formiert sich nicht bloß zum Schutz der Individuen und ihres Eigentums, sondern zur gemeinsamen Beherrschung der Natur. Deshalb nimmt es nicht Wunder, daß die Ökonomie nun eine zentrale Stellung in der Staatslehre erhält. Frühe Vorlesungsnotizen (1808-1814), die den Staatsbegriff aus der „Idee der Cultur" entwickeln, beginnen mit der Gewinnung und Bearbeitung von Naturstoffen und kommen erst über Arbeitsformen, Nationalreichtum und -bildung ganz zuletzt zur Verfassungslehre (SL 219 Nr. 4). Laut DILTHEY ist hier ein Weg angebahnt, den später G. SCHMOLLER weiterverfolgte.Die uns zugänglichen, ausgearbeiteten Vorlesungsentwürfe beginnen dann doch mit der „Staatsverfassung". Die durch den Ansatz der Ethik begründete Dominanz der Ökonomie bleibt aber bestehen, da die Verwaltung zur Hauptaufgabe des Staates erklärt wird. Der Staat übt zwei Funktionen aus, eine „verwaltende" und eine „erhaltende" (SL 224 Nr. 24), die beide die Verfassung bestimmen. Dominiert der Einfluß der Verwaltung, resultiert ein „industriöser Staat"; dominiert die erhaltende Funktion, die Verteidigung, ergibt sich ein „militärischer Staat" (SL 39). Nur der „Industriestaat" genügt den Anforderungen der Kultur; und so besteht die „Aufgabe... allen Störungen der Entwicklung des industriösen Staates zuvorzukommen' (SL 40). Der eigentliche Staat, der Kulturstaat, ist damit der Verwaltungsstaat, der sich die Organisation der auch notwendig mechanisch betriebenen Naturbeherrschung zum Zweck macht. (Der reine Vgl. G. Holstein: Die Staatsphilosophie Schleiermachers. Bonn 1923 (Repi. Aalen 1972). — £. Müsebeck: Schleiermacher in der Geschichte der Staatsidee und des Nationalhewußtseins. Berlin 1927. — Nur Schleiermachers Brouillon zur Ethik von 1805/06 zeichnet den Staat gelegentlich „als die zur höchsten Potenz erhobene Kultur" aus (£ 110). Aber auch hier ruht der Staat „ganz auf der Basis der Kultur' (ebd.). W. Dilthey: Ges. Sehr. Bd 14. 379, 390, 399 f.
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Agrarstaat ist unvollkommen (SL 44)). Und erst der friedliche kommerzielle und intellektuelle Verkehr zwischen solchen entwickelten Verwaltungsstaaten eröffnet den Weg zu Staatenbund und dauerhaftem Frieden. SCHLEIERMACHERS Staatslehre bietet allerdings eine Schwierigkeit: Dem Verwaltungsstaat wird einerseits die Naturbeherrschung unterstellt, andererseits aber sind Wirtschaft und Markt keine staatlichen Veranstaltungen (vgl. SL 87). Sucht man für sie einen Ort im Gefüge der Kultur, so finden sich lediglich Haus, Kirche, Akademie. Mithin scheint die exemplarisch von Hegel durchgeführte Differenzierung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft zu fehlen („bürgerlich" heißt bei SCHLEIERMACHER noch so viel wie „staatlich"). Aber ähnlich wie Hegel ist auch SCHLEIERMACHER der Meinung, „daß die Vielheit und Differenz vom Einzelnen ausgeht, die Einheit aber vom Staate" (SL 237 Nr. 98; vgl. £ 339). Die Frage nach dem Ort der Wirtschaft löst sich durch genaueren Blick auf die Methode, die alle Gegensätze sich überschneiden läßt. In solchem Überschneidungsgebiet liegt die Wirtschaft: zwischen dem Staat, der als Verwaltung die Gemeinschaft repräsentiert, und dem Einzelnen, der sich im Haus eine Sphäre der Privatheit und des Eigentums errichtet. Der Konstruktion zufolge bilden sich beide Pole, Staat und Haus/Eigentum, wechselseitig heraus: Wirkliches, d.h. anerkanntes und gesichertes Eigentum gibt es erst im Staat, und ein wahrer, gelungener Staat existiert nur dann, wenn den Bürgern Eigentum und ein Bereich individuellen Verfügens gewährt ist. Produktion und Gewerbe nehmen ihren Anfang im Haus und in der Aktivität des Einzelnen; da aber in der arbeitsteiligen Gesellschaft die Subsistenz des Ganzen von Beziehung und Verkehr der einzelnen untereinander abhängt, greift der Staat in dies Beziehungsgeflecht ein und korrigiert Fehlentwicklungen: Er steuert das Verhältnis von Produktion und Konsumption, weckt Interesse am Boden und schränkt den Geldhandel ein. So bleibt die Privatheit des Hauses unangetastet, aber das von ihm ausgehende Gewerbe wird Gegenstand der Staatsverwaltung. Also ist SCHLEIERMACHERS Staat nicht bloß liberalistisch, „das bloße Mittel zum Zwekk, welcher ist die Totalität der Privatinteressen" (SL 16). Als bloße „Criminalanstalt" oder J^echtsanstalt" (£ 337 f) genügt der liberale Staat nicht seinem Anspruch, eine sittliche Gemeinschaft zu sein. Das wird besonders durch seinen pädagogischen Auftrag deutlich: Ihm obliegt — durch die schulische Erziehung — die allmähliche Tilgung der Standesunterschiede und die Ausbildung eines gemeinsamen, alle Bürger einschließenden politischen Bewußtseins (SL 121 ff.). Allerdings hat er diese Funktion nur solange inne, wie die tradierte Ungleichheit währt und insofern die Arbeitsteilung ein Gesamtbewußtsein verhindert. Weitergehende
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staatliche Eingriffe in die Erziehung sind schon Eingriffe in die Freiheit der andren Kultursphären.Im Sinne der Differenzierung verzichtet der Staat auch, sich als christlicher Staat zu etablieren (SL 70 f). Hätte Hegel den Begriff des höchsten Gutes aufgenommen, er hätte ihn dem Staat reservieren müssen, da ihm dieser die „Wirklichkeit der sittlichen Idee" war (PkR 257, vgl. §§ 258,260). Im Staat das höchste Gut zu erblicken, war aber für SCHLEIERMACHER Kennzeichen und Mangel der Antike (£ 337; SL 37). Hegel erklärte den Staat zur letztlich bindenden Gemeinschaft — und hinterließ das Problem der individuellen und demokratischen Freiheitsrechte. SCHLEIERMACHER erklärte den Staat zu einer Gemeinschaftsform neben anderen — und hinterließ ebenfalls ein Problem: die Frage nach der Entscheidungsbefugnis bei Kollision zwischen den Gemeinschaftsformen. Beide Autoren haben ihr Problem eingedämmt: Hegel gewährte der individuellen Freiheit den Raum der bürgerlichen Gesellschaft im Staat und projektierte eine Konstitution. SCHLEIERMACHER begrenzte sorgfältig die Kompetenzen seiner Institutionen. Er hat den eindeutig liberaleren Staatsbegriff. Aber Hegel hat bei aller Verklärung des Staates den deutlicheren Blick für das negative Moment in den modernen Staaten, für Interessenkampf und Verelendung, während SCHLEIERMACHERS Theorie der Arbeitsteilung mehr auf die Konsequenzen für Politik und Bildung abhebt. Beide verfolgen mit gänzlich anderer Methode eine ähnliche Zielsetzung: Hegel möchte die in seiner Zeit sich feindlich verhaltenden Gebiete Staat, Religion, Philosophie dadurch zusammenführen, daß er ihre gemeinsame Wurzel zeigt. SCHLEIERMACHER erwartet ihre Zusammenstimmung aber gerade von ihrer Trennung, von ihrer Beschränkung auf ihr jeweiliges Gebiet. So verdankt sich der moderne Staat bei Hegel der Substanz des Christentums, und die Philosophie erscheint als das Bewußtsein des Staates. Die grundsätzliche Freiheit von Religion und Philosophie vom Staat schien ihm nicht sinnvoll (PhR § 270), da sie nur im Staat ihr Dasein haben können und mit dem Staat die Herkunft teilen und da der Staat selbst Dasein der Freiheit ist. SCHLEIERMACHER aber betont, daß das Christentum sich unabhängig vom Staat entwickelt habe und unabhängig von ihm bleiben müsse ( SL 71); anders als bei Hegel { PhR § 270) darf hier der Staat nicht einmal die Zugehörigkeit zu einer beliebigen Religionsgemeinschaft fordern ( SL 207). Trotz dieser grundsätzlichen Divergenzen gibt es Annäherungen und Vergleichbarkeiten zwischen den Theorien. Auch bei SCHLEIERMACHER hat i'*Vgl. Qber den Beruf des Staates zur Erziehung (1814). In: WA Bd 1.495 ff. — F. Kade: Schleiermachers Anteil an der Entwicklung des preußischen Bildungswesens. Leipzig 1925.
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die Religionsfreiheit Grenzen, nämlich dort, wo die Religionsausübung mit den Prinzipien des modernen Staates kollidiert ( SL 66, 208). Die Trennung von Staat und Religion ist nicht allen Religionen, sondern dem Christentum gemäß, und sie verdankt sich — analog zu Hegel — der christlich bestimmten Geschichte (vgl. E 340 § 513). Umgekehrt gewährt auch bei Hegel der Staat, und nur der Staat, Konfessionsfreiheit. Beide tragen dem modernen Prinzip der subjektiven Freiheit Rechnung. Aber während Hegel es in den Staat hineinnimmt, stellt SCHLEIERMACHERS es dem Staat eher gegenüber. Jedoch auch bei Hegel hat der Staat an diesem Prinzip seine Grenze, da die „Sphäre der Innerlichkeit ... als solche nicht das Gebiet des Staates ausmacht" ( PhR § 270). Ein grundsätzlicher Unterschied liegt scheinbar schon im Standpunkt begründet: SCHLEIERMACHERS nimmt diesen in seiner Ethik und Staatsphilosophie über dem Staat, in der Kultur, aber Hegel augenscheinlich im Staat; denn bei jenem hat der Staat seine bestimmte Funktion in der Kul.tur, bei diesem ist er absoluter Selbstzweck (PhR §258). Dennoch erlaubt Hegels teleologisch konzipiertes System eine Interpretation, die ihn SCHLEIERMACHER hier näher bringt: Denn wenn der absolute Geist (Kunst, Religion, Philosophie) die „Grundlage"^® des objektiven Geistes (und d.h. des Staates) ist, dann bestimmt der absolute Geist (die „Kultur") den Staat, und dieser ist lediglich der Ausdruck von jenem. Freilich bereitet Hegels System die Verständnisschwierigkeit, daß einmal der Staat absoluter Selbstzweck und einmal der absolute Geist Zweck des Staates ist, während bei SCHLEIERMACHERS sich die Sachlage eindeutiger darstellt: Im Sinne des KANxischen Organismusberiffes sind die Kultursphären jeweils Zweck an sich selbst wie auch Mittel für das Ganze.
3. Zugleich mit dem gelungenen Staat entsteht laut SCHLEIERMACHER die „freie Geselligkeit" und das „Haus", der eigentliche Ort der persönlichen Freiheit, den der Staat nicht beeinträchtigen darf (z.B. £ 341). SCHLEIERMACHER nimmt hier die traditionelle „Ökonomie", die Lehre vom Haus, aus der ARiSTOTELischen praktischen Philosophie in seine Ethik auf. Aber unter den Bedingungen der modernen städtischen Kultur hat diese Lehre einen neuen, anderen Sinn: Denn das Haus ist nicht die wirtschaftliche Basis und die (relativ) autonome Zelle des Staates mit eigener Hierarchie, mit dem Hausvater oben und dem Gesinde unten. Es ist der Ort der Familie, des freundschaftlichen und geselligen Verkehrs, des Verfügens über Sa15 PAR § 270. WW Bd 8,334.
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chen nach Kriterien des individuellen Geschmacks. Zugleich ist das Haus der Ort des Eigentums und der Beginn des Gewerbes. Das macht nun eine Unterscheidung im Begriff des Eigentums nötig: Die Lehre vom Haus betrachtet nicht die rechtliche, sondern die sittliche Seite des Eigentums (£ 437 f, 581 ff). Und diese besteht darin, daß es von der Eigentümlichkeit des Eigentümers seinen unverwechselbaren Charakter empfing. Bewußt macht sich SCHLEIERMACHER hier die Wortverwandtschaft von Eigentum und Eigentümlichkeit (Individualität) zunutze (£ 451, 437 f); aber dies läßt gerade keinen Schluß auf den Zusammenhang zwischen Individualitätskategorie und liberaler Wirtschaftsgesellschaft zu. Denn das sittliche Eigentum — im Unterschied zum bloßen Besitz (£ 368 f) — ist so unübertragbar und dem Handel entzogen wie die unübertragbare Individualität der Person (£ 437, 581). Nur als Bedingung der Selbstverwirklichung und des freundschaftlichen Verkehrs und als Gastgeschenk findet es Verwendung (£ 288 f). Wie zur Person wesentlich gehört, sich sowohl als besondere zu setzen wie in einer Wir-Gemeinschaft aufzuheben (£ 271), so gehört zu ihrem Privatbereich auch beides, das Sich-Abschließen (Haus) und das Sich-Öffnen (Gastfreiheit) (£ 286,619). Der Akzent liegt auf der letzteren, sie macht das Haus erst wahrhaft sittlich (£ 289), und der Titel des ethischen Bereiches lautet deshalb zumeist »freie Geselligkeit" (z.B. £ 366). Frei ist sie einmal von der Staatsaufsicht, sodann von äußeren Zwecksetzungen. Frei ist sie aber nicht von Konventionen. Jede gesellige Verbindung, jede Gesellschaft hat ihre Sitte und ihren Ton (£ 367). Diese sind bestimmt durch das jeweilige Niveau der Bildung. SCHLEIERMACHER, der die tradierten Standesunterschiede ausgeglichen sehen möchte, begründet hier einen »sittlichen Begriff" des Standes, indem er eine Stufung der Gesellschaft nicht nach »äußeren Kennzeichen", sondern nach »innerer Qualification", nach der Bildung annimmt (ohne eine Hierarchie zu nennen) (£ 366 f).i* Seine Theorie des geselligen Betragens (1799), eine frühe Ausarbeitung zur Ethik der freien Geselligkeit, versteht den freien Austausch von Gedanken und Empfindungen bewußt als den Ausgleich der Einseitigkeiten und als die Überbrückung der Trennungen, die im arbeitsteiligen Berufsleben der Bürger gründen {WA Bd 2. 3-31). Da aber geselliger Verkehr einen jeweils gleichen Grad der Bildung voraussetzt, können die durch die Arbeitsformen vorgegebenen sozialen Schichtungen im Bürgerstand freilich nicht überwunden werden; denn es ist »nicht möglich, daß sich mit den niedrigIn seiner Staatslehre gebraucht er für die soziale Schichtung dann auch den Begriff der Klasse. SL 126.225.
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sten Culturarbeiten eine solche Bildung vertrage" (SL 118). So vermag die freie Geselligkeit nur innerhalb einer Schicht die Arbeitsteilung zu kompensieren. Der Abbau der mechanischen Tätigkeiten durch Maschinen kann und soll dies ändern (£ 657). Laut N. LUHMANN17 bezeichnet SCHLEIERMACHERS Theorie des geselligen Betragens die historische Wende, an der das Bürgertum an die Stelle des Zeitvertreibs des Adels die Muße bringt, eine Aufhebung der Zeit zur Verwirklichung der Individualität. Nun ist die Selbstrealisation, wie wir zeigten, gerade nicht auf die freie Interaktion in der Geselligkeit beschränkt, sondern erfordert das ganze Viergespann der Kultur. Sozialgeschichtlich zu ergänzen ist, daß bei SCHLEIERMACHER nun das Bürgertum das Vorrecht des Adels, „ein Haus zu machen"i®, als Recht der Menschen überhaupt reklamiert, ebenfalls einen weitverzweigten geselligen Verkehr entfaltet und nur — anders als der Adel — vom Haus den Beruf weitgehend abtrennt (nur für die Frau fällt noch beides zusammen {WA Bd 2. 22)). Wenn LUHMANN einen „Pferdefuß" in der Einengung der Individualitäten durch die Sitte entdeckt, so bleibt doch entscheidend, daß nun Individualität selbst als Wert anerkannt wird, während die „Hofmänner" abgeschliffene Individuen zugunsten einer starren Konvention wünschen {WA Bd 2. 14). Die zweckfreie Entfaltung der Individualität ist für die freie Geselligkeit sogar so sehr konstitutiv, daß die systematische Zuordnung des Hauses zum „Organisieren" (Naturbeherrschung) fraglich wird, und sich eine Annäherung dieses Bereichs an das „individuelle Symbolisieren", an die Kunst vollzieht: Das Eigentum des Hauses ist als Selbstdarstellung der Person „künstlerisch gebildet" (£ 184) und der zweckfreie Gedankenaustausch, das „freie Gespräch", gehört dem „künstlerischen" Denken an.i^ Die Orientierung an der städtischen Kultur hat aus der ARiSTOTELischen Ökonomie eine Lehre der geselligen Muße und des individuellen Geschmacks gemacht. Es ist nun ein Privatraum, der sich von Arbeitssphäre und Öffentlichkeit unterscheidet, eine Trennung, zu der das Altertum nicht fähig war. Signifikant ändert die in diesem Raum beheimatete Freundschaft ihren Charakter. Während sie nach ARISTOTELES „die Staaten erhält und den Gesetzgebern mehr am Herzen liegt als die Gerechtigkeit"2°, ist sie nun nicht mehr — wie SCHLEIERMACHER sagt — „der innere
N. Luhmann: Gesellschaftssiruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd 1. Frankfurt/M 1980, 158-161. i*Vgl. R. Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Stuttgart 1967. 79. i«f. Schleiermachers Dialektik. Hrsg, von R. Odebrecht. Leipzig 1942. 7 f. 20 Aristoteles: Nikomachische Ethik 1155 a.
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Kern des Staates", sondern die offene gegenseitige Mitteilung von Gesinnung und Gefühl und nähert sich deshalb eher der Kirche (£ 126 f). Natürlich war die erste und wichtigste Erfahrungsgrundlage für SCHLEIERMACHERS Theorie der freien Geselligkeit sein Verkehr in den Salons der reichen jüdischen Familien Berlins, zu denen er schon als Prediger der Charite Zugang hatte. Ohne Rücksicht auf die Religions- und Standesgrenzen galt hier ein neues Auswahlkriterium für die Gesellschaftsfähigkeit: das Maß an Anregung, das man durch Temperament und Bildung der Gesellschaft beisteuern konnte. So trafen sich hier arme Literaten, Professoren, reiche Bürger, Beamte und adlige Militärs, angezogen von der Lebendigkeit des geistigen Austausches, — aber auch von Schönheit und Bildung der jüdischen Frauen und von der Möglichkeit nützlicher Beziehungen (was in die ethische Theorie freilich nicht einging).21 Der gemeinsame Nenner dieser Kreise war die „höhere Bildung", und auch SCHLEIERMACHERS Freund Graf ALEXANDER DOHNA akzeptierte dies Band der Bildung als das stärkere gegenüber der Trennung von Adel und Bürgertum.22 SCHLEIERMACHER proklamiert zwar die Freiheit dieses geselligen Verkehrs vom Zugriff des Staates. Dennoch hat die Geselligkeit eine im weiteren Sinne politische Bedeutung; denn während der Staat den Zusammenhalt der Nation und die Ausbildung einer nationalen Gesinnung betreibt und betreiben muß, ist die freie Geselligkeit wesentlich „kosmopolitisch" und treibt durch den intellektuellen Verkehr und die „Kommunikation der Sprachen", — ebenso wie durch die „materielle Kommunikation", den Handel — eine Annäherung der Völker voran, die einem friedlichen Nebeneinander der Staaten den Weg öffnet.22 Darin hat sie ihre Verwandtschaft mit der Kirche wie mit der Wissenschaft. Bei Hegel hingegen sind Haus und Geselligkeit keine sittlichen Institutionen; eine solche ist allerdings wie bei SCHLEIERMACHER die Familie, und zwar ist im strengeren Sinne sittlich für beide Autoren gerade die moderne, weniger die antike Familie.2-* Auch bei Hegel hat das Eigentum innerhalb der Familie einen anderen Charakter: Wenn nicht geradezu unveräußerlich, so steht es doch nicht in der willkürlichen Verfügung des einzelnen, sondern dient der sittlichen Gemeinschaft und ist deshalb gemeinsamer Besitz (PhR §170 f). 21 Vgl. Schleiermachers Bericht über die Salons an seine Schwester vom 4.8.1798. Aus Schleiermachers Leben, ln Briefen. Hrsg, von L. Jonas u. W. Dilthey. Bd 1. Berlin 1860. 186 f. 22 R. Koselleck, 107 f (s.o. Anm. 18). 22 Schleiermacher: Pädagogische Schriften. Hrsg, von E. Weniger. Düsseldorf/München 1957. Bd 1. 126 f; SL 73 ff. 2“ Hegel: WW Bd 9. 348 f. — Schleiermacher: Platons Werke. TI 3. Bd 1. Berlin 1828. 32 ff.
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Freundschaft, Gesellschafts- und Salonkultur aber werden im System sittlicher Institutionen nicht eigens erwähnt; sie sind — so darf man interpretieren — von Hegel der bürgerlichen Gesellschaft überlassen. Diese übernimmt auch die Aufgabe, die durch Arbeitsteilung und Interessenkampf erzeugte Atomisierung der Bürgerwelt zu überwinden, nämlich durch Ausbildung von Ständen und Korporationen auf der Basis der Arbeitsformen {PhR §202 ff, 250 ff). Hinter den beiden Konzeptionen steht eine jeweils andere Einschätzung der Individualität des Menschen in seiner Besonderheit; das wird deutlich besonders am Begriff der Bildung. Bei Hegel wird die individuelle Bildung, die Bildung der „Subjektivität in ihrer Besonderheit", nur als Durchgangsstadium zur allgemeinen Bildung anerkannt und gewürdigt (PhR §187). Und diese allgemeine Bildung hat keine eigene Institution, sondern nur den Staat. Für SCHLEIERMACHER aber ist die Bildung der „Subjektivität in ihrer Besonderheit" ein Zweck an sich selbst, und er gewährt ihr einen eigenen Raum, das Haus, in dem sich diese Besonderheit zugleich verwirklichen wie im geselligen und familiären Umgang mit der allgemeinen Bildung vermitteln kann. Das von Hegel als Fortschritt betonte Recht des modernen Bürgers, seine Subjektivität zur Geltung zu bringen, wird von Hegel überwiegend in seiner verderblichen Wirkung, als das „Aufspreizen" der Subjektivität beschrieben. SCHLEIERMACHER aber sieht darin überwiegend die Chance einer verfeinerten individuellen Kultur,"eine Ausbildung und Bereicherung des individuellen Menschen, die zur modernen Sittlichkeit hinzugehört. 4. Zur Freiheit der Kultur und der Menschen gehört laut SCHLEIERMACHER, daß die „erkennende Function" frei von praktischen Zwecksetzungen hervortritt und das Denken um des Wissens willen Zweck wird. Durch die Konstruktion der Ethik kommt die Wissenschaft, das identische, allgemeine Erkennen, in engere Beziehung zur Religion, dem individuellen Erkennen. In der Weihnachtsfeier (1806) sind beide noch derselben Gemeinschaft subsumiert, der Kirche; — eine johanneische Geistkirche, in der durch Kunst das Gefühl und durch Sprache das Wissen mitgeteilt und ausgetauscht wird und die man eine universelle Kommunikationsgemeinschaft nennen darf (WA Bd 4. 529 f).^® Das Brouillon zur Ethik (1805/06)
K.-O. Apel hat zwar Schleiermacher ausdrücklich aus der Vorgeschichte des Gedankens einer Kommunikationsgemeinschaft herausgenommen. Dennoch ist er einer der wenigen, die diesen Gedanken antizipieren und sogar die Begriffe der „Kommunikation" und der „Erkenntnisgemeinschaft" verwenden s.o. 145; dazu K.-O. Apel: Transformation der Philosophie. Bd 2. Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Frankfurt/M. 1973. 199.
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führt aber schon die nötige Differenzierung durch: Die Wissenschaft erhält ihre eigne Institution, die „Akademie" (£ 101) — oder, wie SCHLEIERMACHER auch später sagt — den „wissenschaftlichen Verein" (E 273). Diesem sind auch Schule und Universität zugeordnet (£ 352). Die Abgrenzung der Wissenschaft gegenüber der Religion vollzog SCHLEIERMACHER naturgemäß ohne großen Nachdruck. Denn durch eine Religion, die im Gefühl gründete, und durch eine Kirche, die vom Staat getrennt sich weltlicher Macht begeben hatte, konnte die Freiheit der Wissenschaft ohnehin nicht geschmälert werden. Und die Aufklärungstheologie ließ eher für die Eigenständigkeit der Religion fürchten. Brisant aber war das Verhältnis des wissenschaftlichen Vereins zum Staat. Ihm gegenüber mußte die Unabhängigkeit der Wissenschaft verteidigt werden. Denn zum einen produziert laut SCHLEIERMACHER die Wissenschaft Erkenntnisse, die für Verwaltung, Naturbeherrschung und Verteidigung nützlich sind, und der Staat — von Natur aus „selbstsüchtig" — ist so versucht, die wissenschaftlichen Bestrebungen auf diese nützlichen Erkenntnisse einzuengen. Daraus ergibt sich die Forderung an den Kulturstaat, die Wissenschaft um ihrer selbst willen zu fördern. Der Staat darf und soll sich die Ergebnisse der Forschung für seine praktischen Aufgaben zunutze machen, aber er soll in die Wissenschaft nicht inhaltlich irgend eingreifen und nützliche Forschungen erzwingen (W/1 Bd 4. 539 ff). Umgekehrt soll der Gelehrte seine Wissenschaft von der Politik trennen {WA Bd 4. 548). Aber dennoch kommt er mit dem Politischen notwendig in Berührung, besonders dann, wenn Staat und Nation sich nicht decken. Denn da das Wissen an die Sprache gebunden ist, sind die wissenschaftlichen Vereine nationale Vereine. Besonders in den Ethikentwürfen bis 1814 akzentuiert er sie als die „nationale Gemeinschaft des Wissens" (£ 347); und die Universitätsschrift (1808) konzipiert die Akademie als eine Art Dachverband, der die verschiedenen wissenschaftlichen Vereine der Nation organisatorisch verknüpft und zur Kooperation führt [WA Bd 4. 552 ff). So sind die Gelehrten in der Organisation einer nationalen Kultur begriffen, und es scheint deutlich durch, daß dies im Gegenzug zur Kleinstaaterei einerseits, zur französischen Besetzung andererseits geschehen soll. Aber auch dem Nationalstaat, den die Akademien selbst bezwecken, sind sie notwendig verdächtig: Denn analog zur Kirche und freien Geselligkeit schließen sie sich auch wiederum zur übernationalen „Gemeinschaft der Akademien" zusammen (£ 101 f), tendieren, die Sprachgrenzen aufzuheben und sowohl ein universelles Wissen wie eine universelle Gemeinschaft zu realisieren. Besonders die Naturwissenschaften haben eine kosmopolitische Tendenz (SL 69).
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In SCHLEIERMACHERS Theorie des wissenschaftlichen Vereins greifen Wissenschaftslehre und Institutionenkunde ineinander. Wie jedes Einzelwissen nur in einer Totalität, in einem Systemganzen Bedeutung und Bestimmtheit hat, so muß der einzelne Gelehrte in die „Gemeinschaft des Wissens" treten. Ja, die Einsamkeit der Gelehrten ist „leerer Schein", denn „das erste Gesetz jedes auf Erkenntnis gerichteten Bestrebens ist Mitteilung." {]NA Bd 4. 537 f, 540) Durch den literarischen Verkehr, durch „die Schrift als allgemeines Communikationsmittel" (£ 350 f), gehört er nehmend und gebend der „Erkenntnißgemeinschaft" (E 269) ohnehin an. Und die Dialektik entfaltet ergänzend, wie für den Akt der Erkenntnis die anderen Erkenntnissubjekte ebenso konstitutiv sind wie der Erkenntnisgegenstand. Daraus erwächst der Plan, die wissenschaftlichen Vereine zu ähnlichen Systemen zu organisieren wie die Wissenschaften. Daß der wissenschaftliche Verein nicht nur den Stand der Gelehrten, sondern tendenziell alle Glieder der Gemeinschaft einbegreift, wird deutlich an der Einbeziehung des Publikums, des Volkes. Kulturbildung wird geradezu als ein demokratischer Prozeß gedacht: Die „Sprachbildung" (der Kulturprozeß) und ihr „repräsentativer Charakter" — so heißt es 1812/13 — geht „vom Verkehr des Volkes aus"; den Gelehrten hingegen obliegt die Systematisierung und Kontrolle der Kultur (E 355, 348; vgl. 655): Vorhandene Kräfte sollen gefördert, wissenschaftliche Desiderate erfüllt. Veraltetes ausgeschieden und Bedeutendes bewahrt werden; eine Tätigkeit — wie SCHLEIERMACHER in dieser Ethikfassung mit einem gewagten Wort zusammenfaßt — durch die die Gelehrten „das Klassische produciren" (£ 352). (Das ist wohl so gemeint, daß erst in der Tradition und Aneignung sich das Klassische als solches konstituiert).26 Wie im Staat das Verhältnis von Untertan und Obrigkeit, so ist in der „Gemeinschaft des Wissens" der Gegensatz von Gelehrten und Publikum nur ein „functioneller" (£ 351), und d.h., daß jede Person in beide Funktionen einrücken kann. SCHLEIERMACHER hat seinen philosophisch begründeten Plänen zur Wissenschaftsorganisation z.T. in der Berliner Akademie Geltung verschafft. In Übereinstimmung mit seiner Ethik möchte er die Grenzen zwischen Akademie und Öffentlichkeit/Publikum geöffnet sehen und bestimmt als Aufgabe der Akademie vornehmlich die gemeinsame arbeitsteilige Bewäl-
20 Vgl. Novalis: „Der klassischen Literatur geht es wie der Antike; sie ist uns eigentlich nicht gegeben — sie ist nicht vorhanden —, sondern sie soll von uns erst hervorgebracht werden. Durch fleißiges und geistvolles Studium der Alten entsteht erst eine klassische Literatur für uns — die die Alten selbst nicht hatten." Schriften. Hrsg, von J. Minor. Jena 1923. Bd 2. 242 f.
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tigung von Projekten, die ein einzelner nicht zu leisten vermag.Aus dieser Arbeitsweise fällt freilich die spekulative Philosophie heraus; sie bedarf weder der Hilfe der Akademie noch kann sie durch diese Institution gefördert werden.28 Daß SCHLEIERMACHER Hegel den Eintritt in die Akademie verwehrte, hat also seinen Grund mehr in seinem früh formulierten Wissenschaftskonzept als in bloß persönlicher Abneigung. Dabei bestimmen ScHLEiEKMACHER Und Hegel das Verhältnis der Philosophie zu den Wissenschaften durchaus ähnlich: Die Wissenschaften bedürfen der Philosophie, um sich zu systematischem Zusammhang zusammenzuschließen; die Philosophie bedarf der Wissenschaften, um materiale Philosophie und nicht bloß Erbauung oder leeres Räsonnement zu sein.2» Nur möchte SCHLEIERMACHER mehr als Hegel der empirischen Detailforschung Freiheit und Raum gewährt wissen, wenn ihm das bloße „Empirisiren" (£ 352) auch eine Einseitigkeit ist. Und anders als Hegel ist er überzeugt, daß nicht durch die Macht eines philosophischen Systems, sondern durch eine kooperative „Erkenntnisgemeinschaft" die Zersplitterung und Isolierung der Forschungsrichtungen verhindert werden kann. Die Forderung nach Freiheit der Wissenschaft von der Staatsaufsicht schien Hegel nicht sinnvoll, da — wie erwähnt — der Staat ihm Boden wahrer Freiheit war. Stattdessen akzentuiert er die Freiheit der Wissenschaft gegenüber der Religion und bestellte den Staat zum Schutz der freien Wissenschaft (PhR §270). SCHLEIERMACHER aber sah nicht mehr in der Kirche, sondern im Staat die aktuelle Bedrohung, und die Tätigkeit der preußischen Zensur gab ihm recht.Er wollte dem Staat die Befugnis, wahre Wissenschaft zu schützen und verderbliche Meinungen zu unterbinden, nicht zuerkennen, da hier die richtige Unterscheidung zu treffen nicht Sache des Staates ist. Der Staat muß sich gegenüber der Wissenschaft darauf beschränken, im Sinne KANTS die Freiheit der Feder, d.h. die
Die Aufgabe der Akademie formuliert Schleiermacher in E 239, 349 ähnlich wie im späteren Statutenenwurf von 1829, §1; dazu A. Harnack: Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1900. Bd 2. 424. Zum Rapport zwischen Gelehrten und Publikum vgl. £ 348, 354 mit Statutenentwurf § 15. Harnack, Bd 2. 426. Die Betonung der Gemeinschaftsaufgaben der Akademie: WA Bd 4. 537 und Harnack, Bd 1. 702; vgl. Boeckhs im Geiste Schleiermachers verfaßte Gutachten, Harnack, Bd 2. 669 f. 28 WA Bd 4. 557 ff; SW Abt 3. Bd 3. 5 ff. Hegel: Lieber den Vortrag der Philosophie auf Universitäten (1816). In: WW Bd 17. 349356. Vgl. Schleiermachers Polemik gegen eine „gespensterartige", von den Wissenschaften gelöste Transzendentalphilosophie (WA Bd 4. 559) und gegen „leere Grübelei" und bloßes „Empirisieren" (£ 352). Anders als bei Hegel ist seine gesamte Wissenschaftssystematik auf das Zusammenspiel zwischen spekulativem und historischem Wissen aufgebaut. 20 A. Harnack, Bd 1. 712 ff (s.o. Anm. 27).
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lebendige Kommunikation zu ermöglichen und zu garantieren. Wenn Hegel befürchtet, in dieser Weise würde der Staat nur als Mittel zum Zweck der Wissenschaft anerkannt {PhR §270), so hätte SCHLEIERMACHER keine Bedenken: In der Tat, im Hinblick auf die Wissenschaft ist der Staat nur Mittel zum Zweck, so wie umgekehrt der Staat sich mit Recht wissenschaftlicher Kenntnisse als Mittel für seine Zwecke bedient. 5. Während in der entfalteten modernen Kultur Staat und Haus das Feld der Praxis ausgestalten und die Wissenschaft in der Erkenntnis gründet, hat die Religion ihr Fundament im Gefühl. Indem ihr eine eigene Funktion der Vernunft, das Gefühl als das individuelle Erkennen, zugrundeliegt, hat sie einerseits ihre Selbstständigkeit gegenüber Staat und Wissenschaft. Zum anderen aber ist sie damit auch auf ihre spezifische Funktion hin eingegrenzt. Die moderne Kultur vollzieht mit der Differenzierung auch eine Depotenzierung der Religion, die nun ihrerseits weder Staat noch Wissenschaft bevormunden darf (vgl. £ 340 §113). Auch die Religion erhält ihre eigene institutionelle Wirkungssphäre: Wie das allgemeine identische Denken sich zur Wissenschaft vollendet und den wissenschaftlichen Verein hervorbringt, so ist das individuelle differente Erkennen, das Gefühl, in seinem Telos religiöses Gefühl und führt zur Bildung der Kirche (E 101). Diese ist allerdings zugleich der institutioneile Ort der Kunst. Wie die Sprache für das Erkennen, so ist die Kunst in allen Fassungen der Ethik das Mitteilungs- und Artikulationsorgan der Religion (£ 194, 196 ff, 273, 360 ff). Ja die Ausbildung eines Kultus und die Entstehung von Kunstwerken sind dasselbe (£ 196). Von der ersten Auflage der Reden (1799) bis zu den Akademieabhandlungen über das höchste Gut (1827,1830) hat SCHLEIERMACHER daran festgehalten, daß Kunst und Religion zusammengehören und große Kunst religiöse Kunst ist (WA Bd 1. 493). Man darf hier nicht voreilig auf eine Ästhetisierung der Religion schließen. Denn die Dogmatik hebt ausdrücklich die ,4sthetische' Religiosität (z.B. des Islam) vom ^teleologischen" Charakter des Christentums ab.^i Letzteres begnügt sich nicht mit der Produktion von Kunstwerken, sondern wird Impuls für sittliches Handeln.Aber erstaunlich ist, daß SCHLEI-
31 Schleiermacher: Der christliche Glaube. Hrsg, von M. Redeker. Berlin ^1960. § 9. 32 Das Verhältnis dieser religiösen Praxis zum Staat ist in Schleiermachers Christlicher Sittenlehre geregelt. Es ergibt sich, daß die Forderungen des Christentums mit denen des Kulturstaates konvergieren. Vgl. H.-]. Birkner: Schleiermachers Christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems. Berlin 1964.
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f RMACHER, der die Ausdifferenzierung der Kultur vorantreibt, die geschichtlich hervorgetretene Unterscheidung von Religion und Kunst nicht anerkennt, sondern sie zum Verhältnis von Inhalt und Form zurücknimmt. Der Grund dafür liegt im Zwang des Systems, der zugleich der Zwang der geschichtlichen Situation ist. Wenn die Religion — wie schon die Reden fordern — weder Moral noch Metaphysik sein soll, dann wird sie die gleiche Systemstelle wie die Kunst einnehmen müssen. Die Verschwisterung von Kunst und Religion zu einer künftigen „Kunstreligion" ist für die Reden auch deshalb nötig, da beide in gleicher Weise dem Druck der Aufklärung zu widerstehen haben, die die Tätigkeiten des Geistes auf Wissenschaft und Moral reduziert. Und sie ist für beide Bereiche fruchtbar, da die Kunst ohne Religion bloße Spielerei, andererseits die Religion ohne Kunst hart und ohne Mitteilungsorgan wäre. — Eine Verquickung der Bereiche war für die Epoche nicht ungewöhnlich, zumal die historische Reflexion in der modernen Kunst die durchs Christentum vermittelte Kunst erkannte. Allerdings vollzog sich die Verschmelzung von Religion und Kunst zumeist auf Kosten der Religion, nämlich als Auflösung der Religion in Kunst. Dagegen erhebt aber nun SCHLEIERMACHER Einspruch; wenn die Kunst die Funktion der Religion übernehme, müsse sie „verderblich wirken" {AO 61)33, da sie überfordert wird. Deshalb bindet er sie an die Institution der Kirche zurück. Gerade dadurch, daß er an der Existenz von Religion und Kirche festhielt, konnte er allmählich aber mehr als die romantischen Zeitgenossen doch eine Unterscheidung von Religion und Kunst zur Anerkennung bringen und die Inhaltsästhetik an ihre eigne Grenze führen. Da SCHLEIERMACHER Religion und Kunst einander zuordnet, Kunst aber nicht immer religiös ist, wurde zunächst eine Differenzierung im Begriff der Kunst nötig. Die Ethik von 1812/13 unterscheidet zwischen „religiösem" und „profanem" Stil, eine moderne Trennung, die sich im Altertum allenfalls in der der Differenz zwischen Dorischem und Jonischem andeutete (£ 362 f; vgl. AO 185). Aber „profane" Kunst ist hier keineswegs säkulare, weltliche Kunst, denn beide Stile verhalten sich wie Kultus und Kirche; ihre Unterscheidung fällt noch in die Sphäre der Religion, die gleichsam einen Innenund einen Außenkreis hat. In der ersten Ästhetikvorlesung (1819) vertieft sich aber der Gegensatz der Stile; als ernst-religiöser und spielerisch-geselliger Stil verhalten sie sich ungefähr wie Kirche und freie Geselligkeit (Ä O 69 ff). Dennoch ist hier ebenfalls noch keine nicht-religiöse Kunst als große Kunst anerkannt; denn der „religiöse Charakter" sei in der Kunst 33 AO = Ästhetik. Hrsg, von R. Odebrecht. Leipzig 1942.
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immer der „dominierende" (AO 65). Aber seit 1831 definiert SCHLEIERMA CHER die Kunst gar nicht mehr von der Religion her, sondern räumt ihr eine eigene ästhetische Sphäre ein. Nun wird die Unterscheidung betont, die sich schon vorher anbahnte: An den beiden Stilrichtungen wird festge halten^^, zugleich aber akzentuiert, daß nicht der mehr oder weniger reli giöse, geistige oder sinnliche Gehalt die Kunst zur Kunst macht, sondern die Art und Weise, wie dieser Gehalt ins Werk gebracht wurde. SCHLEIER MACHER hat diesen seinen Gedanken als kühn empfunden; kaum einei werde ihm vermutlich darin folgen wollen, daß „ein Thiermaler oder ein Höllen-BREUGHEL, wenn sie nur in der Form tadellos wären und vollendet in der Behandlung des Lichtes und der Farben, auf dieselbe Linie gesteili werden müßten mit RAFAEL und LEONARDO".Seine Ästhetik hört dennoch nicht auf, Gehaltsästhetik zu sein. Aber wichtig wird in ihr der Prozeß durch den der Gehalt in Gestalt umschlägt, sich sinnlich konkretisiert. Schon die erste Ästhetikvorlesung hatte ja den Künstler als den Übersei zer beschrieben, der durch sein Talent nicht auf Gehalte festgelegt, SOIT dem an bestimmte Formensprachen gewiesen ist: In der künstlerischen Begeisterung (als „Begeistung" der Natur) nimmt der Musiker die Richtung auf den Ton, der Maler auf Licht und Farbe, der Plastiker auf die Gestalt im Raum, der Dichter auf die Sprache. Damit hat SCHLEIERMACHER in seiner Ästhetik, die ihrer Systemstelle nach die Äufgabe erfüllt, die spekulativen Prinzipien der Ethik mit der histori sehen Wirklichkeit zu vermitteln, schließlich doch eine eigne ästhetisclit“ Sphäre neben der religiösen anerkannt. Zwischen Religion und Kunst hai er wachsend die nötige Grenze gezogen; so wird 1819 — anders als in der Weihnachtsfeier (1806) — die Oper eindeutig zur nicht-religiösen Kunst erklärt {ÄO 188 f). Aber die Ästhetik bleibt integraler Bestandteil eine; spekulativen Philosophie, die — den Neuplatonismus fortführend — die Kunstproduktion als Fortsetzung der göttlichen Schöpfung versteht.^' Dadurch werden Kunst und Religion trotz ihrer Scheidung zusammen mi; Wissenschaft und Praxis an den gleichen göttlichen Grund zurückgebnn den. Und da das Gefühl, das zur Religiosität sich fortzubilden bestimmt irit als wesentliche Funktion des Geistes zum Menschen hinzugehört, wird Religion — wenn auch in ganz unspezifischer, allgemeiner Weise — in den Bereich der Kunst eingreifen, ohne immer als solche kenntlich zu sein. Ästhetik. Hrsg, von C. Lommatzsch. SW Abt 3. Bd 7, 400 f, 421 f. 35 Ueber den Umfang des Begriffs der Kunst (II). Akademie-Vortrag (1832). SW Abt 3. Bd .3 222.
55 Siehe vom Verf.: Schleiermachers Musikphilosophie. Göttingen 1981.
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Dieser Trennung von Kunst und Religion, die SCHLEIERMACHER in der Ästhetik, aber auch in seiner Theologie vornimmt, hat seine Ethik nicht Rechnung getragen.^^ Die freie, ästhetische' Kunst hat keine eigene Institution; ja es fragt sich, wie von der Ethik aus Institutionen wie Oper, Singakademie, Konzertsaal, Theater und Museum zu begreifen sind. Die Konstruktion läßt nur die Möglichkeit offen, sie in das Gebiet einzustellen, in dem sich Kirche und freie Geselligkeit überschneiden; eine eigene Theorie moderner Kunstinstitutionen fehlt. Zu mutmaßen ist, daß Singakademie und Museum für SCHLEIERMACHER nur die Spätphase der Kunstentwicklung markieren und gleichsam Schwundstufen der Kirche sind. Denn sie waren nicht der Ort, an dem die Kunst durch die zeitgenössischen Künstler fortgebildet wurde. Sie galten mehr dem Rückblick, der Erinnerung an vergangene künstlerische Produktion, die noch ihre Aufgabe im gemeinschaftlichen kirchlichen und öffentlichen Leben erfüllte. Auch bei SCHLEIERMACHER klingt das Hegelsche Motiv vom Ende der Kunst an: Die Zeit der christlichen Malerei sei zu Ende, so heißt es 1808 in einem Brief an die spätere Frau, und darein müsse man sich fügen.3» Die einzige lebendige Kunst war ihm wohl die Musik.^^ Die letzte Fassung der Ästhetik klagt, die Kunst sei nicht mehr Bestandteil des öffentlichen gemeinschaftlichen Lebens. Für Hegel wie für SCHLEIERMACHER steht Kunst in enger Beziehung zur Religion. Hegel unterscheidet beide in der Enzyklopädie eigentlich als zwei verschiedene Religionsformen, nämlich als »Religion der schönen Kunst' und als »geoffenbarte Religion'.^® Auch bei SCHLEIERMACHER fällt ihre systematische Unterscheidung in die Religion, Kunst wird als Mitteilungs- und Äußerungsform des religiösen Inhalts begriffen. Daran wird zugleich der jeweils andre Zugriff deutlich: Für Hegel sind beide Sphären historische und systematische Entwicklungsstufen des Geistes, bei SCHLEIERMACHER nicht. Dennoch denkt auch er insoweit historisch, daß die Charakteristik der modernen Kunst ähnlich wie bei Hegel ausfällt; für beide ist die moderne Kunst die durchs Christentum vermittelte Kunst, die ein Problem birgt: Alles kann in ihr Gegenstand der Darstellung sein, und dadurch droht sie, belanglos und unverständlich zu werden.^i Aber SCHLEIERMACHERS Von seiner letzten Vorlesung über Ethik (1832) sind uns allerdings nur wenige Notizen zugänglich. Es steht aber nicht zu vermuten, daß er hier die Systematik geändert hat. M Briefe (s.o. Anm. 21) Bd 2. 175. ä’A. Müller: Briefe von der Universität in die Heimat. Hrsg, von L. Assing. Leipzig 1874. 285. *0 Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Hrsg, von F. Nicolin u. O. Pöggeler. Hamburg 1959. §§ 557, 564 ff. Vgl. Vorlesungen über die Aesthetik. Hrsg, von H. G. Hotho. WW Bd 10/1. 133 ff. Schleiermacher AO 141 ff; Hegel: Ästhetik. WW Bd 10/2. 130 ff.
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mehr konstruktive Methode zeigt hier auch, daß sie nicht nur Geschichte begreifen, sondern in sie auch eingreifen möchte. Denn er hält an zwei Stilrichtungen fest, einem religiösen und einem profanen, wenngleich die religiöse Kunst i.e.S. gar keine fraglose Gegebenheit mehr war. Und er ordnet die Kunst der Kirche zu, wenngleich sie sich von ihr frei gemacht hatte. Daß heißt, entgegen der Tendenz der Zeit soll die Religion als Quelle und die Kirche.als Ort der Kunst erhalten bleiben, damit sie nicht belanglos wird. Für Hegel hingegen ist solches Festhalten und Fordern ohnmächtig. Allerdings fehlt auch bei ihm eine Theorie moderner Kunstinstitutionen. Hegel nimmt den Vergangenheitscharakter der Kunst in ihrer höchsten Bestimmung theoretisch ernst; bei SCHLEIERMACHER geht dieser Gedanke nicht in die Theorie ein, da er zumindest die religiöse Musik noch lebendig glaubte und eine religiöse Kunst erhalten wissen wollte. Beide sehen in ähnlicher Weise, daß auch jenseits von Kirche und Kultus die Kunst Daseinsrecht und Aufgabe hat. Aber für Hegel ist in der Neuzeit die Philosophie prinzipiell über die Kunst hinaus; für SCHLEIERMACHER ist das Terrain der Kunst prinzipiell durch Philosophie nicht ersetzbar, und so ist Kunst ungleich wichtiger. Hegel und SCHLEIERMACHER widersetzen sich beide der romantischen Tendenz, die Kunst zum einzig angemessenen Organ des Göttlichen zu machen. Aber Hegel bringt an diese Systemstelle die Philosophie, SCHLEIERMACHER die Religion. Indem diese als Sache des Gefühls die Kunst zu ihrer Mitteilung und Artikulation benötigt, steht SCHLEIERMACHER freilich der Romantik näher. Dennoch hat gerade er die Kunst schärfer von der Religion trennen und sie schließlich mehr von der gelungenen Form her begreifen können.
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AUGUST WILHELM SCHLEGEL UND BERLIN: SEIN WEG VON DEN BERLINER VORLESUNGEN VON 1801 — 04 ZU DENEN VOM JAHRE 1827. Es ist nicht möglich, von einem Berlin A.W. SCHLEGELS ZU sprechen etwa in dem Sinne, wie man eine Epoche und eine Geistesrichtung Berlins mit Hegel identifizieren kann. Jena als Ausgangspunkt und Bonn als Ziel seiner Laufbahn sind die festen Orte, an denen er zu seiner Zeit einen bestimmenden oder zumindest mitbestimmenden Einfluß ausgeübt hat. Dazwischen lag eine Wanderschaft, die über Berlin, Coppet, Genf, Italien, Wien, Moskau, Stockholm und dann nach seiner Teilnahme an den Befreiungskriegen über London nach Paris führte. Er war während dieser Epoche seines Lebens stets zu Gast: erst im Hause BERNHARDIS in Berlin dann in der Familie und Gefolgschaft Mme DE STAELS. Am Anfang dieser Wanderschaft löste sich seine erste Ehe mit CAROLINE, der späteren Frau SCHELLINGS, auf, am Schluß schloß er seine zweite mit SOPHIE PAULUS und gründete für sie den Hausstand in Bonn, den SOPHIE nie mit ihm geteilt hat. Die Jahre 1801-1818 dienten SCHLEGEL auch der Verbreitung der romantischen Weltanschauung. Sie hatte sich in Jena soweit herausgebildet, daß sie im Athenäum (1798-1800) in einer zwar offenen jedoch zusammenhängenden und innerlich verknüpften Form dargestellt werden konnte: für SCHLEGEL handelte es sich um ein umfassendes Programm, welches bei seiner Abreise aus Jena im Februar 1801 in den Hauptzügen festlag. In seinem Denken während dieser Zeit fand kein Umsturz und keine Erneuerung statt, wie man sie bei seinem Bruder FRIEDRICH feststellen kann, sondern ein fortschreitender Ausbau und eine allmähliche Abwandlung der bereits angelegten Positionen. Die Etappen dieses Wegs lauten: 1801-04 Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst und Enzyklopädie der Wissenschaften , 1807 die in Paris veröffentlichte Abhandlung Comparaison entre la Ph'edre de Racine et celle d'Enripide^, 1808 die Wiener Vorle1 A.W. Schlegels Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst. Gehalten zu Berlin in den Jahren 1801—1804. Hrsg, von J. Minor. Heilbronn 1884; Vorlesungen über Enzyklopädie der Wissenschaften. Sächsische Landesbibliothek, Dresden. Msc.-Dresd. e. 90. XXVll. 3 Bde. (im Text zitiert Msc. Dresden); August Wilhelm von Schlegel: Sämtliche Werke. Hrsg, von E. Böcking. 16 Bde. Leipzig 1846—48. Bd 14. 333—406. (im Text zitiert als Böcking, Band und Seitenzahl).
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sungen über dramatische Kunst und Literatur {Böcking, Bd 5 und 6), die 1809-12 deutsch, 1813 französisch, 1815 englisch und in den folgenden Jahren italienisch, russisch und polnisch erschienen, etwa 1809-12 die intensive Beschäftigung mit dem Stoff und den Quellen des Nibelungenlieds (Msc. Dresden e90 LXXIII, LXXIV), von der mehrere Konvolute in seinem Nachlaß in Dresden Zeugnis ablegen, und schließlich 1913 die anti-napoleonischen Streitschriften Memoire sur l'etat de l'Allemagne et sur les moyens d'y former une insurrection (Hamburg 1813) und Über das Kontinentalsystem und den Einfluß desselben auf Schweden.^ Im unmittelbaren Umkreis seiner Wirkung steht auch Mme DE STAHLS De l'Allemagne, welches 1810 zuerst in Paris gedruckt, sogleich verboten und eingestampft wurde, um 1813 in London zu erscheinen. Diese Reihenfolge kennzeichnet ebenfalls die geographische Ausbreitung der romantischen Lehre. Sie wurde zunächst von den politischen Ereignissen getragen. Ihren Ausgang nahm sie von der Hauptstadt Preußens, dem Zentrum der vorherrschenden Geistesrichtung der Aufklärung und machte dann im Angriff auf die restaurative Kulturpolitik NAPOLEONS einen ersten Vorstoß nach Frankreich. Anschließend, am Vorabend der nationalen Erhebung Österreichs gegen NAPOLEON verkündete SCHLEGEL sie nocheinmal in den Wiener Vorlesungen. Er schloß mit der politischen Wendung, daß das Schicksal Europas vom patriotischen Bewußtsein der Völker deutscher Abstammung abhinge: .. daß wir Deutsche, wenn wir die Lehren der Geschichte nicht besser bedenken als bisher, in Gefahr sind... ganz aus der Reihe der selbständigen Völker zu verschwinden" (Böcking, 6. 433). Danach wurde sie rasch durch Übersetzungen überall in Europa und Nordamerika bekannt. Äußere Umstände, besonders die politischen Ereignisse der Epoche, an denen SCHLEGEL durch seine Verbindung mit Mme DE STAHL und seinen Dienst als Privatsekretär des Kronprinzen BERNADOTTE sich in steigendem Maße beteiligte, beeinflußten seine literarischen und ästhetischen Arbeiten: die national-patriotische Tendenz, die von vorneherein in der grundlegenden Unterscheidung zwischen romantisch-moderner und klassischantiker Gesinnung angelegt war, verdrängte vorübergehend den „kosmopolitischen" Standpunkt, den er sonst gern behauptet hatte. In der Ernüchterung, die in der restaurativen Epoche nach Beendigung der Befreiungskriege einsetzte, verlor sich der patriotische Schwung endgültig, gleichzeitig leistete SCHLEGEL den Verzicht auf literarische Wirksamkeit. Seine Werke als Dichter, Dramatiker und Übersetzer (mit Ausnahme der 2 Hamburg 1813. Zuerst auf französisch: Sur le Systeme Continental et sur ses rappo'ts avec la Su'ede. A Hambourg 1813. au mois de Fevrier (IV und 94 S.).
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Übersetzungen altindischer Literaturdenkmäler) gehören alle der früheren Epoche an. Das gleiche gilt sogar für seine kritischen Schriften. Insofern entsprach die Annahme der Professur im Jahre 1818 auch einer geistigen Wirklichkeit: von nun an galt SCHLEGELS Interesse den historischen und philologischen Studien. EDGAR LöHNER sieht in dieser Wandlung einen Rückzug auf eine gesicherte Position. Im Nachwort zu seiner Ausgabe schreibt er: „Diese letzten Jahre seines Lebens sind, trotz aller schriftstellerischen und wissenschaftlichen Aktivität, die traurigsten und am wenigsten wirkungsvollen des berühmten und erfolgreichen Mannes, der sich, nun einsam, immer mehr in den Hafen der Wissenschaft zurückzog."3 Wie kam diese Wandlung zustande? Sie ist die Folge einer einschneidenden Zäsur im Leben SCHLEGELS, eines schicksalhaften Zusammenwirkens äußerer Umstände und persönlicher Bedrängnisse. Durch den Tod Mme DE STAELS im Jahre 1817 sah er sich plötzlich in mehr als einer Hinsicht befreit: von einer Verbindung, die für ihn peinigend und aufreibend gewesen war, und durch die er sich in einer extremen fast masochistischen Weise emotional und intellektuel hatte ausbeuten lassen^, aber auch von einem Aufgabenbereich und einer gesellschaftlichen Stellung, die seiner Eitelkeit schmeichelte. Er befand sich plötzlich als Privatlehrer im Ausland, in Paris. Mitte Mai 1818 erfolgte schließlich seine Rückkehr nach Deutschland, am 14. Mai erreichte er Frankfurt, wo er sich mit seinem Bruder traf, Ende Juni traf er in Heidelberg ein. Dort fand am 3. August die Verlobung und am 30. August seine übereilte Heirat mit der 27jährigen SOPHIE PAULUS statt. Diese Ehe, die außerordentlich gut dokumentiert ist, stellt ein groteskes und tragisches Narrenstück im Leben SCHLEGELS dar. SOPHIES Eltern, den Professor der Philosophie und Theologie und geheimen Kirchenrat HEINRICH EBERHARD GOTTLOB PAULUS, Hauptvertreter der rationalistischen Bibelexegese und seine Gattin CAROLINE, hatte SCHLEGEL bereits in den neunziger Jahren in Jena kennengelernt. Sie verkehrten damals regelmäßig in seinem Haus, und es war sogar die Rede von einer „Liebschaft" zwischen SCHLEGEL und CAROLINE PAULUS gewesen, — allerdings trübte sich das Verhältnis in der Folgezeit. ^August Wilhelm Schlegel: Kritische Schriften und Briefe. Hrsg, von E. Löhner. Bd 7: Ausge-
wählte Briefe. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1974. 272.
■‘Dokumentiert bei Pauline de Fange: August Wilhelm Schlegel und Frau von Sta'el. Eine schicksalhafte Begegnung. Nach unveröffentlichten Briefen. Deutsche Ausgabe von W. Grabert. Hamburg 1940. Zum folgenden vgl. Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm. Hrsg, von O.F. Walzel. Berlin 1890. 570 f; Caroline. Briefe aus der Frühromantik. Nach G. Waitz vermehrt hrsg. von E. Schmidt. Leipzig 1913. 1. 614 und 761; Bernard von Brentano: August Wilhelm Schlegel. Geschichte eines romantischen Geistes. Stuttgart 1943. 170 f.
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Nun gab es Spannungen zwischen SCHLEGEL und den Eltern seiner Frau: CAROLINE konnte die Aussicht auf Trennung von ihrer Tochter nicht ertragen und wurde krank.® SCHLEGEL mußte alleine zum Semesteranfang nach Bonn fahren, SOPHIE sollte nachfolgen. Nach seiner Abreise stellte sich im Gespräch zwischen Mutter und Tochter heraus, daß SCHLEGEL „impotent" sei (Körner, 1. 343 ff). Auf Grund dieser Anschuldigung versuchte Kirchenrat PAULUS SCHLEGEL ZU erpressen: er sollte in die Scheidung einwilligen und einen Teil seines Vermögens an SOPHIE abtreten, sonst wollte er eine öffentliche „Untersuchungs-, Nullitäts- und Entschädigungsklage" einreichen, die „sofort die größte Publicität erhalten" (Körner, 1. 346) sollte. SCHLEGEL ging nicht auf diese Vorschläge ein. Er versuchte noch einmal zu vermitteln (Körner, 1.356 f), es gelang ihm jedoch nicht. Nach zweimonatiger Ehe wohnte SOPHIE wieder bei ihren Eltern, SCHLEGEL hat sie nie wiedergesehen. In dem Haus mit vierzehn Zimmern, welches er in Bonn gemietet hatte, und in welchem auch , wie er an SOPHIE schrieb, „auf Raum ... auf den Empfang etwaiger neuer Ankömmlinge in der Welt" gerechnet war (Körner, 2.149), saß er nun alleine und klammerte sich in Gedanken an seine Vergangenheit: er richtete sich nach Pariser Art ein und nahm seine Mahlzeiten zu den in Frankreich üblichen Stunden.® Das Scheitern seiner Ehe bedeutete für SCHLEGEL den Verzicht auf den lang zurückgedrängten Wunsch nach Familienleben und Nachkommenschaft. Am 24. Oktober hatte er noch an AUGUSTE DE STAEL über den Stand der Ehe geschrieben: „— c'est la pierre philosophale qui change en or le vil metal de cette existance terrestre — c'est la fontaine de jouvance — c'est le mystere des mysteres — ... Croyez-moi, mon eher AUGUSTE, il faut en venir lä tot ou tard pour consolider sa vie et ne pas rester vagabond sur cette terre" (Krisenjahre, 2. 321). Nun überfiel ihn eine schwere Depression. Er magerte ab, — der Jungbrunnen schien zu versiegen — bis man den kürzlich noch aktiven und stattlichen Mann 1819 mit 52 Jahren fast vergreist vor dem Katheder erblickte: „Auf seinem dünnen Köpfchen glänzten nur noch wenige silberne Härchen, und sein Leib war so dünn, so abgezehrt, so durchsichtig, daß er ganz Geist zu sein schien, daß er fast aussah wie ein Sinnbild des Spiritualismus."^ Diese vielleicht etwas über-
^ Briefe von und an August Wilhelm Schlegel. Gesammelt und erläutert durch J. Körner. Zürich/Leipzig/Wien 1930. Bd 2. 146. (Im folgenden zitiert als Körner). ^Krisenjahre der Brühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis. Hrsg, von J. Körner. München ^1969, Bd 3: 1958; Bd 2. 327 f. (Im Text zitiert als Krisenjahre). rHeinrich Heines Sämtliche Werke. Hrsg, von O. Walzel. Bd 7. Leipzig 1910. 78 f; zum folgenden vgl. 80 f. — ln allgemeiner Übereinstimmung mit der Beschreibung Heines steht der Bericht von Henriette Herz (Körner, 2. 288). Allerdings war Schlegel nicht mehr so abge-
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triebene Beschreibung HEINES steht in starkem Kontrast zu den Portraits SCHLEGELS aus der vorangehenden Zeit, sie hebt sich auch von dem Eindruck ab, den er zwölf Jahre später in Paris auf HEINE machte. Dort spricht dieser von einer »sonderbaren Verjüngung" in seinem Aussehen: . .er ist unterdessen ziemlich fett geworden, auf den dünnen spiritualistischen Beinen hatte sich wieder Fleisch angesetzt, es war sogar ein Bauch zu sehen." An den Portraits läßt sich eine ähnliche Verwandlung fast überdeutlich ablesen. Man vergleiche den Kupferstich von G. ZUMPE 1815 oder die Büste von FRIEDRICH TIECK 1816 mit dem Ölbild von H.C.KOLBE aus dem Jahre 1820 (Körner, 1.169;1. III, 1. 313), um eine erschreckende Veränderung der Gesichtszüge festzustellen, — eine Veränderung, von der HEINE nichts wußte, da er 1819 SCHLEGEL zum erstenmal sah. Der selbstbewußte auf äußere Wirkung bedachte Ausdruck weicht einer ernsten aber tief verunsicherten Besinnlichkeit, die aus hohlen Augen hervorblickt. In dem späteren stark idealisierten Ölbild von HOHNECK* kann man etwas von der Verjüngung erkennen, die HEINE beschreibt. Um die gleiche Zeit, etwa ab 1820, wurde SCHLEGEL seine Eitelkeit zum Verhängnis. Sie gehörte schon früher zu seinem Erscheinungsbild, jetzt aber nahm sie auffallende, fast krankhafte Ausmaße an: Orden, Schmuck, Parfüms, Perücken und extravagante modische Kleidung aus Paris machten ihn zum Gespött seiner Zeitgenossen. Auch im Gespräch konnte er es nicht lassen, auf seine Freundschaft mit berühmten Persönlichkeiten anzuspielen: GOETHE, der Großkanzler von England, usw. Es ist als ob er seine gefährdete innere Position durch die Attrappen seines »Ruhmes" zu verdecken versuchte. Je mehr er sich in einem vertrauten ihm wohlgesonnenen Rahmen fühlte, umso mehr baute er seine Barrikaden ab. ln diesem Sinn berichtet WILHELM GRIMM an LACHMANN von einem Besuch SCHLEGELS in Kassel unterwegs nach Berlin Mitte April 1827: »Dann kam A.W.SCHLEGEL in Person. Er ist frivol, eitel und kokett, aber gutmütig, geistreich, unterhaltend und ebenso kenntnißreich, als geschickt dies geltend zu machen. Er brachte einen Abend bei uns zu, hatte einen Brilliantring, so groß wie das Stichblatt eines Galanteriedegens am Finger, den ihm der König für das lateinische Gedicht auf die Dampfschiffahrt geschenkt hat, außer dem Brillianten an dem Halstuch und erwartete ohne Zweifel ein besseres Souper bei uns, als magert als sie ihn besuchte: , Ich sah ihn auf meiner Rückkehr aus Italien im Jahre 1819 in Bonn wieder... Wie war er schon äußerlich verändert! Das sonst so glänzende Auge war erloschen, der Teint bleich, verschossen, die früher schlanke Gestalt aufgedunsen, sein sonst so geistreiches Wesen war nur noch zu ahnen ... Er machte einen schmerzlichen Eindruck auf mich.' ^Körner, 1. 520. und Bernard von Brentano: August Wilhelm Schlegel. 8.
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er erhielt. Die andern Tage zeigte er sich ohne diesen Schmuck, und war schon einfacher und natürlicher und holte seine indischen Herrlichkeiten ohne große Anstalten herbei."’ Noch eine weitere Komponente trug zu der Krise bei, die SCHLEGEL kurz nach seinem Amtsantritt in Bonn überfiel: die politischen Entwicklungen in Deutschland. Für ihn waren die Befreiungskriege mehr als eine nationale Erhebung gegen die Fremdherrschaft gewesen: sie waren Teil eines geschichtlichen Prozesses, in dem die deutschen Nationen Träger eines neuen Weltbildes waren, wie es die germanischen Stämme seiner Auffassung nach im Mittelalter gewesen waren (Encyklopädie der Wissenschaften. 370 ff). Anders als sein Bruder FRIEDRICH zog sich AUGUST WILHELM SCHLEGEL nach dem Ende des Krieges aus dem politischen Dienst zurück. Seine Ernüchterung steigerte sich zur entschiedenen Ablehnung, als die Zensur von Büchern und Zeitschriften und die Überwachung der Universitäten durch die Karlsbader Beschlüsse eingeführt wurden. In Bonn wurde ERNST MORITZ ARNDT, den er 1812 in Petersburg kennengelernt hatte, von seinem Amt als Professor suspendiert. Am 7. Dezember 1919 reichte SCHLEGEL sein Gesuch um Entlassung aus Königlich Preußischen Diensten ein (an ALTENSTEIN, 7. Dez. 1819; Körner, 1. 362), obgleich er persönlich von den neuen Verordnungen nicht unmittelbar betroffen war. In einem Schreiben vom 10. Dezember 1819 an PHILIP JOSEPH VON REHFUES den neuernannten Regierungsbevollmächtigten an der Universität Bonn nennt er seine Gründe: sie enthalten ein weitsichtiges, fast prophetisches Urteil über die politischen Verhältnisse in Deutschland aus einer europäischen Sicht: »Ich bin seit nunmehr acht und zwanzig Jahren auf dem bewegten Ocean Europa's umhergeschifft, und glaube einige Wetterkunde erworben zu haben. Seit meiner Zurückkunft im vorigen Frühling hat sich der Horizont in Deutschland auffallend, und unerwartet schnell verdüstert, und wie es mir scheint, kündigen sich noch fernere ungünstige Wetterveränderungen an. Der Stand des Schriftstellers und des öffentlichen Lehrers ist ein allgemeiner Gegenstand des Mistrauens geworden. Die genommenen Maßregeln treffen jeden, er mag dem, was sie hervorgerufen hat, noch so fremd seyn, und er muß dabey alle Unbefangenheit, sowohl in seinem Beruf, als in den geselligen Verhältnissen, einbüßen. Bey dieser Verstimmung ist keine belohnende Aufmunterung, keine Unterstützung für neue gelehrte Unternehmungen zu erwarten." (Körner, 1. 363). ^ Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Karl Lachmann. Hrsg, von A. Leitzmann. Jena 1927. Bd 2. 831; Brief vom 21. April 1827. Encyklopädie der Wissenschaften, Msc. Dresd. e. 90 XXVII, 11; zum folgenden vgl. ebd. 1 ff, 12, 13.
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Nach weiterem Briefverkehr zog SCHLEGEL sein Gesuch zurück, erbat für sich jedoch die Erlaubnis, sich ganz seinen indischen Studien zu widmen und nur solche Vorlesungen zu halten, wie er mochte. Sie wird ihm in einem Schreiben HARDENBERGS vom 25. März 1820 gewährt: ,Ew. Hochwohlgeborn [werden] nach Ihrer eigenen Ansicht von allen Vorlesungen die Ihnen zu viel Zeit rauben würden, dispensirt werden, und es wird lediglich Ihrem Ermessen und Ihrer freien Wahl anheim gestellt Werden, welche Vorlesung und in welcher Art Sie dieselbe zu halten geneigt seyn werden." Außerdem wurde ihm ein halbjähriger Urlaub für eine Forschungsreise nach Paris und London gewährt {Körner, 1. 378). Damit vollzieht sich SCHLEGELS Rückzug: im privaten Leben leistete er Verzicht auf Ehe und Familie, im gesellschaftlichen Bereich, in der Politik und als Schriftsteller und Wissenschaftler zog er sich zurück aus der Öffentlichkeit und aus jeder aktuellen Kontroverse. In diese Zeit fiel auch die Entscheidung, seinen ursprünglichen Ruf nach Berlin abzulehnen: am 24. Mai 1819 bat er um Verlängerung seines Auftrags in Bonn, da er nicht die Kraft habe, „mit einem tief gekränkten Gemüthe in eine neue und schwierigere Laufbahn einzutreten" {Körner, 1. 358). Seine endgültige Überweisung an die Universität Bonn erfolgte durch ein Schreiben ALTENSTEINS am 1. Juli 1822 {Körner, 1. 392). Die Berliner Vorlesungen 1801-04 waren im Konzept enzyklopädisch. Die beiden Reihen Über schöne Literatur und Kunst und Enzyklopädie der Wissenschaften sollten eine umfassende Enzyklopädie der Künste und Wissenschaften liefern.10 Wegen der eigentümlichen Publikationsgeschichte der Vorlesungen ist dieser Zusammenhang nicht gewürdigt worden. Die erste Reihe wurde — abgesehen von einigen Bruchstücken, die SCHLEGEL in Zeitschriften erscheinen ließ — erst 1884 durch MINOR herausgebracht, die zweite ist bis heute noch nicht erschienen, obwohl HAYM bereits auf sie hingewiesen hat.“ Deshalb ist das, was man unter den Berliner Vorlesungen verstand, hauptsächlich vom Inhalt her rezipiert worden: als SCHLEGELS Ästhetik und als romantische Kunst- und Literaturgeschichte. Der größere formale Rahmen, der beide Vorlesungsreihen umschließt, wurde kaum erkannt. Beide Reihen bestehen aus jeweils drei geschlossenen Teilen. Die
1° Frank Jolles: August Wilhelm Schlegel als Historiker. Von seiner Göttinger Studienzeit bis
zu seinem Antritt in Bonn 1818. In: Akten des VI. Internationalen Germanisten-Kongresses. Basel 1980, 432—38. ” Die Ausgabe der Encyklopädie der Wissenschaften ist gegenwärtig in Vorbereitung. Ich hoffe, daß sie 1984 erscheinen kann.
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Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst umfassen Kunstlehre, Geschichte der klassischen Literatur und Geschichte der romantischen Literatur; die Enzyklopädie der Wissenschaften besteht aus einem systematischen Teil, der die Wissens- und Erfahrungsbereiche bestimmt und ordnet, UniversalHistorie und Sprachwissenschaft. In den Philosophischen Fragmenten FRIEDRICH SCHLEGELS aus der Jenaer Zeit befindet sich eine größere Anzahl von Entwürfen — er nennt sie »Konstruktionen" — zu einer Enzyklopädie. Sie versuchen die Wissensbereiche nach gewissen Ordnungsprinzipien schematisch darzustellen: nach der Reihenfolge der Abhängigkeit voneinander, nach der Verknüpfung untereinander oder Prioritäten — etwa »Historie" als Fundament oder »Poesie" als Mittelpunkt der Enzyklopädie^^ — es können auch verschiedene Prinzipien in einer »Konstruktion" zur Geltung kommen. Jeder dieser Entwürfe drückt einen weltanschaulichen Standpunkt aus, keiner erhebt den Anspruch auf Ausschließlichkeit. Axiomatisch impliziert in diesen Bemühungen ist der Gedanke, daß eine Enzyklopädie, um überhaupt sinnvoll zu sein, nach einem solchen ordnenden Prinzip aufgebaut werden muß. Sie soll »philosophisch" sein; das heißt, sie muß strukturiert sein und letztenendes ein Wertsystem darstellen, — nicht nach moralischen oder ethischen Gesichtspunkten, sondern nach den Prioritäten, die den Aufbau bedingen. Auch bei AUGUST WILHELM SCHLEGEL lassen sich diese Forderungen nachweisen. Etwas mehr als die Hälfte der ersten Vorlesung der Enzyklopädie der Wissenschaften befaßt sich mit der Bedeutung des Begriffs »Enzyklopädie" in historischer und gegenwärtiger Sicht, darauf folgt eine umfangreiche Erörterung der Erkenntnislehre, auf der die Einteilung der Enzyklopädie beruhen müsse. Er geht von dem Gedanken aus, daß die Enzyklopädie »ein System, ein logisches Ganzes"!^ bilden muß, das liege bereits Th der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, welches aus »kreisförmig" und »Erziehung" zusammengesetzt sei. Die Alternative wäre ein zufälliges »Aggregat", »ein Berg von Sandhaufen... den denn auch der Wind bald so bald anders gestalten könnte." Die französische Encyclopedie mit ihrer alphabetischen Anordnung betrachtet er folglich als »ein für die ächte Gründlichkeit sehr verderbliches Beyspiel eines solchen Zusammentragens einer Menge von Kenntnissen aus einer Menge von Wissenschaften aufs Gerathewohl." Nun ist die französische Encyclopedie mit ihrem allgemeiKritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg, von E. Behler. Bd 18. München/Paderborn/Wien/Zürich 1963. 437 f, 440 ff, 474 ff. Encyklopädie der Wissenschaften, Msc. Dresd. e 90 XXVII, 11; zum folgenden vgl. ebd. 1 ff, 12, 13.
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nen Plan — Systeme figure des connoissances humaines — und den Hinweisen, welche den einzelnen Aufsätzen beigegeben werden, sehr wohl nach einem übergeordneten Prinzip konzipiert. Sie übernimmt sogar die Einteilung BACONS, auf die sich SCHLEGEL später selber beruft. Wenn SCHLEGEL das geflissentlich zu übersehen scheinti^, dann war er vermutlich der Ansicht, daß die von D'ALEMBERT beabsichtigte Konstruktion durch das alphabetische Prinzip verdrängt wurde: es blieb ein empirisches oberflächliches Sammelwerk zurück. Eine solche Ansicht wäre auch in Übereinstimmung mit der deutschen Encyclopedie-Rezeption, wie sie zum Beispiel durch HERDER vertreten wurde: Jetzt macht man schon Enzyklopädien, ein D'ALEMBERT und DIDEROT selbst lassen sich dazu herunter, und eben das Buch, was den Franzosen Triumph ist, ist für uns das erste Zeichen ihres Verfalls. Sie haben nichts zu schreiben, und machen also Abreges, Vocabulaires, Esprits, Enzyklopädien usw. — Die Originalwerke fallen weg." Die Art der inneren Verknüpfung der Wissenschaften, die in der Enzyklopädie stattfinden soll, versuchte SCHLEGEL bildlich darzustellen. Es mag erlaubt sein, da es sich um einen noch unpublizierten Text handelt, etwas ausführlicher zu zitieren: „Wir haben vorhin gesagt, die Encyklopädie solle uns von einem höheren Standpunkte aus, dem der Philosophie und Historie, eine Übersicht des gesamten menschlichen Wissens verschaffen. Wenn wir vorerst bey diesem Bilde stehen bleiben, so hätten wir es uns als ein weitläufiges Gebiet zu denken, von welchem eine Landcharte entworfen werden soll. Diese würde also den Vortheil gewähren uns zu zeigen, nach welchen Regionen hin die verschiedenen Wissenschaften liegen, welche am entferntesten von einander, und welche hingegen mit welchen und auf welche Weise sie grenzen: also ihre Zusammenordnung, ihre Verwandtschaften und Berührungspunkte. Es könnte aber seyn daß sie noch weit inniger zu einem Ganzen vereinigt wären, daß man sich dieses z.B. treffender unter dem Bilde eines Gebäudes zu denken hätte, wo einige Grundsteine alles übrige tragen, wo sich denn über diesen Mauern und Säulen erheben, welche zugleich getragen werden und wieder tragen, und endlich ein Giebel, der nur getragen wird ohne zu tragen, mehr zur Zierde als zum Halt erfoderlich, das Ganze schließt. Alsdann würde man schon tiefer eingehen müssen, um nicht nur den Grund- und Aufriß zu bekommen, sondern auch die Statik und Architektonik des Gebäudes einzusehen, und seine Festigkeit, Regelmäßigkeit und äußern Verhältnisse zu beurtheilen. Vielleicht reicht Ulrich Dierse: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs. Bonn 1977. 142. Anm. 116; vgl. auch Frilz Schalk: Studien zur französischen Aufklärung. München 1964. 139 ff. Zum folgenden vgl. Dierse, 142 f, 143.
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aber auch dieses Gleichniß nicht hin, um die Art der Verknüpfung und Ganzheit auszudrücken, welche im menschlichen Wissen stattfindet, und man muß zu dem einer Organisation seine Zuflucht nehmen, die zugleich Ursache und Wirkung von sich selbst ist. Dann würde man die Gliederung und gegenseitige Abhängigkeit der Organe, die Beschaffenheit des Nahrungsstoffs, und die Art ihn zu verarbeiten und den Theilen zuzuführen, ferner die Krankheiten und Auswüchse, übermäßige Anschwellungen einzelner Theile welche den übrigen die Säfte entziehen, das Absterben anderer u.s.w. zu beobachten suchen müssen, und vielleicht dürfte sich alles dieß in der Geschichte der Wissenschaften deutlich genug nachweisen lassen." (Msc. Dresden. e90 XXVII, 18-21). Der Hinweis auf einen doppelten „höheren Standpunkt, dem der Philosophie und Historie" deutet auf einen wesentlichen Grundzug von SCHLEGELS Erkenntnislehre: das Moment der Zeit — das Werden, Wachstum und Verfall, Fortschritt und Rückschritt — wird in die Struktur der Enzyklopädie eingebaut. Das Bild der „Landkarte" oder des „Gebäudes" könnte noch als statisch, als „ahistorische Gesamtdarstellung der Wissenschaften" gedeutet werden; das organische Gleichnis ist jedoch nur dynamisch denkbar, als Vorgang und Erneuerung. Darüberhinaus ist es als „progressiv" gedacht, das geht aus SCHLEGELS Darstellung der Weltgeschichte im zweiten Band der Enzyklopädie hervor und aus seiner Definition der „Historie" selbst: „Wir haben oben gesagt, die Philosophie sey gleichsam das höhere dem übrigen Wissen inwohnende Bewußtseyn; auf ähnliche Art könnte man die Historie ein künstliches Gedächtniß des Menschengeschlechtes nennen, nicht in dem oben verworfnen Sinne, als ob sie bloß Materialien für das Gedächtniß lieferte, woran man diese Kraft üben könnte; nein, wir sollen uns die Vergangenheit durch Erinnerung aneignen, die Vorzeit soll uns so gegenwärtig werden, als ob wir sie miterlebt hätten. Jemehr die Historie vervollkommnet wird, je mehr es gelingt, das Menschengeschlecht als Individuum zu begreifen und darzustellen, desto mehr wird es eben dadurch auch zum Individuum, und kann demnach um so mehr mit Absicht und Plan zu seiner Vervollkommnung fortschreiten. Ehe es überhaupt eine Historie gab, glich das Menschengeschlecht einem Thier, in welchem wechselnde Zustände auf einander folgen, aber isolirt und ohne Zusammenhang, weil sie an keinem hindurchgehenden Faden aufgereiht sind. Man kann sagen, daß eine Nation erst dann anfängt zu seyn, wenn sie anfängt eine Geschichte zu bekommen" (Msc. Dresden. e90 XXVII, 21). Um die Eigendynamik des organischen Gleichnisses zu beschreiben, greift SCHLEGEL zum Konzept der Rückkoppelung: der Organisation, „die
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zugleich Wirkung und Ursache von sich selbst ist.' Die Enzyklopädie sollte also nicht nur „historisch", das heißt, auf Vergangenheit und Zukunft bezogen, sondern auch „progressiv" sein: sich ständig fortentwickeln und aus sich selbst neugestalten. In den Bonner Vorlesungen über das akademische Studium vom Jahre 1818 wurden die Universitäten in diesem Sinne als „encyklopädische Anstalten" bezeichnet^®, — man könnte sie sogar als die höchste Verkörperung des dynamischen Enzyklopädiebegriffs betrachten, ein Gedanke der in der Definition der Universitäten als „encyclopidies en action" bei CONDORCET vorgezeichnet ist. Innerhalb des organisch-dynamischen Gesamtkonzeptes sollte die „Klassifikation und Aufzählung der Wissenschaften" auf „gültigen erschöpfenden Einteilungsgründen" beruhen. Als solche erkannte SCHLEGEL „die Quellen, die Objekte und die Zwecke des menschlichen Wissens". Die „Quellen" sind „Vernunft" und „Erfahrung", die „Objekte" „Natur" und „Menschheit" und die „Zwecke" „theoretisch" und „praktisch". Diese Begriffspaare werden als antinomisch aufgefaßt, sie ließen keine dritten Möglichkeiten zu. Der gesamte Bereich des menschlichen Wissens könne demnach in die vier Kategorien: „Vernunftswissenschaft vom Menschen", „Vernunftswissenschaft von der Natur", „Erfahrungswissenschaft vom Menschen" und „Erfahrungswissenschaft von der Natur" aufgeteilt werden. Die „Vernunftswissenschaft von der Natur", die „Naturlehre" also, sei ihrer Art nach theoretisch, während die Erfahrungswissenschaften „Historie" und „Naturgeschichte" „ihrer Tendenz nach praktisch" seien. Die „Vernunftswissenschaft vom Menschen", die „Philosophie", teile sich in einen theoretischen und einen praktischen Aspekt {Msc. Dresden. e90 XXVII, 21 ff). Die beiliegende Tafel I ist ein Versuch, die ScHLEGELsche Enzyklopädie schematisch darzustellen. Sie ist in mehr als einer Hinsicht unvollständig: nicht alle behandelten Stoffgebiete konnten untergebracht werden, und viele Querverbindungen und Rückwirkungen fehlen in der Aufzeichnung. Vor allem aber lassen sich selbst in einer vollständigeren zweidimensionalen Aufzeichnung dieser Art die generativen Prozesse innerhalb der Enzyklopädie nicht darstellen. Um das zu tun, müßte man versuchen ein multidimensionales Flußschema zu konstruieren. —
Wenn man SCHLEGELS Vorlesungsprogramm an der Universität Bonn in den Jahren 1818-44 mit dem Stoffkreis der Berliner Vorlesungen 1801-04 vergleicht, stellt man fest, daß das Konzept der früheren Zeit in die neue Epoche herübergerettet wurde. Die Unterteilungen der Berliner VorlesunAugust Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über das akademische Studium. Hrsg, von F. Jolles. Heidelberg 1971. 36 (Im Text zitiert als Akademisches Studium).
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gen spiegeln sich in den Bonner Vorlesungen und Übungen wieder. SCHLEGELS Absicht blieb enzyklopädisch: er war bestrebt seinen Studenten den ganzen Umfang der Wissensbereiche in einer gegliederten Form zu vermitteln, und er glaubte auch darin einigen Erfolg verbuchen zu können: Je me flatte que je reussis ä reveiller la pensee et ä leur ouvrir la vaste perspective du savoir", schrieb er am 17. August 1821 an AUGUSTE DE STAEL (Krisenjahre, 2.376). Das Gleichgewicht der Kategorien hatte sich jedoch verlagert: die historischen und philologischen Studien baute er aus. Die Geschichtswissenschaften wurden erweitert und durch neue Hilfswissenschaften bereichert: Geologie, Anthropologie und vergleichende Sprachwissenschaft insbesondere die vergleichende Grammatik wurden erstmalig zur Beleuchtung der Vorgeschichte herangezogen. Die alles umfassende, aber auch einengende Hypothese einer progressiven Universalhistorie, die als Leitfaden der Geschichtsdarstellung in der Enzyklopädie gedient hatte, fiel weg In der Philologie führte SCHLEGEL die Indologie in Deutschland ein. Er errichtete in Bonn die erste Sanskritpresse und gab dort die altindischen Klassiker heraus. Im Bereich der bildenden Künste und Literatur hingegen beschränkte er sich auf den Stoff der Berliner Vorlesungen; auch hier entfiel weitgehend das weltanschauliche Moment. Die Wertungen wurden im einzelnen zwar manchmal aus den früheren Vorlesungen übernommen, sie verlieren jedoch an Bedeutung zugunsten der Darstellung der geschichtlichen Zusammenhänge und der Erörterung grundsätzlicher theoretischer Erwägungen. Man kann verallgemeinernd von einer Verschiebung von einem weltanschaulichen wertenden Standpunkt zu einer wertfreien Betrachtungsweise sprechen, vielleicht auch von einer Hervorhebung der Inhalte zu einer zunehmenden Befassung mit den gedanklichen und sprachlichen Strukturen, die der wissenschaftlichen Betrachtungsweise zugrunde liegen. Seine Beobachtungen über den Skeptizisnms mögen für letzteres als kennzeichnend gelten. Aus der Reflektion abgeleitet, bildet der Skeptizismus den „Anfangspunkt" des wissenschaftlichen Denkens", seine Wirkungsweise wird psychologisch begründet, sie liegt im systolisch-diastolischen Rhythmus des menschlichen Geistes — es gilt hier jene „Analogie des geistigen Daseyns mit dem animalischen. Ausathmen und Einathmen" (Akademisches Studium, 70). Das Bewußtwerden der Widersprüche zwischen Erfahrung und Vernunft, Körperwelt und Geisterwelt, Endlichem und Unendlichem — also der Kategorien der Erkenntnis schlechthin — ist eine unmittelbare Folge dieses psychosomatischen Vorgangs: „Entstehung des Skepticismus aus der Reflexion. Eigentlich der Anfang einer wissenschaftlichen Philosophie. — Zunächst wendet sich der Skepticismus gegen das gewagte Abentheuer des menschlichen Geistes die
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Räthsel des Weltalls auflösen zu wollen. Bald aber geht er weiter, sieht die Gültigkeit aller Erfahrungen und aller Begriffe an. Der Skepticismus ist nicht etwa eine willkührliche Grille, ein Übermuth des Scharfsinns, sondern der nothwendige Anfangspunkt des wissenschaftlichen Denkens. Entsteht unvermeidlich daraus, daß der Mensch sobald er nicht mehr von der expansiven Thätigkeit seines Geistes fortgerissen wird, sondern sich in sich selbst concentrirt: unaufhörlich Widersprüche in seinem Denken gewahr wird. Widersprüche zwischen der Erfahrung und der Vernunft —der Körperwelt und der Geisterwelt — dem Endlichen und Unendlichen" {Akademisches Studium, 93). Eine Geisteshaltung, der Skeptizismus wird hier aus einer allgemeinen psychischen Struktur des Menschen abgeleitet. In analoger Weise demonstriert SCHLEGEL, wie gedankliche Vorgänge durch Sprachstrukturen bedingt werden. Die Philosophie selbst wird dadurch in Frage gestellt, da sie „sich der Sprache unaufhörlich bedienen muß, zu einem Zwecke wozu sie ursprünglich nicht geschaffen ist." Es lohnt sich, das Zitat in seinem Zusammenhang zu bringen, um die Reichweite von SCHLEGELS Argumentation zu zeigen: er befindet sich nämlich auf dem Wege zu einer metalinguistischen Theorie: „Die Sprache ist so alt als das Menschengeschlecht, also viel älter als die wissenschaftliche Philosophie. Sie wird instinktmäßig gebildet, ohne deutliches Bewußtseyn der dabey befolgten Gesetze. Aber diese Gesetze sind doch darin ausgedrückt. Die Sprache giebt also, sobald die Betrachtung sich auf sie zurückwendet, Anlaß zu philosophischer Speculation. Es ist den Philosophen höchst wichtig über die sonderbare Natur der Sprache ins klare zu kommen, wegen der Unentbehrlichkeit der Zeichen zu Denken. Nur durch Zeichen fixiren wir die Begriffe, und können sie dann nach Belieben handhaben. Es giebt vielerlei Arten von Zeichen, aber die hörbare Sprache ist das bequemste und biegsamste Organ für alle Thätigkeiten des menschlichen Geistes. Auch wenn wir nicht äußerlich sprechen, sprechen wir innerlich mit uns selbst. Der Philosoph muß sich der Sprache unaufhörlich bedienen, zu einem Zweck wozu sie urspünglich nicht geschaffen ist. Hier liegt eben die große und vielleicht inextricable Schwierigkeit der Philosophie. In der Sprache sind die Gesetze des menschlichen Geistes ausgeprägt, nach welchen er nothwendiger Weise wirkt; auch sind darin niedergelegt alle angebohrenen und deswegen unvertilgbaren Gefühle, alle Ahndungen ewiger Wahrheiten. Aber die eingewurzelten Vorurtheile, die Irrthümer, die Selbsttäuschungen, denen der Mensch vermöge seiner ganzen Existenz ausgesetzt ist, oder in die er hirieingeräth, weil er mit noch ungetrübten Kräften allzu schwere Aufgaben lösen will — sind ebenfalls tief in der Sprache verwebt. Leere Einbildungen gewinnen dadurch den Schein einer objektiven Reali-
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tät, daß es Worte und Wortreihen giebt, um sie so zu bezeichnen. Indem der Philosoph jene Irrthümer und Selbsttäuschungen bestreiten will, ist er genöthigt sich eines Mittels der Verständigung zu bedienen, das unaufhörlich dieselben Mißverständnisse wieder herbeyführt." {Akademisches Stu-
dium, 76)
Der Abbau der weltanschaulichen Position, die die Berliner Vorlesungen getragen und ihren eigentlichen Inhalt ausgemacht hatte, wurde, wie wir gesehen haben, von einer tiefen Verunsicherung im Bereich der Sprache, der Philosophie und der eigenen Stellung zum Leben schlechthin begleitet. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn SCHLEGEL nun bestrebt war, Studium und Universität auf eine sittlich-religiöse Basis zu setzen. Er tat dies, indem er den Drang nach Erkenntnis unmittelbar aus der Sittlichkeit ableitete: „Die Universitäten entsprechen also ihrem encyklopädischen Namen immer mehr. Desto größere Aufforderung auch, sich nicht auf den beschränkten Zweck der kümmerlichen Tauglichkeit zu irgend einem Beruf zu beschränken. — allgemeine Studien — Erinnerung an das Vorhergesagte über Bildung und Aufklärung — Noch ein höherer Zweck — ein sittlicher. — Sittlichkeit = uneigennützige Liebe zum Guten. — Uneigennützige Liebe zum Wahren und Guten ein Analogon der Sittlichkeit. Anfangs Mühseligkeiten. — Spruch des HESIOD. — Liebe zur wissenschaftlichen Beschäftigung eine Hilfsquelle für das ganze Leben. Ein unabhängiger Genuß — Aufheiterung, Zerstreuung Erholung, Trost in allen Lagen des Lebens." {Akademisches Studium, 46 f) Die letzten Sätze klingen bekenntnishaft, besonders wenn man berücksichtigt, daß sie Ende 1818 niedergeschrieben wurden. Seinen Studenten galt zweifellos der „Spruch des HESIOD: Schweiß verlangen die Götter, bevor wir die Tugend erreichen, und allen galt die Devise ,Forschen, denken, prüfen ist die allgemeine Losung'. Spruch des Apostels PAULUS." — vermutlich I. Thessalonicher 5,21: Prüfet aber alles, und das Gute behaltet (vgl. Akademisches Studium, 46, 107). Damit befand sich SCHLEGEL auf der Stufe des positivistischen Gelehrtentums, welches von einem ganz anderen Standpunkt aus die Entdeckungen und Anregungen der Romantik ausbeuten sollte. Eine Bewertung dieser neuen Ausgangsposition SCHLEGELS — ob man mit LöHNER von den „traurigsten und am wenigsten wirkungsvollen" Jahren seines Lebens spricht, oder ob man in ihr die Folge einer Wandlung sieht, die den geänderten Lebensumständen entsprach und die Grundlage einer erneuten schöpferischen Tätigkeit bildete — wird nicht umhin können, auch ein Werturteil über eine ganze geistesgeschichtliche Epoche zu sein. Die Berliner Vorlesungen über Theorie und Geschichte der bildenden Künste 1827 entsprachen den neuen Affassungen. Von dem Gedanken, der
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die ersten Berliner Vorlesungen getragen hatte, daß die vollkommen anschauliche Kunstgeschichte „wiewohl in prosaischer Form, eine Poesie in der zweiten Potenz" wäre, und daß „die Entfaltung der Künste sich vielleicht am tiefsten in einem großen Gedicht darstellen ließe", blieb kaum eine Spur. Nur das Zitat aus dem Athenäumsgedicht „Die Kunst der Griechen. Elegie. An GOTHE" (Böcking, 2.8-10) in der XV Vorlesung erinnert noch an den Schwung der früheren Zeit. Der Text der Vorlesungen erschien in einer stark gekürzten Form im Berliner Conversations=Blatl vom 9. Juni bis 13. August 1827. Er ist in einer glatten, farblosen Prosa, die mit SCHLEGELS Stil nichts gemein hat, abgefaßt. Die letzte Vorlesung fehlt, da SCHLEGEL die Vorlage, die er den Herausgebern versprochen hatte, nicht mehr lieferte.Es ist kennzeichnend für seinen Abstand zu der früheren Periode, daß er seine Vorlesungen in einer so verstümmelnden Abschrift erscheinen ließ, obgleich er die reichhaltige Handschrift vom Jahre 1801 besaß. Bis zur Ausgabe der ersten Berliner Vorlesungen durch MINOR 1884 sollte er hauptsächlich durch diese magere Zusammenfassung als Kunsthistoriker bekannt werden: sie wurde in HORMEYERS Archiv für Geschichte, Statistik, Literatur und Kunst nachgedruckt^^ und erschien sogar in französischer und spanischer Übersetzung. Im Aufbau befolgten die Vorlesungen von 1827 die Anlage der Bonner
Vorlesungen über Theorie und allgemeine Geschichte der bildenden Künste 1819 (Msc. Dresden. e90 XXXI), entlehnten jedoch auch Material aus den
älteren Berliner Vorlesungen sowie aus einigen kunsthistorischen Aufsätzen aus der Folgezeit. Die Bonner Vorlesungen wurden für ein studentisches Publikum geschrieben. Ursprünglich 1819 gehalten, hat sie SCHLEGEL mit geringfügigen Erweiterungen 1820, 1822 und 1825 wiederholt. Die Handschrift ist oft skizzenhaft und teilweise durch Änderungen und Streichungen schwer lesbar. Bei der ursprünglichen Niederschrift waren ihm die Berliner Vorlesungen 1801 nicht zugänglich. Die Kisten mit seiner Bibliothek aus Coppet kamen im Februar oder März 1819 in Bonn an, jedoch ohne die Handschriften; auch unter den Büchern aus Hannover waren sie Berliner Conversations-Blatt 1827. 636. Anm. 14. November — 21. Dezember 1827. Nr. 137—153. läLefons sur l'histoire et la theorie des Beaux Arts. Par A.G. Schlegel, Professeur a l'Universite de Berlin: suivies.des articles du Conversations=Lexicon, concernant Parchitecture, la sculpture et la peinture; traduites par A.F. Couturier de Vienne. Paris 1830; Lecciones sobre la historia y la teoria de las Bellas Artes ... seguidas de los articulos del Conversations-Lexkon acerca de la arquitectura, la escultura y la pintura, traducidas del Aleman al Frances por A.F. Couturier de Vienne, y de esle al Espahol. Valencia 1854. — Auf Seite IX der französischen Ausgabe wird noch eine Englische Übersetzung der Vorlesungen erwähnt: „ses lecons, qui recemment traduites an Angleterre, y ont eu le plus grand succes". Sie ließ sich jedoch nicht nachweisen.
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nicht zu finden. Noch Ende Mai bat er AUGUSTE DE STAHL in Coppet unter den dort zurückgebliebenen Papieren nachzusuchen, denn die Handschriften würden ihm jetzt nützlich sein. Am 26. Juni schrieb jener, daß er sie nicht finden könnte; ..que peuvent-ils donc etre devenus?" Erst ab Februar 1822 lassen sie sich in Bonn nachweisen (vgl. Krisenjahre, 2.328, 337; 3.575; 2.337 und 3.582; 2.319 f und 3.607). Es scheint daher wahrscheinlich, daß SCHLEGEL für die öffentlichen Vorlesungen in Berlin seine Bonner Kolleghefte • unter Heranziehung der inzwischen wiederaufgetauchten früheren Manuskripte ayfgearbeitet hat, und daß diese neue Fassung den Herausgebern des Berliner Conversations = Blatt, FRIEDRICH FöRSTER und WILLIBALD ALEXIS als Vorlage diente. Da SCHLEGEL gerne frei sprach und häufig Material, welches nicht in seinem Konzept stand, in seine Vorlesungen einfügte (vgl. Akademisches Studium, 26), kann die Bonner Handschrift zur Ergänzung der Fassung im Berliner Conversations = Blaii heran^ezogen werden. Im Vergleich mit den Berliner Vorlesungen 1801 fand in den Bonner Vorlesungen und in den späteren Berliner Vorlesungen eine entscheidende Verschiebung des Nachdrucks statt. Der erste Teil, die historische Übersicht der Kunstlehre von PLATON bis zu KANT, nahm in den Berliner Vorlesungen 1801 mehr als die Hälfte des Raums ein, in den Bonner Vorlesungen wurde sie auf wenig mehr als ein Viertel beschränkt: eine reichhaltige Diskussion über die Begriffe und Werkzeuge der Kunstkritik wurde auf wenige Definitionen reduziert, und die ausführliche Behandlung der Ästhetik besonders von BURKE und KANT verwandelte sich in ein knappes Resümee. Der zweite Teil, die Ausführung der eigenen kritischen Kunsttheorie wuchs von weniger als der Hälfte zu fast dreiviertel des Raums an. Es fand eine allgemeine Versachlichung statt, die Ausführungen wurden wertfrei, der Bezug auf ein ästhetisches oder religiöses Kunsterlebnis scheint ganz zu fehlen. Man gewinnt oft den Eindruck, daß die Kunstlehre sich den exakten Naturwissenschaften nähert, sie bediente sich jedenfalls ihrer klassifizierenden Methodik. Ein Beispiel für viele liefert die „Übersicht der Naturerzeugnisse, welche würdige Gegenstände für die Sculptur seyn können".!’ SCHLEGEL geht von einem axiomatischen Prinzip aus, daß das „Anziehende der Sculptur ist, daß sie das Lebendige durch todte körperliche Stoffe darstellt". Das „Mineralreich" wird als Gegenstand der Skulptur abgelehnt, weil es eine „Nachahmung des Todten durch das Todte" wäre, ebenfalls das „Pflanzenreich": „Die Pflanzen haben keine LoMsc. Dresd. e 90 XXXI: die folgenden Ausführungen werden in der Vorlesung XVI und XVII behandelt.
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comotivität. Fast ihre einzige eigenthümliche Bewegung ihr Wachstum — dessen Langsamkeit — Das Ruhende durch etwas Ruhendes dargestellt... Das Leben verkündigt sich durch Bewegung. Die Sculptur ergreift die organischen Gestalten zum Theil in der Bewegung — wenn sie solche aber auch ruhend vorstellt, deutet sie ihre Beweglichkeit, ihre Fähigkeit zu mannichfaltiger Bewegung an. — Die Thiergattungen sind umso mehr Gegenstand je höher und mannichfaltiger die Zwecke ihres lebendigen Daseyns, und je mehr diese durch die Werkzeuge der Bewegung ausgedrückt sind. Hinaufsteigen durch die Thierclassen von der untersten bis zum Gipfel der thierischen Schöpfung, dem Menschen." Nun prüft SCHLEGEL sämtliche Gattungen angefangen mit den „Mollusken" und „formlosen Gallerten" auf ihre Tauglichkeit zur Darstellung. Überall macht sich das Streben bemerkbar, die Formen auf ihre einfachsten Nenner zurückzuführen: „Sobald wir höher steigen — ein allgemeiner Typus der Organisation — Kopf — allgemeines Sensorium — Leib Behälter der innern Organe — Werkstätte ihrer Funktionen — Organe der Bewegung — Beine — Fuß. Federn — Flügel. — Bilaterale Symmetrie — Länge in grader Linie — Breite in einem rechten Winkel mit jener — die Grundlage des Gebäudes. —" Er untersucht der Reihe nach Schaltiere, Insekten, Fische, im Wasser lebende Säugetiere, Amphibien, Frösche und Kröten — „Der Kopf sitzt fest am Rumpf ohne Hals". — An den Schlangen bemerkt er die „Einfachheit des Baues: — Ein Kopf und ein cylindrisch bekleidetes Rückgrat. — Große Beweglichkeit ohne sichtbare Werkzeuge. — Kein würdiger Gegenstand für die Sculptur — aber geheimnißvolle Symbolik für die bildliche Darstellung. —" Dann kommen die Vögel mit ihrer „doppelten Bestimmung zum Gehen oder Hüpfen" an die Reihe, schließlich die Säugetiere, die in verschiedenen Gruppen aufgeteilt werden. Auch hier herrscht die funktionale Betrachtungsweise vor. Die Aufmerksamkeit des Hörers wird auf „Knochengerüste. Schädel. Rückgratwirbel — Rippen — Knochen der Beine — Gelenke — Muskeln — Hautbedeckung — Haarwuchs" gelenkt. Die Wirkungsweise der einzelnen Bestandteile wird erklärt: „Wunderwürdiger Mechanismus der animalischen Bewegung. Einrichtung der Muskeln — Longitudinalfasern — die Anheftung ihrer Äußersten an die Knochen — Contraction und Relaxation — Antagonisnus bey den meisten Bewegungen. —" Es wird eine gründliche Kenntnis der „Anatomie, Osteologie, Syndesmologie, Myologie" und der „Statik und Dynamik der animalischen Körper" gefordert. Da sich die Skulptur nicht nur mit Formen sondern auch mit Oberflächen beschäftigt, wird das Problem des Haarwuchses besonders hervorgehoben. Im allgemeinen gilt je
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kürzer die Haare umso besser, wo sie länger sind, muß die Skulptur „die Haare in Massen zusammen fassen um sie zu bilden". Der Haarwuchs darf die Werkzeuge der Bewegung nicht verhüllen: „Wolliges Vließ. — Gänzliche Verhüllung der Werkzeuge der Bewegung zB. beym Schaafe. Untauglichkeit zur Sculptur. Ein Wollsack auf vier dünnen Stecken. — Auch das geschorene Schaaf ein schlechter Gegenstand — Äußerste Entartung unter allen Hausthieren. Vielleicht überhaupt nur eine künstlich erzeugte Varietät. Schwäche. Weder Schnelligkeit, Gewandtheit, noch Stärke. — Der Kopf tritt hervor aus dieser Verhüllung — Straff anliegende Haut an den Knochen und fleischigen Theilen — Schmuck der Hörner". Die „Nacktheit" des Menschen macht ihn besonders geeignet für die plastische Darstellung, sie „drückt dem Adel seiner Gestalt das Siegel auf". Auch die Qualität seiner Haut, ein „zartes Gewebe ... das den ganzen menschlichen Körper umfließt und verwahrt — ihre Glätte — Weichheit — Elastizität —" ist der künstlerischen Gestaltung förderlich, denn „die Natur legt hier das Geheimniß des organischen Baues offen dar, als wenn sie stolz auf ihr Meisterstück wäre". Der Haarwuchs beim Menschen ist nicht nützlich wie bei den Tieren, er hat eher eine ästhetische oder sittliche Funktion: „Ein starker Haarwuchs verwiesen auf wenige Theile des menschlichen Körpers, wo er entweder zum Schmuck dient, oder etwas verhüllen soll". Die für die Malerei wichtige „Carnation" der Haut ermöglicht es, seelische Bewegungen durch ein körperliches Symptom auszudrücken, — deshalb seien die weißen den farbigen Rassen überlegen. Die Möglichkeit der Abstammung des Menschen von den Affen, die bereits von ERASMUS DARWIN (1731-1802) erwogen wurde, weist SCHLEGEL ab. Die Gestalt der einzelnen Tiergattungen ist für ihn nicht wandelbar, gerade weil sie völlig zweckmäßig den ihnen entsprechenden Lebensbedingungen angepaßt ist. Die Ähnlichkeit zwischen dem Menschen und den Affen kann allerdings als sittliche Absicht der Schöpfung gedeutet werden: „Verläumdung der menschlichen Gestalt hergenommen von der Ähnlichkeit mit dem Affen. Physiologische Verschiedenheit. Quadrimanus. Der Affe nicht bestimmt zum Gehen auf 2 Füßen, sondern zum Klettern. Sein Wohnsitz auf Bäumen. Die Ähnlichkeit ist nicht zu leugnen — Ein Zerrbild des Menschen — gleichsam zur Warnung aufgestellt — wozu der Mensch herabsinkt wenn die thierischen Triebe in ihm die herrschenden werden. Deswegen Abneigung der bildenden Kunst beym Affen. Dessen Bedeutung — Tellurisches Streben der übrigen Thiere. — Auf streben des Menschen zur Sonne wie in der Pflanzenwelt, mit der Locomotivität vereinigt." Die deskriptive Methode in den Naturwissenschaften, wie sie zum Beispiel durch LINN§ vertreten wurde, entsprach einem statischen Weltbild, in
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welchem die Gattungen unveränderlich waren. Für LINNE war es die höchste Aufgabe des Naturforschers, alle Arten systematisch ihren Klassen und Ordnungen nach zu kennen, denn nur auf diesem Wege war es möglich, einen Einblick in die Organisation der Schöpfung zu gewinnen. Es ist nicht sinnvoll, seinen Standpunkt als »verhängnisvoll" zu beschreiben, weil »er keine Entdeckung machte, die auf das Wesen der Pflanzen neues Licht geworfen hätte"20; sein Interesse galt dem großen Zusammenhang, der sich nur durch die Einzeluntersuchung aufschließen ließ. Die Methode, die im achtzehnten Jahrhundert der Erforschung der Natur gedient hatte, wendete SCHLEGEL auf die bildenden Künste und Sprachdenkmäler an. Die Voraussetzung bei LINN§ war ein Weltbild, das die Einheit der Schöpfung in allen ihren Teilen postulierte. Die romantische Kunst- und Literaturtheorie um die Jahrhundertwende hatte in ihrem Bereich ähnlich Voraussetzungen geschaffen: die innere Folgerichtigkeit des Kunstwerks, dem man nichts entziehen oder hinzufügen kann, die Abhängigkeit der einzelnen Erscheinungsformen von den jeweiligen historischen und kulturellen Bedingungen und die Ableitung aller künstlerischen Produktion aus der gleichen universalen Anlage der menschlichen Psyche. In seiner Kunstlehre ab 1819 kehrte SCHLEGEL auf einer höheren Stufe zu den Prämissen der Aufklärung zurück. Die romantische Kunsttheorie, die sich im Gegensatz zur Aufklärung herangebildet hatte, wurde zur Grundlage einer analytischen Verfahrensweise, die in der Naturwissenschaft des achtzehnten Jahrhunderts vorgebildet war, während die Kunstgeschichte vorwiegend als eine Geschichte der technischen Entwicklung behandelt wurde, in der er die einzelnen Werke sui generis besprach. Den Gegensatz zwischen Romantik und Aufklärung versuchte SCHLEGEL im »Begriff der wahren Aufklärung" zu überwinden. Wahre Aufklärung bedeutete ihm, »Unbefangene freye Prüfung, ohne vorgefaßte Meynung, aller Wahrheiten, welche auf die wichtigsten Angelegenheiten der Menschheit Einfluß haben". Sie berücksichtigte jedoch auch den Bereich im menschlichen Dasein, der durch den Verstand nicht erfaßbar ist, denn sie wurde aus einer »tiefen Philosophie" geschöpft, „welche nicht mit ihrer Lampe alles zu erhellen glaubt — sondern die Nacht als Mutter der Dinge verehrt — besonders das innere Licht, die höhere Anlage im Menschen, die ihn über die sinnliche Erfahrungswelt erhabt, zu Rathe zieht" (Akademisches Studium, 39). Wieviel von seinen neuen Ansätzen SCHLEGEL in die Berliner Vorlesungen 1827 aufgenommen hat, läßt sich nicht genau ermitteln. In der Zusammenfassung im Berliner Conversations=Blatt sinä sie nur Ansatzweise 20 Meyers Lexikon. Leipzig 1924—30. Bd 7. (1927), 1024.
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vorhanden. Es ist denkbar, daß er die systematische Begründung seiner Kunstlehre in den Bonner Vorlesungen hier nur exemplarisch angeführt hat, weil sie ihm als zu didaktisch vorkam. Den Erwartungen des Berliner Publikums entsprachen die Vorlesungen nicht. SCHLEGELS Ruf begründete sich vor allem auf die Wiener Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur eines der erfolgreichsten Bücher seiner Zeit und auf seine SHAKESPEARE-Übersetzungen, von denen die zweite Ausgabe (1825-33) gerade im Erscheinen war. Gegen solche Werke mußte sich die trockene sachliche Darstellung dieser kunstgeschichtlichen Vorlesungen stark abheben. VARNHAGEN VON ENSE notierte am 9. Juni 1827; „A.W. VON SCHLEGEL S Vorlesungen werden zahlreich besucht, besonders auch von Gästen, befriedigen aber sehr wenig. Er spricht frei, ohne Heft, und in ganz guter, anmuthiger Rede, aber was er sagt, ist veraltet, flach, gering; selbst die Damen meinen, sie lernten bei ihm nichts. Seine persönlichen Eitelkeiten, Einbildungen, Prunkäußerungen u.s.w. fallen jederman auf, werden belächelt und belacht, und nicht immer schonend. Doch hat man ihn im Ganzen gern, und tut ihm viel Ehre an." Am 12. Juni fügt er hinzu; „Herrn A.W. SCHLEGELS Vorlesungen werden noch immer zahlreich besucht, doch ist man mit dem Inhalte keineswegs so zufrieden, wie mit dem Vortrage ... Doch hält sein litterarischer Ruf tüchtig vor, und er zehrt von demselben ganz behaglich, bliebe er aber ganz hier, so würde er ihn auch bald verzehren."2i LACHMANN, der sich allerdings nie ein gutes Wort über SCHLEGEL abringen konnte, schrieb am 30. Mai an JACOB GRIMM; „Über seine Vorlesungen vor Herren und Damen ist nur eine Stimme; seicht und gewöhnlich, nichts weniger als geistreich. Selbst die Hegelei soll gegen die Vorlesungen sein, er muß also wohl was versehen haben."^^ Djg Hegelei, beziehungsweise Hegel selbst berichtete am 29. Mai an DAUB; „Tief kann er freilich nicht gehen, aber für sein Publikum ist seine deutliche und beredte Art sehr passend"23, und an COUSIN am 1. Juli; „.. .il n'a pas trop reussi ici pour ses lefons, ni pour sa maniere d'etre en societe; au reste nous sommes bien ensemble". Am härtesten urteilte der Dichter HEINRICH STIEGLITZ in einem Brief vom 14. August an FOUQUE; „ES ist unbegreiflich, wie ein solcher Mann, als ob er ganz verarmt wäre, so wenig geben konnte nach so reichem Leben. Scheint es doch, als sey sein Geist, in der grenzenlosen Eitelkeit entmannt, verkommen... Mir hat es leid gethan in SCHLEGELS Seele, so 21 K. A. Varnhagen von Ense: Blätter aus der preußischen Geschichte. Leipzig 1868—69. Bd 4. 244, 247. 22 Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Karl Lachmann. Bd 2. 515 (s.o. Anm. 9). Briefe von und an Hegel. Hrsg, von J. Hoffmeister. Hamburg 1954. Bd 3. 165, 171.
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ihn dastehen zu sehen entblößt vor einem auserlesenen Publicum, in welchem auch der Geringste ihn durchschaute."^« Auch GOETHE verfolgte den Fortgang der Vorlesungen mit Interesse. Anfänglich lobte er die ausgereifte abgewogene Darstellung; .. man rekapituliert mit einem verständigen unterrichteten Mann dasjenige, woran man sich selbst heraufgebildet hat und woran man glücklich mit heranlebte. Das jüngere Publikum besonders kann gar wohl damit zufrieden sein, wenn es die nächste Vorzeit vernünftig anzusehen Lust hat."2s Schließlich vermißte er doch an ihnen die eigentliche Leistung des Kunsthistorikers, das Vergangene neu zu ordnen und faßbar zu machen: „Sie halten freilich bei näherer Prüfung nicht Stich. Die ersten Blätter lesend, war ich zufrieden, das Alte zu hören, weil mir das Neue gar zu oft ärgerlich wird. Freilich aber will man das Alte immer vollständiger haben, geordneter, zusammengefaßter, übersichtlicher, und das ist denn hier nicht geleistet." Ein größerer Kontrast als der zwischen dem eklatanten Erfolg SCHLEGELS in Berlin 1801 und seiner bedrückenden Aufnahme sechsundzwanzig Jahre später läßt sich kaum denken. Damals stand er auf dem FJöhepunkt seiner Wirksamkeit und wählte Berlin als die bedeutenste öffentliche Bühne Deutschlands für die Verkündigung seiner Lehre. Bei seinem zweiten Auftreten hatte er fast schon den Tiefpunkt erreicht. Seine früheren Thesen waren zum Allgemeingut geworden, ihm selber schienen sie in vielem bereits überholt. Seine neue Betrachtungsweise hingegen und die Vorstufen davon in der Enzyklopädie der Wissenschaften sollten noch lange nicht zur Geltung kommen.
Briefe an Friedrich Baron de la Motte Fouque. Mit einem Vorwort und biographischen Notizen von H. Kletke. Hrsg, von A. de la Motte Fouque. Berlin 1848. 386. 25 Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter. Hrsg, von M. Hecker. Leipzig 1915. Bd 2. 549 (An Zelter 17. August 1827) und 2. 557 (An Zelter 6. September 1827).
ALLGEMEINE EINTEILUNGSGRÜNDE DES MENSCHLICHEN WISSENS: — I
VERNUNFTSWISSENSCHAFT VOM MENSCHEN rational
VERNUNFTSWISSENSCHAFT VON DER NATUR
ERFAHRUNGSWISSENSCHAFT VOM MENSCHEN empirisch
ERFAHRUNGSWISSENSCHAFT VON DER NATUR
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Hans Sachs: Der hürnen Sewfrid. (Ein Tragedj mit 17 Personen: der hürnen Sewfrid, und hat 7 actus). In: Neudrucke deutscher Literaturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts. Halle 1880.
Zum folgenden: Johann Jakob Bodmer: Chriemhildens Rache, und die Klage: zwey Heldengedichte aus dem schwäbischen Zeitpuncte. Samt Fragmenten aus dem Gediclite von den Nibelungen und aus dem Josaphat. Darzu kömmt ein Glossarium. Zyrich 1757. 10 Christoph Heinrich Myller: Der Niebelungen Liet, ein Rittergedicht aus dem XIII. oder XIV. Jahrhundert. Zum ersten Male aus der Handschrift ganz abgedruckt. Berlin 1782.
Zur Rezeption des Nibelungenliedes im 19. Jahrhundert
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gen. Wir zählen von den ersten veröffentlichten Versuchen — es handelt sich um die Probefassung einiger Aventiuren, die GRAMBERGH 1783 erscheinen läßt — bis heute 96 verschiedene Übersetzungen in Versen und in Prosa. 31 Übersetzungen sind vor 1850 entstanden, 39 zwischen 1851 und 1900, 9 zwischen 1901 und 1912, 5 zwischen 1921 und 1932, 3 zwischen 1933 und 1939 und 9 nach 1945. Das sind also 96 verschiedene neuhochdeutsche Fassungen in einer 200 jährigen Rezeptionsgeschichte. Doch diese Zahl gibt noch kein vollständiges Bild vom großen Verbreitungsradius. KARL SIMROCK erreicht mit seiner 1827 erschienenen Übersetzungi2 die erstaunlichste Resonanz. Bis 1905 liegt seine Fassung in 57 Auflagen vor; allein in den Jahren 1872 und 1873 müssen 7 Auflagen gedruckt werden, um die Nachfrage zu befriedigen. Nach 1905 werden die Auflagen der SiMROCK-Übersetzung nicht mehr gezählt, weil diese selbst eine bald nur nebenbei erwähnte oder gar nicht genannte Grundlage für neue Bearbeitungen geworden ist. Aber auch weniger bekannte Übersetzer erfreuen sich reger Nachfrage: FERDINAND BäSSLERS Bearbeitung für die Jugend erlebt zwischen 1843 und 1907 sieben Auflagen, FERDINAND SCHMIDTS ebenfalls für die Jugend gedachte Fassung erscheint 1850 zum erstenmal und bringt es bis 1907 auf 18 Auflagen. GUSTAV LEGERLOTZ zählt zwischen 1890 und 1905 15 Auflagen seiner gekürzten Übertragung. Über die jeweilige Auflagenhöhe sind keine Angaben zu ermitteln, so daß man die Gesamtzahl der gedruckten Übersetzungen auch nicht annähernd schätzen kann. Die Subskribentenlisten, die den illustrierten Prachtausgaben beiliegen, sind stattliche Namensverzeichnisse von meheren tausend Interessenten.Da nun die bilderlosen Textausgaben sehr viel preiswerter gewesen sind, wird man ihre Auflagenhöhe nicht zu niedrig ansetzen dürfen, selbst wenn man eine rasch fortschreitende Auflagenzählung als Kaufanreiz und werbenden Resonanzindikator einkalkulieren sollte. Die Texteditionen haben natürlich weder eine vergleichbare Rezeption noch ähnliche Auflagenhöhen er-
11 Gerhard Anton Hermann Gramberg: Etwas vom Nibelungen Liede. In: Deutsches Museum. 2 (1783), 49—73. 12 Karl Simrock: Das Nibelungenlied. Übersetzt. Erster Theil, Zweiter Theil. Berlin 1827. Ferdinand Bässler: Die schönsten Heldengeschichten des Mittelalters. Ihren Sängern nacherzählt. Zweiter Band. Der Nibelungen Not. Für die Jugend und das Volk bearbeitet. Mit einem Titelbild. Leipzig 1843; Ferdinand Schmidt: Die Nibelungen. Eine Heldendichtung. Erstes Buch: Siegfried und Kriemhild. Zweites Buch: Kriemhilds Rache. Für die Jugend erzählt. Berlin 21853; Gustav Legerlotz: Nibelungenlied und Gudrun. Übertragen und hrsg. Auszug für den Unterricht an höheren Mädchenschulen. Mit Beigaben aus Jordans Nibelungen, Hebbels Nibelungen und Geibels Gedichten, sowie einem Vorwort von Dr. Wychgram. Bielefeld/Leipzig 1898; Gotthard Oswald Marbach: Das Nibelungenlied. Mit Holzschnitten nach Originalzeichnungen von Eduard Bendemann und Julius Hübner. Leipzig 1840.
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reicht. Die Zahlenrelationen zeigen bereits, welche Bedeutung die Übersetzungen für die Kenntnis und Verbreitung des Epos gehabt haben. Mit MANFRED BIERWISCH, HELMUT DE BOOR, HELMUT BRACKERT, WERNER HOFFMANN und ULRICH PRETZELI'* haben nach 1955 die Vertreter der Hochschulgermanistik an FRIEDRICH VON DER HAGEN und KARL SIMROCK angeknüpft und sich besonders rege an den Übersetzungen beteiligt. Den 96 neuhochdeutschen Übersetzungen stehen insgesamt 147 verschiedene dramatische Bearbeitungen und Romanfassungen gegenüber, von denen 46 zwischen 1804 und 1869 entstanden sind, 47 zwischen 1870 und 1913, 29 in den Jahren vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges bis 1933, 17 in den zwölf Jahren bis 1945 und 8 nach 1945. Außer WAGNERS Ring gibt es drei weitere Opernlibrettii^ von denen zwei vertont worden sind. Wir haben eine Operettei* gefunden, die als besonderer „Leckerbissen" für die Freunde des Humors angekündigt ist, und eine Fassung des Epos als Comic-Reihe.Dazu tritt eine erstaunliche Zahl von Balladen und Gedichten, die einzelnen Figuren und Szenen gewidmet sind. Zu dieser sehr breiten Rezeption in Textvarianten und sogar einigen musikalischen Bearbeitungen kommt dann noch die Umsetzung in Illustrationen, Bilderzyklen, Kolossalgemälden, Bühnenbildern und Inszenierungsanweisungen, Plastiken und schließlich Verfilmungen. Innerhalb dieser sekundären Bearbeitungen gibt es einen regen Austausch von Anregungen und wechselseitigen Einflüssen. Die Kreise, die sich konzentrisch um das mittelhochdeutsche Epos legen, erreichen einen immer größeren Durchmesser, und die Entfernung zur Quelle wird weiter. Im Rückblick auf die Rezeptionsgeschichte der vergangenen zweihundert Jahre kann man sagen, daß die außerwissenschaftliche Verbreitung des Stoffes und seiner Gattung ein erhebliches Eigengewicht gewonnen hat, das den Mißbrauch des
Manfred Bierwisch: Das Nibelungenlied. Prosaübertragung. Nachwort von M. Bierwisch. Leipzig 1955; Helmut de Boor: Das Nibelungenlied. Zweisprachige Ausgabe. Hrsg, und übertragen. Bremen 1959; Helmut Brackert: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. 2 Bde. Hrsg., übersetzt und mit einem Anhang versehen. Frankfurt/Main 1970/71; Werner Hoffmann: Das Nibelungenlied. Kudrun. Text. Nacherzählung. Wort- und Begriffserklärungen. Darmstadt 1972; Ulrich Pretzel: Das Nibelungenlied. Kritisch hrsg. und übertragen. Stuttgard 1973. Libretto zur Oper „Die Nibelungen" von Heinrich Dorn. Hrsg, von E. Gerber. Felix Dräseke: Sigurd. Oper. 1867 in Meinigen aufgeführt. Arnold Krug: Sigurd, (ohne Angaben; vgl. v. Boehn, 138; s.o. Anm. 7); Karl Pottgießer: Die Nibelungen. Festspiel. 1892. cf’Rideamus (Fritz Oliven): Die lustigen Nibelungen. Burleske Oper in drei Akten. Musik von Oscar Strauß. Bühneneinrichtung von Franz Groß für das „Theater des Westens" in Berlin. Berlin 1911. Rudolf Angerer: Angerer's Nibelungenlied. München 1972.
Zur Rezeption des Nibelungenliedes im 19. Jahrhundert
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Nibelungenliedes für vaterländische, mythisch verbrämte Kriegsideologien erklären hilft. Niemand hat eine solche Resonanz vorauszusagen vermocht, als BODMER die ersten Proben veröffentlichte. Weder er noch sein Schüler CHRISTOPH HEINRICH MYLLER hatten mit ihren Ausgaben auch nur die Spur eines Erfolges. FRIEDRICH DER GROSSE dankt am 22.2.1784 MYLLER für die Zusendung eines Exemplars mit dem bekannten Verdikt: „Diese Gedichte sind nicht einen Schuß Pulver wert und verdienen nicht aus dem Staube der Vergessenheit gezogen zu werden. In meiner Büchersammlung wenigstens werde ich dergleichen elendes Zeug nicht dulden, sondern herausschmeißen. Das mir davon eingesandte Exemplar mag dahero sein Schicksal in der großen Bibliothek abwarten. Viel Nachfrage verspricht demselben nicht Euer sonst gnädiger König FRIEDRICH."I» LESSING, KLOPSTOCK und auch HERDER scheinen kaum eine günstigere Meinung gehabt zu haben. GOETHE hatte von MYLLER unglücklicherweise ein Nibelungenexemplar in der ihm unsympathischen Form der nicht aufgeschnittenen Lieferung erhalten, weshalb dieses Geschenk zunächst 20 Jahre lang ungelesen liegen blieb. Die plötzliche und entscheidende Wende in der Rezeptionsresonanz erfolgt zweifellos in der Verbindung mit der Französischen Revolution und etwas später in der patriotischen Reaktion der Befreiungskriege. Es treffen die folgenden Momente zusammen, die den beschleunigten Schwung auslösen, mit dem sich eine breite Aufmerksamkeit auf das Nibelungenlied richtet und in ihm — vergleichbar dem im Rhein versenkten Hort — den zu hebenden Schatz eines Nationalheiligtums sieht:
I. Die Mythologie Im Nibelungenlied hofft man, wie AUGUST WILHLEM SCHLEGEL 1804 in seiner Berliner Vorlesung ausführt,i® die Grundlage für eine eigene Nationalmythologie gefunden zu haben, um anstelle der in der Französischen Revolution erschütterten Verbindlichkeit christlicher Wertmaßstäbe neue ethische Kategorien aus den Zeugnissen der eigenen Vorzeit gewinnen zu können. FRIEDRICH SCHLEGEL sagt in seiner Rede über die Mythologie: „Ihr Brief vom 22.2.1784. Vgl. Richard Benz: Die Deutsche Romantik. Leipzig ®1940. 253. Vgl. Lankheit, 97 (s.u. Anm. 37). Zum folgenden: Friedrich Schlegel: Rede über die Mythologie. In: Charakteristiken und Kritiken. 1 (1796—1801). Hrsg. Eichner (= Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe). Bd 2. München etc. 1967, 312. August Wilhelm Schlegel: Geschichte der Klassischen Literatur. In: Kritische Schriften und Briefe. Bd 3. Hrsg, von E. Löhner. Stuttgart 1964, 186.
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müßt es oft im Dichten gefühlt haben, daß es Euch an einem festen Halt für Euer Wirken gebrach ... Es fehlt, behaupte ich, unserer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die der Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, läßt sich in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie". AUGUST WILHELM SCHLEGEL hält das Nibelungenlied für „ein Werk von kolossalem Charakter, nicht nur von unerreichbarer sinnlicher Energie, sondern von erstaunenswürdiger Hoheit in den Gesinnungen, es endigt wie die Ilias, nur m weit größerem Maßstabe, mit dem überwältigenden Eindrücke allgemeiner Zerstörung."
2. Die Antike Der von AUGUST WILHELM SCHLEGEL angesprochene Vergleich des Nibelungenliedes mit der Ilias war ein damals gängiger Topos. Analog hierzu wurde die Kudrun der Odyssee gegenübergestellt. Der Bezug auf Homer geht vermutlich auf JOHANNES VON MüLLER zurück, der als geachteter Historiker des 18. Jahrhunderts 1783 in den Göitingschen Gelehrten Anzeigen ausführlich und sehr positiv über die MYLLERsche Sammlung und besonders über die Bedeutung des Nibelungenliedes berichtet, das er HOMERS Epen an die Stelle stellt.20 Zehn Jahre später setzt sich JOHANN HEINRICH Voss, der 1793 seine Übersetzung der HoMERischen Epen beendet, für die Lektüre des Nibelungenliedes in der Schule ein. Er unternimmt selbst den ersten Versuch an seinem Eutiner Gymnasium.21 FRIEDRICH THEODOR VISCHER meint als erster, das Nibelungenlied eigne sich vorzüglich als Grundlage für das Libretto einer großen Oper.22 Diese Anregung wird zu seiner Zeit nicht aufgenommen. — Neben dem Historiker und dem Übersetzer führen Editionsprinzipien und Textanalyse am Anfang der Germanistik als philologischer Universitätsdisziplin zur klassischen Philologie. FRIEDRICH HEINRICH VON DER HAGEN, der zuerst durch JOHANNES VON MüLLER auf das Nibelungenlied hingewiesen worden ist und der 1803, als er schon als juristischer Referendar im Staatsdienst stand, in AUGUST WILHELM SCHLEGELS Berliner Vorlesungen über die Geschichte der deutschen Poesie zur intensiven Beschäftigung mit dem Nibelungenlied angeregt worden ist, widmet seine Nibe-
Johannes v. Müller: Der hJibelungen Liel. In; Göttinger Gelehrte Anzeigen. 1 (1783), 353— 358. 21 22
Vgl. V. Boehn, 3 (s.o. Anm. 7). Friedrich Theodor Vischer, 1844 in den Kritischen Gängen, vgl. v. Boehn, 69 (s.o. Anm. 7).
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lungenausgahe/^ die er für eine kritische und sorgfältige Edition hält, dessen Vorlesungen über klassische Philologie er mit großem Interesse in Halle gehört hatte. Gegen VON DER HäGENS engagierte, aber laienhafte Textbehandlung wendet sich KARL LACHMANN, der als geschulter Altphilologe die erste kritische Edition schafft und FRIEDRICH AUGUST WOLFS Entstehungstheorie der homerischen Epen mit einer Liederhypothese auf das Nibelungenlied zu übertragen versucht.Hegel hebt sein negatives, stets distanziertes Urteil über das Nibelungenlied oft gegenüber dem Werk HOMERS ab. Er empfindet die Charaktere des Nibelungenliedes als kahle, fahle, wenn auch kräftige Individualitäten, während die HoMERischen Charaktere volle lebendige Menschen seien. Als merkwürdige Gemeinsamkeiten betont er den langen Zeitraum, der jeweils zwischen der Entstehung und der Niederschrift liegt. FRIEDRICH AUGUST WOLF,
3. Das Mittelalter Bei der Entdeckung und Belebung des Mittelalters durch die Dichter der Romantik wendet man, wohl geleitet von der zeitbedingten Aversion gegen alles Französische und Welsche, besondere Aufmerksamkeit denjenigen Dichtungen zu, die nicht unmittelbar durch Anregungen aus dem französischen Kulturkreis entstanden sind. Deshalb stehen das Nibelungenlied, die Kudrun, der Arme Heinrich,die Lieder des Minnesangs und die politischen Lieder WALTHERS VON DER VOGELWEIDE im Vordergrund des Interesses.
4. Die nationale Identifikation Man empfindet das Nibelungenlied als „germanisch" und damit als „deutsch". Die beiden Adjektive werden mit erstaunlicher Leichtigkeit synonym gesetzt, und zwar politisch motiviert als Reaktion auf das Vordringen NAPOLEONS. Dieser Gedanke kehrt in den Einleitungen zu den neu23 Friedrich Heinrich von der Hagen: Das Nibelungenlied in der Ursprache mit den Lesarten der verschiedenen Handschriften herausgegehen. Zu Vorlesungen. Berlin 1810. '^^Karl Lachmann: Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth. Berlin 1816. 1; Hegel: Asth. 2. Aufl. Hrsg, von H.G. Hotho. Bd 1. 298. Ursula Rautenberg: Das Volksbuch vom „Armen Heinrich". Ein Modellfall der Translation und Rezeption mittelhochdeutscher Literatur im 19. Jahrhundert. Diss. phil. Bochum 1982; Friedrich Heinrich von der Hagen: Der Nibelungen Lied. Berlin 1807. Vorwort 1; zum folgenden a.a.O. 111 f.
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hochdeutschen Fassungen des Liedes aus der ersten Jahrhunderthälfte immer wieder. FRIEDRICH HEINRICH VON DER HAGEN schreibt 1807 in der ersten Auflage seiner Übersetzung: .,Wie man zu des TACITUS Zeiten die altrömische Sprache der Republik wieder hervorzurufen strebte, so ist auch jetzo, mitten in den zerreißenden Stürmen in Deutschland die Liebe zu der Sprache und den Werken unserer ehrenfesten Altvordern rege und thätig, und es scheint, als suche man in der Vergangenheit und Dichtung, was in der Gegenwart schmerzlich untergeht ... Unterdessen aber möchte einem deutschen Gemüthe wohl nichts mehr zum Trost und zur wahren Erbauung vorgestellt werden können als der unsterbliche alte Heldengesang, der hier aus langer Vergessenheit lebendig und verjüngt wieder hervorgeht: das Lied der Nibelungen. Kein anderes Lied mag ein vaterländisches Herz so rühren und ergreifen, so ergötzen und stärken als dieses.''^* Und nun zählt VON DER HAGEN den Tugendkatalog auf, den wir im Laufe der vaterländischen Erziehung der Jugend im 19. Jahrhundert immer wieder lesen können: „Treue, Freundschaft bis in den Tod, Tapferkeit, Milde und Großmut in Kampfesnot, Heldensinn, unerschütterlicher Standmuth, wichtige Opfer für Pflicht und Recht, Ergebung in das Unveränderliche, Mut zu Wort und Tat, Stolz und Vertrauen auf Vaterland und Volk, Hoffnung auf dereinstige Wiederkehr Deutscher Glorie und Weltherrlichkeit." Man fragt sich, wo VON DER HAGEN meint, die Belege für den politischen Anspruch einer deutschen Nation im Nibelungenlied gefunden zu haben. Aber seit diesem Vorwort wird die exemplarisch erzieherische Wirkung, die das Lied besonders auf die deutsche Jugend ausüben soll, kritiklos fortgeschrieben. VON DER HAGEN — von Haus aus Jurist — hat den ersten germanistischen Lehrstuhl an der Berliner Universität innegehabt: seine Interpretation kam ex cathedra und hatte deshalb eine beträchtliche Wirkung. Daran hat auch Hegels Kritik nichts geändert. Seine verschiedenen Bemerkungen zum Nibelungenlied gleichen einander wie sich wiederholende Varianten. Aber sie lehnen eine Verbindung zur Gegenwart — in welchen Bezügen der Übertragung auch immer — ab. „In dem Nibelungenliede z.B. sind wir zwar geographisch auf einheimischem Boden, aber die Burgunder und König Etzel sind so sehr von allen Verhältnissen unserer gegenwärtigen Bildung und deren vaterländischen Interessen abgeschnitten, daß wir selbst ohne Gelehrsamkeit in den Gedichten HOMERS uns weit heimathlicher empfinden können." (Aslh. II/Bd 1. 81 f) Dieser Ansicht, der einige Hochschulgermanisten wie etwa die Brüder GRIMM noch am ^^Johannes Scherr: Die Nibelungen. In Prosa übersetzt, eingeleitet und erläutert. Leipzig 1860. V.
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ehesten zustimmen, sind die Populärinterpreten des Nibelungenliedes keineswegs. JOHANNES SCHERR schreibt in der Einleitung zu seiner Übersetzung 1860: „Wir haben angefangen zu erkennen, wo die Wurzeln unserer Kraft liegen, und je größere Kreise die Kenntnis unserer Vergangenheit zieht, umso mehr ist auf ein freudiges Wachstum vaterländischen Sinnes in der Gegenwart zu hoffen."^* Daß diese dem Epos vorausgeschickte Aufforderung, Identifikationsmöglichkeiten in der Vergangenheit zu suchen, mit dem außerwissenschaftlichen Publikationsstrom Eingang in die Bücherschränke des Bildungsbürgertums findet und sich in den Anthologien der Jugendliteratur, in den Lesebüchern der Schulen und in den Leihbibliotheken niederschlägt, bedarf keiner Erwähnung. Es entstehen Leitbilder der Identifikation, die mit Beispielen aus der älteren Literatur historisch vertieft und begründet werden. Die glanzvolle, alles überragende Gestalt des Siegfried, die im Drachen das Böse und Niedrige besiegt und damit ihre kämpferischen und ethischen Qualitäten erweist, gilt von jetzt an als Inkarnation Deutschen Wesens. Sie steht weithin sichtbar als Hermann der Cherusker auf einer dem Grabmal THEODERICHS DES GROSSEN in Ravenna nachempfundenen Rotunde im Teutoburger Wald. Sie verschmilzt mit der Arminius-Figur in KLEISTS und GRABBES Hermannschlachi-Dramen. Der Tod Siegfrieds durch Hägens Speerwurf wird zur Allegorie kriegerischer Niederlagen auf deutschem Boden, zur Dolchstoßlegende. Sie führt zur finsteren Verteufelung der Hagen-Gestalt, an der die so viel zitierte Nibelungentreue merkwürdigerweise nie exemplarisch gezeigt wird. Die polare Konstellation Hagen — Kriemhild bleibt zunächst außer acht. Auch die Titel der Dramen oder der Balladen zeigen, auf welche Figuren das Interesse besonders gerichtet wird: auf Siegfried, Brünhild — als Prototyp der stolzen Germania, wie sie etwa auf dem Niederwalddenkmal dargestellt ist (als Entsprechung zum Hermann in Teutoburger Wald) — und auf Kriemhild als Beispiel der Treue und des bedingungslosen Kampfeinsatzes für eine Sache, die man merkwürdigerweise stets „vaterländisch" nennt. Die Nibelungentreue bekommt als Lehnsbindung im hierarchischen Gefüge der Gesellschaft sprichwörtliche Allgemeinbedeutung. An sie wird mit dem Hinweis auf das mittelhochdeutsche Epos appelliert, wenn man die raschen politischen Veränderungen der Zeit, die Verschiebungen der Bündniskonstellationen und nicht zuletzt die Reichsgründung im Auge hat. Intensive wissenschaftliche Nibelungenstudien beginnen in Berlin 1810 mit der Eröffnung der Universität. VON DER HAGEN, der erste Professor auf Johannes Scherr: Die Nibelungen. In Prosa übersetzt, eingeleitet und erläutert. Leipzig 1860. V.
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dem Lehrstuhl für deutsche Sprache, widmet sich als Lehrer in den Vorlesungen, als Herausgeber und Übersetzer und schließlich in seinen Forschungen zur Quellenfrage und Interpretation ganz besonders dem Nibelungenlied, das auch später während seiner Tätigkeit an der Universität Breslau Mittelpunkt seiner Arbeiten bleibt. VON DER HäGENS laienhafte Beurteilung der Handschriften, seine Fehlentscheidungen bei Textkorrekturen — kurz sein Defizit an philologischer Genauigkeit wird von WILHELM GRIMM scharf kritisiert.^^ Nach VON DER HäGENS Weggang von Berlin setzt JOHANN AUGUST ZEUNE, der 1815 mit LUDWIG JAHN die Berlinische Gesellschaft für deutsche Sprache gegründet hat, die Vorlesung über das Nibelungenlied an der Berliner Universität fort. Mit KARL LACHMANNS Übersiedlung nach Berlin setzt dann eine entscheidende Wende in der Methode der Studien und Erforschung altdeutscher Textzeugnisse ein, die sich jetzt streng an den Arbeitstechniken und -erfahrungen der klassischen Philologie orientieren. Auch sein Interesse gilt zunächst dem Nibelungenlied. Mit seiner berühmt gewordenen Abhandlung Qber die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth (Berlin 1816) gibt LACHMANN seinen wissenschaftlichen Einstand. Das Interesse für das Nibelungenlied durchzieht sein ganzes Leben. 1826 erscheint die Kritische Ausgabe, 1836 folgt der Kritische Kommentar und 1841 legt er eine zweite, stark veränderte Ausgabe vor. Von seinen drei berühmten Berliner Schülern KARL SIMROCK, WILHELM WACKERNAGEL und MORIZ HAUPT, den späteren germanistischen Ordinarien an den Universitäten Bonn, Basel und Leipzig, hat nur SIMROCK das Nibelungenerbe angetreten; die beiden anderen haben sich damals noch unerforschten Gebieten der mittelalterlichen deutschsprachigen Literatur zugewendet. SIMROCK hat als fachkundiger Übersetzer für einen weiten Bekanntheitsgrad der mittelalterlichen deutschen Literatur gesorgt. — Die Ergebnisse der Nibelungenforschungen an den Universitäten haben keine publikumswirksame Verbreitung gefunden, und sie haben auch nicht das ideologische Befreiungskriegs- und Vaterlandspathos korrigieren können, das die außerwissenschaftliche Befassung mit dem Stoff geschaffen hatte und sorgsam pflegte. 27 Wilhelm Grimm: Kleinere Schriften. Hrsg, von G. Hinrichs. Bd 1. Berlin 1881, 61—91. 2»Kflri Lachmann: Der Nibelungen Not mit der Klage. In der ältesten Gestalt mit den Abweichungen der gemeinen Lesart herausgegeben. Berlin 1826; Ders., Zu den Nibelungen und zur Klage. Anmerkungen. 2 Bde. Berlin 1836; Ders., Zweite Ausgabe: Der Nibelungen Noth und die Klage. Nach der ältesten Überlieferung mit Bezeichnung des Unechten und mit den Abweichungen der gemeinen Lesart herausgegeben. Berlin 1841.
^•>Hugo Moser: Karl Simrock, Universitätslehrer und Poet, Germanist und Erneuerer von „Volkspoesie" und älterer „Nationalliteratur". Ein Stück Literatur-, Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Berlin 1976.
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Die Beobachtung der Übersetzungen zeigt interessante semiotische Probleme, die bei der Hin- und Herübertragung aus einer fremden Sprache nicht ohne weiteres deutlich werden oder dort gar nicht vorhanden sind. Da aber hier die Ausgangs- und die Zielsprache zwei verschiedenen historischen Entwicklungsstufen ein und derselben Sprache angehören, ergeben sich in der Simultaneität von Sprachwandel und Beharrungsvermögen semantische Kontextprobleme eigener Prägung. So weit mir bekannt ist, weist keine der Übertragungen, auch keine der neuesten, auf eine Übersetzungstheorie als Stütze für die Auswahl ihrer Kriterien und als Begründung für ihre Entscheidungen hin.^o Zu Beginn des Jahrhunderts äußern sich FRIEDRICH HEINRICH VON DER HAGEN und LUDWIG TIECK recht unterschiedlich über die einzuschlagenden Wege, um eine überzeugende und verständliche neuhochdeutsche Fassung des mittelalterlichen Epos zu finden. VON DER HAGEN plädiert dafür, so wenig wie möglich am Text zu ändern, d.h. er setzt die neuhochdeutsche Lautung ein, indem er die Monophtongierung und die Diphtongierung durchführt, wobei er als konsequenter Jurist aus lobelich dobeleich" macht, und nur in seltenen Fällen ersetzt er Vokabeln, wenn er sie für nicht mehr verständlich hält. TIECK dagegen schlägt vor, die strenge Vorgabe des Quellentextes zu verlassen und mit einer freieren neuhochdeutschen Formulierung das Verständnis des Inhalts erschließen zu helfen. VON DER HAGENS und TIECKS Positionen skizzieren die grundsätzlichen Schwierigkeiten, denen jeder Übersetzer bei seiner Arbeit gegenübersteht. Dem Rat TIECKS, in der Distanz zum Text dem Gemeinten besonders nahe kommen zu wollen, folgen die meisten Übertragungen, allerdings in voneinander recht abweichender Interpretation. Dabei ist natürlich die Fachkenntnis von großem Gewicht, d.h. die Interpretationswillkür ist bei den Übersetzern, die sich offensichtlich nicht intensiv genug mit dem Mittelhochdeutschen und der Lektüre älterer Texte befaßt haben, erstaunlich groß. Diese Schwankungen erklären sich auch noch aus einem anderen Grund: Die Entstehungszeit der Nibelungensage, die Fassung des Nibelungenliedes in der Form um 1200 und schließlich die Niederschrift als mittelalterliches Manuskript liegen zeitlich auseinander. Vor allem zwischen den germanischen Sagenbruchstücken und dem Epos ist der Zeitraum beträchtlich. Soll nun der Übersetzer versuchen, ein Spiegelbild der germanischen Zeit zu geben? Oder soll er das M Ursula Rautenberg, 92—102 (s.o. Anm. 25). Friedrich Heinrich von der Hagen: Uber die Grundsätze der neuen Bearbeitung vom Liede der Nibelungen. In; Eunomia. Eine Zeitschrift des 19. Jhd's. 5 (1805), 254—265; vgl. auch: Gottfried Leon: Von der Übersetzung der Minnesinger in unsere heutige teutsche Sprache. In: Bragur. 8 (1812), 170—186. Ludwig Tieck: Die altdeutschen Minnelieder (1830). In: Mittelalterrezeption. Hrsg, von G. Kozietek. Tübingen 1977, 44—62.
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Epos als Anachronismus in der Ritterkultur der Artusrunde spielen lassen? Soll er die historische Verfremdung mit Mediaevismen erstreben, die er als allgemein bekannte Signifikate aus dem gesamten Zeitraum des Mittelalters wählt? Oder soll er schließlich als radikalsten Grad der Aktualisierung eine ganz moderne Fassung wagen? Doch die letztgenannte Lösung ist bei der Übertragung aus einer Fremdsprache sehr viel leichter möglich; eine deutsche moderne Shakespeare-Übersetzung ist sehr viel eher möglich als eine aktualisierte neuenglische Fassung. Bei den Übersetzungen des Nibelungenliedes sind m.E. fünf Tendenzen zu beobachten, die ich hier nur andeuten kann, die im einzelnen mit zahlreichen Stellenhinweisen belegt werden können: 1. Der Übersetzer will den Leser der neuhochdeutschen Fassung nicht vergessen lassen, daß es sich um einen mittelalterlichen Text handelt. Deshalb verzichtet er nicht auf altertümliche Vokabeln und veraltete syntaktische Wendungen, die requisitenartig eingefügt werden. Doch das alte Sprachgut bleibt nicht als Restbestand des Ausgangstextes stehen, so daß der Leser an einzelnen Stellen gleichsam durch den neuhochdeutschen Text bis auf den Grund hindurchblicken könnte, sondern der Übersetzer mutet dem Leser nur die halbe Wegstrecke in die Vergangenheit zu. Er entlehnt die älteren Wendungen dem Lutherdeutsch, dessen Bekanntheitsgrad die Bibellektüre gewährleistet. So färbt die Sprachpatina aus dem 16. Jahrhundert die neuhochdeutsche Nibelungenliedfassung zur Antiquität.3i
2. Eine andere Möglichkeit für die Wahl der Stilebene sieht z.B. VON HINSBERG.32 indem er das Epos aus der Zeit der ersten deutschsprachigen literarischen «Klassik" bewußt der Weimarer Klassik an die Seite stellen möchte. Deshalb hält er als passende Form für die Acceleration der Handlung den Sprachduktus der Balladen SCHILLERS, den er mit der Entlehnung von Wortschatz, Metaphern, Idiomen, Syntax und Metrum imitiert. 3. Der Übersetzer überspringt die Zufälligkeit der ersten Niederschrift des Nibelungenliedes um 1200 und versucht, mit Stabreim und rauhen Metaphern statt des höfisch gewandten Rittertums die germanische Vorzeit als Handlungsrahmen des Geschehens lebendig zu machen.^3 4. In einer interessanten Gegenläufigkeit hierzu vertiefen andere Übersetzer die im Nibelungenlied nur an der Oberfläche faßbare und die Hand31 Ludwig Braunfels: Das Nibelungen-Lied. Übersetzt. Frankfurt am Main z.B. 115 ff. 33 Joseph von Hinsberg: Das Lied der Nibelungen umgebildet. München 1812. z.B. 243 ff. 33 Z.B. Karl Bartsch: Das Nibelungenlied. Übersetzt. Leipzig 1867, 323, Str. 2141; 324, Str. 2143; 325, Str. 2155 etc.; siehe auch Oskar Henke: Der Nibelungen Not. Barmen 1884, 90 ff.
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lung gerade nicht tangierende Christianisierung. Man meint, auf eine angeblich gelungene Verbindung von Germanentum und christlichem Glauben besonders aufmerksam machen zu müssen. 5. Schließlich erfolgt, wo es möglich ist, eine Patriotisierung des Textes, indem statt Jant" — «Vaterland" oder «Deutschland" gesetzt wird. Vonseiten der Germanistik, so von JACOB und WILHELM GRIMM, sind Übersetzungen dieser Art stets sehr deutlich abgelehnt worden.Die eben genannten fünf verschiedenen Stilvarietäten begegnen uns noch einmal in ähnlicher Form bei den bildlichen Darstellungen. Auch in den wissenschaftlich fundierten Übersetzungen läßt sich ein interessanter Wandel beobachten, der — einsetzend bei VON DER HAGENS lautlicher Umsetzung — bis heute mit einem sich weit öffnenden Winkel großen semantischen Spielraums vergleichbar ist. Ich habe bereits früher einmal ausgeführt,^* daß z.B. das mhd. Wort «leit", das im Nibelungenlied 106-mal belegt ist, bei VON DER HAGEN in allen Fällen mit «Leid" wiedergegeben wird. KARL SIMROCK überträgt 1827 76 Stellen mit „Leid" und 30 mit anderen Wörtern wie etwa Schmerz, Jammer, Pein, Sorge, Unheil, Übel etc., und bei HELMUT DE BOOR erscheint 1963 dieses Zahlenverhältnis zufälligerweise in umgekehrter Proportion: von den 106 «leit"-Belegen überträgt er nur 32 mit Leid und 74 auf andere Weise, etwa mit Not, Unglück, das Schwerste, banger Schrecken, Kränkung, Schaden etc. Man sollte eine solche Veränderung auch an anderen Begriffen beobachten und nicht nur auf die hier ausgewählten drei Proben beschränken. Dieses m.E. wissenschaftsgeschichtlich interessante übersetzungshermeneutische Interpretationsproblem deutet natürlich darauf hin, welche Erfahrungserweiterung die ältere deutsche Literaturwissenschaft durch die Verbreitung ihrer Textkenntnis, die wachsende Editionsgeschichte und durch intensive analytische Arbeiten gewonnen hat, selbst wenn wir noch immer kein leistungsfähiges mittelhochdeutsches Wörterbuch besitzen und auf den mehr als hundertjährigen Lexer zurückgreifen müssen. Auch die bildlichen Darstellungen des Nibelungenliedes eröffnen ein vielfältiges und mehrschichtiges Interpretationsfeld. Die lebhafte Rezeption des Liedes hat schon früh zu Illustrationen angeregt, und zwar zum Zweck der Popularisierung. Wir finden die Bilder nicht in Textausgaben, Z.B. Gestaltung der Rüdeger-Szene bei Wilhelm Wegner: Siegfried und Chrimhilde. Eine poetische Neugestaltung der Nibelungensage. Brandenburg 1867. 290. 35 Z.B. Iduna. Deutsche Heldensagen, dem deutschen Volk und seiner Jugend wiedererzählt von Karl Heinrich Keck. 2. Teil: Die Nibelungensage. Leipzig 1877. 175 ff. Siegfried Grosse: Sprachwandel als Qberseizungsproblem. In: Wirkendes Wort. 1970. H. 4, 242—258.
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sondern entweder bei den Übertragungen oder den Bearbeitungen oder schließlich allein als selbständiges Medium ohne Text. KLAUS LANKHEIT weist 1953 in seinem Beitrag zu den Nifee/wn^en-Illustrationen der Romantik darauf hin,^^ daß zu Beginn des 19. Jahrhunderts wohl außer der Bibel kein anderer Text so oft zur Illustration angeregt hat wie das mittelhochdeutsche Epos. Außer dem Aufsatz LANKHEITS, der vor allem die Säkularisierung christlicher Bildformen in den Illustrationen zum Nibelungenlied untersucht, liegen zwei Kieler kunsthistorische Dissertationen von 1970 (MARIE-LUISE GRABERG) und 1974 (ULRICH SCHULTE-WüLNER) vor. Eine Darstellung der Illustrationen JOSEF SATTLERS durch BERND EVERS von 1979^* und die schon genannte sehr materialreiche Untersuchung MAX VON BOEHNS aus dem Jahre 1923 Die Nibelungen in der Kunst. Allen Arbeiten ist gemeinsam, daß sie nur den kunsthistorischen Aspekt berücksichtigen und die Frage nach der Verbindung von Bild und Text nicht stellen. Ich kann hier nur andeuten, welche Entwicklung sich aufgrund eines ersten Überblicks abzuzeichnen scheint. Sie sollte zu einer sorgfältigen Analyse und vor allem zu einer Korrelation mit den unterschiedlichen semiotischen Konnotationsproblemen der übersetzten Texte führen. Die Bearbeitungen konnten wegen ihres beträchtlichen Textvolumens bisher noch nicht überprüft werden. Auch sie versprechen interessante sprachliche und inhaltliche Aufschlüsse. Der Schweizer JOHANN HEINRICH FüSSLI gehört zu den ersten Illustratoren.Von ihm gibt es sogar Kolossalgemälde, die unabhängig von den Texten sind. Vermutlich hat er Kenntnis vom Epos und von der Sage in seiner Schweizer Heimat von BODMER und von MYLLER erhalten. Nach FüSSLI folgt bald eine große Zahl zeitgenössischer, heute nicht mehr bekannter Künstler. Sie versehen die Übertragungen zuerst nur mit einzelnen Titelkupfern, wobei man, wie z.B. in der Übertragung HINSBERGS (1812),'*° die vier Illustrationen von ELEKTRINA STUNTZ enthält, markante Einzelszenen herausgreift: Siegfried tötet den Drachen, Siegfrieds Tod an der Quelle,
3'^ Klaus Lankheil: Nibelungen-lllustrationen der Romantik. Zur Säkularisierung christlicher Bildformen im 19. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Kunstwissenschaft. 7 (1953), 95—112. ^^Marie-Luise Graberg: Die Nibelungen-lllustrationen von Johann Heinrich Füssli und Peter Cornelius. Diss. phil. Berlin 1970; Ulrich Schulte-Wülwer: Die bildenden Künste im Dienste der nationalen Einigung; zur restaurativen Verkehrung bürgerlich-emanzipalorischer Ansätze in der Frühzeil der Universitätsgermanistik. In; Uteraturwissenschaft und Sozialwissenschaft. Bd 2. Germanistik und deutsche Nation 1806—1848. Hrsg, von J.J. Müller. Stuttgart 1974, 273—296; Bernd Evers: Die Nibelungenillustrationen Josef Sattlers. In: Studiert zur deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. v. R. Schützeichel. Bonn 1979, 319—333. Klaus Lankheit: Zur Füssliforschung. ln: Zeitschrift für Kunstgeschichte. 14 (1951), 175 ff. 10 Siehe Hinsberg, 27, 84, 166, 268 (s.o. Anm. 32).
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Hagen befragt die Meerweiber und Kriemhild steht mit Günthers Haupt vor dem gefesselten Hagen. 1813 erscheint bereits ein Zyklus mit sieben Zeichnungen von PETER CORNELIUS ohne jeden Text, in dem die Bilder allein erzählen und in ihrer Folge die Handlung konstituieren. Eine bedeutsame Wende tritt 1841 ein. In diesem Jahr feiert man das vierhundertjährige Alter der Buchdruckerkunst. Aus diesem Anlaß plant man eine große Säkularausgabe des hlibelungenliedes, und zwar aus mehreren Gründen: zum einen sind die Nibelungen in der ersten Zeit des Buchdrucks weder als mittelhochdeutsches Epos noch als Volksbuch gedruckt worden; zweitens hält man den kostbaren Druck des viel zitierten Nationalepos für eine vaterländische Pflicht, um den weit sichtbaren architektonischen Denkmälern ein literarisches Mahnmal zur Seite zu stellen, das eines eigenen Bildersaals bedarf und deshalb für die Feier ein würdiger Gegenstand sei, und schließlich will man zum Jubiläum den fachlichen Fortschritt seit GUTENBERG deutlich machen und mit neuen Reproduktionsverfahren komplizierter Bild- und Tafeldrucke die Entwicklungsmöglichkeiten der Drucktechnik zeigen. Dieser Plan gelingt in doppeltem Umfang; denn es erscheinen sogar zwei Säkularausgaben in bewußter Konkurrenz zueinander. 1840/41 erscheint das Nibelungenlied in der Übersetzung von GOTTHARD OSWALD MARBACH'*^ mit Holzschnitten nach Originalzeichnungen von EDUARD BENDEMANN und JULIUS HüBNER. Die gleichen Illustrationen, in der Regel eine pro Aventiure, zu denen noch Vignetten und ornamentale Umrankungen treten, werden 20 Jahre später, nämlich 1860, in JOHANNES SCHERRS Übertragung eingefügt. Als Konkurrenz zur Prachtsausgabe der Marbachschen Übersetzung erscheint 1843 die Übertragung und Bearbeitung des Textes von DR. GUSTAV PFIZER mit Holzschnitten nach SCHNORR VON CAROLSFELD und ERNST NEUREUTHER, die dem Großmächtigsten König von Bayern gewidmet ist. Ebenfalls aus Anlaß der IV. Säkularfeier des Buchdrucks erscheint 1840/41 eine neue Verdeutschung des Nibelungenliedes von HEINRICH BETA mit Holzschnitten von F.W. GUBITZ, dessen Bilder unverändert 1842 dem von FRIEDRICH HEINRICH VON DER HAGEN besorgten Abdruck der Hohenems-Laßbergschen Handschrift eingefügt werden.
■>1 Peter Cornelius: Nibelungen-Folge; vgl. v. Boehn, 8 (s.o. Anm. 7). Marbach, (s.o. Anm. 13); Johannes Scherr, (s.o. Anm. 26); Zum folgenden Gustav Pfizer:
Der Nibelungen Noth illustriert mit Holzschnitten und Zeichnungen von Julius Schnorr von Carolsfeld und Eugen Neureuther. Stuttgart 1843; Heinrich Beta: Das Nibelungenlied als Volksbuch, ln
neuer Verdeutschung. Mit einem Vorwort von F.H. von der Hagen. Mit Holzschnitten von F. W. Gubitz und unter dessen Leitung gefertigt. Bd 1./2. Berlin 1840; Friedrich Heinrich von der Hagen: Der Nibelungen Lied in der alten, vollendeten Gestalt. Mit Holzschnitten von F.W. Gubitz und unter dessen Leitung von Holbein.
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Die illustrierten Ausgaben eines literarischen Werkes haben lebhafte Diskussionen ausgelöst über die Zulässigkeit der visuellen Konkretisierung des Erzählten; über den zweifelhaften Wert, für den Leser die epischen Gestalten und Szenen durch den Illustrator interpretatorisch fixieren zu lassen; über die Gefahren, die Konzentration des Lesers zu stören — kurzuna alle Argumente sind uns in fast gleicher Form aus jüngsten Diskussionen zur Fernsehrezeption oder zur Verfilmung literarischer Stoffe hinreichend bekannt. Die Begeisterung für den Nibelungenstoff hat nach den Freiheitskriegen abgenommen, und es liegt sicher in der Absicht der Verleger, mithilfe der Illustrationen das Interesse neu zu beleben. Die Qualität der gedruckten Bilder hat erstaunen lassen und tatsächlich eine neue Entwicklungsphase in der Verlags- und Druckgeschichte eingeleitet. Denn der technische und — wie stets im Buchhandel — der finanzielle Erfolg haben von jetzt an nicht nur die Neigung gefördert, Bücher zu illustrieren, sondern vor allem auch zur Gründung der illustrierten Wochenschriften geführt. Die umfangreiche Subskribentenliste (vgl. Anm. 13), die der Marbachschen Säkularausgabe beigegeben ist, ist ein aufschlußreiches Zeugnis des Kaufverhaltens der damaligen Gesellschaft. Jeder Subskribent wird mit Beruf und Titeln genannt; die Liste ist nach Ortschaften und Buchhandlungen gegliedert. Der Adel, Offiziere, Notare, Ärzte, Pastoren, Gutsbesitzer und Bibliotheken nehmen etwa 4/5 der rund 3000 Subskribenten ein, die keineswegs nur aus dem deutschen Sprachgebiet stammen. Man kann diese beträchtliche Käuferzähl sicher nicht mit der potentiellen Leserschaft gleichsetzen. Aber der ins Patriotisch-Stolze gewendete Anlaß der Ausgabe und die Erhöhung der Eingängigkeit des Epos durch die Beigabe der Bilder haben zweifellos den Grad der Verbreitung erheblich gesteigert. Die Ausgaben sind stets von mehreren Künstlern illustriert worden; es gibt also wie in den mittelalterlichen Handschriften mehrere Hände. Obwohl die Illustratoren meist örtlich voneinander getrennt gearbeitet und offenbar unter starkem zeitlichen Termindruck gestanden haben, scheinen unter ihnen Absprachen erfolgt zu sein, denn auffallende und störende Stilbrüche zeigen sich innerhalb der einzelnen Ausgaben nicht. Meistens hat das am Beginn der Aventiure stehende Bild Initialcharakter. Es faßt das Geschehen ikonographisch zusammen, was darauf hinausläuft, daß es die Überschrift der Aventiure verbildlicht. Beim Durchblättern der Ausgabe ergibt sich oft, jedoch nicht immer, ein vom Text abgelöster verstehbarer Handlungszusammenhang, zumal die Gestalten an Kleidung, Waffen oder Geräten ihren Namenszug tragen. Von den vielen Nibelungenlied-lWustratoren, die man kaum zählen können wird, ist SCHNORR VON CAROLSFELD, der die bayerische Konkurrenzedi-
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tion mit Bildern versehen hat, der bekannteste und derjenige, der sich die allerlängste Zeit immer wieder mit dem Nibelungenstoff befaßt hat. Bereits vor der Buchausgabe hatte er vom Bayrischen Königshaus den Auftrag erhalten, vier Räume des Münchner Königshaus mit Bildern aus dem Nibelungenlied zu schmücken.^3 Ej- hat im ersten Saal die tragenden Gestalten der Handlung vorgestellt, und unter ihnen auch den Dichter des Nibelungenliedes. Man hat diese Fresken als eine Art illustrierten Theaterzettel mit der Vorstellung der Mitwirkenden empfunden. In den drei folgenden Sälen sind die beiden Teile des Liedes und die Klage dargestellt. Die Bilder enthalten viele Einzelheiten, die aber ein Betrachter ohne Textkenntnis wohl nicht verstünde. Außerdem legt der dreidimensionale Raum die Bildersequenz für den Rezipienten nicht fest, der an eine linear verlaufende Schreib- und Leserichtung gewöhnt ist. Ich hatte bereits darauf hingewiesen, daß die Illustrationen in ihrem Textbezug noch der sorgfältigen Untersuchung bedürfen. Man kann wie in den Übersetzungen auch hier ähnliche Stilvarietäten bei der Visualisierung des Stoffes beobachten. Zwischen den einzelnen Bildausgaben bestehen erhebliche Unterschiede, und modische Eigenheiten spiegeln sich in den Bildern natürlich auch wider. So tritt zur Stilebene der Übersetzung eine zweite Mittelalterinterpretation hinzu, die nicht unbedingt auf der gleichen semiotischen Ebene liegen muß, auf welche der Übersetzer die sprachliche Form stellt; 1. Ob die Anregung vom zeitgenössischen Klassizismus ausgeht oder von der Absicht, HOMERS Epen ein deutsches Epos gleichberechtigt zur Seite zu stellen, dürfte kaum zu entscheiden sein. Aber es gibt zahlreiche Illustrationen, auf denen die Kostüme der Gestalten im antiken Faltenwurf drapiert sind. 2. Die Leitbilder für den Begriff „Mittelalter" werden erst später den Quellenstudien mediävistischer Realien entnommen. Zunächst gelten ALBRECHT DüRER und Nürnberg als Requisitenkammer, um die historische Dimension anzudeuten.‘‘5 3. SCHNORR VON CAROLSFELD hatte kurz vor der Übernahme des Münchner Auftrags in Italien seine Illustrationen zu GOETHES Faust abgeschlossen. Die
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